Das PISA-Echo
Staatlichkeit im Wandel Herausgegeben von Philipp Genschel, Stephan Leibfried, Patrizia Nanz und Frank ...
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Das PISA-Echo
Staatlichkeit im Wandel Herausgegeben von Philipp Genschel, Stephan Leibfried, Patrizia Nanz und Frank Nullmeier für den Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bremen.
Kerstin Martens lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Daniel de Olano und Philipp Knodel sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 597. Marie Popp promoviert, ebenfalls an der Universität Bremen, im Fach Politikwissenschaft.
Philipp Knodel, Kerstin Martens, Daniel de Olano, Marie Popp
Das PISA-Echo Internationale Reaktionen auf die Bildungsstudie
Campus Verlag Frankfurt/New York
Dieser Band ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 597 »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen entstanden und wurde auf Veranlassung des Sfb unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39327-8 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2010 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Vorwort.................................................................................................................... 7 Das PISA-Echo – Resonanzen und Erklärungsansätze Daniel de Olano, Philipp Knodel, Kerstin Martens und Marie Popp........................... 9 Zehn Jahre PISA – Methodik, Ergebnisse und Trends Janna Teltemann.......................................................................................................27 Deutschland – Im Zentrum des PISA-Sturms Dennis Niemann ......................................................................................................59 Schweiz – PISA als Wegbereiter von Reformen Tonia Bieber .............................................................................................................91 Frankreich – Auf dem Weg zur Schulreform »à la finlandaise« Michael Dobbins.....................................................................................................115 Spanien – Konkurrierende Leitideen beim PISA-Absteiger Marie Popp.............................................................................................................145 England – PISA und die »pick and choose«-Strategie Philipp Knodel ........................................................................................................171
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DAS PISA-ECHO
Mexiko – Das Schlusslicht orientiert sich an der Politik der Besten Marie Popp.............................................................................................................189 Neuseeland – Überflieger mit Leistungsgefälle Michael Dobbins.....................................................................................................209 USA – Wie man PISA auch ignorieren kann Kerstin Martens ......................................................................................................235 Gewinner, Verlierer und Exoten – PISA in sieben weiteren Staaten Daniel de Olano .....................................................................................................251 Bilanz – Was PISA im Bildungsbereich verändert hat Marie Popp, Philipp Knodel, Kerstin Martens und Daniel de Olano.......................301 Abkürzungsverzeichnis .....................................................................................315 Abbildungen und Tabellen ...............................................................................321 Autorinnen und Autoren ..................................................................................325
Vorwort
Dieses Buch wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Sonderforschungsbereichs 597 »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen erstellt. Die einzelnen Beiträge sind im Umfeld des Teilprojekts »Internationalisierung von Bildungspolitik« entstanden. In diesem Forschungsprojekt werden die Rückwirkungen einer internationalen Ebene von Bildungspolitik auf nationale Bildungsstaatlichkeit am Beispiel der PISA-Studie und des Bologna-Prozesses untersucht. Dank geht an alle Kolleginnen und Kollegen des Bremer Sonderforschungsbereichs für Diskussionen und Anregungen. Monika Sniegs, Gesa Schulze, Emmy Eklundh und Christiane Heße gebührt Dank für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts sowie Dieter Wolf für Antworten auf die zahlreichen Fragen während der Entstehung dieses Buches. Bei Rita Nikolai (Wissenschaftszentrum Berlin) möchten wir uns ganz besonders für hilfreiche Kommentare bedanken. Sie machte uns auf einige Punkte aufmerksam, die wir vor lauter Rangplätzen, Kompetenzwerten und Reaktionen übersehen hätten. Schließlich danken wir allen Interviewpartnern für interessante Einblicke in ein so dynamisches und konflikthaftes Feld wie das der Bildungspolitik.
Bremen, im August 2010
Philipp Knodel Kerstin Martens Daniel de Olano Marie Popp
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Das PISA-Echo – Resonanzen und Erklärungsansätze
Daniel de Olano, Philipp Knodel, Kerstin Martens und Marie Popp
Alle drei Jahre wieder Im Dezember 2010 geht PISA (Programme for International Student Assessment), die größte internationale Schulleistungsuntersuchung, in die nächste Runde: Die Ergebnisse der aktuellen Erhebung werden veröffentlicht. Alle drei Jahre erfasst PISA die bis zum Ende der Pflichtschulzeit erworbenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern. Seit 2001 gibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre jeweils ein Jahr zuvor erhobenen Resultate zur Performanz von Bildungssystemen bekannt. In der Studie wird untersucht, »inwieweit es den unterschiedlichen Bildungssystemen in den Teilnehmerländern gelingt, jungen Menschen gerechte Chancen für Bildungserfolg zu geben«.1 Neben dem Bologna-Prozess kann PISA heute als das herausragendste Beispiel für internationale Vorgänge im Bereich der Bildungspolitik gelten. PISA hat Deutschland, das sich in der Tradition von Philosophen wie Immanuel Kant und Reformern wie Wilhelm von Humboldt, Dichtern wie Goethe, Schiller oder Lessing und Naturwissenschaftlern wie Wilhelm Conrad Röntgen, Robert Koch oder Albert Einstein wähnte, ins Mark getroffen. Die bisherigen Statistiken der OECD haben aufgezeigt, dass das deutsche Bildungssystem zu Beginn des neuen Millenniums signifikante Schwächen aufweist – und das in Zeiten einer aufkommenden weltweiten Wissensgesellschaft, in der Bildung zur entscheidenden Ressource wird (siehe zum Beispiel Köhler 2006; Müller/Stravoravdis 2007). Zwar hatten bereits im Jahre 1997 die Ergebnisse der internationalen Bildungsstudie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) deutliche Defizite in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundbildung offen gelegt und den deutschen Schülerinnen und Schülern nur einen Platz im Mittelfeld
—————— 1 http://www.dipf.de/de/projekte/programme-for-international-student-assessment2009 (letzter Aufruf 01.07.2010).
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attestiert, doch erst die Ergebnisse von PISA 2000 (OECD 2001a; Deutsches PISA-Konsortium 2001) lösten in Deutschland einen Sturm der Entrüstung, der Besorgnis und des Reformeifers aus. Nicht nur die Bildungsexperten aus Politik, Forschung und Wirtschaft, sondern auch die breite Öffentlichkeit – an der die TIMSS-Studie wenige Jahre vorher nahezu unbemerkt vorbeiging – richteten ihre Aufmerksamkeit nun verstärkt auf die Missstände im deutschen Schulwesen. In keinem anderen an der PISA-Studie teilnehmenden Land gab es auf die erste Erhebung so viele Zeitungsberichte (Leibfried/Martens 2008; Martens/Niemann 2009). Die Öffentlichkeit, Politiker und Eltern waren gleichermaßen in einen Schockzustand versetzt. Quasi über Nacht war Bildung nun in aller Munde. In fast allen Bundesländern wurde das Abschneiden der eigenen Schülerinnen und Schüler zum Wahlkampfthema, nachdem die von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebene nationale Ergänzungsstudie PISA-E erhebliche Leistungsunterschiede im Ländervergleich offen gelegt hatte. Aber auch in anderen Ländern hat es im Anschluss an PISA Debatten über die Qualität der Schulbildung gegeben (Bogdandy/Goldmann 2008/2009; Grek 2009; Martens/Niemann 2009; Martens/Wolf 2006; Popp 2010; Rinne/Kallo/Hokka 2004). Doch wie fiel das PISA-Echo bei Gewinnern und Verlierern genau aus? Welche Reformen im Bildungsbereich hat PISA angestoßen? Wie können unterschiedliche Reaktionen auf PISA erklärt werden? Dieses Buch will die Auswirkungen von PISA auf nationale Bildungspolitik aus politikwissenschaftlicher Perspektive genauer unter die Lupe nehmen. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen die durch PISA ausgelösten Reformen und Diskussionen über nationale Bildungspolitik sowie die Erklärungsfaktoren für den unterschiedlichen Umgang mit der OECD-Studie. An einen Überblick über die Methodik und die Ergebnisse von PISA schließen sich Fallstudien zu Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Spanien, England, Mexiko, Neuseeland und den USA an, bevor die Erfahrungen weiterer PISATeilnehmerländer überblicksartig beleuchtet und die Befunde abschließend aus vergleichender Perspektive analysiert werden. Der Band nimmt dabei Bezug auf die »OECD-34«, integriert in die Ranglisten also auch die 2010 neu in die Organisation aufgenommenen Staaten Chile, Estland, Israel und Slowenien.2
—————— 2 Eine Übersicht über das Abschneiden der OECD-Mitgliedstaaten sowie der so genannten Partnerländer in den PISA-Studien von 2000, 2003 und 2006 bieten die Tabellen 11.11 und 11.12.
DAS PISA-ECHO – RESONANZEN UND ERKLÄRUNGSANSÄTZE
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Internationalisierung von Bildungspolitik Bildungspolitik befindet sich heute in vielen Ländern im Umbruch. Globalisierte Arbeitsmärkte, die steigende Bedeutung von Humankapital in der Wissensgesellschaft sowie zunehmende finanzielle Engpässe nationalstaatlicher Budgets führen dazu, dass Bildungsinhalte und -ziele neu gesetzt werden, Strukturen und Institutionen Reformen durchlaufen sowie neue Akteure an bildungspolitischen Prozessen und Entscheidungen beteiligt werden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist Bildungspolitik allerdings ein noch wenig erschlossenes Politikfeld (zum Stand der Forschung siehe Jakobi/Martens/Wolf 2010). In den vergangenen Jahren ist dabei die Frage der Auswirkungen internationaler Bildungsaktivitäten auf die nationale Gestaltung von Bildungspolitik in den Mittelpunkt der Forschung gerückt. Während der Bologna-Prozess als Paradebeispiel von Konvergenzprozessen große Aufmerksamkeit erfährt (siehe zum Beispiel Knill/Dobbins 2009; Witte 2006a, 2006b), hat die sozialwissenschaftliche Forschung das Phänomen PISA erst in den letzten Jahren für sich entdeckt (siehe zum Beispiel Martens et al. 2010; Münch 2009). PISA ist ein Beispiel für Internationalisierungsprozesse in der Bildungspolitik, die in den späten 1990er Jahren eingesetzt haben. Neue Akteure, insbesondere internationale Organisationen, und neue Formen der Steuerung treten im Bereich der Bildungspolitik auf und stellen die bislang dominierende Rolle des Staates in diesem Politikfeld zunehmend in Frage (Martens/Rusconi/Leuze 2007). Das bislang stark nationalstaatlich geprägte Politikfeld Bildung wurde um eine internationale Ebene ergänzt, auf der internationale Organisationen ihre Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten sukzessive ausbauen konnten. Dass sich internationale Organisationen in diesem Zuge zu bedeutenden Akteuren in der Bildungspolitik entwickelt haben, kann einem von den Staaten initiierten freiwilligen Selbsttransformationsprozess zugeschrieben werden (Hurrelmann et al. 2007; für Bildungspolitik siehe Martens/Weymann 2007). Im Falle des der PISA-Studie zu Grunde liegenden OECD-Bildungsindikatorenprogramms war es beispielsweise die Absicht nationaler Regierungen, insbesondere der USA und Frankreichs, die OECD als internationale Organisation zur Überwindung innenpolitischer Opposition zu instrumentalisieren (Martens 2007; Martens/Wolf 2006, 2009). Internationale Organisationen wie die OECD haben die ihnen zugewiesenen neuen Aufgaben nicht nur in dem von den initiierenden Staaten
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beabsichtigten Umfang erledigt, sondern entfalteten unvorhergesehene »institutionelle Dynamiken« (Barnett/Finnemore 1999, 2004; für den Bereich der Bildungspolitik siehe Martens/Wolf 2006, 2009) und entwickelten eigene Agenden für ihre neuen Aufgabengebiete. Auch wenn sie bei der Bearbeitung dieser Aufgaben auf die spezifischen Problemlagen ihrer Mitgliedstaaten eingehen, so werben sie letzten Endes doch für ein ganz bestimmtes Politikmodell, das sich an eigenen übergeordneten Zielen der Organisation orientiert (Finnemore 1993). Im Falle der PISA-Studie ist das von der OECD beförderte Politikmodell eher implizit als explizit: »Die Studie liefert Basismaterial für die Definition von Standards und den Evaluationsprozess. Ferner gibt sie Aufschluss über die Faktoren, die zur Entwicklung wichtiger Kompetenzen beitragen, sowie über die Art und Weise, wie diese in den einzelnen Ländern wirksam werden. Damit dürfte sie zu einem besseren Verständnis von Ursachen und Folgen beobachteter Kompetenzdefizite beitragen. PISA befürwortet eine Verlagerung des Schwerpunktes in der Bildungspolitik von den Inputs auf die Lernergebnisse und kann so die Länder bei ihren Bemühungen um Verbesserung ihrer Schulsysteme unterstützen und dazu beitragen, dass junge Menschen bei ihrem Eintritt in das Erwachsenenleben besser vorbereitet sind auf eine Welt des raschen Wandels und der immer stärker werdenden globalen Interdependenz.« (OECD 2001a: 3)
PISA basiert somit auf der Identifizierung gemeinsamer Merkmale besonders erfolgreicher Bildungssysteme von »PISA-Gewinnern« als Beispiele für »beste Praktiken« (best practices). Die OECD betont dabei in ihren Publikationen sowohl die hohe persönliche Bedeutung von Bildung für die individuellen Aufstiegschancen als auch die Implikationen des Bildungsstandes auf die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das Wachstum moderner Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften im internationalen Wettbewerb (Keeley 2007; OECD 2010).
PISA im Überblick Bereits seit den 1980er Jahren sammelt die OECD im Rahmen des Bildungsindikatorenprogramms INES (Indicators of Education Systems) Daten zum Vergleich der Leistungsfähigkeit nationaler Bildungssysteme. Diese Daten werden seit den 1990er Jahren in der heute jährlich erscheinenden Reihe Bildung auf einen Blick veröffentlicht. Bei der Erfassung von Schülerleistungen als zentralem Indikator für die Leistungsfähigkeit nationaler
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Bildungssysteme musste die OECD zunächst auf die Studien anderer Organisationen zurückgreifen. Da diese Schulleistungsuntersuchungen nur sporadisch durchgeführt wurden und die Testpopulationen in Fächern und Alter variierten, ermöglichten die Daten keine befriedigenden Vergleiche (siehe Bottani 1996). Zudem konnte keinerlei Einfluss auf die Durchführung der Erhebungen genommen werden. Um regelmäßig erhobene, verlässliche, vergleichbare und aussagekräftige Daten über die Performanz von Bildungssystemen zu gewinnen, brauchte es einen neuen, eigenen Datensatz, eine eigene Studie. Aus diesen Überlegungen entstand im Verlaufe der 1990er Jahre PISA. Die PISA-Studien werden von Paris, dem Hauptsitz der OECD, aus gesteuert. Die OECD koordiniert die Erhebung und Auswertung der Daten, publiziert die Ergebnisse und fördert den Austausch unter den Teilnehmerstaaten. Dies kann mit einem geringen Personalaufwand erfolgen, da sich die OECD »nur« auf die Management- und Koordinierungstätigkeiten konzentriert, während die eigentlichen Erhebungen dezentral, aber unter Aufsicht der OECD, von nationalen Zentren durchgeführt werden. Grundsätzlich finanziert jedes Land die Erhebung eigenständig und übernimmt einen Teil der internationalen Kosten. Mit den Studien der Jahre 2000, 2003 und 2006, in denen die Schwerpunktsetzung je auf Lesekompetenz, mathematisches Wissen beziehungsweise naturwissenschaftliches Verständnis gesetzt wurde, hat der erste Erhebungszyklus seinen Abschluss gefunden. Das Programm wird mindestens bis 2015 fortgesetzt. Die Studien der Jahre 2009, 2012 und 2015 bilden dann einen zweiten Zyklus. Die Teilnahme an PISA erfolgt freiwillig. Der Kreis der Teilnehmer ging dabei von Anfang an über die OECD-Mitglieder hinaus: An PISA 2000 nahmen zunächst 32 Staaten teil, ein Jahr später zogen 11 weitere in einer als PISA-Plus bezeichneten Erhebung nach, so dass letztlich Resultate für 43 Staaten vorliegen. PISA 2003 untersuchte die Schülerleistungen in 41 Ländern. Bei PISA 2006 stieg diese Zahl auf 57 an. An der jüngsten PISA-Erhebung 2009 haben weltweit sogar 67 Staaten und Regionen3 auf
—————— 3 Die OECD spricht hier offiziell von »countries/economies«, also Ländern und Volkswirtschaften. Der ganz überwiegende Teil der an den PISA-Studien teilnehmenden Länder führt die Erhebungen im gesamten Staatsgebiet durch. Ausnahmen bilden die Volksrepublik China, bei der nur Hongkong seit 2000, Macao seit 2003 und ab 2009 auch der Großraum Schanghai teilgenommen haben sowie der Teilstaat Dubai aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (erstmals 2009).
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allen Kontinenten teilgenommen (siehe Abbildung 1.1). Somit ermöglicht PISA es heute so unterschiedlichen Staaten wie Mexiko, Neuseeland und der Schweiz, die Effizienz ihrer Bildungssysteme mit denen anderer Staaten inner- und außerhalb der OECD-Staatenwelt vergleichbar zu machen. Wenn die Ergebnisse der vierten PISA-Studie im Dezember 2010 veröffentlicht werden, sind in einem Zeitraum von nur zehn Jahren die Kompetenzen von mehr als einer Million Schülerinnen und Schüler weltweit parallel an über 15.000 Schulen anhand der von der OECD entwickelten PISA-Aufgaben getestet worden. Ihr Abschneiden repräsentiert die Bildungsleistungen von jeweils mehr als 20 Millionen Heranwachsenden ihres Jahrgangs (siehe Tabelle 1.1). Tabelle 1.1: Entwicklung der Teilnahme an PISA4 Teilnehmende Länder Zielgruppe der 15Jährigen Getestete Schüler(innen) Beteiligte Schulen
PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
PISA 2009
43
41
57
67
21.671.262
22.853.640
25.781.320
*
222.948
274.823
397.578
*
*
10.162
14.244
*
* Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes keine Daten verfügbar. Quellen: OECD 2001b, 2004, 2007; OECD/UIS 2003a, 2003b, eigene Darstellung
PISA erfasst die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme von Staaten, die insgesamt über 90 Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft repräsentieren. Obwohl auf explizite Zielsetzungen verzichtet wird, konnte sich PISA im Laufe der Jahre zum wichtigsten Maßstab für die Bestimmung von Bildungsqualität entwickeln. Wie in den Fallstudien des vorliegenden Bandes gezeigt wird, fielen die Reaktionen der einzelnen Teilnehmerstaaten auf diesen internationalen Impuls jedoch unterschiedlich aus.
—————— 4 Die Zahlen berücksichtigen nur die Teilnahme an der eigentlichen PISA-Studie. An zusätzlichen nationalen Erweiterungsstudien, wie PISA-E in Deutschland, haben allein bei PISA 2000 weltweit über 80.000 weitere Schülerinnen und Schüler teilgenommen.
Quellen: OECD 2001b, 2004, 2007; PECD/UIS 2003a, 2003b, eigene Darstellung
Schwarz: mindestens einmalige Teilnahme an einer PISA-Studie, Grau: bislang keine Teilnahme
Abbildung 1.1: Staaten und Regionen, die an mindestens einer PISA-Studie teilgenommen haben DAS PISA-ECHO – RESONANZEN UND ERKLÄRUNGSANSÄTZE
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Drei Erklärungsansätze für ungleiche Resonanzen auf PISA Wie lassen sich die Unterschiede in den Reaktionen auf die Veröffentlichung der PISA-Studien erklären? Welche Faktoren sind für unterschiedliche Wahrnehmungen in der Öffentlichkeit verantwortlich? Warum wurden in manchen Ländern bildungspolitische Reformen eingeleitet, während sich in anderen Kontinuität beobachten lässt – trotz schlechter Ergebnisse? Als Reaktionen auf die PISA-Studie werden in diesem Buch alle Formen von Veränderungen im nationalen Politikfeld Bildung verstanden. Diese Reaktionen können sich allerdings in ihrer Intensität unterscheiden. Mit diesem Verständnis gehen wir über einen eher eng gefassten Reformbegriff hinaus (zum Beispiel Hall 1993). So können auch geringe Dynamiken, die von institutionellen Anpassungen weit entfernt sind, in den Fallstudien erfasst werden. Das Spektrum reicht von der Entstehung eines bildungspolitischen Diskurses, über die Veränderungen von Machtprozessen bis hin zu einer grundlegenden Reform von Politikinhalten und institutionellen Strukturen. Bereits ein erster Blick in die Presse belegt das unterschiedliche Ausmaß an Reaktionen. Abbildung 1.2 zeigt die Anzahl der Artikel mit direktem PISABezug in ausgewählten Qualitätszeitungen der acht Länder, die in diesem Band in ausführlichen Fallstudien untersucht werden. Warum wurde in manchen Ländern das Bildungssystem grundlegend reformiert, während PISA in anderen kaum beachtet wurde? Zur Begründung der Unterschiede werden drei Erklärungsansätze berücksichtigt: das institutionelle Gefüge eines Landes im Bereich der Bildungspolitik, Leitideen als Ausdruck eines kulturell geprägten Bildungsverständnisses sowie das Ausmaß des bereits vor PISA vorhandenen nationalen Reformdrucks im Bildungsbereich.5 Als Teil des institutionellen Gefüges eines jeden Landes bilden Vetospieler dessen prinzipielle Reformfähigkeit und Reformbereitschaft ab (Tsebelis 2002; Immergut 1990; Wagschal 1999). Unter Vetospielern lassen sich dabei alle Akteure in einem politischen System verstehen, die über die Fähigkeit verfügen, politische Reformen zu behindern oder zu blockieren.
—————— 5 Die Erklärungsfaktoren sind ähnlich der Literatur zur Europäisierungsforschung (Börzel/Risse 2000; Heritier et al. 2001). In diesem Forschungszweig wird untersucht, welchen Einfluss die zunehmende Europäische Integration auf nationale Politikgestaltung hat. Trotz eindeutiger Unterschiede zur EU (zum Beispiel Grad der Institutionalisierung, Mitgliedschaft, etc.) lassen sich einige Konzepte auf die Frage nach den Reaktionen auf PISA übertragen.
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Der Grundgedanke des Vetospieleransatzes ist simpel: Verfügt ein Akteur über Vetomacht, so wird er diese zur Durchsetzung seiner Interessen nutzen (Ganghof 2003: 2). Wenn viele Akteure durch formale oder informelle Vetopositionen politische Entscheidungen verzögern oder blockieren können, so die Annahme, sind tiefgreifende Reformen nicht zu erwarten. Politische Stabilität ist zudem umso wahrscheinlicher, je weiter die politischen Interessen der Vetospieler auseinander liegen. Mit diesem Ansatz ließe sich beispielsweise erklären, welchen Einfluss ein föderales Bildungssystem im Vergleich zu einem zentral gesteuerten Bildungssystem auf die PISA-Reaktionen eines Landes hat. Abbildung 1.2: Anzahl der Artikel zu PISA in ausgewählten Qualitätszeitungen6 USA 0 8
Neuseeland
10
England
30
Frankreich
94
Schweiz
143
Mexiko Deutschland
276
Spanien
277 0
50
100
150
200
250
300
Zeitungsartikel
Zeitraum vom 01.12.2001 bis 31.12.2009 Quelle: Factiva-Recherche, eigene Darstellung
—————— 6 Mit Hilfe der Factiva-Datenbank wurden für den Zeitraum vom 01.12.2001 bis zum 31.12.2009 alle Artikel der jeweils auflagenstärksten und in der Datenbank verfügbaren Qualitätstageszeitung eines Landes erfasst, welche die Stichwörter »PISA« und »OECD« (unter Berücksichtigung der entsprechenden einzelsprachigen Übersetzungen) enthielten: Deutschland (Süddeutsche Zeitung), Frankreich (Le Monde), England (The Times), Neuseeland (The Press), Schweiz (Neue Zürcher Zeitung), Spanien (El País), USA (New York Times). Im Falle Mexikos war die hier zitierte Reforma erst ab Mai 2004 verfügbar.
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Auch nationale Leitideen können die Reaktionen eines Landes auf internationale Bildungsaktivitäten beeinflussen. Sie sind »Konfigurationen von Einzeldeutungen, die miteinander zu einem System verknüpft sind und zur Interpretation unterschiedlicher Sachverhalte dienen« (Gerhards 2000: 11). Nationale Leitideen, so wird angenommen, können das Denken und damit das Handeln politischer Akteure beeinflussen (Parsons 2007). Auch internationale Organisationen sind bestrebt, die Verbreitung der von ihnen präferierten Politikziele und Reformmodelle zu befördern. Im Falle der OECD basiert dieses Leitmodell zur Reform nationaler Bildungssysteme auf so genannten best practice-Beispielen der PISA-Gewinner oder PISAAufsteiger (Popp 2010). Die Kompatibilität eines solchen Modells mit nationalen Leitideen beeinflusst die Reaktionen eines Landes auf internationale Aktivitäten wie die PISA-Studie, weil Lernprozesse dadurch entweder begünstigt oder erschwert werden. Je stärker die nationalen Leitideen mit denen der OECD übereinstimmen, desto weniger intensiv sind die Reaktionen eines Landes, da die Unterschiede zwischen den Leitideen kaum wahrgenommen werden und nur wenig Anpassungsdruck entsteht (vergleiche Börzel/Risse 2003). Liegen die jeweiligen bildungspolitischen Leitideen jedoch weit auseinander, sind deutliche Reaktionen in der öffentlichen Wahrnehmung und politische Reformen zu erwarten. Der nationale Problemdruck ist die dritte Erklärungsvariante für unterschiedliche Reaktionen auf PISA. Eine Folge der zunehmenden Internationalisierung von Politik ist die Einschränkung nationaler Problemlösungsfähigkeit (Scharpf 1997). Die bewährten Steuerungsinstrumente verlieren an Effektivität oder stehen nationalen Regierungen gar nicht mehr zur Verfügung. Gleichzeitig lassen sich in nationalen Bildungssystemen Prozesse der Vermarktlichung beobachten (Kohlrausch/Leuze 2007; Walkenhorst 2008). Diese Kombination aus der Verengung nationaler Handlungsspielräume und internationalem Wettbewerb hat in vielen Ländern zu einem erheblichen Reformdruck geführt. Für Regierungen ist die »Instrumentalisierung der intergouvernementalen Ebene« (Martens/Wolf 2006: 149) eine Möglichkeit, innenpolitische Reformblockaden zu umgehen. Je höher also der jeweilige nationale Reformdruck und die Forderung nach Veränderungen vor der Veröffentlichung der PISA-Studien, desto deutlicher sind die Reaktionen eines Landes. Bei geringem nationalen Reformdruck hingegen ist die Reaktion gering und Wandel nicht zu erwarten.
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Aufbau des Buches Das nachfolgende zweite Kapitel gibt einen Überblick über Methodik und zentrale Ergebnisse der PISA-Studie. Janna Teltemann geht dabei zunächst auf die Besonderheiten der Konzeption der Studie sowie auf ihre Stärken und Schwächen ein. Daran anschließend werden, mit einem Schwerpunkt auf den im Band untersuchten Ländern, die wichtigsten Befunde und Trends dargestellt. Neben den Ergebnissen der Kompetenzmessung werden weitere wichtige Merkmale der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, ihrer Familien und der Schulen, die sie besuchen, betrachtet sowie Unterschiede zwischen Ländern und Veränderungen über die Jahre aufgezeigt. Das Kapitel gibt somit einen Überblick über die empirischen Ausgangspositionen der in den weiteren Kapiteln genauer untersuchten Länder. Die nachfolgenden vertiefenden Länderfallstudien stellen eine Sammlung von Einzelfallstudien dar, welche einen Querschnitt der verschiedenen Reaktionen, die PISA ausgelöst hat, bieten soll. Dabei werden verschiedene Fälle betrachtet – unterschiedlich hinsichtlich der Auswirkungen, aber auch unterschiedlich hinsichtlich ihrer Ausgangsbedingungen. Die Vergleichbarkeit der empirischen Ergebnisse der Länderkapitel ist deshalb begrenzt: Trotzdem lassen sich gewisse übergreifende Tendenzen erkennen. Die vertieften Länderfallstudien wurden auf der Grundlage von qualitativer Dokumentenanalyse und zum überwiegenden Teil auch mit Hilfe von semi-strukturierten Experteninterviews (Meuser/Nagel 2002; Martens/Brüggemann 2006) erstellt. Als Expertinnen und Experten wurden vor allem Vertreterinnen und Vertreter der an den Entscheidungen im Bildungsbereich beteiligten Institutionen auf nationalstaatlicher und subnationaler Ebene befragt. In Deutschland hat PISA seit 2001 hohe öffentliche Wellen geschlagen und ist seither zu einem Menetekel für den Niedergang des deutschen Bildungswesens geworden. Dennis Niemann zeigt in seinem Beitrag, dass die von der PISA-Studie angestoßenen Reformen im deutschen Bildungssystem weit über strukturelle Anpassung hinausgehen. Vielmehr bewirkte PISA ebenfalls eine umfassende Neuorientierung der Politikgestaltungsprozesse und eine tiefgreifende Neubewertung der Bildungsphilosophie in Deutschland. Wo zuvor Input-Orientierung und ein ganzheitliches Bildungsideal standen, sind nun ein Fokus auf Outputs und ein nutzenorientierter Bildungszweck vorherrschend.
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Tonia Bieber untersucht die politischen Reformen, die in der Schweiz infolge von PISA angestoßen wurden. Obwohl das Abschneiden der Schweiz in allen PISA-Studien mindestens im OECD-Durchschnitt lag, reagierte die Schweizer Politik heftig, da sie das Schweizer Bildungssystem zuvor als bestes in Europa angesehen hatten. Das politische Ergebnis war das interkantonale Konkordat HarmoS, das die kantonalen Schulsysteme mittels harmonisierter Eckwerte aneinander angleichen und deren Qualität verbessern soll. Diese verstärkte Abstimmung der Kantone im Kontext des kooperativen Föderalismus wird als Vorbild für Deutschland gesehen. In seiner Studie über Frankreich gibt Michael Dobbins einen Überblick zum Wandel in der französischen Bildungspolitik, die seit den 1980er Jahren erheblichen internen und externen Zwängen ausgesetzt ist. Frankreich erlebte seinen großen bildungspolitischen »Schock« bereits Anfang der 1980er, als ein Bericht des Bildungsministeriums die schlechten Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler offenbarte. Seitdem befindet sich das französische Bildungswesen in einem ständigen Lern-, Erneuerungs- und Evaluierungsprozess, der durch nationale und internationale Leistungsvergleiche, wie beispielsweise PISA, beflügelt wird. Aufgrund des hohen Grades an Zentralisierung und exekutiver Dominanz unterscheidet sich die französische Bildungstradition weitgehend von der deutschen und angloamerikanischen Tradition. In der darauf folgenden Fallstudie nimmt Marie Popp die spanischen Reaktionen auf die PISA-Studie in den Blick. In diesem Land kam es nach 2001 gleich zu zwei Bildungsreformen: eine von der konservativen Regierung und eine weitere von der sozialdemokratischen Regierung. Die PISAStudie entwickelte sich in diesem Zusammenhang zum wichtigsten Referenzpunkt für die Bewertung der beiden Bildungsreformen. Der absteigende Trend der spanischen PISA-Ergebnisse beförderte die Politisierung der Bildungsdebatten in Spanien zusätzlich und ist für das starke Medienecho verantwortlich. Philipp Knodel untersucht die Reaktionen auf PISA in England. Im englischen Bildungssystem wurden Leistungen von Schülerinnen und Schülern bereits vor PISA in nationalen Studien getestet. In der ersten PISA-Studie schnitt England gut ab. Die Reaktionen auf die Platzierung waren positiv, währten jedoch nur kurz. Bei den darauf folgenden PISA-Erhebungen lässt sich eine pick-and-choose-Strategie der britischen Regierung beobachten: Gute Ergebnisse werden als Beweis für effiziente Bildungspolitik gewertet, schlechte Ergebnisse werden ignoriert. In den letzten Jahren veränderte
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sich das Interesse der Politik und der Öffentlichkeit. Es entstand ein Diskurs über die Bedeutung internationaler Bildungsstudien für englische Bildungspolitik. Die Reaktionen auf PISA in Mexiko sind Gegenstand einer weiteren Fallstudie von Marie Popp. Das Land belegte in allen drei PISA-Runden den letzten Platz unter den OECD-Staaten. Trotzdem wurde das politische und öffentliche Interesse an den Ergebnissen erst mit der zweiten Bildungsstudie entfacht und stieg dann weiter an. Im Anschluss an die Bekanntgabe der Studienergebnisse von 2006 wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungsqualität getroffen. Die Empfehlungen und Beratungstätigkeiten der OECD spielten eine entscheidende Rolle bei der Einleitung dieser Veränderungen im mexikanischen Bildungsbereich. Michael Dobbins gibt einen Überblick über die neuseeländische Bildungspolitik, deren Wandel bereits in den 1980er Jahren begann und die sich durch die Ergebnisse internationaler Leistungsvergleiche und durch enge Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen stark geprägt zeigt. Er zeigt auf, wie verschiedene innenpolitische Faktoren bildungspolitische Reformen beschleunigt haben. Dazu gehören eine starke Bereitschaft mit neuen Lösungsansätzen zu experimentieren, ein stark ausgeprägter Pragmatismus und eine für Neuseeland charakteristische Kultur des sozialen Gleichgewichtes und Ausgleiches. Diese Faktoren erklären den hohen Grad an Flexibilität sowie die Anpassungsfähigkeit des Bildungssystems dieses Landes. In dem Kapitel zu den USA untersucht Kerstin Martens, wie die Amerikaner auf ihr schlechtes Abschneiden in der OECD-Studie reagiert haben. Obwohl das Land ähnlich wie Deutschland untere Rangplätze in den bisherigen PISA-Studien eingenommen hat, ist PISA in den USA schlichtweg kein Thema, weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in den politischen Debatten. Der Beitrag geht dieser Nichtbeachtung der PISAErgebnisse nach und zeigt auf, dass die OECD-Studie den US-Amerikanern keinen informativen Mehrwert bieten konnte. Dass ihre Schulen schlecht sind, war bereits aus anderen Vergleichsstudien bekannt. Welche Diskurse und Reformen hat PISA bei anderen »Gewinnern« und »Verlierern« hervorgerufen? Was versprechen sich »Exoten« wie Katar und Thailand von ihrer Teilnahme an PISA? Daniel de Olano wirft einen Blick auf die PISA-Reaktionen in weiteren Teilnahmestaaten inner- und außerhalb der OECD-Welt und stößt dabei auf Abstiegsängste, Aufstiegsträume und die Herausforderungen einer globalisierten Welt.
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OLANO, KNODEL, MARTENS UND POPP
Im abschließenden Kapitel diskutieren die Herausgeberinnen und Herausgeber die empirischen Ergebnisse aus einer vergleichenden Perspektive. Zu diesem Zweck werden die internationalen Reaktionen auf PISA systematisiert und die unterschiedlichen Auswirkungen auf die nationalen Bildungspolitiken im Rückgriff auf die oben genannten Faktoren erklärt.
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Zehn Jahre PISA – Methodik, Ergebnisse und Trends
Janna Teltemann
Wie alles begann Das OECD Programme for International Student Assessment (PISA) ist die bisher umfassendste und differenzierteste internationale Schulleistungsstudie. Mit ihrem Konzept der Messung von Schlüsselqualifikationen, über die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Pflichtschulzeit für die erfolgreiche Teilhabe an globalisierten Wissensgesellschaften verfügen sollten, stellt sie regelmäßig aktuelle Ergebnisse zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen zur Verfügung. PISA ist das Ergebnis eines intensiven internationalen Abstimmungsprozesses, der seit 1997 durch das OECD-Sekretariat in Paris vorangetrieben wird. Die grundlegende Motivation der Studie ist es, den Regierungen der teilnehmenden Länder periodisch verlässliche Vergleichsdaten zur Verfügung zu stellen, die als Grundlage für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme dienen sollen (Baumert/Stanat/Demmerich 2001: 15). Die Bereitstellung und Aufbereitung von bildungsbezogenen Statistiken ist eine der ältesten Aufgaben der OECD (Martens 2007: 44), jedoch erreichte die Organisation lange nicht jene Vormachtstellung und Autorität, die sie heute innehat. Erst in den 1990er Jahren wurde sie zur führenden Instanz in der Messung von Bildungsergebnissen (Cussó/D'Amico 2005: 207). 1988 etablierte die OECD das Bildungsindikatorenprogramm INES (Indicators of Education Systems), dessen aktuelle Erhebungen in der jährlichen Publikation Education at a Glance (deutschsprachige Ausgabe: Bildung auf einen Blick) veröffentlicht werden. Die OECD-Bildungsstatistik hat damit erheblich an Verlässlichkeit und Verbindlichkeit gewonnen und die PISA-Studie ist ein Teil dieses Programms. Die Studie baut in ihrer Orientierung des Testens von Kompetenzen in authentischen Anwendungssituationen auf vorherigen Schulleistungstests
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wie den von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführten TIMSS und PIRLS/IGLU-Studien auf. Die Anknüpfung an deren Erhebungskonzepte kam nicht zuletzt durch Personalentscheidungen innerhalb des OECD-Sekretariats zustande; der als »Erfinder« der PISA-Studie geltende Andreas Schleicher war zuvor als Leiter für den Bereich Analysen bei der IEA tätig. PISA versucht jedoch systematischer als die bisherigen Schulleistungsstudien, die wissenschaftliche Qualität der Erhebung durch die Einbeziehung internationaler Expertenkomitees sicherzustellen. Hierzu beauftragt das PISA Governing Board, dem Vertreter jedes teilnehmenden Landes angehören, für die Entwicklung und Durchführung der Studien ein Konsortium aus internationalen Forschungs- und Testinstituten. Die PISA-Studie ist vor allem dadurch innovativ, dass sie die Messung von Kompetenzen auf drei Bereiche von literacy – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – stützt. Das literacy-Konzept geht über die reine Beherrschung von Lese- und Schreibtechnik hinaus und schließt vor allem die Anwendung dieser Fähigkeiten zum Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, die im Erwachsenenleben in modernen Wissensökonomien benötigt werden, ein. Getestet werden sollen »Basiskompetenzen […] die in modernen Staaten für eine Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben notwendig sind« (Stanat et al. 2002: 1) und damit eine befriedigende Lebensführung ermöglichen (Baumert/Stanat/Demmerich 2001: 16). Diese erfordern in globalisierten Wissensgesellschaften mehr und mehr einen lebenslangen Lernprozess. Moderne Bildungssysteme müssen demnach die Voraussetzungen für lebenslanges Lernen schaffen, wenn sie ihrer Funktion der Vermittlung von Teilhabechancen und der Sicherstellung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich nachkommen sollen (OECD 2007a; Rubenson 2009). Die flexible Anwendung von Kenntnissen, also der Transfer von erworbenem Wissen in alltagspraktischen Situationen, steht im Mittelpunkt der Kompetenzmessung in PISA. Die drei Kompetenzbereiche werden in jeder Studie getestet, ein Bereich wird jeweils vertieft abgefragt. So lag der Schwerpunkt der 2000er-Studie auf dem Kompetenzbereich Lesen, der zweite Durchgang 2003 hob die mathematischen Grundkenntnisse in den Vordergrund, die 2006er-Studie vertiefte den Bereich Naturwissenschaften. Dem jeweiligen Hauptbereich werden zwei Drittel der Testzeit zugeteilt, so dass er differenzierter und umfassender untersucht werden kann als die anderen beiden Bereiche.
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
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Im Rahmen von PISA wird zudem – erstmals in einer internationalen Schulleistungsstudie – versucht, fächerübergreifende Kompetenzen zu untersuchen. In PISA 2000 wurden Voraussetzungen für selbstständiges Lernen analysiert, wie etwa Lernstrategien, Interessen und fachbezogene Selbstkonzepte. 2003 wurden allgemeine Problemlösefähigkeiten erhoben. PISA 2006 schließlich untersuchte Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Die in PISA verfolgte Auffassung des Kompetenzbegriffs hat eine intensive Diskussion entfacht. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die funktionalistische, »inhaltsleere« Konzeption von Kompetenzen in PISA. Es wurde argumentiert, dass sich die Messung in PISA letztlich nicht von üblichen Intelligenztests unterscheide (Rindermann 2006), es somit nicht möglich sei, kumulative Wissenserwerbsprozesse und damit den Effekt von Merkmalen der Schulen oder Bildungssysteme, abzubilden. Dieser Kritik wurde unter anderem mit dem Verweis auf die Relevanz »domänenspezifischer Wissenserwerbs- und Informationsverarbeitungsprozesse« für die Lösung der Testaufgaben begegnet (Baumert et al. 2007).1 Über die Kompetenzmessung hinaus beinhaltet PISA einen umfassenden Fragebogenteil, der verschiedene Aspekte schulischer und außerschulischer Lern- und Lebensbedingungen erfasst. Weiterhin werden auf der Ebene der Schulen Informationen zu finanzieller und personaler Ausstattung sowie zur Organisationsstruktur erhoben. Diesen Fragebögen liegt die ausgeprägte »Policy-Orientierung« der Studie zugrunde: Nur über die umfassende Erhebung von möglichen Einflussfaktoren auf der Haushaltsund Schulebene können unterschiedliche Effekte auf Schulleistungen voneinander isoliert, Stärken und Schwächen schulischer Systeme identifiziert und Verbesserungsbedarf aufgezeigt werden. Den Teilnehmerstaaten stehen zudem flexible Ergänzungssmodule, zum Beispiel Elternfragebögen und Erweiterungen zur genaueren Analyse der nationalen Situation, zur Verfügung. Die Studie ermöglicht somit die Bereitstellung von vier Arten von Indikatoren (Baumert/Stanat/Demmerich 2001: 16):
—————— 1 Damit ist unter anderem gemeint, dass zur Lösung der Testaufgaben durchaus spezifisches Wissen (etwa über mathematische Sätze) nötig ist, und nicht allein »Intelligenz« als Fähigkeit zum Denken ausreicht. Vielmehr brauche es spezifische »Lerngelegenheiten«, von denen der Kompetenzerwerb abhängt (Baumert et al. 2007: 124). Damit werde in PISA durchaus gemessen, inwieweit Schulen und Bildungssysteme diese Lerngelegenheiten effizient zur Verfügung stellen.
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1. Basisindikatoren, die das Profil von Kompetenzen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in einem Land abbilden; 2. Kontextindikatoren, die den demographischen und sozio-ökonomischen Kontext sowie die institutionelle Verfassung von Bildungssystemen beschreiben; 3. relationale Maße und Prozessindikatoren, welche international variierende Zusammenhänge zwischen den Kontextindikatoren und Basisindikatoren deutlich machen; 4. Trendindikatoren, die durch die periodische Erhebung ermöglicht werden.
Die PISA-Methode Um zu messen, wie gut Schülerinnen und Schüler in den teilnehmenden Ländern auf die Herausforderungen moderner Wissensgesellschaften vorbereitet sind, wurde als Zielgruppe die 15-jährige Bevölkerung definiert, da in den meisten modernen Bildungssystemen die Pflichtschulzeit in diesem Alter beziehungsweise kurz danach endet. Diese Definition und die Zielsetzung der Messung von anwendungsbezogenem Wissen macht die Kompetenzmessung in PISA unabhängig von der Orientierung an nationalen Lehrplänen. Damit unterscheidet sich PISA von den bisherigen internationalen Schulleistungsstudien, die curriculumsbezogene Kompetenzen abfragten und – als international vergleichende Studien – nur diejenigen Kernkomponenten von Lehrplänen testen konnten, die tatsächlich vergleichbar waren. Aufgrund dieses Designs konnten die Studien der IEA bis zum Jahr 2000 nur in einer begrenzten Anzahl von Ländern durchgeführt werden, so dass die Vergleichbarkeit nicht in einem so umfassenden Rahmen wie in PISA möglich war (Baumert 2000: 12). Die an PISA teilnehmenden Länder beauftragen das OECD-Sekretariat mit der Durchführung der Studie. Das Sekretariat übernimmt dabei jedoch »nur« das Management und die spätere Veröffentlichung der Daten, die wissenschaftliche Entwicklung und praktische Durchführung wird an das internationale Konsortium abgegeben. In den Teilnehmerstaaten sind wiederum nationale Testzentren (häufig »nationale Konsortien« genannt) beteiligt und mit der Durchführung der Tests beauftragt. Die Einhaltung der
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methodischen Vorgaben wird dabei an den Testtagen stichprobenhaft durch das internationale PISA-Konsortium kontrolliert. Die Tests werden als so genannte paper and pencil tests, also handschriftlich, durchgeführt. Für das Bearbeiten der Testaufgaben stehen den Schülerinnen und Schülern zwei Zeitstunden zur Verfügung. Im Anschluss an die Aufgabenbearbeitung stehen weitere 20 bis 30 Minuten zum Ausfüllen des Kontextfragebogens zur Verfügung. Die Testaufgaben beinhalten sowohl multiple choice-Fragestellungen als auch offene Textaufgaben. Bei der Verteilung der Aufgaben wird ein so genanntes Multi Matrix Design verwendet, bei dem jede Schülerin und jeder Schüler nur jeweils eine bestimmte Anzahl von Aufgaben (bei PISA 2006 waren es 31 Prozent) aus dem Aufgaben-Pool zugeteilt bekommt. Das Design der Testaufgaben umfasst Aufgaben, die ein breites Spektrum von Fähigkeiten und Kompetenzen auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen abdecken. Es wurden insgesamt Aufgaben für sieben Stunden Testzeit entwickelt, aus diesem Set werden Zufallsziehungen vorgenommen und jedem Schüler wird ein solches Zufalls-Fragenset zugeteilt. Die Tests und die spätere Skalierung auf einer kontinuierlichen Kompetenzsskala mithilfe von Modellen der ItemResponse-Theorie sind so entwickelt, dass der zweistündige Test im Prinzip einem siebenstündigen Test entspricht und so eine relativ verlässliche Messung des latenten Konstrukts der individuellen »Kompetenz« ermöglicht. Die so ermittelte Kompetenz der Schülerinnen und Schüler wird dann auf standardisierten metrischen Skalen mit einem Mittelwert von 500 (bezogen auf die OECD-Länder und den jeweiligen Kompetenzschwerpunkt) und einer Standardabweichung von 100 abgebildet. Das bedeutet, dass zwei Drittel aller Schüler in OECD-Ländern zwischen 400 und 600 Punkten auf der Kompetenzskala abschneiden. Die Stichprobenziehung erfolgt in den meisten Ländern zweistufig. In einem ersten Schritt werden die schulischen Systeme der Teilnehmerstaaten nach zentralen Merkmalen unterteilt, wie zum Beispiel nach Regionen (Länder, Provinzen, Kantone) und nach Schulformen, innerhalb dieser Unterteilungen werden dann die Schulen nach einem Zufallsverfahren ausgewählt. In den ausgewählten Schulen werden schließlich die Testpersonen aus der Gruppe der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler zufällig gezogen, unabhängig von der Klassenstufe, in der sie sich befinden. Die Beteiligungsquoten der ausgewählten Schulen sowie der Schülerinnen und Schüler dürfen bestimmte Grenzen (85 Prozent der für die Stichprobe gezogenen Schulen und mindestens 80 Prozent der ausgewählten Schüle-
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rinnen und Schüler) nicht unterschreiten. Wird dieser Wert unterschritten, wie dies beispielsweise bei PISA 2000 in den Niederlanden vorgekommen ist, führt dies zum Ausschluss von der Auswertung. Zusätzlich zu den gezogenen Schülerinnen und Schülern füllen die Schulleiter der in die Stichprobe aufgenommenen Schulen einen Fragebogen zum Kontext der Schule, der Ressourcenausstattung und Steuerungsmöglichkeiten aus. Damit ist es möglich, den Einfluss von Merkmalen der Schule bezüglich etwa ihrer Finanzierung oder ihrer Autonomie auf die Kompetenzentwicklungen der Schüler zu untersuchen (Wößmann 2007; Maslowski/Scheerens/Luyten 2007). Mit diesem Verfahren variieren die Stichprobengrößen zwischen etwa 4.500 und 10.000 Jugendlichen an durchschnittlich etwa 400 Schulen pro Land.2 Das Design der Studie ist so angelegt, dass eine für die 15-jährige Bevölkerung repräsentative Auswahl getroffen wurde. Dieses Vorgehen impliziert, dass die Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Klassenstufen stammen können. Die Verteilung über die verschiedenen Klassenstufen variiert je nach Schulsystem. So zeigen sich einige Länder flexibler als andere im Bezug auf das Einschulungsalter. Unterschiede bestehen auch bei der Praxis der Nicht-Versetzung. In Portugal, Luxemburg, Irland und Deutschland verteilt sich der größte Teil der 15-Jährigen auf drei Klassenstufen, während er in der Türkei, den Niederlanden, Österreich und Tschechien vor allem zwei Klassenstufen abdeckt. Im Vergleich dazu besucht in Polen, Schweden, Norwegen, Korea und Island nur ein Bruchteil (unter 5 Prozent) eine andere Klassenstufe als der allergrößte Teil der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler. Vergleicht man nur diejenigen Schülerinnen und Schüler miteinander, die zum Zeitpunkt der Befragung die im Land »übliche« (modale) Klassenstufe besuchten, ergibt sich eine andere Rangfolge von Ländern – mit teilweise erheblichen Abweichungen (siehe Abbildung 2.1). In Frankreich etwa besuchte in der PISA 2006-Stichprobe der Großteil (57 Prozent) der 15-Jährigen die zehnte Klassenstufe, fast 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler waren jedoch noch in der achten oder neunten Klasse. Betrachtet
—————— 2 Einige Länder weichen von diesen Durchschnittswerten ab. In PISA 2006 hatten Liechtenstein (339 Teilnehmer) und Island (3.789 Teilnehmer) aufgrund ihrer geringen Einwohnerzahlen kleinere Stichproben. In Australien, Kanada, der Schweiz, Spanien, dem Vereinigten Königreich, Indonesien, Italien und Mexiko haben hingegen zum Teil weit mehr als 10.000 Schüler an der Befragung teilgenommen – teilweise um regionale Vergleiche innerhalb der Länder zu ermöglichen. Ebenso variiert die Anzahl der Schulen zwischen 11 (Liechtenstein) und 1130 (Mexiko).
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man nun nur die Leistungen der Zehntklässler und vergleicht diese mit den Leistungen der Jugendlichen, die in den anderen Ländern die altersübliche Klassenstufe besuchen, so steigt Frankreich in der Rangfolge von Platz 19 auf Platz 6.3 Spanien steigt um zehn Plätze in der Rangliste und auch Mexiko würde nicht mehr auf dem letzten Platz der OECD-Länder rangieren, würde man nur die Schüler in der jeweils üblichen Klassenstufe vergleichen. Das Vereinigte Königreich, die Schweiz und Neuseeland hingegen würden schlechter abschneiden, würde man nur die nach der altersüblichen Klassenstufe bedingten Mittelwerte vergleichen. In Deutschland besuchen 12 Prozent der 15-Jährigen die achte Klasse, 55 Prozent die neunte und 29 Prozent die zehnte. Der Abstand zwischen den Schülerinnen und Schülern in der achten und denen in der zehnten Klasse beträgt 150 Punkte, der zwischen der neunten und zehnten immerhin noch 70 Punkte, was deutlich über dem Wert liegt, der durchschnittlich einer Klassenstufe entspricht (38 Punkte).4 Sofern die Verteilung in den Ländern auf die verschiedenen Klassenstufen sehr heterogen ist, trifft also die implizite Annahme von PISA, Jugendliche am Ende ihrer Pflichtschulzeit zu testen, nur eingeschränkt zu. Eine sehr starke Abweichung ergibt sich beispielsweise auch in Portugal, wo die modale zehnte Klassenstufe nur von 53 Prozent aller Schülerinnen und Schüler besucht wird. Die 27 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe 9 schneiden immerhin 83 Punkte schlechter ab, als diejenigen in Klasse 10, was wiederum eigentlich zwei Klassenstufen entspricht. Das oben beschriebene Verfahren der Stichprobenziehung bringt außerdem mit sich, dass keine Klassenkontexte erhoben werden können. Im Gegensatz zu PIRLS/IGLU ist es somit nicht möglich, Klassen- oder Lehrereffekte zu untersuchen. Dies stellt insofern einen Nachteil von PISA dar, als verschiedene Arbeiten aus der Bildungsforschung gezeigt haben, dass die Mitschüler und Lehrkräfte einen wichtigen Einfluss auf den Bildungserwerb haben können (Entorf/Lauk 2008; Hanushek 2003; Stanat 2007). Um also Effekte der Familie und des Elternhauses von denen der Schulorganisation oder des Bildungssystems zu trennen, wäre eine Kontrolle der Effekte der Klasse eigentlich wünschenswert.
—————— 3 Die in der folgenden Abbildung dargestellte Rangfolge bezieht sich nur auf die OECDLänder mit gültigen Lesekompetenzwerten in 2006. Die Rangfolge kann daher von den von der OECD veröffentlichen Ranglisten abweichen. 4 Insbesondere im deutschen Fall ist dabei zu beachten, dass die Schüler unterschiedliche Schularten (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule) besuchen.
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Abbildung 2.1: Rangfolge der OECD-34-Staaten* in PISA 2006 nach Lesewerten aller Schülerinnen und Schüler (linke Spalte) und derjenigen, die die jeweils modale Klassenstufe besuchen (rechte Spalte) Korea Finnland Kanada Neuseeland Irland Australien Polen Schweden Niederlande Belgien Estland Schweiz Japan Vereinigtes Kgr. Deutschland Dänemark Slowenien Österreich Frankreich Island Norwegen Tschechische Rep. Ungarn Luxemburg Portugal Italien Slowakische Rep. Spanien Griechenland Türkei Chile Israel Mexiko * Keine Daten für die USA (siehe Fußnote 5). Quelle: OECD 2007c, eigene Darstellung
Korea Finnland Belgien Niederlande Kanada Frankreich Portugal Neuseeland Estland Österreich Polen Australien Schweden Irland Schweiz Dänemark Tschechische Rep. Spanien Japan Vereinigtes Kgr. Slowenien Deutschland Slowakische Rep. Norwegen Island Ungarn Italien Griechenland Chile Luxemburg Mexiko Israel Türkei
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Bei aller methodischer Elaboriertheit der Studie muss überdies beachtet werden, dass die Daten trotz aller Informationsfülle den Beschränkungen von Querschnittsdaten unterliegen. Demnach sind kausale Aussagen über Zusammenhänge zwischen Kompetenzen und Kontexten streng genommen nicht möglich. Dennoch ist PISA insbesondere auf die Vergleichbarkeit der einzelnen, alle drei Jahre durchgeführten, Studien angelegt, um Aussagen über Veränderungen von Bildungssystemen über die Zeit zu ermöglichen.
PISA als Trendbarometer Aussagen über Trends zu ermöglichen, wurde als ein wichtiges Ziel von PISA definiert (OECD 2009: 174). Seit der ersten Erhebung im Jahr 2000 wurden daher weitgehend konsistente Verfahren der Datenerhebung angewendet, kleinere Anpassungen jedoch, sofern die praktischen Felderfahrungen nach der Durchführung der ersten Studien diese nötig machten, vorgenommen. Die Voraussetzungen für Trendanalysen, also die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der einzelnen PISA-Studien innerhalb eines Landes, sind deutlich anspruchsvoller als die Voraussetzungen für Querschnittanalysen zwischen den teilnehmenden Ländern innerhalb einer Studie. Carstensen, Prenzel und Baumert (2009) gehen daher insgesamt von sehr restriktiven Voraussetzungen für Längsschnittvergleiche mit PISA aus: Letztlich müsse sichergestellt sein, »dass alle Tests, die für Trendanalysen herangezogen werden, zu allen Zeitpunkten in allen Ländern dieselbe Kompetenz erfassen und frei von kulturellen oder sich über die Zeit verändernden Einflüssen sind« (ebenda: 31). Bislang ist die Situation in Bezug auf die Analyse von PISA-Trends entsprechend »unübersichtlich« (ebenda: 12). Auch die offiziellen Publikationen der OECD sind hier methodisch nicht konsistent. So wird in den Datenanalysehandbüchern darauf hingewiesen, dass Trendanalysen der Kompetenzwerte (der Mathematik- und Naturwissenschaftswerte) nur eingeschränkt möglich seien. Dennoch werden an einigen Stellen Trends präsentiert und damit Verzerrungen für einzelne Länder in Kauf genommen. Teilweise kann den Schwierigkeiten bei der Analyse von Veränderungen über die drei Studien hinweg begegnet werden, wenn die Analyse auf die Länderebene beschränkt bleibt.
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Da in den drei Studien von 2000, 2003 und 2006 nicht die gleichen Aufgaben verwendet wurden, sollten Trends streng genommen nur über die gemeinsam verwendeten Aufgaben gerechnet werden (»marginale Trends«, siehe ebenda 2009: 16–17; Gebhardt/Adams 2007). Damit ginge allerdings die Vergleichbarkeit zwischen Staaten verloren. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass sich Unterschiede zwischen Ländern in den mittleren Schwierigkeitsgraden zwischen den gemeinsamen und den zusätzlichen Testaufgaben feststellen lassen (»Aufgaben-Länder-Interaktionen«, siehe Carstensen/Prenzel/Baumert 2009: 18). Die regulär berichteten unbereinigten Trends beinhalten daher auch Unterschiede, die »auf länderspezifische Interaktionen der Aufgabenschwierigkeiten mit den unterschiedlichen Testformen zurückgehen« (ebenda: 18) und die damit nicht auf Unterschiede in den Kompetenzen der Jugendlichen zurückzuführen sind. Ein Design, das in jeder Erhebung die gleichen Aufgaben verwendet, ist allerdings ebenso wenig praktikabel, denn die jeweiligen Themenbezüge der PISA-Aufgaben verlieren mit der Zeit an Aktualität, mit der Folge, dass sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben ändern könnte. Im Folgenden werden einige markante PISA-Trends präsentiert. Dabei werden nur diejenigen OECD-Länder betrachtet, welche an allen bisher ausgewerteten Studien (PISA 2000, PISA 2003 und PISA 2006) teilgenommen haben und für welche gültige Werte vorliegen. Als einziger Kompetenzbereich ist die Lesekompetenz über die drei Studien vergleichbar, da die Lese-Skala bereits für PISA 2000 entwickelt und auf den Mittelwert von 500 Punkten normiert wurde. Für die Mathematikkompetenz sind Trends über die Jahre 2003 und 2006 beobachtbar, für den Bereich Naturwissenschaften sind bisher keine Trendanalysen möglich (OECD 2007c: 369). Um zu ermitteln, ob die beobachteten Veränderungen über die drei Erhebungen statistisch signifikant sind, wurden die Standardfehler der Differenzen eines statistischen Kennwertes θ wie folgt berechnet (OECD 2009: 175):
(ˆ
2006 2000 )
ˆ
² (ˆ
2006 )
² (ˆ
2000 )
Bei Kennwerten, die sich auf Kompetenzmessungen beziehen, wurde zusätzlich der so genannte linking error in die Berechnung der Standardfehler einbezogen (OECD 2009: 177). Sofern im folgenden Veränderungen als statistisch signifikant eingestuft werden, bezieht sich die Signfikanz auf eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent.
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Abbildung 2.2: Rangfolge im Bereich Lesekompetenz, PISA 2000, 2003 und 2006 2000
2003
2006
Finnland Kanada Neuseeland Australien Irland Korea Japan Schweden Island Belgien Österreich Norwegen Frankreich Dänemark Schweiz Spanien Tschechische Rep. Italien Deutschland Ungarn Polen Griechenland Portugal Luxemburg Mexiko
Finnland Korea Kanada Australien Neuseeland Irland Schweden Belgien Norwegen Schweiz Japan Polen Frankreich Dänemark Island Deutschland Österreich Tschechische Rep. Ungarn Spanien Luxemburg Portugal Italien Griechenland Mexiko
Korea Finnland Kanada Neuseeland Irland Australien Polen Schweden Belgien Schweiz Japan Deutschland Dänemark Österreich Frankreich Island Norwegen Tschechische Rep. Ungarn Luxemburg Portugal Italien Spanien Griechenland Mexiko
Nur OECD-Länder, die an allen drei Studien teilgenommen haben.5 Quelle: OECD 2001, 2004, 2007b, eigene Darstellung
Abbildung 2.2 zeigt, wie sich die Reihenfolge der Länder nach ihren mittleren Lesewerten über die drei Studien hinweg unterscheidet. Die gezeigte Darstellung entspricht nicht der Darstellung der offiziellen Publikationen, da hier nur diejenigen OECD-Länder betrachtet wurden, für die für alle
—————— 5 Die Ergebnisse der Niederlande (2000), des Vereinigten Königreiches (2003) und der USA (2006, nur im Bereich der Lesekompetenz) konnten aufgrund zu geringer Rücklaufquoten beziehungsweise fehlerhafter Testhefte nicht berücksichtigt werden. Die Türkei und die Slowakei nehmen erst seit PISA 2003 an der Studie teil. Von den 2010 aufgenommenen neuen OECD-Mitgliedstaaten nahmen Chile und Israel an PISA 2000 und PISA 2006 teil, Estland und Slowenien nur an PISA 2006.
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JANNA TELTEMANN
drei Studien gültige Lesewerte vorliegen. Die hier gezeigten Rangfolgen wurden nur mit diesen 25 Ländern gebildet. Strenggenommen stellt diese Reihung keine wirkliche Rangfolge dar. Um eine solche bilden zu können, müsste überprüft werden, ob sich die Mittelwerte signifikant voneinander unterscheiden. Dies wurde hier nicht beachtet, es ist also gut möglich, dass sich Länder tatsächlich einen Platz »teilen«, deshalb wurde auch auf die Ausweisung von Rangziffern verzichtet. Für die Verständlichkeit der nachfolgenden Erläuterungen wird dennoch der Begriff »Rangplatz« verwendet, um Veränderungen über die drei Studien deutlich zu machen. Auf den ersten sechs Plätzen gab es über die drei Studien keine Veränderungen; Korea, Finnland, Kanada, Neuseeland, Irland und Australien besetzten diese in wechselnder Reihenfolge, wobei Korea die deutlichsten Rangveränderungen verzeichnet hat und sich vom sechsten auf den ersten Platz »hochgearbeitet« hat. Den deutlichsten Aufstieg erreichte Polen, das sich vom 21. Platz bei PISA 2000 über den 12. Platz im Jahr 2003 auf den siebten im Jahr 2006 verbessern konnte. Zusammen mit Korea (31 Punkte mehr in 2006 als in 2000, siehe Tabelle 2.1) hat Polen damit als einziges OECD-Land eine signifikante Verbesserung der Kompetenzwerte zwischen 2000 und 2006 erreicht. Spanien hingegen ist über die drei Studien in der Rangfolge deutlich abgestiegen. Dem entspricht auch ein absoluter Kompetenzverlust von 32 Punkten auf der Lese-Skala, ein signifikanter Trend und zugleich die höchste Punktdifferenz im Vergleich zu allen anderen Ländern, die an allen drei bisherigen Studien teilnahmen. Signifikant schlechtere Ergebnisse im Vergleich zu PISA 2000 zeigten 2006 auch Australien, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Japan, Mexiko und Norwegen. Die Schweiz zeigte zwischen 2000 und 2003 eine nicht signifikante Verbesserung von fünf Punkten, und keine Veränderung zwischen 2003 und 2006. Deutschland konnte sich von 2000 und 2003 um sieben Punkte verbessern und schnitt 2006 noch einmal vier Punkte besser ab, dieser Trend ist jedoch noch nicht signifikant. Für das Vereinigte Königreich liegen für 2003 aus technischen Gründen (geringe Teilnahmequoten) keine gültigen Lesewerte vor. 2006 lag Großbritannien und Nordirland jedoch mit 495 Punkten gleichauf mit Deutschland. Für die USA hingegen liegen gültige Werte nur für die Jahre 2000 (504 Punkte) und 2003 (495 Punkte) vor, hier war also ein Abwärtstrend zu beobachten. Chile als neues OECD-Land hat 2000 und 2006 an der Studie teilgenommen und zwischen diesen beiden Jahren eine signifikante Verbesserung erreicht.
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ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
Tabelle 2.1: PISA-Mittelwert 2006 und Differenzen zu den Jahren 2003 und 2000 2006
2006–2003
2006–2000
Australien
513
-13 *
-15 *
Belgien
501
-6
-6
Chile
442
–
33 *
Dänemark
494
2
-2
Deutschland
495
4
11
Estland
501
–
–
Finnland
547
3
0
Frankreich
488
-8
-17 *
Griechenland
460
-13 *
-14 *
Irland
517
2
-9
Island
484
-7
-22 *
Israel
439
–
-14
Italien
469
-7
-19 *
Japan
498
0
-24 *
Kanada
527
-1
-7
Korea, Republik
556
22 *
31 *
Luxemburg
479
0
38 *
Mexiko
410
11
-11 *
Neuseeland
521
-1
-8
Niederlande
507
-6
–
Norwegen
484
-15 *
-21 *
Österreich
490
0
-2
Polen
508
11 *
29 *
Portugal
472
-5
2
40
JANNA TELTEMANN
Schweden
507
-7
-9
Schweiz
499
0
5
Slowakei
466
-3
–
Slowenien
494
–
–
Spanien
461
-20 *
-32 *
Tschechische Republik
483
-6
-9
Türkei
447
6
–
Ungarn
482
1
2
Vereinigtes Königreich
495
–
-28 *
Signifikante Unterschiede sind mit einem * gekennzeichnet. Quelle: OECD 2007c, veränderte Darstellung
Zu den PISA-Ergebnissen, denen in der öffentlichen Wahrnehmung am meisten Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, gehören die auf Länderebene aggregierten Mittelwerte der Kompetenzskalen. Mittelwerte bieten intuitiv erfassbare und pragmatische Informationen über ein interessierendes Merkmal, aber sie verlieren bei Vergleichen an Aussagekraft, wenn etwa die Verteilung des interessierenden Merkmals sehr unterschiedlich ist. Eine breite Streuung der Kompetenzwerte in einem Land deutet auf ein Bildungssystem hin, welches sehr heterogene Leistungen, also ausgeprägte Bildungsungleichheiten erzeugt. Deshalb sind nicht nur hohe Mittelwerte, sondern vor allem ausgewogene, homogene Verteilungen, also geringe Punktabstände zwischen etwa den obersten und untersten fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler, anzustreben (OECD 2007d: 3). Die beiden PISA-Gewinner 2006, Finnland und Korea, zeigen die größte Homogenität, ebenso aber auch Estland und Slowenien. In Israel, Belgien, Deutschland und der Tschechischen Republik hingegen ist der Abstand zwischen den besten und schlechtesten fünf Prozent auf der Leseskala besonders hoch. In der Tendenz zeigt sich, dass Länder mit geringerem Abstand zwischen den untersten und obersten fünf Prozent auch im Mittelwert besser abschneiden als Länder, deren Leseleistungen mehr Varianz aufweisen; die Stärke des Zusammenhangs ist als moderat einzustufen.
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ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
Abbildung 2.3: Zusammenhang zwischen Streuung der Lesewerte und mittleren Lesewerten in Pisa 2006, OECD-34-Staaten 550
KOR FIN
CAN NZL IRL AUS
Mittlerer Lesewert 450 500
POL NLD SWE EST
CHE
FRA NOR
ISL
HUN
BEL DEU
JPN GBR
SVN DNK
AUT CZE
LUX PRT
ESP
ITA SVK GRC
TUR CHL
ISR
400
MEX
250
300 350 Abstand zwischem 5. und 95. Perzentil
400
Quelle: OECD 2007c, eigene Darstellung
Das Auswertungskonzept von PISA sieht nicht nur eine Verteilung von Punkten auf den verschiedenen metrischen Leistungsskalen, sondern auch eine Einteilung in so genannte proficiency levels – Kompetenzniveaus – vor. Diesen aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen entsprechen Aufgaben mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad. Auf einer bestimmten Stufe verfügen Schülerinnen und Schüler nicht nur über die der jeweiligen Stufe zugeordneten Kompetenzen, sondern entsprechend auch über die der darunter liegenden Kompetenzstufen (Artelt et al. 2001: 88–89; Baumert/Schümer 2001: 398; OECD 2007b: 337–339). Lesekompetenz wird in fünf Stufen eingeteilt. Für das Erreichen der Kompetenzstufe 1 ist ausschließlich die erfolgreiche Aufnahme von Informationen erforderlich, es ist keine kognitive Transferleistung notwendig. Ist ein Schüler hierzu nicht in der Lage, ist es sehr wahrscheinlich, dass er nicht befähigt ist, seine Lesekenntnisse als Mittel zum Auf- und Ausbau seiner allgemeinen Kompetenz zu nutzen: »Für Schülerinnen und Schüler, deren Grundqualifikation unter Stufe 1 liegen, besteht daher nicht nur die Gefahr, dass sie beim Übergang von der Schule ins
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JANNA TELTEMANN
Arbeitsleben großen Problemen gegenüberstehen, sondern auch, dass sie in ihrem weiteren Leben Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung nicht nutzen können.« (OECD 2007b: 341)
Schülerinnen und Schüler, die unterhalb der ersten Kompetenzstufe bleiben, verfügen also ihren Testergebnissen nach zu schließen nicht über die elementarsten Lesekompetenzen. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Anteil der Schülerinnen und Schülern unterhalb der ersten Kompetenzstufe im Lesen über die drei Studien hinweg angestiegen ist. Insgesamt zeigen mit Österreich, Kanada, der Tschechischen Republik, Frankreich, Island, Israel, Italien, Japan, Mexiko, Spanien, Schweden und dem Vereinigten Königreich zwölf der hier betrachteten 34 Ländern eine signifikante Zunahme des Anteils der Schülerinnen und Schüler unterhalb der ersten Kompetenzstufe zwischen 2000 und 2006 (siehe Abbildung 2.4).6 Nur drei Länder, Chile, Luxemburg und Polen, haben eine signifikante Verringerung des Anteils erreicht. Mexiko erreichte mit 25 Prozent der Schülerinnen uns Schüler unterhalb der ersten Kompetenzstufe im Jahr 2003 den höchsten Wert. Deutschland konnte den Anteil leicht, aber nicht signifikant reduzieren. Neuseeland zeigte so gut wie keine Veränderung über die drei Studien, ebenso die USA (zwischen 2000 und 2003).
Der Einfluss des sozio-ökonomischen und kulturellen Hintergrundes Eine Stärke von PISA ist, dass es das Design ermöglicht, den Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischem und kulturellem Hintergrund der Schülerinnen und Schüler und ihren Kompetenzen genauer zu beleuchten. Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung liegt im Kern des modernen Verständnisses von citizenship und Teilhabe. Sie gilt als soziales Bürgerrecht und als Voraussetzung für die Beseitigung nicht legitimer und damit die gesellschaftliche Integration bedrohender sozialer Ungleichheiten (Marshall 1950). Umso alarmierender waren die Befunde der ersten PISA-Studie, die zeigten, wie stark der Einfluss des Elternhauses auf die schulischen Kompetenzen trotz Bildungsexpansion und umfassender wohlfahrtsstaatlicher Absicherung in vielen Ländern ist (Vester 2006, Baumert/Stanat/Watermann 2006). Dies traf in besonderem Maße für Deutschland zu: Innerhalb
—————— 6 Es liegen nicht für alle Länder Messungen für alle drei Erhebungen vor. In den folgenden Grafiken werden daher nur diejenigen Staaten, für die zumindest eine Messung vorliegt, aufgeführt.
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
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der betrachteten OECD-Länder zeigte sich hier der höchste Wert (43 Punkte7) für den Effekt des sozio-ökonomischen Status auf die Lesewerte. In den folgenden Studien war der Einfluss des Elternhauses nicht mehr ganz so stark. 2006 lag Deutschland mit 35 Punkten nur noch auf Platz 26 der hier betrachteten 34 OECD-Länder (siehe Abbildung 2.5), dies entspricht einem signifikanten Trend. Japan, Korea, Island und Finnland belegten in allen drei Studien in wechselnder Reihenfolge die vier vordersten Ränge. In diesen Ländern ist der Einfluss des Elternhauses auf die Schülerleistungen am geringsten, wobei Japan ausgehend von einem extrem niedrigen Wert im Jahr 2000 die höchste Steigerung des Effektes zeigt (von 6 auf 18 Punkte, signifikant). Eine Zunahme des Effektes zeigte sich auch in Frankreich. Die Schweiz war unter den im Jahr 2000 teilnehmenden OECD-Staaten das Land mit dem zweitschlechtesten Wert, konnte den Einfluss des Beschäftigungsstatus (mit einem leichten Wiederanstieg 2006) aber von 40 auf 31 Punkte signifikant verringern und liegt im Jahr 2006 auf Platz 18. Mexiko rangiert in Hinblick auf den Einfluss des sozio-ökonomischen Status im Mittelfeld, konnte den Einfluss aber leicht reduzieren. Von den in diesem Band ausführlicher betrachteten Ländern ist Spanien das Land mit dem geringsten Einfluss des Elternhauses und konnte zudem eine Verbesserung über die Jahre erreichen. In Neuseeland blieb der Effekt über die drei Studien stabil. Da jedoch einige Länder mehr Bildungsgerechtigkeit erreichen konnten, belegt Neuseeland im Jahr 2006 nur Platz 24 von allen 34 OECD-Staaten. Im Vereinigten Königreich war der Effekt im Jahr 2006 relativ stark (32 Punkte), eingefügt in die Rangfolge würde es den 20. Platz einnehmen, liegt damit aber noch vor Neuseeland, Deutschland und Frankreich. In den USA lag der Effekt des Elternhauses im Jahr 2000 bei 34 Punkten, im Jahr 2003 nur noch bei 29 Punkten und damit gleichauf mit der Schweiz.
—————— 7 Bei den berichteten Effektgrößen handelt es sich um standardisierte Regressionskoeffizienten. In einer linearen Regression der Lesekompetenzwerte auf die z-standardisierten Werte des sozio-ökonomischen Status der Eltern (HISEI) gibt dieser Effekt an, um wie viele Punkte die Lesewerte bei Veränderung des HISEI um eine Standardabweichung ansteigen.
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JANNA TELTEMANN
Abbildung 2.4: Anteil der Schülerinnen und Schüler unterhalb Lese-Kompetenzstufe 1 Finnland Korea, Rep.
2000 2003 2006
Kanada Irland Estland Australien Niederlande Schweden Slowenien Neuseeland Dänemark Vereinigtes Kgr. Japan Schweiz Island Frankreich Polen USA Ungarn Österreich Spanien Norwegen Tschechische Rep. Belgien Italien Portugal Deutschland Slowakei Griechenland Luxemburg Türkei Chile Israel Mexiko 0
5
Quelle: OECD 2007c, eigene Darstellung
10
15
20
25
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
45
Abbildung 2.5: Effekt des Beschäftigungsstatus der Eltern auf die Lesekompetenz Korea, Rep. Japan
2000 2003 2006
Island Finnland Kanada Spanien Dänemark Estland Schweden Italien Irland Norwegen Türkei Australien Niederlande Mexiko Griechenland Slowenien USA Vereinigtes Kgr. Israel Polen Slowakei Neuseeland Schweiz Frankreich Tschechische Rep. Ungarn Portugal Österreich Belgien Luxemburg Deutschland Chile 0
15
30
45
Standardisierte Regressionskoeffizienten des Highest Index of Occupational Status Quelle: OECD 2007c, eigene Darstellung
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Abbildung 2.6: Geschlechterdifferenz in den Leseleistungen (Mädchen/Jungen) Chile Niederlande
2000 2003 2006
Korea, Rep. Mexiko Dänemark Vereinigtes Kgr. Japan Israel USA Luxemburg Irland Portugal Kanada Schweiz Spanien Frankreich Ungarn Belgien Australien Neuseeland Slowakei Tschechische Rep. Schweden Türkei Polen Österreich Italien Deutschland Griechenland Estland Norwegen Finnland Island Slowenien 0
15
Quelle: OECD 2004, 2007c, eigene Darstellung
30
45
60
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ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
Abbildung 2.7: Geschlechterdifferenz in den Mathematikleistungen (Mädchen/Jungen) Island Estland
2000 2003 2006
Slowenien Schweden Polen Finnland Belgien USA Neuseeland Norwegen Ungarn Niederlande Frankreich Mexiko Griechenland Türkei Australien Kanada Spanien Israel Japan Vereinigtes Kgr. Tschechische Rep. Irland Dänemark Italien Deutschland Schweiz Portugal Luxemburg Slowakei Chile Österreich Korea, Rep. 15
Quelle: OECD 2004, 2007c, eigene Darstellung
0
-15
-30
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Geschlechterunterschiede in Lesen und Mathematik Eine weitere wichtige Dimension von Bildungsungleichheit ist das Geschlecht. Gleiche Chancen und entsprechende Leistungen für die Geschlechter gehören zum meritokratischen Prinzip und stellen damit ein normatives Ziel von Bildung dar (Geißler 2005). Lange Zeit waren Mädchen und Frauen offensichtlich benachteiligt, zeigten schlechtere Leistungen und in der Folge geringere Abschlüsse. In den letzten Jahren verkehrt sich dieses Gefälle immer mehr und die schlechteren Schulleistungen von Jungen stellen ein neues wichtiges Explanandum innerhalb der Bildungsforschung dar (Pinker 2008; Diefenbach/Klein 2002; Helbig 2010). Betrachtet man zunächst Geschlechterunterschiede in den Leseleistungen (siehe Abbildung 2.6), so fällt auf, dass sich die Ungleichheit zwischen Jungen und Mädchen über die drei PISA-Studien in allen Ländern bis auf Chile und Neuseeland vergrößert hat. Nur in Chile liegt der Unterschied bei deutlich weniger als 30 Punkten, in über der Hälfte der OECD-Länder liegen Jungen jedoch 40 Punkte oder mehr gegenüber den Mädchen zurück, was etwa einem Schuljahr entspricht. In Österreich, Griechenland, Israel, Korea, Mexiko und Spanien ist die Verschlechterung signifikant. Die höchsten signifikanten Anstiege von jeweils etwa 20 Punkten zeigen Griechenland, Österreich, Korea und Israel. In Deutschland wuchs die Lücke zwischen Jungen und Mädchen um sieben Punkte, in der Schweiz war die Ungleichheit 2003 zwischenzeitlich höher, zwischen 2000 und 2006 aber zeigt sich kein Unterschied. In Mexiko wuchs die Ungleichheit um 14 Punkte auf insgesamt 34 im Jahr 2006, in Spanien stieg sie um elf Punkte auf 35. Neuseeland konnte hingegen den Geschlechterunterschied um neun Punkte verringern (nicht signifikant). In Frankreich stieg der Unterschied von 29 auf 35 Punkte. Im Vereinigten Königreich schnitten Mädchen in PISA 2006 29 Punkte besser ab als Jungen. In den USA lagen die Leseleistungen von Mädchen in PISA 2000 29 Punkte über denen der Jungen, in PISA 2003 betrug der Unterschied 32 Punkte. Der Geschlechterunterschied kehrt sich jedoch um, wenn man die Mathematikkompetenzen vergleicht (siehe Abbildung 2.7). In diesem Fall sind Signifikanztests nur für Trends zwischen 2003 und 2006 möglich. In allen Ländern bis auf Island (und Neuseeland 2000) schneiden Jungen in Mathematik besser ab als Mädchen. Es fällt jedoch auf, dass der Unterschied in 13 der hier betrachteten Länder zugunsten der Mädchen reduziert werden konnte, dieser Trend ist jedoch nur für die Türkei zwischen 2003
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
49
und 2006 signifikant. Die Schweiz zeigte 2006 mit 13 Punkten Unterschied den niedrigsten Wert für die drei Studien, Spanien konnte den Unterschied von 18 auf neun Punkte verringern, Frankreich von 14 auf sechs. In Deutschland hingegen erhöhte sich der Geschlechterunterschied von 15 auf 20 Punkte. In den USA blieb der Geschlechterunterschied relativ stabil, in Neuseeland hingegen hat er sich zu Ungunsten der Mädchen vergrößert. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass es einfacher zu sein scheint, Mädchen zu fördern und ihnen zu besseren Leistungen zu verhelfen als Jungen.
Leistungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund Nicht nur die Überwindung der Ungleichheit in den Kompetenzen zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft oder unterschiedlichen Geschlechts stellt eine Herausforderung für moderne Bildungssysteme dar. In einer wachsenden Anzahl von Ländern wird auch ethnische Bildungsungleichheit, also die Ungleichheit zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund oder Angehörigen ethnischer Minderheiten zu einem Problem. Im »Zeitalter der Migration« (Castles/Miller 2003) sind die meisten der OECD-Staaten Einwanderungsländer geworden, und die weltweiten Migrationsbewegungen werden weiter zunehmen, zumal viele hochindustrialisierte Staaten angesichts des demographischen Wandels auf Zuwanderung angewiesen sind (Teltemann 2010). Die erfolgreiche Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund stellt daher in den Aufnahmeländern eine wichtige Dimension der sozialen Integration dar, auch in Hinblick auf spätere Arbeitsmarktbeteiligungen. PISA hat auch gezeigt, dass Migrantinnen und Migranten offensichtlich auf unterschiedliche Voraussetzungen in den verschiedenen Aufnahmeländern treffen – oder unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, denn der Leistungsunterschied zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund variiert deutlich im internationalen Vergleich (Entorf/Minoiu 2004; Buchmann/Parrado 2008; Levels/Dronkers/Kraaykamp 2008). Die Analyse der PISA-Daten nach Migrantenstatus ist für einige Länder schwierig, da Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht vorrangig in die Stichprobe gezogen wurden. In einigen Ländern sind deshalb die Fallzahlen zu gering, um aussagekräftige Vergleiche zu ermöglichen.
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Abbildung 2.8: Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten zweiter Generation in den Leseleistungen Kanada 2000 2003 2006
Australien Israel Vereinigtes Kgr. Irland Portugal Neuseeland USA Schweden Slowenien Frankreich Chile Spanien Estland Norwegen Mexiko Schweiz Niederlande Luxemburg Österreich Dänemark Deutschland Belgien -15
0
15
30
Quelle: OECD 2001, 2004, 2007c, eigene Darstellung
45
60
75
90
105
120
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ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
Abbildung 2.9: Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten erster Generation in den Leseleistungen Chile 2000 2003 2006
Irland Ungarn Israel Australien Kanada Neuseeland Spanien Portugal USA Griechenland Italien Vereinigtes Kgr. Dänemark Norwegen Frankreich Niederlande Österreich Schweden Finnland Luxemburg Deutschland Schweiz Mexiko Belgien -50
-25
0
Quelle: OECD 2001, 2004, 2007c, eigene Darstellung
25
50
75
100
125
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Abbildungen 2.8 und 2.9 beziehen sich daher nur auf OECD-Staaten, in deren PISA-Stichprobe mindestens drei Prozent der Schülerinnen und Schüler Migranten sind; Signifikanzaussagen zu den Trends sind in diesem Fall nicht möglich. Betrachtet man zunächst die Leistungsunterschiede zwischen einheimischen Schülerinnen und Schülern und Migranten der zweiten Generation, die selbst im Testland, deren Eltern jedoch im Ausland geboren wurde, fällt auf, wie groß die Unterschiede über die verschiedenen Länder sind (siehe Abbildung 2.8). In Belgien, Deutschland oder Dänemark lagen Migranten der zweiten Generation mehr als zwei Klassenstufen hinter den einheimischen Schülerinnen und Schülern zurück.8 In Israel, Kanada und Australien hingegen scheint es kaum einen Unterschied zwischen einheimischen Jugendichen und denen mit im Ausland geborenen Eltern zu geben. Auch im Vereinigten Königreich ist der Leistungsunterschied relativ gering. In den USA hat sich die Ungleichheit zwischen 2000 und 2003 immerhin verringert, ebenso in Neuseeland. In der Schweiz liegen Migranten der zweiten Generation konstant rund ein Schuljahr gegenüber den einheimischen Schülerinnen und Schülern zurück, ebenso in Frankreich, Spanien und Mexiko (Werte in diesen beiden Ländern nur für 2000 vergleichbar). Betrachtet man hingegen den Unterschied zwischen einheimischen Schülerinnen und Schülern und Migranten der ersten Generation, also jenen, die selbst eingewandert sind, so ist der Leistungsunterschied wie zu erwarten in den meisten Ländern noch größer, da diese Schülerinnen und Schüler etwa größere Schwierigkeiten mit der Sprache des Aufnahmelandes haben (siehe Abbildung 2.9). Überraschend ist hier, dass in Irland, Chile und Ungarn im Jahr 2000 die Migranten bessere Leistungen zeigen als die einheimischen Schüler. Die Erklärung für diesen Befund kann in der besonderen Einwanderungssituation liegen, die etwa durch besonders hochqualifizierte Migranten oder möglicherweise auch durch Rückwanderung geprägt ist, womit die Bedingungen für gelingende Integration und bessere schulische Leistungen vorteilhafter sind als in den meisten anderen Migrationssituationen.
—————— 8 Hierbei ist zu beachten, dass bei der Berechnung der Mittelwerte nicht für die Klassenstufe kontrolliert wurde. Das heißt, es kann tatsächlich sein, dass Migrantinnen und Migranten überproportional in unteren Klassenstufen sind, etwa aufgrund von NichtVersetzung und daher mehr oder weniger zwangsläufig nur über geringere Kompeenzen verfügen.
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
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Für Länder wie Deutschland und Belgien aber auch Spanien fällt auf, dass es praktisch keinen Unterschied zwischen erster und zweiter Generation gibt. Das heißt, hier scheint es keine Verbesserung mit der Dauer des Aufenthalts oder deutliche Unterschiede in Bezug etwa auf Herkunft und sozio-ökonomischen Status der unterschiedlichen Migrantengenerationen zu geben. Anders ist es im Vereinigten Königreich und Frankreich, hier scheint sich die zweite Generation gegenüber der ersten Generation schon besser in der Schule behaupten zu können. Auch in den USA, Mexiko und der Schweiz ist eine Verringerung des Leistungsunterschieds im Generationenverlauf beobachtbar. Aufgrund der Dynamik von Migrationsprozessen ist es jedoch besonders schwierig, Trends in Bezug auf die Leistungsunterschiede zwischen Migranten und Einheimischen zu untersuchen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass Veränderungen lediglich durch Unterschiede in der Zusammensetzung der Migrantenpopulationen hinsichtlich für den Schulerfolg relevanter Merkmale zustande kommen. Hier wären Regressionsanalysen, die bestimmte relevante Merkmale von Migranten konstant halten würden, dem Vergleich von Mittelwerten vorzuziehen.
Ausblick Dieses Kapitel hat sich vor allem den konzeptionellen und methodischen Grundlagen der PISA-Studie im Allgemeinen und dem Vergleich der Ergebnisse von OECD-Ländern über die PISA-Studien 2000 bis 2006 gewidmet. Es unterscheidet sich daher deutlich von den aus den dreijährlichen Querschnittvergleichen bekannten Darstellungsweisen und betrachteten Merkmalen. Mit der Fortführung der Studien bis zum Jahr 2015 (und womöglich darüber hinaus) wird jedoch die Frage nach Trends und damit nach den politischen Auswirkungen von PISA auf die Struktur und Leistung von Bildungssystemen immer wichtiger werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Informationsfülle, die jede einzelne der Studien bietet, nicht alle drei Jahre für die Öffentlichkeit und die Politik zu bewältigen und verarbeiten ist, wenn doch im Grunde eine Studie reicht, um zunächst eine grundsätzliche Bewertung der »Leistungsfähigkeit« eines Bildungssystems vorzunehmen. Im Anschluss an diese grundlegende Bewertung ist aber die Veränderung der Leistungsfähigkeit, insbesondere die
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JANNA TELTEMANN
Veränderung im Hinblick auf für das Erzielen angestrebter Ergebnisse als relevant erachteter Merkmale, von Interesse. Wie gezeigt wurde, sind die Möglichkeiten, bei Querschnittstudien wie PISA verlässliche Aussagen über Trends machen zu können, sehr eingeschränkt. Teilweise werden diese Möglichkeiten durch die eigentlich innovative Konzeption der PISA-Studie noch verringert, da die Messung von anwendungsbezogenen Kompetenzen immer auch den jeweiligen alltäglichen Anwendungssituationen angepasst werden müsste, welche sich jedoch zum Beispiel mit dem Wandel technischer Möglichkeiten verändern. Um unterschiedliche Messungen vergleichbar zu halten ist ein sehr aufwändiges Studiendesign erforderlich – verbunden mit gleich bleibend hohen Kosten. Eine weitere Herausforderung an die Qualität der PISA-Studie ist die immer größer werdende Zahl von Teilnehmerstaaten. Auf der einen Seite ist eine globale Reichweite und damit weltweite Vergleichbarkeit sehr reizvoll und in Hinblick auf die anhaltende internationale Verflechtung auch sinnvoll. Auf der anderen Seite werden die Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Staaten und ihren Bildungssystemen immer größer. Sofern man nicht davon ausgehen kann, dass Staaten ungefähr ähnliche, also vergleichbare (Ausgangs-)Bedingungen für die Ausgestaltung ihrer Bildungssysteme aufweisen, müssen mögliche Einflussfaktoren, wie etwa das Bruttoinlandsprodukt oder allgemeine Alphabetisierungsraten, »fairerweise« in internationale Vergleiche einbezogen werden. Damit steigt wiederum die Komplexität der Datenauswertung und -darstellung, und dementsprechend eingeschränkter wird die Anschlussfähigkeit für Politik und Öffentlichkeit. In Zukunft wird daher sicher der internationale, querschnittliche Vergleich differenzierter ausfallen müssen. Gleichzeitig wird der längsschnittliche Vergleich für immer mehr Länder stärker in den Vordergrund rücken. Um diesen zu ermöglichen, steht das OECD-Sekretariat mit seinem internationalen Konsortium vor den methodischen Herausforderungen, das innovative Konzept der Messung von anwendungsbezogenen Kompetenzen weiter zu optimieren und gleichzeitig die Möglichkeiten der Vergleichbarkeit auszubauen. Dieser Trade-off ist nur mit Einschränkungen in beiden Zielen oder unter der Auflage restriktiver und elaborierter Auswertungsund damit auch Darstellungsverfahren möglich. Für das OECD-Sekretariat bedeutet diese Aufgabe, einen in diesem Ausmaß bisher unbekannten Spagat zwischen »Wissenschaftlichkeit« in Hinblick auf Konzeption, Durchführung und Datenmanagement sowie
ZEHN JAHRE PISA – METHODIK, ERGEBNISSE UND TRENDS
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»Policy-Orientierung« in Bezug auf die interne Aufgabe, den Teilnahmestaaten praktische, lösungsorientierte und für ein breites politisches und öffentliches Publikum verständliche Ergebnisse an die Hand zu geben. Sofern aber diese Aufgabe (weiterhin) gelingen sollte und dem Thema Bildung gleich bleibend viel Aufmerksamkeit und Bedeutung beigemessen wird, würde PISA mehr sein als eine Studie, PISA würde zu einem Prozess.
Literatur Artelt, Cordula/Stanat, Petra/Schneider, Wolfgang/Schiefele, Ulrich (2001), »Lesekompetenz: Testkonzeption und Ergebnisse«, in: Deutsches PISA-Konsortium – Jürgen Baumert/Eckhard Klieme/Michael Neubrand/Manfred Prenzel/ Ulrich Schiefele/Wolfgang Schneider/Petra Stanat/Klaus-Jürgen Tillmann/ Manfred Weiß (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen, S. 69–140. Baumert, Jürgen (2000), Schülerleistungen im internationalen Vergleich: Eine neue Rahmenkonzeption für die Erfassung von Wissen und Fähigkeiten, Berlin. Baumert, Jürgen/Brunner, Martin/Lüdtke, Oliver/Trautwein, Ulrich (2007), »Was messen internationale Schulleistungsstudien? Resultate kumulativer Wissenserwerbsprozesse. Eine Antwort auf Heiner Rindermann«, in: Psychologische Rundschau, Jg. 58, H. 2, S. 118–145. Baumert, Jürgen/Schümer, Gundel (2001), »Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb«, in: Deutsches PISA-Konsortium – Jürgen Baumert/Eckhard Klieme/Michael Neubrand/Manfred Prenzel/Ulrich Schiefele/Wolfgang Schneider/Petra Stanat/Klaus-Jürgen Tillmann/Manfred Weiß (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen, S. 312–410. Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/Demmrich, Anke (2001), »PISA 2000: Untersuchungsgegenstand, theoretische Grundlagung und Duchführung der Studie«, in: Deutsches PISA-Konsortium – Jürgen Baumert/Eckhard Klieme/Michael Neubrand/Manfred Prenzel/Ulrich Schiefele/Wolfgang Schneider/Petra Stanat/ Klaus-Jürgen Tillmann/Manfred Weiß (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen, S. 15–68. Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/Watermann, Rainer (2006) (Hg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden. Buchmann, Claudia/Parrado, Emilio A. (2006), »Educational achievement of immigrant-origin and native students: a comparative analysis informed by institutional theory«, in: David P. Baker/Alexander W. Wiseman (Hg.), The impact of comparative education research on institutional theory, Amsterdam, S. 345–377.
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JANNA TELTEMANN
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Deutschland – Im Zentrum des PISA-Sturms
Dennis Niemann »Wir sind alle PISA-geschädigt« Annette Schavan, Bundesbildungsministerin
Einleitung1 An PISA kommt man in der deutschen Bildungspolitik nicht vorbei. Letztendlich lässt sich nahezu der gesamte Wandel im deutschen Sekundarbildungssystem, der in jüngster Zeit stattfand, in Bezug zu jener Schockwelle setzen, die PISA Ende 2001 ausgelöst hat. Dabei gingen die Anpassungen weit über rein strukturelle Änderungen des Bildungswesens hinaus; der Modus der Politikgestaltung hat sich ebenfalls substantiell verändert. Unter dem Schlagwort »empirische Wende« fand eine umfassende Neuausrichtung der politischen Steuerung statt, welche durch den Fokus auf OutputOrientierung und evidenzbasierte Politikgestaltung die Bildungspolitik in Deutschland fortan in einem neuen Licht erscheinen lässt. Stellt man nun die Frage, wie diese umfassenden Reformen möglich waren, liefern besonders die Ansätze der Leitideen und des Problemdrucks Erklärungen für den Wandel des deutschen Bildungssystems nach PISA: Zum einen stieß die OECD mit PISA eine Neuinterpretation des deutschen Bildungsverständnisses an, welche Reformen begünstigte. So ist eine stärker (volks-)wirtschaftliche Sichtweise auf Bildung zu verzeichnen, die wiederum die Tür für umfassende Reformen der Schulstruktur und der bildungspolitischen Gestaltung geöffnet hat. Zum anderen verursachte der durch das schlechte PISA-Zeugnis exponentiell gestiegene Problemdruck eine Dringlichkeit für Reformen, der vor 2001 nicht existent war. Ausgelöst durch den Befund, dass das deutsche Bildungssystem in Sachen
—————— 1 Der empirischen Erhebung zur Auswirkung der PISA-Studie liegen neben einer Dokumentenanalyse 13 Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern deutscher Bundesund Landesministerien, Gewerkschaften, Interessensverbänden sowie Bildungsexpertinnen und -experten im Zeitraum von März bis Juli 2008 zugrunde. Für die Unterstützung bei der Anfertigung dieses Beitrags möchte ich mich bei Hanna Grube, Clara Helming, Gesa Schulze und Anna Steenblock bedanken.
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Schülerkompetenzen anderen Staaten hinterher hinkt, war der Weg frei für überfällige beziehungsweise aufgeschobene Großreformprojekte. Der Fokus dieses Kapitels liegt nicht auf einer detaillierten Darstellung der Reaktionen und Reformprojekte in den sechzehn Bundesländern. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die OECD mit PISA ein Instrument zur Anwendung gebracht hat, mit dem es in Deutschland gelang, nicht nur umfassende Bildungsreformen zu initiieren, sondern darüber hinaus die Politikgestaltung im Bildungsbereich nachhaltig zu beeinflussen. In einem ersten Schritt wird die Bildungslandschaft der Bundesrepublik skizziert und die zurückliegenden Jahrzehnte der Nicht-Reform dargestellt. Anschließend wird auf die Teilnahme und das Abschneiden Deutschlands bei PISA eingegangen. Es folgt ein exemplarischer Blick in die deutschen Printmedien, der den berühmt-berüchtigten »PISA-Schock« umreißt, vor dessen Hintergrund ein umfassender Wandel des Bildungssystems realisiert wurde. Abschließend wird untersucht, welchen Einfluss die OECD mit PISA auf Deutschland nehmen konnte und wie es der internationalen Organisation gelang, eine derartige Wirkung auf das hiesige Schulsystem zu entfalten. Es wird dabei argumentiert, dass die OECD ihren Einfluss auf das deutsche Bildungssystem vorrangig dadurch generierte, dass sie mit ihren Ranking den nationalen Problemdruck steigerte und zugleich eine Umdeutung des deutschen Bildungsverständnisses bewirkte.
Die deutsche Ruhe vor dem PISA-Sturm Um die Aufgeregtheit der Diskussion und die Wandlungsprozesse in Deutschland nach PISA erfassen zu können, sollte vorweg auf das bildungspolitische Klima in der deutschen Prä-PISA-Ära eingegangen werden. Dieses zeichnete sich in erster Linie dadurch aus, dass keine umfassenden Reformprojekte auf den Weg gebracht wurden. Im Folgenden wird knapp umrissen, wie in Deutschland politische Entscheidungsfindung im Bildungssektor organisiert ist, was die ideologischen Hintergründe des Bildungsverständnisses sind und welche zentralen Charakteristika sich daraus für das Bildungssystem ergeben. Aus historisch gewachsenen Traditionen und Konfigurationen lassen sich zentrale Leitideen des deutschen Bildungssystems ableiten, die letztendlich bestimmen, wie von
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außen einfließende Anstöße national aufgenommen und geleitet werden.2 Leitideen bezeichnen dabei den ideologischen Hintergrund (principled ideas, vergleiche Goldstein/Keohane 1993) des Bildungsverständnisses, vor welchem der bildungspolitische Diskurs stattfindet. Hervorstechendes Merkmal ist, dass in der Bundesrepublik Bildung grundsätzlich unter die Kulturhoheit der Länder fällt.3 Folglich werden bildungspolitische Entscheidungen in den einzelnen Bundesländern getroffen und die höchste Ebene der politischen Verantwortlichkeit sind die Landesbildungsministerien. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) spielt im Bereich der allgemeinbildenden Schulen eine nur untergeordnete Rolle und leistet in erster Linie Diskussionsanstöße und Beiträge zur Koordinierung zwischen den bildungspolitisch autonomen Ländern. Auch die umfassende Neuverteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in der Föderalismusreform von 2006 hat an dem bestehenden Kompetenzgefüge im Schulbereich nichts Grundlegendes verändert. In einem Punkt besteht jedoch eine Ausnahme. Die bisherige Gemeinschaftsaufgabe »Bildungsplanung« von Bund und Ländern wurde durch eine neue Gemeinschaftsaufgabe ersetzt. Diese umfasst drei Elemente: »Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich«, »Bildungsberichterstattung« und »gemeinsame Empfehlungen« (Artikel 91b Absatz 2 Grundgesetz). Als Konsequenz hat der Bund über diesen Mechanismus Einflussvermögen in der Bildungspolitik hinsichtlich der Beteiligung, Finanzierung und Auswertung internationaler Vergleichsstudien (Interview GER-13).
—————— 2 Es werden hier nur die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt; ein anderweitig gelagertes Bildungsleitbild in der Deutschen Demokratischen Republik wird hier ausgespart (für eine Übersicht des Schulwesens der DDR siehe: Baumert/ Cortina/Leschinsky 2005: 59–66; ein Vergleich der Bildungssysteme der BRD und DDR findet sich bei Mitter 1990). 3 In den meisten Perioden unter staatlicher Ägide war Bildung Gegenstand der Subsidiarität. Die Kulturhoheit der Länder ist daher größtenteils ein Erbe historisch gewachsener Konfigurationen (Führ 1997). Auch war die Rolle des Staates im deutschen Bildungssystem schon immer vergleichsweise stark ausgeprägt und kann in diesem Aspekt als Gegenentwurf zu beispielsweise Großbritannien (siehe Knodel in diesem Band) gesehen werden. Analog dazu sind deutsche Schulen überwiegend öffentlich finanziert, wobei aber auch private Einrichtungen zugelassen sind, sofern sie von staatlicher Stelle genehmigt werden und sich der stetigen Prüfung unterziehen (KMK 2008a). Aber auch bei privaten Bildungseinrichtungen ist der Staat verpflichtet, dieses Ersatzschulwesen zu subventionieren. Im Ergebnis sind Privatschulen zum Großteil staatlich finanzierte Einrichtungen (Gellert/Ritter 1985: 345–346; Leschinsky 2005: 208–209).
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Ein gewisses Maß an Homogenität zwischen den sechzehn unterschiedlichen Bildungssystemen wird vorrangig durch Institutionen erreicht, welche gemeinsame Standards und gemeinsame Vorgehensweisen sicherstellen. Obwohl zahlreiche Unterschiede in den Bildungssystemen der Bundesländer existieren und Deutschlands Bildungslandschaft somit als Flickenteppich erscheinen lassen, werden allzu große Abweichungen nicht toleriert (Wolf 2008: 21). Die dezentrale Staatsstruktur der Bundesrepublik steht einer zentralisierten deutschen Gesellschaft gegenüber (Katzenstein 1987: 15), die nach Einheitlichkeiten in den entscheidenden Lebensbereichen verlangt. Zu diesen Lebensbereichen gehört auch das Bildungswesen. Das primäre Forum der Koordination zwischen den Ländern ist hierbei die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz/KMK), welche 1948 gegründet wurde, um einen einheitlichen Bildungsrahmen in Deutschland zu gewährleisten (Leschinsky 2005: 161–162). Die KMK vereint die Vertreterinnen und Vertreter der Bildungsministerien der Bundesländer und stellt in ihrer Funktion ein Instrument der Selbst-Koordination der Länder dar (Massing 2003). Beschlüsse müssen mit einer Mehrheit von 13 Stimmen oder in bestimmten Bereichen4 einstimmig getroffen werden. Neben der KMK ist auch die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) von Relevanz in bildungspolitischen Fragen. Zwischen KMK und MPK besteht ein Austausch, wobei letztere als Orientierungspunkt für erstere dient. Die KMK wiederum bereitet und legt Entscheidungen vor, die in der MPK in Form von Staatsverträgen angenommen und von den Länderparlamenten ratifiziert werden sollen.5 Auf struktureller Ebene sind die horizontale Gliederung des Schulsystems in der Sekundarstufe und die damit verbundene Zuweisung von Schülerinnen und Schülern auf unterschiedliche Schulformen ein zentrales Merkmal des deutschen Schulsystems. Resultierend aus diesem Selektionsprinzip existieren vier Schultypen, von denen drei nach dem am Ende der Primarstufe prognostizierten Leistungsvermögen gegliedert sind und der vierte Typ eine Gesamtschule mit interner Leistungsdifferenzierung ist.
—————— 4 Dazu zählen Bereiche, die die Einheitlichkeit und Mobilität im Bildungswesen, die Kultusministerkonferenz selbst, die Errichtung gemeinsamer Einrichtungen oder Auswirkungen auf die Landeshaushalte zum Gegenstand haben (Wolf 2008: 21–22). 5 So wurde bereits frühzeitig attestiert: »Die Kulturhoheit der Länder […] hat sich längst in einen kooperativen Bildungsföderalismus gewandelt, in dem die Länder über Staatsverträge und Verwaltungsabkommen ihre Bildungskonzepte koordinieren« (Roth 1975: 16).
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Die Grundidee des gegliederten Schulsystems besteht in der Schaffung homogener Lerngruppen, in denen Schülerinnen und Schüler mit annähernd gleicher Leistungsfähigkeit miteinander unterrichtet werden sollen. Auch wenn dieses Prinzip der Separation seit jeher kontrovers diskutiert wurde und es nach Ansicht kritischer Stimmen Deutschland zum »Champion der Selektion« (Interview GER-07) mache, wurde es zwar oftmals in Frage gestellt, jedoch in keinem Bundesland gänzlich abgeschafft. Ferner war eine an den Outputs orientierte Evaluation und Leistungsmessung in Deutschland ein wenig verbreiteter Aspekt. Herkömmlich wurde Bildungspolitik an den Inputs, also der Frage, was in ein System gesteckt werden sollte, ausgerichtet und bewertet. Die Frage, ob Schülerinnen und Schüler bestimmte Kompetenzen erreichen, stand dabei nicht im unmittelbaren Fokus (Herrmann 2009). Aus den dargestellten Besonderheiten des deutschen Bildungssystems und dessen Politikgestaltung ergibt sich zum einen, dass umfassende einheitliche bildungspolitische Entscheidungen und flächendeckende Reformen in Deutschland ein hohes Maß an Konsens zwischen den beteiligten Bundesländern erfordern. Würde ein Land bei einer Einstimmigkeitsentscheidung (zum Beispiel in der KMK) sein Veto einlegen, bestünde keine Möglichkeit der flächendeckenden Übereinkunft. Zum anderen haben die Konfigurationen zu einem bildungspolitischen Reformstau geführt, der sich erst durch PISA gelöst hat. Generell wäre es vermessen, deutsche Bildungspolitik vor PISA gänzlich im Dornröschenschlaf zu wähnen. Dennoch erfolgte das sprichwörtliche Erwachen nicht durch einen sanften Kuss, sondern eher durch eine kalte Dusche. Eine gewisse bundesrepublikanische Reformunwilligkeit und ein stetig angewachsener Reformstau in den 1980er und 1990er Jahren sind nur schwerlich von der Hand zu weisen (Baumert/Cortina/Leschinsky 2005: 136). Nach umfassenden Bildungsreformen in den 1960er und 1970er Jahren kam es zu einem Quasi-Stillstand und lediglich kleinere Umgestaltungen fanden Eingang in die deutsche Bildungslandschaft. Diese letzte große Reform-Epoche vor PISA war geprägt durch das Bestreben, Bildungsangebote allen sozialen Schichten zugänglich zu machen. Die Studie Die deutsche Bildungskatastrophe des Erziehungswissenschaftlers Georg Picht (1964) trug entscheidend dazu bei, dass ab Mitte der 1960er Jahre eine Dekade der Bildungsreformen in Deutschland einsetzte. Ausgelöst durch den warnenden Ausblick Pichts hielt das Bewusstsein Einzug, dass die Bildungsangebote massiv ausgebaut werden müssten, um
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die neuen Herausforderungen jenseits des Industriezeitalters bewältigen zu können. In dieser Periode waren zwei Faktoren ausschlaggebend für die anstehenden Bildungsreformen: Erstens forderte die expandierende Mittelschicht ihre Bedürfnisse auf den Zugang zu höherer Bildung ein und zweitens – mit dem ersten Punkt eng zusammenhängend – sollten Reformen Chancengleichheit zwischen Schülerinnen und Schülern aus allen Gesellschaftsschichten befördern (Massing 2003: 19). Entsprechend dieser Ziele war es das zentrale Anliegen der Bildungsreformen, bessere Bildungsangebote für mehr Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung zu stellen – getreu dem Dahrendorf’schen Leitmotiv »Bildung ist Bürgerrecht« (Dahrendorf 1965). In dieser Phase der Expansion unterlief das deutsche Bildungswesen einen Prozess der Modernisierung. Der Sekundarbereich wurde ausgebaut (was letztendlich auch die Forderung der Mittelklasse widerspiegelte), Lehrpläne wurden modernisiert und reflektierten zunehmend einen wissenschaftsorientierten Zugang. Das Schulsystem wurde durch die Entkopplung von Bildungsgang und Bildungsabschluss offener und strukturelle Reformen – zum Beispiel die Gesamtschulreform oder die Reform der gymnasialen Oberstufe – wurden durchgeführt (Baumert/Cortina/Leschinsky 2005: 52). Die Bildungsreformen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren waren zusätzlich eng mit einer übergreifenden sozialen Reform der deutschen Gesellschaft verbunden. Mittels Bildung sollten die Bürgerinnen und Bürger zur demokratischen Teilnahme befähigt und ermutigt werden. Im Anschluss fanden lange Zeit keine umfassenden Bildungsreformen in Deutschland statt – es wurden lediglich kleinere Anpassungen vorgenommen, wobei die grundlegende Struktur des Bildungssystems und der Modus der Politikgestaltung beibehalten wurden. Nach dem für diese Phase der Reformstagnation exemplarischen Scheitern des Zweiten Bildungsgesamtplans 1982 beschränkte sich die Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf Pilotprojekte und Erprobungen neuer Schulkonzepte (Rürup 2007: 19). Auch die deutsche Wiedervereinigung brachte Anfang der 1990er Jahre lediglich bildungspolitische Reformen für die neuen Länder mit sich. Eine sich bietende Chance zur Reformierung des gesamtdeutschen Bildungssektors wurde verpasst (Wilde 2002). Da in der Zeit nach der Wiedervereinigung angesichts der wirtschaftlichen Problemlagen andere Politikfelder im Reform-Fokus standen (Gruber 2006: 205), blieb Bildung ein Bereich, der – überspitzt dargestellt – ein Schattendasein fristete
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und sich durch vordergründige Nichtbeachtung auszeichnete. Mit dieser Ruhe war es schließlich nach Erscheinen der PISA-Studie vorbei.
Deutschlands PISA-Teilnahme: Das Bildungsunwetter Mit der Partizipation an der internationalen Vergleichsstudie PISA betrat Deutschland zur Jahrtausendwende relatives Neuland. Das deutsche Bildungswesen war zuvor eher durch philosophisch orientierte Normdebatten geprägt, in der eine nur schwach entwickelte Tradition der Überprüfung von Sachverhalten bestand (Bos/Postlethwaite 2002: 253). Nach Teilnahme der Bundesrepublik an der First International Mathematics Study (FIMS)6 Mitte der 1960er Jahre entzog man sich in der Folgezeit weiterer komparativer Studien und begann erst Anfang der 1990er Jahre wieder damit, sein Bildungssystem international vergleichend bewerten zu lassen (van Ackeren 2002: 159). Es folgten Beteiligungen an weiteren Studien, deren Ergebnisse jedoch relativ unbeachtet verhallten.7 Ein erstes Aufhorchen verursachte schließlich die Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS), deren Ergebnisse 1997 veröffentlicht wurden und die ein Bildungsdefizit deutscher Schülerinnen und Schüler im mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich attestierte (Köller/Baumert/Bos 2002). Ebenfalls 1997 wurde mit den Konstanzer Beschlüssen ein Grundstein für den internationalen Vergleich von Bildungsleistungen gelegt. Unter Maßgabe der Qualitätssicherung vereinbarten die Bundesländer darin, regelmäßig an internationalen Studien (unter anderem an denen der OECD) teilzunehmen und die Resultate zur Verbesserung des nationalen Bildungssystems zu nutzen.8 Die Beteiligung an PISA war somit Ausdruck dieser neu eingeschlagenen Richtung und setzte in der Folge eine kontinuierliche Evaluierung von innen und außen in Gang. Die Resultate der ersten PISA-Studie zeigten 2001 überaus deutlich, dass die deutschen Bildungsleistungen international gesehen bestenfalls
—————— 6 Durchgeführt von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA). 7 Zu nennen sind hierbei die IEA-Projekte International Reading Literacy Study (IRLS) von 1991 (welche später zu Progress in International Reading Literacy Study PIRLS – in Deutschland zu Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU – wurde) und Civic Education Study (CIVED, begonnen 1994). 8 Beschluss der KMK vom 24.10.1997, http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichun gen_beschluesse/1997/1997_10_24-Konstanzer-Beschluss.pdf (Abruf am 23.06.2010).
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mittelmäßig waren und zwar nicht nur im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, wie es bereits TIMSS gezeigt hatte, sondern zusätzlich auch bezüglich des Leseverständnisses (Tillmann et al. 2008: 17). Deutsche Schülerinnen und Schüler lagen in allen drei Kompetenzbereichen signifikant unter dem OECD-Durchschnitt (Baumert/Stanat/Demmerich 2001). Auch in den nachfolgenden Zyklen bescherte PISA Deutschland keine überragenden Ergebnisse, obwohl eine sukzessive Verbesserung und ein zarter Rankingaufstieg zu verzeichnen waren (Tabelle 3.1, siehe auch Teltemann in diesem Band). Im Mittel nahm Deutschland 2000 den 20., 2003 den 15. und 2006 den 13. Rang bei PISA ein. Zahlreiche entwickelte Industrienationen – und somit die peers von Deutschland – lagen in Sachen »Bildungsoutcome« weit vor der Bundesrepublik. In einer zunehmend wichtiger werdenden Wissensgesellschaft ist dies ein Faktum, welches in der Konsequenz einen massiven Standortnachteil für Deutschland suggerierte (BMBF 2008: 5). Tabelle 3.1: Abschneiden Deutschlands in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
484
(21.)
491
(18.)
495
(15.)
Mathematische Kompetenz
490
(19.)
503
(16.)
504
(15.)
Naturwissensch. Kompetenz
487
(20.)
502
(15.)
516
(10.)
Mittelwert der drei Bereiche
487
(20.)
499
(15.)
505
(13.)
Rangposition im
OECD-34-Vergleich9
in Klammern
Quellen: OECD 2001, 2004, 2007, OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschland zu der Gruppe von Ländern gehört, welche die höchste Leistungsvarianz innerhalb der Schülerschaft aufweisen. In keinem anderen Industrieland scheint schulischer Erfolg derart stark von sozio-ökonomischen Faktoren determiniert zu sein wie in der Bundesrepublik (Ertl 2006: 620). Insbesondere Schülerinnen und Schüler aus sozial schwächeren Verhältnissen sowie mit Migrationshintergrund fielen durch unterdurchschnittliches Abschneiden bei PISA auf. Im Vergleich zu anderen Ländern gelingt es dem deutschen Bildungssystem in
—————— 9 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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erheblich geringerem Umfang, bestehende soziale Unterschiede zu nivellieren (Loeber/Scholz 2003: 246) und allen Schülerinnen und Schülern eine faire Aufstiegschance zu gewährleisten. Auch die Leistungsvarianz zwischen den einzelnen Schulformen war eklatant. Wo Schülerinnen und Schüler der Gymnasien noch überdurchschnittliche Werte erzielen konnten, brachen die 15-Jährigen an Hauptschulen regelrecht weg.10 Da die nachfolgende PISA-Studie 2003 ebenfalls nicht den erhofften Leistungssprung brachte, wurde offensichtlich, dass das Abschneiden aus dem Jahr 2000 kein einmaliger Ausrutscher war. Die diagnostizierten Probleme waren nicht konjunktureller, sondern vielmehr struktureller Natur. Generell zeigte PISA 2003 Stagnation in der Lesekompetenz, durchaus aber Verbesserungen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich; die Varianz zwischen den Schülergruppen war jedoch immer noch ungewöhnlich hoch (Deutsches PISA-Konsortium 2004). Allerdings lassen sich die besseren Resultate 2003 darauf zurückführen, dass vorrangig Schülerinnen und Schüler aus besser gestellten sozialen Schichten positivere Ergebnisse erzielt haben, wohingegen sozial benachteiligte Jugendliche stagnierten oder sich nur marginal steigern konnten (Ertl 2006: 620). Bei PISA 2006 bestätigte sich der positive Trend von PISA 2003. Im naturwissenschaftlichen Bereich verzeichneten deutsche Schülerinnen und Schüler sogar überdurchschnittliche Leistungen und gehörten erstmalig zur Spitzengruppe in PISA. In den Bereichen Lesen und Mathematik waren ebenfalls Verbesserungen auszumachen. Die hohe Varianz zwischen den Schülergruppen stellte allerdings nach wie vor ein zentrales Problem dar, welches nur geringfügig verringert werden konnte (Prenzel 2007). Wie die nationale Zusatzstudie PISA-E ergeben hat, lagen die erzielten Resultate zwischen den Bundesländern teilweise erheblich auseinander. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, alle Einzelheiten der Länderbefunde zu diskutieren (siehe dazu Baumert et al. 2003; Prenzel et al. 2005; Prenzel et al. 2008). Schlaglichtartig lässt sich jedoch konstatieren, dass der Süden und Südosten im innerdeutschen Vergleich überdurchschnittlich gut abschnitten, wohingegen die nördlichen Bundesländer (inklusive NordrheinWestfalen) sowie die Stadtstaaten tendenziell schwächere Ergebnisse erzielten. Überträgt man diese Diagnose nun auf die Erklärungsvariable »Problemdruck«, zeichnet sich das Bild ab, dass beispielsweise auf dem nordrhein-westfälischen Schulsystem ein höherer Druck zur Reformierung
—————— 10 So erzielten die Schülerinnen und Schüler an Gymnasien bei PISA 2000 im Lesen durchschnittlich 582 Punkte, an Hauptschulen hingegen nur 394 Punkte (Gruber 2006: 202).
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lastete als auf dem bayerischen. Folglich war es in den top platzierten Bundesländern schwieriger, grundlegende Reformen durchzusetzen, da diese ihr bestehendes Schulsystem durch die PISA-Resultate legitimiert sahen. Fasst man die vergangene PISA-Dekade zusammen, ist festzuhalten, dass Deutschland trotz stetiger Verbesserung nach wie vor weit davon entfernt ist, den angestrebten Spitzenplatz im internationalen Bildungsranking einzunehmen. Auch die festgestellte Varianz zwischen den Schulformen blieb konstant auf einem hohen Niveau (Tenorth 2009: 170–175). Die Verbesserungen – besonders in der PISA-Studie 2006 – wurden als erster Schritt in die richtige Richtung und als positiver Effekt, der den durchgeführten Reformmaßnahmen zugeschrieben wurde, verstanden. Die Ergebnisse der PISA-Erhebung von 2009 werden zeigen, ob die Reformen die erhofften Leistungs-Früchte tragen. Da bei PISA 2009, wie auch schon bei PISA 2000, die Lesekompetenz im Mittelpunkt steht, lassen sich hieran dezidiert Vergleiche im Verlauf von annähernd zehn Jahren ziehen. 2010 ist daher für Deutschland im Besonderen das Jahr der »bildungspolitischen Wahrheit«. Wird der bislang positive Trend für Deutschland im Rankingaufstieg fortgesetzt oder folgt ein Rückschlag? Von einem gelassenen Abwarten kann nicht die Rede sein.
Der Sturm der PISA-Entrüstung Die öffentliche Reaktion auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie war gravierend. Nicht umsonst wird in Deutschland immer wieder die Metapher des Schocks bemüht: Wie kein anderes Ereignis vermochte es PISA, die Bildungsthematik in die öffentliche Wahrnehmung zu katapultieren. In keinem anderen Teilnehmerland produzierte PISA 2000 ein derartiges mediales Echo wie in Deutschland. Und nirgendwo sonst wurde das eigene Bildungssystem derart kritisch unter die Lupe genommen. So spiegelt die schiere Anzahl der Zeitungsartikel, die sich in Deutschland mit PISA beschäftigen, die aufgeregte Diskussion wider (siehe Abbildung 1.2 bei de Olano et al. in diesem Band; zu PISA 2000 siehe Tillmann et al. 2008: 65– 75). Auch wenn bei den nachfolgenden PISA-Studien von 2003 und 2006 die Wellen der Berichterstattung nicht mehr das Niveau von PISA 2000 erreichten, war auch mit den Veröffentlichungen in 2004 und 2007 ein starkes mediales Echo verbunden.
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PISA löste im Dezember 2001 einen öffentlichen Aufschrei aus. Die Initialdiskussion in den deutschen Medien befasste sich vorrangig mit der Kluft zwischen vorheriger Selbstwahrnehmung und real erzielten Ergebnissen. Der viel zitierte Schock kam in erster Linie dadurch zustande, dass Deutschland eher als Nachzügler im internationalen Bildungsvergleich gesehen wurde und nicht, wie erwartet, als Spitzenreiter. Niemand aus dem Land der »Dichter und Denker« hätte zur Jahrtausendwende vermutet, dass sich Deutschland unter den OECD-Schlusslichtern von PISA befinden würde. Doch zumindest den Experten und Interessierten war bereits vor PISA bewusst, dass nicht mit einer Spitzenplatzierung zu rechnen war: Bereits TIMSS hatte die Mittelmäßigkeit deutscher Schülerinnen und Schüler im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich entlarvt. Daher war es mehr als unwahrscheinlich, dass PISA Gegenteiliges zeigen würde. Lediglich die Intensität der öffentlichen Reaktion war überraschend. Inhaltlich wandelte sich die Diskussion jedoch im Laufe der PISADekade. Stand 2001 noch der diffuse Schock im Mittelpunkt, verbreiterte sich die Thematik im Anschluss fortwährend und bezog Ursachen für das schlechte Abschneiden und inhaltliche Lehren aus PISA verstärkt mit ein. Ein erster und nur stichprobenartiger Blick in den rauschenden Blätterwald der deutschen PISA-Schlagzeilen offenbart zunächst die Ernüchterung, die im Dezember 2001 Einzug hielt: »Mittelmaß in Europas Mitte« (Lepenies 2001) oder »Pisa-Fiasko: Das Land der Dichter und Denker – abgehängt« (Darnstädt et al. 2001) sind nur zwei Beispiele des unmittelbar nach Publikation der ersten PISA-Ergebnisse erwachten Bildungsdiskurses, die den medialen Tenor der Bildungsdiskussion exemplarisch widerspiegeln. Nachdem sich die erste generelle Aufregung gelegt hatte, rückten zunehmend inhaltliche Faktoren ins Zentrum der Diskussion. Der »Wirtschaftsfaktor Bildung« (Deckstein 2003) wurde auch öffentlich als solcher anerkannt und das schlechte Abschneiden bei PISA als Bedrohung für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik gesehen – die »Bildungsmisere gefährdet Deutschlands Zukunft« (Berendonk 2004). In diesem Zusammenhang wurden die schlechten Leistungen der deutschen Schülerschaft direkt auf volkswirtschaftliche Gesichtspunkte übertragen (Martens/Niemann 2009). Da zunehmend anerkannt wird, dass Bildung in der heutigen Wissensgesellschaft den entscheidenden Grundstein für ökonomischen Erfolg und volkswirtschaftliches Wachstum darstellt, wurde umgehend prognostiziert, dass sich negative Bildungsleistungen mittelbar auch auf die
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wirtschaftliche Performanz Deutschlands im internationalen Wettbewerb niederschlügen (BMBF 2008).11 Bei Verkündung der Ergebnisse der zweiten PISA-Runde war man in Deutschland durch den Schock von 2001 schon weitgehend auf die wiederum negativen Resultate eingestellt. Dementsprechend fiel das Medienecho zwar nach wie vor heftig, aber inhaltlich nicht überraschend aus. So wurde beispielsweise resignierend konstatiert, dass sich »Deutschland bei Pisa wieder unter Mittelmaß« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2004) befinde und: »Ausreichend ist nicht gut genug« (Rubner 2004). Allgemein wurde nicht erwartet, dass sich die Resultate zwischen PISA 2000 und 2003 drastisch gebessert hätten. Ferner wurde auch die immer noch starke Varianz der Leistungen zwischen Schülergruppen verstärkt thematisiert: »Bildung: Weltmeister der Ungleichheit« (Hinrichs/Koch 2005). Der vielfach beschworene »Aufstieg durch Bildung« schien dank der hohen Selektivität des deutschen Schulsystems zu einer leeren Floskel zu verkommen, da der schulische Erfolg dermaßen stark von der sozialen Herkunft geprägt war, dass eine angestrebte Reduktion sozialer Unterschiede durch Bildung nicht oder nur in sehr geringem Maße gelingt. Oder wie es der damalige Bundespräsident Horst Köhler formulierte: »Bildungschancen sind Lebenschancen. Sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen. Darum werde ich immer auf der Seite derer sein, die leidenschaftlich eintreten für eine Gesellschaft, die offen und durchlässig ist und dem Ziel gerecht wird: Bildung für alle.« (Köhler 2006)
Orientierungspunkte lieferten nach wie vor Länder, die auch in diesen Belangen bessere Ergebnisse produzieren konnten. Der fast schon obligatorische Blick nach Finnland – dem prototypischen PISA-Gewinner – sollte den Raum für alternative Bildungskonzepte öffnen: »Die Finnen spinnen nicht. Kreative Lösungen im Ausland« (Herrmann 2007). Als Ende 2007 die Ergebnisse der dritten PISA-Studie veröffentlicht wurden, deutete sich eine mediale Normalisierung der Diskussion an. So keimte eine »Zarte Hoffnung. Deutsche Schülerinnen und Schüler werden besser, aber es bleibt viel zu tun.« (Süddeutsche Zeitung 2007) Zugleich
—————— 11 So haben beispielsweise Wößmann und Piopiunik (2009) makroökonomisch modelliert, dass unzureichende Bildungsleistungen einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden für Deutschland nach sich ziehen und eine Bildungsreform langfristig das nationale Wachstum sicherstellen würde. Auch die OECD vermittelt das Bild, dass eine Verbesserung der Bildungsperformanz in PISA einen positiven Effekt auf die nationale Wirtschaftsleistung habe (OECD 2010).
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wurde aber auch die traditionell intensive Diskussion über Bildung zu Zeiten der Publikation von PISA kritisch thematisiert: »Es lebe die PisaHysterie.« (Kerstan 2007) Ein wiederum zentraler Aspekt war die »Soziale Auslese im Unterricht. Deutsche Schulen scheitern bei der Förderung von Migranten und Schülern aus armen Familien.« (Taffertshofer/Schultz 2007) Die anhaltende Varianz zwischen den einzelnen Schülergruppen wurde als primärer Reformansatzpunkt identifiziert, obwohl auch diese im Vergleich zu den Ergebnissen in 2000 und 2003 etwas abnahm. Zusammenfassend lässt sich bilanzieren, dass es PISA in Deutschland gelungen ist, Bildungspolitik wieder zurück in den öffentlichen Fokus zu rücken und die Wichtigkeit dieses Politikfeldes über den Selbstzweck hinaus hervorzuheben. Während Bildung in Deutschland lange als Thema betrachtet wurde, welches hauptsächlich in Expertenzirkeln diskutiert wurde, rückte es nach PISA ins Zentrum des öffentlichen Diskurses und wurde in nahezu jedermanns Wahrnehmungsbereich befördert (Lundahl/ Waldow 2009: 377). Des Weiteren spiegelt auch die mediale Diskussion in Deutschland ein verändertes Verständnis von Bildung wider. Wo früher eher ein ganzheitlicher Blick auf Bildung vorherrschte, welcher ökonomische Aspekte gleichberechtigt mit Aspekten der persönlichen Vervollkommnung sah (Nagel/Martens/Windzio 2010: 17), wird Bildung nun verstärkt als wirtschaftlicher Faktor verstanden, welcher nachhaltig auf die volkwirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückfällt.
Wandel des Bildungssystems: Wetterumschwung in der Bildungsrepublik Deutschland Das schlechte Abschneiden und die dadurch hervorgerufenen heftigen öffentlichen Reaktionen ebneten in der Folge den Weg für einen umfassenden Wandel des deutschen Bildungssektors. Das Ziel war dabei klar definiert: »Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden«, so die Bundeskanzlerin Angela Merkel (Merkel 2008). Der regelrechte Reformenthusiasmus, der im Anschluss an PISA einsetzte, läutete eine empirische Wende in der deutschen Bildungspolitik ein. Ein erstes, vorsichtiges Aufkeimen der Wandlungsbereitschaft lässt sich bereits Ende der 1990er Jahre feststellen, als zunehmend die bildungspolitischen Themen der Qualitätssicherung, der Modernisierung der Verwal-
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tung unter Kriterien von Effektivität und Effizienz, sowie Transparenz und Verantwortlichkeit in das Zentrum anstehender Reformbestrebungen rückten (Baumert et al. 2003: 137). Die langsam wachsende Erkenntnis, dass Reformen im Bildungssystem unausweichlich waren, wurde durch die Veröffentlichung von PISA nachhaltig beschleunigt. Das aus deutscher Sicht desaströse Abschneiden in dem internationalen Schulleistungsvergleich zeigte, dass unverzüglich Bildungsreformen in Angriff genommen werden mussten, um ein weiteres Abrutschen der »Bildungsnation Deutschland« zu verhindern. PISA symbolisiert also einen entscheidenden Wendepunkt in der stockenden deutschen Bildungspolitik. Direkt angestoßen durch das PISA-Abschneiden verabschiedete die KMK bereits im Dezember 2001 einen Maßnahmenkatalog, der zentrale Herausforderungen an das Schulsystem adressierte und eine Trendwende in der deutschen Bildungspolitik begründete. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die vorgestellten Konzepte völlig neu erarbeitet wurden. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass in erster Linie bereits vorhandene bildungspolitische Programme verabschiedet wurden, die jetzt in den direkten Zusammenhang mit PISA gebracht wurden und so bildungspolitische Handlungsfähigkeit zeigen sollten (Tillmann et al. 2008: 379). Die in dem KMK-Katalog aufgeführten sieben Handlungsfelder umfassten erstens Maßnahmen zur Steigerung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich, zweitens eine bessere Verzahnung der Primarund Frühbildung, damit eine umfassendere Grundlage für den sekundären Bildungsbereich gelegt werden kann und der sozio-ökonomische Hintergrund an Relevanz für den Bildungserfolg verliert (Carey 2008: 17), drittens die Verbesserung der Grundschulbildung hinsichtlich der drei PISA-Kernkompetenzfelder Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Man war viertens bestrebt, so genannte Risikoschülerinnen und -schüler verstärkt zu fördern. Außerdem sollte fünftens die noch in den Kinderschuhen befindliche Qualitätssicherung ausgebaut und verbindliche Bildungsstandards eingeführt werden. Lehrkräfte sollten sechstens verstärkt in methodischer und diagnostischer Hinsicht geschult werden. Schließlich stand siebtens auch ein Ausbau der Angebote zur Ganztagsbetreuung auf der Prioritätenliste (KMK/BMBF 2008). Zur weiteren Konzeptualisierung von Reformmaßnahmen wurde im Anschluss eine Studie vom BMBF initiiert, welche sich mit den Schulsys-
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temen in sechs Staaten12 beschäftigte, die bei PISA relativ erfolgreich abschnitten (BMBF 2003). Diese Studie sollte mögliche Konzepte zur Übernahme in das deutsche System identifizieren. In der Debatte um die Steuerung des Schulsystems wurden die Verknüpfung von Dezentralisierung und externer Evaluation als zentrale Komponenten identifiziert (ebenda). In diesem Sinne wurde zum einen eine stärkere Eigenverantwortlichkeit der Bildungseinrichtungen (Schulautonomie) befürwortet und zum anderen sollte durch die Vorgabe von überprüfbaren Bildungsstandards auch der Aspekt der Qualitätssicherung umfassender eingeführt werden (Klieme 2003; zu Bildungsstandards: Klieme et al. 2003). Bildungsstandards sind mittlerweile fester Bestandteil des deutschen Schulwesens.13 Auch der Aspekt der Schulautonomie erfuhr im Anschluss an PISA eine verstärkte Bedeutung, die Anknüpfungspunkte in den Konzepten des »Forums Bildung« fand und im Rahmen der KMK kontinuierlich weiterentwickelt wurde (Rürup 2007: 241). Wie die Tabellen 3.2 bis 3.4 zeigen, haben nahezu alle Bundesländer diese Aspekte – auf die eine oder andere Art – in ihr Schulsystem integriert. Ohne detailliert auf die einzelnen Reformmaßnahmen einzugehen, wird durch den Überblick ersichtlich, dass eine strukturelle Neuausrichtung in der deutschen Bildungslandschaft stattgefunden hat. Bildungsstandards und gesteigerte Schulautonomie (»eigenverantwortliche Schule«) wurden in allen Bundesländern (mehr oder minder umfassend) eingeführt und in diesem Zusammenhang weitere Maßnahmen zur Qualitätssicherung implementiert.
—————— 12 Untersucht wurden die Bildungssysteme von England, Finnland, Frankreich, Kanada, der Niederlande und Schweden. 13 Die KMK hat bundesweit geltende Bildungsstandards für Mathematik, Deutsch und die erste Fremdsprache für den Mittleren Bildungsabschluss im Dezember 2003 beschlossen. Im Oktober 2004 folgten Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss in Mathematik, Deutsch und erster Fremdsprache und für den Primarbereich in Deutsch und Mathematik sowie im Dezember 2004 für den Mittleren Abschluss in Biologie, Physik und Chemie. Sie wurden zum Schuljahresbeginn 2004/2005 beziehungsweise 2005/2006 von den Ländern verbindlich eingeführt.
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Tabelle 3.2: Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Sprachförderung und Verzahnung KiTa–Schule
bei diagnostiziertem Bedarf verpflichtende Teilnahme an Förderung
Bildungspläne für den Elementarbereich
Beteiligung an länderübergreifenden Initiativen und Projekten
Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule
verpflichtende Sprachstandserhebung vor Einschulung
Maßnahmen zur frühkindlichen Sprachförderung
ja
nein
2009
nein
Bayern
ja *
ja
2005
nein
Berlin
ja
ja
2004
TransKiGs
Brandenburg
ja
ja
2004/2006
TransKiGs
Bremen
ja
nein
2004
TransKiGs
Hamburg
ja
ja
2005
nein
Hessen
nein
nein
2005/2008
nein
Mecklenburg-Vorp.
nein
nein
2004/2010
nein
Niedersachsen
ja
ja
2005
nein
Nordrhein-Westfalen
ja
ja
2003
TransKiGs
Rheinland-Pfalz
ja *
ja
2004
nein
Saarland
nein
nein
2006
nein
Sachsen
nein
nein
2004/2007
nein
Sachsen-Anhalt
nein
nein
2004
nein
Schleswig-Holstein
ja *
ja
2004/2006
nein
Thüringen
nein
nein
2003/2008
TransKiGs
Baden-Württemberg
* Sprachstandserhebung nur für bestimmte Zielgruppen verpflichtend. Quellen: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010; Dietz/Lisker 2008; Strätz/Solbach/Holst-Solbach (2007); TransKiGs 2009; Internetauftritte der Bildungsadministrationen der Länder, eigene Darstellung
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Tabelle 3.3: Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Lehrerfortbildung sowie Qualitätssicherung durch Standards und Evaluation
Teilnehme an den VERA-Lernstandserhebungen in der 3., 6. und 8. Jahrgangsstufe
Maßnahmen zur Sicherung der Qualität auf Grundlage von verbindlichen Standards sowie Evaluation
Kl. 3
Baden-Württemberg
ja
ja
nein
nein *
1952
Bayern
ja
ja
nein
ja
1946
Berlin
nein
ja
nein
ja
2007
Brandenburg
nein
ja
nein
ja
2005
Bremen
nein
ja
nein
ja
2006/2007
Hamburg
nein
ja
ja
ja
2005
ja
ja
ja
ja
2007
Mecklenburg-Vorp.
nein
ja
ja
ja
1990
Niedersachsen
nein
ja
nein
ja
2006
Nordrhein-Westfalen
nein
ja
nein
ja
2007
Rheinland-Pfalz
nein
ja
nein
ja
–
Saarland
nein
ja
nein
ja
1945
Sachsen
nein
ja
ja
ja
1990
Sachsen-Anhalt
nein
ja
nein
ja
1990
Schleswig-Holstein
nein
ja
ja
ja
2008
Thüringen
nein
ja
ja
ja
1990
Hessen
Kl. 6
Kl. 8
Einführung zentraler Abiturprüfungen
Einführung verpflichtender Fortbildung für Lehrkräfte
Professionalität der Lehrer
* In Klasse 7 und 9 werden eigene Leistungsstandserhebungen durchgeführt. Quellen: KMK 2009, 2010a; Internetauftritte der Bildungsadministrationen der Länder, eigene Darstellung
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Tabelle 3.4: Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Förderung von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und Ausbau der Ganztagsschulangebote
Schülerinnen und Schüler, die ein Ganztagsangebot wahrnehmen
Ausbau der Ganztagsschulangebote an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen in den Ländern Anteil Verwaltungseinheiten mit Ganztagsangeboten in Prozent
Beteiligung am länderübergreifenden Projekt FörMig
Förderung von Migranten
2004
2008
2002
2008
Baden-Württemberg
nein
9,9
19,6
51.318
245.478
Bayern
nein
11,6
20,5
7.358
35.893
Berlin
ja
38,9
79,8
67.050
115.549
Brandenburg
ja
21,3
46,3
24.796
63.526
Bremen
ja
18,1
30,5
2.899
11.705
Hamburg
ja
27,8
43,0
7.661
62.837
nein
16,4
30,2
87.791
176.856
ja
24,8
34,8
11.394
31.920
nein
11,5
22,3
54.818
170.975
Nordrhein-Westfalen
ja
19,9
62,2
292.765
472.731
Rheinland-Pfalz
ja
19,8
34,1
21.396
54.485
Saarland
ja
37,9
91,3
4.033
11.610
Sachsen
ja
83,5
97,4
86.214
179.201
nein
18,2
23,5
23.167
30.216
ja
11,0
36,5
11.365
58.909
nein
72,0
76,7
42.495
71.990
Hessen Mecklenburg-Vorp. Niedersachsen
Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
Quellen: http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de; KMK 2008b, 2010b; Internetauftritte der Bildungsadministrationen der Länder, eigene Darstellung
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Mit VERA (ursprünglich für »Vergleichsarbeiten in der Grundschule«) wurde ein nationales Instrument der Schulleistungsmessung eingeführt, zusätzlich zur Beteiligung an den internationalen Schulleistungsvergleichsstudien. Daneben wurden auf Bundes- und Länderebene Programme und Projekte zur Sprachförderung, zur besseren Zusammenarbeit von Frühund Grundbildungseinrichtungen, zur Förderung von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern sowie zum Ausbau der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenz und des Leseverständnisses umgesetzt. Ferner wurden verstärkt Anstrengungen zum Ausbau von Ganztagsangeboten unternommen. Diese Maßnahmen können als direkte oder zumindest indirekte Reaktionen auf PISA interpretiert werden. Analog zu der veränderten Schulstruktur wandelte sich auch die Gestaltung von Bildungspolitik in Deutschland. Bildungsreformen wurden nun weniger an bestehenden Traditionen und bereits eingeschlagenen Pfaden ausgerichtet, sondern stärker losgelöst von vorherigen Konfigurationen an den gemessenen Leistungsoutcomes orientiert (Interview GER-10). Die objektive Bewertung der Leistungsstudien von Schülerinnen und Schülern sowie von Schulen bot auch die Gelegenheit, tief verwurzelte Dogmen im deutschen Bildungssystem zu überwinden. Es fand eine Verschiebung zugunsten verstärkter empirischer Evaluationen statt. Damit vergleichende Resultate bewertet und interpretiert werden können, wurde gleichzeitig professionelle Expertise benötigt. Begleitende Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung spielt nunmehr eine bedeutendere Rolle in der deutschen Bildungspolitik (Interview GER-01). Als weiteren Ausdruck des verschobenen Modus der Politikgestaltung ist anzuführen, dass auch in anderen Bildungsbereichen auf internationale Vergleichsstudien gesetzt wird. Ob IGLU oder PIAAC14 – in nahezu allen Bildungsbereichen wird verglichen, evaluiert und sich an internationalen Standards ausgerichtet. Neben der internationalen Ebene findet Bildungsberichterstattung auch im nationalen Kontext einen Niederschlag, etwa durch die Autorengruppe Bildungsberichterstattung, die seit 2006 ihre Berichte im zweijährigen Turnus vorlegt und durch eine indikatorengestützte Analyse die zentralen
—————— 14 IGLU untersucht die Lesekompetenz in der vierten Jahrgangsstufe. Das Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) erfasst Aspekte der Erwachsenenbildung. Am Assessment of Higher Education Learning Outcomes (AHELO), welches sich zukünftig mit Bildungsleistungen im tertiären Bildungssektor befassen wird, nimmt Deutschland jedoch (noch) nicht teil.
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Merkmale von Bildungsprozessen und Bildungsqualität untersucht.15 Auch für Bundesländer und Kommunen sind Programme zur Bildungsberichterstattung aufgelegt worden.16 Im Zusammenspiel mit Bildungsstandards, Vergleichsstudien sowie interner und externer Evaluation ist die Bildungsberichterstattung ein Teilaspekt des übergreifenden Bildungsmonitorings in der Bundesrepublik. Schon zu PISA 2000 hatte die KMK eine nationale Erweiterung der OECD-Studie beschlossen, um einen Vergleich der einzelnen Bundesländer zu ermöglichen. Diese PISA-E genannte Erweiterungsstudie wurde auch 2003 und 2006 erhoben. Seit 2009 wird der Bundesländervergleich mittels einer auf den geltenden Bildungsstandards als Bemessungsgrundlage basierenden und nur noch zum Teil auf PISA aufbauenden Studie durchgeführt, deren erste Ergebnisse im Juni 2010 präsentiert wurden (so genannte IQB-Studie, Köller/Knigge/Tesch 2010). Die Zusammensetzung der politischen Entscheidungsfinder änderte sich in Folge von PISA jedoch nicht substanziell. Die vormals verantwortlichen Akteure blieben in ihrer Position. Lediglich auf einer unteren Ebene traten neue Akteure auf. Durch die Hinwendung zu Outputorientierung und empirisch unterfütterten Prozessen der Politikgestaltung wurden vermehrt Bildungsexpertinnen und -experten sowie bildungswissenschaftliche Beratungsgremien hinzugezogen. Die KMK schuf den Wissenschaftlichen Beirat, welcher Hinweise auf politische Schlüsse geben soll, die aus empirischen Studien gezogen werden (Interview GER-11).17 Ein weiterer Schritt bestand in der kontinuierlichen Ausweitung der Vergleichsstudien zwischen den einzelnen Bundesländern. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Errichtung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 2004 augenfällig, welches mit der Weiterentwicklung, Operationalisierung und Überprüfung der Bildungsstandards betraut ist und die Bundesländer in ihren Anstrengungen unterstützt.18 Ebenso wurden auf Länderebene Agenturen errichtet, welche die Einhaltung der Bildungsstandards überwachen und somit die Qualität der Bildungseinrichtungen sichern sollen.
—————— 15 http://www.bildungsbericht.de/daten/gesamtkonzeption.pdf (Abruf am 21.07.2010). 16 http://www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite=4369 (Abruf am 21.07.2010). 17 Ebenfalls als Ausdruck der evidenzbasierten Steuerung wurde vom BMBF das Nationale Bildungspanel eingerichtet, das Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung in allen Bildungsabschnitten untersucht: http://www.uni-bamberg.de/neps (Abruf am 22.07.2010). 18 http://www.iqb.hu-berlin.de/institut (Abruf am 26.04.2010).
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Auch wenn die Akteurskonstellationen relativ identisch blieben, fanden signifikante Veränderungen in den Prozessen der bildungspolitischen Entscheidungsfindung statt. Der deutsche Staat und seine Organe entfernten sich von der vormals sehr detaillierten bildungspolitischen (Input-)Steuerung und setzen nun verstärkt darauf, einen Rahmen für die Sekundarbildung vorzugeben. In diesem Zusammenhang wird die Hinwendung zu einer Outputorientierung besonders deutlich. Wo vor den Reformen beispielsweise noch von staatlicher Stelle reguliert wurde, was die Curricula enthalten sollten, wird Bildungspolitik nunmehr danach ausgerichtet, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler am Ende eines spezifischen Bildungsprogramms (oder Jahrgangsstufe) besitzen sollen (Weber 2005: 18). Man kann folglich von einem Paradigmenwechsel von Kontext- zur Wirkungssteuerung sprechen (van Ackeren 2004: 250). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich der grundlegende Wandel in der Bildungspolitik schwerlich unter eine einzelne »Super-Reform« fassen lässt. Vielmehr waren zahlreiche Veränderungen dafür verantwortlich, dass die deutsche Bildungslandschaft maßgeblich umgestaltet wurde. Das Schlagwort der »empirischen Wende« umfasst hierbei Maßnahmen der Qualitätssicherung, der Einführung von Bildungsstandards und Evaluationsmechanismen. Im Zuge dieser Neuausrichtung passte sich auch die Politikgestaltung an. Gemäß der Leitmaxime von evidenzbasierter Politikgestaltung wurden in den Entscheidungsprozessen verstärkt Expertisen von Konsultationsinstitutionen oder wissenschaftlichen Beraterinnen und Beratern einbezogen.
OECD-Einfluss auf Reformprozess: Der Regenmacher Dass die Reformprozesse im deutschen Bildungssystem ohne die OECD und ihre PISA-Studie in der beobachteten Form nicht vorgenommen worden wären, ist relativ unstrittig. So bestätigte auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan, dass »[d]ie Ergebnisse der PISA-Studie […] einen erheblichen Reformschub ausgelöst« haben (BMBF 2007). Welchen Einfluss die OECD letztendlich auf die konkrete Ausgestaltung der beobachteten Reformen hatte, bedarf einer näheren Betrachtung. Allein die Gleichzeitigkeit des Erscheinens der PISA-Studie und des Einsetzens des deutschen Reformbestrebens lässt zunächst lediglich vermuten, dass PISA als
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Auslöser identifiziert werden kann. Betrachtet man jedoch die Reformen näher, wird zudem deutlich, dass auch inhaltlich zahlreiche Anlehnungen an die durch PISA implizierten OECD-Empfehlungen festzustellen sind. Daher soll im Folgenden gezeigt werden, dass die OECD mit PISA über ein Instrument verfügte, welches die Reformen im deutschen Schulwesen substanziell geprägt und in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Die OECD hat Deutschland mit PISA allerdings keine konkretisierten Maßnahmen zur Performanzverbesserung direkt vorgegeben. Auch das nationale PISA-Konsortium vermied es, aus den Befunden der Studie kausale Aussagen zu treffen oder direkte Empfehlungen für die politischen Akteure abzuleiten, da es sich bei den Länderrankings allenfalls um korrelative Aussagen über Beziehungen handelt (Radtke 2003: 120). Die Wirkung der OECD (durch PISA) war vielmehr indirekter Natur. Zunächst mobilisierte die OECD neben den bildungspolitischen Akteuren auch die deutsche Öffentlichkeit. Diese verlangte umfassende Verbesserungen, um die festgestellten Bildungsdefizite unverzüglich anzugehen. Generell ist die OECD in Deutschland nur schwerlich zu ignorieren, da die Organisation selbst und ihre Publikationen ein hohes Maß an Reputation genießen, das ihren Äußerungen umso mehr Nachdruck verleiht (Sharman 2007: 31–32). Mittels des überzeugenden methodischen Vorgehens und der standardisierten Vergleichbarkeit der nationalen Bildungssysteme generierte die OECD den hohen Stellenwert, den PISA in Deutschland inne hat. Indem die OECD zeigte, dass andere Industrieländer wesentlich bessere Bildungsergebnisse erzielen, verwies sie gleichzeitig auf best practice-Beispiele, implizierte Empfehlungen und beförderte Aspekte auf die nationale Agenda, wie das Bildungssystem zu verbessern sei. Auf zwei Dimensionen ist der OECD-Einfluss dabei auszumachen: auf einer strukturellen und auf einer ideellen Ebene. Die strukturelle Ebene bezieht sich auf konkrete Änderungen, sowohl des Bildungssystems selbst als auch auf eine Neuausrichtung der Politikgestaltung, die den Fokus auf die Output-Orientierung sowie die Evaluierung von Bildungsleistungen legten. Die ideelle Ebene hingegen rückte Aspekte ins Zentrum, welche die deutsche Leitidee von Bildung verändert haben und dadurch vollzogene Reformen kanalisierten. Die konkreten strukturellen Reformschritte des deutschen Bildungswesens bezogen sich, wie oben bereits ausgeführt, darauf, die aufgedeckten Kompetenzmängel der deutschen Schülerinnen und Schüler zu kurieren und der hohen Varianz zwischen den Schülergruppen beizukommen. Der
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Maßnahmenkatalog der KMK und die daraus abgeleiteten Reformmaßnahmen stellen die Essenz der eingeleiteten Schritte dar. Frühe Förderung – gerade von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern –, Qualitätssicherung mit verstärkter Eigenverantwortlichkeit der Einzelschulen, Bildungsberichterstattung und Ausrichtung auf überprüfbare Kompetenzen waren die Kernanliegen dieser breiten Initiative. Eine der offensichtlichsten Neuerungen ist in diesem Zusammenhang die Einführung von Bildungsstandards. Sie sollen sicherstellen, dass bestimmte Grundkompetenzen erreicht und zugleich auch überprüfbar gemacht werden. Die Etablierung von (externer) Evaluation spiegelt das von der OECD verbreitete Monitoring-Konzept wider, welches die kontinuierliche Überprüfung von Bildungsleistungen anhand definierter Kriterien vorsieht. Unter der Frage, ob bestimmte gesetzte Ziele tatsächlich erreicht wurden, wandte sich die deutsche Bildungspolitik einer Outputorientierung zu. Während die Maßnahmen hinsichtlich der Outputorientierung noch relativ unproblematisch mit den deutschen Bildungstraditionen in Einklang zu bringen waren, wurden Erwägungen zur Abkehr vom gegliederten Schulsystem massiv durch althergebrachte deutsche Bildungsauffassungen verhindert. Zwar steht die frühe Selektion der deutschen Schülerinnen und Schüler im Kontrast zu den Praktiken in den PISA-Gewinnerländern, die überwiegend eine lange gemeinsame Beschulung favorisieren (BMBF 2003), aber dennoch wurde ein bundesweit einheitliches Abrücken vom gegliederten Schulsystem (noch) nicht erreicht. Der Widerstand gegen die Reformierung der Zwei- beziehungsweise Dreigliedrigkeit variierte von Bundesland zu Bundesland und je nach politischer Couleur, bildete jedoch eine bislang nicht überwindbare Hürde. Da die Länderadministrationen letztendlich die höchste Autorität in der deutschen Bildungspolitik darstellen, fungierten sie als Vetospieler gegen die flächendeckende Abschaffung des gegliederten Schulsystems. Erschwerend kam auch hinzu, dass gerade Länder mit strikter Dreigliedrigkeit, wie zum Beispiel Bayern oder BadenWürttemberg, bei PISA überdurchschnittlich gute Ergebnisse erzielen konnten. Für sie war eine Abkehr vom gegliederten Schulsystem auf Grundlage des PISA-Abschneidens daher nicht nachvollziehbar und somit Gegenstand der Ablehnung. Auf der ideellen Ebene übte die OECD besonderen Einfluss auf das grundlegende Verständnis von Bildung in Deutschland aus. Durch ihre Initiative wurde die deutsche Bildungsleitidee entscheidend verändert und nahm mehr und mehr eine ökonomische Perspektive ein. In erster Linie
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gelang es der OECD durch PISA und ihre Interpretationen, den Bildungsdiskurs in Deutschland so zu beeinflussen, dass Bildung verstärkt als Mittel zur Generierung von Humankapital verstanden wurde, welches für die (nationale) Wirtschaft nutzbar gemacht werden sollte. Dabei steht nicht nur die individuelle Perspektive im Vordergrund, die darauf ausgerichtet ist, dass Einzelne durch Bildung ihre persönliche wirtschaftliche Situation verbessern können, sondern dass eine gut ausgebildete Gesellschaft der gesamten Volkswirtschaft zugute kommt. Die Verknüpfung zwischen Bildung und Wirtschaft wurde zu einem zentralen Punkt der Reformdebatte. Im Zuge dieses neuen Bildungsverständnisses wurden die schlechten deutschen Bildungsleistungen direkt in die Befürchtung übersetzt, dass ebenfalls das zukünftige wirtschaftliche Wachstum und somit der Wohlstand gefährdet seien (Interview GER-04). Der OECD gelang es, den Bildungsdiskurs entscheidend mit wirtschaftlichen Aspekten zu verknüpfen (Martens/Niemann 2009). Die neue volkswirtschaftliche Sichtweise auf Bildung stand dem traditionellen deutschen Verständnis in gewisser Weise gegenüber. Die bisherige Perspektive schloss zwar explizit ein, dass Bildung als Mittel für individuelle Prosperität gesehen wurde. Zugleich wurde jedoch ein ganzheitlicher Bildungsbegriff favorisiert, der auch Aspekte der sozialen Integration, der persönlichen Veredelung und der Befähigung zur demokratischen Teilhabe gleichberechtigt berücksichtigte. Ohne die traditionelle Grundphilosophie gänzlich über Bord zu werfen, wird in deutschen bildungspolitischen Debatten nun verstärkt akzeptiert, dass Bildung einen ökonomischen Faktor darstellt und dass beide Sphären eng miteinander verschränkt sind (Interview GER-07, GER-02). Die OECD hatte mit PISA einen umfassenden Anteil an der Verbreitung dieses neuen Verständnisses. Ein zweiter Aspekt des gewandelten Bildungsverständnisses richtete sich auf die zu erreichenden Basiskompetenzen. Es stand nicht länger die Maxime im Vordergrund, dass in erster Linie die Begabtesten besonders gefördert werden sollten, sondern dass die gesamte Schülerschaft bestimmte Basiskompetenzen erlangen müsse. Alle Schülerinnen und Schüler sollen gleich gut – entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten – gefördert und ausgebildet werden. Eine Pragmatisierung durch den Blick auf die internationale (Vergleichs-)Ebene war in diesem Zusammenhang zu beobachten (Interview GER-10). Wie ist es der OECD nun gelungen, über PISA einen derartigen Einfluss auf das deutsche Bildungswesen zu generieren? Grundsätzlich gilt,
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dass internationalen Organisationen keine zum Nationalstaat analogen Steuerungsmechanismen zur Verfügung stehen. Sie können in der Regel nicht qua verbindlicher Regelungen oder Zwangsmaßnahmen regieren. Die Theorie der Internationalen Beziehungen betrachtet Steuerungsleistungen internationaler Organisationen aus einer Perspektive, die »weiche« Instrumente ins Zentrum rückt (Barnett/Finnemore 2004). Es stehen Mechanismen wie die Setzung nicht-bindender Normen, die Verbreitung von Meinungen, die Schaffung materieller Anreize oder die Offerierung von Beratungsleistungen im Vordergrund (Jacobson 1979; Jakobi/Martens 2007). So stützt sich auch die OECD (in bildungspolitischen Angelegenheiten) auf überzeugende Argumente und diskursive Beeinflussung (Marcussen 2004), die auf der Produktion von verlässlichen Daten, Politikevaluierung und übergreifenden Ideen beruhen (Mahon/McBride 2009; Martens/Jakobi 2010). Zusammengenommen hat die OECD mit PISA die Prioritäten für die Reformierung der deutschen Sekundarbildung formuliert und einen Bewertungsrahmen geschaffen. Indem sie die Mängel des deutschen Bildungssystems überzeugend offen gelegt und gleichzeitig Beispiele des best practice aus anderen Staaten gegeben hat, konnte die OECD erfolgreich ihr (ökonomisch-zentriertes) Bildungsverständnis in den Vordergrund befördern. Ihr primärer Einfluss lag darin, die Agenda-Prioritäten in der deutschen Bildungspolitik zu bestimmen. Gemäß ihrer gegebenen Steuerungsmöglichkeiten beeinflusste die Organisation die deutsche Sekundarbildung, indem sie den öffentlichen Diskurs nachhaltig befeuerte und somit ein informeller öffentlicher Druck zu Reformen aufgebaut wurde. Des Weiteren diente die Etablierung von Benchmarks als ebenfalls sehr weiches Mittel der Standardsetzung. Deutschland orientierte sich – beispielsweise in PISA-E – an dem Erhebungsmodell der OECD zur Lernstandsmessung und ist bestrebt, das Outcome des Bildungssystems auf den definierten Kompetenzaspekt auszurichten. Die eigentliche Stärke von PISA lag im Kontext der Bundesrepublik letztendlich auch darin, dass es der OECD mit ihrer Schulleistungsstudie gelang, die deutsche Bildungsleitidee nachhaltig zu beeinflussen oder gar zu verschieben. Wie bereits ausgeführt, kann die OECD nicht konkret vorschreiben, sondern nur Orientierungspunkte schaffen. Dies geschieht vornehmlich durch diskursive Mittel des Analysierens, Aufzeigens und Argumentierens. Dabei erzeugte die Organisation durch PISA zunächst Aufmerksamkeit für das defizitäre deutsche Schulwesen und bereitete dadurch
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den Boden für einen Wandel des Bildungsverständnisses in Deutschland. Diese ideologische Neuausrichtung schaffte in ihrer Konsequenz eine fortschreitende Implementation der Outputorientierung und der evidenzbasierten Politikgestaltung.
Schlussfolgerungen: Deutschland nach dem Bildungsunwetter Die PISA-Reaktionen in Deutschland haben gezeigt, dass ein umfangreicher Wandel des Bildungswesens von außen angestoßen und anschließend bundesweit flächendeckend umgesetzt wurde. Durch den unvermittelten Ruf nach Bildungsreformen schaffte es die OECD, die vor 2001 herrschende Blockadesituation zwischen den politischen Akteuren aufzuheben beziehungsweise zu schwächen (Interview GER-02). Der laute öffentliche Ruf nach politischem Handeln stimulierte einen Konsens zu raschen und elementaren Reformen. Es lässt sich also festhalten, dass PISA die vormals übermächtig erscheinende Blockadestruktur umgangen und einen bundesweiten Reformkonsens geschaffen hat. Lediglich bei der Diskussion über die Abschaffung der Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems konnten Vetokräfte eine einheitliche »Revolution« verhindern. Die Leitideen haben sich in der Bundesrepublik gewandelt und den Weg für fortschreitende Reformen geebnet. Die Bildungsverständnisse von Deutschland und der OECD lagen vor PISA relativ weit auseinander. Wo in Deutschland die Auffassung einer ganzheitlichen Bildungsphilosophie vorherrschte, konzentrierte sich die OECD vornehmlich auf ökonomische Gesichtspunkte. Durch die PISA-Studie gelang es der OECD, ihre Bildungsidee in Deutschland nachhaltig zu verbreiten; die Lücke der Bildungsideale wurde zunehmend geschlossen. In diesem Zusammenhang steht auch die »Messbarmachung« von Bildungsleistungen, die sich zunehmend auf ökonomische Belange fokussiert. Gerade der internationale Charakter der PISA-Studie hat den Problemdruck massiv verstärkt. Die Performanz des deutschen Schulwesens wurde in Relation zum Abschneiden anderer Länder gesetzt und diese Vergleichbarkeit setzte Deutschland letztendlich unter Zugzwang. Zu sehen, dass Deutschland sich nur im Mittelfeld befindet und dass Staaten, die als Referenzpunkt dienen, wesentlich besser ausbilden, förderte auch die Befürch-
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tung, die Bildungsleistung schlüge sich über kurz oder lang auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nieder (Interview GER-11). PISA schuf eine gestärkte Argumentationsposition für Akteursgruppen, die seit jeher eine stärker ökonomisch geprägte Auffassung von Bildung favorisierten, zum Beispiel Vertreter der deutschen Wirtschaft. So traten im Zuge von PISA informelle Akteure, zumeist Interessensvertreter und Stiftungen, auf den Plan, ihre bildungspolitischen Forderungen nachhaltig zu artikulieren: Sie forderten bessere Bildungsleistungen ein, damit die Nachfrage nach gut qualifizierten Arbeitskräften auch zukünftig befriedigt und damit die Grundlagen ihrer wirtschaftlichen Performanz gesichert werden können (Interview GER-04, GER-07, GER-09). Somit stützten sich diese Akteure auf die zuvor von der OECD etablierte Argumentationslinie und konnten ihre ureigenen Interessen vor einem bereits legitimierten Hintergrund vortragen. Für den begonnenen und mittlerweile konsolidierten deutschen Bildungsreformprozess ist auch zukünftig anzunehmen, dass weitere Schritte folgen werden, welche den eingeschlagenen Weg der »empirischen Wende« weiter fortschreiben. Die Zeit der grundlegenden Veränderungen dürfte dagegen ein vorläufiges Ende gefunden haben; jetzt geht es mehr um die vollständige Implementation und Konsolidierung. An vorderster Stelle dürften dabei Bemühungen stehen, die immer noch hohe Varianz zwischen den Schülergruppen zu reduzieren und Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten besser zu fördern. PISA 2009 wird der Prüfstein für den vorgenommenen Reformprozess sein. Welche Auswirkungen seit 2001 zu verzeichnen sind, ist jedoch nur schwerlich abzuschätzen, denn besonders in der Bildungspolitik gilt: Reformen brauchen Zeit.
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Schweiz – PISA als Wegbereiter von Reformen
Tonia Bieber
Einleitung1 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unterstützt das Wirtschaftswachstum und die soziale Entwicklung in ihren 34 Mitgliedsstaaten und übt eine explizite Beratungsfunktion für diese aus. In den letzten Jahren hat sich die Organisation auch im Bildungsbereich, welcher traditionell als Domäne der Nationalstaaten gilt, zunehmend als wichtiges internationales Forum und Dienstleister der entwickelten Industrieländer etabliert (Stöckling 2005). Dies verdankt sie insbesondere ihrem Programme for International Student Assessment (PISA), welches seit 2000 federführend durch die OECD durchgeführt wird. Als internationale Studie zum Benchmarking von Schülerleistungen in den Basiskompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften am Ende der obligatorischen Schulzeit enthüllte PISA beachtliche Defizite in zahlreichen Bildungssystemen. Die Erhebung gilt seitdem als Gradmesser für die Leistungsfähigkeit sowie die soziale Integrationsfähigkeit von Bildungssystemen. Für die OECD ist dabei die Vorstellung leitend, dass international vergleichende Studien und die Ermittlung bewährter Verfahren (best practice) transnational kollektive Lernprozesse auslösen und dadurch zur Verbesserung nationaler bildungspolitischer Steuerungsprozesse beitragen (IWT 2004). Kritisch zu sehen ist hierbei, dass sie als ökonomisch orientierter Akteur zu einer eher einseitigen Ausrichtung nationaler Bildungs-
—————— 1 Dieser Beitrag verwendet qualitative Methoden halbstrukturierter Experteninterviews, Dokumentenanalyse und Sekundärliteratur. Die Interviews wurden mit 35 Experten der Schweiz – politischen und administrativen Akteuren, Sozialpartnern und Wissenschaftlern – sowie der Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission zwischen März 2008 und März 2010 geführt. Für hilfreiche Unterstützung danke ich Alexander Akbik und Clara Helming.
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systeme auf die Optimierung der Volkswirtschaften neigt (Henry et al. 2001). Das OECD-Gründungsmitglied Schweiz kooperiert seit 1990 auch im Bildungsbereich mit der Organisation und partizipiert an zahlreichen ihrer Bildungsprogramme. Da sie allerdings nicht an der Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS) der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) teilnahm, stellt PISA die einzige Quelle für vergleichbare und zuverlässige Daten zu Schülerleistungen dar (SKBF 2010).2 Während die PISA-Studie der Schweiz in allen drei Runden sehr gute Resultate in Mathematik bescheinigte, offenbarte sie mittelmäßige Ergebnisse in Naturwissenschaften sowie ernüchternde Mängel in der Schreib- und Lesefähigkeit, wo viele 15-Jährige sehr schlechte Leistungen zeigten. Jedoch öffnete PISA nicht nur die Augen für die mangelnde Lesefähigkeit vieler Schülerinnen und Schüler am Ende der Pflichtschulzeit, sondern demonstrierte auch, dass in der OECD-Welt die Lesekompetenzen der Heranwachsenden in der Schweiz, Deutschland und Belgien am deutlichsten von der sozialen Herkunft geprägt sind (OECD 2002). Diese Enthüllung stieß zahlreiche Reaktionen in der Presse an und katapultierte das Thema Bildung auf der Schweizer Politikagenda nach oben. Folgenden Fragen wird deshalb nachgegangen: Wie sieht die Darstellung der Schweizer PISA-Ergebnisse in der Presse aus und wie verändert sich diese zwischen den einzelnen PISA-Studien? Welche Auswirkungen hatte PISA auf politische Reformen in der Schweiz, und auf welche Weise lassen sich diese erklären? Bezug nehmend auf die in der Einleitung dieses Bandes (siehe de Olano et al.) dargelegten Erklärungsfaktoren – Vetospieler, Leitideen und innerstaatlicher Problemdruck – werden in diesem Kapitel die Reaktionen der Schweizer Politik und Presse auf PISA analysiert. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass es wie in Deutschland einen PISA-Schock gab, das Medienecho jedoch im Zeitverlauf abebbte. Zudem wird dargelegt, wie PISA den Anstoß für lange geplante Reformen gab, insbesondere für das interkantonale Konkordat »HarmoS« zur Harmonisierung zentraler kantonaler Eckwerte und zur Sicherung von Qualität im Bildungswesen.
—————— 2 In der Schweiz ist PISA ein gemeinsames Projekt von Bund und Kantonen, dessen Durchführung gemeinsam finanziert wird. Dabei repräsentieren das Staatssekretariat für Bildung und Forschung und das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie den Bund, die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz die Kantone.
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Im folgenden Abschnitt werden zunächst die Entwicklung des Schweizer Bildungswesens bis zur ersten PISA-Studie 2000 nachgezeichnet und die daraus resultierenden Leitideen sowie die Gestaltung der Schweizer Bildungspolitik im Kontext der Internationalisierung erläutert. Der dritte Abschnitt zeigt die öffentlichen Reaktionen der Schweizer Presse auf die Ergebnisse der drei Erhebungen, während der vierte Abschnitt auf die politischen Reformen eingeht. Hier wird insbesondere analysiert, inwiefern PISA Reformanstöße gegeben hat. Der letzte Abschnitt fasst die zentralen Befunde zusammen und gibt einen Ausblick auf künftige Entwicklungen in der Schweizer Bildungspolitik.
Entwicklung und Struktur des Schweizer Bildungssystems Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über die Geschichte des Bildungssystems der Schweiz und das daraus resultierende ideelle Verständnis von Bildung. Anschließend werden die politischen Kompetenzen und der organisatorische Aufbau des Sekundarbildungsbereichs dargestellt.
Wegmarken seit dem 19. Jahrhundert Die Geschichte des staatlichen Schweizer Bildungssystems beginnt im 19. Jahrhundert und ist geprägt durch ein kontinuierliches Ringen um Bildungskompetenzen zwischen Kantonen und Bund. Nachdem das Schulwesen mehrere Jahrhunderte lang in den Händen der Kirche lag, machte das erste föderale Bildungsgesetz während der Helvetischen Periode von 1798 bis 1803 Bildung zur Staatsaufgabe (Hega 1999). Seit der Verfassung von 1848, die die Schweiz als Staat konstituierte, sowie ihrer Revision von 1874 ist die öffentliche Primarschule verpflichtend, kostenfrei sowie säkularisiert und liegt in kantonaler Verantwortung. Der Kampf gegen den föderalen Einfluss auf die kantonalen Schulsysteme erwies sich 1882 im Zuge eines Referendums als erfolgreich. Obwohl bereits 1897 die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) als Plattform zur Koordinierung kantonaler Schulsysteme geschaffen wurde, gingen die Kantone bis zum Zweiten Weltkrieg ihre eigenen Wege. Ein Bundesministerium für Bildung
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wurde nie etabliert (ebenda). Daher mangelte es dem Bildungssystem noch im 20. Jahrhundert an interkantonaler und internationaler Kooperation. Die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren durch Forderungen nach Vereinheitlichung gekennzeichnet. Die steigende Nachfrage nach Bildung und Mobilität führte 1970 zum Abschluss eines Konkordanzvertrags zur Schulkoordinierung, der strukturelle Eckwerte wie den Beginn des Schuljahres, das Schuleintrittsalter und die Dauer der obligatorischen Schulzeit festlegte (EDK 1986). Jedoch war dieses wichtige gesetzliche Instrument zur Koordinierung und Vereinheitlichung hoch umstritten und führte nicht zur Einrichtung einer suprakantonalen oder nationalen Autorität (Hega 2000: 7). Die Bildungspolitik der 1960er und 1970er Jahre war expansiv, wies jedoch eine relativ stabile bildungspolitische Ordnung auf (Criblez 2008a: 296). Wie schon 1882 scheiterte auch 1973 der Versuch, dem Bund mehr Entscheidungsbefugnisse einzuräumen, als eine Verfassungsänderung im Bildungsbereich durch einen Volksentscheid zurückwiesen wurde (Hega 1999). So ist Bildung das »Reservat der kantonalen Rechtsetzung« geblieben (Hürlimann 2000: 114). Kantonale Diversität und regionale Besonderheiten des Bildungswesens verursachen noch heute Probleme im Hinblick auf die innerschweizerische Mobilität von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern. Im Zuge der Globalisierungsprozesse begann sich die Bildungspolitik der Schweiz gegenüber dem Ausland zu öffnen (Criblez 2008a). Die erste bildungspolitische Kooperation zwischen der Schweiz und der OECD erfolgte 1990. Ein OECD-Länderexamen verglich die Schweiz mit anderen Staaten und beurteilte sie nach internationalen Standards. Die resultierende Beschreibung des Schweizer Bildungssystems und der Bildungspolitik im Bereich der Primarstufe und der Sekundarstufen I und II beruhte auf zwei Grundlagenberichten der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK 1990). Das Bundesamt für Statistik begann gleichzeitig, die Schweizer Bildungsstatistik nach international definierten Indikatoren zu organisieren und veröffentlichte 1992 die erste indikatorengestützte Publikation Bildungsmosaik.
Leitideen im Schweizer Bildungswesen Die historische Entwicklung des Schweizer Bildungssystems brachte spezifische Leitideen mit sich. Diese können die Richtung politischer Reformen
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beeinflussen, unterliegen jedoch selbst Wandlungsprozessen. Sowohl die Region als auch die Bildungsphase bestimmen die Ausprägung der Leitideen (Interview CH-04, CH-05). Im Gegensatz zur Hochschulbildung ist die Konnotation von Bildung im Bereich der Primar- und Sekundarbildung eher an der politischen Integration und an sozialen Rechten orientiert als an ökonomischem Wachstum. Die Bedeutung des im 19. Jahrhundert dominierenden Leistungsprinzips sank mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Seit der Gründung der Schweiz im Jahr 1848 ist Schule zu einem Faktor gesellschaftlicher Kohäsion geworden. Bildung wird als kulturelles Gut und als Bürgerrecht im Sinne Ralf Dahrendorfs (1965) angesehen und zielt auf die Verwirklichung von Chancengleichheit ab. Aufgrund der Befürchtung, dass Wettbewerb zu verstärkter Leistungsvarianz sowie Einbußen an Qualität und Chancengleichheit führen könne, wurde das Bildungssystem der Schweiz in öffentlicher Hand gehalten. Auch besteht keine freie Schulwahl, um die Konzentration von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern in einzelnen Schulen zu verhindern (Interview CH-15, CH-18). Eine weitere zentrale Funktion des heutigen Bildungssystems ist die Förderung sozialer Mobilität. Formale gesellschaftliche Barrieren von Geschlecht, Religion und sozioökonomischem Hintergrund sollen überwunden werden. Das Bildungssystem ist nach deutschem und französischem Vorbild geteilt: In der Deutschschweiz ist das Schulsystem dreigliedrig und durch eine Konzentration auf den Vormittagsunterricht geprägt. In der Romandie und im Tessin besteht ein Gesamtschulsystem. Das Prinzip der Ganztagsschule soll helfen, soziale Ungleichheiten zu kompensieren (Hega 1999).
Politische Verantwortlichkeiten Die Schweiz verfügt über 26 unterschiedliche kantonale Bildungssysteme. Aufgrund interkantonaler Vereinbarungen kann man jedoch von einem System sprechen. Es ist gekennzeichnet durch die politischen Merkmale der direkten Demokratie, der Subsidiarität und des Föderalismus (Hega 2000; Scharpf 1988). Diese werden in der Komplexität der Politikverflechtung, in den legislativen Prozessen und der Konstellation sowie der Rolle der Akteure reflektiert. Gemäß Artikel 61a der Bundesverfassung stellt sich Bildungspolitik als komplexes Zusammenspiel dar: Bund, Kantone und Gemeinden teilen sich die Verantwortung für verschiedene Teile des
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Systems. Je nach Bildungsstufe bestehen unterschiedliche Zuständigkeiten bei der gesetzlichen Regelung, der Aufsicht und der Finanzierung. Für den Bund ist das Staatssekretariat für Bildung und Forschung, das im Bundesdepartment für Innere Angelegenheiten angesiedelt ist, zuständig für die obligatorische Schule. Die primäre Verantwortung für Bildung und Kultur liegt jedoch bei den kantonalen Erziehungsdepartments, die sich über die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz auf gesamtschweizerischer Ebene koordinieren. Die Kantone sind für das Schulwesen zuständig und sorgen für einen ausreichenden Grundschulunterricht. Sie haben die primäre Finanz- und Regelungskompetenz für die obligatorische Schulbildung, welche die Primarstufe und die Sekundarstufe I umfasst. Dabei decken sie mehr als die Hälfte der Ausgaben der Sekundarstufe I, der Berufsbildung und der allgemein bildenden Schulen der Sekundarstufe II (zum Beispiel Maturitätsschulen). Wie die USA (siehe Martens in diesem Band) ist die Schweiz ein Föderalstaat, der den Gemeinden erhebliche Macht im Bildungsbereich zuspricht. Diese finanzieren größtenteils die Kindergärten und die Primarschulen und mit einem kleineren Anteil auch die Schulen der Sekundarstufe I sowie der Berufsbildung. Das sehr heterogene Bildungssystem wird regional gelenkt. Die einflussreichen kantonalen Departments der französischsprachigen Romandie sind mit professionellen Bildungsexperten ausgestattet, während die deutschsprachigen Kantone Laien-Administratoren auf Gemeinde- und Bezirksebene besitzen (Hega 2000: 2). Zudem weisen französisch- und italienischsprachige Kantone eine Konzentration der Entscheidungsmacht auf höheren Autoritätsebenen auf, während deutschsprachige Kantone ein dezentralisiertes Modell und eine höhere Autonomie lokaler Lehrpersonen und Schulen besitzen (ebenda: 19).
Die organisatorische Struktur der Sekundarbildung Die PISA-Studie betrifft in der Schweiz vor allem die Ebene der Sekundarstufe I, da sie die Kompetenzen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit analysiert. Die Sekundarstufe I beginnt nach der Primarschule und bildet den zweiten und letzten Teil der verpflichtenden Schulzeit bis Stufe neun. Je nach Dauer der Primarschule – diese variiert von Kanton zu Kanton zwischen vier und sechs
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Jahren – umfasst sie drei bis fünf Jahre. Auf Sekundarstufe I existieren Schultypen mit unterschiedlichen Anforderungen (EDK/SBF 2007). Dabei gilt das Prinzip der Modellvielfalt: Ein Kanton kann seinen Gemeinden die Modellwahl überlassen oder flächendeckend ein Modell seiner Wahl einführen. Im geteilten Modell werden Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrem Leistungsniveau in drei institutionell getrennten Schultypen nach dem Prinzip leistungshomogener Klassen unterrichtet. Der Schultyp mit höherem Anforderungsniveau bereitet auf den Übergang zu den gymnasialen Maturitätsschulen vor. Das kooperative Modell basiert auf zwei Arten von Stammklassen mit unterschiedlichen Anforderungen. Die Zuteilung der Schülerinnen und Schüler zu einer Stammklasse erfolgt abhängig von ihrem Leistungsniveau. Bestimmte Kernfächer werden in Niveaugruppen angeboten, die sich in ihren Ansprüchen unterscheiden. Die Schülerinnen und Schüler können in diesen Fächern verschiedenen Gruppen angehören. Im integrierten Modell existiert keine Differenzierung nach Schultypen. Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungen besuchen leistungsheterogen zusammengesetzte Klassen. In bestimmten Fächern ist der Unterricht nach Anforderungen differenziert. Die Schulmodelle sind regional differenziert. Während in der deutschsprachigen Schweiz, die die Mehrheit der Schweizer Kantone umfasst, das gegliederte Schulsystem vorherrscht, besitzt die Romandie zumeist das integrierte Modell (EDK 2006). Obwohl somit das geteilte Modell in den meisten Kantonen dominiert, wurden das integrierte und das kooperative Modell vermehrt eingesetzt und auf diese Weise die Durchlässigkeit in der Sekundarstufe I gefördert. Dies geschah beispielsweise in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Bern, Nidwalden, Obwalden, Thurgau und Zürich (SKBF 2010).
Wie schneidet die Schweiz bei PISA ab? Bei der ersten PISA-Studie 2000 zählten die Schweizer Schülerinnen und Schüler in Mathematik weltweit zu den besten (Tabelle 4.1). Die Resultate in Naturwissenschaften und Lesen lagen jedoch im Mittelfeld. Diese Befunde stimmen mit denen anderer Studien, wie der der Reading Literacy Study 1993, dem International Adult Literacy Survey 1996 und der Third International Mathematics and Science Study 1997 überein. Dennoch zeigten die
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Ergebnisse besonders im Schwerpunktbereich Lesekompetenz erhebliche Defizite auf. 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler schnitten sehr schlecht ab: Sie erreichten maximal die Kompetenzstufe 1. Besonders beunruhigend war das starke Leistungsgefälle nach sozio-ökonomischem Hintergrund, also nach Bildungsnähe des Elternhauses und Berufsstatus der Eltern. Den Schulen in der Schweiz gelang es also verhältnismäßig schlecht, ungleiche Lernvoraussetzungen auszugleichen. PISA offenbarte, dass einige Jugendliche nicht auf den Eintritt ins Berufsleben vorbereitet waren und bezüglich schulischer und beruflicher Integration eine Risikogruppe bildeten. Dies betraf insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartment 2008). Es wurden dreimal mehr Jugendliche getestet als von der OECD hinsichtlich der nationalen Repräsentativität verlangt, um auch die Regionen und Kantone vergleichen zu können (BFS/EDK 2002: 11). Insgesamt schnitten die Jugendlichen der Romandie in allen drei Bereichen am besten ab, gefolgt von den deutsch- und italienischschweizerischen Schülerinnen und Schülern, wobei nur der Unterschied zwischen den Leistungen in der französischen und der italienischen Schweiz statistisch signifikant war; die Leistungsstreuung war in der Deutschschweiz am höchsten. Bei PISA 2003 lagen die Ergebnisse in allen drei Kompetenzbereichen über dem OECD-Durchschnitt. Die Schweizer Schülerinnen und Schüler schnitten in Mathematik besser ab als in Lesekompetenz und Naturwissenschaften – aus der Gruppe der OECD-34-Staaten hatten hier nur Finnland und Korea Ergebnisse, die statistisch signifikant besser waren. Der Anteil der Schweizer Jugendlichen mit sehr guten mathematischen Ergebnissen war größer, der mit sehr geringen Leistungen kleiner als der OECDDurchschnitt. Der Einfluss des sozio-ökonomischen Hintergrunds lag im internationalen Durchschnitt. Dennoch zeigte sich auch die immer noch heikle Lage der Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Verhältnissen: Unter ihnen war der größte Anteil an Jugendlichen mit schwachen Mathematikleistungen. In Mathematik stellte der sozio-ökonomische Hintergrund jedoch ein kleineres Hindernis dar als im Bereich Lesen, in dem 16 Prozent der Jugendlichen unterhalb der Kompetenzstufe 2 lagen. Die Befunde zeigten, dass immer noch eine relativ große Streuung zwischen den Besten und den Schwächsten vorlag. Die Schülerinnen und Schüler der drei Sprachregionen unterschieden sich nicht in ihren mathematischen Leistungen.
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Bei PISA 2006 schnitt die Schweiz in allen drei Bereichen besser ab als der OECD-Durchschnitt. Der sozio-ökonomische Hintergrund hatte einen im internationalen Vergleich durchschnittlichen Effekt auf die Leistungen. Als deutlicher Trend zeigte sich das regionale Leistungsgefälle zwischen deutscher und lateinischer Schweiz. Die Deutschschweiz schnitt in Naturwissenschaften und Mathematik besser ab als die Romandie; im Bereich Lesekompetenz waren diese Unterschiede weniger stark ausgeprägt. Tabelle 4.1: Abschneiden der Schweiz in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
494
(17.)
499
(11.)
499 *
(12.)
Mathematische Kompetenz
529 *
(7.)
527 *
(7.)
530 *
(4.)
Naturwissensch. Kompetenz
496
(15.)
513 *
(9.)
512 *
(13.)
Mittelwert der drei Bereiche
506
(13.)
513
(9.)
514
(9.)
Lesekompetenz
PISA 2006
3
Rangposition im OECD-34-Vergleich in Klammern; Kompetenzwerte, die statistisch signifikant über dem OECD-Schnitt liegen, sind mit * versehen Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007; OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
In allen drei PISA-Runden lag der Durchschnittswert in Mathematik statistisch signifikant über dem OECD-Durchschnitt. 2003 wies die Schweiz zusätzlich zur Mathematik auch in Naturwissenschaften statistisch signifikant höhere Werte als der OECD-Mittelwert auf. Die Ergebnisse von 2006 zeigen erstmals überdurchschnittliche Ergebnisse in allen Kompetenzbereichen. Dies lag sowohl an der gegenüber 2003 verbesserten Leistung der Schweizer Jugendlichen als auch am leichten Rückgang der OECD-Durchschnittswerte. Gravierend ist jedoch, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sehr schlechten Leistungen im Lesen zwischen 2003 und 2006 mit gleich bleibenden 16 Prozent nicht gesenkt wurde. Besonders schlecht schnitten Jugendliche aus bildungsfernen Familien und mit mangelnden Kenntnissen der Unterrichtssprache bezüglich der Lesekompetenz ab. In der multikulturellen Schweiz mit einem Ausländeranteil von rund 20 Prozent ist dies
—————— 3 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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besonders alarmierend (BFS/EDK 2002). Zudem spielte das Geschlecht eine Rolle: Mädchen schnitten besser im Kompetenzbereich Lesen ab, Jungen in Mathematik. Auch institutionelle und strukturelle Eigenschaften des Schulsystems sind von Bedeutung. PISA räumte mit bildungspolitischen Mythen auf. Im Gegensatz zur integrierenden Gesamtschule war die dreigliedrige Schule mit früher, leistungsabhängiger Selektion weniger in der Lage, Leistungsunterschiede auszugleichen – eine Herausforderung angesichts des Postulats der Chancengleichheit für alle gesellschaftlichen Schichten. Im Jahr 2005 wurde in der Schweiz erstmals ein Vergleich von zwölf Kantonen als zweiter nationaler Bericht zu den Ergebnissen von PISA 2003 publiziert (Zahner Rossier 2005). Diese Premiere eines interkantonalen Leistungsvergleichs im föderalen Bildungssystem Schweiz ermöglichte den Kantonen, ihre Transparenz zu erhöhen und voneinander zu lernen. Die resultierende Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Kantonen soll für die Qualitätsentwicklung des Systems genutzt werden. Damit stieg die Schweiz in einen Prozess interkantonalen Benchmarkings ein, der durch die OECD angestoßen wurde und durch die Schweizer Bildungspolitik weitergeführt wird (Stöckling 2005).
Reaktionen der Schweizer Presse auf die PISA-Ergebnisse Die Testleistungen der Schweizer Schülerinnen und Schüler lagen in den drei PISA-Studien meist über dem OECD-Durchschnitt und waren angesichts ähnlicher Ergebnisse der IEA-Studien nicht völlig überraschend. Dennoch rief PISA im Lande Pestalozzis einen Schock in der Öffentlichkeit hervor und führte zu einer hohen Aufmerksamkeit der Presse (siehe Abbildung 1.2 bei de Olano et al. in diesem Band). Dies lag an der Tatsache, dass die PISA-Resultate wesentlich schlechter ausfielen als erwartet. Insbesondere der hohe Anteil von Schülerinnen und Schülern mit unzureichender Lesekompetenz erschütterte das Zuwanderungsland. Die Befunde machten dem Mythos vom »Bildungsland Schweiz« ein Ende und lösten heftige öffentliche und wissenschaftliche Debatten über die Zukunft des Bildungssystems aus.
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PISA 2000 – Der Schock Der starke Einfluss des sozio-ökonomischen Hintergrunds auf die Schulleistungen in der Schweiz war einer der Gründe für das hohe Interesse der Schweizer Presse an PISA 2000 (Stöckling 2005). Eine derartige Aufmerksamkeit für Bildung war bisher nicht üblich gewesen (Interview CH-02). Das Schweizer Abschneiden war unerwarteter Weise »nur Mittelmaß« (Berner Zeitung 2001). PISA bestätige die Ergebnisse anderer vergleichender Bildungsstudien, jedoch »gerade der wiederholte und verstärkte Hinweis auf die Lücken macht die Befunde brisant« (Bertschi-Kaufmann 2002). Die Ergebnisse beunruhigten insbesondere angesichts eines Immigrantenanteils von rund 20 Prozent – der hohe Anteil Jugendlicher mit sehr schlechten Lesekompetenzen sei »kein Ergebnis des Schulsystems, sondern des hohen Ausländeranteils«, denn die Schweiz sei im Bildungsbereich ein »internationaler Sonderfall, der aber nicht alles entschuldigen darf« (Hagenbüchle 2002a). Die Kluft zwischen »einheimischen« Schülerinnen und Schülern und Migrantenkindern böte »großen politischen Zündstoff« (Hammel 2001). Das Schweizer Schulsystem sei nur unzureichend in der Lage, den Effekt des sozio-ökonomischen Hintergrunds auf die Schulleistungen abzumildern – die Schule reproduziere die Chancenungleichheit geradezu (Güntner 2001). Die Volksschule habe sich auf das Ziel der Leistungserbringung konzentriert und dabei ihren Auftrag der Förderung von Chancengleichheit und Integration verfehlt. Dies solle durch frühere Sprachförderung und Einschulung sowie spätere Selektion verbessert werden (Der Bund 2001). Einige Autoren argumentieren in diesem Kontext, dass es noch zu früh sei, politische Entscheidungen zu treffen, man müsse erst nach Gründen für das durchschnittliche Abschneiden suchen (Bertschi-Kaufmann 2002). Zudem sollten noch die Resultate der fünf Vertiefungsstudien sowie sprachregionaler und kantonaler Auswertungen abgewartet werden. Man rät von »voreiligen Reformschlüssen über gute und schlechte Systeme« ab und stellt fest, dass ein Übertragen fremder Schulformen nicht möglich sei. Auch wird berichtet, dass die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz davor warnt, »voreilig die Rosinen der PISA-Ergebnisse zu pflücken, um eigene Schulreformen argumentativ zu alimentieren« (Hagenbüchle 2002b). Im Gegensatz dazu wird vorgeschlagen, die »Erfolgsvariablen« der PISA-Siegerländer nachzuahmen, denn diese hätten größere politische Reformen in Richtung höherer Schulautonomie, verstärkter Evaluations-
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maßnahmen und der Einführung von Bildungsstandards durchgeführt (Hagenbüchle 2003). Generell beobachtet die Schweiz dabei insbesondere Deutschland – als negatives Vergleichsbeispiel – sowie solche PISA-Musterländer, die der Schweiz in wichtigen Kontextvariablen wie Ausländeranteil (Australien, Neuseeland), Mehrsprachigkeit (Kanada) oder föderaler Struktur (Australien, Kanada) ähnelten und somit vergleichbarer seien (Hammel 2001). Die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz »fühlt sich auch nach den Resultaten in ihren strategischen Leitlinien bestätigt« (Hagenbüchle 2002b). Andere Autoren halten eine frühere Einschulung für unnötig, da »Finnland auch erst spät einschule« (Geissbühler-Strupler 2004). Stattdessen wird gefordert, den »Kindergarten wieder als Bildungsinstitution« zu begreifen (Güntner 2001). Die Autoren verwenden die Ergebnisse der Studie für die Rechtfertigung jedweder Position. Dabei werden die PISA-Ergebnisse als Belege für die Notwendigkeit bestimmter Reformmaßnahmen interpretiert, wie zum Beispiel der frühen Förderung der Unterrichtssprache, der Institutionalisierung des Qualitätsmanagements und der Harmonisierung der Lehrpläne. Auch werden Plädoyers für bessere – vor allem sprachliche – Integration fremdsprachiger Jugendlicher, die Einführung eines Bildungsmonitorings, flexible und frühere Einschulung, die Einführung geleiteter Schulen und von Tagesstrukturen sowie für höhere Schulautonomie gehalten (Ogg 2003). Erstaunlicherweise wird äußerst selten, und nur von Pädagogen, die Verbesserung der Betreuungsverhältnisse gefordert. Im Verlauf der folgenden beiden PISA-Runden nahm die anfänglich starke Medienresonanz allmählich ab. Die Ergebnisse wurden im Laufe der Zeit »immer ruhiger aufgenommen, da man auch mehr über PISA weiß und die Grenzen seiner Aussagekraft besser einschätzen kann« (Interview CH-02). Die politischen Forderungen blieben indes ähnlich gelagert.
PISA 2003 – Leichte Entspannung In der Schweizer Presse gaben das sehr gute Abschneiden in Mathematik und das gute Abschneiden in Naturwissenschaften bei PISA 2003 Anlass zur Freude. Allerdings zeigten die Leseergebnisse, die im Mittelfeld der Teilnehmerländer lagen, immer noch den hohen Einfluss des Elternhauses, was den Druck zu Integrationsbemühungen erhöhe (NZZ 2004). Aller-
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dings dürfe die Schule nicht zum »Problemlöser gesellschaftlicher Defizite« werden: Hier stoße die Schule an ihre Grenzen und sei auf migrations- und integrationspolitische Schritte angewiesen (ebenda). Explizit wird auf die Leitideen des Schweizer Bildungssystems Bezug genommen: das »Prinzip der ganzheitlichen Bildung auf christlich-humanistischer Basis«, das erhalten bleiben solle, sowie die Unentgeltlichkeit der Volksschule zur Sicherung von Chancengleichheit (NZZ 2005). Betont wurde, dass das Schweizer Reformprojekt »HarmoS« zur Harmonisierung der obligatorischen Schule und die damit einhergehende Änderung kantonaler Volksschulgesetze zügig vorangetrieben werden solle, da das im Vergleich zu 2000 bessere Abschneiden der Schweiz an der jetzt greifenden Auswirkung früherer Reformen aus den 1990er Jahren läge (NZZ 2004). In der Debatte zeigte sich somit, dass PISA in der Schweizer Bildungspolitik bereits einige Wandlungsprozesse angestoßen hatte. Generell wurde die Studie positiv wahrgenommen, auch wenn vereinzelt beklagt wird, dass sie angelsächsische und skandinavische Testmethoden verwende, so dass die Schweiz zum »Opfer eines Kulturimperialismus« würde (Moser 2005).
PISA 2006 – Beginnende Skepsis Bei PISA 2006 lag die Schweiz erstmals in allen Kompetenzbereichen oberhalb des OECD-Durchschnitts. Die noch bestehenden Defizite in Lese- und Schreibfähigkeit wurden als relevantes soziales Problem betrachtet, da funktionalen Analphabeten gesellschaftliche Ausgrenzung drohe und ihre Integration in den Arbeitsmarkt erschwert sei. Nach Veröffentlichung von PISA 2006 schlug die Presse abermals Bildungsmaßnahmen vor – wie im Reformprojekt HarmoS realisiert – indem sie sich auf das Vorbild des »PISA-Champions« Finnland bezogen (SGB 2007). Wie in den PISA-Studien zuvor warnte die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz dabei vor voreiligen Schlüssen (NZZ 2007a). Das Schweizer Abschneiden wurde mit dem vergleichsweise hohen Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund, den die Schulen integrieren müssten, gerechtfertigt (NZZ 2007b). PISA wurde allerdings auch zunehmend kritisch betrachtet: »Es scheint chic, vielleicht gar staatstragend zu sein, PISA-Zensuren im Portefeuille zu haben, auch wenn das die öffentliche Hand Millionen kostet.« (NZZ 2007a) Vermehrt wurde der Sinn des »fragwürdigen Rankings« bezweifelt,
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da die Testergebnisse nicht über die Jahre hinweg vergleichbar seien und ihre Aussagekraft nur begrenzt sei (Hagenbüchle 2007).
PISA macht Politik Im Hinblick auf Internationalisierungsprozesse nimmt die Schweiz aufgrund ihrer innenpolitischen Voraussetzungen eine Sonderstellung ein. Ihre politischen Institutionen sind wenig reformförderlich (Bonoli/Mach 2000): die föderale Organisation des Staates, die unmittelbare Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungen und das Prinzip der konsensualen Meinungsbildung unter Einbeziehung einer Vielzahl von Akteuren (Konkordanzdemokratie) verlängern daher nicht nur Entscheidungsprozesse und involvieren zahlreiche Vetospieler, sondern behindern auch die Koordination mit internationalen Organisationen. Diese politischen Rahmenbedingungen schlugen sich auch im Schweizer Bildungswesen nieder – eine tendenziell strukturkonservative Bildungspolitik ließ Nachholbedarf im Vergleich zu internationalen Entwicklungen entstehen (Criblez 2008b: 296). In der Schweiz existierte bereits seit den 1970er Jahren ein hoher Druck, die kantonalen Schulsysteme zu harmonisieren. Grund hierfür waren unter anderem Mobilitätsprobleme sowie Inkompatibilität und Unvergleichbarkeit kantonaler Schulstrukturen (Maradan/Mangold 2005: 3). Diese Reformbemühungen wurden jedoch durch Vetospieler wie Kantone und die Schweizerische Volkpartei (SVP) verhindert. Der nationale Reformdruck im Bereich der obligatorischen Schule war somit erheblich und erhöhte die Dynamik im schweizerischen Bildungssystem, die von der Regierung, dem Bundesrat, aufgegriffen wurde. Die meisten schweizerischen Bundesratsparteien zogen im Prinzip ähnliche Schlüsse aus den PISA-Resultaten, betonten jedoch unterschiedliche Aspekte: Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) setzte zur Verbesserung der Situation auf Früheinschulung und Förderung des Spracherwerbs der Schülerinnen und Schüler. Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) bemängelte, dass durch das derzeitige Schulsystem trotz international vergleichsweise hoher Bildungsausgaben unbefriedigende PISA-Ergebnisse zu verzeichnen waren. Ihre politischen Handlungsansätze lagen in der früheren Einschulung sowie Leistungsbewertung und in der freien Schulwahl. Die Sozialdemokratische Partei (SP) zielte insbesondere
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darauf ab, die Abhängigkeit der Schülerleistungen vom sozio-ökonomischen Hintergrund durch bessere Betreuungsstrukturen – kostenlose Tagesschulen für alle und Bildungspläne für Kindertagesstätten – und Frühförderung zu vermindern und damit die Chancengleichheit zu erhöhen. Im Gegensatz zu den übrigen Parteien bezweifelte die SVP die Glaubwürdigkeit der PISA-Resultate und stellte sich gegen die normalerweise im Kontext von PISA geforderten Reformansätze wie Früheinschulung und Tagesstrukturen in den Bildungseinrichtungen. Sie klagte zudem über ein »zu überladenes Bildungsangebot« und sprach sich vehement gegen die »Abschaffung des Kindergartens« durch die Einführung einer obligatorischen Grundstufe aus (Hagenbüchle 2004). Trotz dieser unterschiedlichen Einstellungen kam es durch die charakteristisch schweizerische Konsensorientierung und Kompromissbereitschaft doch zu einem gemeinsamen Reformvorhaben: dem Schulkonkordat HarmoS.
Das Schweizer Reformprojekt »HarmoS« Zur Harmonisierung der 26 kantonalen Bildungssysteme legte die revidierte Schweizer Verfassung den Grundstein: die Überarbeitung der Verfassungsartikel im Bildungsbereich brachte zentrale Reformen der Schweizer Sekundärbildung mit sich. Im Jahr 2006 stimmte – nach den Kantonen im Ständerat – die Bevölkerung mit großer Mehrheit von 86 Prozent den neuen Artikeln zu (Aprentas 2006). Das Ziel der Entwicklung eines nationalen Bildungsraums Schweiz wurde damit explizit in der Verfassung verankert (Art. 61a). Bund und Kantone erhielten die gemeinsame Verantwortung für die Sicherung einer hohen Qualität und Durchlässigkeit. Dabei liegen die Zuständigkeiten im System für die obligatorische Schule noch immer bei den Kantonen. Diese müssen sich untereinander koordinieren, da sie zur einheitlichen Regelung struktureller Indikatoren verpflichtet sind. Zudem erhielt der Bund durch Artikel 62 eine subsidiäre Regelungskompetenz in angestammten Kompetenzbereichen der Kantone (Criblez 2008b: 288) und die Mittel zur Förderung der Harmonisierung: Wenn die Kantone auf dem Koordinationsweg keine Angleichung der Schulsysteme bezüglich der Schulpflicht, des Schuleintrittsalters, der Ziele und Dauer der Bildungsstufen und deren Übergänge erreichen, ist der Bund zum Erlass der erforderlichen Vorschriften berechtigt.
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Zur Realisierung der neuen Bildungsverfassung - und als indirekte Reaktion auf PISA – wurde im Jahr 2009 das bedeutendste Reformprojekt der letzten Jahrzehnte verabschiedet: das Schulkonkordat »HarmoS«. Es sollte die Harmonisierung der Volksschule vorantreiben und so die Qualität und Durchlässigkeit des Systems auf gesamtschweizerischer Ebene fördern sowie die innerschweizerische Mobilität erleichtern (EDK 2009). Mit der Schaffung eines einheitlichen Schulsystems geht HarmoS in seiner Zielsetzung weiter als das Schulkonkordat von 1970. Nachdem jegliche Koordinierungsversuche der 1990er Jahre fehlgeschlagen waren, war dieser neue rechtsverbindliche Staatsvertrag bereits seit 2001 der strategische Fokus der 26 kantonalen Bildungsdirektoren (EDK 2007a; Maradan/Mangold 2005: 3). Der Anlass dazu lag in Vorstößen im Nationalrat, angesichts der zunehmenden europäischen Mobilität die »Kleinstaaterei« im Bildungswesen aufzuheben und Bildung als Sache des Bundes zu verstehen (Interview CH-06). Dagegen konstruierte die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz das Reformprojekt HarmoS, um eine Bundeslösung zu verhindern. HarmoS ist dennoch indirekt auf PISA zurück zu führen, da die Studie den Reformdruck erhöht hat (ebenda). Der Beitritt zum EDK-Konkordat über die Harmonisierung der obligatorischen Schule geschah in den Kantonen durch das kantonale Parlament oder per Referendum durch das Stimmvolk.4 Als zehn Kantone das Konkordat ratifiziert hatten, trat es im Jahr 2009 in Kraft und ergänzte das bisher geltende Schulkonkordat von 1970. Die 14 bisher beigetretenen Kantone können bis 2015/2016 nötige gesetzliche und strukturelle Anpassungen vornehmen. Die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz schuf mit HarmoS die Basis für eine weit reichende Vereinheitlichung struktureller Eckwerte, wie des Schuleintrittsalters, der Dauer und Ziele der Schulstufen sowie der Schulpflicht. Die Dauer der Volksschule wurde von neun auf elf Jahre erhöht, um frühes Lernen zu fördern: acht Jahre für die Primarschule einschließlich je nach Kanton Kindergarten oder Basisstufe im Alter von vier Jahren, und drei Jahre für die Sekundarstufe I. Der Kindergarten beziehungsweise die Eingangsstufe wird somit ab dem vierten Lebensjahr obligatorisch. Der Übergang zur Sekundarstufe II ist für das Gymnasium nach dem zehnten Schuljahr geplant, für die Berufsbildung nach dem elften.
—————— 4 Der formale Beitritt zu HarmoS sagt jedoch nicht viel über die tatsächliche Vereinheitlichung der Schulsysteme aus. Manche Kantone, die HarmoS ablehnen, erfüllen bereits viele seiner zentralen Forderungen.
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Diese Harmonisierung von Schulstrukturen erhöht die Dauer, die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund zusammen an der Schule verbringen und fördert die Integration bereits in einem früheren Alter. Zudem berücksichtigt diese Reformmaßnahme die Erkenntnis aus PISA, dass die meisten erfolgreichen Schulsysteme frühe Einschulung beinhalten, die die Integrationsfähigkeit des Systems fördert (EDK 2007b). Inhaltlich verpflichtet HarmoS die Kantone auf die Einhaltung nationaler Bildungsstandards und definiert das Verfahren für deren Festlegung (Zahner Rossier 2005). Dies soll die Diversität der kantonalen Schulsysteme reduzieren, die Ziele der einzelnen Bildungsphasen harmonisieren und die Qualität sichern. HarmoS führt Standards für fünf Kernbereiche der Grundbildung ein, nämlich für Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften, Musik und Kunst, sowie Sport und Gesundheit. Um Kompetenzlevel für diese Fächer zu entwickeln, werden internationale Aktivitäten herangezogen, die im Kontext von PISA produziert wurden (EDK 2004a). Die Standards werden nach dem zweiten, sechsten und neunten Schuljahr alter Zählung überprüft. Statt auf kantonaler Ebene werden Lehrpläne und Lehrmaterial von nun an auf sprachregionaler Ebene entwickelt. Die Einführung nationaler Bildungsstandards bedeutet für die Schweiz den Einstieg in eine bisher fremde Testkultur im Sinne von PISA: Bildungsstandards haben eine stärkere Berücksichtigung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zur Folge. Dies impliziert einen Paradigmenwechsel von einer Inputorientierung hin zu einer Steuerungslogik, die sich an Effizienz orientiert und auf die Kontrolle des Bildungsoutputs des Systems abzielt (Eckert 2009: 272–273; SKBF 2010: 55). Im Unterschied zu vielen anderen Ländern wurden in der Schweiz die Leistungen und das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler bisher nicht regelmäßig analysiert. Im Rahmen von HarmoS wurde der erste Versuch einer nationalen Evaluation unternommen: Es involviert wissenschaftliche Bildungsstatistiken und Bildungsmonitoring als politisches Steuerungsinstrument (EDK 2009). Als Pilotprojekt stellte der »Bildungsbericht Schweiz 2006« Daten zu allen Bildungsebenen der Schweiz bereit (SKBF 2006). Der erste reguläre Bericht des Bildungsmonitorings wurde 2010 gemeinsam von Bund und Kantonen veröffentlicht. Er überprüft die Erreichung der Bildungsstandards und beurteilt die Leistung des Bildungssystems bezüglich der Kriterien Effektivität, Effizienz und Gleichheit. Die Setzung von Bildungsstandards und die Einführung von Bildungssta-
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tistiken entsprechen den Schlussfolgerungen der OECD (2009) aus den PISA-Befunden.
PISA als Impulsgeber für anstehende Reformen Bereits vor der PISA-Ära hatte es Bemühungen gegeben, die kantonalen Schulsysteme zu vereinheitlichen (Interview CH-06). Insofern waren die Ziele von HarmoS nicht vollkommen neu. Auch motivierte die Kantone die Furcht vor föderaler Intervention in die kantonale Bildungssphäre im Sinne eines »Damoklesschwerts« (Interview CH-15), das interkantonale Konkordat HarmoS zur Harmonisierung kantonaler Schulstrukturen und zur Qualitätssicherung zu akzeptieren. Aber erst die Anstöße auf internationaler Ebene durch die PISA-Studien der Expertenorganisation OECD bewirkten die Konkretisierung von Reformbemühungen. PISA spielte eine impulsgebende Rolle bei der Einführung der Bildungsreform HarmoS in der Schweiz: Die internationalen Schulleistungsvergleiche im Sekundarbereich verdeutlichten den bildungspolitischen Handlungsbedarf und boten somit nationalen Reformprotagonisten auf der Suche nach bildungspolitischen Lösungen eine Quelle der wissenschaftlichen Legitimation ihrer Reformen (vergleiche Münch 2009). Die Schweizer Reformer nutzten PISA als window of opportunity, um vor dem Hintergrund des hohen Problemdrucks notwendige Korrekturen im Bildungssystem vorzunehmen und ihre Reformziele zu rechtfertigen (Bieber 2010) – beispielsweise eine frühere Einschulung (Interview CH-10) – indem sie auf internationale, durch PISA belegte Erfordernisse verwiesen (Buschor/Gilomen/McCluskey 2003). Die OECD war zur Legitimation besonders geeignet, da sie – neben ihrer wirtschaftlichen Kompetenz – seit der Durchführung der PISA-Studien auch im Bildungsbereich eine hohe Reputation erlangt hatte (Martens/Wolf 2006; Moser 2005). Für ihr Expertenwissen ist sie heute global anerkannt und wird auch in der Bildungsforschung als internationale Autorität betrachtet (Osterwalder/Weber 2004: 24). Somit eröffnete PISA der Schweiz nach einer Phase des Reformstaus eine Chance für Reformen und verstärkte deren Dynamik (Criblez 2008a). Beispielsweise konnte sich die Schweiz im Kontext von HarmoS auf die PISA-Erkenntnis bezüglich der erheblichen sozialen Diskriminierung in der Schweiz berufen (Interview CH-07; SKBF 2010: 54). Auf diese Weise wurde eine frühere Einschulung forciert, um die gemeinsame Zeit
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des Lernens von Jugendlichen unterschiedlichen sozialen Hintergrunds zu erhöhen und somit die Integration zu fördern. Auch wurden mit Verweis auf die Empfehlung der OECD (2009) zur Einführung von Bildungsstandards schweizerische Mindeststandards für die verschiedenen Bildungsstufen erarbeitet, die den schwächsten Schülerinnen und Schülern zugute kommen sollten (EDK 2004b). Zudem verstärkte HarmoS aufgrund der von PISA offengelegten Mängel bei der Lesekompetenz die Sprachförderung (Aprentas 2006). Des Weiteren gab PISA die Möglichkeit zum internationalen Vergleich der Teilnehmerländer aufgrund von Rankinglisten (Interview CH-05): Die Studie stellt periodisch komparative Daten zu spezifischen Indikatoren wie Schulautonomie, Lehrerbildung und Schülerleistungen bereit. Zum ersten Mal ermöglichte dies wechselseitige Betrachtungen der Bildungsbedingungen und der Leistungen der Schulsysteme nach Indikatoren (Parreira Do Amaral 2006: 84). Die länderübergreifenden Vergleiche erzeugten einen Wettbewerbsdruck auf das Schweizer Bildungssystem, der Reformbemühungen den Weg ebnete. Der Wettbewerb orientierte sich dabei an Empfehlungen der OECD zur Optimierung der nationalen Schulsysteme (OECD 2004b; OECD 2004c; OECD 2009). Diese beinhalten diejenigen Faktoren, die die leistungsfähigsten Bildungssysteme kennzeichneten, wie zum Beispiel hohe Schulautonomie und die Existenz von Bildungsstandards. Somit richtete sich der Wettbewerb der Teilnehmerländer im Sinne eines race to the top an den höchsten Standards aus. Da das Schweizer Bildungssystem nicht so gut abschnitt wie erwartet, erhöhte sich der innerstaatliche Druck auf die politischen Kräfte, Reformen zu veranlassen (Interview CH-06). Eine besondere Dynamik ergab sich aus der damit verbundenen Erkenntnis, dass das wirtschaftliche Wachstum eines Landes in erheblichem Maße von der Entwicklung des Bildungsbereichs abhängt. Signifikant hierfür ist der hohe Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in der vergleichsweise hochindustrialisierten Schweiz (Interview CH-05). So verstärkte das PISA-Ranking den schulischen wie auch ökonomischen Wettbewerbsdruck in dem Land. Die Reformdynamik erhöhte sich ferner durch eine partielle Angleichung der Schweiz an die Leitideen der OECD: Während in der Vergangenheit Bildung eher unter dem Aspekt des Bürgerrechts gesehen wurde, wirkte zunehmend das von der OECD geprägte ökonomische Bildungsverständnis, das die Leistung eines Bildungssystems im Hinblick auf seinen Nutzen für die Volkswirtschaft betrachtet, auf die Reformvorhaben.
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Ausblick Die PISA-Studien von 2000, 2003 und 2006 haben der Schweiz zahlreiche Mängel ihres Bildungswesens aufgezeigt: ein hoher Einfluss der sozio-ökonomischen Herkunft von Jugendlichen auf ihre schulische Leistung, eine hohe Diskrepanz zwischen hervorragenden und ungenügenden Leistungen, die immer noch vorherrschende Abhängigkeit der Fähigkeiten in Mathematik und Lesekompetenz vom Geschlecht, sowie das Leistungsgefälle zwischen den Schweizer Sprachregionen. Diese Parameter werden als kritisch für den Einstieg der Jugendlichen ins Berufsleben sowie für das wirtschaftliche Wachstum des Landes gesehen. Dieser Beitrag hat gezeigt, dass PISA in der Schweiz hohe Aufmerksamkeit und Achtung erfuhr und eine enorme bildungspolitische Sprengkraft entwickelte. Die unerwartet mittelmäßigen PISA-Ergebnisse der Schweiz lösten heftige Reaktionen in der Presse aus, da das Bildungssystem zuvor aus der Binnenperspektive als bestes in Europa betrachtet worden war. Zudem wurde dargelegt, dass sich die Reformdynamik der schweizerischen Bildungspolitik erhöhte: Trotz der hohen Anzahl an Vetospielern – wurden politische Reformen angestoßen. Diese waren zwar bereits vor PISA lanciert und im Vorfeld schon breit diskutiert worden. Erst mit PISA hatte sich jedoch ein window of opportunity für nationale Akteure geöffnet, überfällige Reformen mit den wissenschaftlichen Studien einer international anerkannten Organisation zu legitimieren und somit dem hohen Problemdruck zu begegnen, der vor PISA aufgrund der reformhindernden politischen Institutionen vorgelegen hatte. Des Weiteren dynamisierte der zwischen den PISA-Teilnehmerländern entstandene Wettbewerb den Reformprozess des Schweizer Bildungswesens. Die Anpassung der ideellen Anschauungen der Schweiz an die der OECD beförderte die Auflösung des Reformstaus im Bildungswesen. In Folge wurden in der Schweizer Sekundärbildung im Rahmen des interkantonalen Schulkonkordats HarmoS umfassende strukturelle und inhaltliche Reformen durchgeführt. Diese weisen einen hohen Einfluss der PISA-Resultate auf, da sie den Fokus auf die Förderung sozialer Integration und Chancengleichheit legen. Die internationale Bildungsstudie hatte verdeutlicht, in welchen Bereichen aktueller Reformbedarf bestand (Konsortium PISA.ch 2010). Im Jahr 2009 beginnt der zweite Erhebungszyklus, der wiederum drei Erhebungen umfasst. Die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz
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beschloss 2006 die Teilnahme an PISA 2009, um »die Positionierung der Schweiz im internationalen Vergleich zu fördern« (EDK 2007b). Durch die wiederholte Durchführung der Studie lassen sich Trends verfolgen und die Effektivität bildungspolitischer Reformmaßnahmen feststellen (Weber 2007). Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass Bewegung in die Bildungspolitik der Schweiz gekommen ist. Nach der anfänglichen Schwerpunktsetzung bei den humanistischen Aspekten von Bildungsförderung hat das von der OECD initiierte, zunehmende internationale Wettbewerbsbewusstsein auch in der Schweiz die erhebliche ökonomische Bedeutung von Bildung für den Wohlstand des Landes in den Blickpunkt gerückt. Von daher ist auch in den kommenden Jahren mit einer erhöhten Dynamik in der eidgenössischen Bildungspolitik zu rechnen.
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Frankreich – Auf dem Weg zur Schulreform »à la finlandaise«
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Einleitung In diesem Kapitel werden die Entwicklungen im Sekundarschulwesen Frankreichs thematisiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den nationalen und internationalen Einflussfaktoren, die in den letzten 25 Jahren das französische Schulwesen geprägt haben. Die Analyse geht von der Annahme aus, dass nationale Schulsysteme zunehmend von ihrem internationalen Umfeld beeinflusst werden (siehe de Olano et al. in diesem Band). Dabei setzen internationale Organisationen, wie beispielsweise die OECD, unterschiedliche Steuerungsmechanismen ein, um nationale Reformen anzustoßen.1 Besonders bedeutsam sind in diesem Kontext vergleichende Statistiken zu Schülerleistungen wie die PISA-Studie, an der Frankreich seit der ersten Runde im Jahre 2000 teilnimmt. Wie die anderen Beiträge dieses Bandes zeigen, hat die PISA-Studie recht unterschiedliche Reaktionen und Reformmaßnahmen ausgelöst. Dies gilt sowohl für Länder mit überdurchschnittlich guten Ergebnissen, wie Neuseeland, als auch für Länder mit weniger zufriedenstellenden Resultaten, wie Deutschland. Die ersten zwei PISA-Runden belegten, dass sich die Ergebnisse französischer Schülerinnen und Schüler im Mittelfeld bewegen (siehe Tabelle 5.1). Besonders auffällig ist jedoch die markante Verschlechterung zwischen PISA 2003 und PISA 2006. Während die französischen Heranwachsenden im Jahre 2003 bei den Gesamtergebnissen der PISAStudie auf Platz 13 rangierten, so erreichten sie 2006 nur Platz 21 von im Vergleich der heutigen 34 OECD-Mitgliedsstaaten. Insbesondere im Bereich der Lesekompetenz haben sich die Ergebnisse des Landes zwischen PISA 2000 und PISA 2006 signifikant verschlechtert (siehe Teltemann in diesem Band). Frankreich fällt somit in die Gruppe der »PISA-Absteiger«.
—————— 1 Zum Konzept IO-Governance siehe Martens et al. 2010.
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Im Gegensatz zu Deutschland (siehe Niemann in diesem Band) kann in Frankreich jedoch nicht die Rede von einem »PISA-Schock« sein, was sich durch eine Reihe von Faktoren erklären lässt. Erstens ist PISA nur einer von vielen Leistungsvergleichen im Bildungsbereich, an denen französische Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Das französische Bildungsministerium und ihm untergeordnete Evaluationsbehörden führen Überprüfungen der Schülerleistungen durch, die – ähnlich wie PISA – die unterdurchschnittlichen Leistungen eines erheblichen Teils der französischen Schüler und Schülerinnen belegen (siehe Marseille/Sgherri 2007). Doch im französischen Fall kommen im Hinblick auf mögliche korrigierende Maßnahmen seitens der Regierung einige erschwerende Faktoren hinzu: Frankreich kann als Land gelten, das internationalen Leistungsvergleichen bisher wenig Aufmerksamkeit schenkte und seine schlechten Ergebnisse häufig mit Verweis auf die historische, kulturelle und soziale Sonderstellung Frankreichs (»particularisme français«) zu erklären versuchte. Frankreich kann so – im Gegensatz zu Deutschland – eine hohe Skepsis gegenüber internationalen Vergleichen attestiert werden. Doch wie in den anderen Beiträgen in diesem Band gezeigt wurde, ist nicht nur die öffentliche Rezeption und Wahrnehmung von PISA für eventuelle Reformmaßnahmen entscheidend, sondern auch die Transformationskapazität des Staates und des Bildungswesens. Mit anderen Worten: Inwieweit ist der Staat in der Lage, notwendige Reformen politisch umzusetzen und korrigierend in das Bildungssystem einzugreifen? Der innenpolitische Kontext kann die Richtung und Geschwindigkeit nationaler Reaktionen auf internationale Impulse erheblich beeinflussen. Entscheidend sind dabei nicht nur formelle Institutionen, wie zum Beispiel legislative Verfahren, sondern auch informelle Institutionen, wie historisch verankerte bildungspolitische Leitideen und Ideologien. Deshalb richtet sich der Fokus der Analyse nicht nur auf die PISA-Ergebnisse, sondern auch darauf, wie sie in Frankreich institutionell »verdaut« wurden. Im Folgenden werden die Geschichte des französischen Bildungswesens und das französische politische System kurz umrissen. Dabei gilt es, die Akteurskonstellationen und strukturellen Aspekte der französischen Bildungspolitik, aber auch die historisch verwurzelten Bildungstraditionen und Leitideen darzustellen. Anschließend werden die bildungspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre beschrieben, zuerst ohne Bezug zum transnationalen Kontext und danach im Hinblick auf die Reaktionen Frankreichs auf die PISA-Studie. Vor dem unten geschilderten institutio-
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nellen und politischen Hintergrund – hohe Handlungskapazität des Staates, hoher Mobilisierungsgrad der Reformgegner, Skepsis gegenüber internationalen Vergleichen – ist im französischen Fall eine eher verhaltene Reaktion auf die PISA-Ergebnisse zu erwarten. Diese Annahme wird anhand der gegenwärtigen bildungspolitischen Reformen der Sarkozy-Regierung überprüft, welche als Reaktion auf Internationalisierungsprozesse und die Angst um die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs verstanden werden. Zum Schluss wird wieder auf den politikwissenschaftlichen Erklärungsrahmen Bezug genommen, der in der Einleitung zu diesem Band vorgestellt wurde, um das Zwischenspiel zwischen nationalen und internationalen Faktoren am Beispiel Frankreich aufzuzeigen.
»Status Quo Ante PISA« – Das Bildungswesen Frankreichs Das moderne französische Schulsystem hat seine Wurzeln im späten 19. Jahrhundert. Jules Ferry, der damalige Bildungsminister, gründete die so genannte école républicaine und verpflichtete alle Schülerinnen und Schüler bis zum 15. Lebensjahr zum Schulbesuch (Corbett 1996: 7). Mit den von ihm im Zeitraum zwischen 1879 und 1886 initiierten Bildungsreformen wurde die Schulbildung säkular, kostenlos und verpflichtend. Die neue Regelung ersetzte die Lois Falloux von 1850/1851, die eine zentrale Rolle der Kirche in der Verwaltung des Schulsystems vorsahen – die Kirche wurde endgültig aus dem Schulsystem verdrängt. Die gegründeten écoles primaires sollten der Vermittlung von Werten, wie Demokratie und Aufklärung, genauso wie der Vermittlung von Fertigkeiten dienen. Im späten 19. Jahrhundert entstanden ebenso die ersten Sekundarschulen und damit eine neue bildungspolitische Institution: die napoleonischen lycées, die einen eher elitären Charakter besaßen. Diese lycées, die zuerst in Paris eingerichtet wurden, sollten Schüler auf die Hochschulbildung vorbereiten und eine Elite für den öffentlichen Dienst ausbilden (Hörner/Many 2010). Heutzutage beginnt die überwiegende Mehrheit der französischen Kinder ihre Schullaufbahn in der école maternelle, einer Art Kindergarten. Seit den 1970ern wird der Elementarbereich vom Staat erheblich ausgebaut. Die Grundschule (école primaire) wird von Schülerinnen und Schülern im Alter von sechs bis elf Jahren besucht (BMBF 2003: 60). Was die Struktur des Schulwesens anbelangt, bestehen einige bemerkenswerte Unterschiede
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zum deutschen System: Das Schulwesen Frankreichs weist eine horizontale Gliederung auf und der Sekundarbereich ist in zwei Phasen unterteilt (Hörner/Many 2010: 239). Im Anschluss an die fünfjährige Grundschule besuchen alle Schülerinnen und Schüler vier Jahre lang (bis zum 15. Lebensjahr) das collège, eine Art Gesamtschule. Etwa 95 Prozent eines jeden Jahrgangs schließen das collège im Rahmen einer landesweit einheitlichen Prüfung (brevet) ab. Im zweiten Abschnitt der Sekundarstufe besucht die Mehrheit der französischen Schülerinnen und Schüler das lycée, während ein kleiner Anteil in dieser Phase eine Lehre beginnt (apprentissage), sofern sie einen betrieblichen Ausbildungsvertrag bekommen.2 Dabei wird zwischen allgemeinbildenden und technischen sowie berufsbildenden Schulen unterschieden.3 Am lycée d’enseignement professionel ist es nach zwei Jahren möglich, ein berufsbildendes Zertifikat (CAP), ein berufsbildendes Diplom (BEP) oder nach vier Jahren ein berufliches Abitur zu erwerben (Hörner/Many 2010: 253–254).4 Das letzte Schuljahr dient als Vorbereitung auf das baccalauréat, eine nationale zentrale Abschlussprüfung, die Absolventen zum Besuch einer Universität oder grande école (Elitehochschule) berechtigt. Im starken Gegensatz zu den deutschen und amerikanischen Bildungssystemen werden alle Bildungsinhalte vom nationalen Bildungsministerium (Ministère de l’Éducation Nationale – MEN) bestimmt. Zudem wird das französische Schulsystem zu über 90 Prozent von der öffentlichen Hand betrieben und alle Lehrerinnen und Lehrer der Grund- und Sekundarschulen sind Bedienteste des Zentralstaates. Damit ist das Bildungsministerium der größte Arbeitgeber im ganzen Lande (MEN 2010a). Auffällig im französischen Fall sind außerdem die stark vereinheitlichten Lehrinhalte. Obwohl zunehmend die Möglichkeit gewährt wird, zwischen unterschiedlichen spezialisierten Wahlfächern zu wählen, gilt für alle französischen Schülerinnen und Schüler dasselbe Schulcurriculum, welches im Bulletin officiel de l'Éducation nationale festgelegt ist. Die starke staatliche Steuerung des Schulwesens kommt auch bei der Wahl der Schulen zum Tragen. Kinder mussten bis vor kurzem (siehe unten) die
—————— 2 Der Schulbesuch ist bis zum 16. Geburtstag verpflichtend. Ein Großteil der Schüler und Schülerinnen beendet das collège mit 15 und besucht das lycée mindestens noch ein Jahr. 3 Die lycées d’enseignement général et technologiques sind allgemeinbildend und technisch; lycées d’enseignement professionnel sind berufsbildend. Heutzutage werden beide Bildungsgänge oftmals in einem so genannten Lycée polyvalent angeboten. 4 Schülerinnen und Schüler, die sonderpädagogische Förderung benötigen, werden in den meisten Fällen in speziellen Klassen an den Primär- und Sekundarschulen betreut.
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Schule besuchen, die ihnen auf der Grundlage der carte scolaire, einer Art Landkarte mit Schulbezirken, vom Staat zugewiesen wurde.
Steuerungsstrategien und Leitideen im Schulwesen Frankreich kann als semi-präsidentielle Demokratie bezeichnet werden (Ismayr 1997: 15). Ähnlich wie präsidentielle Systeme haben semi-präsidentielle Systeme einen direkt gewählten Präsidenten, der eine wichtige Rolle bei der Regierungsbildung einnimmt. Doch im Gegensatz zum reinen Präsidentialismus darf auch das Parlament über die Regierung mitentscheiden und – im Gegensatz zum US-amerikanischen Gesetzgebungsprozess – beeinflusst die Regierung das Tagesgeschäft des Parlamentes stark (Abromeit/Stoiber 2006: 103). An der Spitze der Exekutive stehen zwei Personen, der Präsident und der Regierungschef (Kempf 1997: 283– 286; Abromeit/Stoiber 2006: 103). Im französischen System kann es durchaus vorkommen, dass der Staatspräsident (Président de la République) und der Regierungschef (premier ministre) entgegen gesetzten politischen Lagern angehören und dass dem Präsidenten damit keine eigene Mehrheit im Parlament (Assemblée nationale) zur Verfügung steht (siehe Abromeit/ Stoiber 2006: 104; Ismayr 1997: 15). In solchen Fällen, die im französischen Sprachgebrauch als cohabitation5 bezeichnet werden, ist nicht nur von einem besonders schwierigen Konsensfindungsprozess, sondern auch von häufigen präsidentiellen Vetos beziehungsweise verwässerten Reformen auszugehen. Im Falle des fait majoritaire, das heißt wenn Regierungschef und Präsident aus derselben Partei stammen, die gleichzeitig auch über die parlamentarische Mehrheit verfügt, kann man in Frankreich von einem hohen legislativen Output und damit einer hohen Wahrscheinlichkeit von Politikwandel ausgehen. Gerade dies ist seit dem Jahr 2002 der Fall, also fast während der gesamten »PISA-Ära«. Jenseits des Gesetzgebungsverfahrens und der seit 2002 günstigen Voraussetzungen für politische Reformen kann die hohe bildungspolitische Handlungskapazität der französischen Regierung auch durch einen weiteren wichtigen Faktor erklärt werden: die starke Zentralisierung des Bildungssystems. Im Gegensatz zum deutschen Bildungswesen, in dem
—————— 5 Dies war zuletzt zwischen 1997 und 2002 unter der Präsidentschaft Jacques Chiracs der Fall, als der Sozialist Lionel Jospin das Amt des Premierministers innehatte.
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Bildungspolitik in der Hoheit der einzelnen Bundesländer ist (siehe Niemann in diesem Band), und dem sehr stark dezentralisierten amerikanischen Bildungssystem (siehe Martens in diesem Band) besitzt der französische Zentralstaat die entscheidenden Steuerungskompetenzen im Bildungsbereich auf allen Ebenen. Die starke Zentralisierung des Schulwesens ist im Einklang mit der für Frankreich typischen Tendenz zur politischen Vereinheitlichung und zentralstaatlichen Steuerung, die der Logik der »L’une et indivisible République« folgt: Trotz Trends zur Regionalisierung und Verstärkung subnationaler Verwaltungen in den letzten Jahren herrscht nach wie vor ein gesellschaftlicher Konsens, dass Frankreich eine einheitliche Nation sei, in der die Zentralregierung den Volkswillen verkörpert, der durch subnationale bürokratische Institutionen im Auftrag des Zentralstaates umgesetzt werde (Edwards/Hupe 2000: 129–131). Ungeachtet der bildungspolitischen Dezentralisierungsmaßnahmen (siehe unten) und der Gewährung von Autonomie an Schulen der 1980er Jahre, gilt das französische Bildungssystem laut OECD nach wie vor als weitgehend zentralisiert (OECD 1994; siehe auch Corbett 1996: 19). Mit dieser staatszentrierten Politikformulierung verkörpert Frankreich das von Katzenstein beschriebene Prinzip der politischen Konzentrierung (Katzenstein 1976: 15), was sich in der hohen exekutiven Handlungskapazität des Zentralstaates widerspiegelt. Damit befindet sich der Staat jedoch in einer besonders empfindlichen Lage. Einerseits wird der Staat im französischen Kontext als Garant für Bildungsgleichheit verstanden: Durch eine dirigistische staatliche Steuerung und Kontrolle des Bildungswesens sollen gleiche Chancen für alle Schülerinnen und Schüler ungeachtet sozio-ökonomischer oder ethnischer Herkunft geschaffen werden. In der Tradition der republikanischen Schulpolitik wird andererseits von französischen Schulen erwartet, dass sie eine konstruktive Rolle bei der Bewältigung sozialpolitischer Probleme spielen und dabei gleiche Bildungschancen für alle gewährleisten (BMBF 2003: 62, 124). Damit ist das Steuerungsmuster der französischen Schulpolitik stark interventionistisch und bürokratisiert. Es finden diverse staatlich veranlasste, die Schullaufbahn begleitende Evaluationen des Bildungswesens statt, deren Ergebnisse in der nationalen Tagespresse veröffentlich werden. Hinzu kommt ein umfassendes System der Schulinspektion, das vorwiegend der Kontrolle der Arbeit der Lehrkräfte dient (Hörner/Many 2010: 245–246; BMBF 2003: 156).
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Besonders bemerkenswert ist auch der für Außenstehende als paradox erscheinende Dualismus zwischen dem der Französischen Revolution entstammenden und tief verwurzelten Prinzips der egalité (Gleichheit) und dem faktischen elitären Charakter des Systems. Folgt man den Thesen von Bourdieu (1966) und Baudelot/Establet (2009), produziert das stark zentralisierte staatlich verwaltete Bildungswesen starke Ungleichheiten (inegalité) und einen strukturell bedingten Elitismus. Bereits vor vierzig Jahren konstatierte Bourdieu, dass »l’école favorise les favorisés et défavorise les défavorisés« (»Die Schule privilegiert die bereits Privilegierten und benachteiligt die bereits Benachteiligten« [Übersetzung M.D.]) (Bourdieu 1966; siehe auch Leclère 2009). Sowohl interne als auch externe Studien belegen, dass das Bildungssystem stark darauf ausgerichtet ist, eine nationale Elite zu bilden (Baudelot 2009). In Frankreich ist also schon seit langem bekannt, dass der soziale Status und das Einkommen der Eltern über den Bildungserfolg der Kinder entscheiden. Die historisch stark verankerte Rolle des Staates im Bildungswesen hat jedoch dazu geführt, dass auch wohlwollende Reformen, die auf Bürokratieabbau, Autonomie, Wettbewerb, Dezentralisierung und Diversifizierung im Schulwesen und auf weniger Staat abzielen, häufig als Angriff auf das Prinzip der egalité interpretiert werden. Dabei kann man vor allem im Falle der linksgerichteten politischen Kräfte von einer reflexartigen Angst vor vermeintlich neoliberal inspirierten Reformen und der Herausbildung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft sprechen. Reformvorschläge werden häufig reflexartig als Affront gegen das Prinzip der Bildungsgleichheit interpretiert, auch wenn gerade die bestehenden Paradigmen dieses Prinzip stark belasten und sich das System durch seinen hohen Grad an Selektivität auszeichnet (Baudelot/Establet 2009: 10). Dabei wird dem bürgerlichen Lager élitisme républicain vorgeworfen, eine zu große Toleranz für Ungleichheiten und deren vermeintliche Reproduzierung durch das Schulsystem. Die Reformfähigkeit Frankreichs wird durch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Faktor beeinträchtigt, nämlich den beispiellos hohen Mobilisierungsgrad von Reformgegnern und die ausgeprägte Streikkultur. Diese schwierige Konstellation und die fast reflexartigen landesweiten Streiks im öffentlichen Dienst verringern die Handlungskapazität des Staates trotz günstiger institutioneller Voraussetzungen für Reformen. Und im Falle der PISA-Studie kommt die traditionelle Abneigung Frankreichs gegenüber internationalen Leistungsvergleichen als erschwerender Faktor hinzu.
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Bisherige Reformversuche In den letzten Jahrzehnten versuchte der Staat, das Problem der sozialen Ungleichheit durch eine Reihe korrigierender Maßnahmen zu lindern. Von Vorteil ist in diesem Zusammenhang, dass die französische Gesellschaft der Schulbildung eine besonders hohe Wertschätzung entgegenbringt (BMBF 2003: 61; Hörner/Many 2010: 241), welche sich in dem vergleichsweise hohen Bildungsetat und in den hohen staatlichen Investitionen auf allen Ebenen des Bildungswesens widerspiegelt (OECD 2009). Bereits Anfang der 1980er Jahre leitete der Staat eine Reihe von Reformmaßnahmen ein, die folgende Ziele erreichen sollten: Dezentralisierung, Abbau von Ungleichheiten im Bildungswesen und Erhöhung der Baccalauréat-Absolventen. Beispielsweise wurde mit den Lois de décentralisation der Jahre 1982 und 1983 ein Prozess der sehr verhaltenen Dezentralisierung in Gang gesetzt (Mallet 2006; siehe auch MEN 2006). Zunächst wurden zusätzliche Kompetenzen im Bereich der beruflichen Bildung an lokale Behörden übertragen, zum Beispiel die Erhebung von Steuern zur Finanzierung des Systems. Ab 1986 erhielten dann die Départements Kompetenzen bei der Verwaltung der collèges, während die 22 Regionen (régions) Verantwortung im Bereich der allgemeinen und technischen sowie der berufsbezogenen lycées übernahmen. Dabei wurde auch zunehmend versucht, die national festgelegten Bildungsziele an die Schulen vor Ort und die lokale Situation anzupassen, indem Entscheidungsbefugnisse den Direktoren der Schulverwaltungsbezirke (Recteurs d’Academie) übertragen wurden (BMBF 2003: 104). Im selben Zeitraum strebte man auf Initiative des Bildungsministers Chevènement mit der Erhöhung der Baccalauréat-Absolventen eine »Demokratisierung« des Bildungswesens an (Larue 2003; Hörner/Many 2010: 242). Wichtig in diesem Kontext sind drei staatlich angeordnete Maßnahmen: Erstens setzte sich der Staat das Ziel, die Anzahl der BaccalauréatAbsolventen auf 80 Prozent eines Jahrgangs zu erhöhen.6 Mit der Einführung des Baccalauréat professionel, sollte zweitens gewährleistet werden, dass eher technisch geneigte Schülerinnen und Schüler, die möglicherweise mit dem traditionellen Schulformat Schwierigkeiten haben, auch einen berufsvorbereitenden Schulabschluss am lycée machen können. Mit diesen Maßnahmen sollten die Anzahl der Schulabgänger erhöht und die Anzahl der
—————— 6 Später wurde dieses Ziel auf 74 Prozent zurückgefahren.
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Abbrecher verringert werden. In diesem Zusammenhang wurden drittens so genannte zones d’éducation prioritaires (ZEP) in sozio-ökonomisch benachteiligten Gebieten eingerichtet, die zusätzliche staatliche Fördermittel erhalten. Dabei sollen auch die Unterrichtsstunden erhöht werden. Hier wird jedoch kritisiert, dass die Fördermittel, die derzeit circa ein Prozent des gesamten Bildungshaushalts ausmachen und lediglich zwei zusätzliche Unterrichtsstunden pro Woche ermöglichen, bei weitem nicht ausreichen, um die vorhandenen Leistungsschwächen zu überwinden. Als zusätzlicher Kritikpunkt kommt hinzu, dass sich die Vergabe der Subventionen nicht nach dem Erfolg der jeweiligen Schule richtet (Le Point 2007). In den darauf folgenden Jahren wurde eine Reihe zusätzlicher Reformen eingeführt, die eher auf eine Erweiterung der Rolle des Staates in der Bildungspolitik hindeuten: Im Jahre 2000 wurde beispielsweise ein nationaler Rat für Schulevaluation7 eingerichtet, welcher der Öffentlichkeit auf Grundlage gemeinsamer Leistungs- und Qualitätsmessungen jährliche Berichte zur Lage einzelner Schulen und des gesamten Schulsystems vorlegte. Unterdessen wurden ein nationales Monitoring-System sowie landesweit standardisierte Tests für Schülerinnen und Schüler der dritten, sechsten und zehnten Klasse eingeführt. Als zusätzliches Indiz für eine zunehmende Zentralisierung wurde auch die Ausbildung der Sekundarschullehrerinnen und -lehrer mit der Verpflichtung zur weiteren Ausbildung am Institut Universitaire de Formation des Maîtres nach abgeschlossenem Hochschulstudium landesweit vereinheitlicht (BMBF 2003: 104). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann festgehalten werden, dass sich Frankreich vor der PISA-Studie in einer anderen Ausgangslage als Deutschland befand. Im Gegensatz zu Deutschland, dessen gegliedertes Schulsystem immer wieder von der OECD kritisiert wird (FAZ 2008), kennt das französische Bildungssystem keine strukturelle vertikale Differenzierung des Sekundarschulwesens. Darüber hinaus bestand in Frankreich bereits vor PISA ein sehr hohes öffentliches Bewusstsein nicht nur für die Defizite des eigenen Systems, sondern auch für die zum Teil misslungenen Versuche des Zentralstaates, das Leistungsgefälle im System zu verringern. Die nationale Debatte über Bildungspolitik ist also bereits seit langem stark institutionalisiert (Corbett 1996: 19). Im Folgenden soll analysiert werden, inwieweit die neue transnational vergleichende Dimension die bildungspolitische Ausrichtung Frankreichs beeinflusst hat.
—————— 7 Haut Conseil de l’évaluation de l’école. Diese Institution wurde 2005 durch das Haut Conseil de l’Éducation ersetzt.
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Die Rolle von OECD und PISA im französischen Bildungssystem Im Rahmen ihrer Aktivitäten zur Förderung einer globalen Wirtschaft und marktorientierter sozio-ökonomischer Reformen hat sich die OECD in den letzten Jahren als bedeutender bildungspolitischer Akteur etabliert. Ähnlich wie Neuseeland kann Frankreich auf eine lange Geschichte bildungspolitischer Zusammenarbeit mit der OECD zurückblicken. Im Jahre 1994 unternahm Frankreich einen Schritt, den die meisten anderen großen Staaten lieber vermieden, indem es die OECD damit beauftragte, das gesamte französische Bildungssystem im Rahmen ihrer Review-Aktivitäten einer Bewertung zu unterziehen (Corbett 1996: 17). Dabei wurden einige Merkmale des Bildungssystems im normativen Urteil der OECD als besonders positiv bewertet: der universelle Zugang zum Kindergarten, die Tradition der sozialen Integration mittels des Bildungssystems und die in den 1980er und 1990er Jahren eingerichteten Zones d’Education Prioritaires. Doch infolge der gesamtgesellschaftlichen Reformen nach 1968 kristallisierten sich, so die OECD, einige fundamentale Widersprüche im französischen Bildungssystem heraus. Laut dem OECD-Bericht des Jahres 1994 scheitere ein Großteil der Teilnehmer am Bildungssystem, obwohl das französische System auf der Idee der Gleichheit beruhe. Ferner wurde kritisiert, dass das Prinzip der fraternité (»Brüderlichkeit«, oder Solidarität) von einem starken Wettbewerbsdruck überschattet wird und dass trotz der vermeintlichen gesamtgesellschaftlichen Leitidee der liberté, der Freiheit, wenige Möglichkeiten zur individuellen Selbstverwirklichung im Schulsystem bestehen. Konkret wird in diesem Zusammenhang beispielsweise die »abstrakte Bildungskultur« bemängelt, die in der mangelnden Individualisierung der Lehre und pädagogischen Methoden zum Ausdruck kommt (OECD 1994; siehe auch Corbett 1996). Und trotz der staatlich geförderten Erhöhung der Baccalauréat-Absolventen verschärft der nach wie vor hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern, die die Baccalauréat-Prüfung nicht bestehen, das Problem der sozialen Ungleichheit. Schließlich wurde seitens der OECD auch Kritik an der Steuerung des Systems geäußert. Trotz Dezentralisierung und der Gewährung von mehr Autonomie an die Schulen gelte das System als weitgehend zentralisiert, konfliktanfällig und nicht anpassungsfähig, so die Einschätzung der OECD (1994).
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Nichtsdestotrotz herrschte bis ins neue Jahrtausend in vielen Kreisen die Überzeugung, das französische Schulwesen sei das beste der Welt (Baudelot/Establet 2009). Die von der OECD initiierte PISA-Studie bietet jedoch seit 2001 eine neue Möglichkeit, das französische Sekundarschulsystem vergleichend zu analysieren (zum Instrument des comparative assessment siehe Martens 2007). Was die französischen Ergebnisse betrifft, fallen insbesondere nicht nur die eingangs erwähnten durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Ergebnisse französischer Schülerinnen und Schüler auf, sondern auch die markante Verschlechterung der Ergebnisse zwischen PISA 2003 und PISA 2006. Während Frankreich 2003 im Bereich der Naturwissenschaften den zehnten Platz erreichte, erzielte es im Jahre 2006 nur Platz 21 unter den heutigen 34 OECD-Ländern. Diese negative Entwicklung lässt sich auch für die zwei anderen seit 2000 untersuchten Kompetenzbereiche beobachten: Im Bereich der Lesekompetenz fiel Frankreich vom Platz 13 im Jahre 2000 auf Platz 19 im Jahre 2006 zurück, und im Bereich Mathematik erreichte Frankreich 2000 Platz zehn, aber sechs Jahre später nur noch Platz 19. Tabelle 5.1: Abschneiden Frankreichs in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
505
(13.)
496
(14.)
488
(19.)
Mathematische Kompetenz
517
(10.)
511
(13.)
496
(19.)
Naturwissensch. Kompetenz
500
(12.)
511
(10.)
495
(21.)
Mittelwert der drei Bereiche
507
(12.)
506
(13.)
493
(21.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich8 in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004, 2007; OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
Die Ergebnisse zeigen, dass unter den OECD-Staaten insbesondere Finnland und die Niederlande, einige angelsächsische Länder (Kanada, Neuseeland, Australien und Irland) sowie Japan und Südkorea erheblich besser abschneiden. Dabei bekräftigt Eric Charbonnier, französischer Spezialist für Bildungsfragen bei der OECD, dass im Gegensatz zum japanischen Falle nicht die Anzahl der guten Schülerinnen und Schüler abgenommen,
—————— 8 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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sondern die Anzahl derer mit Lernschwierigkeiten zugenommen habe (Interview in Rollot/de Vergès 2007). Über diese Ergebnisse hinaus brachten die PISA-Studien auch weitere weniger schmeichelhafte Merkmale des französischen Bildungswesens ans Tageslicht. Erstens – wie eben angedeutet – produziert das französische Bildungsmodell eine hohe Anzahl an »Schulversagern« (vastes batallions d’élèves en échec) und gleichzeitig eine zu kleine »Bildungselite«, um den Herausforderungen der Wissenschaftsgesellschaft gerecht zu werden (Baudelot/Establet 2009: 13–14). Kritisiert werden in diesem Zusammenhang nicht nur die hohen Durchfallquoten bei der Baccalauréat-Prüfung,9 sondern auch der Tatbestand, dass nur 93 Prozent der Schüler die letzte Ausbildungsstufe – die Vorbereitungsklasse für das Baccalauréat – erreichen.10 Ferner belegt die PISA-Studie, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die sich in der Schule »unwohl fühlen«, in Frankreich doppelt so hoch wie der OECD-Durchschnitt liegt (OECD 2007; Baudelot/Establet 2009: 15). Dementsprechend wird von den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern die Qualität der Lehre auch vergleichsweise schlecht bewertet. Ein hoher Anteil der französischen Jugendlichen ist der Meinung, dass sie während des Lernprozesses von ihren Lehrerinnen und Lehrern nicht ausreichend gefördert, gefordert und ermutigt werden (OECD 2001; Grenet 2008). Beispielsweise waren im Jahre 2000 nur 43,4 Prozent der französischen 15-Jährigen der Meinung, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer sie im Lernprozess aktiv und individuell unterstützen (OECD-Durchschnitt 64,6 Prozent) (OECD 2002: 392).11 Vor diesem Hintergrund kann konstatiert werden, dass individualisierten und maßgeschneiderten Lehr- und Lernmethoden im französischen System nicht ausreichend Raum geboten wird. Nach Grenet (2008) deuten die PISA-Ergebnisse ferner darauf hin, dass der vorherrschende pädagogische Ansatz des französischen Schulsystems zu stark darauf beruht, passive Kenntnisse anzueignen, die dann in stark standardisierten Prüfun-
—————— 9 Etwa sechzig Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs erhalten den Baccalauréat-Abschluss, circa 20 Prozent einen Baccalauréat professionnel oder technologique. Knapp 20 Prozent schaffen keinen Schulabschluss (MEN 2009). 10 Trotz der OECD-Kritik kann man in diesem Zusammenhang von einem langfristigen Erfolg sprechen; im Jahre 1968 erreichten nur circa 40 Prozent eines Jahrganges die letzte Baccaulauréat-vorbereitende Schulklasse (Corbett 1996: 10). 11 Siehe Grenet 2008 für weitere Details und eine Analyse der OECD-Daten zum Verhältnis; http://www.laviedesidees.fr/IMG/pdf/20080208_pisa_figures.pdf (Abruf am 20.07.2010).
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gen reproduziert werden. Die PISA-Resultate zeigen, so Grenet, dass sich die französischen Schülerinnen und Schüler damit schwer tun, Kritik zu äußern oder mit Situationen außerhalb des schulischen Rahmens umzugehen, die eigenständiges analytisches Denken verlangen (2008; siehe auch Baudelot/Establet 2009: 26–27). Von der OECD wird in diesem Zusammenhang kritisiert, dass der Unterricht zu monoton und lehrerzentriert sei und es an methodischer Abwechslung mangele (Sérès 2008). Darüber hinaus weisen die Ergebnisse auf einen hohen Grad an Ängstlichkeit und geringes Selbstvertrauen der Schülerinnen und Schüler hin. Der Bildungsforscher Georges Solaux sieht beispielsweise eine wichtige Ursache für die schwachen Resultate im Stil des Unterrichts: »Die sind derart durch das Punkte- und Sanktionssystem mit Schuldgefühlen beladen, dass die Angst vor dem Scheitern sie paralysiert.« (Die Zeit 2005) Eine Analyse der einzelnen PISA-Aufgaben zeigt, dass französische Schülerinnen und Schüler bei schriftlichen Aufgaben, die eine eigene Meinung oder eigenständige Analyse erfordern, häufig darauf verzichten, eine Antwort zu geben, statt das Risiko einer falschen Antwort einzugehen. Zudem bewertet ein hoher Anteil der französischen Heranwachsenden die eigenen schulischen Leistungen eher pessimistisch (Marseille/Sgherri 2007). Vor allen Dingen belegen die PISA-Resultate, dass – wie schon von Bourdieu (1966) prognostiziert – der sozio-ökonomische Status nach wie vor ein Schlüsselfaktor in der Erklärung des Bildungserfolgs oder -versagens ist. Die PISA-Studie offenbarte ein hohes Leistungsgefälle nach sozio-ökonomischem Hintergrund – und das in einem Land, das der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit einen außerordentlichen hohen Stellenwert beimisst. Das Schulsystem wird also der urfranzösischen Leitidee der égalité nicht gerecht und verstärkt womöglich sogar die inegalité sociale (soziale Ungerechtigkeit). Vor allem das finnische, südkoreanische und kanadische Abschneiden zeigt, dass das PISA-Ergebnis eines Landes umso besser ausfällt, je geringer die Leistungsspreizung zwischen den am besten und am schlechtesten abschneidenden Schülerinnen und Schülern ausfällt (Le Point 2003). Frankreich weist jedoch eine hohe Anzahl an »Elite«-Schülerinnen und Schülern und gleichzeitig einen hohen Anteil an besonders Leistungsschwachen auf (Baudelot/Establet 2009: 38–44; siehe auch BMBF 2003). Wenn man der Interpretation der PISA-Ergebnisse von Baudelot/Establet (2009) folgt, bestünde der effektivste Ansatz zur Bekämpfung des Problems der Bildungsungleichheit (das heißt der hohen Disparität zwischen starken und schwachen Schülerinnen und Schülern)
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darin, energische Maßnahmen zur Unterstützung der Leistungsschwachen einzuführen (vergleiche Dobbins zu Neuseeland in diesem Band). Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, wie die PISA-Ergebnisse von der französischen Öffentlichkeit und bildungspolitischen Entscheidungsträgern wahrgenommen wurden. Dann wird darauf eingegangen, welche Maßnahmen der Staat in den letzten Jahren ergriffen hat, um die durch die PISA-Studien und andere nationale Untersuchungen offenbarten Defizite des Bildungssystems zu bekämpfen.
Resonanz der PISA-Studie in der französischen Öffentlichkeit Was die Häufigkeit der Thematisierung der PISA-Ergebnisse in den Medien angeht, liegt Frankreich im internationalen Mittelfeld (siehe Abbildung 1.2 bei de Olano et al. in diesem Band). In den zwei führenden Tageszeitungen, Le Monde und Le Figaro, wurde die PISA-Studie in den letzten zehn Jahren jeweils in circa 30 bis 40 Artikeln thematisiert. Besonders kritisch werden die französischen Ergebnisse und vor allem auch die Ungleichheiten im Bildungswesen im eher konservativ geprägten politischen Wochenmagazin Le Point diskutiert.12 Insgesamt blieb jedoch die inhaltliche Debatte um die PISA-Studie in Frankreich – zumindest nach den ersten zwei Runden – relativ diskret und vorwiegend auf akademische Kreise und in Frankreich lebende OECDVertreter beschränkt (Mons/Pons 2009a; 2009b). In politischen Kreisen gab man sich häufig damit zufrieden, dass nicht nur das allgemeine Bildungsniveau seit den 1960er Jahren nachweisbar steigt, sondern auch die Anzahl an Baccalauréat-Absolventen (siehe Baudelot/Establet 1989, 2009; MEN 2009). Besonders auffällig sind die Versuche verschiedener französischer Beobachter, die PISA-Studie in einem zweifelhaften Licht darzustellen. Dabei werden zwei argumentative Strategien verfolgt. Zum einen wird argumentiert, dass die PISA-Methodologie einige Verzerrungen zum Nachteil Frankreichs aufweist. Dieser starke Fokus auf die PISA-Methodologie kann darauf zurückgeführt werden, dass Frankreich seit Beginn der PISA-Studie eine unterschiedliche methodologische Konzeptualisierung
—————— 12 Le Point »Education Tragédie Nationale« vom 07.06.2007; »OCDE: L’élève francais moyen« vom 09.12.2007; »Education Nationale: le grand gâchis« vom 17.01.2007.
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für internationale schulische Leistungsvergleiche vorschlägt (Mons/Pons 2009a, 2009b; Bottani/Vrignaud 2005). Verfechter der vorgeschlagenen »französischen Methode« kritisieren vor allem die zu starke statistische Ausrichtung von PISA sowie die Tatsache, dass die Studie nicht die Aneignung von Wissen misst (wie bei sonstigen nationalen Leistungsanalysen in Frankreich), sondern schulische Fertigkeiten und Kompetenzen. Ferner wird in vielen Kreisen argumentiert, die PISA-Studie sei zu stark auf angloamerikanischen Bildungsprinzipien aufgebaut und damit für das französische Schulsystem ungeeignet.13 Dieses Argument hält aber nicht stand, wenn man sich die empirische Wirklichkeit anschaut: Die leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler stammen nicht aus den angelsächsischen Ländern, sondern aus Finnland und Südkorea. Auch bestehen gravierende Leistungsunterschiede zwischen den englischsprachigen Ländern (Kanada, Neuseeland und Australien im Vergleich zu den USA). Deshalb kann nicht von einem prinzipiellen Bias zugunsten der englischsprachigen Länder und gegen Frankreich ausgegangen werden. Zweitens werden die unterdurchschnittlichen Ergebnisse mitunter auf einige Eigenarten des französischen Bildungssystems zurückgeführt, die möglicherweise einen negativen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Ein Argument bezieht sich auf die in Frankreich weit verbreitete Praxis des redoublement (»Verdoppelung«, gemeint ist die Nichtversetzung). Es wird davon ausgegangen, dass französische Schülerinnen und Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen strukturell benachteiligt sind, weil fast die Hälfte von ihnen schon mindestens eine Klasse wiederholt hat. Hier liegt in der Tat eine große Diskrepanz vor. Während im internationalen Durchschnitt circa 5 bis 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholt haben (in Finnland 2,8 Prozent), so sind es in Frankreich etwa 40 Prozent. Die schwachen Gesamtleistungen Frankreichs erklären sich laut dieser Argumentation dadurch, dass ein großer Teil der französischen 15-Jährigen durch die Wiederholung von Klassenstufen noch nicht das inhaltliche Niveau der Teilnehmer aus anderen Ländern erreicht hat, in denen die Praxis des redoublement seltener ist (siehe Grenet 2008; Chevalier 2009). In der Tat zeigt sich, dass die Ergebnisse der französischen Jugendlichen, die nicht sitzen geblieben sind, auf dem Niveau der PISA-Vorreiter liegen, während die Ergebnisse derjenigen, die mindestens eine Klasse wiederholt haben, weit unter dem OECD-Durchschnitt liegen.
—————— 13 Die französischen Autoren Baudelot/Establet (2009) und Grevet (2008) verteidigen die PISA-Methodik gegen diese Kritik.
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Was die staatlichen Reaktionen auf PISA betrifft, lässt sich das letzte Jahrzehnt nach Mons und Pons (2009b) in drei Zeitphasen einteilen. Am Anfang des Jahrzehnts wurde seitens des Bildungsministeriums versucht, die PISA-Ergebnisse diskret und fern von der Öffentlichkeit zu halten (ebenda: 18, 46). Nach dem Ende der cohabitation-Phase wurde vom Bildungsministerium zunächst eine Debatte über »ideale« Bildungspolitik und bildungspolitische Steuerung (gouvernance idéale) angestoßen. Dabei gehört die PISA-Studie zusammen mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit zu einem Bündel an Faktoren, die zur Debatte um »la crise d’éducation« beigetragen und den Reformgeist des bürgerlichen Lagers belebt haben. Im Jahre 2003 wurde in diesem Zusammenhang die so genannte Kommission zur nationalen Debatte über die Zukunft der Schule (Commission du débat national sur l’avenir de l’École) unter der Leitung des französischen Bildungsexperten und ehemaligen Direktors des Haut Conseil de l’évaluation de l’école, Claude Thélot, eingerichtet. Der daraus entstandene Thélot-Bericht thematisierte unter anderem die Schwächen des Bildungssystems im Umgang mit leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern und lieferte diverse Reformvorschläge, basierend auf den Prinzipien Bilden, Unterrichten, Integrieren und Fördern (éduquer, instruire, intégrer et promouvoir) zur Optimierung des französischen Bildungssystems (siehe Thélot 2003; siehe unten).14 Für die Zeit ab 2006 sprechen Mons und Pons (2009b: 47) jedoch von einer rupture, einem Bruch mit dem bisher »laxen« Umgang mit den unterdurchschnittlichen Resultaten, und einem neuen bildungspolitischen Aktivismus. Der neue Aktivismus kann vor allem auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: die kontinuierliche und signifikante Verschlechterung der französischen PISA-Ergebnisse (siehe Tabelle 5.1) und den ambitionierten und reformorientierten Politikstil der Sarkozy-Regierung. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass die PISA-Studie und andere internationale Vergleiche, wie beispielsweise PIRLS15, in den letzten vier Jahren immer
—————— 14 Die Kommission schlug diverse Aktionsprogramme für »Schulen der Zukunft« vor: Gewährleisten, dass sich jede Schülerin und jeder Schüler ein unverzichtbares Basiswissen aneignet und den Weg zum Erfolg findet; motivieren, spezielle Fähigkeiten zu identifizieren und Schwerpunkte zu setzen; Förderung der sozialen Vielfalt (mixité sociale); Handlungskapazitäten und Verantwortung der Schuleinrichtungen verstärken; Aufgaben der Lehrkräfte neu definieren; engere Einbindung der Eltern in den Bildungserfolg der Kinder; Partnerschaften mit Politikern, Verbänden, Unternehmen, Medien, medizinischen Dienstleistern, der Polizei und dem Rechtswesen bilden. 15 Progress in International Reading Literacy Study; im deutschsprachigen Raum auch als IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) bekannt.
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häufiger politisch instrumentalisiert werden – und das von beiden großen politischen Lagern. Während die französische Linke und die ihr nahe stehenden Gewerkschaften das hohe Leistungsgefälle der Schülerinnen und Schüler als Symbol des politischen Versagens des rechten Lagers deuten, so wird von Präsidenten Sarkozy und seinen Anhängern versucht, die eigenen bildungspolitischen Reformvorhaben mit PISA zu legitimieren (Mons/Pons 2009b: 47). Dies wird an expliziten Äußerungen des Staatspräsidenten und des ehemaligen Bildungsministers Xavier Darcos deutlich: Nach Auffassung der Sarkozy-Regierung liegen die Gründe für das unterdurchschnittliche Abschneiden der französischen 15-Jährigen nicht an der PISA-Methodik, sondern eher in der mangelnden pädagogischen Freiheit französischer Lehrerinnen und Lehrer sowie der unzureichenden Autonomie französischer Schulen begründet (Sarkozy 2007). Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht nur seit der dritten PISAStudie ein erhöhtes Interesse an internationalen Leistungsvergleichen beobachten, sondern auch die sichtbare Entwicklung einer Kultur des internationalen Vergleiches in der französischen Bildungspolitik. Dabei versucht vor allem das Sarkozy-Lager UMP (Union pour un mouvement populaire) eine ergebnis- und evaluationsbasierte Kultur mit starkem Bezug zu internationalen Vergleichen im Bildungsbereich zu institutionalisieren (siehe Mons/Pons 2009b: 63). Besonders auffällig sind nicht nur die Besetzung des Amtes des Bildungsministers mit Xavier Darcos, dem vormaligen französischen Botschafter bei der OECD, sondern auch die immer häufigeren öffentlichen Plädoyers für die verstärkte Anwendung von internationalen Leistungsvergleichen (siehe zum Beispiel Forestier/Thélot 2007).16
Bildungspolitische Maßnahmen seit PISA Die drei bisherigen PISA-Studien lieferten klare Belege nicht nur dafür, dass das französische System inegalité erzeugt, sondern auch für den starken Zusammenhang zwischen Gesamtleistung und der aktiven Förderung von egalité. Kurzum: Je besser ein Land in der Lage ist, die Kluft zwischen starken und schwachen Schülern zu verringern, desto besser sind die
—————— 16 Das Werk enthält die Ergebnisse einer umfassenden Evaluation des französischen Schulsystems durch das Haut Conseil de l’évaluation de l’école und argumentiert für eine stärkere Orientierung französischer Bildungspolitiken an internationalen Vergleichen.
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Gesamtergebnisse (Baudelot/Establet 2009: 13). Wie eingangs erwähnt, besitzt der französische Zentralstaat nicht zuletzt seit dem Ende der letzten cohabitation-Regierungskonstellation im Jahre 2002 eine hohe Kapazität, Politikwandel zu erzeugen. Und nicht nur aus den oben genannten Gründen sollte der Status Quo des Sekundarbildungswesens für die französische Regierung alarmierend sein. Einerseits belegen die PISA-Studien die im besten Falle mittelmäßigen Leistungen französischer Schülerinnen und Schüler sowie den hohen Grad an Bildungsungleichheit. Andererseits zeigen auch diverse Indikatoren, dass Frankreich zu den OECD-Spitzenreitern gehört, was die staatlichen Ausgaben für Bildung anbelangt. So waren die Ausgaben pro Schüler im Sekundarbereich im Jahre 2007 mit 9.303 US-Dollar in Frankreich höher als der OECD-Durchschnitt von 8.006 US-Dollar (OECD 2009). Der französische Staat gibt also (immer) mehr für Bildung aus (MEN 2003), erzielt aber unterdurchschnittliche Ergebnisse im internationalen Vergleich. Dabei haben die hohen Ausgaben zu günstigen Rahmenbedingungen sowohl für die französischen Schulen als auch für die Schülerinnen und Schüler geführt. In den letzten 25 Jahren ist die Anzahl der Lehrerinnen und Lehrer an den écoles primaires, collèges und lycées um etwa 12 Prozent gestiegen, während die Anzahl der Schülerinnen und Schüler im selben Zeitraum um circa 5 Prozent abgenommen hat (Marseille/Sgherri 2007). Was den Sekundarbereich anbelangt, hat Frankreich mit durchschnittlich 10,4 Schülerinnen und Schülern pro Lehrkraft eine der niedrigsten SchülerLehrer-Relationen in der OECD (BMBF 2003: 186). Und von zu wenig Unterricht kann in Frankreich auch nicht die Rede sein. Während fünfzehnjährige finnische Schülerinnen und Schüler an durchschnittlich 856 Unterrichtsstunden im Jahr teilnehmen (OECD 2009: 314; siehe auch Marseille/Sgherri 2007), so sind es in Frankreich 1036 Stunden. Darüber hinaus gehört Frankreich zu den OECD-Ländern mit dem größten Angebot an Förderunterricht für Leistungsschwache. Als zusätzlicher Vorteil für das französische Bildungswesen kommt hinzu, dass das Land mit dem Haut Conseil de l’évaluation de l’école über ein gut ausgebautes System der Qualitätsevaluierung verfügt. Vor diesem Hintergrund liefern die PISA-Studien Bildungsreformerinnen und -reformern ein ideales Argument: Frankreich gibt sehr viel Geld für Bildung aus, was sich in der hohen Anzahl an Lehrerinnen und Lehrern sowie diversen staatlichen Förderund Kontrollmaßnahmen widerspiegelt, erzielt aber nur unterdurchschnittliche und vor allem in den letzten Jahren immer schlechtere Ergebnisse.
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Die letzten zehn Jahre können tatsächlich als Phase hoher Reformdynamik in der französischen Bildungspolitik gelten. Auf der Basis der Vorschläge der Thélot-Kommission sowie der großen Bildungsdebatte 2003 und 2004, an der unter Einbeziehung neuer Medien Vertreterinnen und Vertreter der Lehrer-, Schüler- und Elternschaft sowie bildungspolitische Entscheidungsträger teilnahmen, wurde bereits im Frühjahr 2004 das nach dem damaligen Bildungsminister und gegenwärtigen Premierminister François Fillon benannte Loi Fillon von der Nationalversammlung verabschiedet. Die Reformmaßnahmen verfolgten zwei Hauptziele: Die Zahl der Schulversager sollte abgesenkt und das allgemeine Bildungsniveau französischer Schülerinnen und Schüler erhöht werden. Unter anderem sollten folgende konkrete Ziele bis 2010 umgesetzt werden (Loi Fillon 2004): – Steigerung der Zahl der Baccalauréat-Absolventen aus einkommensschwachen Familien um 20 Prozent; – Steigerung der Zahl der Mädchen in wissenschaftlichen und technischen Zweigen um 15 Prozent; – Steigerung der Fortbildungsrate bei den Lehrkräften um 20 Prozent; – Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die in der ersten Fremdsprache (in den meisten Fällen Englisch) das Niveau B1 erreichen (Referenzwert des Europarats für die modernen Fremdsprachen) um 20 Prozent; – Steigerung der Anzahl der Deutsch lernenden Schüler um 20 Prozent; – Verstärkte Kontrolle der Aneignung von Basiskenntnissen (Französisch, Grundkenntnisse in Mathematik, moderne Kommunikationsmittel, mindestens eine Fremdsprache, humanistische Grundkenntnisse). Obwohl das Gesetz von François Fillon mit Verweis auf die französischen PISA-Ergebnisse verteidigt wurde (Mons/Pons 2009b), war der Bezug zu den so genannten Lissabonner Zielen der Europäischen Union von größerer Bedeutung. So wurden die Maßnahmen als Frankreichs Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Ziele, die die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt machen sollten, gerechtfertigt (Weber 2005). Allerdings kann man im Falle des Fillon-Gesetzes nicht von einem grundlegenden Wandel in der französischen Bildungspolitik sprechen, nicht zuletzt weil wichtige Reformkomponenten aufgrund intensiver und anhaltender Schüler- und Lehrerstreiks zurückgenommen werden mussten (Gas 2005). Beispielsweise wurde die angestrebte Reform des Baccalauréat,
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die auf eine Entlastung der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet war, ausgerechnet von vielen Jugendlichen abgelehnt. Mit der Reform sollte die Anzahl geprüfter Fächer von zwölf auf sechs reduziert werden und ein Teil der Endnote auf den Leistungen in den letzten drei Schuljahren und nicht nur auf dem Prüfungsergebnis beruhen. Die Schülerinnen und Schüler, die die Hauptleidtragenden der zentral organisierten Abschlussprüfungen sind, wollten aber zum größten Teil am bisherigen rigorosen Verfahren festhalten (Die Zeit 2005) und zwangen – zusammen mit den linksgerichteten Gewerkschaften – Bildungsminister Fillon zum Umdenken. Befürchtungen wurden geäußert, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht fähig seien, subjektiv, neutral und ohne Rücksicht auf soziale Herkunft die Leistungen ihrer Schützlinge zu beurteilen. Seitens der Schülervertretungen wurde außerdem argumentiert, dass nur der Zentralstaat in der Lage sei, Objektivität, Anonymität und damit das Bildungsideal der Gleichheit zu gewährleisten. Ferner wurde befürchtet, dass die stärkere Einbindung der einzelnen Schulen und Lehrerinnen und Lehrer ins Prüfverfahren Rückschlüsse auf den Wohnort und damit gesellschaftlichen Status der Familie ermöglichen könnte (ebenda). Die Dezentralisierung des Prüfverfahrens und die damit einhergehende größere Autonomie der Schulen wurde als Angriff auf das Prinzip der égalité interpretiert, auch wenn der Staat mit der Reform des Baccalauréat darauf abzielte, die Schülerinnen und Schüler vom bisherigen Pauk- und Punktsystem zu entlasten.
Angestrebte Reformen der Sarkozy-Regierung Obwohl die PISA-Ergebnisse kein Patentrezept zur Erhöhung der Bildungsleistungen französischer Schülerinnen und Schüler vorgeben, sind die häufigen Verweise hochrangiger Regierungsvertreter auf das finnische Bildungswesen besonders auffällig. Nach Ansicht französischer Bildungspolitiker liege das finnische Erfolgsrezept vorwiegend in der umfangreichen Lehrerausbildung, den flexiblen und vielfältigen pädagogischen Ansätzen, im schulischen Betreuungsangebot und in der stark integrativen Bildungskultur (Jacob 2008; Bruneel 2008; Thélot 2005). Vor diesem Hintergrund und angesichts der deutlichen Verschlechterung der französischen PISA-Ergebnisse wurde Xavier Darcos nach seiner Amtsübernahme damit beauftragt, einige weit reichende »finnisch
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angehauchte« Reformen des Sekundarschulsystems umzusetzen (Jacob 2008). Beispielsweise sollten Schulen befähigt werden, eigene bildungspolitische Strategien und pädagogische Ansätze zu verfolgen und mehr finanzielle Autonomie für die Umsetzung staatlicher Reformen erhalten. Außerdem sollte das Schuljahr auf der Basis des finnischen Oberstufen-Systems in zwei Semester umstrukturiert werden. Zusätzlich sollte die vermeintlich segregationsfördernde carte scolaire (siehe oben; siehe auch Sarkozy 2007) abschafft werden, damit auch Schülerinnen und Schüler von außerhalb eines Schulbezirkes zugelassen werden dürfen. Das Prinzip der mixité sociale (soziale Vielfalt) sollte gefördert werden, welches im Hinblick auf die kanadischen und finnischen PISA-Ergebnisse auch in Frankreich zunehmend als bildungspolitisches Erfolgsrezept wahrgenommen wird (Bruneel 2008; Sarkozy 2007). Zudem sollte zusätzliches Lehrpersonal mit spezieller pädagogischer Ausbildung an »Problemschulen« eingesetzt werden, um innovative Projekte zur Entschärfung sozialer Konflikte und zur Überwindung von Leistungsdefiziten zu entwickeln. Unter dem Stichwort »lycée à la carte« sahen die Darcos-Reformen außerdem vor, Schülerinnen und Schülern neben 31,5 Stunden Pflichtunterreicht pro Woche sechs Stunden Wahlfächer zu bieten. Dazu sollten auch drei Stunden Förderunterricht für Lernschwache hinzukommen und – als Zeichen der angestrebten stärkeren Marktorientierung des Schulwesens – Wirtschaftslehre für alle Schülerinnen und Schüler Pflichtfach werden (Der Spiegel 2008). Hingegen sollten Fächer wie Geschichte und Geographie im letzten Schuljahr fakultativ werden, was von Intellektuellen heftig kritisiert wurde (France24 2009). Insgesamt sollten die Maßnahmen dazu beitragen, die Praxis des redoublement möglichst einzudämmen (Bertereau 2008). Obwohl die Reformen ursprünglich auf die Entlastung der Schülerinnen und Schüler, die Spezialisierung der Lernmöglichkeiten, die Gewährung zusätzlicher Autonomie an Schulen und Unterstützung für Schulen mit einem hohen Anteil an leistungsschwachen Jugendlichen abzielten, kam es Ende 2008 zu landesweiten Demonstrationen und Streiks. Von den Protestierenden – Schülern, Lehrern und Gewerkschaften – wurde vor allem kritisiert, dass im Rahmen der Schulreform und einer gleichzeitigen Reform des öffentlichen Dienstes etwa 13.500 Lehrerstellen wegfallen sollten. Ferner wurde seitens der Lehrkräfte argumentiert, der geplante zusätzliche Förderunterricht sei eine zu starke Belastung für Schüler- und Lehrerschaft. Es widerspräche zudem dem Ideal gleicher Bildungschancen (gleicher Aufmerksamkeit) für alle Schülerinnen und Schüler (Cody 2009).
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Auch der politische Prozess, der zu den Reformvorschlägen führte, wurde heftig kritisiert. Nach einer beispiellosen Welle angestrengter und zum Teil auch gelungener Reformen (zum Beispiel im Rentensystem, Hochschulsystem, im öffentlichen Dienst, in der Arbeits-, Einwanderungsund Steuerpolitik) (Trauth 2007) wurde seitens der Reformgegner argumentiert, der Staat würde eigenständig über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden und die Schülerinnen und Schüler hätten inhaltlich »kein Wort zu sagen« (Der Spiegel 2008). Mit anderen Worten kam hier die von Katzenstein (1976) thematisierte strikte Trennung zwischen staatlicher Politikgestaltung und der Gesellschaft stark zum Vorschein. Dies führte dazu, dass von den Demonstranten weniger die inhaltlichen Aspekte der Reform thematisiert wurden, sondern vielmehr der staatszentrierte Entscheidungsprozess. Im Gegensatz zum korporatistisch geprägten politischen Prozess, wie beispielsweise in Deutschland, den Niederlanden oder Österreich, sind organisierte Interessen und Gewerkschaften in Frankreich nicht besonders stark an den frühen Phasen des Politikgestaltungs- und Planungsprozesses beteiligt (Quittkat 2006: 41; siehe auch Waarden 1996). Dies hat einerseits mit der Zersplitterung, dem Mitgliederschwund und infolgedessen dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften (Kempf 1997: 310–311) zu tun. Andererseits gehört politische Interessenvermittlung nicht zu den Kernaktivitäten der französischen Gewerkschaften, so dass sie selten am politischen Agenda-Setting-Prozess beteiligt sind. Die stark staatszentrierte Politikgestaltung hat häufig zur Folge, dass aus der Sicht der Gewerkschaften und Betroffenen Streiks die einzige praktikable Einflussmöglichkeit auf vom Staat bereits beschlossene Politiken darstellen (Deutsche Welle 2010). Aufgrund der Intensität der Streiks und der Angst vor einer Eskalation der Gewalt wie vor zwei Jahren in zahlreichen französischen Vorstädten wurde die Reform zunächst auf Eis gelegt und der Posten des Bildungsministers neu besetzt. Dabei wurden Befürchtungen geäußert, Frankreich könne in eine ähnliche Situation geraten wie Griechenland, das zum selben Zeitpunkt eine beispiellose Welle der Gewalt erlebte (Der Spiegel 2008). Bereits Anfang 2009 wurde aber die neue Initiative Lycée pour tous ins Leben gerufen, bei der Schüler-, Lehrer- und Elternschaft zu ihren Ideen hinsichtlich der Zukunft des französischen Sekundarbildungssystems befragt wurden. Der neue Bildungsminister Luc Chatel stellte dann Ende 2009 ein neues und im Vergleich zu Darcos Reformvorschlägen verwässertes Konzept zur Reform der lycées vor, das sich dieses Mal vorwiegend
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auf inhaltliche und pädagogische Aspekte konzentrierte. Oberstes Ziel ist die Gewährleistung einer stärkeren inhaltlichen Korrelation zwischen den von den Schülerinnen und Schülen erworbenen Qualifikationen und den Erfordernissen der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts. Dabei sollen leistungsschwache Jugendliche zielgerichteter unterstützt und der Unterricht flexibler und individueller gestaltet werden. Die gegenwärtigen Reformen am lycée lassen sich wie folgt zusammenfassen (Le Point 2009; MEN 2010b; 2010c): –
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zwei Stunden personalisierter Sonderunterricht in kleinen Gruppen; systematische Unterstützung für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten; Einführung von individualisierter Betreuung in der zweiten Oberstufenklasse (seconde), um die Entwicklung jedes Schülers zu verfolgen; Ausbau des integrativen gemeinsamen Unterrichtes (enseignements communs) ungeachtet des Leistungsniveaus; Freiwilliger Zusatzunterricht während der Ferien für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die das Sitzenbleiben vermeiden möchten; Möglichkeit, Leistungskurse (filières) später als bisher zu wählen und Übergangslehrgänge (stages-passerelles) in den Ferien für Schüler, die den Leistungskurs wechseln; Informatikunterricht für Schülerinnen und Schüler mit Leistungskursen (filières) im Bereich der Naturwissenschaften; Einrichtung von zwei 90-minütigen Unterrichtseinheiten enseignements d'exploration (Orientierungsunterricht) in der zweiten Oberstufenklasse zur effektiveren Vorbereitung auf den Schulabschluss; Erstellung eines Lebenslaufes für jeden Schüler mit Unterstützung der Schule.
Obwohl einige Teilaspekte des Reformpaketes noch umstritten sind und verhandelt werden, konnte sich die Regierung dieses Mal den Reformgegnern gegenüber weitgehend durchsetzen, so dass die Reform des lycée ab Ende 2010 in Kraft treten wird. Dabei wird seit 2009 auch die carte scolaire allmählich abgeschafft, so dass Eltern die Schule ihres Kindes frei wählen dürfen. Ersten Untersuchungen zufolge wird jedoch schon jetzt Kritik laut, die Liberalisierung der Schulauswahlpolitik verschärfe das Problem des Leistungsgefälles, weil die »guten Schulen« immer mehr leistungsstarke Schülerinnen und Schüler anzögen und damit das Niveau der eher unterdurchschnittlichen Schulen sinke (Baumard 2010).
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Schlussfolgerungen Die Analyse hat gezeigt, dass sich die französische Bildungspolitik in einer kritischen Phase des Wandels befindet. Nach wie vor wird das System von starker staatlicher Steuerung geprägt. Dennoch lassen sich zunehmende Versuche beobachten, die Interessen von Schüler-, Lehrer- und Elternschaft stärker in den Politikgestaltungsprozess einzubinden. Wie oben bereits angedeutet, spielen internationale Leistungsvergleiche eine zunehmend wichtige Rolle bei der Identifizierung der Schwächen des französischen Bildungssystems. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass transnationale vergleichende Statistiken und Bewertungen von Schülerleistungen wie die PISA-Studie konkrete politische Reformen begründet haben. Dies gilt insbesondere für die Reformen der Sarkozy-Regierung, die nicht nur die PISA-Ergebnisse als argumentative Strategie zur Legitimierung des eigenen Reformkurses verwendet, sondern auch aktiv diverse Versuche unternimmt, das französische Bildungswesen an die Erfordernisse der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts anzupassen. Dabei ist die Orientierung an finnischen pädagogischen Methoden und bildungspolitischen Instrumenten unverkennbar: Der Unterricht soll flexibler und individualisierter werden, die Schulen in Bezug auf pädagogische Methoden mehr Autonomie bekommen, das Betreuungsangebot weiter ausgebaut werden, das hohe Leistungsgefälle nicht weiter toleriert werden und die Zahl der Schulabbrecher sowie der redoublements deutlich reduziert werden. Wie in der Einleitung besprochen, können innenpolitische Institutionen die Reaktion eines Landes auf transnationale Prozesse und insbesondere die Ergebnisse internationaler Leistungsvergleiche wie PISA stark beeinflussen. Es wurde im französischen Falle von einer mäßigen Reaktion auf die PISA-Studie ausgegangen. Einerseits bestehen aufgrund der klaren Mehrheitsverhältnisse (keine Konstellation der cohabitation seit 2002) und der starken Machtkonzentrierung im Zentralstaat günstige Voraussetzungen für staatliches Handeln, um Defizite im Bildungswesen zu korrigieren oder gar zu überwinden. Andererseits herrscht in Frankreich eine tief verankerte Skepsis gegenüber Politiken, die als neo-liberal wahrgenommen werden und möglicherweise die Leitidee der egalité beeinträchtigen – auch wenn diverse Studien, darunter PISA, belegen, dass das Bildungswesen eher inegalité erzeugt und reproduziert. Ferner wurden in den ersten Jahren in der Öffentlichkeit weniger die PISA-Ergebnisse thematisiert, als vielmehr die vermeintlichen methodologischen Schwächen
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der Studie. Wie oben gezeigt wurde, kommt auch die Gefahr landesweiter Streiks, deren Wurzeln vorwiegend im elitären Willensbildungs- und Politikgestaltungsprozess ohne ex ante Einflussmöglichkeiten für organisierte Interessen liegen, als zusätzlicher erschwerender Faktor hinzu. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse scheint sich die Vermutung weitgehend bestätigt zu haben. Nach anhaltenden Protesten mussten wichtige Komponenten der Fillon-Reform des baccalauréat zurückgenommen werden, und nach anhaltenden Streiks tritt ab diesem Jahr eine verwässerte Version der ursprünglichen Darcos-Reform der Oberstufe (lycée) in Kraft. Als besonders förderlich für die Reform erwies sich die Beharrlichkeit Präsident Sarkozys, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger Chirac nicht vor einer Konfrontation mit den Gewerkschaften und dem linken Lager zurückschrecken musste und kurz nach einem ersten gescheiterten Anlauf ein neues Reformpaket vorstellte. Besonders interessant und womöglich widersprüchlich in diesem Zusammenhang war das Verhalten der Reformgegner: Die konkreten Reformmaßnahmen der Regierung wurden fast reflexartig als »neo-liberales Virus«, erzwungene »Amerikanisierung« und Angriff auf das Prinzip der egalité interpretiert (Sud Education 2009), auch wenn sie in Wirklichkeit vorwiegend aus Finnland und anderen Ländern mit einem hohen Grad an sozialer Gleichheit und Bildungsgleichheit entlehnt wurden. Insgesamt hat sich in Frankreich, nicht zuletzt dank der PISA-Studie, die Erkenntnis durchgesetzt, dass soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen anders gefördert, gestaltet und gewährleistet werden muss. Es bleibt in den nächsten Jahren abzusehen, ob die staatlichen Reaktionen auf die Schwächen des Systems die gewünschte Wirkung erzielen.
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Spanien – Konkurrierende Leitideen beim PISA-Absteiger
Marie Popp
Einleitung1 Demokratisierung, Europäisierung und Globalisierung haben die Modernisierung des spanischen Staates in den vergangenen Jahrzehnten vorangetrieben. Auch im Feld der Bildungspolitik hat es seit dem Ende der Diktatur im Jahre 1975 mehr Reformen gegeben als in den zwei Jahrhunderten zuvor (de Puelles Benítez 2007: 24). Wenn man die Situation im Bildungsbereich der 1970er Jahre mit der von heute vergleicht, ist dessen Entwicklung beachtlich (Maestro Martín 2006: 323): Die öffentlichen Ausgaben für Bildung wurden deutlich erhöht und der Anteil der Bevölkerung mit einem Abschluss der weiterführenden Schulbildung konnte in dieser Zeit verdoppelt werden. Trotzdem liegt das allgemeine Bildungsniveau der spanischen Bevölkerung auch heute noch weit unter dem der meisten OECD-Länder (OECD 2008), und die unterdurchschnittlichen Leistungen der spanischen Jugendlichen im internationalen Vergleich wurden durch die PISA-Ergebnisse belegt (INECSE 2005a, 2005b; Instituto de Evaluación 2007). Das öffentliche Interesse an der internationalen Bildungsstudie fällt in Spanien sehr stark aus. Allerdings war dies nicht von Anfang an der Fall, denn erst in Kombination mit den sich anschließenden Auseinandersetzungen um die Reform des Bildungssektors erlangten die PISA-Ergebnisse ihre hohe Aufmerksamkeit durch die spanische Presse. Nach 2001 gab es zwei große Reformen zur Verbesserung der Qualität der spanischen Schulbildung: Eine Bildungsreform der konservativen Regierung und eine wietere der sozialdemokratischen Regierung. Die Bildungsstudie der OECD wurde dabei zum Spielball nationaler Reforminteressen. Vor allem die Politikerinnen und Politiker der beiden Großparteien, aber auch Vertreterinnen
—————— 1 Die empirische Grundlage für diesen Beitrag bilden Dokumentenanalysen von Presseartikeln, Gesetzestexten und Sekundärquellen. Für ihre Unterstützung bei Recherchen zu diesem Beitrag danke ich Hanna Grube und Alexander Akbik.
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und Vertreter der Kirche, Wissenschaft und Pädagogik bedienten sich der PISA-Ergebnisse, um ihren Argumenten für oder gegen die jeweils beabsichtigte Bildungsreform Nachdruck zu verleihen. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, welche konkreten Veränderungen in den letzten zehn Jahren im Bildungsbereich zu verzeichnen waren und welche Rolle die PISA-Studie dabei gespielt hat. Es wird argumentiert, dass der indirekte Einfluss der OECD auf die spanischen Bildungsreformen von 2002 und 2006 unverkennbar ist. Die PISA-Studie hatte eine außergewöhnliche Präsenz in den bildungspolitischen Reformdebatten: Ihre Ergebnisse legten die Probleme des spanischen Bildungswesens offen und machten die nationalen Akteure auf die erfolgreichen Strategien anderer Länder aufmerksam. Doch der entscheidende Anlass für den zweifachen Wandel in der Bildungspolitik Spaniens liegt im Regierungswechsel von 2004 und den konkurrierenden Leitbildern der beiden Großparteien begründet. Die Analyse der Reaktionen auf die PISA-Studien gliedert sich wie folgt: Zunächst wird die Entwicklung der spanischen Bildungspolitik seit der Demokratisierung dargestellt. Im nächsten Schritt werden die Stärken und Schwächen des spanischen Bildungswesens im Lichte der PISA-Ergebnisse erläutert. Die Analyse der spanischen Reaktionen auf das schlechte Abschneiden in der internationalen Bildungsstudie unterteilt sich in einen Abschnitt über das Medienecho auf PISA und einen Abschnitt über die Bildungsreformen der letzten zehn Jahre. Die empirischen Befunde werden schließlich an die in der Einleitung (siehe de Olano et al. in diesem Band) formulierten Erklärungsfaktoren rückgebunden.
Bildungspolitik in Spanien vor PISA Spanien unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den anderen OECD-Mitgliedsstaaten. Zwar ist es seit Gründung der OECD 1961 Mitglied in dieser internationalen Organisation, doch die Demokratisierung dieses Landes erfolgte erst 14 Jahre später. Der Transitionsprozess in Spanien wurde nach dem Tod des autoritären Staatschefs General Francisco Franco im Jahr 1975 eingeleitet. Seit diesem Umbruch ist Spanien ein
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»sozialer und demokratischer Rechtsstaat«2 (Artikel 1, Verfassung von 1978) und eine »parlamentarische Monarchie« (Artikel 3).3 Die politische, ökonomische und soziale Situation des Landes hat sich seither grundlegend verändert. Mit der Demokratisierung ist Spanien aus seiner politischen Isolation herausgetreten und hat die Integration in die internationale Gemeinschaft forciert. Die Öffnung des Landes – insbesondere die Integration in die Europäische Union im Jahr 1986 – führte zu einem Modernisierungsschub im Wirtschaftssektor. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion ging zurück und der Beitrag des sekundären und tertiären Sektors stieg deutlich an. Die Gesamtwirtschaftsleistung des Landes konnte seit dem Ende der Diktatur deutlich gesteigert werden und die innerstaatliche Varianz durch die Sondersubventionen der EU für besonders strukturschwache Regionen sowie den nationalen Finanzausgleich verringert werden (Köhler 2008). Diese Veränderungen hatten auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung des Landes. In nur wenigen Jahrzehnten hat sich Spanien von einem Emigrationsland in ein Immigrationsland verwandelt. In den 1960er und 1970er Jahren waren noch viele Spanierinnen und Spanier aus ökonomischen Gründen gezwungen, in andere europäische Länder auszuwandern. Inzwischen verzeichnet Spanien die höchste Ausländerquote aller EU-Länder4 (Kreienbrink 2008).5 Die Entwicklung der spanischen Bildungspolitik seit dem Ende der Militärdiktatur ist mit den skizzierten Veränderungen eng verwoben. So war die Modernisierung des spanischen Bildungswesens von großer Bedeutung, um den veränderten Anforderungen im Wirtschaftssektor gerecht zu werden und zu den Bildungssystemen der anderen EU-Staaten aufzuschließen (Beltrán Llevador/Hernández i Dibon/Montané López 2008; Martínez Usarralde 2007). Bevor jedoch ausführlicher auf die große Bildungsreform von 1990 eingegangen wird, soll der Blick zunächst auf wesentliche Eigenschaften der spanischen Bildungspolitik gelenkt werden.
—————— 2 Alle Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche wurden von der Autorin vorgenommen. 3 Letzteres bedeutet, dass die Regierung – erstmalig in der Geschichte Spaniens – ausschließlich dem Parlament gegenüber verantwortlich ist und der Monarch nur repräsentative Aufgaben erfüllt (Barrios 2008: 55). 4 Der Sonderfall Luxemburg bleibt in diesem Vergleich unberücksichtigt. 5 Im Bildungsbereich ist die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von 53.000 in 1995 auf circa 500.000 in 2005 angewachsen (Pérez de Pablos 2005).
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Entscheidungsstrukturen und Leitideen im Bildungsbereich Die Gestaltung von Bildungspolitik stellt in Spanien eine gemeinsame Aufgabe der Zentralregierung sowie der Regierungen der verschiedenen Regionen dar (Artikel 149). Das bedeutet, dass der Zentralstaat über eine Rahmengesetzgebungskompetenz verfügt, über die er das nationale Curriculum festlegen und die Ausbildung der Lehrer kontrollieren kann. Die regionale Ebene verfügt hingegen über Kompetenzen der Ausführungsgesetzgebung und über Verwaltungsbefugnisse im Bildungsbereich. Das spanische Bildungswesen ist also weder rein zentralistisch, wie zum Beispiel in England (siehe Knodel in diesem Band), noch rein föderal organisiert, wie zum Beispiel in Deutschland (siehe Niemann in diesem Band). Es stellt vielmehr eine Mischung der beiden Organisationsformen dar (Pereyra 2002). Dieser Punkt ist erklärungsbedürftig, weil er singulär und nur aus der historischen Entwicklung des Landes heraus zu verstehen ist. Dezentralisierung der Bildungspolitik Der Übergang von der Militärdiktatur in die parlamentarische Demokratie und die Verfassung von 1978 ist das Resultat eines historischen Kompromisses, der zwischen den Modernisierungskräften innerhalb des alten Regimes und der kooperationsbereiten Fraktion innerhalb der demokratischen Oppositionsbewegung erzielt worden war (Bericat Alastuey 2003; Bernecker 2008a). Auf Basis dieser »Konsenskultur« (de Puelles Benítez 2007: 24) war es in der Transitionsphase gelungen, das über Jahrhunderte hinweg ideologisch gespaltene Land zu einen und die verschiedenen Regionen unter der Flagge einer gemeinsamen Nation zusammen zu führen. Gleichwohl wurde der großen Heterogenität der spanischen Gesellschaft und der Unterdrückung regionaler Identitäten in Zeiten der Diktatur dadurch Rechnung getragen, dass im Verfassungstext explizit auf die Anerkennung der verschiedenen Kulturen und Traditionen und das grundsätzliche Recht der regionalen Autonomie verwiesen wurde (Barrios 2008: 56). Mit der Zeit verflüchtigte sich die Atmosphäre des Transitionskonsenses und wurde von der Konkurrenz der politischen Kräfte überlagert. Insbesondere die regionalen Parteien forderten mehr Mitspracherechte zur Wahrung und Förderung der eigenen Kulturen und Traditionen ein. Zunächst gab es nur bilaterale Abkommen zwischen der regionalen und der nationalen Ebene, welche die Sonderrechte einzelner Regionen regelten.
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Später wurde die Anerkennung dieser Regionen ebenso wie die Aufteilung der Kompetenz zwischen den Ebenen auch in der Verfassung fixiert. Innerhalb weniger Jahre hat sich Spanien dadurch vom Zentralstaat zum »Staat der Autonomen Gemeinschaften« (Nohlen/González Encinar 1992) entwickelt. Insgesamt gibt es in Spanien 17 Autonome Gemeinschaften mit jeweils eigenen Länderregierungen und Einkammerparlamenten.6 Durch Verhandlungen mit der Zentralregierung erhielten anfänglich nur Andalusien, das Baskenland, Galizien, die Kanarischen Inseln, Katalonien und Valencia die Kompetenzen über die Bildungspolitik. Doch auch in den übrigen Regionen kam es nachfolgend zu bilateralen Verhandlungen mit der nationalen Führung über die jeweiligen Autonomierechte.7 Seit 2000 sind alle Regionen im Besitz dieser Befugnisse (Nohlen/Hildenbrand 2005: 188). Dies bedeutet, dass jede Region für die Ausgestaltung des Bildungswesens verantwortlich ist und eigene Schwerpunkte setzen kann. Alle Regionen müssen sich jedoch am nationalen Lehrplan orientieren und auch die Lehrerausbildung wird von nationaler Ebene gesteuert. Trotz dieser Aufteilung kommt es immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen der nationalen und der regionalen Ebene. Das Verfassungsgericht wird dabei zum Schiedsrichter und nimmt nicht selten Korrekturen an der geltenden Gesetzgebung vor (Barrios 2008: 76). Einige Regionen können auch über die ihnen zugestandenen Kompetenzen hinaus Einfluss auf die spanische Bildungspolitik ausüben. Bedingt durch die Besonderheiten des Wahl- und Parteiensystems (Barrios 2008; Friedel 2010) kommt es in Spanien nicht selten zu Minderheitenregierungen und die Stimmen der im nationalen Parlament vertretenen Regionalparteien werden zu einem begehrten Gut bei der Beschaffung von Mehrheiten. Als so genannte »Scharnierparteien« (Barrios 2008: 61) können sie somit die Richtung der nationalen Gesetzgebung beeinflussen.
—————— 6 Diese zeitversetzte Aushandlung von Autonomierechten wird auch als »asymmetrischer Föderalismus« bezeichnet. Weitere Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Autonomen Gemeinschaften und ihrer Rolle innerhalb des politischen Systems bieten zum Beispiel Friedel (2010) und Hildenbrand Scheid (2008). 7 Nur die afrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla unterstehen noch der zentralstaatlichen Autorität, weil diese Provinzen keiner Autonomen Gemeinschaft angehören.
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Die Erbschaft konkurrierender Leitideen Neben den Kompetenzstreitigkeiten und den unterschiedlichen regionalen Interessen gibt es noch andere Faktoren, die im politischen Alltagsgeschäft eine blockierende oder fördernde Wirkung entfalten können. Relativ unabhängig von der regionalen Zugehörigkeit gibt es in Spanien eine lange Tradition der ideologischen Spaltung: In der Zeit vor dem Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939, welcher das Land in die vier Jahrzehnte andauernde Militärdiktatur führte, kam es zu ständigen Machtwechseln zwischen den Konservativen und den Liberalen. Der Bruch mit der Politik der Vorgängerregierung stand in diesen Zeiten sozusagen auf der Tagesordnung. Heute hat sich die politische Realität in Spanien gewandelt und die spanische Gesellschaft ist sichtlich zusammen gewachsen. Doch nach wie vor lässt sich eine klare Trennung zwischen den politischen Kräften und ihren Leitideen ausmachen. Bezogen auf den Bildungsbereich ergeben sich die folgenden Gegensatzpaare: Gleichheit versus Freiheit und öffentliche versus private Schulbildung (siehe dazu Bonal 2000; de Puelles Benítez 2007). Früher vertreten durch die Konfrontation Staat versus Kirche, sind es heute die beiden Großpartien – die sozialdemokratische PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und die konservative PP (Partido Popular) –, welche ihr politisches Programm auf Basis einander entgegengesetzter Prinzipien und Menschenbilder entwickeln (Bernecker 2008a: 88). Natürlich zeigen sich diese Konfliktlinien auch in anderen Politikfeldern, aber im Feld der Bildungspolitik ist die Konfrontation der ideologischen Diskurse besonders stark (de Puelles Benítez 2007). Im Folgenden wird gezeigt, dass die konkurrierenden Leitideen bei der Modernisierung des spanischen Bildungswesens eine entscheidende Rolle spielten. Während die PSOE ihre Bildungsreformen inhaltlich an den Leitwerten Solidarität und Chancengleichheit ausrichtete (Nohlen/Hildenbrand 2005: 345) und Bildung in die Funktion der sozialen Entwicklung des Landes stellte, betonte die PP bei ihren Reformvorhaben die Relevanz von Bildung für die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens und orientierte sich bei der Neustrukturierung des Bildungswesens am Leistungsprinzip.
Kein Reformstau vor PISA Aufgrund der dynamischen Entwicklungen in anderen Bereichen war das spanische Bildungswesen seit der Demokratisierung einem permanenten
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Modernisierungs- und Anpassungsdruck ausgesetzt. Nachdem die 1980er Jahre von der Dezentralisierung der Bildungspolitik geprägt waren, lässt sich für die 1990er Jahre die umgekehrte Entwicklung beobachten: Die Integration in die Europäische Gemeinschaft führte zu einer Rezentralisierung der Bildungspolitik. Denn mit der Bildungsreform LOGSE (Ley orgánica de Ordenación General del Sistema Educativo) von 1990 hatte die Zentralregierung nicht nur eine Harmonisierung der regionalen Bildungssysteme untereinander, sondern auch eine Annäherung derselben an die Bildungssysteme der anderen EU-Länder im Sinn (Beltrán Llevador/Hernández i Dibón/Montané López 2008). Dem Leitprinzip der Chancengerechtigkeit folgend, veränderte die PSOE wesentliche Elemente der spanischen Schulbildung: Zum Beispiel verlängerte sie die Schulpflicht um zwei Jahre vom sechsten bis zum 16. Lebensjahr, strukturierte die Ausbildungsstufen gemäß der in der EU üblichen Standards, führte neue Lehrinhalte ein, reformierte die berufliche Erstausbildung, erneuerte wesentliche Bestandteile der Lehrerausbildung und etablierte ein Institut zur Evaluation der Bildungsqualität (Nohlen/ Hildenbrand 2005: 188–189; Martínez Usarralde 2007).8 Die zehnjährige Pflichtschulzeit unterteilt sich seither in sechs Jahre Grundschule, bestehend aus drei Zyklen à zwei Jahren, und weitere vier Jahre in der so genannten ESO (Educación Secundaria Obligatoria), unterteilt in zwei Phasen zu je zwei Jahren. Während dieser Zeit werden alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet.9 Neben der Erweiterung des Zugangs zur weiterführenden Schulbildung war die Verbesserung der Bildungsqualität ein wichtiges Ziel der LOGSE-Reform. Die erzielten Resultate in diesem Bereich sind jedoch umstritten (siehe dazu Benavente Barrera 2001). Die Leitideen der sozialdemokratischen Regierung haben die Modernisierung des spanischen Bildungswesens in entscheidender Weise beeinflusst; wie sich später zeigen wird, blieb die LOGSE-Reform der zentrale Referenzpunkt für alle nachfolgenden Reformen im Bildungsbereich (Beltrán Llevador/Hernández i Dibón/Montané López 2008: 57).
—————— 8 Das Instituto Nacional de Calidad e Evaluación (INCE) besteht bis heute. Es wurde in den nachfolgenden Jahren aber zweimal umbenannt sowie in seiner Organisation und seinen Aufgaben an die jeweiligen Weiterentwicklungen des Bildungssystems angepasst. 9 Für weitere Informationen zur Struktur des spanischen Bildungssystems siehe Martínez Usarralde (2007).
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Unterdurchschnittliches Abschneiden im Bildungsranking Spanien hat an allen drei PISA-Studien teilgenommen. Die Leistungen der spanischen Schülerinnen und Schüler lagen in allen Runden und allen Testbereichen unterhalb des OECD-Durchschnitts (siehe Tabelle 6.1). Bei PISA 2000 fand sich das Land mit 493 Punkten in der Lesekompetenz im unteren Drittel des internationalen Bildungsrankings wieder. Die Verschlechterungen der Studienergebnisse in diesem Kompetenzbereich machen Spanien in den Trendanalysen zum »PISA-Absteiger«. Zwar haben sich die Lesekompetenzen über die einzelnen Runden in vielen Ländern verschlechtert, doch im Falle Spaniens war der Leistungsrückgang mit 32 Punkten zwischen PISA 2000 und PISA 2006 besonders deutlich (Instituto de Evaluación 2007: 101; siehe Teltemann in diesem Band). Tabelle 6.1: Abschneiden Spaniens in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
493
(18.)
481
(22.)
461
(28.)
Mathematische Kompetenz
476
(21.)
485
(23.)
480
(26.)
Naturwissensch. Kompetenz
491
(19.)
487
(21.)
488
(24.)
Mittelwert der drei Bereiche
487
(20.)
484
(24.)
476
(27.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich10 in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004, 2007; OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
Weitere Schwächen des Bildungssystems werden deutlich, wenn man das Niveau der Kompetenzen betrachtet. Knapp ein Drittel der getesteten Jugendlichen kommt nicht über die niedrigste Kompetenzstufe hinaus und kann somit der Gruppe der »Risikoschüler« zugerechnet werden. Das Bildungswesen zeugt dafür jedoch von einer relativ hohen Bildungsgerechtigkeit (Instituto de Evaluación 2007: 100): Die Differenz zwischen den Besten und den Schlechtesten im Land ist nicht so groß wie in anderen Ländern und auch der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischem Hintergrund ist schwächer ausgeprägt.
—————— 10 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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In der ersten PISA-Studie wurden nur Daten zur Messung der nationalen Bildungsqualität erhoben. Mit Beginn der zweiten PISA-Runde wurden zusätzliche Erhebungen auf subnationaler Ebene durchgeführt. Bei PISA 2003 umfasste dies das Baskenland, Kastilien-León sowie Katalonien. Bei PISA 2006 kamen noch Andalusien, Aragonien, Asturien, Galizien, Kantabrien, La Rioja und Navarra hinzu. Die ersten drei Regionen, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Zusatzerhebungen zu »PISA der Regionen« bereit erklärt hatten, erzielten sowohl 2003 als auch 2006 Ergebnisse oberhalb des nationalen Durchschnitts. Dasselbe gilt für Aragonien, Asturien, Galizien, Navarra, Kantabrien und La Rioja bei PISA 2006. Die Mehrheit dieser Regionen lag mit ihren PISA-Ergebnissen sogar oberhalb des OECD-Durchschnitts (GIP 2009: 51; INECSE 2005b; Instituto de Evaluación 2007).11
Starkes Medienecho auf PISA Die öffentlichen Reaktionen auf die PISA-Studien fielen in Spanien außergewöhnlich stark aus. Mit insgesamt 277 Artikeln in der auflagenstärksten spanischen Qualitätstageszeitung El País zwischen 2001 und 2010 übersteigt die Medienaufmerksamkeit um PISA in Spanien insgesamt sogar die in Deutschland (siehe Abbildung 1.2 bei de Olano et al. in diesem Band). Ein vertiefter Blick zeigt jedoch, dass dieser hohe Wert insbesondere auf einen Anstieg des Medieninteresses ab der zweiten PISA-Studie zurück zu führen ist (siehe Abbildung 6.1). Anders als in Deutschland (siehe Niemann in diesem Band) gab es keinen unmittelbaren Aufschrei über das schlechte Abschneiden bei der internationalen Bildungsstudie (Massot Verdú/Ferrer Esteban/Ferrer Julià 2006: 394; Maestro Martín 2006: 318). Von den 46 Beiträgen, die im Anschluss an PISA 2000 in der spanischen Tageszeitung veröffentlicht wurden, erschienen nur sieben in den ersten drei Monaten nach Bekanntgabe der Ergebnisse. Die Mehrheit der spanischen PISA-Beiträge fällt in die Zeit von Frühjahr bis Winter 2002 und damit in die allgemeine Debatte um die Bildungsreform der PP-Regierung. Die Verkündung der Ergebnisse der zweiten PISA-Runde war dagegen von einem starken Medienecho in Spanien begleitet. Das öffentliche Interesse
—————— 11 Diese Varianz innerhalb der spanischen Bildungslandschaft wird durch Studien des Nationalen Evaluationsinstituts für Bildung bestätigt (siehe zum Beispiel INECSE 2003).
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entflammte sofort und übertraf die Reaktionen aller anderen Länder. Dasselbe Szenario wiederholte sich bei PISA 2006. Zusätzlich heben sich die spanischen Bildungsdebatten von denen der anderen OECD-Länder ab, weil das Interesse an PISA zwischen den dreijährigen Ergebnispräsentationen kaum abflaute, sondern wie ein roter Faden die bildungspolitische Berichterstattung durchzog. Abbildung 6.1: Berichterstattung zu PISA in der spanischen Tageszeitung El País 140 120
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Zeitungsartikel
100
103
80 60 40
46
20 0 01.12.2001– 30.11.2004
01.12.2004– 30.11.2007
01.12.2007– 31.12.2009
Quelle: Factiva-Recherche, »El País All Editions«, eigene Darstellung
PISA 2000: Politisierung der Studienergebnisse Die schlechte Platzierung Spaniens im internationalen Bildungsranking stellte keine große Überraschung dar. Die Ergebnisse der nationalen Bildungsstudien (siehe INCE 1997) oder die Studienergebnisse der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (siehe dazu Harmon/Smith/Martin 1997) hatten die unzureichende Qualität des öffentlichen Schulwesens in Spanien bereits im Vorfeld von PISA dokumentiert. Größere Aufmerksamkeit erregte daher die Vorstellung der Reformpläne seitens der konservativen Regierung. Dieses Reformvorhaben war keine Reaktion auf das schlechte Abschneiden bei PISA, sondern stellte schon
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vorher eines der Hauptziele der PP in der Sozialpolitik dar (Nohlen/Hildenbrand 2005: 346). Zur Durchsetzung und Rechtfertigung ihres Vorhabens bediente sich die nationale Führung aber ganz bewusst der schlechten Ergebnisse (Massot Verdú/Ferrer Esteban/Ferrer Julià 2006: 395). Zum Hauptstreitpunkt entwickelte sich die geplante Gliederung des Bildungssystems ab dem 15. Lebensjahr. Mit dieser Maßnahme der Leistungsdifferenzierung wollte die PP der großen Heterogenität in spanischen Klassenzimmern begegnen (Morán 2002). Viele Kritiker hielten es jedoch für paradox, dass ausgerechnet eine Gliederung nach deutschem Vorbild die Leistungen der spanischen Schülerinnen und Schüler verbessern sollte, hatte die PISA-Studie doch gerade die schwache Leistung der deutschen Jugendlichen unter Beweis gestellt (El País 2001). Unterstützung erfuhren die Kritiker in diesem Punkt von Andreas Schleicher, dem PISA-Verantwortlichen der OECD, dessen Interpretationen der spanischen Ergebnisse wiederholt Eingang in die Bildungsdebatte fanden (Schleicher 2002).
PISA 2003: Politische Konfrontationen im Feld der Bildungspolitik Mit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse von 2003 entbrannte eine heftige Debatte um die Eignung bisheriger oder zukünftiger Reformen zur Verbesserung der Qualität des Bildungswesens (Beltrán Llevador/Hernández i Dibon/Montané López 2008; Maestro Martín 2006). Die Verschlechterung der Ergebnisse im Bereich der Lesekompetenz erhöhte den Handlungsdruck auf die Bildungspolitik der nationalen und regionalen Ebene (Tobarra 2004). Die rechtskonservative PP war in ihrer Regierungsverantwortung inzwischen von der sozialdemokratischen PSOE abgelöst worden. Diese plante nun eine Bildungsreform, in der zahlreiche Veränderungen der PP wieder rückgängig gemacht werden sollten. Die PISA-Studie entwickelte sich zum wichtigsten Referenzpunkt in der Diskussion um die Defizite des spanischen Bildungssystems und deren Ursachen (Pérez de Pablos 2004). Sie wurde mal von Regierungsseite, mal von Oppositionsseite verwandt, um die Reformideen des Kontrahenten zu entwerten. Je nach politischer Färbung wurden die Ergebnisse der PISA-Studie als Beleg für oder gegen eine bestimmte Maßnahme angeführt – oftmals ungeachtet des Wahrheitsgehaltes dieser Interpretationen. Aufgrund der Tatsache, dass die sozialdemokratische Regierung im Parlament nicht über die absolute Mehrheit der Stimmen verfügte, war sie
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auf die Unterstützung der Regionalparteien angewiesen, um das Bildungsgesetz der PP durch ein neues ersetzen zu können. Wenige Wochen vor Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse von 2003 hatte die Bildungsministerin San Segundo deshalb bereits einen Entwurf zur erneuten Reformierung des Schulwesens vorgelegt (siehe MEC 2004). Mit dieser Initiative eröffnete die PSOE den Reformdialog mit den verschiedenen Akteuren der spanischen Bildungsarena, welcher von zahlreichen Veranstaltungen und Verhandlungen begleitet wurde und sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren hinzog. Am Ende reichte es zwar für die erforderliche Parlamentsmehrheit, um das neue Bildungsgesetz zu verabschieden, aber die PSOE verfehlte ihr Ziel, die Legitimation ihrer Reform durch einen Konsens zwischen den Schlüsselakteuren im Bildungssektor zu erhöhen (Tiana Ferrer 2007). Einen sehr starken Eindruck hinterließen in diesem Zusammenhang die bei PISA 2003 aufgezeigten regionalen Leistungsunterschiede. Neben die Auseinandersetzungen der sozialdemokratischen PSOE mit den konservativen Kräften aus PP und Kirche einerseits und der Bildungsgemeinschaft andererseits (El País 2006b; Pérez de Pablos 2005), traten damit auch noch Differenzen zwischen nationaler und regionaler Ebene (El País 2006a; Navarro 2005), wodurch die »politische Atmosphäre [zusätzlich] vergiftet« wurde (Bernecker 2008a: 97). Die Tatsache, dass alle drei Regionen, die sich 2003 an der PISA-Studie beteiligt hatten, deutlich besser abschnitten als der Rest des Landes (El País 2004), erschwerte einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Kräften im Feld der Bildungspolitik. Die Konfrontation zwischen den verschiedenen politischen Kräften im Land beschränkte sich nicht auf das Feld der Bildungspolitik, sondern wurde von einer generellen Tendenz der Politisierung aktueller Probleme in den spanischen Medien begleitet (Aguilar 2008).
PISA 2006: Eskalation und Neuanfang Wie stark das öffentliche Interesse an den PISA-Ergebnissen über die Jahre angewachsen war, offenbarte sich im Rahmen von PISA 2006 auf sehr eindrucksvolle Weise. Die anhaltende Verschlechterung der Schülerleistungen im Bereich der Lesekompetenz entfachte den Streit zwischen Opposition und Regierung um die Bewertung der beiden Bildungsreformen aufs Neue (El País 2007; Pérez de Pablos 2007). Zusätzliche Befeue-
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rung erfuhren die politischen Konfrontationen zwischen PP und PSOE dadurch, dass die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Dezember 2007 in die heiße Phase des Wahlkampfes fiel. Noch offensiver als zuvor wurden die Ergebnisse der Bildungsstudie verwandt, um die eigene Position zu stützen. Von diesem Spiel wurde erneut von beiden Seiten Gebrauch gemacht, wobei die Rhetorik der PP mit Mariano Rajoy an der Spitze als tendenziell aggressiver wahrgenommen wurde (Bernecker 2008a). Die PP kündigte an, die Bildungsreform der sozialdemokratischen Regierung erneut rückgängig machen zu wollen, wenn sie die Mehrheit bei den Parlamentswahlen erzielen sollte (Aunión/Cué 2008). Besonderen Anlass zur Diskussion bot in dieser PISA-Debatte das unterschiedliche Abschneiden der einzelnen Regionen. Während an PISA 2003 nur drei Autonome Gemeinschaften beteiligt waren, lagen bei PISA 2006 die Schülerleistungen von insgesamt zehn Regionen vor. Die regionalen Leistungsdifferenzen wurden auf die Unterschiede zwischen den Bildungssystemen der einzelnen Regionen zurückgeführt und entwickelten sich dadurch zum Politikum – sowohl hinsichtlich der Eignung der neuen Bildungsreform der nationalen Ebene als auch hinsichtlich der Privilegien einzelner Autonomer Gemeinschaften.12 Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2008 kam es nicht zu einem erneuten Machtwechsel, sondern zu einer Fortsetzung der Minderheitenregierung der PSOE unter der Führung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero. Die Wahlergebnisse wurden in der Retrospektive als Abstrafung der PP für ihren konfrontativen Politikstil einerseits und der Regionalparteien für ihre offensiven Abspaltungspolitiken andererseits interpretiert. Die politischen Kräfte waren somit aufgefordert, auf den Pfad kooperativer Kommunikations- und Aushandlungsformen zurück zu finden, um die Einheit des Landes und die Stabilität der Demokratie nicht weiter zu gefährden (Bernecker 2008a). Das galt natürlich auch für das (Schlacht-)Feld der Bildungspolitik. Eine leichte Entspannung und Versachlichung des öffentlichen Diskurses als Reaktion auf den politischen Neuanfang lässt sich auch im Kontext der dritten PISA-Debatte beobachten.
—————— 12 Zur Debatte um die Neuverhandlung der Autonomiestatute seit dem Machtwechsel von 2004 siehe Bernecker (2008a) und Hildenbrand Scheid (2008). Zu den Besonderheiten des Konfliktes zwischen der nationalen Führung und der separatistischen Bewegung im Baskenland siehe Bernecker (2008b).
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Die internationale Dimension der spanischen Bildungsdebatten Insgesamt zeichnen sich die spanischen PISA-Debatten durch eine starke Politisierung des Bildungsthemas und eine eher national orientierte Themensetzung aus. Das Abschneiden Spaniens in der internationalen Bildungsstudie wurde über alle Runden hinweg zum Anlass genommen, zurückliegende oder zukünftige Reformen einer Bewertung zu unterziehen. Die Präsenz von OECD-Repräsentanten und ihrer Empfehlungen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des spanischen Bildungssystems stieg über die Jahre an, spielte im Gegensatz zu Mexiko (siehe Popp zu Mexiko in diesem Band) jedoch eine untergeordnete Rolle. Charakteristisch für die spanischen PISA-Debatten war hingegen die Vielzahl transnationaler Bezugnahmen, womit der Verweis auf die Stärken und Schwächen von Bildungssystemen anderer OECD-Länder gemeint ist. In der Debatte um PISA 2000 kreiste das allgemeine Interesse um den deutschen »PISA-Schock«. Ungefähr jeder fünfte Beitrag thematisierte das schlechte Abschneiden des einstigen »Wirtschaftswunder«-Landes im Verhältnis zu den spanischen PISA-Ergebnissen: »Die Krise des deutschen Modells« (Comás 2004). In den Debatten um PISA 2003 und 2006 standen die Bildungsmodelle der »PISA-Gewinner«, wie zum Beispiel Finnland – »Das finnische ›Wunder‹« (Soto 2004b) –, und der »PISA-Aufsteiger«, wie zum Beispiel Polen, im Mittelpunkt des Interesses. Mit Verweis auf diese Positivbeispiele forderten die nationalen Akteure vor allem die Verbesserung der Lehrqualität und eine Hinwendung zur individuellen Förderung. Über die Jahre entwickelte sich PISA zum wichtigsten Referenzpunkt des öffentlichen Bildungsdiskurses (Moreno 2008). Kein anderes Bildungsthema hat in der Vergangenheit so viele Seiten in den spanischen Zeitungen gefüllt (Marchesi 2006: 337). Seit Dezember 2004 schreibt kein Journalist mehr einen Beitrag zur spanischen Bildungssituation, ohne die Ergebnisse der PISA-Studie zur Stützung seiner Argumente zu verwenden (Maestro Martín 2006: 318). Die öffentlichen Reaktionen auf PISA deuten damit bereits an, welchen Einfluss die Bildungsstudien der OECD auf die Gestaltung der spanischen Bildungspolitiken hatten: Anregung zum transnationalen Politiklernen und zur evidenzbasierten Bildungspolitik (Massot Verdú/Ferrer Esteban/Ferrer Julià 2006: 395; Moreno Moreno 2008).
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Reformstreit nach PISA Im letzten Jahrzehnt wurden zwei große Reformen zur Verbesserung der Qualität des spanischen Bildungswesens realisiert: Zum einen die Bildungsreform LOCE (Ley Orgánica de Calidad de la Educación) der konservativen PP-Regierung im Jahr 2002, zum anderen die Bildungsreform LOE (Ley Orgánica de Educación) der sozialdemokratischen PSOE-Regierung im Jahr 2006. Im nächsten Abschnitt werden die Reforminhalte und Reformprozesse im direkten Vergleich dargestellt. In der inhaltlichen Dimension lassen sich die Bildungsreformen gemäß der konkurrierenden Leitideen der beiden Großparteien unterscheiden: Bei der LOCE-Reform steht die Weiterentwicklung des Bildungswesens nach dem Leistungsprinzip im Mittelpunkt; bei der LOE-Reform dominiert das Prinzip der Chancengleichheit. Die Unterschiede in der Dimension des politischen Prozesses sind dagegen den politischen Konstellationen der jeweiligen Phase geschuldet. Die LOCE-Reform konnte von der PP sehr schnell und ohne vorherige Debatte verabschiedet werden, weil sie zu dem Zeitpunkt über die absolute Mehrheit im Parlament verfügte. Der Reformprozess um das neue LOEGesetz dauerte dagegen sehr lang und war vom Stil der Aushandlung geprägt, weil die PSOE als Minderheitenregierung auf die Stimmen der anderen Parteien angewiesen war.
Fortbestand konkurrierender Leitideen Sowohl die LOCE-Reform als auch die LOE-Reform beziehen sich auf den gesamten Bereich der nicht-universitären Bildung, umfassen also auch den Bereich der frühkindlichen Bildung sowie den Bereich der nicht-obligatorischen Sekundarbildung. Für den Vergleich der beiden Reformen sind hier jedoch nur die Veränderungen in der verpflichtenden zehnjährigen Schulbildung von Interesse. Zu diesem Zweck werden zwei Vergleichsaspekte herausgegriffen, die besonders umstritten waren und bei denen der unterschiedliche Charakter der beiden Reformen sehr deutlich wird: Schulstruktur und Curriculum.
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Reform nach dem Leistungsprinzip Mit der LOCE-Reform verfolgte die konservative Partei die Verwirklichung ihrer Leitidee der Leistungssteigerung im Bildungsbereich (Nohlen/Hildenbrand 2005: 346). Damit verstärkte sie das Gegenteil des von der sozialdemokratischen Partei verfolgten Ideals der Integration und Chancengleichheit. Mit der Einführung des neuen Bildungsgesetzes beseitigte die PP wesentliche Elemente des von der PSOE 1990 verabschiedeten Bildungsgesetzes LOGSE (siehe oben). Auf Kritik stieß dabei vor allem die geplante Erneuerung der Schulstruktur. Die konservative Regierung sah mit ihrem neuen Bildungsgesetz eine Trennung der spanischen Schülerinnen und Schüler ab dem 15. Lebensjahr vor. Entscheidendes Kriterium für die Aufteilung der Schülerschaft in unterschiedliche Gruppen waren deren schulische Leistungen gegen Ende des ersten Zyklus der ESO, sprich am Ende der achten Klasse. Begründet wurde diese Selektion mit den großen Leistungsunterschieden der Jugendlichen dieser Altersgruppe. Durch die Aufteilung in homogene – leistungsstarke und leistungsschwache – Lerngruppen könnten die Lehrerinnen und Lehrer den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler besser gerecht werden, so die Argumentation der PP (Morán 2002). Ein weiterer sehr umstrittener Punkt war die Einführung von Religion als Pflichtfach. Die katholische Kirche hat zwar seit jeher großen Einfluss auf die Bildung in Spanien ausgeübt, doch gerade die Dualität von katholischen Privatschulen einerseits und öffentlicher Schulbildung andererseits hatte die Natur des spanischen Bildungswesens im 20. Jahrhundert geprägt (Bonal 2000). Mit der Einführung des obligatorischen Religionsunterrichts wurde dieses Prinzip der Trennung von staatlicher und konfessioneller Bildung aufgehoben. Diese Maßnahme der PP lässt sich weniger auf ihre Leitidee der Leistungssteigerung als vielmehr auf die konservative Gesinnung der Partei und ihre Nähe zur katholischen Kirche zurückführen. Reform nach dem Gleichheitsprinzip Die LOE-Reform von 2006 bedeutete eine Abkehr vom eingeschlagenen Reformpfad der PP und eine Rückbesinnung auf das Bildungsmodell, welches die sozialdemokratische Partei mit ihrem LOGSE-Gesetz von 1990 etabliert hatte. Damit wurden wesentliche Absichten zur Veränderung des Schulwesens wieder rückgängig gemacht. Mit diesem neuen Bildungsgesetz wurde die Gliederung der ESO aufgehoben und das Prinzip des gemein-
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samen Lernens von der Grundschule bis zum ersten Schulabschluss wieder zu einer Kerneigenschaft des spanischen Schulsystems. Für die PSOE war dieses Prinzip von zentraler Bedeutung bei der Verwirklichung ihrer Leitideen von Chancengleichheit und sozialer Integration. Der erneute Richtungswechsel blieb jedoch nicht ohne Kritik (Tiana Ferrer 2007), denn insbesondere Strukturreformen sind mit großen Anstrengungen und Unsicherheiten für die Schulebene, also für die Schulleitungen, die Lehrerschaft, die Elternschaft und nicht zuletzt für die Schülerinnen und Schüler selbst, verbunden. Tabelle 6.2: Ausgewählte Aspekte der Bildungsreformen von 2002 und 2006 LOCE (2002) LOE (2006) Ziele
Verbesserung der Bildungsqualität
Qualitative Schulbildung für alle
Stärkung des Prinzips der Stärkung des Leistungsprinzips Chancengleichheit Maßnahmen Trennung der Schülerinnen und Aufhebung der Gliederung in Schüler im letzten Ausbildungs- der ESO zyklus der ESO (ab 14 Jahren) Erhöhung der öffentlichen nach ihrem Leistungsstand Bildungsausgaben Förderung der Schulautonomie Förderprogramme für Modifizierung der Rektorenbenachteiligte Schülergruppen auswahl Einführung von Werteunterricht Einführung von Sanktionsals Pflichtfach möglichkeiten gegen Lehrkräfte Umbenennung des Nationalen Einführung von Religion als Evaluationsinstituts in Instituto de Pflichtfach Evaluación und Erweiterung seiner Funktionen Umbenennung des Nationalen Evaluationsinstituts in INECSE (Instituto Nacional de Evaluación y Calidad del Sistema Educativo) und Neudefinition seiner Funktion Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Beltrán Llevador/Hernández i Dibón/Montané López 2008; Digón Regueiro 2003; Eurydice 2008; Martínez Usarralde 2007
Großen Streit gab es auch um die Einführung eines weiteren Pflichtfaches: Werteunterricht (Educación para la Ciudadanía y los Derechos Humanos). Ganz ähnlich der Absicht der PP vier Jahre zuvor, war es auch für die PSOE von
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großer Bedeutung, dass in der spanischen Schulbildung Raum für die Auseinandersetzung mit Fragen geschaffen wurde, welche sie als wichtig erachtete. Dabei ging es nicht um Fragen des Glaubens, sondern um Themen wie Menschenrechte oder gesellschaftliches Zusammenleben. Die Auseinandersetzungen um dieses neue Schulfach sind repräsentativ für die heftigen Konfrontationen der beiden politischen Lager während dieser Zeit.
Unterschiede im Reformprozess Schnelle Durchsetzung der Reform Die Korrektur der Bildungsreform von 1990 war lange vor Erscheinen der PISA-Ergebnisse eines der wichtigsten Ziele der konservativen Regierungspartei im Sozialbereich (Nohlen/Hildenbrand 2005: 346). Während ihrer ersten Legislaturperiode (1996 bis 2000) war es der PP trotz mehrfacher Versuche nicht gelungen, die Mehrheit des spanischen Parlaments für ihre Reformideen zu gewinnen (Tiana Ferrer 2007: 85). Erst mit Erreichen der absoluten Mehrheit durch die Wahlen von 2000 konnten die Konservativen ihre Gesetze zur Reformierung der Hochschulbildung, der Berufsbildung und der allgemeinen Schulbildung durchbringen. Auf die beiden erstgenannten Reformen wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen,13 weil sie nur in einem indirekten Zusammenhang mit der in PISA getesteten Leistungsfähigkeit des nationalen Bildungswesens stehen. Es soll aber erwähnt werden, dass das Gesetz zur Reform der Berufsbildung nach wie vor in Kraft ist, während das Universitätsreformgesetz von der Nachfolgerregierung durch ein anderes Reformgesetz ersetzt wurde. Weil die konservative Partei allein über die Mehrheit im spanischen Parlament verfügte, war sie bei der Initiation und Verabschiedung der Bildungsreform nicht auf eine Kooperation mit anderen Parteien angewiesen. Auch im Senat kam es zu keiner Blockade der Reforminitiative, da die PP in dieser Zeit auch in den Regionen stark aufgestellt war. Es verstrich folglich kaum Zeit zwischen der Vorstellung des Reformvorhabens und der Verabschiedung desselben. Die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Bildungsgemeinschaft auf das neue Bildungsgesetz der PP fielen unterschiedlich aus. Nicht wenige Lehrkräfte befürworteten die Reform (Nohlen/Hildenbrand 2005: 346),
—————— 13 Zu den Reformen im Hochschulbereich siehe Hernandez Sandoica (2008).
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weil sie in der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach Leistungsgruppen eine Chance sahen, der großen Heterogenität in den Klassenräumen gerechter zu werden und den hohen Schulvermeidungs- und Abbrecherquoten im Sekundarbereich zu begegnen. Es gab aber auch zahlreiche Gegendemonstrationen sowie öffentliche Bekundungen von Bildungsverbänden, Gewerkschaften und Stiftungen, die sich gegen die Reforminhalte, aber vor allem gegen den autoritären Politikstil der PP aussprachen. Insbesondere der fehlende Reformdialog mit den Schlüsselakteuren des Bildungsbereiches wurde als undemokratisch beklagt (Tiana Ferrer 2007: 85). Langwierige Aushandlung der Reform Die Revision der Bildungsreform von 2002 stellte eines der Wahlversprechen der sozialdemokratischen Partei im Vorfeld der Parlamentswahlen von 2004 dar. Unmittelbar nach Abwahl der PP und Vollendung der Regierungsbildung veranlasste die PSOE die Unterbrechung der Implementierung der LOCE-Reform durch ein Verfügungsgesetz. Nur wenige Monate danach stellte die neue Bildungsministerin ihren Reformentwurf vor (siehe MEC 2004). Zwischen dieser Reformankündigung und der Verabschiedung des LOE-Gesetzes im Mai 2006 lagen fast zwei Jahre. Diese Zeit war nötig, um die verschiedenen Konfliktparteien und Interessengruppen im Bildungsbereich einerseits von der Notwendigkeit einer erneuten Bildungsreform zu überzeugen und sich andererseits auf die Inhalte zu verständigen. Dafür bedurfte es zahlreicher öffentlicher Bildungsveranstaltungen und informeller Treffen der Bildungsministerin mit verschiedensten Bildungsakteuren auf allen Ebenen des Systems. Die Stimmen der PSOE allein hätten für eine Verabschiedung des Gesetzes nicht ausgereicht. Im Gegensatz zur konservativen Vorgängerregierung verfügte die sozialdemokratische Regierung Zapateros nicht über die Parlamentsmehrheit und war somit auf eine Kooperation mit den Regionalparteien angewiesen. Die heftigen Auseinandersetzungen mit dem konservativen Lager, welche sich über die gesamte erste Legislaturperiode erstreckten (Bernecker 2008a: 103), wirkten sich jedoch sehr negativ auf das Finden eines Kompromisses oder gar die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den relevanten Bildungsakteuren – wie es von vielen Seiten gefordert wurde (Tiana Ferrer 2007: 85) – aus. Im November 2005 kam es erneut zu einer großen Demonstration in Madrid, bei welcher verschiedene Interessenverbände des Bildungsbereiches ihren Unmut über die geplante Bildungsre-
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form zum Ausdruck brachten – nur dass es sich dieses Mal um die Gegenseite handelte. Der PSOE gelang es schlussendlich, die nötigen Parlamentsund Senatsmehrheiten für die wichtigsten Ideen ihrer Bildungsreformen zusammen zu bekommen und die Bildungsgesetze der PP durch das LOEGesetz zu ersetzen. In allen Phasen dieses Aushandlungsprozesses erfuhr das Instrument des transnationalen Politiklernens eine starke Betonung. Bereits für den Entwurf des Reformvorhabens hatte eine Delegation des Bildungsministeriums verschiedene Länder (unter anderem Finnland), deren Bildungssysteme sich in der PISA-Studie als besonders leistungsfähig herausgestellt hatten, bereist (Soto 2004a), um die Reform des spanischen Schulwesens an internationalen best practice-Beipielen zu orientieren sowie gleichzeitig ihre Legitimation zu erhöhen.
Zehn Jahre PISA in Spanien: Eine Bilanz Das spanische Fallbeispiel sticht durch viel bildungspolitischen Wandel innerhalb des letzten Jahrzehnts hervor. In Spanien ging es nicht um die Frage, ob eine Modernisierung des nationalen Bildungswesens zur Verbesserung der Bildungsqualität nötig sei oder nicht, sondern um die Frage, wie eine Modernisierung ausgestaltet werden sollte. Das Resultat war eine Doppelreform der spanischen Schulbildung. Im Anschluss an PISA 2000 verabschiedete die konservative Regierung ein Gesetz zur Verbesserung der Bildungsqualität durch die Einführung des Leistungsprinzips. Im Anschluss an PISA 2003 veranlasste die neue sozialdemokratische Regierung eine Reform der Reform, welche die Bildungspolitik wieder auf den ursprünglichen Kurs zurückbrachte und das Prinzip der Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellte. Die PISA-Studie der OECD spielte in den Debatten um diese Bildungsreformen eine entscheidende Rolle. Die öffentlichen Auseinandersetzungen zeugten von einer starken Politisierung der PISA-Studie hinsichtlich der Interpretationen der spanischen Ergebnisse und daraus ableitbaren Handlungsempfehlungen. Befürworter und Gegner der jeweiligen Reform bedienten sich gleichermaßen der internationalen Bildungsstudie, um ihren Positionen eine größere Legitimation zu verleihen. Beide Reforminitiativen weisen Übereinstimmungen mit den von der OECD verbreiteten Prinzipien zur Förderung der Leistungsfähigkeit nationaler Bil-
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dungssysteme auf (siehe dazu Popp 2010). Allerdings knüpfen sie an zwei entgegengesetzten Punkten des OECD-Leitbildes an: Die PP bediente sich der Ideen der internationalen Organisation, um die Einführung des Leistungsprinzips auf verschiedenen Ebenen des Bildungssektors zu rechtfertigen. Die PSOE bediente sich ihrerseits der internationalen Bildungsstudie, um die Relevanz von Integration und Chancengleichheit bei der Bewertung von Bildungsqualität zu betonen. Die erfolgreichsten Bildungssysteme zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass es ihnen gelingt, das Leistungsprinzip mit dem Gleichheitsprinzip zu kombinieren, um allen Schülerinnen und Schülern zum maximalen Lernerfolg zu verhelfen (zum Beispiel OECD 2010). Abgesehen von der ideologisch bedingten Einseitigkeit der jeweiligen Darstellung und Interpretation der OECD-Bildungsdaten, hat sich die PISA-Studie in den letzten Jahren zu einem wichtigen Referenzpunkt der spanischen Bildungspolitik entwickelt. Über den Mechanismus des internationalen Bildungsvergleiches ist es gelungen, die Akteure der nationalen und regionalen Ebene für erfolgreiche Bildungsstrategien in anderen Ländern zu gewinnen. Die Suche nach positiven Beispielen im Inund Ausland, bei der die PISA-Daten als besonders hilfreich angesehen wurden (Massot Verdú/Ferrer Esteban/Ferrer Julià 2006: 395; Moreno 2008), hat sich zu einem der wichtigsten Instrumente der spanischen Bildungspolitik entwickelt. Hinsichtlich der drei potentiellen Erklärungsfaktoren für die spanischen Reaktionen auf PISA ergibt sich folgende Gewichtung: Die größte Erklärungskraft für den doppelten Wandel in der spanischen Bildungspolitik bietet die historisch-ideelle Entwicklung des Landes. Die ideologische Spaltung des Landes, welche das Bild der »zwei Spanien« in der Zeit vor dem Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre in Erinnerung ruft, wurde durch die Konfrontation der beiden Großparteien aufs Neue entfacht und hat sowohl die Reform von 2002 als auch die Reform der Reform von 2006 entscheidend befördert. Beide Leitbilder lassen sich an die Leitideen der OECD im Bildungsbereich anknüpfen. Die Diskrepanz zwischen den Leitideen der nationalen und internationalen Ebene ist folglich nicht die entscheidende Ursache für den Wandel. Dennoch hatte der durch die Verschlechterung der PISA-Ergebnisse erzeugte Problemdruck eine starke Wirkung auf die Intensität der spanischen Bildungsdebatten. Keine Rolle spielte dagegen der Problemdruck vor PISA. Denn nach der Demokratisierung des Landes wurde das spanische Bildungswesen kontinuierlich weiterentwickelt, um es an die äußeren und inneren Erfordernisse anzupassen.
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Die Besonderheiten des politischen Systems – allen voran das Parteiensystem sowie die Autonomie der Regionen – beförderten die Politisierung der Auseinandersetzungen im Bildungsbereich zusätzlich, entfalteten aber keine Vetomacht, welche eine der beiden Reformen verhindert hätte. Im ersten Fall war die PP im Besitz der absoluten Parlamentsmehrheit und im zweiten Fall war die PSOE als Minderheitenregierung ohnehin auf einen Kompromiss mit den Regionalparteien angewiesen. Der deutliche Abstieg Spaniens in den PISA-Ergebnissen der letzten beiden Runden lässt nicht darauf schließen, dass sich bei PISA 2009 die Leistungen der spanischen 15-Jährigen im Bereich der Lesekompetenz gegenüber den Werten von PISA 2000 verbessert haben werden. Eine Fortsetzung der leidenschaftlich geführten PISA-Debatten ist daher sehr wahrscheinlich. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre in den Blick nehmend, ergibt sich für die zukünftige Entwicklung der spanischen Bildungspolitik die folgende Frage: Sollte die PSOE die nächsten Parlamentswahlen in 2012 verlieren, wird die Bildungsreform dann erneut rückgängig gemacht? Aufgrund der Entschärfung der politischen Konfrontationen zwischen PP und PSOE (Bernecker 2008a: 104) ist nicht davon auszugehen, dass das Bildungssystem nach einem Machtwechsel noch einmal grundlegend verändert würde. Dies erscheint auch ratsam, schließlich können Bildungsreformen nur dann eine Wirkung entfalten, wenn sie auch implementiert werden und die Rahmenbedingungen für das tägliche Lernen innerhalb wie außerhalb der spanischen Klassenzimmer nachhaltig verbessern können.
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England – PISA und die »pick and choose«-Strategie
Philipp Knodel
Einleitung1 »Education, Education, Education« – nur selten wurden die Prioritäten einer Regierung so unmissverständlich formuliert wie von Premierminister Tony Blair bei seinem Amtsantritt 1997. Das Vereinigte Königreich sollte auch in einer sich globalisierenden Welt eine entscheidende Rolle spielen. Die Dinge kamen aber anders. In der ersten Runde der PISA-Studie 2000 belegten englische Schülerinnen und Schüler vordere Rangplätze. Das Ergebnis war deutlich besser als erwartet, denn in früheren internationalen Vergleichen hatte England nur mäßig abgeschnitten. PISA war für englische Politikerinnen und Politiker und die Öffentlichkeit der Beweis, dass das englische Bildungssystem zu den besten der OECD-Welt gehörte. Die zweite PISA-Studie 2003 verzerrte dieses Bild: England fiel auf mittlere Rangplätze zurück. Aufgrund geringer Rücklaufquoten wurden die Ergebnisse im Einverständnis mit der britischen Regierung nicht veröffentlicht. Die Folge waren kritische Stimmen in den Medien sowie von Bildungsexperten aus Praxis und Wissenschaft. Der negative Trend bestätigte sich schließlich auch 2006 in der dritten PISA-Studie. England belegte erneut nur mittlere Rangplätze. Das Interesse der Öffentlichkeit sowie englischer Politikerinnen und Politiker an der PISA-Studie war insgesamt eher gering. Der Umgang der britischen Regierung mit den Ergebnissen kann als »pick and choose«-Strategie beschrieben werden: Gute Ergebnisse wurden als Beweis für effiziente Bildungspolitik gefeiert, schlechte ignoriert (Knodel/Walkenhorst 2010).
—————— 1 Die empirische Grundlage für diesen Beitrag sind 15 Experteninterviews, die zwischen November 2007 und Januar 2008 von Heiko Walkenhorst durchgeführt wurden. Interviewpartner waren englische Politiker, Gewerkschaftsvertreter, Bildungsexperten und Wissenschaftler. Für Unterstützung bei den Medienanalysen und der Erstellung dieses Beitrages danke ich Hanna Grube, Valentina Sommer und Anja Schachtebeck.
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In diesem Kapitel wird gezeigt, dass sich in den letzten Jahren die bildungspolitische Debatte in England verändert hat. Obwohl PISA bislang keine politischen Reformen zur Folge hatte, erkennen Politikerinnen und Politiker, Bildungsexperten und nationale Medien den Einfluss und die Bedeutung der Studie. England beginnt, den Wettbewerb um vordere Rangplätze, internationale Reputation und vor allem um internationale Wettbewerbsfähigkeit im Bildungsbereich anzunehmen. Die Analyse der Reaktionen in England auf die PISA-Studien ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird ein Überblick über die Strukturen und Traditionen englischer Bildungspolitik sowie die wichtigsten Reformen der Nachkriegszeit gegeben. Anschließend wird das Abschneiden englischer Schülerinnen und Schüler in den PISA-Studien erläutert. Die Reaktionen englischer Zeitungen sowie Politikerinnen und Politiker auf die Veröffentlichung werden für jede Studie diskutiert. Hier werden insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der Regierungs- und Oppositionspartei sowie beratende Bildungsexperten berücksichtigt. Die empirischen Befunde werden schließlich an die Erklärungsfaktoren (siehe de Olano et al. in diesem Band) rückgebunden. Insbesondere die weitgehende Übereinstimmung der nationalen Leitideen mit den Vorstellungen der OECD scheint für den englischen Fall als Erklärungsvariable relevant zu sein.
Englische Bildungspolitik vor PISA2 In England ist die Zentralregierung zuständig für Bildung.3 Das Department for Children, Schools and Families (DCSF) ist verantwortlich für die Ausführung von Gesetzen sowie die Einhaltung von Bildungsstandards. Es bestimmt die Richtung der nationalen Bildungspolitik.4 Die Überprüfung der
—————— 2 Der folgende Abschnitt basiert im Wesentlichen auf dem Buch Education in a Post-welfare Society von Sally Tomlinson (2005) sowie Berichten von Eurydice zur englischen Bildungspolitik (2006, 2009a, 2009b). 3 Da die Bildungssysteme von Wales, Schottland und Nordirland historisch sowie politisch unterschiedlich sind, werden in diesem Beitrag nur die englischen Reaktionen auf die PISA-Studien untersucht. Die Reaktionen auf die PISA-Studien in Schottland werden in einem Forschungsprojekt an der Universität Edinburgh untersucht (Knowledge and Policy in Education and Health Sectors, http://www.knowandpol.eu). 4 Das Department for Children, Schools and Families wurde im Juni 2007 gegründet. Zuvor war das Department for Education and Skills (DfES) zuständig für Bildung. Seit dem Regie-
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Leistungen von Schulen über die Messung von Schülerkompetenzen hat in England eine lange Tradition. Mit dem Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills (OFSTED) verfügt die Regierung über eine Institution, welche die Effizienz des englischen Bildungssystems überwacht. Auf lokaler Ebene sind die Local Authorities (LAs) wichtige Akteure. Sie organisieren die staatlich finanzierten Schulen – die so genannten maintained schools – in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbezirk, etwa durch die Verteilung von finanziellen Mitteln oder die Vergabe von Schulplätzen. Der Einfluss der LAs variiert jedoch bei den einzelnen Schultypen (community schools, foundation schools, voluntary schools). Im Schuljahr 2008/2009 besuchten 92 Prozent aller englischen Schülerinnen und Schüler staatlich finanzierte Schulen (Office for National Statistics 2009: 29). Solange sich Schulen an das nationale Curriculum halten, können sie besondere inhaltliche Schwerpunkte setzen. Voraussetzung für eine solche Spezialisierung ist ein gewisser Anteil an Mitteln aus dem Privatsektor, etwa durch Spenden. Diese so genannten specialist schools bekommen dann zusätzliche öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt. Vollständig außerhalb des öffentlichen Sektors sind non-maintained schools. Sie werden durch gemeinnützige Organisationen, Firmen oder Individuen finanziert. Die Ursprünge englischer Bildungspolitik im frühen 19. Jahrhundert sind eng mit liberalen Ideen verknüpft: Individuen erlernen Fähigkeiten, die sie in verschiedensten Kontexten anwenden können (für historische Perspektiven auf liberale Bildungskonzepte siehe Rothblatt 1976; Sanderson 1993). Diese Vorstellung von Bildung wurde in öffentlichen Schulen sowie dem öffentlichen Dienst aufrecht erhalten und dominierte das englische Bildungswesen auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Entstehen des Wohlfahrtsstaates nach 1945 bestimmten Konzepte von Gerechtigkeit und Gleichheit die Bildungspolitik. So verankerte etwa 1944 der Butler Act das Recht auf freie Bildung für alle Schülerinnen und Schüler. In den 1980er Jahren hat sich das englische Bildungssystem grundlegend verändert. Dieser Wandel ist entscheidend, um die englischen Reaktionen auf PISA zu verstehen. Er vollzog sich als kontinuierlicher Prozess von Reformen. Ausgangspunkte waren niedrige Wachstumsraten und eine geringe Produktivität der britischen Wirtschaft, was durch den hohen
—————— rungswechsel im Mai 2010 ist das Department for Education unter Michael Gove verantwortlich für Bildungspolitik. Die Reaktionen auf die PISA-Studie fallen jedoch in die Zeit der New Labour Regierung und somit des DfES, beziehungsweise des DCSF.
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Ölpreis zu einer ökonomischen Krise führte. Eine Folge dieser Krise war die Änderung bildungspolitischer Strategien. Im Gegensatz zu der auf Bildungsgerechtigkeit ausgerichteten Politik der Nachkriegszeit wurde vor allem von konservativen Politikerinnen und Politikern mehr Wettbewerb und Selektion im Bildungssystem gefordert. Eine Rede des damaligen Premierministers im Ruskin College in Oxford 1976 war der Beginn einer breiten Debatte über den Zustand und die Zukunft des englischen Bildungssystems. James Callaghan kritisierte unter anderem die zu große Autonomie von Lehrern und forderte eine leistungsbezogene Finanzierung von Schulen. Bis heute prägen die Inhalte dieser Rede die englische Bildungspolitik (Fallis 2007: 81). Nach dem Regierungswechsel im Mai 1979 veränderte sich die Richtung der Bildungspolitik. Die Rhetorik konservativer Politiker beschränkte sich dabei vor allem auf die Wahlfreiheit des Individuums und die Verbesserung von Bildungsqualität durch die Förderung des Wettbewerbs zwischen Schulen. Alte Bildungskonzepte der Vorkriegszeit wurden als eine Art »victorian laissez-faire individualism« (Ball 2008: 75) neu erfunden. Stellvertretend steht der Education Reform Act 1988 als ein Meilenstein der englischen Bildungspolitik. Mit dieser Reform der konservativen ThatcherRegierung wurde die Sekundarbildung grundlegend verändert. Zentrale Elemente waren ein nationales Curriculum, welches Standards für Schülerfähigkeiten und Lerninhalte festlegte, sowie die Übertragung der finanziellen Verantwortung auf die Schulen. Mit der Reform wurde außerdem ein Evaluationssystem für den Bildungsbereich etabliert, mit dem die Effizienz von Schulen anhand der Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler getestet werden konnte. Die Folge war, dass die Bereitstellung staatlicher Bildung in England von Marktmechanismen bestimmt wurde: Neue Schulformen entstanden (zum Beispiel die so genannten grant-maintained schools), Eltern konnten Schulen auf Basis ihrer Leistungen vergleichen und auswählen, und die Veröffentlichung von Testergebnissen erhöhte den Druck auf schlecht platzierte Schulen. Die Folge dieser Reform war somit eine Zentralisierung durch die Kontrolle nationaler Bildungsstandards. Gleichzeitig wurde die Autonomie der Schulen gestärkt und der Einfluss der LAs verringert. Im englischen Schulsystem entstand ein quasi-market: Die Machtverhältnisse verschoben sich von den LAs zur Regierung, den Schulen und den Eltern (John 1989; Whitty 2002). In der englischen Bildungspolitik der nachfolgenden Jahrzehnte lässt sich eine bemerkenswerte Kontinuität beobachten. Obwohl es im Bil-
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dungsbereich seit den 1980er Jahren zahlreiche Reformen gab, blieben die wesentlichen Elemente nach dem Regierungswechsel von 1997 – von den Konservativen zur sozialdemokratischen Labour Partei – erhalten (Power/ Whitty 1999). Auch in der politischen Rhetorik von New Labour dominierte ein ökonomisches Verständnis von Bildung, insbesondere als Teil einer nationalen Debatte zu Globalisierung: Bildung wurde als zentral für die Chancen von Individuen auf dem Arbeitsmarkt, die wirtschaftliche Stabilität des Landes und die moderne Wissensgesellschaft verstanden (Ball 2008: 14–18). Exemplarisch lässt sich die Kontinuität nach dem Regierungswechsel an der Kontrolle der Effizienz von Schulen beobachten. Mit dem Education Act 1993 wurden von der konservativen Regierung Kriterien festgelegt, um die Leistungsfähigkeit von Schulen zu messen. Dazu zählen unter anderem das Management der Schulorganisation und die Qualität der Ausbildung in bestimmten Kernfächern. Die Ergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht und so genannte failing schools in Politik und Medien kritisiert. Diese und andere Kernelemente konservativer Bildungspolitik wurden von New Labour fortgeführt. Obwohl einige der Elemente mit neuen Bezeichnungen versehen wurden – zum Beispiel im Rahmen des School Standards and Framework Act 1998 – blieb die bildungspolitische Richtung unverändert (Philipps/Furlong 2001; Whitty 2008). Als Ergebnis der Reformen in den 1980er Jahren entstand ein Bildungssystem, das Überschneidungen mit den Ideen und Empfehlungen der OECD aufweist. Obwohl die Organisation keine eindeutigen Vorgaben macht, sind ihre Vorstellungen den so genannten New Public Management-Konzepten ähnlich (vergleiche dazu Papadopoulos 1995; Henry et al. 2001; Martens/Wolf 2006). Dieser Begriff ist in verschiedenen Varianten und Kontexten zu finden, ebenso zahlreich sind seine Definitionen. In einem breiten Verständnis ist New Public Management eine Umstrukturierung von Machtstrukturen in der öffentlichen Verwaltung. Die Grundlage hierfür sind ökonomische Theorien, wie etwa der Prinicipal-Agent-Ansatz oder mikro-ökonomische Theorien (Hood 1995). Für Bildungspolitik bedeutet das konkret (1) die Kontrolle von Effizienzkriterien, (2) Organisation von Bildungsinstitutionen durch den Abschluss von Verträgen, (3) die Einteilung in Anbieter und Kunden, (4) Wettbewerb und Ausstiegsmöglichkeiten, sowie (5) die Dezentralisierung von Finanzen und die persönliche Verantwortung von Führungspersonen (Clarke/Gewirtz/ McLaughin 2000: 6).
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Die Kernelemente englischer Bildungspolitik, insbesondere die Autonomie von Schulen, flexible Schulabschlüsse, die Finanzierungsmodelle und die Qualitätssicherung entsprechen dem Paradigma der OECD. Zudem werden die Leistungen von englischen Schülerinnen und Schülern bereits in nationalen Tests regelmäßig überprüft. Eine Bildungsstudie wie PISA bedeutete für England nichts vollkommen Neues. Auf den ersten Blick könnte man deshalb annehmen, dass England für eine solche Studie eine gute Ausgangsposition hatte und PISA keine besonderen Auswirkungen auf die englische Bildungspolitik haben würde. Die Analyse der Reaktionen zeigt jedoch, dass sowohl die Ergebnisse als auch der Umgang von Medien und Politik mit der Studie anders als erwartet ausfielen.
Englands Abstieg bei PISA Großbritannien hat an allen drei Runden der PISA-Studie teilgenommen. Mit Ausnahme walisischer Schulen im Jahr 2000 wurden jeweils für England, Wales, Nordirland und Schottland separate Erhebungen durchgeführt. In der Untersuchung der Lesekompetenz erreichten englische Schülerinnen und Schüler bei PISA 2000 523 Punkte (siehe Tabelle 7.1 für einen Überblick der Ergebnisse).5 Damit belegten sie von allen 32 teilnehmenden Ländern den siebten Platz. In Mathematik erreichten englische Schülerinnen und Schüler mit 529 Punkten ebenfalls den siebten Rangplatz. Bei den naturwissenschaftlichen Fächern landete England mit Rang vier sogar in der Spitzengruppe; nur finnische, japanische und koreanische Schülerinnen und Schüler erzielten bessere Ergebnisse. Allerdings währte die Freude über das gute Abschneiden nur kurz. Die Ergebnisse von 2003 wurden zwar aufgrund statistischer Probleme nicht in die offizielle Veröffentlichung der OECD aufgenommen (siehe unten). Trotzdem deutete die zweite Erhebung der PISA-Studie den Beginn eines Trends an: In allen drei geprüften Bereichen ging die Zahl der erreichten Punkte zurück. Auch in der dritten Erhebung der PISA-Studie 2006 setzte sich der Negativtrend fort. Erneut verschlechterte sich England. Insgesamt zeigen die drei Runden der PISA-Studie für England eine klare Entwicklung auf. Nach
—————— 5 Eine solche Darstellung der PISA-Daten ist im englischen Fall aufgrund der bereits genannten Datenlage problematisch. Trotzdem kann anhand der Tabelle prima facie eine Entwicklung des Abschneidens aufgezeigt werden.
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guten Ergebnissen zu Beginn fand sich England in den späteren Studien nur im Mittelfeld des Rankings wieder. Wie in anderen Ländern mit rückläufigen Trends – zum Beispiel Frankreich, Spanien und Mexiko – könnte man auch in England deutliche Reaktionen in den Medien und der Politik erwarten (siehe die Beiträge von Dobbins und Popp in diesem Band). Die Analyse der Reaktionen zeigt allerdings: PISA in England ist ein besonderer Fall. Tabelle 7.1: Abschneiden Englands in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
523
(7.)
506
(10.)
495
(14.)
Mathematische Kompetenz
529
(7.)
507
(15.)
495
(20.)
Naturwissensch. Kompetenz
532
(4.)
519
(8.)
515
(11.)
Mittelwert der drei Bereiche
528
(7.)
511
(10.)
502
(15.)
Rangposition im
OECD-34-Vergleich6
in Klammern
Quellen: OECD 2001, 2004, 2007; OECD/UIS 2003, für die Ergebnisse Englands bei PISA 2003: http:// pisacountry.acer.edu.au/index.php, eigene Darstellung
Reaktionen auf PISA: »pick and choose« Die Reaktionen auf die PISA-Studie in den Medien und im politischen Diskurs verliefen wellenartig (siehe Abbildung 7.1). Zuerst war das Interesse groß, zahlreiche Artikel wurden veröffentlicht und das gute Abschneiden Englands bei PISA 2000 gehörte zum Standardrepertoire britischer Politikerinnen und Politiker. In den darauffolgenden Jahren ging die Aufmerksamkeit zurück. Die Medien kommentierten 2003 vor allem Gründe für die Nichtveröffentlichung der Daten, während sich politische Akteure mit Stellungnahmen zu PISA bedeckt hielten. Erst die Veröffentlichung von PISA 2006 brachte die Studie zurück auf die politische Agenda. Nach ersten kritischen öffentlichen Reaktionen auf die schlechten Ergebnisse entstand in England ein politischer Diskurs, in dem die Bedeutung von
—————— 6 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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PISA und eventuelle Anpassungen der englischen Bildungspolitik thematisiert wurden. Immer häufiger verglichen englische Politikerinnen und Politiker das Abschneiden Englands mit anderen Ländern, und die Gewinner der Studie wurden als positive Beispiele für Bildungspolitik benannt. Gleichzeitig wurden eigene Ziele für kommende PISA-Studien formuliert. Wenn auch mit Verspätung – England hat den Wettbewerb um vordere Rangplätze und internationale Reputation angenommen.
PISA 2000: Wir sind Stars Die Erwartungen an das Abschneiden englischer Schülerinnen und Schüler waren vor der ersten Studie im Jahr 2000 gering. Bereits in der von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) organisierten Untersuchung Third International Mathematics and Science Study (TIMSS) mit 41 teilnehmenden Staaten wurden die Probleme des englischen Bildungssystems sichtbar. Trotz relativ guter Ergebnisse in den Naturwissenschaften belegten die englischen Schülerinnen und Schüler in Mathematik Rangplätze, die deutlich unterhalb des Durchschnitts lagen (International Education Agency 2000). Umso größer war die Freude, als die OECD die guten PISA-Ergebnisse für England verkündete. Wenngleich völlig anders motiviert als in Deutschland – die verwendeten Vokabeln in den Kommentaren zu PISA 2000 waren ähnlich: »Schockierende Nachrichten – unsere Ergebnisse sind OK.« (Slater 2001)7 Weder die politischen Akteure noch die Medien oder die Schulen selbst hatten mit positiven Nachrichten der OECD gerechnet. Obwohl England bei Kooperationen mit internationalen Organisationen oft zurückhaltend war und als »unbequemer Partner« (George 1990) bezeichnet wurde – die erste Runde der PISA-Studie wurde vollständig akzeptiert und die OECD ungewöhnlich positiv wahrgenommen: »Der durchdachteste und seriöseste internationale Vergleich hat plötzlich aufgedeckt, dass wir Stars sind.« (Barber 2001) Die OECD benannte auch Probleme des englischen Bildungssystems, wie etwa die signifikanten Leistungsschwächen von Schülerinnen und Schülern aus sozial schwachen Familien. Der Umgang in den engli-
—————— 7 Zitate aus Zeitungen sowie Interviewpassagen wurden vom Autor übersetzt.
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schen Medien mit PISA war jedoch selektiv, es wurden vor allem die positiven Ergebnisse der Studie berichtet (siehe auch Grek 2009). Auch von Politikerinnen und Politikern wurden die guten Ergebnisse betont und als Erfolg der Bildungspolitik von New Labour bezeichnet. Englische Schulen sind die »weltbesten«, so die damalige Bildungsministerin Estelle Morris. Sogar die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler hätten noch verhältnismäßig gut abgeschnitten. Diese Erfolge seien ein Zeichen dafür, dass die Investitionen in Bildung unter New Labour sinnvoll waren (Department for Children, Schools and Families 2001). Bei öffentlichen Auftritten mit dem Thema Bildung wurden die PISA-Ergebnisse immer wieder betont. Premierminister Tony Blair bedankte sich bei einer Festveranstaltung zur Verleihung der School Achievement Awards in Manchester 2002 bei allen Schulen. Sie hätten das englische Bildungssystem zu einem der weltweit besten gemacht (Department for Children, Schools and Families 2002). Zudem veröffentlichte das englische Bildungsministerium Broschüren und Berichte, in denen die PISA-Ergebnisse aufgearbeitet und vorgestellt wurden (Department for Education and Skills 2002). Die Euphorie über das eigene Bildungssystem hielt jedoch nur drei Jahre an – bis zur (Nicht-)Veröffentlichung der PISA-Studie 2003.
PISA 2003: Kritik an Nichtveröffentlichung Bei der zweiten PISA-Studie 2003 erreichten die erhobenen Daten nicht die geforderten statistischen Kriterien der OECD. Hauptproblem waren zu geringe Rücklaufquoten der Schulen und damit die Gefahr einer statistischen Verzerrung der Daten. Im November 2004 verkündete das Ministerium für Bildung deshalb die Nichtveröffentlichung der englischen Ergebnisse (Department for Children, Schools and Families 2004). Das Vereinigte Königreich wurde von der OECD nicht in die offizielle PISA-Statistik aufgenommen. Die Erhebungen für Schottland und Nordirland hingegen erfüllten die Kriterien und waren somit vergleichbar mit den Ergebnissen anderer Länder. Innerhalb und außerhalb Englands wurde das Verfehlen der OECD-Vorgaben kritisiert. »England schwänzt«, kommentierten Autoren der Times Educational Supplement (Slater/Paton 2004). Andere stellten der britischen Regierung und ihrem Vorgehen bei der Erhebung der Daten ein schlechtes Zeugnis aus. Die Minister und andere politische
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Akteure hätten den Schulen nicht deutlich genug gemacht, wie wichtig die Teilnahme an PISA sei (Hirsch 2004). Als ein Grund für die geringe Beteiligung wurden die zahlreichen Tests genannt, die in englischen Schulen regelmäßig durchgeführt werden. Die internationale Bildungsstudie der OECD war lediglich eine weitere Belastung für die Schulen: »Heute machen wir PISA, morgen einen anderen Test.« (Interview ENG-09) Die Diskussionen um die Nichtveröffentlichung der Ergebnisse wurden zunehmend kontroverser. Bereits 2000 war die Anzahl der teilnehmenden Schulen sehr niedrig. England verfehlte den Grenzwert für die Anzahl der Schulen, erreichte allerdings den für Schülerinnen und Schüler (Micklewright/Schnepf 2006). In der darauffolgenden Erhebung 2003 wurden beide Grenzwerte knapp verfehlt. Trotzdem konnte in Analysen der englischen PISA-Daten gezeigt werden, dass die Daten aussagekräftig waren. Verglichen mit den Rücklaufquoten früherer internationaler Bildungsstudien, wie etwa TIMSS oder PIRLS, wurden bei der PISA-Studie 2003 sogar die höchsten Werte erreicht (Smithers 2007: 15). Nachdem 2001 noch beinahe überschwänglich die Klasse des englischen Bildungssystems gefeiert wurde, verhielten sich die Politiker nun erstaunlich ruhig. Sie akzeptierten die Bedenken über die Qualität der Daten widerstandslos. Die offizielle Begründung der OECD war, dass durch die Nichtveröffentlichung der Ergebnisse die Reputation der Studie gewahrt werden sollte (OECD 2004b). Trotz eines ungewohnt deutlichen Kommentars von Seiten der OECD, die britische Regierung hätte bei der Erhebung aktiver sein müssen, war die Nichtveröffentlichung im Interesse beider Parteien. Die Regierung musste die schlechten Ergebnisse nicht rechtfertigen, die OECD wahrte die Qualität ihrer Studie (The Economist 2004). Vergleicht man das Verhalten der britischen Regierung in beiden Runden der PISA-Studie, lässt sich eine Strategie erkennen, die als pick and choose bezeichnet werden kann: Gute Ergebnisse werden als Beweis für effizientes politisches Handeln bezeichnet, schlechte Ergebnisse werden ignoriert. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, lassen sich Ansätze dieser Strategie auch bei der PISA-Studie 2006 beobachten.
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PISA 2006: Öffnung der Debatte Die britische Regierung änderte für die dritte PISA-Studie ihr Vorgehen bei der Rekrutierung von Schulen. Als Entschädigung für die Teilnahme an der Erhebung verkündete sie 1000 britische Pfund pro Schule (Warwick 2005). Zudem konnte sie die OECD überzeugen, die Erhebung in England zeitlich zu verschieben, so dass es keine Überschneidungen mit nationalen Tests gab. Diese Anreize zeigten Wirkung: England erreichte hohe Rücklaufquoten und erfüllte damit die Kriterien der OECD. Auf die Ergebnisse hatten diese Maßnahmen allerdings keine Auswirkungen – in allen Kompetenzbereichen belegten englische Schülerinnen und Schüler nur mittlere Rangplätze. Der Aufschrei in den englischen Medien war kurz, aber deutlich: »Großbritannien stürzt in der Weltrangliste in Mathematik und Lesen ab.« (Woodward 2007) Das Land sei auf die Nase gefallen, kommentierte der Telegraph (Paton 2007). Oft wurde das schlechte Abschneiden in den Medien direkt mit Kritik an der Bildungspolitik von New Labour verknüpft. Warum sind die Ergebnisse so schlecht, fragt die Times, obwohl die Regierung seit 1997 große Summen in das englische Bildungssystem investiert hat (Grimston 2007)? Tatsächlich sind die Ausgaben für Bildung in Großbritannien bereits seit den 1990er Jahren, vor allem aber seit der New Labour Regierung kontinuierlich angestiegen.8 Und Tony Blair wurde an seine Prioritäten bei Antritt seiner Regierung erinnert: »Was ist aus ›Education, Education, Education‹ geworden?« (The Telegraph 2007) Von Seiten der Politik wurde eingeräumt, dass Englands Abschneiden bei PISA 2006 unbefriedigend war. Die Richtung der Entwicklung sei schlimmer als das Ausmaß des Absturzes in den OECD-Ranglisten, kommentierte Bildungsminister Ed Balls. Gleichzeitig nannte er eine einfache Ursache für die schlechten Leistungen: Kinder hätten zu viel freie Zeit, und würden diese mit Computerspielen verbringen. Die Eltern seien in der Verantwortung, ihre Kinder zum Lesen zu ermutigen (London Evening Standard 2007). Neben solchen ad hoc-Analysen betonte das Ministerium immer wieder, dass die PISA-Ergebnisse nur begrenzt mit früheren Studien vergleichbar seien (Department for Children Schools and Families 2007). Für die Opposition waren die Leistungen englischer Schülerinnen und Schüler ein Beweis für das Scheitern der New Labour Regierung.
—————— 8 Der Anteil der Ausgaben für Bildung am Bruttoinlandsprodukt ist in Großbritannien seit 1998 von 4,5 Prozent auf mittlerweile 5,5 Prozent im Jahr 2008 gestiegen (HM Treasury 2009).
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Externe Akteure, so der damalige Schattenminister der konservativen Partei, Michael Grove, hätten offengelegt, dass England international nicht wettbewerbsfähig sei (BBC 2007). Wie in anderen Ländern (siehe zum Beispiel Popp zu Spanien in diesem Band) wurde PISA von der Opposition genutzt, um Druck auf die Regierung aufzubauen. Im Kern verlief die Debatte nach PISA 2006 zunächst ähnlich wie bei den vorhergehenden Erhebungen. Zeitungen und Politiker kommentierten die Ergebnisse, danach verebbte das Interesse an PISA. Allerdings lässt sich eine Veränderung feststellen: Die Debatte war bereits von Beginn an konstruktiver und konsolidierte sich im Vergleich zu den Vorjahren (siehe Abbildung 7.1).9 Abbildung 7.1: Zeitungsartikel zu PISA in England 10 8 6 4
Jan–Jun 2010
Jahr 2009
Jahr 2008
Dez 2007
Jan–Nov 2007
Jahr 2006
Jahr 2005
Dez 2004
Jan–Nov 2004
Jahr 2003
Jahr 2002
0
Dez 2001
2
Quelle: Factiva-Recherche, eigene Darstellung10
—————— 9 Da insgesamt nur 66 Artikel erschienen sind, ist die Aussagekraft der Darstellung gering. Inhaltliche Analysen sowie Experteninterviews stützen jedoch den Befund, dass eine öffentliche und politische Debatte zu PISA entstand. 10 Grundgesamtheit für die Auswahl waren die zwölf auflagenstärksten englischen Zeitungen seit 2000 (Quelle: Audit Bureau of Circulations – http://www.abc.org.uk). Von diesen Zeitungen wurden jedoch nur diese verwendet, für die eine Online-Recherche in der Datenbank factiva möglich war (The Daily Telegraph, The Guardian, The Independent, The Times, Daily Mirror, Daily Express, Financial Times, The Evening Standard, The Sun, Daily Star). Suchbegriffe waren »PISA« und »OECD«. Aus Darstellungsgründen wurde in Abbildung 7.1 die Anzahl an Artikeln für jeweils drei Monate zusammengefasst. Das Datum der jeweiligen PISA-Veröffentlichung in England markiert die drei Abschnitte (PISA 2000:
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Die dritte Bildungsstudie der OECD findet in England immer wieder Eingang in öffentliche Diskussionen zu Bildung. Vor allem die Bedeutung der Studie und die Folgen der OECD-Veröffentlichungen für Bildungspolitik werden diskutiert. Nach der Euphorie um PISA 2000 und der weitgehenden Nichtbeachtung 2003 versuchen politische Akteure, die Ursachen für die Erfolge anderer Länder und die Schwächen des eigenen Bildungssystems zu verstehen (Interview ENG-03; ENG-11). Ein Beispiel für die veränderte Debatte nach 2006 ist der Children’s Plan (Department for Children, Schools and Families 2009). Kurz nach Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse präsentierte das Ministerium ein Dokument über die Zukunft des Schulsystems. Zwar wird kein direkter Bezug zur OECDStudie genannt, Formulierungen wie »die nächsten Schritte zu weltbesten Schulen« (ebenda: 3) oder »Schlüssel zur nationalen Wettbewerbsfähigkeit« (ebenda: 116) deuten jedoch auf einen indirekten Einfluss von PISA auf den Bericht hin. Das Vokabular ist dem der OECD in ihren Veröffentlichungen ähnlich. In der englischen Bildungspolitik werden das Abschneiden anderer Länder inner- und außerhalb Europas sowie deren bildungspolitische Strategien zu wichtigen Orientierungspunkten. Ein Grund für die Öffnung des politischen Dialogs ist die Sorge, den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren: »Der politische Dialog über Bildung war in diesem Land nach innen gerichtet […] Wir schauen mehr und mehr nach Europa.« (Interview ENG-06) Das englische Bildungssystem galt lange als Vorbild für Politiker aus der ganzen Welt. Trotzdem räumen bildungspolitische Akteure ein: »Wir hätten offener sein sollen.« (Interview ENG-10) Gleichzeitig veränderte sich die Haltung gegenüber der OECD. Sie wird nun als wichtige internationale Organisation im Bildungsbereich wahrgenommen. Ihre international vergleichenden Studien und Berichte werden von politischen Akteuren und Medien gleichermaßen akzeptiert (Interview ENG-08). Dieses Bewusstsein entstand nicht über Nacht – es ist vielmehr das Ergebnis einer schrittweisen Entwicklung (Interview ENG-06). Nicht nur in den Medien, auch bei politischen Akteuren lässt sich diese Veränderung erkennen. PISA ist in der Zwischenzeit ein Markenzeichen für gute Schulsysteme geworden, das von der OECD erfolgreich vermarktet wird (für ein ähnliches Argument siehe Grek 2009). In den Worten des Vertreters einer englischen Bildungsinstitution: »[W]ir
—————— 04.12.2001; PISA 2003: 06.12.2004, PISA 2006: 04.12.2007). Einige Ergebnisse wurden bereits früher veröffentlicht, deshalb wurden bei der Erstellung der Abbildung zwei Artikel vom November 2007 der dritten PISA-Runde zugeordnet.
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beginnen, uns ernsthafter mit den Ergebnissen anderer Länder zu vergleichen, und das ist eine neue Entwicklung.« (Interview ENG-05)
Zusammenfassung: Neue Ergebnisse, neue Strategie? Die PISA-Studien in England lösten unterschiedliche Reaktionen aus. Auf die Euphorie nach der ersten Runde folgte Ernüchterung in der zweiten Runde. Erst auf die dritte PISA-Studie folgte eine konstruktive inhaltliche Debatte. Wie lassen sich diese Reaktionen erklären? Dazu müssen zunächst die besonderen Ausgangsbedingungen für PISA in England berücksichtigt werden. Bereits vor der ersten Erhebung waren die Erwartungen durch frühere internationale Bildungsvergleiche gedämpft. Die Reaktionen können durch eine große Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlichem Abschneiden erklärt werden: Wider Erwarten belegte England bei PISA 2000 vordere Rangplätze, was als Erfolg gefeiert wurde. Die Debatte um die Nichtveröffentlichung und die Kritik am Vorgehen der Regierung bei der zweiten Studie verdrängte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit bildungspolitischen Problemen. Zudem verlor die PISA-Studie durch die verfehlten statistischen Werte für England in dieser Runde vorübergehend ihr wichtigstes Merkmal: ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Trotz Hoffnungen auf gute Ergebnisse in der dritten PISA-Runde konnte die Regierung keine guten Resultate verkünden. Im Gegensatz zu PISA 2000 war England nur Mittelmaß und entsprach damit den Erwartungen vor der ersten Erhebung. Die Ergebnisse der Studie entfalteten jedoch in der englischen Debatte eine Dynamik und es entstand ein – wenn auch geringer – Reformdruck durch den Vergleich mit anderen Ländern. In der Öffentlichkeit konsolidierte sich ein kritischer Diskurs über PISA, den die Politik zunehmend antizipiert und aufgreift. Im englischen Fall ist die Übereinstimmung der nationalen Leitideen mit den Vorstellungen von Bildung der OECD besonders auffällig. Während diese etwa in Deutschland vor PISA weit auseinander lagen (siehe Niemann in diesem Band), waren die englische Bildungstradition und die politische Steuerung des Bildungssystems den von der OECD empfohlenen Prinzipien ähnlich. So nennt etwa der internationale Koordinator der Studie, Andreas Schleicher, England – zusammen mit Finnland und Schweden – als Positivbeispiel für erfolgreiche Schulsysteme. Im Frühjahr
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2010 betonte er in einer Stellungnahme für den US-Senat Elemente englischer Schulpolitik als Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg (Schleicher 2010). Trotzdem schnitt England, mit Ausnahme von PISA 2000, nur mittelmäßig ab. Dies deutet auf Defizite in der Umsetzung bildungspolitischer Leitideen hin. Durch die Ergebnisse in der international vergleichenden Bildungsstudie der OECD wurden der Zustand und die Probleme des englischen Bildungssystems aufgezeigt. Die PISA-Studie veranschaulichte der englischen Politik, wie Bildungsverständnisse effizient umgesetzt werden können. Schülerinnen und Schüler aus Ländern mit ähnlichen Steuerungsarrangements in der Bildungspolitik erzielten bessere Ergebnisse. Folgt man der jüngsten Rhetorik englischer Politiker, hat England – wenn auch mit Verspätung – den Wettbewerb um gute PISA-Ergebnisse angenommen: »[…] bis 2015 werden wir unter den Top 3 in Naturwissenschaften und den Top 5 aller OECD-Staaten sein. Wir werden systematisch unsere Leistung mit anderen Ländern vergleichen, und jährlich über die Entwicklungen berichten.« (Brown 2010) Gordon Brown ist zwar bei der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2009 nicht mehr Premierminister, für die neue britische Regierung wird der Beginn eines neuen Zyklus der PISA-Studie aber die erste Bewährungsprobe im Feld der Bildungspolitik sein. Dann wird sich zeigen, welches Vorgehen die Regierung im Umgang mit guten – oder schlechten – Ergebnissen wählen wird.
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Mexiko – Das Schlusslicht orientiert sich an der Politik der Besten
Marie Popp
Einleitung1 Im Jahr 2010 ist die Veröffentlichung der neuen PISA-Ergebnisse nicht der einzige Anlass, den Blick auf das politische Geschehen in Mexiko zu richten. Denn dieses Jahr besitzt eine zusätzliche Symbolik: Es steht für 200 Jahre Mexikanische Unabhängigkeit und 100 Jahre Mexikanische Revolution. Die Entwicklung des mexikanischen Staates in dieser Zeit und seine Stellung innerhalb der Welt rücken damit wieder in den Fokus der öffentlichen wie akademischen Aufmerksamkeit (siehe Mayer 2007; Ebenthal 2008; Degen 2008). Es erscheint paradox, dass das Feld der Bildungspolitik, welches in Mexiko traditionell sehr eng an die Autorität des Staates gebunden war, ausgerechnet im Jahr des größten nationalen Jubiläums von einer starken Internationalisierung gezeichnet ist. Zehn Jahre PISA in Mexiko haben einen Abdruck in der nationalen Bildungspolitik hinterlassen. Mexiko unterscheidet sich wesentlich von den übrigen OECD-Mitgliedstaaten. Man betrachte beispielsweise die andersartigen Bedingungen im Bildungsbereich: Im Gegensatz zur Überalterungs- oder Schrumpfungsproblematik, mit der sich viele Gesellschaften der westlichen Welt gegenwärtig konfrontiert sehen, verzeichnet Mexiko nach wie vor wachsende Bevölkerungszahlen. Während sich Länder wie Deutschland etwa mit Schulschließungen beschäftigen müssen, geht es in Mexiko immer noch um die Ausweitung des Bildungssektors.2 Eine weitere Besonderheit
—————— 1 Die empirische Grundlage für diesen Beitrag bilden Dokumentenanalysen von Presseartikeln, Gesetzestexten und Sekundärquellen sowie die persönlichen Eindrücke der Autorin während eines Forschungsaufenthaltes in Mexiko zwischen Juli und August 2007. Für seine Unterstützung bei Recherchen zu diesem Beitrag danke ich Alexander Akbik. 2 Mexiko zählte im Jahr 2005 107.030.00 Einwohner; knapp ein Drittel davon ist jünger als 15 Jahre. Im selben Jahr verzeichnete das mexikanische Bildungsministerium
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ist die Heterogenität der Gesellschaft. Mexiko zählt zu den Ländern mit den meisten indigenen Sprachen (Zimmermann 2004) und dem größten Gefälle zwischen Arm und Reich (UNDP 2008). Diese Unterschiede zeigen sich auf sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere aber im Bildungsbereich. Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass die Bildungschancen in Mexiko je nach Region, Herkunft, Geschlecht, etc. stark variieren (INEE 2004, 2007). Diese Kontextbedingungen machen das mexikanische Fallbeispiel besonders. In Anbetracht des ansteigenden Interesses an der PISA-Studie in Ländern außerhalb der OECD-Welt erscheint eine Reflexion der mexikanischen Erfahrungen im Umgang mit PISA Gewinn bringend. Schließlich sind die Bedingungen anderer Schwellenländer sowie mancher Entwicklungsländer denen des Brückenlandes Mexiko vielfach deutlich näher als denen der Kernländer der OECD. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie sich die Bildungspolitik Mexikos in den letzten zehn Jahren durch PISA verändert hat. Es wird argumentiert, dass der Einfluss der internationalen Ebene auf die mexikanische Bildungspolitik über die Jahre angestiegen ist und ab PISA 2006 besonders deutlich wird. Die eingeleiteten Veränderungen orientieren sich an den von der OECD verbreiteten Prinzipien zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit nationaler Bildungssysteme, welche auf der Basis internationaler best practices entwickelt wurden (siehe dazu Popp 2010). Diese Richtungsänderung in der mexikanischen Bildungspolitik ist multikausal. Die Besonderheiten der bildungspolitischen Steuerung und die konkurrierenden Leitideen der beiden Schlüsselakteure können das Scheitern von Reforminitiativen zu Beginn des Jahrzehnts erklären. Die Kombination aus Reformstau im Bereich der Sekundarbildung vor PISA und Problemdruck durch PISA ist für die Erklärung des Wandels ab PISA 2006 von zentraler Bedeutung. Die Untersuchung zu den mexikanischen Reaktionen auf die PISAStudie gliedert sich wie folgt: Nach einer knappen Darstellung der mexikanischen Bildungspolitik in der Zeit vor PISA wird das Abschneiden Mexikos bei PISA sowohl im internationalen Vergleich als auch in seiner internen Entwicklung über die drei Runden hinweg beleuchtet. Daran anschließend werden zunächst die unmittelbaren Reaktionen auf die Veröffentlichung der Studienergebnisse beschrieben, bevor die Veränderungen in der mexikanischen Sekundarbildung nach der Jahrtausendwende auf ihren Bezug zur internationalen Bildungsstudie hin untersucht werden. Im
—————— 32.312.386 Schülerinnen und Schüler bei 1.658.479 Lehrerinnen und Lehrern an 238.003 Schulen (INEE 2007: 24).
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Schlussteil werden die Untersuchungsergebnisse an die Erklärungsfaktoren aus der Einleitung rückgebunden (siehe de Olano et al. in diesem Band) sowie ein Ausblick auf die zukünftige Bedeutung von OECD-Bildungsstudien in Mexiko gegeben.
Mexikanische Bildungspolitik vor PISA Die Steuerung von Bildungssystemen erfolgt stets in spezifischen institutionellen und soziokulturellen Kontexten (Kussau/Brüsemeister 2007: 44). Für die Analyse des Wandels von Bildungspolitik ist die Berücksichtigung regionaler Spezifikationen und historischer Entwicklungen deshalb von großer Bedeutung. Um die bildungspolitischen Veränderungen Mexikos in der Zeit vor und nach PISA verstehen zu können, bedarf es der Sensibilität für die Eigenheiten mexikanischer Politik im Allgemeinen (Braig/Müller 2007) und der Sozialpolitik im Besonderen (Faust/Lauth/Muno 2004). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Strukturen in der mexikanischen Bildungspolitik sehr komplex sind (siehe dazu Alcántara 2008; Ornelas 2004; Santibañez 2008). Wie die mexikanische Politik insgesamt, ist auch der Teilbereich der Bildungspolitik stark von informellen Regeln geprägt (Braig/Müller 2007: 408–409). Die Ausformung und Beharrungskraft korporatistisch-klientelistischer Strukturen innerhalb des politischen Systems sind die Folge der über 70 Jahre anhaltenden Einparteienherrschaft der Partido Revolucionario Institutional (PRI). Zeitlich verzögert zur lateinamerikanischen Demokratisierungswelle (Thiery/Merkel 2010), erfolgte der endgültige Systemwechsel in Mexiko erst im Jahr 2000, als mit Vicente Fox erstmals ein Kandidat der Oppositionspartei Partido Acción Nacional (PAN) zum mexikanischen Präsidenten gewählt wurde.3
Entscheidungsstrukturen im Bildungsbereich Das Bildungssystem Mexikos unterscheidet sich in seiner Funktionslogik und Tradition deutlich von denen anderer OECD-Staaten. Die Schulstruktur lässt sich grundsätzlich in drei Stufen einteilen: erstens die obliga-
—————— 3 Die genaue Datierung des Regimewechsels ist umstritten. Vielfach wird auch das Jahr 1997 angeführt, weil die PRI bei diesen Wahlen erstmals ihre absolute Mehrheit verlor.
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torische Grundbildung (Educación Básica), bestehend aus der erst seit kurzem verpflichtenden dreijährigen Vorschulzeit (Educación Inicial), der sechsjährigen Grundschule (Primaria) und einer zweijährigen weiterführenden Mittelschule (Educación Media); zweitens die weiterführende höhere Schulausbildung (Educación Media Superior), die zum Abitur oder zu einem technischen Schulabschluss führt; drittens die Hochschulbildung (Educación Superior). Bereits im Kontext der Mexikanischen Revolution4 entwickelte sich das Feld der Bildungspolitik zu einem Schlüsselgebiet. Die Förderung der Bildung wurde in Artikel 3 der Mexikanischen Verfassung von 1917 festgeschrieben und die öffentliche Bildung zu einem der wichtigsten Faktoren bei der Einigung des Landes und der Herausbildung einer nationalen Identität. Obwohl Mexiko ein föderaler Staat mit insgesamt 32 Bundesstaaten ist, wurde die mexikanische Bildungspolitik seitdem von einer stark zentralistischen Steuerung geprägt (Santibañez/Vernez/Razquin 2005). Die wichtigsten Akteure der mexikanischen Bildungspolitik sind das nationale Bildungsministerium SEP (Secretaria de Educación Pública) und die nationale Lehrergewerkschaft SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación). Das Ministerium in Mexiko-Stadt gilt als wichtigste Instanz für Entscheidungen in Bildungsangelegenheiten, insbesondere im Hinblick auf die Themen Lehrergehälter, Lehrbücher oder Lehrpläne. Die SNTE ist eine der größten Gewerkschaften Lateinamerikas. Ihr Einfluss dehnt sich auf alle Ebenen der Bildungspolitik aus. Zahlreiche Vertreter der SNTE sind Abgeordnete im mexikanischen Parlament und verfügen dadurch über die Macht, Reforminitiativen der Regierung blockieren zu können. Von großer Bedeutung für die Bildungswirklichkeit in Mexiko ist der Einfluss der SNTE auf der Schulebene. Denn alle Lehrer und Schulleiter von öffentlichen Schulen in Mexiko sind gesetzlich zur Mitgliedschaft in der Gewerkschaft verpflichtet. In mehreren Bundesstaaten kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu wochenlangen Unterrichtsausfällen, weil die Gewerkschaft ihre Mitglieder für politische Proteste mobilisierte. Die formelle und informelle Vetomacht der SNTE ist also sehr groß und ein Wandel in der nationalen Bildungspolitik ohne ihre Kooperation im Prinzip unmöglich (Santibañez 2008).
—————— 4 Die Mexikanische Revolution stellt eine bedeutende Zäsur in der mexikanischen Geschichte dar. Sie begann im Jahr 1910 mit dem Sturz des Diktators Porfirio Díaz und endete nach einem Jahrzehnt politischer Unruhen und Gewalttaten. Eine ausführlichere Einordnung in den historischen Kontext erfolgt bei Tobler (2004).
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Bildungspolitik zwischen Tradition und Modernisierung Wenn man das Augenmerk auf die bildungspolitischen Veränderungen in den Jahrzehnten vor PISA – oder vor der demokratischen Wende – richtet, ist der von Präsident Miguel de la Madrid in den 1980er Jahren eingeleitete Kurswechsel in der mexikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidend. Denn diese politische Neuausrichtung, die von einer wirtschaftlichen und politischen Öffnung des Landes sowie umfassenden Privatisierungsund Modernisierungsmaßnahmen gekennzeichnet war, wurde von den nachfolgenden Regierungen weiter verstärkt und wirkt bis heute fort (Dussel Peters/Maihold 2007: 24; Alcántara 2008). Im Bildungsbereich zog dieser Politikwechsel entscheidende Veränderungen nach sich. Innerhalb des Ministeriums wurde das nachrevolutionäre Bildungsideal, das die soziale Integrationskraft von Bildung und die Herausbildung einer gemeinsamen mexikanischen Identität betonte, allmählich von einem Bildungsverständnis abgelöst, welches Bildung zum Schlüssel für nationale und individuelle Entwicklung stilisierte. Es wurde versucht, das mexikanische Bildungswesen entsprechend dieses neuen Leitbildes zu modernisieren (Alcántara 2008: 153–155). Das Abkommen zur Modernisierung der Grundbildung aus dem Jahre 1992 gilt in diesem Zusammenhang als historischer Kompromiss zwischen der Lehrergewerkschaft und der damaligen Regierung. Es hatte die Modifizierung von Artikel 3 der Verfassung sowie das neue Bildungsgesetz LGE (Ley General de Educación) zur Folge. Zu den wichtigsten Zielen dieser Reform zählten die Dezentralisierung der Bildungspolitik durch die Schaffung neuer Bildungsministerien in den Bundesstaaten sowie eine Reform der Lehrpläne.5 Das nationale Bildungsministerium versäumte es jedoch im Anschluss, die regionalen Ministerien mit den entsprechenden Entscheidungskompetenzen und auch mit den notwendigen finanziellen Ressourcen auszustatten, weshalb die Dezentralisierung der mexikanischen Bildungspolitik bis heute als nur unzureichend realisiert gilt (Latapí Sarre 2004; Santibañez/Vernez/Razquin 2005). Hinzu kam, dass sich auf den unteren Ebenen des Bildungssystems der Wandel des Leitbildes nicht voll-
—————— 5 Dieses Abkommen gilt als historisches Ereignis, weil ein entsprechender Kompromiss Jahrzehnte lang immer wieder aufs Neue lanciert worden war, doch aufgrund der massiven Widerstände (beider Seiten) jedes Mal zum Scheitern verurteilt war. Zur rückblickenden Bewertung des Abkommens und seiner tatsächlich bewirkten Veränderungen im Bildungsbereich siehe Latapí Sarre (2004) und Ornelas (2004).
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zogen hatte. Bei der Umsetzung des Reformvorhabens prallten die Vorstellungen der Modernisierer – Bildung eröffnet individuelle und gesellschaftliche Entwicklungschancen – mit denen der Traditionalisten – Bildung ist primär für die soziale Integration und die nationale Identität von Bedeutung – aufeinander (Moreno Moreno 2007), wodurch die Verwirklichung der Reform vielerorts verfehlt blieb. Mit Blick auf die konkreten Veränderungen im Sekundarbereich ist es wichtig zu betonen, dass lediglich die siebte und achte Klassenstufe Bestandteil der Educación Básica sind. Die höhere Sekundarbildung war somit vom Wandel der frühen 1990er Jahre ausgenommen. Der wachsende Bedarf an weiterführender Schulbildung und die mangelnde Qualität derselben machten eine weitere Reform zwar notwendig, aber damit noch nicht politisch durchsetzbar. Für den Bereich der Sekundarbildung in Mexiko lässt sich deshalb ein Reformstau in der Zeit vor PISA konstatieren. Welche Veränderungen sich durch die Demokratisierung des Landes und die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Bildungsbereich ergeben haben, soll im Folgenden untersucht werden. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Phasen der Transition großes Potential für politischen Wandel in sich bergen (Knill/Dobbins 2009; Muno 2005). Doch die Ausführungen haben gezeigt, dass das Feld der Bildungspolitik von mächtigen Akteuren und starken Traditionen bestimmt wird.
Letzter Platz im PISA-Ranking Wie die anderen OECD-Mitglieder erklärte sich auch Mexiko auf der Jahreskonferenz von 1997 dazu bereit, an der PISA-Studie teilzunehmen. Vor PISA war Mexiko nur an zwei internationalen Bildungsstudien beteiligt gewesen.6 Aufgrund der mangelnden Erfahrung bei der Durchführung internationaler Bildungsstudien war die erste Datenerhebung im Jahr 2000 von zahlreichen strukturellen und organisatorischen Problemen begleitet. So basierten die Zahlen zu PISA 2000 auf der Testung von lediglich 5.276
—————— 6 Dies waren die Bildungsstudie TIMSS (Third International Mathematic and Science Study) der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) von 1995 und die auf Lateinamerika begrenzte LLECE-Studie (Laboratorio Latinoamericano de Evaluación de Calidad de la Educación) der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) von 1997.
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mexikanischen Schülerinnen und Schülern im Vergleich zu 29.983 bei PISA 2003 und 33.076 bei PISA 2006 (INEE 2007: 64). Die deutliche Steigerung der Schülerfallzahlen ist durch die Gründung des Nationalen Evaluationsinstituts Instituto Nacional de Evaluación Educativa (INEE) zu erklären, welche im Jahr 2002 vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox per Dekret veranlasst wurde (siehe unten). Von allen bei PISA 2000 getesteten OECD-Mitgliedstaaten schnitt Mexiko am schlechtesten ab. Mit einer durchschnittlichen Punktzahl von 422 im Bereich der Lesekompetenz trennten das Land bei der ersten Erhebung bereits mehr als 100 Punkte vom Spitzenreiter Finnland. Unter der Annahme, dass 38 Punkte den Lernstand eines Schuljahres ausmachen (siehe Teltemann in diesem Band), bedeutet dieser Punkteabstand, dass sich zwischen dem Kenntnisstand der 15-jährigen Jugendlichen aus Mexiko und ihrer finnischen Altersgenossen eine Lücke von fast drei Schuljahren ergibt. Im Laufe der Jahre haben sich die Leseleistungen der mexikanischen Schülerinnen und Schüler sogar noch weiter verschlechtert (siehe Tabelle 8.1). In den Trendanalysen zu PISA zählt Mexiko deshalb zur Gruppe der »Absteiger«. Tabelle 8.1: Abschneiden Mexikos in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
422
(28.)
400
(29.)
410
(33.)
Mathematische Kompetenz
387
(28.)
385
(29.)
406
(34.)
Naturwissensch. Kompetenz
422
(28.)
405
(29.)
410
(34.)
Mittelwert der drei Bereiche
410
(28.)
397
(29.)
409
(34.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich7 in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004, 2007; OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
Innerhalb der Gruppe der lateinamerikanischen Länder, die an der PISAStudie teilnehmen, steht Mexiko besser da. Gemessen an den durch-
—————— 7 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11. Im Kompetenzbereich Lesen gab es 2006 nur 33 Fälle, da das Ergebnis der USA aufgrund eines Fehlers beim Druck der nationalen Testhefte nicht berücksichtigt wurde.
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schnittlichen Lesewerten erreichten die mexikanischen Schülerinnen und Schüler bessere Ergebnisse als die 15-Jährigen in Chile, Argentinien, Brasilien und Peru (GIP 2009). 2003 beteiligten sich außer Mexiko nur Brasilien und Uruguay an der Bildungsstudie der OECD. Die durchschnittlichen Leseleistungen der Jugendlichen aus Uruguay lagen deutlich über denen ihrer Altersgenossen aus Mexiko und Brasilien. In der dritten Runde stieg die Anzahl der an PISA teilnehmenden Länder aus Lateinamerika wieder auf sieben an: Neben Uruguay erzielte nun auch Chile bessere Ergebnisse als Mexiko; Argentinien, Brasilien, Peru und Kolumbien platzierten sich dahinter. Im Gegensatz zu Mexiko konnte Chile seine PISA-Ergebnisse in der Lesekompetenz innerhalb der sechs Jahre zwischen PISA 2000 und PISA 2006 um 32 Punkte verbessern und gilt somit als »Aufsteiger«. Aufgrund der großen Heterogenität der mexikanischen Gesellschaft sind die nationalen Durchschnittswerte allerdings nur bedingt aussagekräftig (Martínez Rizo 2006: 155). Eine differenziertere Betrachtung ermöglichen daher die Ergebnisse der zweiten und dritten Erhebung. Hier wurden zusätzliche Daten erhoben, um die Schülerleistungen der einzelnen Bundesstaaten miteinander vergleichen zu können. Die erfolgreichsten mexikanischen Bundesstaaten (zum Beispiel Mexiko-Stadt) erreichten Punktzahlen deutlich oberhalb der nationalen Durchschnittswerte. Die schlechtesten Bundesstaaten (zum Beispiel Oaxaca) hatten jedoch Ergebnisse, die weit unterhalb der nationalen Durchschnittswerte lagen (INEE 2007; GIP 2009). Ein weiteres Problem zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung der einzelnen Kompetenzstufen. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern, welche in den einzelnen Teilbereichen Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften die höchsten Kompetenzstufen erreichten, ist in Mexiko besonders gering. Die PISA-Studien legten außerdem offen, dass knapp die Hälfte der 15-Jährigen in Mexiko Schwierigkeiten hat, einfachste Informationen aus spanischsprachigen Texten zu entnehmen. Kinder aus strukturschwachen und indigen geprägten Regionen schnitten dabei besonders schlecht ab (INEE 2004, 2007).
Reaktionen auf den PISA-Abstieg Die öffentlichen Reaktionen auf die PISA-Studie fielen in Mexiko außergewöhnlich stark aus. Im internationalen Vergleich konnte die drittstärkste
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Medienaufmerksamkeit verzeichnet werden. Noch mehr Aufmerksamkeit in der nationalen Presse erreichte die Bildungsstudie nur in Spanien und Deutschland (siehe Abbildung 1.2 bei de Olano et al. in diesem Band). Über die Datenbank »Factiva« sind für die Berichterstattung anlässlich der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse von 2000 leider keine Daten verfügbar. Die Artikel von Reforma, der auflagenstärksten Qualitätstageszeitung Mexikos, werden erst seit Mai 2004 vollständig über diese Datenbank erfasst. Doch ein Blick in die Literatur zu PISA in Mexiko (siehe dazu Andere Martínez 2006; Martínez Rizo 2006; Saracho Martínez 2007) und auf die Anzahl der Artikel, die sich mit den PISA-Studien von 2003 und 2006 beschäftigen,8 weisen darauf hin, dass das Interesse der mexikanischen Öffentlichkeit an PISA über die Jahre angestiegen ist (siehe Abbildung 8.1). Abbildung 8.1: PISA-Berichterstattung in der mexikanischen Tageszeitung Reforma 80 70
74
Zeitungsartikel
60
60
50 40 30 20 10
9
0
26.05.2004– 30.11.2004
01.12.2004– 30.11.2007
01.12.2007– 31.12.2009
Quelle: Factiva Recherche, eigene Darstellung
Während die nur mittelmäßigen Ergebnisse der Studie in Deutschland den viel zitierten »PISA-Schock« auslösten (siehe Niemann in diesem Band),
—————— 8 Die Artikel wurden über die Datenbank »Factiva« erfasst. Die Auswahl für das mexikanische Fallbeispiel umfasst alle Artikel, die im Zeitraum vom 26.05.2004 bis zum 31.01.2010 in der Zeitung Reforma veröffentlicht wurden und die Stichworte »PISA« und »OCDE« (spanische Übersetzung von »OECD«) enthielten.
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waren die unmittelbaren Reaktionen auf die Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse in Mexiko eher verhalten (Saracho Martínez 2007). Ein Grund dafür ist, dass das schlechte Abschneiden Mexikos für niemanden eine Überraschung darstellte, schließlich »verdeutlichten die Ergebnisse nur, was wir [die Mexikaner] bereits wussten« 9 (Tamez Guerra 2004). Ein gewichtiger Grund für das ansteigende Interesse der mexikanischen Öffentlichkeit an der internationalen Bildungsstudie ist sicherlich der Negativtrend der nationalen Ergebnisse. Ein weiterer Grund mag sein, dass ab der zweiten Runde zusätzlich zu den internationalen PISA-Vergleichsdaten Informationen über die Bildungssituation innerhalb Mexikos veröffentlicht wurden. Im Mittelpunkt der PISA-Berichterstattung stand nicht mehr der frustrierende und häufig kritisierte Vergleich mit den entwickelten Industriestaaten, sondern die großen Leistungsunterschiede innerhalb des Landes. Der Fokus wurde damit auf die nationalen Probleme gelenkt, woran sich eine breitere Diskussion zur Lösung derselben entzündete. Außerdem gab es nun die nationalen Experten des Evaulationsinstitutes INEE, welche die Ergebnisse in spanischer Sprache präsentierten und publizierten sowie den Fragen der Journalisten vor Ort Rede und Antwort stehen konnten (Ramos Patiño 2006: 115; Martínez Rizo 2006: 164–166). Ein Blick auf die Schlagzeilen der mexikanischen PISA-Debatten verdeutlicht den hohen Problemdruck, mit dem die unerfreuliche Diagnose der OECD für das mexikanische Bildungssystem verbunden war. Die schlechten Ergebnisse in der internationalen Bildungsstudie machten die mangelhafte Qualität des öffentlichen Bildungssystems sichtbar und Maßnahmen zu dessen Verbesserung erforderlich: »Mexiko vor einer unsicheren Zukunft: Seine unzureichend ausgebildete Jugend« (Escandón Cusi 2004). Hinsichtlich der unmittelbaren Reaktionen mexikanischer Regierungsvertreter auf die jeweiligen Veröffentlichungen der PISA-Ergebnisse ergibt sich folgendes Bild. Während die nationale Führung unter Präsident Fox auf die Ergebnisse von PISA 2000 nur sehr verhalten und mit relativierenden Äußerungen hinsichtlich deren Vergleichbarkeit reagiert hatte (Andere Martínez 2006: 74), betonte Bildungsminister Tamez Guerra drei Jahre später die Notwendigkeit grundlegender Bildungsreformen: »[D]as Land befindet sich in einer Notlage, es muss gehandelt werden und genau das werden wir tun.« (Tamez Guerra 2004) Er schloss sich den Empfehlungen der OECD und den Forderungen vieler nationaler Bildungsexperten an
—————— 9 Alle Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche wurden von der Autorin vorgenommen.
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und verkündete die Absicht, durch schnelle Maßnahmen zur Förderung von Lehrqualität, Evaluation und Schulautonomie eine Verbesserung des Bildungssystems erreichen zu wollen. Die Reaktion der neuen CalderónRegierung auf die erneut schlechten Ergebnisse von PISA 2006 war von einem außergewöhnlichen Maß an Selbstkritik und Verantwortlichkeit geprägt. Das Bildungsministerium gestand die schwache Leistung ein und erklärte eine radikale Bildungsreform zur Priorität (Hernández 2007). Die Empfehlungen der OECD erhielten in der PISA-Debatte von 2006 eine herausragende Bedeutung: »Die OECD fordert Reformen.« (Garduño 2008) Parallel zur Bekanntgabe der Ergebnisse wurde ein weiterer OECDBericht präsentiert (OECD 2007b), den die mexikanische Regierung wenige Wochen zuvor bei der Organisation in Auftrag gegeben hatte. Dieser enthielt einen Katalog von insgesamt zwölf Handlungsempfehlungen zur Reform des mexikanischen Bildungssystems. Diese Empfehlungen basierten auf best practices aus Ländern wie Finnland, Kanada, Südkorea oder Polen, wurden aber für den konkreten Kontext der mexikanischen Bildungspolitik spezifiziert (Popp 2009). Besondere Betonung erfuhren dabei zwei Schwerpunktthemen der Organisation: Evidenzbasierte Politikgestaltung und Förderung der Lehrqualität (OECD 2006). Es gelang der OECD, ihre Empfehlungen in den politischen und öffentlichen Diskurs zu tragen. Die mexikanische Regierung verwies in der Debatte immer wieder auf den Bericht der OECD und die Konformität beabsichtigter Reformen mit den Empfehlungen der internationalen Ebene sowie auf Erfolgsmodelle aus anderen OECD-Ländern (Popp 2010). Ob diese Internationalisierungstendenzen aber über die diskursive Ebene hinaus gingen und wirklichen Wandel im Bildungsbereich bewirken konnten, soll im nächsten Abschnitt analysiert werden.
Politische Maßnahmen nach PISA Wenn man die Aussagen der Bildungsminister der ersten beiden PANRegierungen nach dem politischen Machtwechsel im Jahr 2000 ernst nimmt, mangelte es ihnen nicht an Tatendrang, grundlegende Bildungsreformen zur Verbesserung der Qualität des öffentlichen Bildungssystems auf den Weg zu bringen. In den mexikanischen PISA-Debatten wurden insbesondere Maßnahmen zur Förderung der evidenzbasierten Bildungs-
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politik und zur Verbesserung der Lehrqualität diskutiert. Diese beiden Schwerpunkte lassen sich nicht nur auf der diskursiven, sondern auch auf der politisch-administrativen Ebene wiederfinden. Eine der wichtigsten bildungspolitischen Neuerungen in der Regierungszeit von Präsident Fox (2000 bis 2006), welche auf eine Verbesserung der Bildungsqualität abzielte, war die Institutionalisierung der Evaluation durch die Gründung des INEE (Saracho Martínez 2007: 23). Im Jahre 2002 veranlasste Präsident Fox per Dekret die Gründung des Nationalen Evaluationsinstituts für Bildung. Dieses sollte nicht nur der Durchführung international vergleichender Bildungsstudien dienen, sondern auch eigene, vor allem innerstaatlich vergleichende Studien, durchführen. »EXCALE« (Éxamenes para la Calidad y el Logro Educativos) heißen die Evaluationsstudien, die vom INEE für den Bereich der mexikanischen Schulbildung entwickelt wurden und die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler verschiedener Klassenstufen im nationalen Vergleich bestimmen sollen. Die Errichtung des INEE war keine unmittelbare Reaktion des Präsidenten auf das schlechte Abschneiden bei PISA. Vielmehr war sein Handeln eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck, den die nationale Regierung aufgrund der Nichtveröffentlichung früherer Bildungsdaten zu spüren bekam (Ornelas 2004: 410–411).10 Doch die Evaluationspraktiken der OECD – oder vielmehr des internationalen PISA-Konsortiums (siehe Teltemann in diesem Band) – dienten dem mexikanischen Institut als Vorbild sowohl für die institutionelle Ausgestaltung als auch für die Entwicklung der standardisierten Testverfahren. Die Thematik der externen Evaluation im Bildungsbereich wurde von der nachfolgenden Regierung Calderón (2006 bis heute) aufgegriffen und ausgebaut. Im Nationalen Bildungsplan wurden die Entwicklung weiterer Bildungsvergleichsstudien und die Förderung der empirischen Bildungsforschung betont (SEP 2007). Im Rahmen der Bildungsdebatte um PISA 2006 erklärte die nationale Führung die Evaluation von Schüler- und Lehrerleistungen ganz offensiv zu einem Schlüsselelement für die Verbesse-
—————— 10 Entfacht wurde diese Debatte durch die Publikation der TIMSS-Ergebnisse von 1995 in der Zeitung Reforma. Die gesellschaftliche Empörung kreiste jedoch nicht um das ebenfalls schlechte Abschneiden der mexikanischen Schülerinnen und Schüler in jener Bildungsstudie, sondern um die Tatsache, dass sowohl die Regierung Zedillo (1994–2000) als auch die Regierung Fox die Studienergebnisse zurückgehalten hatte (Ornelas 2004: 410). Schließlich hatte Vicente Fox die Förderung von Transparenz und Accountability vor seiner Wahl zum mexikanischen Präsidenten zu einer der wichtigsten Maßnahmen für die Demokratisierung des politischen Systems erklärt.
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rung der Bildungsqualität und zur Maxime ihrer bildungspolitischen Strategie. Unterstützung erfuhr sie dafür von Seiten der OECD, allen voran von dem aus Mexiko stammenden Generalsekretär, Ángel Gurría, und dem Chef der PISA-Abteilung, Andreas Schleicher (Popp 2010). Über den Aspekt der Bildungsevaluation hinaus wurden weitere Initiativen zur Reform des mexikanischen Bildungswesens angeregt. Für die Regierung Fox lässt sich beispielweise das Programm »Qualitätsschulen« (Escuelas de Calidad) anführen. Es sollte Schulen in strukturschwachen Regionen die Möglichkeit eröffnen, durch zusätzliche finanzielle Ressourcen eine anregende Lernumgebung für die Kinder zu schaffen, eine bessere Ausstattung mit Lehrmitteln zu gewährleisten und mehr Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer anzubieten. Gleichzeitig sollte die Autonomie der einzelnen Schulen erhöht und die Integration der Eltern in den schulischen Alltag gefördert werden (Álvarez Gutierrez 2003). Insgesamt konnte die Regierung Fox ihrem selbst proklamierten Anspruch, als »Regierung des Wechsels« einen grundlegenden Wandel in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu bewirken, im Feld der Bildungspolitik jedoch nicht gerecht werden: »Wieder eine vertane Amtszeit. Sie bringen Bildung zum Stillstand.« (del Valle 2007a) Etliche der im Nationalen Bildungsplan (SEP 2001) formulierten Reformvorhaben konnten im Laufe der sechsjährigen Amtszeit nicht realisiert werden. Eine mögliche Erklärung dafür bietet das konfrontative Verhältnis zwischen SEP und SNTE in dieser Phase. Der Bildungsminister hatte mit den korporatistisch-klientelistischen Strukturen innerhalb des Systems brechen wollen, wurde dafür aber von Gewerkschaftsseite mit massiven Blockaden und Bestreikungen seiner Reformpläne abgestraft (Latapí Sarre 2004). Die fehlende Regierungserfahrung und mangelndes politisches Durchsetzungsvermögen der PAN erschwerten die Situation zusätzlich. Auch die Calderón-Regierung war aufgrund der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2006 mit großen Legitimations- und Durchsetzungsproblemen konfrontiert (Stiegler 2006). Deshalb war sie von Anfang an zu einem kooperativen Regierungsstil gezwungen. Auf der Suche nach zusätzlichen Legitimationsquellen wurden die Ergebnisse der PISA-Studie von 2006 und die Empfehlungen der OECD zu wichtigen Instrumenten, um die Notwendigkeit von Reformen zu unterstreichen. Zu diesem Zweck verwies das mexikanische Bildungsministerium explizit auf die Übereinstimmung ihrer im Nationalen Bildungsplan formulierten Bildungsziele mit den Empfehlungen der OECD. Eine dieser internationalen Empfehlungen
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sah die Bildung einer Reformkoalition zwischen den wichtigsten Akteuren des Bildungssektors vor (OECD 2007b). Am 15. Mai 2008, wenige Monate nach Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse, kam es zu einem Übereinkommen der nationalen Regierung mit der Lehrergewerkschaft, eine Bildungsallianz Alianza para la Calidad de la Educación zu bilden und gemeinsam eine grundlegende Reform zur Verbesserung der Bildungsqualität zu realisieren (SEP 2008). Die tatsächliche Wirkung der auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhenden Bildungsallianz bleibt allerdings abzuwarten. So lassen monatelange Lehrer-Streiks im Bundesstaat Morelos (Schwellnus 2009: 32) als Reaktion auf die Einführung neuer Einstellungstests zum Schuljahr 2009/10 darauf schließen, dass der Erfolg der Reforminitiative davon abhängt, ob es gelingen wird, die Akteure aller Ebenen des Systems für dieses Vorhaben zu gewinnen. Der OECD kommt in diesem Zusammenhang nicht nur die Rolle des Initiators, sondern auch die des Vermittlers zu. So blieb die Regierung Calderón auch im Anschluss an die PISA-Debatte auf eine enge Abstimmung mit der internationalen Ebene bedacht und unterzeichnete einen Kooperationsvertrag zur Einbindung der OECD in den mexikanischen Reformprozess. Im Rahmen dieser institutionalisierten Kooperation soll ein Team aus internationalen und nationalen Experten das Bildungsministerium in den Schwerpunkten Schulmanagement, Aktivierung der Zivilgesellschaft, Reform der Lehrerauswahl und -ausbildung sowie der Bildungsevaluation beraten.11 Die nationale Ebene bedient sich damit der Expertise und des internationalen Ansehens der internationalen Organisation, um die Legitimation ihrer Reformvorhaben zu erhöhen. Hinsichtlich der Einflussnahme der OECD auf die nationale Bildungspolitik ergibt sich daraus eine neue Form der Intervention, welche über die Diffusion allgemeiner Prinzipien zur Verbesserung nationaler Bildungssysteme hinausgeht. Sie entwickelt für den Kontext spezifizierte Handlungsempfehlungen und wirkt auf die Implementierung derselben ein.
—————— 11 Neben der spezifizierten Beratungstätigkeit begleitet und dokumentiert die internationale Aktionsgruppe die Reformfortschritte auf regelmäßiger Basis: http://www.oecd. org/edu/calidadeducativa (Abruf am 15.03.2010).
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Zehn Jahre PISA in Mexiko: Eine Bilanz Zwischen Kontinuität und Wandel – anhand dieses Spannungsverhältnisses lässt sich die Entwicklung der mexikanischen Politik in den letzten zehn Jahren am Besten beschreiben. Die demokratische Wende, die verstärkte Einbindung Mexikos in den internationalen Wettbewerb und eine aktivere Rolle des Landes innerhalb der internationalen Foren symbolisieren den politischen Wandel, welcher auch den Bildungsbereich nicht unberührt gelassen hat. Für die Gruppe der Modernisierer ist die Teilnahme an internationalen Bildungsstudien und das Lernen von anderen Ländern daher unbedingt notwendig, um das mexikanische Bildungswesen an die veränderten Anforderungen in einer globalisierten Welt anzupassen. Viele Traditionalisten lehnen diese Internationalisierungstendenzen in der Bildungspolitik ab, weil sie den Vergleich mit oder die Übernahme von Modellen aus Ländern, deren kulturelle Basis sich wesentlich von der Mexikos unterscheide, als problematisch ansehen. Die empirische Analyse zeigt jedoch, dass es trotz der Differenzen zwischen diesen beiden Strömungen innerhalb des mexikanischen Bildungssektors zu richtungsweisenden Veränderungen im Schulbereich gekommen ist. Auf der diskursiven Ebene wird der Wandel besonders deutlich: So hat sich die Verbesserung der Bildungsqualität in den letzten Jahren zum wichtigsten Ziel der nationalen Bildungspolitik entwickelt. Auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität des mexikanischen Bildungswesens orientierte sich die nationale Führung an der Bildungspolitik der »Sieger« und »Aufsteiger« im PISA-Ranking. Direkte Verweise auf die Erfolgsmodelle anderer Länder oder die Empfehlungen der internationalen Ebene sollten dabei die Legitimation geplanter Reformen erhöhen. Entsprechende Initiativen, wie die Institutionalisierung der Bildungsevaluation, die Förderung der Schulautonomie oder die Reform der Lehrerauswahl weisen eine hohe Übereinstimmung mit den von der OECD empfohlenen und verbreiteten Prinzipien auf. Die Umsetzung dieser Bildungsreformen befindet sich allerdings noch in den Anfängen. Ihr Erfolg wird davon abhängen, ob es gelingt, die Machtspiele zwischen SEP und SNTE in Kooperationsspiele umzuwandeln, weitere Akteure in die Gestaltung der mexikanischen Bildungspolitik zu integrieren und auch die föderale, lokale wie schulische Ebene des Bildungswesens von der Notwendigkeit der Reformen zu überzeugen.
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Die mexikanischen Reaktionen auf PISA lassen sich auf unterschiedliche Weise deuten. Die Besonderheiten des politisch-institutionellen Rahmens liefern eine mögliche Erklärung dafür, dass die Regierung Fox das Potential der Transition im Bildungsbereich nicht ausschöpfen konnte. Von Regierungsseite wurden zwar mehrere Versuche zur Reform der Sekundarbildung unternommen, doch wusste die Lehrergewerkschaft diese Initiativen durch ihre formellen und informellen Einflussmöglichkeiten zu blockieren (Santibañez 2008). Zentraler Anlass hierfür war das konfrontative Verhältnis zwischen SEP und SNTE in der ersten Phase nach dem Regierungswechsel. Erst in der zweiten Hälfte der Amtsperiode, also ab PISA 2003, setzte die mexikanische Bildungspolitik wieder verstärkt auf eine Annäherung zur Lehrergewerkschaft. Die Regierung Calderón führte diesen kooperativen Kurs im Bildungsbereich fort. Eng verbunden mit dem Streit zwischen SEP und SNTE ist die Frage nach der Kompatibilität von nationaler und internationaler Leitidee. Während das mexikanische Bildungsministerium schon vor PISA ein Modell favorisierte, welches stärker auf Kompetenzorientierung, Leistungsmessung, Schulautonomie, etc. ausgerichtet war – und damit dem Bildungsverständnis der OECD sehr nahe kommt – wird die Bildungswirklichkeit in Mexiko noch stark von einem Bildungsverständnis geprägt, welches aus den Ideen der Mexikanischen Revolution hervorgegangen ist. Die PISAErgebnisse ermöglichten es der nationalen Führung, die Legitimation für das von ihr favorisierte Modell zu steigern. Besondere Erklärungskraft bietet jedoch der Faktor Problemdruck. Dieser kann im mexikanischen Fall in zweifacher Hinsicht interpretiert werden. Erstens gab es einen Reformstau im Sekundarbereich vor PISA. Dieser war dadurch entstanden, dass die große Bildungsreform der 1990er Jahre auf den Bereich der Primarbildung fokussierte; im Bereich der Sekundarbildung hatte man sich vorrangig mit der Thematik der Bildungsexpansion beschäftigt und Fragen der Bildungsqualität bis zum Erscheinen der PISA-Studie vernachlässigt. Zweitens gibt es aber auch den Problemdruck, der durch die PISA-Studie selbst erzeugt wurde. Die OECD und die Akteure der nationalen Ebene haben sich dieses Instrumentes gleichermaßen bedient, um den Handlungsdruck für Bildungsreformen zu erhöhen und ihre Ideen im Bildungsdiskurs durchzusetzen. Auf diese Weise hat PISA nicht nur das Problem der Bildungsqualität aufgedeckt, sondern zugleich Antworten zu dessen Lösung mitgeliefert (siehe auch Popp et al. in diesem Band).
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In Zukunft wird PISA daher nicht nur ein Maß zur Bestimmung von Bildungsqualität in Mexiko, sondern auch zur Bestimmung der Effektivität der mexikanischen Bildungspolitik sein. Für die fünfte PISA-Erhebung im Jahr 2012 hat sich die mexikanische Regierung eine eigene Richtmarke gesetzt: Die Qualität von Bildung soll nach Ablauf der sechsjährigen Amtszeit der Calderón-Regierung so sehr verbessert worden sein, dass die durchschnittlichen Leistungen der mexikanischen Schülerinnen und Schüler von 392 Punkten im Kompetenzbereich Mathematik bei PISA 2003 auf 435 Punkte bei PISA 2012 ansteigen (SEP 2007). Auch wenn das Beispiel Polens gezeigt hat, dass grundlegende Reformen im Bildungsbereich in verhältnismäßig kurzer Zeit eine deutliche Verbesserung der Schülerleistungen zur Folge haben können, ist dies für den Fall Mexikos eher unwahrscheinlich (del Valle 2007b). Selbst wenn es dem Land gelingen sollte, den Bereich der Sekundarbildung in den nächsten Jahren grundlegend zu reformieren, werden sich diese Anstrengungen bei PISA 2009 noch nicht in signifikanten Kompetenzverbesserungen niederschlagen können. Man sollte zudem das mexikanische Interesse an den neueren Bildungsstudien der OECD im Blick behalten. Bereits im Juni 2009 wurden die Ergebnisse von TALIS (Teaching and Learning International Survey) veröffentlicht (OECD 2009). Auch diese Ergebnisse nutzte die mexikanische Bildungspolitik, um die Schlüsselrolle der Lehrerinnen und Lehrer für die Verbesserung der Bildungsqualität sowie die Notwendigkeit zu betonen, deren Auswahl und Fortbildung zu reformieren. An der Bildungsstudie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), mit deren Durchführung die OECD ab 2011 beginnt (Schleicher 2008), wird sich Mexiko nicht beteiligen. Stattdessen beauftragte das Land die OECD mit der Erstellung eines Berichts, welcher konkrete Empfehlungen zur Optimierung des mexikanischen Systems der Berufsbildung enthalten sollte (OECD/CERI 2009). Besonders groß ist jedoch das Interesse Mexikos an der AHELO-Studie (Assessment of Higher Education Learning Outcomes). Diese Bildungsstudie, mit der die OECD das System von internationalen Hochschulrankings zu revolutionieren versucht, befindet sich gegenwärtig noch in der Entwicklungsphase. Mit diesem Beitrag wurden die bildungspolitischen Veränderungen in einem Land der OECD untersucht, welches aufgrund seiner besonderen Kontextbedingungen in vielen Vergleichsstudien unberücksichtigt bleibt. Es konnte gezeigt werden, dass die OECD eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung des mexikanischen Bildungswesens gespielt hat. Wei-
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tere Studien wären jedoch nötig, um heraus zu finden, ob diese Beobachtungen dem mexikanischen Einzelfall geschuldet sind oder ob sich für die Gruppe der Schwellen- und Entwicklungsländer ein eigenes Muster hinsichtlich des Verhältnisses von nationaler Politikgestaltung und internationaler Bildungsgovernance ergibt.
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Neuseeland – Überflieger mit Leistungsgefälle
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Einleitung Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die Reformen im neuseeländischen Sekundarschulwesen seit den umfassenden Reformen der 1980er Jahre. Dabei werden die nationalen und internationalen Einflussfaktoren beschrieben, die sich sowohl auf den Politikgestaltungsprozess als auch auf die Konstellation bildungspolitischer Akteure ausgewirkt haben. Es wird davon ausgegangen, dass internationale Organisationen wie die OECD unterschiedliche Steuerungsinstrumente einsetzen, um auf nationaler Ebene Politikwandel hervorzurufen (siehe de Olano et al. in diesem Band; zum Konzept von IO-Governance siehe Nagel/Martens/Windzio 2010). Diese Instrumente umfassen unter anderem vergleichende Statistiken und Schulleistungsuntersuchungen wie die PISA-Studie, die auch dazu dienen, Schwächen nationaler Systeme aufzudecken und konkrete politische Reformempfehlungen zu begründen. Neuseeland stellt in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar. Das südpazifische Land kann auf eine lange Tradition der bildungspolitischen Zusammenarbeit mit der OECD zurückblicken, die bis in die späten 1970er Jahre zurückverfolgt werden kann. Im Gegensatz zu den meisten anderen in diesem Band untersuchten Ländern reformierte Neuseeland bereits Anfang bis Mitte der 1990er Jahre sein Bildungswesen grundlegend. Vor diesem Hintergrund kann Neuseeland in vielerlei Hinsicht als bildungspolitischer Vorreiter innerhalb der OECD gelten. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die bisherigen PISA-Studien klare Schwächen des neuseeländischen Bildungswesens gezeigt und zu wesentlichen Veränderungen geführt haben. Am Beispiel Neuseelands soll außerdem gezeigt werden, wie internationale Vernetzung und Kommunikation nationalstaatliche bildungspolitische Traditionen und Institutionen in Frage stellen können. Doch wäre es
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vorschnell zu vermuten, dass Nationalstaaten automatisch auf alle externen Empfehlungen und Reformvorschläge aus der transnationalen Arena reagieren, denn innenpolitische Institutionen wie beispielsweise legislative Hindernisse, historische Pfadabhängigkeiten und fest verankerte bildungspolitische Leitideen können die Richtung und Geschwindigkeit der Reformen stark beeinflussen. Deshalb richtet sich der Fokus der Analyse des neuseeländischen Bildungssystems auf dessen nationale Transformationskapazitäten. Diese umfassen zum einen innenpolitische Faktoren, die Erklärungen dafür liefern können, wie internationale Zwänge durch nationalstaatliche Institutionen verarbeitet werden. Im Gegensatz zu vielen bikameralen und föderalistischen Systemen Westeuropas und Nordamerikas kann Neuseeland als Land mit wenigen Vetospielern und institutionellen Hürden gelten. Der legislative Prozess im neuseeländischen Einkammersystem erweist sich dadurch als überschaubar und sowohl für großangelegte Reformprojekte als auch für kleinere Anpassungsmaßnahmen im Bildungsbereich als förderlich. Zudem ist das neuseeländische Schulsystem in eine sich rapide transformierende Gesellschaft eingebettet, die in den letzten Jahren die Leitidee der wissensbasierten Ökonomie stark verinnerlicht hat (Ministry of Education 2006: 16). Doch auch weitere Faktoren wie die hohe Bereitschaft bildungspolitischer Akteure, sich an internationaler Zusammenarbeit auf allen Ebenen zu beteiligen, und die langjährige Tradition des internationalen Vergleichs wirken sich positiv auf die Reformfähigkeit und Transformationskapazität des Landes aus. Es soll im Folgenden dargestellt werden, wie Neuseeland in den letzten Jahrzehnten nicht nur von der zunehmenden Internationalisierung der Bildungspolitik profitiert, sondern diese auch mitgestaltet hat. Die neuseeländische Bildungspolitik der letzten rund 15 Jahre ist vor allem durch Versuche des Staates und nichtstaatlicher Akteure geprägt, das Bildungssystem im Einklang mit sozio-ökonomischen Anforderungen und einer zunehmend globalisierten Wissensökonomie zu optimieren. Infolgedessen – und hier liegt das Kernargument dieses Beitrags – hat sich das südpazifische Land konsistent an policies orientiert, die von internationalen Organisationen und insbesondere der OECD gefördert werden. Dabei verfolgt Neuseeland eine Art »Radarpolitik«: Staatliche und nicht-staatliche bildungspolitische Entscheidungsträger versuchen mittels internationaler Organisationen beste Praktiken zu identifizieren, um verschiedene nationale bildungspolitische Zielsetzungen zu verwirklichen, zum Beispiel hohe
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Bildungsbeteiligung, Integration und Förderung benachteiligter Gruppen, Marktnähe und so weiter. In diesem Kontext spielt die PISA-Studie der OECD eine entscheidende Rolle. Zunächst wird die Geschichte des neuseeländischen Bildungswesens umrissen, das sich im Hinblick auf Akteurskonstellationen und strukturelle Aspekte, aber auch in seinen bildungspolitischen Leitideen und Traditionen von kontinentaleuropäischen Systemen weitgehend unterscheidet. Anschließend wird auf die erste große Reformwelle eingegangen, die unter dem Stichwort »Schocktherapie« die Leitlinien der neuseeländischen Bildungspolitik radikal veränderte. Sodann richtet sich der Fokus auf die bildungspolitischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre, die durch zunehmende Internationalisierung und insbesondere die Teilnahme Neuseelands an der PISA-Studie geprägt sind. Zum Schluss des Beitrags wird wieder auf den politikwissenschaftlichen Erklärungsrahmen Bezug genommen, der in der Einleitung zu diesem Band vorgestellt wurde, um das Zwischenspiel zwischen nationalen und internationalen Faktoren am Beispiel Neuseeland aufzuzeigen.
Status Quo Ante Pisa – Die Entwicklung des neuseeländischen Bildungswesens Es soll eingangs darauf verwiesen werden, dass es sich bei Neuseeland um eine bikulturelle Nation und multikulturelle Gesellschaft handelt. Der in Neuseeland gängige Begriff »Bikulturalismus« bezieht sich darauf, dass das Land und dessen Kultur vorwiegend von den Gründungs- und Hauptkulturen des Landes – den Māori-Ureinwohnern und den vorwiegend englischsprachigen europäischen Siedlern (Pākehā) – geprägt werden. Zudem hat sich Neuseeland in den letzten Jahren als attraktives Einwanderungsland etabliert, sodass sowohl der Bikulturalismus als auch der zunehmende ethnische Multikulturalismus starke Spuren im sekundären und tertiären Bildungswesen hinterlassen haben. Mit dem Education Act of 1877 wurde erstmals ein kostenloses staatliches Grundschulwesen eingerichtet, das die bisher von Kirchen und Gemeinden verwalteten kostenpflichtigen Schulen ersetzte. Ein System kostenloser Sekundarschulen wurde Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt und mit der Verabschiedung des Education Act of 1914 stark ausgebaut. Das
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Gesetz verpflichtete alle Sekundarschulen, allen Schülern, die eine Zulassungsprüfung bestanden, kostenfreien Zugang zum Unterricht zu ermöglichen. Von Anfang an wurde das neuseeländische Schulwesen von egalitären Vorstellungen politischer Entscheidungsträger geprägt und zielte darauf ab, Schülerinnen und Schülern eine gemeinsame staatsbürgerliche Wissens- und Wertebasis zu vermitteln (siehe Olssen/Morris Matthews 1997). Einen weiteren Anstoß für die Expansion des Sekundarschulsystems und die Erhöhung der Schülerzahlen gab 1944 der Thomas Report, der ein Kerncurriculum für alle Kinder im Schulalter mit Fokus auf praktische und akademische Fertigkeiten einführte. Das neuseeländische Bildungssystem lässt sich durch eine Vielzahl von Leitideen kennzeichnen, die sich effektiv ergänzen und damit möglicherweise den relativen Erfolg des Bildungssystems erklären. Wie bereits angedeutet wurde in der Nachkriegsphase großer Wert auf die vergleichbare Qualität der Bildungseinrichtungen und das Prinzip der Bildungsgleichheit über sozio-ökonomische Schichten hinaus gelegt (Gordon 1997: 66). Diese Tradition der Zugänglichkeit und der Chancengleichheit kann unter anderem auf den starken Einfluss schottischer Einwanderer zurückgeführt werden, die zusammen mit englischen Siedlern das Bildungswesen stark geprägt haben (Interview NZ-07). Im Gegensatz zur englischen Tradition und zu vielen anderen Kolonialgesellschaften hat sich in Neuseeland kein klassenbasiertes Bildungswesen herauskristallisiert (OECD 1983: 21). Schulen wurden verpflichtet, allen Schülerinnen und Schülern ähnliche Inhalte und Möglichkeiten ohne Rücksicht auf regionale und sozio-ökonomische Gegebenheiten zu bieten. Das damals stark interventionistische Department of Education setzte sich das Ziel, das Prinzip der Bildungsgleichheit im öffentlichen Bildungssystem landesweit durchzusetzen. Das historisch verankerte egalitäre Fundament des neuseeländischen Bildungswesens wird durch eine Reihe weiterer Leitideen ergänzt. Anknüpfend an die britische (also englische und schottische) Tradition zeichnet es sich durch eine starke Ausrichtung an lokalen Interessen aus. Es wird versucht, öffentliche Interessengruppen wie Familien, Wirtschaftsunternehmen und weitere regionale Entscheidungsträger möglichst in lokale bildungspolitische Entscheidungsprozesse einzubinden. Neuseeland pflegt deshalb insbesondere im Bildungsbereich eine Tradition der konsensorientierten Politikgestaltung und der multilateralen Koordination mit externen betroffenen Akteuren. Die traditionell lokale Ausrichtung wird in den letzten Jahren allerdings durch eine zunehmend globale Orientierung in der
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Bildungspolitik ergänzt, die sich in der großen Bereitschaft bildungspolitischer Entscheidungsträger widerspiegelt, an internationalen Leistungsvergleichen und Lernprozessen teilzunehmen. Im Zuge der Internationalisierung und der grundlegenden Neuausrichtung der neuseeländischen Volkswirtschaft seit Mitte der 1980er Jahre wird das traditionelle Leitbild der Bildungsgleichheit allerdings zunehmend mit einer »Marktphilosophie« konfrontiert. Dabei wird ein immer stärkerer Fokus auf die wirtschaftliche Bedeutung von Bildung gelegt (Gordon 1997; Olssen/Morris Matthews 1997), was sich unter anderem im steigenden Einsatz unternehmerischer Steuerungsmechanismen widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund besteht gegenwärtig die zentrale Herausforderung für bildungspolitische Entscheidungsträger darin, das Gleichgewicht zwischen der Leitidee von Bildung als Menschenrecht zur Förderung der sozialen Gleichheit und der entgegengesetzten Leitidee von Bildung als Humankapital, welches eine zentrale Ressource für das Überleben in einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie darstellt (Fitzsimmons 1997), zu halten. Gerade in diesem Kontext spielen die internationale Ebene und insbesondere die PISA-Studie eine zentrale Rolle.
Struktur, allgemeine Kennzahlen, juristische Rahmenbedingungen und internationaler Kontext Das neuseeländische Bildungssystem weist einige auffällige strukturelle Merkmale auf, zum Beispiel eine gemessen an der Einwohnerzahl besonders hohe Anzahl an Schulen (OECD 1983: 17; Interview NZ-07). Der Schulbesuch ist für Kinder zwischen sechs und sechzehn Jahren verpflichtend.1 Schulbildung gilt als verfassungsmäßiges Recht bis zur Vollendung des 19. Lebensjahres.2 Über 90 Prozent der neuseeländischen Kinder beginnen ihre Schullaufbahn in einer staatlich geförderten Vorschul-
—————— 1 Der Schulabgang mit 15 Jahren ist mit Zustimmung der Eltern möglich. 2 Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bildungsbedürfnissen dürfen bis zum 21. Lebensjahr in der Schule bleiben. Eine Gesetzesänderung, die im Rahmen der Schools Plus-Reformen im Jahre 2008 vorgenommen wurde, verpflichtet alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr, eine Bildungseinrichtung zu besuchen (siehe New Zealand Herald vom 19.09.2008, http://www.nzherald.co.nz/nz/news/article.cfm?c_id=1&objectid=1 0533068).
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einrichtung.3 Die Schulstruktur lässt sich in entweder zwei oder drei Stufen einteilen. Die Grundbildung besteht aus sechsjährigen contributing primary schools oder achtjährigen full primary schools. Die weiterführende Schulausbildung (Sekundarniveau) findet in den meisten Fällen an vier oder sechsjährigen secondary state schools statt, die auch als colleges oder high schools bezeichnet werden. Manche neuseeländische Schülerinnen und Schüler besuchen eine so genannte zweijährige intermediate school zwischen der Primarund Sekundarstufe. Dies trifft auf Regionen zu, die nur vierjährige secondary state schools betreiben sowie auf Māori-Jugendliche, die die Möglichkeit haben, eine restricted composite school (Kura Kaupapa Māori), eine Art māorisprachige Immersionsschule, zu besuchen (siehe Ministry of Education 2008). Trotz dieser strukturellen Unterschiede und der Zunahme berufsbildender Angebote im Sekundarbereich (siehe unten) kann man im neuseeländischen Falle jedoch nicht von einem gegliederten Schulsystem, wie etwa in Deutschland, sprechen. In Neuseeland werden unterschiedliche Typen von Sekundarschulen betrieben, die neben den staatlich finanzierten öffentlichen Schulen und state integrated schools4 auch private Schulen (so genannte registered schools und independent schools) umfassen. Die privaten Schulen werden nur zu circa 25 Prozent staatlich finanziert. Etwa 85 Prozent aller Kinder im Schulalter besuchen öffentliche Schulen, etwa 10 Prozent state integrated-Schulen und etwa 4 Prozent Privatschulen. In diesem Kontext ist es wichtig anzumerken, dass alle neuseeländischen Schulen durch einen sehr hohen Grad an Finanz- und Verwaltungsautonomie gegenüber dem Staat und lokalen Behörden gekennzeichnet sind (Gordon 1997). Im Zuge der tiefgreifenden Reformen der späten 1980er Jahre und frühen 1990er Jahre gibt der Education Act von 1989 den juristischen Rahmen für die Verteilung von bildungspolitischen Kompetenzen zwischen dem Ministerium und den unterschiedlichen Schultypen vor. Das Gesetz erhebt das Ministry of Education, welches das frühere Department of Education ersetzte, zum wichtigsten staatlichen Akteur für die Setzung bildungspolitischer Rahmenbedingungen und für die strategische bildungspolitische
—————— 3 Dieser so genannte early childhood education-Bereich besteht aus diversen Einrichtungen: Kindergärten, play centres, crèches und kōhanga reo für Māori-Kinder. 4 State integrated schools sind ehemalige Privatschulen mit religiösem oder besonderem bildungsphilosophischem Fokus, die seit dem Private Schools Conditional Integration Act von 1975 einen Mischtyp darstellen, indem sie einen Teil des öffentlichen Systems bilden, aber zugleich »will preserve and safeguard the special character of the education provided by them«.
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Orientierung. Gleichzeitig wurden mit dem Education Act eine Reihe quasistaatlicher bildungspolitischer Institutionen zur Gewährleistung eines hohen Grades an Qualität eingerichtet. Diese institutionellen Erneuerungen gingen aus einer beispielslosen Reformwelle hervor, die Ende der 1980er Jahre initiiert wurde. Bis dahin waren Neuseelands Wirtschaft und Sozialstruktur durch einen hohen Grad an staatlicher Intervention und staatlichem Protektionismus gekennzeichnet. Gleichzeitig litt das Land nicht nur an niedriger Produktivität und niedrigem Wirtschaftswachstum, sondern auch an hoher Arbeitslosigkeit, einem hohen Staatsdefizit und nicht zuletzt einer übermäßigen wirtschaftlichen Abhängigkeit von Großbritannien. Unter Thatcher hatte Großbritannien jedoch zu diesem Zeitpunkt einen wirtschaftlichen Kurs der Deregulierung und Liberalisierung eingeschlagen und seinen Fokus zunehmend auf die Europäische Union gerichtet. Inspiriert von den Thatcherschen Reformen der 1980er Jahre (Interview NZ-10) initiierte die sozialdemokratische neuseeländische LabourRegierung das wahrscheinlich umfassendste wirtschaftliche Liberalisierungsprogramm, das jemals von einer stabilen Demokratie unternommen wurde. Die Reformmaßnahmen führten zur Deregulierung mehrerer Wirtschaftszweige sowie zur Liberalisierung und Abschaffung von Handelsschranken, die bisher die »Festung Neuseeland« vor ausländischem Wettbewerb weitgehend schützten (Interview NZ-10; siehe Fitzsimmons/ Peters/Roberts 1999). Gleichzeitig wurde das Finanzministerium (Treasury) zu einem immer zentraleren politischen Akteur, indem es Reformen der öffentlichen Verwaltung beruhend auf Managerialism (Interview NZ-08) und der Humankapitaltheorie einforderte (siehe Fitzsimmons 1997). Das neuseeländische Bildungswesen, das zunehmend als kostenintensive gesellschaftliche und wirtschaftliche Belastung wahrgenommen wurde, wurde schnell auch von der Reformeuphorie erfasst (Codd 2003: 24). Eine aus staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren bestehende Arbeitsgruppe wurde beauftragt, das öffentliche Bildungswesen kritisch zu durchleuchten, und veröffentlichte 1988 ihre Ergebnisse im Bericht Administering for Excellence: Effective Administration in Education, der in Neuseeland auch unter dem Namen Picot Report bekannt ist (siehe McKenzie 1997). Diese Arbeitsgruppe erreichte den einstimmigen Konsens, dass das breite sozio-ökonomische Reformpaket auch auf das Bildungswesen erweitert werden sollte. Das Department of Education kam zur Schlussfolgerung, dass »es ineffektiv und eine Zeitverschwendung wäre, die bestehenden administrativen
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Strukturen nur neu zu justieren, da dies die dringend notwendigen Reformen nicht herbeiführen würde.« (Taskforce to Review Education Administration 1988: vii.) Vor diesem Hintergrund unternahm das Department of Education ab 1989 den groß angelegten Versuch, das Sekundarbildungswesen auf der Grundlage des Reform of Education Act und der Tomorrow’s Schools-Initiative zu modernisieren (siehe Wylie 1989). Diese Reformbemühungen hatten direkte Auswirkungen nicht nur auf bestehende bildungspolitische Strategien, policies und Institutionen, sondern auch auf die ihnen zugrundeliegenden historischen bildungspolitischen Leitideen. Das bisher dominante Verständnis von Bildung als Instrument zur Förderung von Chancengleichheit und sozialer Kohäsion wurde schnell von neuen Prinzipien wie Effizienz, Wahlfreiheit, Wettbewerb und Rechenschaftspflicht überlagert (Olssen/Morris Matthews 1997: 18). Auf dieser Grundlage sollten Schulen restrukturiert und die mit Qualitätskontrolle, der persönlichen Entwicklung der Schüler, institutionellen Arrangements und der Informationsvermittlung verbundenen Kosten reduziert werden (siehe Olssen 2001: 22). Im Hinblick auf den institutionellen Kontext wurde erstens das Department of Education nicht nur in ein weitaus kleineres Bildungsministerium umgewandelt, sondern auch »deregionalisiert«, indem die regionalen Schulbehörden (Education Boards) ebenfalls abgeschafft wurden.5 Zweitens wurden infolge des Reform of Education Act alle Schulen in selbstverwaltende Einheiten umgewandelt, deren Finanzen von so genannten Verwaltungsausschüssen (Boards of Trustees) verwaltet werden, die unter anderem aus gewähltem leitendem Schulpersonal und lokalen Vertretern bestehen (Interview NZ-03). Eine dritte, besonders wichtige Komponente der Transformation des neuseeländischen Bildungssystems war eine Neuregelung der Finanzierung, die vorsieht, dass Schulen nunmehr eine pauschale Finanzierung von der Regierung erhalten, also Globalhaushalte, über die sie frei verfügen und aus denen sie Personal- und Materialkosten bestreiten. Die vierte fundamentale Neuerung war die Einführung eines Nationalen Zertifikats für Bildungsleistungen (National Certificate of Education Achievements). Mit diesem neuen
—————— 5 Um dies in einen Gesamtzusammenhang zu rücken, lohnt sich ein Vergleich mit den Schulsystemen der USA und Kanadas. In Neuseeland hat jede Schule ihre eigene lokale Schulbehörde, die in Zusammenarbeit mit Lehrern, Eltern und lokalen Akteuren für die Steuerung einer einzigen Schule verantwortlich ist, während sich die Schulbehörden (school boards) in den USA und Kanada generell als Dachorganisationen für mehrere lokale Schulen verstehen.
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Qualifikationsrahmen wurden regelmäßige Testverfahren abgeschafft (vergleiche No Child Left Behind in den USA; siehe auch Martens in diesem Band) und durch eine neue Strategie der systematischen und begleiteten Aneignung von Fähigkeiten ersetzt. Darüber hinaus unternahm die Regierung zahlreiche Anstrengungen, um sozial und wirtschaftlich benachteiligte Gruppen, insbesondere Māori-Kinder, stärker einzubinden. Neben der angestrebten größeren Integration, Flexibilität, Vielfalt und Autonomie der Bildungsträger wurde seitens des Staates versucht, eine neue Kultur des »reibungslosen Übergangs« (fluidity) zwischen Sekundar-, Tertiärbildung und dem Arbeitsmarkt zu institutionalisieren (Eppel 2007). Laut Olssen und Morris Matthews (1997: 19) führte die Tomorrow’s Schools-Initiative zu folgenden fundamentalen Veränderungen: Übertragung von Personal- und Steuerungskompetenzen an lokale und aus gewählten Mitgliedern bestehende Schulbehörden und -räte, Übertragung von finanziellen Verwaltungskompetenzen direkt an die Schulverwaltung, stärkerer Fokus auf Wahlfreiheit, jedoch auch zunehmende staatliche Kontrolle im Hinblick auf Lehrinhalte und Evaluationsprozesse. Einige Autoren wie beispielsweise Hirsch interpretieren den bildungspolitischen Wandel dahingehend, dass Neuseeland »sein Bildungssystem abgeschafft hat« und den Weg für »eine Vielzahl faktisch autonomer Anbieter von Bildungsleistungen«6 ebnete (Hirsch 1995: 6). Doch angesichts der transformierten Rolle des Staates geht diese Sichtweise zu weit. Das Bildungssystem entwickelte sich in der Tat hin zu einem stark dezentralisierten, marktorientierten Modell basierend auf unternehmerischer Steuerung und Wahlfreiheit. Dabei wurde jedoch die Qualität der Bildungsleistungen durch eine Reihe quasi-staatlicher Institutionen (vor allem New Zealand Qualifications Authority und Education Review Office) gestützt und überwacht (siehe unten), die unter anderem den reibungslosen Übergang zwischen Sekundarbildung, Tertiärbildung und dem Arbeitsmarkt fördern sollten. Diese inhaltlichen Anpassungen spiegelten sich stark im so genannten neuseeländischen Qualifikationsrahmen (New Zealand Qualifications Framework) wider, der genau festlegte, welche Fertigkeiten die Schülerinnen und Schüler sich in welcher Bildungsphase aneignen sollen. In diesem Zusammenhang wurde die neu eingerichtete neuseeländische Qualifikationsagentur (Qualifications Authority – NZQA) beauftragt, Schulpersonal und Wirtschaftsvertreter bei der Entwicklung des Qualifikationsrahmens für
—————— 6 Englischer Wortlaut: »abolishing its education system, while creating a series of virtually autonomous providers« (Hirsch 1995: 6).
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alle Bildungsebenen (außer den Universitäten) zu unterstützen. Als unabhängige und unparteiische Expertenorganisation ist die NZQA für die Koordination von Qualitätssicherungsmaßnahmen auf nationaler Ebene verantwortlich. Das Bildungsministerium ernennt den Verwaltungsrat (Statutory Board), der gesellschaftliche, industrielle und bildungsrelevante Interessen vertreten soll und die strategische Orientierung der NZQA in enger Absprache mit den verantwortlichen Ministern bestimmt. Die NZQA als Gesamtinstitution trägt dann die Verantwortung für die Umsetzung des nationalen Qualifikationsrahmens. Die im Rahmen der Tomorrow’s Schools-Initiative durchgeführten Reformen hatten eine weitere bedeutende Konsequenz. Die höhere Autonomie und die größeren Selbstverwaltungskompetenzen für die Schulen gingen mit einer starken Diversifizierung der Bildungslandschaft einher. Je vielfältiger und autonomer die Schulen wurden, desto schwieriger wurde es für den Staat, das System zentral zu steuern. Infolgedessen wurde eine weitere staatliche Agentur eingerichtet – das Education Review Office (ERO) – welches alle drei Jahre im Auftrag des Staates Qualitätsüberprüfungen (Quality Audits)7 durchführt. Trotz der wichtigen Rolle dieser Institutionen, die eine qualitätsorientierte staatliche Steuerung des gesamten Bildungssystems gewährleisten, gehört Neuseeland laut OECD-Statistiken zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Entscheidungen im Sekundarbildungswesen, die direkt auf Schulebene getroffen werden (OECD 2008). Vor diesem Hintergrund befindet sich Neuseeland in der günstigen Lage, dass es bereits in den späten 1980ern und frühen 1990ern im Rahmen der Transformation des öffentlichen Sektors tief greifende Reformen des Bildungswesens (einschließlich der Tertiärbildung) einleitete. Gegenwärtige bildungspolitische Entscheidungsträger haben ein System geerbt, welches sich durch einen hohen Grad an Flexibilität, Diversifizierung und Autonomie kennzeichnet und gleichzeitig durch ein gut entwickeltes System der Qualitätskontrolle gestützt und überwacht wird. Außerdem kann das neuseeländische Bildungswesen auf allen Ebenen auf eine lange Tradition der Zusammenarbeit und Synergien mit dem Privatsektor und der Industrie, aber auch mit Eltern und lokalen Entscheidungsträgern zurückblicken. Damit wird eine ständige multilaterale Kommunikation und Rechenschaft gewährleistet.
—————— 7 Die Qualitätskontrollen werden etwa alle drei Jahre durchgeführt, es sei denn, die Schule fällt mit besonders schlechten Leistungen auf. Auf der Grundlage der Kontrollen werden Empfehlungen für einzelne Schulbehörden formuliert.
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Zu der stärkeren Marktorientierung im Bildungswesen hat auch die marktfreundliche Denkfabrik Education Forum erheblich beigetragen. Diese Nicht-Regierungsorganisation ging in den frühen 1990er Jahren aus dem New Zealand Business Round Table, einer mächtigen Wirtschaftslobby, hervor. Das Forum, das während des gesamten Reformprozesses eine beratende Funktion erfüllte, setzte sich einerseits für größeren Wettbewerb und größere Wahlfreiheit im Bildungswesen ein. Andererseits hatte das Forum auch einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung der mittlerweile stark institutionalisierten »Kultur des internationalen Vergleiches« (Interview NZ-10), indem es zahlreiche international vergleichende Analysen zu Bildungsfragen veröffentlichte und ein kritisches Licht auf das bisherige stark verstaatlichte System warf. Im Hinblick auf den dieser Studie zugrunde liegenden theoretischen Rahmen kann konstatiert werden, dass die verschiedenen Vetospieler und Blockademöglichkeiten im politischen System kein besonders großes Hindernis für die Umsetzung der Reformen darstellten. Schließlich wurde das marktorientierte Reformpaket von der Mitte-links-gerichteten Labour Party initiiert (siehe Shaw/Eichbaum 2006) und von der marktfreundlichen, Mitte-rechts-gerichteten National Party mitgetragen (Interview NZ-05). Außerdem waren weitere potentielle Vetospieler wegen der vielen neuen Anreize (zum Beispiel höhere Autonomie, Selbstverwaltung der Schulen, diversifizierte Finanzierung) bereit, das Reformpaket zu unterstützen. Darüber hinaus kann auch hervorgehoben werden, dass die Vorstellung selbstverwaltender Schulen gut zur neuseeländischen Bildungs- und Wirtschaftskultur passt, die von kleinen Gemeinden und starkem Engagement der Elterngemeinschaft geprägt ist (Interview NZ-04). Im Rahmen des GATS-Abkommens der Welthandelsorganisation (WTO) setzt sich Neuseeland zunehmend auch für die Liberalisierung von Bildungsmärkten und die freie Bewegung von Bildungsdienstleistungen weltweit ein (WTO 2001). Infolgedessen versucht die Regierung – in Zusammenarbeit mit industriellen und bildungspolitischen Akteuren – ausländische Schüler und Studenten direkt zu rekrutieren (siehe Martens/ Starke 2008; Dobbins 2010; Lewis 2005). Diese Strategie wird vom International Education Framework aus dem Jahr 2004 untermauert, das die langfristigen Vorteile für alle Beteiligten – den Staat, die Schulen und Hochschulen sowie ausländische Partner und die neuseeländische Industrie – betont. Die Öffnung solcher Bildungsmärkte und die hohe Attraktivität von Neuseeland als Einwanderungsland bedeuten eine starke Präsenz von
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zahlenden ausländischen und Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen des Bildungssystems. Die internationale Ausrichtung hat aber auch den inhärenten Vorteil, dass bildungspolitische Entscheidungsträger der Wahrnehmung und dem Ruf des neuseeländischen Bildungswesens im Ausland eine herausragende Bedeutung beimessen (Interviews NZ-02, NZ-12) und auf den Aspekt der Transparenz außerordentlich großen Wert legen.
Die Rolle von OECD und PISA im neuseeländischen Bildungssystem Im Rahmen ihrer Aktivitäten zur Förderung einer globalen Wirtschaft und marktorientierter sozio-ökonomischer Reformen hat sich die OECD in den letzten Jahren als bedeutender bildungspolitischer Akteur etabliert. Neuseeland hat dabei eine lange Tradition der bildungspolitischen Zusammenarbeit mit der OECD, die auf den ersten OECD-Review of New Zealand’s Education Policies aus dem Jahre 1983 (OECD 1983) zurückgeführt werden kann. Doch das frühe bildungspolitische Engagement der OECD war eher deskriptiver Natur, die ersten OECD-Berichte zum Bildungssystem verstanden sich mehr als Bestandsaufnahme der neuseeländischen Bildungslandschaft. Dabei verzichteten die internationalen Beobachter darauf, das System kritisch und vergleichend zu analysieren und richtungweisende Empfehlungen abzugeben. Laut Rizvi und Lingard (2006: 250) beschränkten sich die frühen bildungspolitischen Aktivitäten der OECD darauf, nationale Agenden zu unterstützen, ohne einzelnen Ländern eigene Zielvorstellungen vorzuschreiben. Dieses Bild hat sich in den letzten 15 Jahren entscheidend verändert, vor allem infolge des neuen Fokus der OECD auf internationale Leistungsvergleiche (comparative assessment) (Martens 2007). Dabei wird angenommen, dass der zunehmende internationale Wettbewerbsdruck – verstärkt durch die mittlerweile stark institutionalisierte transnationale bildungspolitische Vernetzung – Reformen in unterschiedlichen Bereichen nationaler Bildungssysteme hervorrufen kann. Wie bereits angedeutet und am Beispiel der ersten großen Reformwelle dargestellt, bestehen aufgrund des Einkammer-Parlamentes und des Fehlens einer starken autonomen subnationalen Verwaltungsebene in Neuseeland günstige Rahmenbedin-
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gungen für den Politikwandel. Damit unterscheidet sich Neuseeland deutlich von föderalistischen Ländern mit mehreren legislativen Hürden wie beispielsweise Deutschland oder den USA (siehe Klitgaard 2010). Die Reaktionsfähigkeit des politischen Systems im Bildungsbereich wird nicht nur durch legislative Faktoren gestärkt, sondern auch durch eine weitere wirtschaftspolitische Tradition in Neuseeland: Der ewige Drang, bei internationalen Leistungsvergleichen besser als »die großen Brüder« Australien und Großbritannien abzuschneiden. Neben Rugby kann in Neuseeland das Bestreben, Australien und andere angelsächsische Länder in internationalen Vergleichen zu schlagen, als Volkssport gelten (Interview NZ-8; Barton 2007). Gerade in diesem Zusammenhang kommt dem Instrument des comparative assessment der OECD eine herausragende Bedeutung zu. Neuseeland hat an allen PISA-Studien teilgenommen. Die Ergebnisse bestätigten die überdurchschnittlichen Leistungen. Die PISA-Resultate Neuseelands weisen eine starke Kontinuität auf hohem Niveau auf (siehe Tabelle 9.1). In den jeweiligen Schwerpunktbereichen der Studien belegten die neuseeländischen Schülerinnen und Schüler 2000 den 3. Platz im Bereich Lesekompetenz, 2003 den 9. Platz im Bereich Mathematik und 2006 den 5. Platz im Bereich Naturwissenschaften (OECD 2009). Laut Barton gibt es keine wesentlichen Veränderungen in den einzelnen untersuchten Kategorien – ungeachtet der bildungspolitischen Anpassungen, die im Untersuchungszeitraum getroffen wurden (Barton 2007). Tabelle 9.1: Abschneiden Neuseelands in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
529
(3.)
522
(5.)
521
(4.)
Mathematische Kompetenz
537
(3.)
523
(9.)
522
(7.)
Naturwissensch. Kompetenz
528
(6.)
521
(7.)
530
(5.)
Mittelwert der drei Bereiche
531
(5.)
522
(7.)
524
(4.)
Rangposition im
OECD-34-Vergleich8
in Klammern
Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007; OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
—————— 8 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
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Das überdurchschnittlich gute Abschneiden und die Kontinuität der Ergebnisse erklären womöglich die geringe Resonanz der PISA-Studie in den neuseeländischen Medien. In der Tat gehört Neuseeland zu denjenigen Ländern, in denen die PISA-Ergebnisse mit durchschnittlich zwei bis drei Artikeln zum Thema jährlich in der führenden Tageszeitung New Zealand Herald seit 2001 am seltensten thematisiert wurde. Von einem »PISA-Schock« oder von einer breiten öffentlichen Debatte über die Zukunft des Bildungssystems kann somit nicht die Rede sein. Deshalb ist es umso verwunderlicher, dass die PISA-Ergebnisse zu einigen bedeutenden Änderungen im Sekundarbildungswesen geführt haben. Dies kann auf eine bedeutende Innovation in der PISA-Studie bei der Bewertung von Bildungsleistungen zurückgeführt werden, nämlich der Möglichkeit, die Prüfungsergebnisse auf der Grundlage von Kriterien wie zum Beispiel dem sozio-ökonomischen und ethnischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler auszuwerten, so dass auch gruppenspezifische Stärken und Schwächen im Bildungswesen identifiziert werden können. Obwohl Neuseeland in allen drei PISA-Runden seinen Status als Bildungsnation beweisen konnte, legten die Ergebnisse ein schwerwiegendes Defizit offen: ein starkes Leistungsgefälle nach sozio-ökonomischem und ethnischem Hintergrund der Schüler (Interview NZ-08; New Zealand Herald 2002). Zwar wurden seit Jahren erhebliche Unterschiede in den Leistungen von Schülern mit Māori- oder so genannter pazifischer Herkunft (Pasifika) und Schülern europäischer Herkunft beobachtet (siehe Johnston 1997; Titus 2001). Doch bisher fehlten vergleichende empirische Daten, die die schwächeren Leistungen der Māori- und Pasifika-Jugendlichen sowie der Schülerinnen und Schüler aus ärmeren sozio-ökonomischen Verhältnissen belegten. Beispielsweise erzielte Neuseeland relativ unbefriedigende Ergebnisse beim so genannten Qualität-Gleichheit-Index. Hier erklärte der Familienhintergrund der Heranwachsenden – sozio-ökonomischer Status und ethnischer Hintergrund – gut 20 Prozent der Varianz bei den PISA-Ergebnissen im Jahre 2000 (Ministry of Education 2002). Auch die Gesamtergebnisse im Jahre 2000 zeigen, dass die Leistungen von Schülern und Schülerinnen europäischer Herkunft weit über dem OECD-Durchschnitt und diejenigen der Māori- und insbesondere der Pasifika-Schüler unter dem Durchschnitt liegen (Tabelle 9.2). Dieser Umstand wird durch bevorstehende demographische Entwicklungen zusätzlich schwerwiegender. Laut Schätzungen der OECD (2006: 25) wird die neuseeländische Pasifika- und Māori-Bevölkerung zwischen
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2001 und 2021 um rund 59 Prozent anwachsen, während die neuseeländische Bevölkerung europäischer Herkunft erwartungsgemäß nur um circa fünf Prozent größer sein wird als zur Jahrtausendwende. Hinzu kommt, dass sich der Anteil asiatischer Einwanderer zwischen 2001 und 2021 schätzungsweise verdoppeln wird (ebenda). Das neuseeländische Bildungssystem befindet sich somit in der schwierigen Lage, dass der Anteil derjenigen Bevölkerungsgruppen, deren Bildungsleistungen derzeit weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, in den nächsten Jahren stark steigen wird. Tabelle 9.2: Durchschnittliche PISA-Ergebnisse für das Jahr 2000 nach ethnischer Herkunft neuseeländischer Schülerinnen und Schüler Europ. Herkunft
Asiatische Herkunft
Maori
Pasifika
OECDLänder
Lesen
554
513
482
462
500
Mathe
557
547
498
471
500
Naturwiss.
553
517
483
463
500
Quelle: Ministry of Education 2004
Gerade bei der Thematisierung solcher Leistungsdefizite kamen der Einfluss von PISA und die hohe Reaktionsfähigkeit des neuseeländischen Bildungswesens stark zum Vorschein. Zwar kann man nicht von einem bildungspolitischen Paradigmenwechsel sprechen, da die bestehenden bildungspolitischen Grundpfeiler, die aus den Reformen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre hervorgingen (Selbstverwaltung, Wahlfreiheit, Marktnähe, multilaterale Qualitätskontrolle, Integration) weitgehend intakt blieben. Doch anhand der in den letzten fünf bis zehn Jahren durchgeführten Maßnahmen zur Verringerung des Leistungsgefälles (siehe unten) wird ersichtlich, dass Internationalisierung auch im Falle des bildungspolitischen Vorreiters Neuseeland den Staat in die Lage versetzte, korrigierend und optimierend auf die bereits relativ stabilen Grundpfeiler des Bildungswesens einzuwirken (Interview NZ-15). Doch wie lassen sich angesichts der sehr hohen Autonomie neuseeländischer Schulen die Reformkapazität und das entschlossene Handeln des Staates erklären? Bevor näher auf die einzelnen von PISA flankierten Reformen eingegangen wird, soll zunächst die sich verändernde Rolle des Staates unter die Lupe genommen werden. Wie oben bereits erwähnt, hatte die Gewährung weitgehender Selbstverwaltungskompetenzen an einzelne
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Schulen nicht nur die Arena der Politikgestaltung radikal transformiert, sondern machte es auch für den Staat schwierig, »von oben« Innovationen im Bildungswesen gegenüber hoch autonomen Schulen zu fordern (Interview NZ-08). Doch seit etwa zehn Jahren findet hinsichtlich der Steuerungskapazitäten des Staates ein so genanntes policy build-up statt. Damit ist der Auf- und Ausbau zentralstaatlicher Steuerungsmechanismen gemeint, die es dem Staat nun ermöglichen, groß angelegte bildungspolitische Reforminitiativen zur Bekämpfung unterschiedlicher Schwächen des Systems anzustoßen. Dazu gehört beispielsweise die Erweiterung staatlicher Assessment-Mechanismen und systematischer Kriterien zur Bestimmung und Messung von Bildungsfortschritten und -erfolgen. Die hohe Reaktionsfähigkeit auf internationale Entwicklungen wird außerdem dadurch begünstigt, dass in den letzten Jahren ganze ministerielle Abteilungen für die Analyse und Verarbeitung der Ergebnisse internationaler Leistungsvergleiche eingerichtet wurden. Diese Entwicklung kann als Fortsetzung einer bereits sehr weltoffenen Haltung neuseeländischer bildungs- und wirtschaftspolitischer Entscheidungsträger im Hinblick auf Internationalisierung bewertet werden. Laut einem Interviewpartner tragen neuseeländische Bildungspolitiker schon lange »globale Antennen« und versuchen auch Internationalisierungsprozesse mitzugestalten: »Wir halten schon seit jeher unsere globalen Antennen ausgestreckt. Schon vor langer Zeit beteiligten sich viele neuseeländische bildungspolitische Entscheidungsträger, Bildungsexperten und Akademiker an OECD-Treffen […]. Deshalb vermute ich, dass Neuseeland bei seinen bildungspolitischen Reformbemühungen viele Beispiele aus der breiten internationalen bildungspolitischen Arena herangezogen hat. Was uns Neuseeländer wohl von anderen Ländern unterscheidet ist, dass wir sehr gerne und sehr weit reisen, nicht zuletzt weil wir soweit weg von sonst überall sind. Wir sind sehr stark globalisiert; ich würde sagen, wir nehmen jede [bildungspolitische] Theorie unter die Lupe und sind ständig dabei, den anderen über die Schulter zu schauen.« (Interview NZ-05)
Diese institutionelle Integration der internationalen Ebene in die nationale Politikgestaltungsarena ermöglicht es dem Bildungsministerium, nicht nur am Puls internationaler Entwicklungen zu bleiben, sondern auch als Bindeglied zwischen den autonomen Schulen und internationalen Organisationen zu fungieren. Aus diesem Grunde konnten die Ergebnisse der
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PISA-Studien in relativ kurzer Zeit in konkrete politische Maßnahmen kanalisiert werden.9 Trotz des von schottischen Einwanderern nach Neuseeland exportierten Prinzips der Bildungsgleichheit wurde früher von der Unvermeidbarkeit eines gewissen Leistungsgefälles zwischen unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern ausgegangen (Interview NZ-08). Doch angesichts der nun wissensbasierten Ökonomie und des Drangs, internationaler bildungspolitischer Vorreiter zu sein, hat sich Neuseeland in den letzten fünf bis zehn Jahren von dieser als nicht mehr zeitgemäß empfundenen Annahme eines unvermeidbaren Leistungsgefälles verabschiedet. In diesem Kontext spielt die PISA-Studie eine entscheidende Rolle als Eisbrecher und zusätzliche Legitimation für einen Strategiewechsel bei Fragen der Bildungsgleichheit. Das Ministerium verfolgt zunehmend eine Strategie, die darauf abzielt, die Leistungen aller Schülerinnen und Schüler zu erhöhen und gleichzeitig Disparitäten zwischen einzelnen Gruppen zu reduzieren. In diesem Sinne hat das Ministerium einen neuen Maßnahmenkatalog eingeführt, der auf den folgenden Prinzipien basiert: – Erhöhung der Leistungsanforderungen und -erwartungen für alle Schülerinnen und Schüler; – ein stärkerer Fokus seitens der Lehrer(innen), Schüler(innen) und der Eltern auf Bildungsergebnisse (outcomes); – Qualitätsverbesserungen in der Lehre sowie in den pädagogischen Fähigkeiten der Lehrer(innen) und des Schulpersonals durch ein erweitertes Angebot an Weiterbildungsmaßnahmen, verstärkte Anlehnung an pädagogische best practices sowie institutionelle und finanzielle Unterstützung für das Lehrpersonal; – verstärkte Einbindung der Familien in Lernprozesse; – Verstärkung der Wissens- und Informationsbasis für Entscheidungsträger auf Schul- und politischer Ebene, um zu gewährleisten, dass Lehrmethoden, Verwaltungsmaßnahmen und die Evaluierung bildungspolitischer Maßnahmen effektiv und auf dem aktuellsten Stand sind; – Größere Flexibilität und Entscheidungsautonomie der Schulen in Bezug auf die Verwaltung schulischer Einrichtungen sowie Optimierung der Ressourcenverwendung durch verstärkte Kooperation mit anderen Schulen. (Ministry of Education 2007)
—————— 9 Für weitere Details siehe Dobbins (2010).
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Einen zusätzlichen Reformpfeiler stellt seit 2001 die systematische Evaluierung von erworbenen Qualifikationen an Sekundarschulen (qualification assessment) dar. In Zusammenarbeit mit der NZQA wurde in den letzten Jahren ein »multipolares« Qualitätssicherungssystem mit starkem Fokus auf Lehrinhalte entwickelt. Dabei findet eine inhaltliche Verschiebung hin zu Fächern wie Informatik, Wirtschaft, Finanzen und Technik statt, die die Transformation zur wissensbasierten Wirtschaft fördern sollen (Ministry of Education 2007; Interview NZ-08). Mit dem 2001 verabschiedeten Education Standards Act wurde beispielsweise ein Selbstbegutachtungsverfahren (self-review) eingeführt, das die einzelnen Schulen zusätzlich zu den staatlichen Qualitätskontrollen durch das Education Review Office durchführen müssen. Oberstes Ziel ist die Gewährleistung einer stärkeren inhaltlichen Korrelation zwischen den von den Schülerinnen und Schüler erworbenen Qualifikationen und den Erfordernissen der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts (Interview NZ-12). Zusätzlich zu den erweiterten Rechenschaftspflichten seitens der Schulen und den Maßnahmen zur Optimierung von Bildungsleistungen nimmt auch das Ministerium eine immer aktivere Rolle in der Steuerung des Bildungssystems ein. Diese interventionistische Tendenz wurde erheblich durch die PISA-Studie gefördert. Obwohl die Studie in bisherigen Runden offenbarte, dass neuseeländische Schüler wesentlich bessere Leistungen als der internationale Durchschnitt in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenzen erbringen, gibt es nach wie vor einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit sehr schwachen Leistungen. Während die besten Schüler im internationalen Vergleich extrem gut abschnitten, wies Neuseeland zugleich einen hohen Anteil an Schülern auf, die die Erwartungen bei weitem nicht erfüllen konnten. Die PISA-Studie kann als treibende Kraft für die immer stärkere Thematisierung des hohen Leistungsgefälles gelten, das in einem Land, das der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert beimisst (Interview NZ-08), als besonders problematisch gesehen wird. Infolgedessen hat das Bildungsministerium in den letzten Jahren eine Reihe konkreter Maßnahmen getroffen, die direkt auf die große Gruppe der Risikoschüler (in Neuseeland als long tail of underachievers bezeichnet), die vorwiegend aus Māori- und Pasifika-Jugendlichen besteht, gerichtet sind (Interview NZ-03). Dieser neue staatliche Aktionismus zeigt sich in der neuen Māori Education Strategy und der Schools Plus Strategy. Bei beiden Strategien wird davon ausgegangen, dass das traditionelle Schulformat nicht für alle Schü-
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ler geeignet ist und auf die besonderen Bedürfnisse der Māori und Pasifika und anderer leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler zugeschnitten werden muss (Interview NZ-08). Im Falle der gegenwärtigen Māori-Strategie kann man von einem neuen bildungspolitischen Ansatz oder sogar einer neuen Bildungsphilosophie sprechen. Dabei geht es nicht nur darum, Leistungsdefizite zu überwinden, sondern vor allem um die Realisierung von Potentialen. Der Staat versucht zunehmend ex ante Investitionen in Menschen und deren Potentiale zu tätigen, statt ex post korrigierend einzugreifen. Hinzu kommt ein neues Verständnis von Māori-Herkunft als Bereicherung und nicht mehr als Hindernis. In neuen vom Staat geförderten Lehransätzen wird ein starker Fokus auf die kulturelle Einzigartigkeit und auf die bisher unentdeckten Potentiale der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler gelegt (Ministry of Education 2007). Dabei wurden für solche Schüler maßgeschneiderte Unterrichtsformate (zum Beispiel mit Schwerpunkt Handwerk) eingeführt. Auch im Grundschulbereich werden zusätzliche Fördermaßnahmen für Maori- und Pasifika eingeführt, um das Problem des Leistungsgefälles bereits im Kindesalter zu bekämpfen. Das durch die PISA-Studien und die zunehmend systematisierten nationalen qualifications assessments offenbarte hohe Leistungsgefälle beeinflusste auch die Entwicklung des Schools Plus-Programms stark. Dieses staatlich finanzierte Programm setzt sich zum Ziel, potentielle Schulabbrecher im Schulsystem zu halten – und zwar durch die Einbeziehung von beruflichen Ausbildungsmaßnahmen in die Sekundarschulen (Ministry of Education 2007). Ähnlich wie die Māori-Bildungsstrategie ermöglicht die Schools Plus-Strategie maßgeschneidertes Lernen und Flexibilität für Heranwachsende mit besonderen Bedürfnissen. Im Konkreten können sich Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Programms hauptsächlich mit denjenigen Fächern beschäftigen, die für sie und ihren künftigen Arbeitsplatz am relevantesten sind. Beispielsweise wird im Rahmen von Pilotprojekten der nicht-akademische »Arbeitsmarkt« direkt in das Klassenzimmer integriert, indem Jugendliche, die mit dem traditionellen Schulformat Schwierigkeiten haben, während des Schultages kleinere berufsvorbereitende Praktika oder Ausbildungen an der Schule absolvieren. Besonders wichtige Beispiele sind das Youth Apprentice Scheme und das Youth Training Program, die es Schülerinnen und Schülern mit unterdurchschnittlichen Leistungen ermöglichen, Schüsselqualifikationen für eine nicht-akademische Berufslaufbahn bereits in ihrer Schulzeit zu erwerben.
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Die bisherigen Maßnahmen richteten das Augenmerk auf Jugendliche, die die Schule bereits verlassen hatten. Die neuen Reformen bieten dagegen Schülerinnen und Schülern mit Leistungsdefiziten diverse Möglichkeiten, in unterschiedlichen Lernumgebungen direkt an der Schule weiter zu lernen (Ministry of Education 2007). Darüber hinaus sind staatliche Finanzierungsformeln angepasst worden und werden nunmehr nach der Anzahl an leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern an einzelnen Schulen berechnet. Dadurch wird eine großzügigere Finanzierung für Schulen mit hohem Māori-Anteil gewährleistet (Interview NZ-08).
Schlussfolgerungen Die Analyse hat gezeigt, dass die Entwicklung der neuseeländischen Bildungspolitik in den letzten 25 Jahren zwei unterschiedliche Phasen durchlaufen hat. Im Gegensatz zu vielen Teilen Westeuropas wurde die Bildungslandschaft bereits in den späten 1980ern und frühen 1990ern im Rahmen des Tomorrow’s Schools-Programms radikal transformiert. Neuseeland führte ein groß angelegtes Reformpaket durch, das zur Einführung vieler policies führte, die derzeit in anderen europäischen Ländern als Reformansätze diskutiert werden: selbstverwaltende Schulen, Ausbau von Evaluationsmechanismen, Einrichtung eines Qualifikationsrahmens, stärkere Einbindung von externen Partnern, Diversifizierung von Schulstrukturen und Lehrinhalten, unternehmerische Steuerung und so weiter. Die nachfolgende Phase lässt sich durch kleinere Reformen innerhalb bestehender bildungspolitischer Paradigmen kennzeichnen – mit dem Ziel die Rechenschaftspflicht von Schulen sowie die Marktrelevanz, Qualität und Gleichheit im Bildungswesen zu erhöhen. Obwohl seit langem eine starke Korrelation zwischen den von der OECD geförderten Bildungsprinzipien (Schulautonomie, Marktnähe, unternehmerische Steuerung, Qualitätssicherung, Integration von ethnischen Minderheiten) und der alltäglichen Praxis neuseeländischer Schulen besteht, führten die Ergebnisse der bisherigen PISA-Studien zu einigen wichtigen Korrekturmaßnahmen im Bildungssystem. Das hohe Leistungsgefälle bei den sonst überdurchschnittlich guten Ergebnissen setzte das Bildungsministerium unter Druck, die Lehr- und Lernmethoden für Jugendliche, die mit dem traditionellen Schulformat Schwierigkeiten haben, zu überdenken. Der zuneh-
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mende Druck für das exportorientierte Neuseeland, in der wissensbasierten Ökonomie des 21. Jahrhunderts wettbewerbsfähig zu bleiben, hat auch dazu geführt, dass ein hohes Leistungsgefälle zwischen Schülerinnen und Schülern je nach Herkunft und sozio-ökonomischen Hintergrund nicht mehr toleriert wird. Statt sich mit den hervorragenden Gesamtergebnissen zufrieden zu geben (insbesondere auch im Vergleich zum »großen Bruder« Australien) verstehen bildungspolitische Entscheidungsträger PISA als Sprungbrett, um vorhandene Defizite im Bildungswesen abzubauen und als zusätzlicher Pfeiler zur Legitimierung und Verstärkung der Politik der Integration und Flexibilität. Obwohl die PISA-Studie – im Gegensatz zu Deutschland (siehe Niemann in diesem Band) – kein Beben in der bildungspolitischen Landschaft Neuseelands ausgelöst hat, hatten die in der breiten Öffentlichkeit selten thematisierten Ergebnisse erhebliche Auswirkungen auf öffentliche Ausgaben im Sekundarbildungswesen. Dabei wurden auch verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, um berufsvorbereitende Programme für leistungsschwache Jugendliche direkt ins Klassenzimmer zu integrieren. Vor dem Hintergrund eines verstärkten Fokus auf Bildung als Humankapital erfüllte die PISA-Studie eine korrigierende und optimierende Funktion, um Schwächen gegenüber anderen angelsächsischen Ländern zu vermindern und um die Integration von Minderheiten und Leistungsschwachen zu gewährleisten. Schließlich drängt sich aber die Frage auf, ob, wie und inwieweit innenpolitische Institutionen die Reaktion Neuseelands auf die PISA-Studie beeinflusst haben. Wie in den theoretischen Überlegungen angedeutet, wurden die relativ schnelle Reaktion des Staates und die daraus folgenden politischen Innovationen durch eine Reihe innenpolitischer Faktoren begünstigt. Erstens kann Neuseeland eine hohe Kapazität zur Transformation attestiert werden, was zum Teil auf die niedrige Anzahl an Vetospielern zurückgeführt werden kann. Angesichts des Einkammersystems und des Fehlens einer starken sub-nationalen Verwaltungsebene kann der Zentralstaat bereits beschlossene Reformmaßnahmen relativ ungehindert umsetzen (Interview NZ-01). In diesem Punkt unterscheidet sich Neuseeland stark von den politischen Systemen Australiens und Deutschlands. Von großer Bedeutung für den Gesetzgebungs- und Implementationsprozess ist zweitens die relative Übereinstimmung der Präferenzen neuseeländischer Entscheidungsträger mit Hinblick auf bildungspolitische Ziele. Neuseeländische bildungspolitische Akteure tendieren dazu, übergreifende Ziele – vor allem die Optimierung der Bildungsqualität, Marktorientierung,
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Wettbewerbsfähigkeit und die Gewährleistung von Bildungsgleichheit – als interdependent zu betrachten und streben danach, diese auf pragmatische Weise miteinander in Einklang zu bringen. Der politische Fortschritt wird nicht durch philosophische Debatten zur Rolle und Funktion oder raison d’être des Bildungswesens verhindert, da angenommen wird, dass übergreifende Prinzipien und Philosophien (Vermarktlichung, staatliche Intervention und Wettbewerbsfähigkeit) koexistieren und sich gegenseitig ergänzen dürfen. Einerseits hat Neuseeland in den letzten Jahrzehnten mit einer Reihe einzigartiger Politiken experimentiert (zum Beispiel berufsvorbereitende Praktika an Schulen, finanzielle Privilegierung von Schulen mit hohem Māori-Anteil), die darauf hindeuten, dass die Vorstellung von Bildung als Elitenprivileg bereits vor Jahrzehnten verschwand. Andererseits hat der Staat – trotz seines hohen Durchsetzungsvermögens – unterschiedliche, als eher radikal angesehene marktorientierte bildungspolitische Ansätze wie die Einführung von Bildungsgutscheinen, Massenprivatisierungen und sich wiederholende Testverfahren vermieden (siehe Dobbins 2010). Drittens können die Ergebnisse und die gegenwärtigen Reformen auch auf den Politikstil Neuseelands zurückgeführt werden, der durch hohe Konsensfähigkeit, eine Kultur des Einvernehmens und der Konsultation und starke öffentliche Beteiligung geprägt ist (OECD 1983: 10; Interviews NZ-07; NZ-12). Diese Faktoren ermöglichen es, potentielle Vetospieler im Vorfeld zu »neutralisieren«. Diesem konsensorientierten Politikstil wurde bereits vor der großen »Schockwelle« Ende der 1980er von der OECD bescheinigt: »Neuseeland bleiben viele zeitaufwendige und häufig unproduktive Konflikte erspart, die Gesellschaften anderswo lähmen. Die Ausgestaltung von Bildungspolitik […] bleibt konsensorientiert und inkrementell und wird durch eine Kombination aus Individualismus und toleranter Anpassung begleitet – und dies in einer Gesellschaft, die sich zumindest bisher durch einen ungewöhnlich hohen Grad an gemeinsamen Werten auszeichnet.« (OECD 1983: 10)
Diese institutionellen Faktoren – kombiniert mit der nun tief verankerten Kultur des internationalen Vergleiches – bieten günstige Voraussetzungen für den Politikwandel und für flexibles staatliches Handeln. Durch die starke Orientierung an den Ergebnissen internationaler Leistungsvergleiche versucht der Staat neuseeländische Schulen wettbewerbsfähiger, aber gleichzeitig auch fairer und egalitärer zu machen. Das bisherige Resultat ist ein gut balanciertes System, das die »Rentabilität« und Wirtschaftlichkeit von Bildung gewährleistet, ohne den Aspekt der Bildungsgleichheit außer
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Acht zu lassen. Die nächsten PISA-Ergebnisse werden jedoch zeigen, ob die in den letzten Jahren realisierten Maßnahmen dazu beigetragen haben, das konstatierte Leistungsgefälle zu überwinden.
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10
USA – Wie man PISA auch ignorieren kann
Kerstin Martens
Einleitung1 Es waren vor allem die USA, die die Entwicklung von Bildungsindikatoren innerhalb der OECD seit den 1980er Jahren vorangetrieben haben. Als sich damals nachhaltige Qualitätsmängel im amerikanischen Bildungssystem zeigten, drängte das US-Bildungsministerium die OECD, ein Projekt zur Entwicklung international vergleichbarer Indikatoren durchzuführen. Aufgrund der amerikanischen Insistenz auf einer Verschiebung der Arbeit der OECD im Bildungsbereich von qualitativen Studien hin zu mehr quantitativen Analysen wurde das Bildungsindikatoren-System der OECD (Indicators of Education Systems – INES) eingerichtet. Hierdurch wurde in der OECD sukzessive Expertise für quantitative Bildungsstudien gesammelt – wodurch letztlich PISA im eigenen Haus entwickelt wurde (Martens 2007). Wie auch die meisten anderen OECD-Mitgliedsstaaten haben die USA an allen bisherigen PISA-Erhebungen teilgenommen. Verglichen mit den anderen Teilnehmern an der PISA-Studie sind die USA eines der Länder, in dem das eigene Abschneiden in der OECD-Vergleichsstudie am wenigsten Resonanz fand. Obwohl die Ergebnisse der USA bei allen bisherigen PISA-Runden unter dem OECD-Durchschnitt lagen und obwohl sie
—————— 1 Die Perzeption der PISA-Studie in den USA wurde während eines zweimonatigen Aufenthaltes im Sommer 2008 in Washington untersucht. Kerstin Martens dankt dem American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) dafür, diesen Forschungsaufenthalt möglich gemacht zu haben. Es wurden zwölf Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern führender amerikanischer Bildungs-NGOs, parteinaher Stiftungen, Bildungsexperten und -expertinnen sowie ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bildungsministeriums durchgeführt. Für ihre Assistenz in der Aufbereitung des Textes wird Till Ludwig, Gesa Schulze und Priya Fielding-Singh gedankt. Einige der Argumentationslinien in diesem Beitrag finden sich ähnlich auch in Dobbins/Martens (2010).
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KERSTIN MARTENS
2003 und 2006 sogar noch schlechter abschnitten als 2000, schenkte man der Studie in der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit nur sehr geringe Beachtung. Reaktionen auf PISA blieben fast gänzlich aus; es ist schlichtweg kein Thema in der amerikanischen Bildungspolitik. Anders als in anderen Ländern verursachte PISA in den USA keinen »Bildungsschock«, trotz schlechter Ergebnisse. Offensichtlich gibt es einen erheblichen Problemdruck in den USA – das geringe Niveau vieler Schulen ist seit langem bekannt, doch gerade wegen des Wissens um dieses Problem hat die PISA-Studie keinen Mehrwert geschaffen. Innerhalb der USA werden immer wieder Vergleichsstudien durchgeführt, die darauf abzielen, das Niveau der Schulen zu testen; auch haben die USA an verschiedenen internationalen Studien, wie zum Beispiel TIMSS oder PIRLS teilgenommen. Dass das amerikanische Schulsystem erhebliche Defizite aufweist, ist eine Tatsache, mit der man sich letztlich bereits seit dem Sputnik-Schock von 1957 auseinandersetzt: Immer wieder wurden und werden Erneuerungsversuche im amerikanischen Schulwesen unternommen – mit mäßigen Erfolg und zunehmender Ernüchterung. Trotz vieler Reformprozesse und neuer Strategien hat sich das Bildungsniveau in den USA bislang nur wenig verbessert. PISA hat das Wissen um diese Defizite nur noch einmal bestätigt.
Bildungssystem und Bildungsverständnis Das amerikanische Bildungsverständnis ist durch den frühen Demokratisierungsprozess der USA geprägt. »All men are created equal« – dieser Grundsatz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung spiegelt sich auch im Bildungsverständnis wider: Das Bildungssystem soll dazu beitragen, die Schaffung gleicher gesellschaftlicher Ausgangsbedingungen zu erreichen. Bildung wurde daher früh als mögliches Instrument des sozialen Aufstiegs verstanden; im öffentlichen Diskurs erhielt Bildung den Charakter eines Bürgerrechts. Bereits im Jahre 1844 erkannte beispielsweise ein Gericht in Vermont das Bürgerrecht auf den Besuch einer allgemeinen Schule an (siehe im Einzelnen hierzu Busemeyer 2007: 61; zur Geschichte des amerikanischen Bildungswesens siehe zum Beispiel Berube 1994 oder Church/Sedlak 1976). Das Bildungssystem soll aktiv-politisch partizipierende Bürger hervorbringen, für die Vermittlung demokratischer Werte
USA
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sorgen und die Integration aller Bevölkerungsschichten in den demokratischen Staat ermöglichen. Institutionell ist das Schulsystem auffällig dezentral organisiert. Laut amerikanischer Verfassung hat der Bund keine Kompetenzen im Bildungswesen. Die Verfassung setzt nicht einmal übergreifende Kerninhalte oder Strukturen für Bildung fest; Bildung wird in der Verfassung nicht erwähnt. Zwar obliegt es stattdessen den einzelnen Bundesstaaten, sowohl über die Organisation des Schulsystems als auch die Festlegung der Lehrinhalte im jeweiligen Staat zu entscheiden, aber sogar grundlegende Beschlüsse können auf der Ebene der Schulbezirke gefasst werden. Daher kann es vorkommen, dass selbst innerhalb einzelner Bundesstaaten beispielsweise die Schulstufen von Ort zu Ort unterschiedlich gegliedert sind. Innerhalb eines Schulbezirkes legt der von der Bevölkerung gewählte Bildungsrat (Board of Education) Bildungsrichtlinien und Schulsteuern fest, stellt Verwaltungsund Lehrpersonal ein und unterhält die Schulen über staatliche Gelder. Diese Dezentralisierung führt dazu, dass sich innerhalb der USA viel Varianz im Bildungsbereich finden lässt. Beispielsweise ist selbst die Regelung der Schulpflicht in den Vereinigten Staaten Sache der einzelnen Bundesstaaten. Sie reicht in einigen Bundesländern nur bis zum 16., in anderen dagegen bis zum 18. Lebensjahr. Eine Unterteilung der Schulformen je nach Leistungsfähigkeit des Kindes kennt das amerikanische Schulwesen hingegen nicht. Anders als beispielsweise in Deutschland sieht das amerikanische Schulwesen keine vertikale Differenzierung vor: Alle Kinder eines Jahrgangs werden ohne Unterscheidung in gemeinsamen Klassenverbänden unterrichtet. Auch Kinder mit speziellem Betreuungsbedarf (special needs children), beispielsweise Kinder mit geistiger Behinderung, werden zum Teil integrativ in normalen Klassenverbänden allgemeiner Schulen unterrichtet (zur vergleichenden Inklusionsforschung siehe Powell 2009a, 2009b). Allerdings ist es gerade der gewachsene dezentrale Charakter des Schulsystems, der dazu führt, dass die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch Bildung häufig erschwert wird. Öffentliche Schulen sind zwar kostenlos und werden über Steuergelder finanziert; ein Großteil der Kosten wird dabei über die Grundsteuern (property tax) gedeckt. Je wohlhabender der Schuldistrikt, desto besser ausgestattet sind die Schulen. Die Wahl der Schule innerhalb eines Schuldistriktes ist aber nicht frei, sondern wird durch die lokale Schulverwaltung bestimmt. Soziale Herkunft schlägt sich daher indirekt über den Wohnort nieder, der die Schuloption bestimmt.
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KERSTIN MARTENS
Die Schulbildung und die Abschlüsse bestimmen wiederum die Möglichkeit des späteren Zugangs zu Eliteeinrichtungen im Hochschulsystem. Neben den staatlichen Schulen gibt es eine Reihe von anderen Optionen, wie Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Zum Beispiel existiert in den USA ein umfangreiches Netz von privaten Schulträgern. So besuchen etwa zehn Prozent aller Schüler private Schulen, für die die Eltern Schulgeld zahlen müssen. Staatliche Schulen sind immer konfessionell ungebunden; private hingegen können konfessionellen Charakter haben. Darüber hinaus gibt es in den USA – anders als beispielsweise in Deutschland – auch die Möglichkeit, seine Kinder zuhause zu unterrichten (homeschooling). Circa ein bis zwei Prozent aller Kinder werden auf diese Weise unterrichtet, zumeist von den eigenen Eltern. Anders als die private Unterrichtsform sind Schulgutscheine (school vouchers) und so genannte charter schools zwei Erscheinungen im öffentlichen amerikanischen Schulsystem, die das auf lokalen Schuldistrikten beruhende Schulwahlverfahren durchbrechen. Beide Schulformen werden in der wissenschaftlichen Literatur viel diskutiert (zu Schulgutscheinen siehe vor allem Ladd 2002; Kemerer/King 1995; Levin 1992; zu charter schools siehe beispielsweise Ni 2009; Buckley/Schneider 2007; Finn/Manno/Vanourek 2000). Schulgutscheine, die auch als Bildungsgutscheine bezeichnet werden, sind von der Regierung herausgegebene Coupons, die sich Eltern auf die Gebühren privater Schulen anrechnen lassen können, anstatt ihr Kind die ihm zugeteilte staatliche Schule besuchen zu lassen. Im Jahr 2010 nehmen geschätzte 171.000 Schülerinnen und Schüler an 18 Schulwahlprogrammen (school choice programs) in zehn Bundesstaaten und im Hauptstadtbezirk Washington, D.C. teil. Die meisten dieser Programme sind Angebote für Schülerinnen und Schüler aus Familien mit niedrigem Einkommen (Alliance for School Choice 2010). Die so genannten charter schools, was sich in etwa mit Vertragsschulen übersetzen ließe, sind Grund- oder weiterführende Schulen, die öffentliche Mittel erhalten, aber nicht Gegenstand einiger der Richtlinien, Regulierungen und Statuten sind, die für andere staatliche Schulen gelten. Stattdessen haben sie eine besondere Verantwortung dafür, dass ihre Schülerinnen und Schüler bestimmte Ergebnisse erzielen. Während charter schools zwar eine Alternative zu den herkömmlichen staatlichen Schulen darstellen, sind sie dennoch ein Teil des öffentlichen Bildungssystems und demnach gebührenfrei. Einige charter schools werden von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern oder Aktivistinnen und Aktivisten gegründet, die sich von traditionellen
USA
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staatlichen Schulen eingeengt fühlen; andere werden oft von Non-ProfitGruppierungen oder auch Universitäten ins Leben gerufen. Entsprechend der dezentralen Struktur hat die amerikanische Regierung wenig Mitspracherecht im Bereich Bildung. Bis 1979 gab es nicht einmal ein amerikanisches Bundesbildungsministerium. Als wichtigste Bundesgesetzgebung im Bereich Bildung gilt der Elementary and Secondary Education Act (ESEA) von 1965. In diesem werden die Ausgaben des Bundes für Grundschulen und weiterführende Schulen geregelt. In dem Gesetz ist auch nochmals festgelegt, dass kein einheitliches nationales Curriculum etabliert werden darf. Darüber hinaus erlaubt ESEA, dem Militär zu Rekrutierungszwecken die Namen von Schülerinnen und Schülern der letzten und vorletzten Jahrgangstufe zugängig zu machen. Dieses Gesetz wird alle fünf bis sieben Jahre erneuert. Derzeit ist das noch unter Präsident Bush verabschiedete Gesetz No Child Left Behind Act (NCLB) in Kraft, das aber unter Obama bis Ende des Jahres 2010 erneuert werden soll. Obamas Ziel ist es dabei, das Bildungswesen drastisch zu reformieren, wobei Bildungsminister Arne Duncan verantwortlich für den Entwurf und die Durchführung dieses Plans ist. Bildung hat eine hohe Priorität in der Obama-Regierung in dem Sinne, dass Duncan über mehr Macht und Entscheidungsspielraum als alle Bildungsminister vor ihm verfügt. Beispielsweise stimmte der Kongress in den ersten Wochen von Obamas Regierungszeit einer Summe von 100 Milliarden Dollar für ein Notfallbildungsprogramm zu, wodurch sich das Budget des Bildungsministeriums mehr als verdoppelt hat. In seiner ersten großen Rede zum Thema Bildung verlangte Obama, die USA müssten die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler drastisch verbessern, um ihre verlorengegangene internationale Reputation wiederzuerlangen (Dillon/Lewin 2010). Ein zentrales Ziel ist die Ausweitung der Rolle der Regierungen der Bundesstaaten in allen Aspekten des Themenfelds Bildung. Duncan sieht die Bundesstaaten als Partner für lokale Schulbehörden, die die Reform durch Mithilfe beim Setzen von Standards, der Umgestaltung von »versagenden Schulen«, der Verringerung der Zahl von Schulabbrechern und eine Ausweitung des Zugangs zu Hochschulen unterstützen sollten. Obamas Vorschlag beinhaltet Reformen in der Lehre, Mittel für Vorschulprogramme und Bildungskredite sowie die Umgestaltung des Studienkreditsystems (Dillon/Lewin 2010). Jedoch zielen nicht alle Initiativen darauf ab, die Befugnisse der Bundesstaaten auszuweiten: Der Vorschlag für eine Neufassung von No Child Left Behind würde den meisten Schulen sogar
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größere Flexibilität zugestehen. Doch mit der größeren Freiheit für Staaten geht auch eine größere Verantwortlichkeit für schlechte Leistungen einher (Kulman 2010).
Reformgeschichte des amerikanischen Bildungssystems – unabhängig von PISA Die USA gehören nicht zu den PISA-Gewinnern. Bei den bisherigen PISA-Studien schnitten sie vergleichsweise unterdurchschnittlich ab. In der PISA- Studie 2000, in der die Lesekompetenz im Vordergrund der Untersuchung stand, hat man den 15. Platz von 29 Industrienationen eingenommen. Bei PISA 2003 wurde primär das mathematische Grundwissen getestet – bei dieser Studie kamen die USA auf den 24. Platz von 29 teilgenommen OECD-Mitgliedern. 2006 rangierte man mit 489 Punkten im naturwissenschaftlichen Testverfahren nur auf dem 23. Platz unter den heutigen 34 Mitgliedsländern (siehe Tabelle 10.1). Selbst im Vergleich mit allen teilgenommenen Ländern kamen die USA nur auf durchschnittliche Rangplätze. In der PISA-Studie 2006 waren beispielsweise auch Nicht-OECDLänder wie Lettland oder Hongkong in der Rangliste vor den USA. Tabelle 10.1: Abschneiden der USA in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
504
(15.)
495
(15.)
–2
(–)
Mathematische Kompetenz
493
(18.)
483
(24.)
474
(27.)
Naturwissensch. Kompetenz
499
(14.)
491
(19.)
489
(23.)
Mittelwert der drei Bereiche
499
(17.)
490
(21.)
482
(25.)
Rangposition im
OECD-34-Vergleich4
3
in Klammern
Quellen: OECD 2001, 2004, 2007, OECD/UIS 2003, eigene Darstellung
—————— 2 Da es bei PISA 2006 zu Fehlern beim Druck der PISA-Testhefte kam, liegt für den Teilbereich Lesekompetenz kein Wert vor. 3 Mittelwert nur aus mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenz. 4 Der angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
USA
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Trotz dieser schlechten Platzierungen weisen die USA ein sehr geringes öffentliches und politisches Interesse an der PISA-Studie der OECD auf. Die verschiedenen Runden seit 2000 und die entsprechenden Ergebnisse wurden von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Anders als beispielsweise in Deutschland oder Mexiko (siehe Niemann zu Deutschland beziehungsweise Popp zu Mexiko in diesem Band) spielt PISA keine Rolle in der bildungspolitischen Debatte in den USA. Die acht großen amerikanischen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlichten insgesamt lediglich neun Artikel in dem Zeitraum seit der ersten Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Dezember 2001 bis Mai 2010; von diesen neun Artikeln behandelten fünf Beiträge das schlechte Abschneiden der amerikanischen Schülerinnen und Schüler; die anderen Beiträge hingegen setzten sich mit dem schlechten Abschneiden Deutschlands und dem guten Abschneiden der Finnen und der Koreaner auseinander.5 Warum wird PISA so wenig beachtet? Schlechte Ergebnisse der Schulen sind nichts Neues in den USA. Dass es erhebliches Verbesserungspotential an den dortigen Sekundarschulen gibt, ist ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzt, seit die Sowjetunion 1957 den ersten Satelliten startete: Sputnik setzte die Bildungspolitik auf die politische Agenda der USA. Für die Amerikaner zeugte Sputnik von der technologischen Ebenbürtigkeit, wenn nicht gar Überlegenheit der Sowjetunion. Diese technologische Kapazität forderte die westliche Vormachtstellung heraus. Die Gründe des Rückstands wurden hauptsächlich im Bildungsbereich angesiedelt: Als Hauptproblem wurde das Schulsystem identifiziert, welches zu viele Menschen am sozialen Aufstieg und an Bildung hinderte. Der Sputnikschock rüttelte am Selbstverständnis der Amerikaner, die sich bis dahin als technologisch fortschrittlichste Nation sahen. In diesem Zusammenhang wurden auch Demokratie und Kapitalismus als Wettbewerbsvorteil um die technologische Überlegenheit betrachtet. Dass nun die kommunistische Sowjetunion mit ihrer Planwirtschaft den USA in der Weltraumtechnik einen Schritt voraus war, schockte die Amerikaner und führte zu umfangreichen Reformversuchen im Bildungssystem. Kritiker bemängelten besonders die Defizite amerikanischer Schülerinnen und Schüler in Mathematik und den Naturwissenschaften: Die Sowjetunion
—————— 5 Die untersuchten Zeitungen umfassen: New York Times, Newsweek, International Herald Tribune, Washington Post, USA Today, The Wall Street Journal und Los Angeles Times. Die Untersuchung wurde mit Hilfe der Factiva-Datenbank durchgeführt; Stichworte waren »OECD« und »PISA«.
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bildete zwei- bis dreimal so viele Ingenieure aus. Daher wurde das Federal Aid to Education Program 1957 zur Finanzierung der Reform des Bildungssystems in den folgenden Jahren eingeführt. Durch diese Mittel wurde ein neuer Schwerpunkt auf die Einbindung von unterprivilegierten sozialen Schichten gelegt, um mehr Begabte zu entdecken. Schulbusse wurden zur Verfügung gestellt, damit auch Kinder aus entfernten Gebieten besser am öffentlichen Schulsystem teilhaben konnten. Außerdem wurden die Lehrpläne dergestalt geändert, dass Mathematik, Physik oder Chemie Kurse zur Hauswirtschaft oder direkt berufsbildende Maßnahmen ersetzten. Ebenso waren aber auch Geistes- und Sozialwissenschaften wie Politikwissenschaft, Geschichte oder Sprachen Teil des Programms. Diese Maßnahmen sollten kluge Führungskräfte ausbilden, die dem amerikanischen Gemeinwohl technologische Fortschritte verfügbar machen sollten. Bildungsprogramme im Fernsehen wurden ebenso gefördert wie die Zusammenführung von Bildungsinstitutionen, um einen besseren Zugang zur Bildung zu garantieren. In den 1960er Jahren schließlich zielte das New Math Program sogar darauf, Kinder schon von früh an mit abstrakter Mathematik vertraut zu machen (Klein 2003). In den frühen 1980er Jahren ernannte die US-Regierung eine nationale Kommission, die das Bildungssystem 25 Jahre nach dem Sputnikschock auf Fortschritte untersuchen sollte. Der abschließende Bericht von 1983 A Nation at Risk: Imperatives for Educational Reforms (National Commission on Excellence in Education 1983) zeichnete ein ernüchterndes Bild: Trotz weit reichender Bemühungen seit Sputnik eröffnete der Bericht, dass es in den USA zu diesem Zeitpunkt beispielsweise 23 Millionen erwachsene Analphabeten gab und 17 Prozent aller Jugendlichen weder lesen noch schreiben konnten. Das amerikanische Bildungssystem erschien in einem desolaten Zustand. Der Bericht löste die nächste große öffentliche Besorgnis über die Qualität der Bildung und über die Notwendigkeit zur Überprüfung von Schulen, Standards und Lehrkräften aus. Diese Sorge gipfelte in der »großen Schuldebatte« (Gross/Gross 1985): Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges betrachteten politische Akteure die Mängel in diesem Politikfeld als nationales Sicherheitsrisiko und machten die Schulreform zur Aufgabe mit oberster Priorität. Auch in den folgenden Jahren gehörten Bildungsangelegenheiten zu den wichtigsten Reformvorhaben jeder Präsidentschaft. So gesehen haben die USA ihren »Bildungsschock« also schon Jahrzehnte vor der PISA-Studie erlebt. Der Schock wurde nicht wie in
USA
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Deutschland durch eine international vergleichende Studie ausgelöst, sondern durch einen direkten Vergleich mit der antagonistischen Sowjetunion. Politisch führte A Nation at Risk letztlich zu einer Revitalisierung der nationalen Ebene in bildungspolitischen Fragen (Busemeyer 2006: 75). Die Notwendigkeit der Entwicklung von Standards und Evaluationskriterien stand dabei im Vordergrund. »Die Bildungspolitik selbst hat sich […] zu einem Politikfeld entwickelt, für das nicht mehr ausschließlich die lokale oder gliedstaatliche Regierungsebene zuständig ist. Vielmehr ist es auch hier, ähnlich wie in Deutschland, zu einer Politikverflechtung gekommen« (Busemeyer 2006: 77–78) – nur eben schon vor PISA. Seit den 1980er Jahren wurde eine Reihe von Bildungsreformen angeregt und umgesetzt, die zum Ziel hatten, Standards zu generieren, Verantwortlichkeiten zu klären, Schulwahl zuzulassen und die Qualität der Lehre zu erhöhen. In dem Glauben, dass hohe Standards und die Einführung von messbaren Zielen zugleich individuelle Bildungserfolge fördern, führten diese Reformen insbesondere zu einem erfolgsorientierten Bildungssystem (Interviews USA-03, USA-06, USA-10). Diese Orientierung am Outcome, wie sie auch von der OECD in ihrer PISA-Studie propagiert wird und beispielsweise nun in Deutschland stärker Einzug hält (siehe dazu Niemann in diesem Band), hatte sich in den USA schrittweise bereits seit den 1980er Jahren durchgesetzt. Die neueste Reform dieserart ist der bereits erwähnte No Child Left Behind Act von 2002.6 Das Gesetz autorisiert einige nationale Programme, die durch eine Anhebung der Verantwortlichkeit für Bundesstaaten gegenüber Schuldistrikten und Schulen die Performanz der amerikanischen Grundund weiterführenden Schulen verbessern sollen. Außerdem räumt NCLB Eltern mehr Flexibilität in der Wahl der Schule für ihre Kinder ein. Es verpflichtet Bundesstaaten, die finanzielle Unterstützung für Schulen beantragen, Beurteilungskriterien zu erstellen, welche die grundsätzlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler messen, die ihnen in bestimmten Jahrgangsstufen vermittelt werden sollen. Jedoch vermeidet das Gesetz, einen nationalen Leistungsstandard einzuführen; hingegen kann jeder Bundesstaat, im Einklang mit der Schulautonomie, Standards setzen. NCLB wird als größter Autoritätszuwachs der nationalen Regierung in der Bildungspolitik seit dem Elementary and Secondary Education Act von 1965 gesehen (siehe beispielsweise McGuinn 2006). Daher kann man NCLB
—————— 6 Zu Details, wie dieses Gesetz zustande kam, siehe Kosar (2005: Kapitel 6).
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beinahe als Revolution bezeichnen: »zu wissen, welchen Lernstoff man in welcher Schulstufe durchnehmen wird und in welchem Umfang oder Detail – das war radikal für amerikanische Schulen und wird die Unterrichtspraxis verändern.« (Interview USA-03) Nichtsdestotrotz ist dieser Autoritätszuwachs des Bundes im Bereich Bildung kaum vergleichbar mit den Kompetenzen, die andere Regierungen in Ländern innehaben, in denen zentral bestimmt wird, welche Inhalte zu welchem Zeitpunkt gelehrt werden, wie zum Beispiel in Frankreich (siehe Dobbins zu Frankreich in diesem Band). Der Anstoß für dieses Gesetz kam von einzelnen Gouverneuren (Interviews USA-03, USA-06) und behandelte erstmals eine Standardisierung von Bildung auf nationaler Ebene. In der Zeit vor NCLB waren nationale Politiken eher darauf bedacht, Schulen mehr Ressourcen und Geld zur Verfügung zu stellen, ohne jedoch jemals Evaluationsergebnisse zu verlangen. Erst in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren plädierten einige bedeutende Bundesstaaten für gemeinsame Standards. Die Regierung adaptierte diese Idee 1994 und unterstützte den Improving America’s School Act, den Vorgänger von No Child Left Behind, welcher zum ersten Mal betonte, dass Standards, Evaluationen und klare Verantwortlichkeiten eine notwendige Bedingung darstellen, wenn Bundesstaaten Gelder von der Regierung erhalten wollten. Dennoch nahmen die Bundesstaaten dieses Plädoyer bis zum No Child Left Behind Act von 2001 kaum wahr: Erst NCLB führte klar definierte Standards ein und gab die Marschrichtung vor (Interview USA-06). Ungewöhnlicherweise war NCLB ein von beiden Parteien, den Demokraten sowie den Republikanern, getragenes Projekt und dementsprechend auch von beiden Ideologien geprägt. Beispielsweise setzten die Demokraten eine zusätzliche Finanzierung von Schulen durch, wohingegen die Republikaner klarere Verantwortlichkeiten und mehr Freiheiten in der Schulwahl verwirklichten. Eine Konvergenz der beiden unterschiedlichen Ideen fand jedoch auch statt. So einigten sich Demokraten und Republikaner auf einen gemeinsamen Standard zu den Inhalten und Fähigkeiten, die Schülerinnen und Schüler erlernen sollen, und zugleich auf eine Verantwortlichkeit der Schulen, diese Standards einzuhalten (Interview USA-06). Die aktuelle Debatte um Bildungsstandards dreht sich nun um das Thema, ob nationale Standards und Tests eingeführt werden sollten, wodurch Bildung zu einem stärker zentralisierten und vom Bund kontrollierten Bereich werden würde. Die Befürworter von nationalen Bildungs-
USA
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standards argumentieren, dass derzeit den Bundesstaaten und Distrikten zu viel Kontrolle obliegt. Beispielsweise war ein Aspekt von NCLB die Einführung des »Angemessenen Jährlichen Fortschritts« (adequate yearly progress), um die Performanz von Schulen beziehungsweise den jährlichen Anstieg der Prozentzahl der Schülerinnen und Schüler einer Schule, die im oder über dem bundesstaatlichen Kompetenzstandard in einem bestimmten Bereich liegen, zu messen. Problematisch ist hierbei, dass Staaten ihre eigenen niedrigen akademischen Standards setzen und dann stufenweise das Niveau der Tests senken konnten, damit diese jedes Jahr von mehr Kindern bestanden würden. Obwohl das Gesetz zwar verlangte, dass die Bundesstaaten »anspruchsvolle Standards« (challenging academic standards) einführten, damit sie Bundesmittel erhielten, konnten die Bundesstaaten »anspruchsvoll« selbst definieren (Kosar 2010). Bei der Implementierung von nationalen Standards gibt es jedoch einige problematische Aspekte, unter anderem wie man diese Bildungsstandards erstellen soll und Schulen dazu bewegen kann, diese auch anzuwenden. Ein Vorschlag ist, nationale Bildungsstandards aus bereits bestehenden nationalen Bewertungsschemata zu entwickeln, beispielsweise aus dem National Assessment of Educational Progress, das während der letzten 40 Jahre Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Bereichen getestet hat. Diese für die Erstellung von Prüfungen verwendeten Systeme könnten zu detaillierten Bildungsstandards ausgeweitet werden (Kosar 2010). Andere Diskussionen drehen sich um die Frage, ob es Konsequenzen für die Schulen geben sollte, die die vom Bund gesetzten Standards nicht erfüllen. Beispielsweise sehen sich seit NCLB Schulen, die keinen »Angemessenen Jährlichen Fortschritt« vorweisen, mit wachsenden Eingriffen des Schuldistriktes oder des Bundesstaates konfrontiert (Schemo 2010). Im März 2010 forderte Präsident Obama eine grundlegende Überarbeitung von NCLB und schlug, wenn auch kein nationales Curriculum, so doch die Anwendung von nationalen Standards vor. Die Regierung würde das Schuleinstufungssystem nach dem Schema Bestehen oder Nichtbestehen durch ein System ersetzen, das individuelle Schülerfortschritte messen und Schulen nicht anhand von Testergebnissen, sondern auch mit Hilfe von Indikatoren wie Schulvermeidungsverhalten von Schülerinnen und Schülern, Abschlussraten und Lernklima bewerten sollte. Der Vorschlag fordert deutliche Interventionen in versagenden Schulen (failed schools), aber er würde auch Leistungsträger belohnen und die Einmischung des Bundes in Zehntausende von gut geführten Schulen im Mittelfeld vermindern.
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Außerdem will Präsident Obama die Zielformulierung des Gesetzes, dass jedes amerikanische Kind Kenntnisse in Lesen und Mathematik haben soll, durch eine neue nationale Zielsetzung ersetzen, die sich als ebenso schwer erfassbar erweisen könnte: Alle Schülerinnen und Schüler sollen bei ihrem High School-Abschluss auf das College und eine Berufslaufbahn vorbereitet sein. Regierungsvertreter meinen, ein solcher Plan würde die Bundesstaaten dazu anhalten, das Ziel der College-Vorbereitung bis 2020 zu erreichen. Die beiden großen Lehrerverbände in den USA (die National Education Association und die American Federation of Teachers) waren hingegen von dem Vorhaben enttäuscht, da es ihrer Meinung nach den Lehrerinnen und Lehrern zu viel Verantwortung auferlegt, ohne ihnen irgendwelche Befugnisse zu übertragen. Senatoren aus Reihen der Republikaner haben sich außerdem dagegen ausgesprochen, dass die Rolle des Bundes in einem Maße verstärkt wird, das es in der Bildung bislang nicht gegeben hat (Dillon 2010). Gemäß dieser Vorschläge würden Schulen danach beurteilt werden, ob sie Leistungslücken zwischen armen und wohlhabenden Schülerinnen und Schülern schließen. Bisher gibt es keine Sanktionen für Schulen, die in diesem Bereich versagen. Nach den neuen Plänen müssten Bundesstaaten sogar in scheinbar leistungsstarken Schulen in wohlhabenden Distrikten eingreifen, in denen Testergebnisse und andere Indikatoren Schülergruppen ausmachen, die keinen schulischen Erfolg haben. Auch würden die Vorschläge von Bundesstaaten verlangen, jährliche Tests und weitere Indikatoren anzuwenden, um die fast 100.000 staatlichen Schulen des Landes in verschiedene Gruppen einzuteilen: Etwa 10.000 bis 15.000 sehr leistungsstarke Schulen, die Belohnungen oder Auszeichnungen erhalten würden; etwa 10.000 »versagende« Schulen, die ein unterschiedliches Ausmaß an energischer Intervention des Bundesstaats benötigen; etwa 5.000 Schulen, die inakzeptabel große Leistungslücken schließen müssten; und circa 70.000 Schulen im Mittelfeld, die dazu ermutigt würden, selbst Möglichkeiten zur Verbesserung zu erschließen (Dillon 2010). Trotz der Reformen seit A Nation at Risk haben sich die Schulen in den USA nur marginal verbessert. Die schlechten PISA-Ergebnisse erzeugten keinen Schock, da die Verbesserungswürdigkeit des amerikanischen Bildungssystems allgemein bekannt ist. PISA ist nur einer von vielen Tests, an dem das Land teilnimmt (Interview USA-06). Wie es in einem Interview passend ausgedrückt wurde: »Tests alle paar Jahre […] PISA, TIMSS – wir haben die letzten 25 Jahre den Paukenschlag gehört, mit dem uns berichtet
USA
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wird, dass der Rest der Welt bessere schulische Leistung hervorbringt; diese Information ist einfach keine Überraschung mehr.« (Interview USA03) Vielmehr wäre es ein positiver Schock gewesen, wenn Amerika in der PISA-Studie besser abgeschnitten hätte (Interview USA-01). Die schlechten PISA-Ergebnisse sind unter der Elite des Landes, Politikerinnen und Politikern sowie bildungspolitischen Gruppen, Gewerkschaften und Think Tanks in den USA zwar bekannt, die breite Masse interessiert sich hingegen nicht dafür. Eine durchschnittliche Person auf der Straße wird vermutlich noch nie von der PISA-Studie gehört haben oder gar von der OECD (Interview USA-05; USA-11). PISA hat der amerikanischen Bildungspolitik auch nicht den informativen Mehrwert gebracht, der neue Debatten um die Struktur, Inhalte oder Ziele von Bildung hätte anstoßen können. Spätestens seit TIMSS ist auch der breiten Masse bekannt, dass die amerikanischen Schulen weiterhin im internationalen Vergleich nur Mittelmaß sind (Interview USA-01). PISA hat dieses Wissen um die Durchschnittlichkeit des Bildungswesens in den USA nur nochmals bestätigt (Interview USA-07; Interview USA-03). Anders als zum Beispiel in Deutschland, ist man sich in den USA bereits seit Jahrzehnten bewusst, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder mit geringem sozio-ökonomischen Status der Eltern benachteiligt sind (in den USA achievement gap genannt); seit A Nation at Risk ist die Sensibilität für diese Thematik besonders ausgeprägt (Interview USA-12). Darüber hinaus überträgt sich auch das Selbstverständnis vom »amerikanischen Exzeptionalismus« auf das Bildungswesen, weshalb nicht erwartet werde, man könne wirklich von anderen Bildungssystemen lernen (Interview USA-03) – anders als beispielsweise Neuseeland, das versucht, best practices anderer Systeme in ihr eigenes Bildungswesen zu übertragen (siehe Dobbins zu Neuseeland in diesem Band). In den USA wird in diesem Kontext oft bezweifelt, dass solche internationalen Vergleiche sinnhaftig seien (Interview USA-03, USA-06). Es dominiert das Bild, dass sich die USA vom Rest der Welt unterscheiden. Folglich wäre es weder fair noch vernünftig, sich mit anderen Ländern international zu vergleichen (Interview USA-06).
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Schlussfolgerungen Innerstaatlich haben die USA einen Weg zu mehr Standardisierung und zu vergleichenden Evaluationen eingeschlagen; internationale Vergleiche wie PISA erzeugen jedoch keine Reaktion. Während heute Ratings und Rankings innerhalb der USA beispielsweise für die Schulwahl eine entscheidende Rolle spielen, zieht das internationale Ergebnis kaum Aufmerksamkeit auf sich. Ironischerweise gaben die USA den Anreiz zur PISA Studie, die einen ungleich größeren Einfluss auf die Bildungspolitiken anderer Länder als die der USA hat (siehe Niemann zu Deutschland, Bieber zur Schweiz oder Popp zu Mexiko und Spanien in diesem Band). Von Reformstau kann im amerikanischen Bildungswesen keine Rede sein; vielmehr wurden bereits seit den 1950er Jahren, dann nochmals seit den 1980er Jahren, vielfach und kontinuierlich Reformen durchgeführt, die allerdings bislang nur wenig Erfolg gezeigt haben. Das Niveau der amerikanischen Schulen ist nur mäßig gestiegen. Der Impetus zu sukzessiven Reformwellen kommt dabei nicht von einer internationalen Organisation wie der OECD mit ihrer PISA-Studie. Diese hat keinen nachweisbaren direkten Einfluss auf das nationale Bildungssystem der USA (Interview USA-03).
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USA
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KERSTIN MARTENS
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11
Gewinner, Verlierer und Exoten – PISA in sieben weiteren Staaten
Daniel de Olano
Die Ära des internationalen Vergleichs ist gekommen1 PISA ist nicht die einzige internationale Bildungsstatistik. Schon ausgangs der 1920er Jahre trugen in Genf die Mitarbeiter im International Bureau of Education (IBE) Bildungsdaten aus allen Ländern zusammen und knüpften erste internationale Expertennetzwerke.2 Im Weltbildungsbericht (Global Monitoring Report) bietet die UNESCO im Rahmen ihres Programms Education for All seit 2002 statistische Kennzahlen für nahezu alle Staaten der Erde. Selbst innerhalb der OECD reicht die Beschäftigung mit Bildungsindikatoren weitaus länger als PISA zurück – seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht die Organisation mit Bildung auf einen Blick (Education at a Glance) eine eigene umfangreiche Bildungsstatistik. PISA ist auch nicht die erste große internationale Schulleistungsuntersuchung. Seit ihrer Gründung 1958 führt die zunächst als lose Gruppe von Bildungsforschern aus unterschiedlichen akademischen Disziplinen entstandene International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) kontinuierlich international vergleichende Schulleistungsuntersuchungen durch (IEA 2010).3 Daneben gab und gibt es weitere Organisationen, die nationale Schulsysteme international testen und vergleichen (siehe zur Geschichte der Schulleistungsuntersuchungen Bos/Postlethwaite 2002; Wiseman/Baker 2005; Drechsel/Prenzel/Seidel 2009).
—————— 1 Die empirische Grundlage für dieses Kapitel bilden Dokumentenanalysen von Presseartikeln, Gesetzestexten und Sekundärquellen. Für ihre Unterstützung bei der Recherche sei Emmy Eklundh und Till Ludwig gedankt. 2 Das IBE wurde 1969 in die UNESCO eingegliedert. 3 Ihre heutigen »Flaggschiffe« sind die Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS, bislang erhoben 1995, 1999, 2003 und 2007) und die Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS, in Deutschland als Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU bezeichnet und erhoben bislang 2001 und 2006).
252
DANIEL DE OLANO
Wie auch schon der IEA ist es der OECD dabei im Unterschied zu anderen Untersuchungen gelungen, ihre Studien in einem konsistenten Format über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten und dabei die Zahl der teilnehmenden Staaten beständig zu erhöhen. PISA startete 2000 mit 43 Teilnehmern und wurde zuletzt 2009 in 67 Staaten und Regionen durchgeführt. Diese hohen Beteiligungszahlen wären nicht möglich, hätte es die OECD nicht vermocht, neben den klassischen Industriestaaten auch eine große Zahl an Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern zur Teilnahme an ihrer Studie zu bewegen. Tabelle 11.1 zeigt die über den Kreis der OECD-Mitgliedsstaaten hinausgehenden Länder nach ihrer erstmaligen Teilnahme an einer PISA-Studie: Tabelle 11.1: Erstmalige Teilnahme so genannter Partnerländer an PISA4 PISA 2000
Albanien, Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Chile, Hongkong (China), Indonesien, Israel, Lettland, Liechtenstein, Mazedonien, Peru, Rumänien, Russische Föderation, Thailand
PISA 2003
Macao (China), Serbien und Montenegro, Tunesien, Uruguay
PISA 2006
Aserbaidschan, Republik China (Taiwan), Estland, Jordanien, Katar, Kirgisistan, Kolumbien, Kroatien, Litauen, Slowenien
PISA 2009
Dominikanische Republik, Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), Kasachstan, Moldau, Panama, Schanghai (China), Singapur, Trinidad und Tobago
Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, 2003b, eigene Darstellung
»Die Ära des internationalen Vergleichs von Bildung ist gekommen«5, so konstatieren Wiseman und Baker (2005: 3). Doch was bewegt so viele Staaten von so unterschiedlicher Wirtschaftskraft wie Kasachstan, Kolumbien und Kanada, aus so unterschiedlichen Kulturkreisen wie Trinidad und Tobago, Thailand und Tunesien, ihre Bildungssysteme untereinander und mit den Systemen der erfolgreichsten Industriestaaten vergleichbar zu machen? Was versprechen sich diese Länder von ihrer Teilnahme an PISA? Welche Auswirkungen – Diskurse und Reformen – verursacht die eigene Positionierung im internationalen Ranking? In diesem Kapitel wird überblicksartig der Einfluss der PISA-Studie in sieben Staaten inner- und außerhalb der OECD-Welt nachgezeichnet.
—————— 4 Chile, Estland, Israel und Slowenien wurden 2010 Mitglieder der OECD. 5 Alle fremdsprachigen Originalzitate wurden vom Autor in das Deutsche übertragen.
GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
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Untersucht werden zunächst die Teilnahmeländer, die bei PISA 2006 auf dem »Treppchen« gelandet sind: Finnland, Korea und Kanada. Zwischen ihren Schulsystemen bestehen zum Teil deutliche Unterschiede, die drei Gewinner eint jedoch, dass sie bereits frühzeitig umfangreiche Reformen der bildungspolitischen Steuerung unternommen haben. Mit den Reaktionen auf die OECD-Studie in Japan und Österreich wird danach das PISA-Echo in zwei Ländern nachgezeichnet, die angesichts ihres deutlichen Abrutschens im Ranking als Verlierer der Studie dastehen. Reformen erfolgten in beiden Ländern im Vergleich zu den Gewinnern nur verzögert und wurden durch den anhaltenden Streit zwischen Bewahrern und Reformern des jeweiligen Schulsystems um die Deutungshoheit über die PISA-Ergebnisse erschwert. Schließlich werden mit Katar und Thailand zwei Staaten betrachtet, die zu den Exoten im Teilnehmerkreis der OECD-Bildungsstudie gezählt werden können. Beide Länder haben Anfang des Jahrtausends umfangreiche Reformmaßnahmen im Bildungsbereich angestoßen, denen heute aber unterschiedliche Aufmerksamkeit zukommt. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei nicht in erster Linie auf der Rückbindung an die in der Einleitung (siehe de Olano et al. in diesem Band) beschriebenen Erklärungsansätze. Vielmehr soll aufgezeigt werden, welche spezifische Funktion den Ergebnissen in den unterschiedlichen Ländern zukommt. Es zeigt sich dabei, dass die Teilnahme an PISA und der Umgang mit dem eigenen Abschneiden eng an Abstiegsängste, Aufstiegsträume und die Herausforderungen einer globalisierten Welt gekoppelt sind.
Finnland, Korea und Kanada: Wie sehen Sieger aus? Finnland, Korea und Kanada belegten bei PISA 2006 die ersten drei Rangplätze im Vergleich der aktuell 34 OECD-Staaten.6 Allen drei kam viel Aufmerksamkeit von Seiten schlechter abschneidender Staaten zu. Warum sind diese Länder so erfolgreich? Über die dem guten Ergebnissen ihrer Bildungssysteme zu Grunde liegenden Faktoren sowie eventuelle Schattenseiten des Erfolges soll im Folgenden berichtet werden.
—————— 6 Eine Übersicht über das Abschneiden der OECD-34 sowie der so genannten Partnerländer zeigen die Tabellen 11.11 und 11.12 im Anhang dieses Kapitels.
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DANIEL DE OLANO
Finnland – Das neue Bildungsmusterland Finnland ist spätestens seit PISA 2003 der Überflieger unter allen Teilnahmeländern. Die Finnen landeten bereits bei PISA 2000 im Schwerpunkbereich Lesekompetenz auf dem ersten Platz. Drei Jahre später gewannen sie das »Triple«: In allen drei Kompetenzbereichen erzielten die finnischen 15-Jährigen Bestwerte (siehe Tabelle 11.2). Finnland übernahm auch im Mittelwert den Spitzenplatz – und behauptete diesen bei PISA 2006. Tabelle 11.2: Abschneiden Finnlands in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
546
(1.)
543
(1.)
547
(2.)
Mathematische Kompetenz
536
(4.)
544
(1.)
548
(1.)
Naturwissensch. Kompetenz
538
(3.)
548
(1.)
563
(1.)
Mittelwert der drei Bereiche
540
(3.)
545
(1.)
553
(1.)
Rangposition im
OECD-34-Vergleich7
in Klammern
Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
Naturgemäß war die Freude über die PISA-Platzierungen in Finnland groß. Zeigte man sich angesichts der Ergebnisse von PISA 2000 noch wenig überrascht – schließlich hatte man im Verlaufe der 1990er Jahre schon bei anderen Leseleistungsuntersuchungen sehr gut abgeschnitten (BMBF 2003: 138) – verblüffte das hervorragende Ergebnis von 2003 indessen selbst die finnischen Expertinnen und Experten. Eine Verbesserung in den Bereichen mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz über die als bereits sehr gut empfundenen Ergebnisse von 2000 hatte niemand ernsthaft erwartet (Helsingin Sanomat 2004). Mitte der 1970er Jahre wurde in Finnland die neunjährige Gemeinschaftsschule eingeführt, in der alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gemeinsam unterrichtet werden. Die pädagogischen Anstöße für diese umfassende Schulreform lieferten Schweden und die DDR (Meri 2010). In den rund 3.200 Gemeinschaftsschulen (fin-
—————— 7 Der in den Tabellen zum PISA-Abschneiden angegebene Rangplatz bezieht sich auf die Platzierung innerhalb der Gruppe der heutigen 34 OECD-Staaten, also inklusive der 2010 aufgenommenen vier neuen Mitglieder. Eine Übersicht über die Teilnahme an den jeweiligen Studien bietet Tabelle 11.11.
GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
255
nisch peruskoulu, schwedisch grundskola), die in dem dünnbesiedelten Land zwischen unter zehn und 1.000 Schülerinnen und Schüler umfassen (Eurydice 2009/2010a: 18), lernen Kinder und Jugendliche seither in heterogenen Lerngruppen. Benotungen sind erst ab Klasse 7 obligatorisch, einen Abschlusstest zum Schulabgang gibt es nicht. Beim Übergang auf weiterführende Schulen ab Klasse zehn – das Gymnasium oder berufsschulische Angebote – zählt allein das Abschlusszeugnis. In Finnland wird vergleichsweise spät eingeschult – erst in dem Jahr, in dem das siebte Lebensjahr vollendet wird. Rund 93 Prozent der Kinder haben jedoch vorher bereits Angebote im Elementarbereich wahrgenommen (BMBF 2003: 54). Der Unterricht ist unentgeltlich, Lernmittelfreiheit wird gewährt und an jeder Schule eine kostenlose warme Mahlzeit ausgegeben. Finnische Schulen sind Halbtagsschulen – innerhalb der OECDWelt ist die Unterrichtsverpflichtung für 7- bis 14-Jährige nur in Estland geringer (OECD 2009a). Dennoch bieten sie auch nachmittags zahlreiche Förder- und sonstige Kursangebote auf freiwilliger Basis an. Eine Besonderheit ist das hohe Sozialprestige finnischer Lehrkräfte. Trotz vergleichsweise geringer Bezahlung besteht eine große Nachfrage nach Lehramtsstudienplätzen, die eine Auswahl der am Besten geeignet erscheinenden Bewerber durch die Universitäten ermöglicht (BMBF 2003: 56). In den 1990er Jahren kam es unter den Schlagworten Dezentralisierung, Evaluation und Wahlfreiheit zu weitreichenden Reformen der Bildungssteuerung. Mit dieser Reformagenda wollte man sich frühzeitig der Herausforderung von Globalisierung und Internationalisierung stellen (Rinne/Kivirauma/Simola 2002: 647). Finnland vollzog einen Wandel vom »Planstaat« zum »Evaluationsstaat« (ebenda: 650). An die Stelle vormals strikter Vorgaben traten Kernziele und Rahmenlehrpläne, die vom Amt für Unterrichtswesen (Opetushallitus) erstellt und von den Schulen eigenverantwortlich mit Leben gefüllt werden sollen; die Schulstruktur blieb jedoch unverändert. Die Schulträgerschaft liegt seit diesen Reformen nahezu ausschließlich bei den finnischen Kommunen. Es herrscht freie Schulwahl, was zu Profilierung und Wettbewerb unter den Schulen geführt hat (Meri 2010: 236). Dennoch ist der Einfluss der jeweils angewählten Schule auf das Abschneiden ihrer Schülerinnen und Schüler in der PISA-Studie in keinem anderen Land so gering wie in Finnland (OECD 2005). Evaluation ist ein wesentliches Element dieser neuen Politik der »Steuerung über Ergebnisse« (Rinne/Kivirauma/Simola 2002: 650). Das Bildungsministerium und das ihm nachgeordnete nationale Amt für Unter-
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DANIEL DE OLANO
richtswesen behielten die bildungspolitische Richtlinienkompetenz. Sie nehmen heute aber primär eine Beratungs- und Unterstützungsfunktion auf der Grundlage jährlicher landesweiter Evaluationen in jeweils rund 100 Schulen wahr (BMBF 2003: 122). Dadurch, dass die Verantwortlichkeit nicht aber die Rahmenkompetenz auf die kommunale Ebene verschoben wurde, bleibt der Regierung stets die Möglichkeit, ungewollten Erscheinungen durch vereinheitlichende Vorgaben entgegen zu treten (BMBF 2003: 57, 102; OECD 2004b: 14) und die Rahmenlehrpläne wie zuletzt 2004 (Utbildningsstyrelsen 2004) zu reformieren. Finnland folgt dem Humboldtschen Bildungsgedanken (Meri 2010: 229): Bildung soll jedem Individuum zugute kommen und zu Mündigkeit befähigen, unabhängig von sozialen und materiellen Voraussetzungen. Defiziten im Schulsystem, die an der einen oder anderen Stelle noch zu Tage treten, will man mit gezielten Maßnahmen begegnen. Anlass zu einer kritischen Betrachtung boten zum Beispiel der große Vorsprung der Mädchen in der Lesekompetenz bei PISA 2000 und ein als zu hoch empfundener Anteil von Jugendlichen, die angeben, sich in der Schule nicht wohl zu fühlen (BMBF 2003: 140; Eurydice 2008/2009a: 60–61). Das hohe Bildungsniveau sei im internationalen Kontext von hohem Wert, so Bildungsministerin Tuula Haatainen, jetzt gelte es, den erreichten Standard zu festigen und sich Entwicklungsziele zu setzen, um auch zukünftige Herausforderungen meistern zu können (MEC 2004). PISA hat den Finnen bestätigt, dass die Ausrichtung ihrer Bildungspolitik grundsätzlich erfolgreich ist: Die rund sechs Prozent schwedischen Muttersprachler in dem zweisprachigen Land schneiden in der Studie zwar schlechter ab als Jugendliche, die in ihren Familien Finnisch sprechen, im internationalen Vergleich liegen aber beide Gruppen auf einem sehr hohen Niveau. Der Leistungsunterschied zwischen der kleinen Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (nur 1,3 Prozent) und Nichtmigranten fällt stärker aus, als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist (OECD 2004b: 46). Gleichwohl erreichten nur sechs Prozent der finnischen Jugendlichen bei PISA 2003 in Mathematik nicht die Kompetenzstufe 2 – im OECD-Mittel waren es 21 Prozent (Välijärvi et al. 2007: 10). In nur wenigen anderen Ländern ist die schulische Leistung der Schülerinnen und Schüler in so geringem Maße an außerschulische Einflussgrößen geknüpft (BMBF 2003: 56; Centre for Educational Assessment 2010). Die Grundlagen für die heutigen Erfolge seien in den Reformen der 1970er Jahre zu suchen (Kupiainen/Hautamäki/Karjalainen 2009: 11), die
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im Zusammenspiel mit der Reformagenda der 1990er vor allem zu drei Stärken des Bildungssystems geführt hätten: – Dezentralisierung, Flexibilität und Diversität statt Standardisierung; – Schwerpunktsetzung auf breitem Wissen und Persönlichkeitsentwicklung anstelle von einseitiger Akzentuierung der Beherrschung der so genannten Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen; – eine Kultur des Vertrauens in Lehrkräfte und Schulleitungen anstatt rigider Schulinspektion (ebenda: 12). PISA will analysieren, inwieweit Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit die Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben, die sie in ihrem Erwachsenenleben benötigen werden (OECD 1999: 9). Die Ergebnisse der finnischen Heranwachsenden geben dabei wenig Anlass zu einer skeptischen Beantwortung dieser Fragestellung: Finnische Schülerinnen und Schüler sind ihren skandinavischen Nachbarn zwischen eineinhalb und zwei Schuljahren voraus (Matti et al. 2009: 190).
Korea: Eine Nation im Nachhilfe-Fieber »Ein Masterplan für ein neues Korea […] geprägt durch Globalisierung« (MOE 2008: 24), so werden die 1995 vom Komitee für Bildungsreformen vorgeschlagenen »Reformen für ein Neues Bildungssystem« bewertet. Die angeregten Maßnahmen forderten die Erhöhung staatlicher Bildungsausgaben und den Ausbau von Autonomie und Verantwortung auf Schulebene. Korea sollte auf das aufkommende Informationszeitalter und die weltweite Wissensgesellschaft vorbereitet werden. Bildung verfügt in der ostasiatischen Republik über einen hohen Stellenwert. Man ist sich bewusst, welchen Beitrag sie zum wirtschaftlichen Wachstum geleistet hat. In den wenigen Jahrzehnten seit Ende des Koreakriegs 1953 hat sich das Land von einer Agrargesellschaft in eine der modernsten Volkswirtschaften der Welt gewandelt (OECD 2009b: 145). Der Ausbau der Bildungsbeteiligung ermöglichte Wachstum, Wohlstand, Zukunfts- und Fortschrittsorientierung (MOE 2008: 10–11). Bereits in den 1980er Jahren wurde die Bedeutung lebenslangen Lernens in der Verfassung verankert, Innovation im Bildungsbereich ist heute eine von vier zentralen Zielsetzungen des Regierungshandelns. Im Zentrum steht dabei die Bildungsideologie des Hongik Ingan: Das Bildungssystem soll »ganzheit-
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DANIEL DE OLANO
liche« Bürger hervorbringen, die ihren Beitrag zum demokratischen Prozess und zur volkswirtschaftlichen Wohlfahrt leisten können (ebenda: 28). Das Schulwesen gliedert sich in eine sechsjährige Grundschule, an die eine dreijährige Mittelschule anschließt. Beide Schulstufen sind verpflichtend und vom Schulgeld befreit. Nach Abschluss der Mittelschule können die Schülerinnen und Schüler ihre Ausbildung an einer allgemein- oder berufsbildenden dreijährigen Oberschule fortsetzen. Diese Schulen erheben ein nach sozialen Gesichtspunkten gestaffeltes Schulgeld. Trotz der damit verbundenen Kosten absolvieren 95 Prozent der Heranwachsenden die Oberschule – der höchste Wert im OECD-internen Vergleich (Bergheim 2005: 14). Aktuelle Zielsetzungen der Regierung umfassen den Ausbau der Bildungsbeteiligung im Elementarbereich, die 2005 nur bei 45 Prozent im letzten Kindergartenjahr lag (MOE 2008: 40) und die Einführung von Oberschul-Stipendien für Jugendliche aus einkommensschwachen Familien. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde ein Teil der Verantwortlichkeit für die beiden unteren Schultypen an lokale Autoritäten übergeben. Der Ausbau lokaler Schulautonomie ist heute ein wesentliches Ziel der Regierung und erste Pilotprojekte wurden an sämtlichen Schulformen eingerichtet (KEDI 2009). Das Korea Institute of Curriculum and Evaluation (KICE) ist mit der Durchführung jährlicher nationaler Schulleistungsuntersuchungen betraut. Schulen, deren Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards verfehlen, erhalten Beratung und zusätzliche finanzielle Unterstützung. Südkorea hat an allen bisherigen PISA-Studien teilgenommen. Mit ihrem Abschneiden haben die koreanischen 15-Jährigen im OECD-Vergleich stets den zweiten Platz eingenommen (siehe Tabelle 11.3). Koreas Ergebnisse dokumentieren über die sehr guten Rangplätze hinaus ein hohes Maß an Chancengleichheit im öffentlichen Schulsystem: Nur 5,6 Prozent der Schülerinnen und Schüler verbleiben in der Lesekompetenz bei PISA 2000 unterhalb von Kompetenzstufe 2 – verglichen mit 22,6 Prozent in Deutschland (McGaw 2005; siehe Tabelle 11.8). Ganz im Gegensatz zu den beeindruckenden PISA-Ergebnissen des Landes besteht allerdings eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Bildungssystem (OECD 2009b: 149). Dem Unterricht an den Schulen wird von der Mehrheit der koreanischen Eltern nicht zugetraut, ihre Kinder ausreichend auf die harte Aufnahmeprüfung an den angesehensten Universitäten, dem College Scholastic Aptitude Test (CSAT), vorzubereiten (Kim/Lee/Lee 2005: 9). Dennoch spielen Privatschulen im Grund-
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und Mittelschulbereich mit 1,3 beziehungsweise 21,1 Prozent aller Schulen nur eine untergeordnete Rolle (KEDI 2009: 14). Tabelle 11.3: Abschneiden Koreas in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
525
(6.)
534
(2.)
556
(1.)
Mathematische Kompetenz
547
(2.)
542
(2.)
547
(2.)
Naturwissensch. Kompetenz
552
(1.)
538
(3.)
522
(8.)
Mittelwert der drei Bereiche
541
(2.)
538
(2.)
542
(2.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
Allerdings nahmen 2003 83,1 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an Grund- und 75,3 Prozent an Mittelschulen zusätzlich zum Schulbesuch ergänzende private Nachhilfeangebote wahr (Lee 2005: 100). In kaum einem anderen OECD-Staat liegen die staatlichen Bildungsausgaben so niedrig wie in Korea.8 Addiert man jedoch die Ausgaben privater Haushalte hinzu, kehrt sich das Ergebnis um und das Land liegt an der Spitze der Bildungsausgaben. Durchschnittlich investieren Familien mit Kindern in Mitteloder Oberschule rund 30 Prozent ihres Einkommens in Nachhilfeangebote (ebenda: 100). Die hohe materielle und persönliche Einsatzbereitschaft der südkoreanischen Eltern wird als »Bildungsfieber« bezeichnet (Kim/Lee/Lee 2005). Den eigenen Kindern soll der Weg an eine der angesehenen Universitäten und somit mittelbar in eine aussichtsreiche Karriere eröffnet werden; private Bildungsausgaben werden als Investitionen in die Zukunft verstanden (KEDI 2009: 11). Die hohen Kosten für private Nachhilfe, die insbesondere einkommensschwache Familien erheblich belasten, sowie die einseitige Ausrichtung des öffentlichen wie privaten Unterrichts an den Anforderungen der universitären Aufnahmetests bilden die Schattenseiten dieses Systems (Lee 2005; OECD 2009b).
—————— 8 Als eine Folge des geringen staatlichen Bildungsetats weist Korea das ungünstigste Lehrer-Schüler-Verhältnis und die größten Klassenfrequenzen in der ganzen OECDWelt auf (OECD 2009b: 147). 2005 umfassten die Klassen durchschnittlich 31,8 Schülerinnen und Schüler in der Grundschule, in der Mittelschule waren es 35,3 und in der Oberschule 32,7 (MOE 2008: 137).
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Regierung, Wissenschaft und internationale Partner teilen die Einschätzung, dass die hohe Bedeutung privater Nachhilfeangebote zwar das exzellente Abschneiden bei Studien wie PISA gefördert hat, aber für viele Koreaner eine hohe Belastung darstellt und zu einem ineffizienten, einseitig ausgerichteten Unterricht führt (OECD 2009b: 150; Lee 2005; Choi 2006). Schon einmal – im Jahr 1980 – hat die Regierung versucht, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten und private Nachhilfe gesetzlich verboten. Dieses Verbot erwies sich aber als ineffektiv und wurde nach und nach ausgehöhlt (Bray 2003: 58–59), bevor es schließlich 1998 durch das Verfassungsgericht gänzlich aufgehoben wurde. Aktuelle Maßnahmen umfassen den Ausbau von e-Learning und Bildungsfernsehen sowie ein Programm zum Aufbau freiwilliger Nachmittagsangebote an den Schulen (Choi 2006). Ob diese Schritte allein ausreichen, das Bildungsfieber koreanischer Eltern zu kanalisieren und das Vertrauen in die öffentliche Schulbildung zu stärken, wird abzuwarten sein. Das Abschneiden bei internationalen Studien wie PISA kann eben auch als Argument für den Erhalt des bestehenden Systems dienen. Trotz aller Kritik und der hohen Belastung für die Familien stellt das PISA-Ranking dem Bildungsfieber in Korea ein gutes Zeugnis aus.
Kanada: Föderalstaat mit ausgebauter Testkultur Kanada, das nach Staatsgebiet zweitgrößte Land der Erde, ist ein Föderalstaat, der gegenwärtig aus zehn Provinzen und drei Territorien besteht. Bildungspolitik liegt mit wenigen Ausnahmen in der exklusiven Hoheit der dreizehn Gliedstaaten, auf Bundesebene besteht nicht einmal ein Bundesbildungsministerium. Die nationale Koordination im Bildungsbereich wird seit 1967 vom Council of Ministers of Education, Canada (CMEC), vergleichbar mit der deutschen Kultusministerkonferenz (siehe Niemann zu Deutschland in diesem Band), geleistet.9 Die Schulsysteme in den einzelnen Provinzen und Territorien unterscheiden sich in vielen Details, folgen jedoch einem identischen Grundmuster: Auf nur in wenigen Gliedstaaten verpflichtende Vorschulangebote folgt die Grundschule, an die sich die Sekundarschule anschließt. Öffentliche Grund- und Sekundarschulen sind kostenfrei, die Heranwachsenden in
—————— 9 Als Grundlage für die Beschreibung des kanadischen Bildungssystems dienten Publikationen des CMEC (CMEC 2008a, 2008b).
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der Regel zwischen dem sechsten und dem sechzehnten Lebensjahr schulpflichtig. Die Dauer der einzelnen Schulstufen und ihre Bezeichnungen variieren erheblich, zum Teil sogar innerhalb von Provinzen. Der Schulabschluss wird in Quebec am Ende der elften Jahrgangstufe, in allen anderen Gliedstaaten ein Jahr später erworben. Sowohl Grund- als auch Sekundarschulen sind Gemeinschaftschulen. Erst in den letzten Jahren der Sekundarschule werden die Weichen für die unterschiedlichen weiterführenden Bildungsangebote gestellt: Die Schülerinnen und Schüler belegen dann im Rahmen des Sekundarschulbesuchs Wahlpflichtkurse, die auf die speziellen Anforderungen einer weiteren akademischen oder beruflichen Ausbildung beziehungsweise den Übergang in das Berufsleben vorbereiten.10 Die Regierungen der Gliedstaaten setzen den rechtlichen und finanziellen Rahmen für die Bildungsangebote auf ihrem Staatsgebiet, legen Bildungsstandards fest und halten verschiedene Beratungs- und Unterstützungangebote für die Schulen vor. Die Verwaltung der Schulen liegt jedoch in der Regel bei lokalen Schulbehörden oder Schulbezirksräten. Die Mitglieder dieser Gremien werden vom Volk in den jeweiligen Schuldistrikten direkt gewählt. Die Zuständigkeiten unterscheiden sich, umfassen aber grundsätzlich die finanzielle, personelle und organisatorische Aufsicht und Verwaltung der Schulen im jeweiligen Bereich. Kanada belegte bei PISA 2000 insgesamt den vierten Platz unter den OECD-34-Staaten (Tabelle 11.4). Im Bereich der Lesekompetenzen, dem Schwerpunkt der ersten PISA-Studie, konnte nur Finnland bessere Ergebnisse erzielen. In der Auswertung des Abschneidens der einzelnen Provinzen zeigte sich jedoch ein deutliches Leistungsgefälle. Schülerinnen und Schüler aus Alberta schnitten mit 550 Punkten im Bereich Lesen hervoragend ab, während die Jugendlichen aus den ostkanadischen »atlantischen« Provinzen11 schwächere Ergebnisse, in New Brunswick mit 501 Punkten sogar nur im Bereich des OECD-Durchschnittes, erbrachten.12
—————— 10 Eine Ausnahme stellt Quebec dar. Hier wird bereits ab Klassenstufe 10 parallel zu den Gemeinschaftschulen ein berufsbildendes System angeboten (Ministère de l’Éducation, du Loisir et du Sport, Québec 2006). 11 Die vier atlantischen Provinzen umfassen New Brunswick, Neufundland und Labrador, Nova Scotia sowie Prince Edward Island. 12 Die Daten zum innerkanadischen Vergleich sind den nationalen Publikationen zu PISA 2000, PISA 2003 und PISA 2006 entnommen (Bussière et al. 2001; Bussière/Cartwright/ Knighton 2004; Bussière/Knighton/Pennock 2007).
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Dianne Cunningham, zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzende des CMEC, sah die Ergebnisse als Bestätigung der kanadischen Bildungspolitik, man befinde sich »auf dem richtigen Weg« (siehe Sokoloff 2001). Dennoch löste PISA 2000 ein geteiltes Medienecho aus. Einerseits könnten Kanadas Jugendliche »zu den best-gebildeten Teenagern der Welt« gezählt (Honey 2001) und dem öffentlichen Bildungswesen angesichts des guten Abschneidens eine »glückliche Zeit« attestiert werden (Kingwell 2001), andererseits wurde – frei nach Churchill – spöttisch kommentiert: »Unser Bildungssystem ist das schlechteste der Welt, ausgenommen alle anderen.« (Orwin 2001) Auch die Lobeshymnen der zahlreichen Bildungsakteure, die sich im Gegensatz zu früheren Studien angesichts der guten PISA-Ergebnisse erstmals alle einig zu sein schienen, wurden mit Verwunderung zur Kenntnis genommen (Coyne 2001). Das positive Ergebnis übertraf die öffentlichen Erwartungen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen vor PISA eher die Probleme, etwa die sehr hohe Rate an Schülerinnen und Schüler, die die Schulen ohne Abschluss verließen.13 In Umfragen der Canadian Education Association (CEA) sank der Anteil der Befragten, der seinen lokalen Schulen die Note »A«, also »sehr gut«, auszustellen bereit war, von 19 Prozent im Jahre 1979 auf 6 Prozent in den Umfragen der Jahre 1990 und 2007 ab (CEA 2007: 10). Tabelle 11.4: Abschneiden Kanadas in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
534
(2.)
528
(3.)
527
(3.)
Mathematische Kompetenz
533
(5.)
532
(5.)
527
(5.)
Naturwissensch. Kompetenz
529
(5.)
519
(8.)
534
(2.)
Mittelwert der drei Bereiche
532
(4.)
526
(4.)
529
(3.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
PISA 2003 konstatierte ein leichtes Absinken bei den Ergebnissen in allen Kompetenzbereichen, dennoch konnte der vierte Platz im OECD-internen
—————— 13 Dies ist auf eine Besonderheit des kanadischen Bildungssystems zurückzuführen: Die Pflichtschulzeit endet bereits vor dem Erreichen der Abschlussjahrgänge an den Schulen. Umfangreiche Erwachsenenbildungsprogramme haben die Quote der 20–24-Jährigen ohne Schulabschluss mitlerweile auf 10 Prozent absinken lassen (CMEC 2008a: 5).
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Ranking gehalten werden. »Kanadische Schülerinnen und Schüler fallen zurück« (Alphonso 2004a), so titelte The Globe and Mail, zitierte aber auch die Stellungnahmen der Bildungsexperten, nach denen die Wirkungen der Maßnahmen der letzten Jahren – etwa die Reduzierung der Klassenfrequenzen und der Ausbau von Leseförderung – »erst in einem Jahrzehnt sichtbar« werden könnten. Das sehr gute Abschneiden im Schwerpunktbereich Naturwissenschaften bei PISA 2006 bedeutete für Kanada erstmals den Aufstieg in die Top-3 der OECD-34-Staaten. »Kanada besteht Test in Naturwissenschaften mit Leichtigkeit.« (Mahoney 2007a) Die Schülerinnen und Schüler hätten einmal mehr bewiesen, dass sie zu den Besten gehören, so die damalige Vorsitzendes des CMEC, Kelly Lamrock (siehe ebenda). Auch bei PISA 2003 und 2006 bestätigte sich das Leistungsgefälle im innerkanadischen Vergleich. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Alberta bildeten zusammen mit ihren Altersgenossen in Finnland, Korea und Hongkong die Weltspitze und lagen in den Rankings deutlich vor den Jugendlichen in den atlantischen Provinzen wie New Brunswick und Prince Edward Island. Die Ergebnisse lagen jedoch in keiner Provinz unterhalb des OECD-Schnittes. Die guten Ergebnisse Kanadas sind angesichts des hohen Anteils an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund bemerkenswert. Die beiden vor Kanada liegenden OECD-Staaten Finnland und Korea weisen so geringe Migrantenquoten auf, dass sie in den einschlägigen Publikationen der OECD (zum Beispiel OECD 2006) nicht als Fallbeispiele behandelt werden können. Vergleicht man das Abschneiden der kanadischen 15Jährigen mit und ohne Migrationshintergrund mit dem der Jugendlichen aus anderen OECD-Staaten mit vergleichbarer Migrationsquote, ist das Ergebnis deutlich (siehe Tabelle 11.5). Der Leistungsvorsprung, den Heranwachsende mit Migrationshintergrund in Kanada vor ihren Altersgenossen in Deutschland, Österreich und Schweden haben, ist enorm und lässt sich nicht allein auf den generellen Vorsprung Kanadas zurückführen. Migranten zweiter Generation schneiden in Kanada rund 120 Punkte besser ab als in Deutschland und Österreich. Dies entspricht einem Vorsprung von rund drei Schuljahren (siehe Teltemann in diesem Band).14 Auch der Anteil der Migranten, der im Bereich der Lesekompetenz der Risikogruppe zuzurechnen ist, fällt nur vergleichsweise gering aus.
—————— 14 Vergleichbar gute Ergebnisse bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erzielen unter den OECD-Staaten sonst nur Australien und mit Abstrichen Neuseeland.
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Tabelle 11.5: Abschneiden der Schülerinnen und Schüler und Anteil an Risikogruppe (unter Kompetenzstufe 2) nach Migrationshintergrund, PISA 2003, Lesekompetenz ohne Migranten Migranten Anteil Schülerinerster nen und Schüler Migrationszweiter mit Migrations- hintergrund Generation Generation hintergrund Pkt. < 2 Pkt. < 2 Pkt. < 2 Deutschland
14,1
517
13,6
431 41,9 420 44,1
Kanada
17,8
534
Österreich
13,1
501
17,1
425 43,6 428 39,3
Schweden
11,4
522
10,9
433 38,7 502 15,5
8,4 515 12,7 543
5,5
Anteile in Prozent Quellen: OECD 2006, eigene Darstellung
Die Leistungsfähigkeit der kanadischen Schulsysteme bei der Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird dabei hauptsächlich auf drei Faktoren zurückgeführt: – Kanada verfolgt seit den 1970er Jahren eine Politik des Multikulturalismus (BMBF 2003; Geißler 2003), die auf die Wertschätzung kultureller Vielfalt abzielt. Gezielte Förderungen von Kindern mit Migrationshintergrund, Angebote muttersprachlichen Unterrichtes auch außerhalb der Landessprachen sowie die Einbindung der Eltern in den schulischen Lernprozess ihrer Kinder sind wichtige Elemente bei der Integration junger Migranten in Kanada (BMBF 2003: 199–200). – Der Bildungsstand der Migranten ist höher als in den »Gastarbeiter«Ländern Europas. Vergleicht man den Bildungsstand der Eltern nach Migrationsstatus, so liegen die Migranten der zweiten Generation gleichauf mit den Kanadiern ohne Migrationshintergrund, während die Migranten der ersten Generation sogar ein signifikant höheres Bildungsniveau aufweisen (OECD 2006: 61). – Das Gemeinschaftsschulsystem Kanadas schließt niemanden aus und ermöglicht es, Leistungsrückstände aufgrund sprachlicher Defizite auch noch im Sekundarschulbereich aufzuholen. Durch die Mischung von Schülerinnen und Schülern in sozio-ökonomisch heterogenen Klassen, so ein kanadischer Bildungsexperte, hätten »alle Schüler eine viel größere Chance auf Erfolg« (Alphonso 2004b).
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Neben einer erfolgreichen Integrationspolitik lässt sich als weiterer wesentlicher Faktor für das erfolgreiche Abschneiden bei PISA eine große Erfahrung im Testen und Vergleichen zunächst in den Bildungssystemen der Provinzen, später auch zusätzlich kanadaweit beobachten. Alberta und Quebec dienten bei der Entwicklung provinzweiter Tests als Vorreiter (Owens 2002), ihr Erfolg bei PISA lasse sich auch auf ihre ausgeprägte »Testkultur« (siehe Alphonso/Harding 2004) zurückführen. Nach und nach – heute verstärkt durch die Ergebnisse der PISA-Studien – zogen die anderen Provinzen nach. Bildungsstandards, Tests, Rückmeldung der Ergebnisse an lokale Schulbehörden sowie die Beratung der Schulen auf der Grundlage dieser Ergebnisse sind heute wesentliche Steuerungselemente in fast allen kanadischen Provinzen (CEA 2007: 3, 8; CMEC 2008a: 2–3). Der Widerstand gegen die starke Fokussierung auf Standards und Tests hat über die Zeit abgenommen (Owens 2002). Insbesondere Lehrerverbände haben die Gefahr der thematischen Einengung der Curricula und des Unterrichts auf die Testinhalte wiederholt kritisiert (BMBF 2003: 136). Doch die kanadische Öffentlichkeit steht hinter den Untersuchungen: In einer Umfrage aus dem Jahr 2007 befürworteten 77 Prozent der Befragten provinzweite Tests (CEA 2007: 8). Bereits 1989 einigten sich die Bildungsminister im CMEC auf die Durchführung nationaler Schulleistungsuntersuchungen zusätzlich zu den bereits bestehenden Testsystemen der einzelnen Provinzen. Von 1993 bis 2004 wurden im Rahmen des School Achievement Indicator Program (SAIP) in drei Testzyklen die Kompetenzen 13- und 16-jähriger Schülerinnen und Schüler erhoben. Ein Zyklus umfasste dabei drei Studien, die ihre Schwerpunkte jeweils auf Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften legten. Ab 1998 wurden zusätzlich zu den Testaufgaben Fragebögen zu den schulischen Rahmenbedingungen eingeführt, die von Schulleitungen, Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern ausgefüllt wurden (Fournier 2001). SAIP wurde nach Vollendung des dritten Testzyklusses zum Pan-Canadian Assessment Program (PCAP) weiterentwickelt. Die neue landesweite Erhebung testet nun im Dreijahresrhytmus alle drei Kompetenzfelder gleichzeitig, davon jeweils eines schwerpunktmäßig. Das Programm startete 2007 mit einem Fokus auf Lesekompetenz, 2010 stand Mathematik im Mittelpunkt. Die Untersuchung wurde in ihrer Konzeption bewusst so angelegt, dass ein Vergleich zu den Ergebnissen der regionalen Tests in den Gliedstaaten und zu den Ergebnissen der PISA-Studien gewährleistet ist (CMEC 2008c, 2010). PCAP testet die Kompetenzen von 13-jährigen
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Schülerinnen und Schülern – exakt zwei Jahre bevor die dann 15-jährigen Jugendlichen an PISA teilnehmen. Dieses bewusste Aufeinanderabstellen von regional, national und international erhobenen Schulleistungsuntersuchungen ist eine Strategie, die Kanada bereits seit der ersten PISA-Studie verfolgt. Im auf PISA 2000 aufsattelnden Youth in Transition Survey (YITS) wurde der weitere Bildungsweg der 30.000 Schülerinnen und Schüler, die an der OECD-Studie teilgenommen haben, durch Interviews im Abstand von jeweils zwei Jahren bis zu ihrem 21. Lebensjahr weiterverfolgt (OECD 2010). Auch das seit 1993 bestehende Pan-Canadian Education Indicators Program (PCEIP) wurde jüngst direkt an die Indikatoren der Education at a Glance-Reihe der OECD angekoppelt (CESC 2009). Anders als ihre Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, die das nationale Erweiterungsprojekt PISA-E zugunsten eines nationalen Vergleichstests einstellten (siehe Niemann in diesem Band), haben Kanadas Bildungsminister den Aufbau nationaler Strukturen nicht dazu genutzt, aus dem internationalen Vergleich auszusteigen. Die parallel existierenden Strukturen aus provinzweiten, pan-kanadischen und internationalen Untersuchungen werden miteinander verzahnt, um umfassende Langzeitstudien zum Bildungsverlauf der Heranwachsenden zu ermöglichen. Im Dezember werden die kanadischen Bildungsminister gespannt nach Paris schauen. Angesichts des guten Abschneidens bei PISA 2006 und der umfangreichen Ressourcen und Entwicklungen könne man sich das Ziel setzen, Platz eins im Ranking zu erreichen, so die CMEC-Vorsitzende Kelly Lamrock (siehe Mahoney 2007b). PISA 2009 wird zeigen, ob Kanada diesem ambitionierten Ziel einen Schritt näher gekommen ist.
Japan und Österreich: Strauchelnde Wunderkinder Japan und Österreich wirken auf den ersten Blick nicht wie Pisa-Verlierer: Die beiden Länder liegen mit ihrem aktuellen Abschneiden oberhalb des Durchschnittswertes der OECD-Staaten. Von den Besorgnis erregenden Resultaten anderer Mitglieder wie der Türkei, Mexiko (siehe Popp in diesem Band), Italien oder Neumitglied Israel trennen ihre Ergebnisse Welten. Die Auswahl der Fälle folgt demnach auch nicht dem Prinzip der »roten Laterne«, sondern fokussiert auf Länderbeispiele, deren Ergebnisse sich
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über die Studien hinweg – zumindest in der öffentlichen Meinung – verschlechtert haben. Japan und Österreich können als ins Straucheln geratene »Wunderkinder« aufgefasst werden: Japan, bei PISA 2000 noch die Nummer eins unter den OECD-Staaten, rutschte bei PISA 2006 bis auf Platz sieben ab. Österreich, stolz darauf, bei der ersten Erhebung deutlich vor Deutschland ins Ziel gekommen zu sein, wurde mittlerweile vom ungeliebten großen Nachbarn überholt.
Japan: Krise auf hohem Niveau Wie das koreanische ist auch das japanische Schulsystem in eine sechsjährige Grundschule und eine daran anschließende in Mittel- und Oberschule zweigeteilte Sekundarschule gegliedert.15 Schulpflicht besteht nur für die Grund- und die dreijährige Mittelschule. Dennoch absolvieren rund 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Anschluss daran auch die dreijährige Oberschule (Saito 2006: 102). Grund- und Mittelschulbesuch sind im öffentlichen Schulsystem kostenfrei, dies gilt seit Frühjahr 2010 auch für die öffentlichen Oberschulen (MEXT 2010a). Das japanische Bildungsministerium (MEXT) formuliert die Bildungsstandards für alle Bildungsangebote vom Kindergarten bis zur Oberschule und will so ein gleichmäßiges Bildungsangebot in allen Teilen des Landes sicher stellen (MEXT 2010b). Lernen und Bildungsengagement sind dabei sehr stark auf einen möglichst hohen hensachi – einen Testwert, der die Wahrscheinlichkeit des Bestehens der universitären Aufnahmeprüfung ausdrückt – hin ausgerichtet. Wie in Korea legen die Jugendlichen sowohl beim Übergang von Mittelauf Oberschule als auch beim Übergang in den Bereich der tertiären Bildung Aufnahmetests ab. Doch anders als in Korea wählen japanische Oberschulen ihre Schülerinnen und Schüler nach dem Ergebnis des Aufnahmetests aus. Wer eine renommierte Oberschule besuchen möchte, muss also schon am Ende der Mittelschule in der Lage sein, allerhöchsten Anforderungen zu genügen (Nakamura 2005). Juken jigoku oder juken sensou – Examenshölle oder Examenskrieg – wird der rigorose Wettbewerb unter den Jugendlichen im Vorfeld dieser Tests
—————— 15 Vorbild für beide Schulsysteme war das amerikanische Modell, das von der amerikanischen Besatzungsadministration nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern implementiert wurde.
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bezeichnet (Saito 2006: 102). Der Grund für die hohe Bedeutung liegt in den großen Unterschieden japanischer Universitäten hinsichtlich ihrer Qualität und ihres Prestiges (Kevenhörster/Pascha/Shire 2010: 202), die auch unmittelbare Auswirkungen auf die späteren Karrierechancen haben: Wer nicht von einer der angesehensten Universitäten kommt, wird von den großen japanischen Firmen und den Ministerien meist nicht eingestellt (ebenda: 203; Saito 2006: 102). Als Folge dieses Leistungs- und Erfolgsdrucks floriert auch in Japan die Nachhilfe-Industrie. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Jugendlichen erst um neun oder zehn Uhr abends – nach Schule und juko, der Nachhilfeschule – wieder nach Hause kommen. Hinzu kommen Kursangebote am Wochenende und in den Ferien. Auch zu Hause dreht sich alles um den Lernfortschritt: Hausaufgaben aus beiden Schulen fallen an, bleibt einmal Zeit übrig, können die Eltern die Leistungsfähigkeit ihres Kindes mit an den Bildungsstandards orientierten Tests, die es in jedem Supermarkt zu kaufen gibt, überprüfen (ebenda: 103). Die gesellschaftliche Verantwortung für Erziehung und Bildung wird in Japan der Schule zugerechnet (Abiko 2009: 100). Doch für das öffentliche Schulsystem bleibt der hohe Leistungsdruck nicht ohne Folgen: Depressionen, Bullying und Schulvermeidungsverhalten sind unter den japanischen Heranwachsenden weit verbreitet (ebenda: 104). Das Verhalten der Jugendlichen wird als Versagen der Schule aufgefasst; das in das öffentliche Bildungssystem gesteckte Vertrauen nimmt mehr und mehr ab (ebenda: 106). Dies ist eine problematische Entwicklung, da die Eltern und ihre Kinder eh bereits dem juko mehr Priorität einräumen als dem Schulunterricht (ebenda: 107). Die negativen Auswirkungen dieses Systems sind schon lange bekannt. Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde Japan vorgehalten, dass die starke Fokussierung auf die Aufnahmeprüfungen eine zu starke Belastung der Jugendlichen bedeuten würde (OECD 1971). Doch erst 1998 – nach langen Jahren der Diskussion – wurden die curricularen Standards überarbeitet und eine neue Schuldirektive auf den Weg gebracht, die die Probleme lindern sollte: Im Zuge von yutori kyouiku, was sich mit »Bildung mit geringem Druck« übersetzen lässt, wurden Unterrichtsstunden und Lernstoff reduziert sowie Wahlpflichtangebote im Mittelschulbereich eingeführt (Abiko 2009: 95). Der Großteil der Reformen, einschließlich der Abschaffung des Samstagsunterrichtes, trat Anfang 2002 in Kraft.
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Die yutori-Reformen gerieten noch vor ihrer Umsetzung in die Kritik. Ende der 1990er Jahre wurde zunehmend Besorgnis über ein vermeintliches Absinken des Bildungsniveaus geäußert. Der schülerzentrierte Ansatz der Reform und die Abkehr vom nur auf Auswendiglernen hin ausgerichteten Unterricht würden diesen Trend unweigerlich beschleunigen und zum Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führen, so die Kritiker (vergleiche Takayama 2008: 388). Interessanterweise wurde diese Debatte geführt, ohne dass umfangreiche Daten zum Leistungsvermögen des Bildungssystems zur Verfügung standen (ebenda: 391). Erst die Teilnahme an der PISA-Studie (siehe Tabelle 11.6) unterfütterte die Diskussion mit empirischen Befunden. Als im Dezember 2001 die Ergebnisse der ersten PISA-Erhebung veröffentlicht wurden, gab es nur wenig Anlass zur Besorgnis: In Mathematik belegten die japanischen Schülerinnen und Schüler den ersten, in Naturwissenschaften den zweiten Platz im Ranking. Trotz eines achten Platzes im Lesen reichte es für Japan insgesamt zum Spitzenplatz im Durchschnittsergebnis aller drei getesteten Bereiche. »Japanische Schüler top in Mathe« (Kyodo News 2001) – so und ähnlich titelten die Zeitungen. Doch auch Schattenseiten im Erfolg wurden beleuchtet: 53 Prozent der Jugendlichen würden in ihrer Freizeit nicht lesen – im Vergleich zu 31 Prozent im OECD-Schnitt; zu wenige Schülerinnen und Schüler würden die höchste Kompetenzstufe erreichen; bei herausfordernden Fragestellungen würde zu früh aufgegeben (ebenda; Takayama 2008: 393). Tabelle 11.6: Abschneiden Japans in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
522
(8.)
498
(12.)
498
(13.)
Mathematische Kompetenz
557
(1.)
534
(4.)
523
(6.)
Naturwissensch. Kompetenz
550
(2.)
548
(1.)
531
(3.)
Mittelwert der drei Bereiche
543
(1.)
527
(3.)
517
(7.)
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Ungeachtet des sehr guten Abschneidens bei PISA 2000 nahm die Debatte um die »Krise« des Bildungssystems weiter an Fahrt auf. Konservative Politiker und Intellektuelle forderten eine Rückbesinnung auf traditionelle
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Werte wie Disziplin, Moral und Patriotismus und erhielten in einer Gesellschaft, die sich angesichts der neoliberalen Reformen der 1990er Jahre zutiefst verunsichert zeigte, viel Zuspruch (Takayama 2008: 393–394). Die yutori-Reformen standen symbolhaft für eine Politik, die auf eine weitere Individualisierung der Gesellschaft zielte und in Opposition zu den angestrebten traditionellen Werten stand (ebenda). Konservative Werte und Leistungsbereitschaft sollten wieder in den Mittelpunkt der Bildungspolitik gerückt werden, es mangele am »Respekt für Schweiß« (Sawa 2002). So sah sich das Bildungsministerium noch vor dem in Kraft treten der Reform gedrängt, einen »Appell zum Lernen« zu veröffentlichen, der die Bedeutung solider akademischer Fertigkeiten betonte (Takayama 2008: 394). Nur wenige Monate vor der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2003 übernahm mit Nariaki Nakayama ein ausgewiesener Kritiker der yutori-Reformen das Bildungsministerium. Das wenig später von der Studie dokumentierte Abrutschen in den Bereichen Mathe und Lesekompetenz wurde vom neuen Bildungsminister bereitwillig als Zeichen einer Krise interpretiert: Man sei aus der Gruppe der Top-Nationen herausgefallen – eine Einschätzung, die im Widerspruch zu der Bewertung des für die Durchführung von PISA zuständigen National Institute of Educational Research (NIER) stand (ebenda: 396, Kyodo News 2004). In der Folge sollten die staatlichen Vorgaben zu Stundenzahlen und Curriculum nur noch als empfohlenes Minimum verstanden (Abiko 2009: 96), die Schulautonomie ausgebaut und nach fast dreißig Jahren wieder nationale Schulleistungsuntersuchungen durchgeführt werden (MEXT 2005; Nitta 2008: Kapitel 7). Drei Jahre später verschlechterte sich das japanische Ergebnis mit PISA 2006 weiter. Das Land rutschte auf den siebten Platz unter den OECDStaaten ab. Das Bildungsministerium sprach nun offiziell von einem »PISA-Schock« (Murai/Watanabe 2007) und verkündete pessimistisch: »Es könnte sein, dass Japan nicht mehr in die Spitzengruppe zurückkehrt.« (ebenda) Moderatere Kommentare forderten, sich der möglichen Auswirkungen einer Bildungskrise für Japans Zukunft bewusst zu werden und Maßnahmen zu ergreifen (The Japan Times 2007). 2008 wurden Planungen für ein neues Curriculum verkündet, das als Abkehr von den yutori-Reformen aufgefasst wurde (The Japan Times 2008). Der 2002 eingeführte Wahlpflichtbereich in der Mittelschule wurde wieder abgeschafft, beginnend mit dem Schuljahr 2011 wird die Zahl der Unterrichtsstunden von 28 auf 30 erhöht. Viel Widerstand brauchte das MEXT gegen diese Reformen jedoch nicht zu erwarten, da die meisten
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Japaner der Ansicht sind, dass sich die gemeinsame Grundbildung in den ersten neun Jahren an einem vereinheitlichten Curriculum auszurichten habe und keinen Platz lassen solle für individuelle Schwerpunktsetzungen durch die Schülerinnen und Schüler (Abiko 2009: 99). Im September 2009 verlor die politisch konservative Liberaldemokratische Partei nach über dreizehn Jahren die Regierungsverantwortung an die links von ihr stehende Demokratische Partei. Der neue Bildungsminister Tatsuo Kawabata kritisierte die Wertebetonung der Vorgängerregierung und die Revision der yutori-Reformen (Kato 2009). Es wird abzuwarten bleiben, ob die neue Regierung die von ihr beabsichtigte Rückkehr zur yutori-Politik wird durchhalten können. Der Streit zwischen Reformern und Konservativen um die Deutungshoheit der PISA-Ergebnisse droht jedoch weiter zu gehen.
Österreich: Auf den »Cordoba-Effekt« folgen verspätet Reformen Im Gegensatz zu den Gemeinschaftsschulsystemen der bislang in diesem Kapitel behandelten Staaten weist die österreichische Bildungslandschaft eine Vielzahl an unterschiedlichen Schulformen auf. Vergleichbar mit den Schulsystemen der deutschen Bundesländer tritt neben eine Gliederung in Schulstufen auch eine vertikale Gliederung in unterschiedliche Schultypen. Die Grundlagen des heute bestehenden Systems wurden von den beiden großen Parteien Österreichs – der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialdemokratischen Partei Österreich (SPÖ) – im Jahr 1962 gelegt. Man einigte sich auf ein neues Schulorganisationsgesetz (SchOG) und erhob die Schulgesetze fortan in den Rang von Verfassungsrecht, mit der Folge, dass künftige Gesetzesänderungen einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bedurften (Eder/Thonhauser 2010; Eurydice 2009/2010b). Die Einschulung beginnt nach Vollendung des sechsten Lebensjahres, die Schulpflicht dauert neun Jahre.16 In den ersten vier Schuljahren erfolgt der Schulbesuch in der Volksschule. Hier wird noch keine Differenzierung
—————— 16 Die folgenden Darstellungen des österreichischen Schulsystems erfolgen auf der Grundlage von Publikationen des Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK 2009) sowie von Eurydice, der Informationsdatenbank der Europäischen Komission zu europäischen Bildungssystemen (Eurydice 2008/2009b, 2009/ 2010b). Die Zahlen zu den Übergängen zwischen den Schultypen sind Specht (2009: 56) entnommen.
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DANIEL DE OLANO
der Schülerinnen und Schüler vorgenommen. Die an die Volksschule anschließende Sekundarstufe I ab der fünften Klassenstufe ist jedoch in unterschiedliche Schultypen unterteilt. Als Regelschule dient die Hauptschule, die von rund 65 Prozent der Heranwachsenden besucht wird und die Klassenstufen 5 bis 8 umfasst. In den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache wird in unterschiedlichen Leistungsgruppen unterrichtet. Etwa 33 Prozent der Schülerinnen und Schüler gehen von der Volksschule auf die Allgemein bildende höhere Schule (AHS) über. Dieser in die jeweils vierjährige Unter- und Oberstufe unterteilte Schultyp führt zur Reifeprüfung am Ende von Klasse 12, im allgemeinen Sprachgebrauch »Matura« genannt. Die Möglichkeit zum Besuch der AHS ist von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Plätze sowie vom Leistungsvermögen abhängig. Entscheidend sind die Noten in den Kernfächern Deutsch, Lesen und Mathematik im Abschlusszeugnis oder eine positive Entwicklungsprognose – alternativ kann auch eine Aufnahmeprüfung abgelegt werden. Der Schüleranteil der AHS variiert nach Bundesländern: In Tirol liegt er bei unter 20 Prozent, während das Verhältnis von Hauptschul- und AHS-Besuch in Wien nahezu ausgeglichen ist. Im Anschluss an die Hauptschule – also ab Klassenstufe 9 – verteilt sich der Großteil der Jugendlichen auf die verschiedenen Bildungsangebote im berufsbildenden oder berufsorientierenden Bereich. Neben Berufsbildenden mittleren Schulen, die eine teilweise oder abgeschlossene Berufsausbildung vermitteln, bestehen Berufsbildende höhere Schulen, die den Zugang zum Hochschulstudium und zu verschiedenen gesetzlich geregelten Berufen eröffnen; die einjährige Polytechnische Schule bereitet auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vor; zusätzlich gibt es Bildungsanstalten für Kindergarten- beziehungsweise Sozialpädagogik. 24 Prozent eines Jahrgangs besuchen ab Klasse 9 die AHS-Oberstufe oder ein Oberstufenrealgymnasium. 61 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die bereits die AHS-Unterstufe besucht haben, aber nur 6 Prozent der Hauptschulabsolventen schlagen diesen direkten Weg zur Matura ein.17 Oberste Aufsichtsbehörde für das Schulwesen ist das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur. Die Zuständigkeiten in der Gesetzgebung und der Vollziehung sind zwischen Bund und Ländern geteilt. Die entscheidenden Befugnisse für die Ausgestaltung des Schulwesens lie-
—————— 17 Parallel zum Regelschulsystem aus Volksschule, Hauptschule und AHS besteht ein Sonderschulsystem, das von ein bis zwei Prozent der Schülerinnen und Schüler durchlaufen wird. Diese Schulen sind zum Teil räumlich an Volks- und Hauptschulen angegliedert.
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gen allerdings beim Bund. Zielsetzungen der Schulaufsicht sind unter anderen die Vergleichbarkeit der Bildungsangebote, Qualitätsorientierung und Vielfalt sowie Ausgewogenheit der Bildungsangebote. In den 1990er Jahren wurde in mehreren Reformschritten in einigen Bereichen Schulautonomie eingeräumt. Abhängig vom Schultyp wird seither ein Teil des Stundenkontingentes für schulautonome Lehrplanbestimmungen zur Herausarbeitung eigener Schulprofile vorgesehen. Es wurden aber auch Möglichkeiten der Drittmitteleinwerbung, etwa durch Sponsoring oder Werbung, eingeräumt (BMUKK/BMWF 2008: 13–14). Die 1996 ins Leben gerufene Initiative Qualität in Schulen (QIS) soll die Verantwortlichen vor Ort bei der internen Evaluation sowie der Erstellung und Umsetzung eines Schulprogramms unterstützen (ebenda). Das OECD-Gründungsmitglied Österreich hat an allen bisherigen PISA-Studien teilgenommen. Das Abschneiden der österreichischen 15Jährigen in PISA 2000 wurde mit Zufriedenheit aufgenommen. Die »passablen« Ergebnisse (BMBWK 2004: 124) sahen Österreich in allen drei Kompetenzbereichen oberhalb des OECD-Durchschnittes, man belegte unter den OECD-Staaten insgesamt den achten Rangplatz (Tabelle 11.6). Tabelle 11.7: Abschneiden Österreichs in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
507
(10.)
491
(18.)
490
(18.)
Mathematische Kompetenz
515
(11.)
506
(15.)
505
(14.)
Naturwissensch. Kompetenz
519
(8.)
491
(19.)
511
(14.)
Mittelwert der drei Bereiche
514
(8.)
496
(16.)
502
(15.)
Rangposition im OECD-34-Vergleich in Klammern Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
Anlass zur Genugtuung boten die schwächeren Ergebnisse Deutschlands und der Schweiz – Österreich war »Testsieger im deutschsprachigen Raum« (Der Standard 2001). Mit Blick auf Deutschland wurde konstantiert: »Im Fußball sind sie besser, bei der Bildung nicht.« (Scholz 2001) Doch auch mahnende Kommentare wurden abgegeben. »›Piefkes‹ abhängen reicht nicht«, gemessen am finanziellen Aufwand für den Sekundarschulbereich sei das österreichische Schulwesen bloß durchschnittlich, man zeige sich scheinbar »Zufrieden mit Mittelmaß« (Salomon 2002a; 2002b).
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DANIEL DE OLANO
Debatten um Veränderungen im Bildungssystem würden angesichts des PISA-Abschneidens nicht geführt: »Österreich hingegen ruht gemütlich auf Lorbeeren. […] Im Grunde hat die PisaStudie auf Österreich verheerende Auswirkungen: Keiner redet mehr über inhaltliche Schulreformen, obwohl es dringend notwendig wäre.« (Salomon 2002a)
So blieben Stimmen, die sich angesichts des großen Abstandes, den Österreich trotz des guten Rangplatzes zu den Ergebnissen der bestplatzierten Länder aufwies, für ein integratives Schulsystem aussprachen, zunächst in der Minderheit. »Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine«, so die Antwort der Bewahrer des gegliederten Systems (Der Standard 2002). Selbst die SPÖ hielt sich mit Forderungen nach der Einführung der Gesamtschule – immerhin langjährige programmatische Forderung – zurück (Mayr 2003). Große Reformen blieben aus: Die Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ reduzierte die im internationalen Vergleich hohe Stundenlast an Österreichs Sekundarstufen-Schulen und führte ein Programm zur Förderung der Lesekompetenz ein (ebenda). Schließlich wurde eine Zukunftskommission eingesetzt, die bis 2005 ein bildungspolitisches Reformkonzept erarbeiten sollte (Zukunftskommission 2005). Diese verhaltenen Maßnahmen der Regierung wurden als »Bildungspolitische Kapitulation« (Salomon 2003) und als »Flickwerk im Klassenzimmer« (Schrodt 2003) bewertet, die Ursache in der im Parlament für umfangreichere Reformen erforderlichen Zweidrittelmehrheit gesehen: »Das hat im Lauf der Jahre bewirkt, dass der Kompromiss meist nicht mehr am Ende, sondern bereits zum Beginn der so genannten Reform steht. Entsprechend sehen auch die Ergebnisse aus: Flickwerk und Einzelreformen ohne ein erkennbares Gesamtkonzept. Auf dem Weg der vorauseilenden Kompromissbereitschaft ist uns der Mut zum großen Wurf längst abhanden gekommen. Ein Schulreformdiskurs auf wissenschaftlicher und schulpolitischer Ebene ist seit Jahrzehnten nicht erkennbar.« (ebenda)
Heftige Kontroversen löste jedoch erst das österreichische Abschneiden bei PISA 2003 aus. In allen Kompetenzbereichen wurde das Ergebnis von 2000 verfehlt, insgesamt rutschte man von Platz 8 auf Rang 16 – und damit hinter Deutschland – ab. Die öffentlichen Reaktionen waren deutlich: »Österreich: Nicht genügend, setzen!«, schrieb Der Standard (2004a) und Die Presse titelte: »Pisa-Studie: Österreichs Schule nur noch ›Mittelmaß‹« (2004a) – das Wort vom »Schock« fiel (ebenda; Bauer/Hauer/Neuhofer 2005). ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer stand unter Druck und
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GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
suchte die Gründe für das schlechte Abschneiden nacheinander bei den ausländischen Kindern in den Hauptschulen, den Eltern und »beharrenden Kräften« in der Opposition (Der Standard 2004b, 2004c; Horx 2004). Genauer als noch bei PISA 2000 wurden die Ergebnisse der zweiten PISA-Erhebung beleuchtet. 20,7 Prozent der österreichischen Jugendlichen waren schwache Leser, die nicht über Kompetenzstufe 1 hinaus gelangten. Und nur 29,3 Prozent der Heranwachsenden erreichten die Kompetenzstufe 4 oder höher. Verglichen mit erfolgreicheren Ländern lag man sowohl in der Leistungsspitze als auch bei den schwächsten Schülerinnen und Schülern weit zurück (Tabelle 11.8). Insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund schnitten im internationalen Vergleich schwach ab (siehe Tabelle 11.5). Tabelle 11.8: Anteil der Schülerinnen und Schüler unterhalb Kompetenzstufe 2 (Risikogruppe) und oberhalb Kompetenzstufe 3 (Spitzengruppe), Lesekompetenz PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
<2
>3
<2
>3
<2
>3
22,6
28,6
21,3
31,5
20,1
32,4
6,9
50,1
5,7
48,1
4,8
48,5
10,0
38,7
19,0
32,9
18,4
30,9
Kanada
9,6
44,5
9,6
41,2
11,0
41,7
Korea
5,7
36,8
6,8
43,0
5,7
54,4
14,6
33,7
20,7
29,3
21,5
30,3
–
–
–
–
81,5
2,3
37,0
5,3
44,0
4,6
44,6
4,5
Deutschland Finnland Japan
Österreich Katar Thailand Angaben in Prozent
Quellen: OECD 2004b, 2007b; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
Bereits PISA 2000 hatte diese Schwachstellen des österreichischen Bildungssystems aufgedeckt. Dass die Befunde im Gegensatz zur zweiten Studie zuvor kaum eine Rolle gespielt haben, sei einem »Cordoba-Effekt«18 zuzuschreiben (Bauer/Hauer/Neuhofer 2005: 110) – die Wahrnehmung
—————— 18 Benannt in Anlehnung an den legendären 3:2 Sieg Österreichs über Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 im argentinischen Córdoba.
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DANIEL DE OLANO
von PISA sei so stark auf die Platzierung vor Deutschland fokussiert gewesen, dass eine nüchterne Analyse des eigenen Ergebnisses nicht stattgefunden hätte. Der Ruf nach Reformen im Schulsystem wurde nun öffentlich nachhaltiger geäußert. Das Jahr der großen Schulreform von 1962 habe »wenig mit der heutigen Realität gemeinsam« (Witzmann 2005), die Diskussion über Ganztagsangebote und integrative Schulen sei »wohl unvermeidlich« (Seidl 2004), erforderlich eine »nationale Kraftanstrengung« (Witzmann 2004). Die Oppositionsparteien SPÖ und Grüne erhoben nun offiziell die Forderung nach der Einführung von Ganztags- und Gesamtschule (Die Presse 2004b), die Regierung konterte mit einer »ideologischen Schlagwortdefensive« und sprach von »Zwangstagsschule« und »Einheitsbrei« (Bauer/ Hauer/Neuhofer 2005: 123). Wiederholt wurde Kritik an der inhaltlichen Ausrichtung von PISA geäußert (Scholz 2004; Zangerle 2004) und die methodische Stichhaltigkeit angezweifelt (zum Beispiel Hopman/Brinek/Retzl 2007; siehe auch Bauer/Hauer/Neuhofer 2005: 129–130). In der Tat ergab sich, dass es das im Ranking der OECD-Studie beschriebene Abrutschen gar nicht gegeben hat: Die Ergebnisse Österreichs bei PISA 2000 waren durch eine fehlerhafte Stichprobenziehung deutlich zu hoch ausgefallen. Zu wenige Jugendliche an berufsbildenden Schulformen wurden bei PISA getestet, so dass die Gymnasiasten überrepräsentiert waren. Die Neuberechnung der Ergebnisse ergab, dass die Schülerinnen und Schüler bereits 2000 auf einem vergleichbaren Niveau wie drei Jahre später waren. Die OECD übernahm die Befunde und korrigierte in ihren Datenbanken das österreichische Abschneiden nach unten (Neuwirth 2006; OECD 2007a: 325). Wenige Monate nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2003 präsentierte die zwei Jahre zuvor eingesetzte Zukunftskommission ihre Reformvorschläge. Angesichts der Herausforderungen der aufkommenden Wissensgesellschaft solle von Input- auf Outputsteuerung umgestellt, die Schulautonomie ausgeweitet und ein modernes Qualitätsmanagementsystem mit Bildungsstandards, Evaluation und Bildungsberichterstattung eingeführt werden (Zukunftskommission 2005). Forderungen nach strukturellen Reformen im Schulsystem wurden jedoch nicht erhoben, was auf umfangreiche Kritik stieß. »Experten, die vor der Politik in die Knie gehen« würden die Zukunft verspielen (Nimmervoll 2005; siehe auch Gruber 2004, 2005a, 2005b).
GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
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Im Mai 2005 schließlich kam es zu einer grundlegenden Änderung in der bildungspolitischen Gesetzgebungsregelung. Regierungskoalition und SPÖ-Opposition stimmten im Parlament gemeinsam für die Abschaffung des Zweidrittelmehrheitserfordernisses für Bildungsgesetze. Einige Kernelemente wurden jedoch durch die direkte Verankerung in der Verfassung gegen eine Änderung mit einfacher Mehrheit abgesichert, unter anderem eine Klausel, die eine »angemessene Differenzierung« im Sekundarschulbereich vorschreibt (Artikel 14 Abschnitt 6a Bundes-Verfassungsgesetz).19 Obwohl Reformen im Bildungsbereich mit der Verfassungsnovelle erheblich erleichtert wurden, blieben große Änderungen vorerst aus. »Wo ist die Schulreform?«, fragte Die Presse (Salomon 2005). Doch erst der Regierungswechsel zu einer großen Koalition unter Führung der SPÖ Anfang 2007 machte den Weg für drei umfangreiche Maßnahmen frei: – Das bereits bestehende Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens (BIFIE) wurde in eine eigenständige Einrichtung umgewandelt und mit den Aufgaben des Bildungsmonitorings und der Qualitätssicherung betraut (BGBl. I Nr. 25/2008; siehe auch BMUKK/BMWF 2008: 133). – Im SchOG wurde die Möglichkeit zur Einrichtung einer Gesamtschule in den Klassenstufen 5 bis 8 verankert. Der Anteil der Klassen an dieser so genannten »Neuen Mittelschule«, wurde allerdings auf ein Höchstmaß von 10 Prozent aller Sekundarstufenklassen je Bundesland begrenzt (BGBl. I Nr. 26/2008). – Im Schulunterrichtsgesetz (SchUG) wurde die gesetzliche Grundlage für den Erlass von Bildungsstandards gelegt (BGBl. I Nr. 117/2008). Zum Jahr 2009 traten solche Standards in den Fächern Deutsch, Mathematik (4. und 8. Klassenstufe) sowie Englisch (8. Klassenstufe) in Kraft. Eine erste Überprüfung der Schulen auf der Grundlage dieser Standards soll im Jahr 2012 durch das BIFIE durchgeführt werden (BMUKK/BMWF 2008: 82). In die Zeit dieser Reformmaßnahmen fiel die Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2006. Im Vergleich zu PISA 2003 kam es zu keinem weiteren Abrutschen. Die Ergebnisse in den Bereichen Lesen und Mathematik konnten gehalten, in der naturwissenschaftlichen Kompetenz sogar ausge-
—————— 19 Andere »geschützte« Regelungen betreffen die Grundaufgaben und Grundwerte des Schulsystems, die Schulpflicht, das Verhältnis zwischen Schule und Kirche sowie die Schulgeldfreiheit.
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DANIEL DE OLANO
baut werden. Dennoch war »Österreich weiter Mittelmaß« (Die Presse 2007a). Die neue Bildungsministerin Claudia Schmied, SPÖ, forderte insbesondere im Hinblick auf die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund einen Paradigmenwechsel (Die Presse 2007b). Die 2007 vorgenommene Absenkung der Klassenfrequenzen in der Sekundarstufe auf 25 Schülerinnen und Schüler sei ein erster Schritt hin zu einer individuelleren Betreuung der Kinder, die systematische Frühförderung beim Erwerb der deutschen Sprache ein notwendiger nächster Schritt (Schmied 2007). Im Juni 2009 einigte sich die große Koalition auf die Einführung einer zentralen schriftlichen Reifeprüfung ab 2013. Aktuelle Diskussionen in der Regierungskoalition kreisen um eine Aufweichung oder gänzliche Aufhebung der 10-Prozent-Klausel im Hinblick auf die Neue Mittelschule sowie den Auf- und Ausbau eines flächendeckenden Ganztagsbetreuungsangebotes an Schulen. Das Ergebnis von PISA 2009 wird in Österreich erneut große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Neue Mittelschule wird in das Abschneiden allerdings noch keinen Eingang finden, erst an PISA 2012 werden die ersten Schülerinnen und Schüler teilnehmen, die diesen Schultyp durchlaufen haben.
Katar und Thailand: Zwei »Exoten« streben nach Anschluss Neben den heutigen 34 OECD-Mitgliedsstaaten haben seit der ersten PISA-Erhebung insgesamt 34 weitere, so genannte Partnerländer an zumindest einer Studie teilgenommen. Mit Katar und Thailand sollen hier zwei Länder aus diesem Zirkel unterschiedlichster Staaten (siehe Tabelle 11.1) genauer betrachtet werden. Das Emirat Katar bereitet sich auf eine Zukunft ohne Öl vor: Entschlossen und mit großem finanziellen Aufwand ist die Modernisierung des Bildungssystems eines der zentralen Projekte des Staates am Persischen Golf. Die Ergebnisse von PISA 2006 zeigen allerdings, dass der Weg bis zum Anschluss an die OECD-Welt noch weit ist. Thailand – bislang bei allen PISA-Studien dabei – erzielte Ergebnisse, die Anlass zur Sorge bieten. Bildung wird in dem südostasiatischen Land ein hoher Stellenwert beigemessen. Das nur mäßige eigene Abschneiden wurde dementsprechend kritisch bewertet. Die Kategorisierung dieser Länder als »Exoten« ist nicht abwertend oder provokant zu verstehen.
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Vielmehr soll der Begriff zum Ausdruck bringen, wie viel mehr als ein OECD-interner Vergleich die PISA-Studie heute ist: Die Grenzen des »Clubs« der entwickelten Industriestaaten hat das Programm längst gesprengt – und einen weltumspannenden Charakter angenommen.
Katar: Reformen für ein neues Zeitalter Das Emirat Katar gehört sicher nicht zu den Staaten, die als erstes genannt werden, wird nach PISA-Teilnehmern gefragt. Dennoch hat sich das kleine Land am Persischen Golf, das neben Erdöl auch über die drittgrößten Erdgasreserven der Welt verfügt, in den letzten zehn Jahren zu einem Musterbeispiel für ambitionierte Bildungsreformen entwickelt. Im Jahre 2002 wurde der Startschuss für die nationale Reformagenda Education for a New Era – Bildung für ein neues Zeitalter – gegeben. Angesichts der Herausforderungen des Informationszeitalters und der Globalisierung, neuer Wege der Lebensführung, demographischer Veränderungen und neuer Erwartungshaltungen der nachwachsenden Generationen, strebt man seither ein Bildungssystem an, das die besten Ideen aus aller Welt aufgreifen und die Heranwachsenden des Landes international wettbewerbsfähig machen und zu lebenslangen Lernen befähigen soll (SEC 2007, 2010). Nach und nach werden die staatlichen Schulen aus dem Aufsichtsbereich des Bildungsministeriums herausgelöst und zu so genannten independent schools, freien Schulen, umgewandelt. Diese Schulen bleiben zwar weiterhin staatlich finanziert, verfügen aber über ein hohes Maß an Autonomie in personellen und organisatorischen Angelegenheiten sowie in der Wahl ihrer Methoden (SEC 2006). Zur Begleitung dieses Transformationsprozesses wurden neue Organisationen im Bildungsbereich gebildet. Der Supreme Education Council (Oberster Bildungsrat) übernimmt die Aufsicht über die independent schools und tritt damit in die Fußstapfen des Bildungsministeriums. Für einzelne Steuerungsaufgaben wurden ihm weitere Einrichtungen zur Seite gestellt. Das Education Institute (Institut für Unterricht) nimmt die direkte Schulaufsicht über die independent schools wahr, erstellt die curricularen Vorgaben und unterstützt den Reformprozess durch Beratungs- und Fortbildungsangebote für Schulen und Lehrkräfte. Das Evaluation Institute (Institut für Evaluierung) widmet sich der Entwicklung und Durchführung regelmäßiger standardisierter Tests zur Schulleistungsuntersuchung. Seit 2004 wird im
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DANIEL DE OLANO
Rahmen des Qatar Comprehensive Educational Assessment jährlich in allen Klassenstufen von 1 bis 12 der Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler gemessen. Die Ergebnisse werden vom Evaluation Institute ebenfalls jährlich in einem Berichtsband, dem School Report Card, veröffentlicht. Bildungsstandards und regelmäßige Evaluation sind die Hilfsmittel, mit denen Katar zukünftig sein Bildungssystem steuern möchte. So wie die Lehrkräfte regelmäßig die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler bewerten und damit Rückmeldungen über den Lernfortschritt geben und erhalten, so soll auch der Staat die independent schools evaluieren, um einen Überblick über deren Performanz zu erhalten und gegebenenfalls Hilfestellung zu geben. Aus Sicht der Bildungsplanung des Emirates legt sich über diese beiden Evaluationsebenen schließlich mit internationalen Schulleistungsuntersuchungen noch eine dritte. Die Teilnahme an Studien wie PISA soll es ermöglichen, die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich zu positionieren und den eigenen Fortschritt zu dokumentieren (SEC 2007: xii). Seit 2006 nimmt Katar an den PISA-Studien teil, das bisherige Abschneiden (Tabelle 11.9) war jedoch alles andere als zufrieden stellend: Von den 57 Teilnehmerländern konnte man lediglich eines – Kirgisistan – hinter sich lassen. Der überwiegende Teil der 15-Jährigen, so der Befund der Studie, weist schwerwiegende Defizite auf und verbleibt unterhalb der Kompetenzstufe 2 in allen drei Kompetenzbereichen (Tounakti 2009). Mangelnde Lesekompetenz wird als einer der Hauptgründe für das schwache Abschneiden angeführt (SEC 2007: 94; siehe auch Tabelle 11.8). Tabelle 11.9: Abschneiden Katars in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
–
–
312
Mathematische Kompetenz
–
–
318
Naturwissensch. Kompetenz
–
–
349
Mittelwert der drei Bereiche
–
–
326
Quellen: OECD 2007a, eigene Darstellung
Es gab zwar Versuche, die schlechten Ergebnisse zu relativieren, schließlich sei man »auf einen fahrenden Zug aufgesprungen« (Gulf Times 2008), doch letztlich wurde das schwache Abschneiden im internationalen Ver-
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gleich als Bestätigung der Notwendigkeit der eigenen umfassenden Reformagenda gedeutet (Gulf Times 2007; SEC 2007: xi). PISA, so die versöhnliche Stellungnahme des nationalen Konsortiums, stelle auf das seit Geburt erworbene Wissen der Heranwachsenden ab. Die getesteten Jugendlichen hätten aber bestenfalls drei Jahre von der Neuausrichtung der nationalen Bildungspolitik profitieren können (SEC 2007: 92). Ein dermaßen umfassendes Reformprogramm, wie es Katar derzeit durchführt, wird nach Einschätzung der OECD-Experten nicht zu spektakulären Ergebnissen »über Nacht« führen – eher sei ein Zeitraum von rund einer Generation zu veranschlagen. Der politischen Führung wird jedoch attestiert, dass das Ausmaß an Ressourcen, Ehrgeiz und Entschlossenheit den Prozess des Wandels entscheidend beschleunigen könnte (ebenda: 91).
Thailand: Stagnation trotz Reformen Seit den frühen 1990er Jahren sucht das Königreich Thailand nach Antworten auf die Herausforderungen einer internationalisierten und globalisierten Welt. Bildung, so die Prämisse, soll die Heranwachsenden auf das neue Zeitalter vorbereiten (vergleiche Fry 2002: 14). Den Zugang zu lebenslangem Lernen für alle zu eröffnen wird als Grundlage verstanden, will man in einer wissensbasierten Welt bestehen (OEC 2004: 4). 1996 wurde der Bericht »Thai Education in the Era of Globalization« vorgelegt (Commission on Thailand’s Education 1996), der die Anforderungen benannte, die das thailändische Bildungssystem fortan erfüllen muss: ein Wandel hin zu einer lernenden Gesellschaft; die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch erweitertes Wissen und neue Fertigkeiten; Reformen der Bildungssteuerung einschließlich Dezentralisierung und Qualitätssicherung. Im darauffolgenden Jahr brach die Asienkrise über Thailand und seine Nachbarstaaten herein. Nach Jahren des wirtschaftlichen Wachstums kamen plötzlich Zweifel an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit auf (Witte 2000), und auch der Schattenseiten des Wirtschaftsbooms, der die Schere zwischen Arm und Reich auseinander getrieben hatte, wurde man sich gewahr. Die Krise stürzte die Regierung und führte in eine neue Verfassung, die demokratischste, die in Thailand je Bestand hatte (Fry 2002: 17). Die neue Verfassung verpflichtete zu einer Anpassung des Bildungswesens an wirtschaftliche und soziale Veränderungen (Abschnitt 81 der Verfas-
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DANIEL DE OLANO
sung von 1997). Diesen Auftrag nahm die neue Regierung an und startete mit dem National Education Act von 1999, der 2002 leicht modifiziert wurde, ein umfangreiches Reformvorhaben. Im Bildungsbereich wurden schwerwiegende Probleme identifiziert, insbesondere die hohe Zentralisierung in einer übergroßen »Mammutbehörde« Bildungsministerium, die als zu kostenintensiv und ineffektiv galt (Rangsitpol 1996; Fry 2002: 21). Der Unterricht in den Schulen wurde als zu lehrerzentriert kritisiert, die Rolle der Schülerinnen und Schüler zu passiv und nur auf Auswendiglernen beschränkt angesehen, wie das Zitat eines Schülers aufzeigt: »I sometimes think school is teaching me to be a tape recorder.« (Bangkok Post 2001) Das Paradoxe an der Situation war, dass kaum ein anderes Land einen so hohen Anteil am Haushalt für Bildung ausgab (Fry 2002: 21) – das bisherige System zahlte sich aber nicht in einer hohen Qualität aus. Im Zuge der Reformen wurde die Schulpflicht von sechs auf neun Jahre verlängert, der gesamte Primar- und Sekundarschulbereich von Klasse 1 bis Klasse 12 an öffentlichen Schulen sollte fortan kostenfrei sein. Das Bildungsministerium wurde umgebaut, zur Dezentralisierung der Entscheidungen Local Education Areas (LEAs) eingerichtet, denen Befugnisse über curriculare, budgetäre und personelle Angelegenheiten übertragen wurden. Neue schülerzentrierte Methoden sollten gefördert und ein Schwerpunkt auf lebenslanges Lernen gesetzt werden (Atagi 2002). Zur Kontrolle der Fortschritte an den Schulen wurde im Jahr 2000 das Office for National Education Standards and Quality Assessment (ONESQA) gegründet, das in Zeiträumen von fünf bis sechs Jahren sämtliche Schulen und Hochschulen des Landes auf der Basis nationaler Bildungsstandards evaluiert und berät (ONESQA 2010). Neben dieser nationalen Bewertung nahm Thailand auch an internationalen Untersuchungen teil, darunter an allen vier bisherigen PISA-Studien (siehe Tabelle 11.10). Die Ergebnisse bei PISA 2000 lösten keine Jubelstürme aus. Zwar lag man deutlich vor Indonesien und konnte selbst Länder wie Rumänien und Argentinien hinter sich lassen. Die anderen ostasiatischen Teilnehmer – Japan, Korea und Hongkong – schnitten jedoch ungleich besser ab und zählten allesamt zur PISA-Spitzengruppe. In der nachfolgenden PISA-Erhebung 2003 zeigte sich eine beunruhigende Entwicklung: Thailands Schülerinnen und Schüler schnitten schlechter ab, und zwar in allen drei Kompetenzfeldern.
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Tabelle 11.10: Abschneiden Thailands in den PISA-Studien PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Lesekompetenz
431
420
417
Mathematische Kompetenz
432
417
417
Naturwissensch. Kompetenz
436
429
421
Mittelwert der drei Bereiche
433
422
418
Quellen: OECD 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, eigene Darstellung
Die Bangkok Post fasst zusammen (2004): »Die OECD-Erhebung zeigt, dass die Krise in Thailands Bildungswesen anhält, und das Land in der globalisierten Welt in alarmierender Weise benachteiligt«. Die Verschlechterung des Abschneidens wird auf Widerstände innerhalb der Bildungsbürokratien gegen die Reformvorhaben der Regierung zurückgeführt: Lehrkräfte und Behörden würden der Schieflage im Bildungsbereich nicht angemessen begegnen und sich selbst moderaten Reformen verweigern (ebenda; siehe auch Fry 2002: 32; Jitprapas 2009). »Die Schülerinnen und Schüler haben nicht versagt, das System hat sie versagen lassen. Sie sind schlicht unvorbereitet auf den Wettbewerb mit ihren Altersgenossen in anderen Ländern.« (Bangkok Post 2004) Der negative Trend aus PISA 2003 setzte sich bei PISA 2006 fort. Thailands Heranwachsende stagnierten oder sanken mit ihren Leistungen weiter ab. Zehn Jahre nach der Reform von 1999 zog ein Kommentator zynisch Bilanz: Das Bildungsministerium habe in allen Bereichen bis auf einen Fortschritte gemacht – der Qualität der Bildung (Jitprapas 2009).
Bilanz: Eine Studie, sieben Herangehensweisen Internationale Schulleistungsuntersuchungen haben weltweit Aufmerksamkeit erzeugen können. Bildungspolitik und -bürokratie, Eltern, Medien, Schülerinnen und Schüler in vielen Ländern schauen erwartungsvoll auf die Veröffentlichung der nächsten PISA-Ergebnisse, auch wenn das Interesse nicht in allen Staaten gleich groß ist. Aus Sicht der OECD dienen internationale Schulleistungsuntersuchungen der Systemsteuerung (OECD 2001). PISA soll die bildungspolitischen Entscheidungsträger in Mitgliedstaaten
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DANIEL DE OLANO
und Partnerländern in die Lage versetzen, das Leistungsvermögen ihrer Bildungssysteme mit denen anderer Staaten vergleichen zu können. Dieser Vergleich soll Anstöße geben für Reformen und Verbesserungen, insbesondere wenn sich zeigt, dass Bildungssysteme mit ähnlicher Ausgangslage zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen gelangen (OECD 1999: 7). Bei der Untersuchung der »Sieger«, »Verlierer« und »Exoten« in diesem Beitrag zeigt sich, dass die Staaten von dieser Möglichkeit auf unterschiedliche Weise Gebrauch machen. In Finnland wurden bereits in den 1990ern weitreichende Reformen des Bildungssystems unternommen, die auf eine Stärkung der Schulautonomie bei gleichzeitigem Ausbau von evaluierenden Maßnahmen abzielten. Die Systemsteuerung im Bildungsbereich erfolgt heute in erster Linie über Output-Messung. Bildungsministerium und Amt für Unterrichtswesen behielten weiterhin die bildungspolitische Richtlinienkompetenz und geben die Rahmenlehrpläne und Bildungsstandards vor. Die Verantwortung für die Verwirklichung der Standards wurde jedoch an die einzelnen Schulen delegiert, denen beratend zur Seite gestanden wird. Die finnischen Schülerinnen und Schüler gehörten bei PISA von Anfang an zu den besten. Ihr Abschneiden verschaffte dem eigenen Schulsystem viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dennoch werden die guten Ergebnisse nicht als Selbstverständlichkeit aufgefasst, Finnland will sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Den vereinzelten Defiziten, die in der Studie aufgezeigt werden, soll nun vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der erste Platz bei PISA wird als großartiger Erfolg begriffen, der aber nicht vom Streben nach kontinuierlichen Verbesserungen des Systems entbinde. Auch Koreas Schülerinnen und Schüler schneiden bei PISA exzellent ab. Die guten Ergebnisse lassen sich auf die große Bedeutung der universitären Aufnahmetests und das so genannte Bildungsfieber – die Opferbereitschaft koreanischer Eltern in Fragen der Ausbildung ihrer Kinder – zurückführen. Im OECD-Vergleich geringe öffentliche Bildungsausgaben werden durch hohe private Investitionen in die Bildung der Jugendlichen, hauptsächlich in Nachhilfe, kompensiert. Beobachter kritisieren die hohe finanzielle Belastung der Familien und den hohen Druck, dem die Heranwachsenden ausgesetzt werden. Das Vertrauen in die Bedeutung des öffentlichen Schulsystems bleibt hinter der Stellung der privaten Nachhilfeschulen zurück, denen man zutraut, besser für die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorzubereiten. Die Regierung unternimmt Schritte zur Kompensation der Notwendigkeit von Nachhilfe, insbesondere für Kinder aus
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einkommensschwachen Haushalten. Doch für eine nachhaltige Reform des Bildungswesens fehlt (noch) der öffentliche Problemdruck. Auch wenn viele mit der aktuellen Situation unzufrieden sind, zeigen doch internationale Schulleistungsuntersuchungen wie PISA, dass das Bildungssystem auf der Output-Seite funktioniert. In Kanada liegt die Verantwortung für das Schulwesen ausschließlich bei den dreizehn Provinzen und Territorien. Trotz zahlreicher Detailunterschiede zwischen den Schulsystemen der einzelnen Gliedstaaten eint die kanadischen Provinzen ihr Erfolg bei der PISA-Studie. Selbst die Provinzen, die im innerkanadischen Vergleich die letzten Rangplätze einnehmen, liegen zumindest auf dem Niveau des OECD-Durchschnitts. Obgleich Kanada als klassisches Einwanderungsland eine Migrantenquote aufweist, die höher als die der »Gastarbeiterstaaten« Mitteleuropas liegt, fallen kanadische Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in ihren Schulleistungen kaum zurück. Dies lässt sich auf eine Politik des Multikulturalismus, den hohen Bildungsstand der Migranten und die Integrationskraft der kanadischen Gemeinschaftsschulen zurückführen. Als bedeutender Faktor für das gute Abschneiden hat sich die bereits vor PISA vorhandene ausgeprägte Testkultur erwiesen. In Kanada werden die parallelen Erhebungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene heute gezielt genutzt, um durch die enge Verzahnung der Studien zu umfangreichen Datensätzen über die Bildungsbiographien der Jugendlichen zu gelangen. Paradoxerweise wurden die PISA-Ergebnisse in Japan als Kronzeugen für eine Politik herangezogen, die in ihren Grundzügen in Opposition zu den Empfehlungen der OECD stand (Takayama 2008). Konservative Politiker nutzten das moderate Abrutschen im PISA-Ranking als Legitimationsquelle für die Revision der auf schülerzentrierten Unterricht und Entlastung der Jugendlichen abzielenden yutori-Reformen. Traditionelle Werte und Methoden sollten in den Schulen (wieder) Einzug erhalten, gleichzeitig setzte man auf neue Steuerungsmethoden wie lokale Autonomie und nationale Schulleistungsuntersuchungen. Wie in Korea stehen Japans Schülerinnen und Schüler unter hohem Druck, dem Anspruch der Aufnahmetests für weiterführende Bildungsangebote zu genügen. Juko, die japanische private Nachhilfeschule, ist für die meisten Jugendlichen so selbstverständlich wie der Besuch der Regelschule. PISA 2009 wird zeigen, ob sich der japanische Abwärtstrend – wenn auch auf hohem Niveau – fortgesetzt hat oder es zu einer Trendumkehr gekommen ist. So oder so, japanische Poli-
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tikerinnen und Politiker – Reformer und Traditionalisten – werden die Ergebnisse zur Bestätigung ihrer politischen Forderungen heranziehen. In Österreich wurden die Ergebnisse von PISA 2000 mit Genugtuung aufgenommen. Das eigene Abschneiden lag deutlich vor dem des ungeliebten Nachbarn Deutschland. Eine genaue Analyse der in der Studie aufgezeigten Schwachstellen des Bildungssystems blieb angesichts dieses Erfolges vorerst aus. Auf den »Cordoba-Effekt« folgte bei PISA 2003 die Ernüchterung. Die positiven Ergebnisse der ersten Erhebung wurden deutlich verfehlt und Debatten um eine strukturelle Reform des gegliederten Schulsystems lebten auf. Während reformorientierte Kräfte ihre Forderungen mit den PISA-Befunden zu legitimieren suchten, zogen die Bewahrer des bestehenden Schulsystems die Aussagekraft der internationalen Erhebung in Zweifel. Gleichwohl änderten Regierung und oppositionelle SPÖ in der Folge gemeinsam die Verfassung, um bildungspolitische Maßnahmen zukünftig zu erleichtern. Doch erst nach dem Regierungswechsel zu einer großen Koalition unter Führung der Sozialdemokraten wurden umfangreiche Reformen durchgeführt. Bildungsstandards und eine nationale Bildungsberichterstattung wurden eingeführt, die Gesamtschule als zusätzlicher Schultypus im Rahmen eines österreichweiten Schulversuches zugelassen. Dennoch bleibt die Debatte um die Ausgestaltung des Bildungssystems weiterhin durch unterschiedliche Bildungsideologien der beiden großen Volksparteien überlagert. Seit nahezu zehn Jahren verfolgt Katar nun die Reformagenda Education for a New Era. Das Schulsystem wird in seinen Verantwortlichkeiten radikal umgebaut, die Schülerinnen und Schüler sollen auf die Herausforderungen der Globalisierung vorbereitet werden. Steuerung durch Standards und Evaluation, verbunden mit einem hohen Maß an Schulautonomie, sind die Leitlinien dieses Reformprozesses. Der kontinuierlichen Messung von Fortschritten in den Schulen wird sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet. Die Teilnahme an PISA stellt für die Reformer in Katar – trotz der bislang desolaten Ergebnisse – die passgenaue Ergänzung zu diesen Maßnahmen dar: Die ganze Reform ist an der Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet, eine regelmäßige Rückmeldung über die eigene Positionierung im zwischenstaatlichen Vergleich dabei ein wesentliches Element. Die Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2009 werden aufzeigen, ob die hohe Aufmerksamkeit und der Einsatz an Ressourcen einen schnelleren Fortschritt ermöglicht haben, als ihn die verhaltenen Einschätzungen der OECD-Experten für möglich gehalten haben.
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Auch Thailand hat sich vor rund zehn Jahren eine grundlegende Reform seines Bildungssystems zum Ziel gesetzt. Es herrschte große Einigkeit darüber, wo die Probleme in Bürokratie und Unterricht zu verorten und welche Schritte nötig sind, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wie in Katar wurde auf Dezentralisierung, Bildungsstandards und Evaluation gesetzt, wenn auch nicht in dem gleichem Umfang. Als Ergänzung des nationalen Evaluationsprogrammes nahm man an internationalen Vergleichsstudien teil. Das Abschneiden in den PISA-Erhebungen seit 2000 deutet auf die Stagnation in den Schülerleistungen auf mäßigem Niveau hin. Durchschlagende Erfolge konnte das Reformprogramm bislang nicht erzielen. Für kritische Beobachter dienen Studien wie PISA als Beleg für die schlechte Performanz des Schulsystems und die Erfolglosigkeit der unternommenen Reformen. Es bleibt abzuwarten, ob sich der wenig optimistisch stimmende Trend auch bei PISA 2009 fortsetzt, oder ob doch noch ein Erfolg der Maßnahmen sichtbar wird. Die sieben Länderstudien in diesem Kapitel haben gezeigt, dass es keinen einheitlichen Umgang mit den PISA-Ergebnissen gibt: – Finnland nutzt die Studie, um verbliebene Schwachstellen im Bildungssystem auszumachen und zu beheben. – In Korea dient PISA als Bestätigung des eigenen Leistungswillens. – Kanada verknüpft regionale, nationale und internationale Bildungsstudien, um Längsschnittdaten über den Bildungsverlauf zu gewinnen. – Japanische Politiker nutzen die Ergebnisse als Legitimationsquelle für gegenläufige politische Forderungen. – In Österreich verweisen Reformer auf die Befunde der Studie, während Bewahrer des Systems die Aussagekraft der Erhebung in Zweifel ziehen. – Für die Bildungsreformen in Katar stellt das Abschneiden bei internationalen Studien die Messlatte für den Fortschritt im Bildungssystem dar. – In Thailand dient PISA Kritikerinnen und Kritikern der Regierung als Beleg für das Steuerungsversagen der Politik. In allen untersuchten Ländern ist es in den vergangenen Jahren zum Aufbeziehungsweise Ausbau von nationalen Bildungsstandards und Evaluationsprogrammen gekommen.20 Stets wurde in der Begründung dieser Maß-
—————— 20 Das Interesse an einer Performanz-Messung im Bildungssystem ist dabei nicht auf die untersuchten Staaten dieses Bandes beschränkt. Die UNESCO listet für den Zeitraum von 1995 bis 2006 nationale Schulleistungsuntersuchungen in 121 Staaten auf allen Kontinenten auf (UNESCO 2007).
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nahmen auf die Herausforderungen der aufkommenden Wissensgesellschaft verwiesen. Die Reformprogramme sind dabei an einem Umstieg von einer Input- hin zu einer Output-Orientierung der bildungspolitischen Steuerungsmechanismen orientiert. Standards und Evaluationen dienen in diesem Konzept den zentralstaatlichen Bildungsbürokratien, die an dezentrale lokale Entscheidungsträger verlagerte Verantwortlichkeit für den schulischen Erfolg zu überprüfen, die Akteure vor Ort auf der Grundlage valider Vergleichsdaten zu beraten und die Politik an best practice-Beispielen auszurichten. Es ist dieser Politikansatz, der auch im Mittelpunkt von PISA steht (OECD 2001: 3). Mit den »PISA-Gewinnern« Finnland, Korea und Kanada liegen drei Staaten im Ranking vorne, die den Weg hin zu einer evidenzgestützten Politiksteuerung bereits frühzeitig angetreten haben. Die Herausforderungen der Globalisierung und der Übergang in die Wissensgesellschaft wurden hier bereits in den 1980er und 1990er Jahren antizipiert und den diesbezüglichen Stellungnahmen und Empfehlungen internationaler Organisationen wie der OECD große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Allen drei Ländern wird in PISA ein gutes Zeugnis ausgestellt. Große Reformen des Bildungssystems waren daher nicht zu erwarten und wurden auch nicht vorgenommen. Im Zentrum der Bildungspolitik stehen vielmehr kleinere Anpassungen zum Abbau noch bestehender Defizite oder zur Verfeinerung der Bildungssteuerung. Die Reformen in Japan und Österreich erfolgten im Vergleich zu diesen Vorreiterstaaten verzögert. Zudem zeigen sich bei beiden hier untersuchten »PISA-Verlierern« die bildungspolitischen Akteure nicht geschlossen. Reformorientierte und bewahrende Kräfte stehen sich gegenüber und ringen um die Deutungshoheit über die PISA-Daten. Die eingeschlagenen Reformstrategien bleiben weiterhin umstritten und nicht definitiv abgesichert. Ob die nationalen Bildungssysteme nachhaltig an internationaler best practice ausgerichtet werden können, muss vorerst offen bleiben. Katar und Thailand verfolgen das Ziel, möglichst schnell den Anschluss an die entwickelteren Idustriestaaten zu finden. Beide Länder haben umfangreiche Reformen angestoßen, deren Umsetzung allerdings ein deutlich unterschiedliches Maß an politischer Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Während das Bildungswesen des Emirates am Persischen Golf grundlegend und mit hohem Aufwand umgestaltet wird, kommen die Reformen in Thailand nur schleppend voran. Im Falle der »PISA-Exoten«
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hängt der Erfolg der Reformagenden somit entscheidend von der Eilfertigkeit bei deren Verwirklichung ab. Die PISA-Studie hat sich als ein politisch und öffentlich vielfältig einsetzbares Instrument erwiesen, das abhängig von der Ausgangs- oder Interessenlage der Entscheidungsträger und Meinungsmacher in den einzelnen Staaten zur gezielten Steuerung und Verbesserung des Bildungssystems genutzt oder zur Legitimierung politischer Forderungen gebraucht werden kann. Es wird abzuwarten und zu beobachten sein, welche Rolle PISA in den untersuchten Ländern zukünftig spielen wird und ob es der OECD gelingen wird, zu einer Objektivierung im Umgang mit den Ergebnissen beizutragen.
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296
DANIEL DE OLANO
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297
GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
Anhang zu Kapitel 11 Tabelle 11.11: Abschneiden der OECD-34 bei PISA, Durchschnittswert der drei Kompetenzbereiche und Rangposition (in Klammern) im OECD-34-Vergleich21 PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Australien
530
(6.)
525
(5.)
520
(6.)
Belgien
508
(11.)
515
(8.)
510
(10.)
Chile*
403
(29.)
–
–
430
(33.)
Dänemark
497
(18.)
494
(18.)
501
(18.)
Deutschland
487
(20.)
499
(15.)
505
(13.)
Estland*
–
–
–
–
516
(8.)
Finnland
540
(3.)
545
(1.)
553
(1.)
Frankreich
507
(12.)
506
(13.)
493
(21.)
Griechenland
461
(24.)
466
(27.)
464
(30.)
Irland
514
(8.)
508
(12.)
509
(11.)
Island
506
(13.)
501
(14.)
494
(20.)
Israel*
440
(27.)
–
–
445
(31.)
Italien
474
(23.)
476
(25.)
469
(29.)
Japan
543
(1.)
527
(3.)
517
(7.)
Kanada
532
(4.)
526
(4.)
529
(3.)
Korea, Republik
541
(2.)
538
(2.)
542
(2.)
Luxemburg
443
(26.)
485
(23.)
485
(24.)
Mexiko
410
(28.)
397
(29.)
409
(34.)
Neuseeland
531
(5.)
522
(7.)
524
(4.)
Niederlande
–22
–
525
(5.)
521
(5.)
—————— 21 Die mit einem Stern (*) gekennzeichneten Staaten Chile, Estland, Israel und Slowenien sind vormalige Partnerländer, die 2010 OECD-Mitglieder geworden sind. 22 Die Ergebnisse der Niederlande bei PISA 2000 sowie des Vereinigten Königreichs bei PISA 2003 wurden von der OECD nicht berücksichtigt, da die Beteiligungsquoren für Schulen beziehungsweise Schülerinnen und Schüler nicht erfüllt wurden (vergleiche auch Knodel zu England in diesem Band).
298
DANIEL DE OLANO
Norwegen
501
(15.)
493
(19.)
487
(23.)
Österreich
514
(8.)
496
(16.)
502
(15.)
Polen
477
(22.)
495
(17.)
500
(19.)
Portugal
461
(25.)
471
(26.)
471
(28.)
Schweden
513
(10.)
510
(10.)
504
(14.)
Schweiz
506
(13.)
513
(9.)
514
(9.)
Slowakei
–
–
487
(22.)
482
(25.)
Slowenien*
–
–
–
–
506
(12.)
Spanien
487
(20.)
484
(24.)
476
(27.)
Tschechische Republik
500
(16.)
509
(11.)
502
(15.)
Türkei
–
–
433
(28.)
432
(32.)
Ungarn
488
(19.)
492
(20.)
492
(22.)
Vereinigte Staaten23
499
(17.)
490
(21.)
482
(25.)
Vereinigtes Königreich
528
(7.)
–22
–
502
(15.)
Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, 2003b, eigene Darstellung
—————— 23 Der Mittelwert der Vereinigten Staaten für PISA 2006 wurde nur aus den Werten für mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz gebildet. Angesichts eines Fehlers beim Druck der Testhefte wurden die Ergebnisse im Bereich Lesekompetenz nicht veröffentlicht.
299
GEWINNER, VERLIERER UND EXOTEN
Tabelle 11.12: Abschneiden der Partnerländer bei PISA, Durchschnittswert der drei Kompetenzbereiche PISA 2000
PISA 2003
PISA 2006
Albanien
369
–
–
Argentinien
401
–
382
Aserbaidschan
–
–
404
Brasilien
368
383
384
Bulgarien
436
–
416
–
–
526
Hongkong, China
542
533
542
Indonesien
377
379
392
Jordanien
–
–
402
Katar
–
–
326
Kirgisistan
–
–
306
Kolumbien
–
–
381
Kroatien
–
–
479
Lettland
460
488
485
Liechtenstein
491
529
519
Litauen
–
–
481
Macao, China
–
517
509
Mazedonien
385
–
– 401
China, Republik (Taiwan)
–
42824
Peru
Montenegro
317
–
–
Rumänien
432
–
410
Russische Föderation
467
466
465
Serbien
–
42824
424
Thailand
433
422
418
Tunesien
–
373
377
Uruguay
–
431
423
Quellen: OECD 2001, 2004a, 2007a; OECD/UIS 2003a, 2003b, eigene Darstellung
—————— 24 Wert für die ehemalige Staatliche Gemeinschaft Serbien und Montenegro.
12
Bilanz – Was PISA im Bildungsbereich verändert hat
Marie Popp, Philipp Knodel, Kerstin Martens und Daniel de Olano
Bildungspolitik zwischen Wandel und Kontinuität PISA – bei diesen vier Buchstaben denken heute viele deutsche Bundesbürgerinnen und Bundesbürger zunächst an die Bildungsstudie, die alle drei Jahre den Zustand des deutschen Bildungswesens im internationalen Vergleich bewertet. Mit PISA werden auch die durch die Studie angeregten Veränderungen im Bildungsbereich assoziiert, durch die deutsche Schülerinnen und Schüler auf die Wissensgesellschaft vorbereitet werden sollen. Noch vor zehn Jahren wären hingegen nur ausgewiesene Bildungsexpertinnen und -experten auf die Idee gekommen, dass mit »PISA« nicht die italienische Stadt mit dem schiefen Turm, sondern die internationale Schulleistungsstudie der OECD gemeint ist. Bildungspolitik wird heutzutage nicht mehr alleinig von Nationalstaaten gestaltet. Die Leistungsfähigkeit nationaler Bildungssysteme wird dem Vergleich mit anderen Ländern ausgesetzt. Neue Akteure, wie etwa die OECD, beteiligen sich an nationalen Debatten und politischen Prozessen. In manchen Ländern wurde die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse von zum Teil kontroversen öffentlichen Debatten um den Zustand und die Zukunftsfähigkeit des nationalen Bildungssystems begleitet. Die etablierten Strukturen schienen den Anforderungen einer globalisierten Welt nicht mehr gerecht zu werden. Andere Länder konnten ihre Ergebnisse in den PISA-Studien hingegen derart interpretieren, dass die Leistungsfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler bescheinigt wurde. So unterschiedlich wie die Ergebnisse waren auch die Reaktionen auf deren Veröffentlichung – die Spannweite reicht von Schock über Anpassung und Beachtung bis hin zu Desinteresse (siehe Tabelle 12.1). In den einzelnen Beiträgen zu diesem Band wurden die Auswirkungen der PISA-Studie auf die nationalen Bildungspolitiken in verschiedenen Ländern untersucht. In diesem Kapitel soll eine Gesamtschau der acht
302
POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
vertieften Fallbeispiele erfolgen. Grundsätzlich lassen sich die untersuchten Staaten nach ihren Reaktionen auf PISA in zwei Gruppen einteilen: Solche, die seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahre 2001 Reformen im Bildungsbereich durchgeführt oder eingeleitet haben (Wandel) und solche, bei denen diese ausgeblieben sind (Kontinuität).1 Das Gegensatzpaar »Wandel« versus »Kontinuität« soll die Verschiedenheit der Reaktionen auf PISA verdeutlichen. Die Begriffe folgen einem weiten Begriffsverständnis. »Wandel« steht somit stellvertretend für bildungspolitische Veränderungen. Darunter fallen sowohl die Abkehr von einem zuvor eingeschlagenen Pfad als auch strukturelle Anpassungen innerhalb eines Systems. In der Mehrheit der hier untersuchten Länder (Deutschland, Frankreich, Mexiko, Schweiz, Spanien) schlossen sich bildungspolitische Maßnahmen an die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse an. In den drei angelsächsischen Ländern (England, Neuseeland, USA) konnten hingegen keine nennenswerten Veränderungen festgestellt werden. Diese Länder sind vornehmlich durch »Kontinuität« ihrer Bildungssysteme gekennzeichnet. Tabelle 12.1: Reaktionen auf PISA im Vergleich Wandel
Kontinuität
Schock
Anpassung
Beachtung
Desinteresse
Deutschland
Frankreich
England
USA
Mexiko
Neuseeland
Schweiz Spanien
Auch innerhalb dieser beiden Kategorien variieren die Reaktionen der Länder. In der Gruppe des Wandels gibt es Unterschiede in den Zeitpunkten sowie im Ausmaß der jeweiligen Veränderungen im Bildungsbereich. Das Fallbeispiel Deutschland ist speziell. Die öffentliche Erschütterung über das schlechte Abschneiden bei PISA 2000 fiel hier besonders stark aus und kulminierte im viel zitierten »PISA-Schock«. Die Ergebnisse der OECD-Bildungsstudie machten offensichtlich, was bis dato nicht ins
—————— 1 Es handelt sich hierbei um analytische Kategorien, welche den Besonderheiten des Einzelfalls nicht gerecht werden können, sondern insbesondere der Illustration allgemeiner Tendenzen dienen sollen.
BILANZ – WAS PISA IM BILDUNGSBEREICH VERÄNDERT HAT
303
öffentliche Bewusstsein vorgedrungen war: Im internationalen Vergleich fallen die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler nur mittelmäßig aus. Das nationale Bildungswesen und die Mechanismen der bildungspolitischen Steuerung gerieten unmittelbar in die Kritik. Die Folge waren zahlreiche Bildungsreformen, welche einen Paradigmenwechsel in der deutschen Bildungspolitik einleiteten (siehe Niemann in diesem Band). In den anderen in diesem Band untersuchten Ländern waren es vielmehr schrittweise Veränderungen in den Jahren nach PISA, welche das nationale Bildungssystem modernisieren sollten. So durchlief auch die Bildungspolitik in Frankreich Phasen des Wandels. Die Schwächen des französischen Bildungssystems waren zwar schon vor PISA bekannt gewesen, doch die Bildungsstudie der OECD bestätigte diese aufs Neue und entlarvte weitere Schwachstellen des Systems im internationalen Vergleich. Aufgrund klarer Mehrheitsverhältnisse und einer hohen Machtkonzentration im Zentralstaat waren die Voraussetzungen für Reformen recht günstig. Doch die tief verankerte Skepsis gegenüber internationalen Evaluationsstudien und Reformmodellen aus dem Ausland erschwerte die Umsetzung beabsichtigter Maßnahmen zunächst. Insbesondere die SarkozyRegierung bediente sich deshalb der PISA-Ergebnisse, um ihre Bildungsreform mit dem Anpassungsbedarf an erfolgreichere Bildungssysteme zu begründen (siehe Dobbins zu Frankreich in diesem Band). Mexiko trägt die rote Laterne im OECD-internen Bildungsvergleich. Diese Positionierung führte nicht unmittelbar zu einem öffentlichen Aufschrei oder politischen Maßnahmen, da sie für das Land keine Überraschung darstellte – schließlich wurde es mit den führenden Wirtschaftsnationen verglichen. Mit der Verschlechterung der PISA-Ergebnisse und der ansteigenden öffentlichen Aufmerksamkeit für die internationale Bildungsstudie erhöhte sich jedoch der Anpassungsdruck im Bildungsbereich. Unter strategischer Einbeziehung der internationalen Ebene konnte im Anschluss an PISA 2006 die Reformblockade im Bereich der Sekundarbildung gelöst werden, indem eine Allianz zur Förderung der Bildungsqualität zwischen den wichtigsten Akteuren des mexikanischen Bildungssektors vereinbart wurde (siehe Popp zu Mexiko in diesem Band). In der Schweiz wurden bereits vor der PISA-Studie Reformvorschläge für das Bildungssystem diskutiert. Das nur mittelmäßige Abschneiden der Schweizer Schülerinnen und Schüler bei PISA 2000 und die deutlichen Reaktionen in den Medien legten den Grundstein für Reformen. Nationale Akteure nutzten die Ergebnisse der Studie, um ihre Forderungen nach
304
POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
Veränderungen zu stützen. So führte unter anderem die Einigung auf eine verstärkte Zusammenarbeit der einzelnen Kantone im Bildungsbereich zu einer grundlegenden Neugestaltung der Steuerung des Schweizer Bildungswesens (siehe Bieber in diesem Band). In Spanien gab es im Anschluss an PISA sehr viel Wandel. Die erste Bildungsreform der konservativen Regierung im Jahr 2002 wurde zwar mit Verweis auf die unterdurchschnittlichen Leistungen der spanischen Jugendlichen gerechtfertigt, stellte aber keine unmittelbare Reaktion auf das Abschneiden in der PISA-Studie dar. Die damalige Regierungspartei hatte die Reform schon lange zuvor beabsichtigt und hätte sie auch ohne die Legitimation durch PISA verabschieden können, weil sie im Besitz der absoluten Mehrheit war. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2004 wurden viele Bestandteile der ersten Reform durch die Sozialdemokraten wieder rückgängig gemacht. Bei diesem Wandel spielten die abfallende Tendenz der PISA-Ergebnisse, das starke öffentliche Interesse an der internationalen Bildungsstudie und das Lernen von erfolgreicheren Ländern eine entscheidende Rolle (siehe Popp zu Spanien in diesem Band). In den angelsächsischen Ländern konnte kein direkter Wandel von Bildungspolitik im Anschluss an PISA festgestellt werden. Trotzdem gibt es auch innerhalb dieser Gruppe unterschiedliche Reaktionen auf die PISAStudie. Die USA weisen unter den in diesem Band betrachteten Ländern das geringste Interesse an der Studie auf. Weder medial noch in der politischen Arena wurden die unterdurchschnittlichen PISA-Ergebnisse der USA nachhaltig wahrgenommen; lediglich ein kleiner Kreis von bildungspolitischen Expertinnen und Experten nahm das Abschneiden der USA bei PISA zur Kenntnis. Veränderungen in der amerikanischen Bildungspolitik und Reformen nach PISA blieben aus (siehe Martens in diesem Band). Die anfängliche Euphorie in England über das gute Abschneiden bei der ersten PISA-Studie währte nur kurz. In den folgenden Erhebungen waren die Ergebnisse englischer Schülerinnen und Schüler nur noch Mittelmaß. Obwohl die PISA-Studie lange Zeit ignoriert wurde, ist das Interesse in den letzten Jahren gestiegen. Englische Bildungspolitikerinnen und -politiker realisieren zunehmend die Bedeutung internationaler Bildungsvergleiche und nehmen den Wettbewerb an (siehe Knodel in diesem Band). Neuseeland gehört zwar zu den Ländern, denen die OECD mit PISA eine grundsätzlich funktionierende Bildungspolitik bescheinigte, doch auch dort hat die Studie Mängel aufgezeigt. Im Fokus neuseeländischer Politik steht seit PISA das starke Leistungsgefälle zwischen Schülerinnen und
BILANZ – WAS PISA IM BILDUNGSBEREICH VERÄNDERT HAT
305
Schülern mit europäischer und so genannter pazifischer oder MāoriHerkunft (siehe Dobbins zu Neuseeland in diesem Band). Wie diese Ausführungen zeigen, fielen die Reaktionen auf die PISAStudie sehr unterschiedlich aus. Zwei Länder stechen beim Vergleich besonders hervor: Deutschland aufgrund des durch PISA verursachten Schocks und die USA aufgrund ihres Desinteresses an der internationalen Bildungsstudie. Aber auch in den anderen Ländern wurde recht unterschiedlich auf die PISA-Ergebnisse reagiert. Im Folgenden wird zum einen die Rolle der OECD als Impulsgeberin für Bildungsreformen durch die PISA-Studie reflektiert, zum anderen die Gründe für die unterschiedliche Rezeption von PISA in den verschiedenen in diesem Band untersuchten Länder zusammengefasst.
Die Rolle der OECD beim Wandel nationaler Bildungspolitik Seit den 1980er Jahren hat der Bereich Bildung innerhalb der OECD stetig an Bedeutung gewonnen. Mit der Einrichtung des Bildungsindikatorensystems (Indicators of Education Systems – INES; siehe auch Teltemann in diesem Band) wurde die quantitative Bildungsdatenaufbereitung verbessert. In Kooperation mit führenden Bildungsforscherinnen und -forschern wurde während der 1990er Jahre PISA entwickelt. Nicht zuletzt aufgrund der Einschlägigkeit der PISA-Studie wurde der Bildungsbereich 2002 in ein institutionell höherrangiges und eigenständiges Direktorat innerhalb der OECD umgewandelt (Martens 2007: 44). Die OECD hat keine rechtlichen Mittel, durch welche sie Staaten dazu veranlassen könnte, das von ihr propagierte bildungspolitische Leitbild anzunehmen und nationale Strukturen entsprechend umzustellen. Auch die Möglichkeiten ihre Interessen mit finanziellen Anreizen durchzusetzen sind begrenzt. Vielmehr kann die OECD nur durch so genannte weiche Steuerungsmechanismen Einfluss auf nationale Bildungspolitiken nehmen. Sie operiert also vor allem dadurch, dass sie nationale Politiken evaluiert, vergleichende Daten generiert und aufbereitet, erfolgreiche Modelle ermittelt und diese dann der nationalen Ebene als Politikideen zur Verfügung stellt (siehe Martens/Jakobi 2010; Martens et al. 2010). Dass PISA in manchen Ländern ein hohes Maß an Einfluss gewinnen konnte, ist aufgrund der weichen Steuerungsinstrumente, die der OECD
306
POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
zur Verfügung stehen, überraschend. Die Rezeption der Studien ist deshalb vielmehr auf die Expertise der Organisation zurück zu führen. Die OECD hat mit PISA komplexe Bildungsdaten generiert und diese – auch in Form von Ranglisten – übersichtlich aufbereitet. Durch diese »leichtverdauliche« Präsentationsform sind die Ergebnisse nicht nur für Expertinnen und Experten aus den Bereichen Bildungsökonomie oder Soziologie, sondern auch für die Medien und die interessierte Lehrer- und Elternschaft intuitiv zugängig. PISA ist ein Paradebeispiel für den diskursiven Einfluss der OECD. Durch die Identifizierung der PISA-Sieger und das Herausfiltern von best practice-Beispielen gibt die Organisation indirekte Politikempfehlungen zur Verbesserung der Bildungssysteme an ihre Mitgliedstaaten weiter. Dadurch befördert sie die globale Verbreitung bestimmter Reformprinzipien, angeregt durch die erfolgreichen Politiken Finnlands, Kanadas, Koreas, Polens, etc. Beispiele für solche Empfehlungen sind der Ausbau der Schulautonomie, die Individualisierung des Lehrens und Lernens oder die Formulierung von Bildungsstandards (OECD 2004, 2009; siehe auch Popp 2010). Eine der am meisten diskutierten Veränderungen im Bildungsbereich ist die Etablierung von evidenzbasierter Politikgestaltung. Die Verbreitung dieser neuen Steuerungsform, welche regelmäßige Leistungskontrollen des Bildungssystems vorsieht, ist erklärtes Ziel der OECD im Bereich Bildung (OECD 2006). Das Prinzip der Outputsteuerung soll die Verzahnung von Bildungspolitik und Bildungsforschung verbessern. In der angelsächsischen Bildungstradition ist dieses schon länger verankert (siehe zum Beispiel Knodel zu England in diesem Band). In vielen anderen Ländern entbrannte anhand der durch PISA verfügbar gewordenen Bildungsdaten eine Debatte über das jeweilige System zur Dokumentation und Überprüfung der Bildungsqualität (siehe zum Beispiel Dobbins zu Frankreich in diesem Band). Die allmähliche Abkehr von Lehrinhalten und die Hinwendung zu Kompetenzen war etwa in Deutschland zu beobachten (siehe Niemann in diesem Band). Die Implementierung dieses neuen Steuerungsprinzips und seine Auswirkungen auf die kontinuierliche Weiterentwicklung nationaler Bildungssysteme sowie auf die Schülerleistungen muss jedoch noch genauer erforscht werden (Altrichter/Maag-Merki 2010). PISA hat nicht nur die Schwachstellen der jeweiligen Bildungssysteme aufgezeigt. Die Studie hat gleichzeitig Lösungsvorschläge mitgeliefert, die ihren Weg in die nationalen Debatten gefunden haben. Damit ist sie mehr als eine reine Bildungsstudie: Über ihre eigentliche Anlage hinaus, die
BILANZ – WAS PISA IM BILDUNGSBEREICH VERÄNDERT HAT
307
Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen im internationalen Vergleich zu bestimmen, hat sie sich als wirkungsvolles Instrument für den Wandel von Bildungspolitik erwiesen. Die OECD selbst hat allerdings ein Imageproblem: Jeder kennt PISA, aber kaum einer assoziiert die OECD damit.
Warum PISA nicht überall zu Schock und Anpassung führt In fünf der acht untersuchten Länder waren Debatten und Reformen im Bildungsbereich als Reaktion auf die PISA-Studien zu verzeichnen. In den drei angelsächsischen Ländern hingegen konnten die Ergebnisse der Bildungsstudie keinen Wandel in der nationalen Bildungspolitik auslösen. Wie lässt sich diese Varianz der Reaktionen erklären? In der Einleitung dieses Bandes (siehe de Olano et al.) wurden drei Faktoren zur Begründung unterschiedlicher Reaktionen auf PISA angeführt: institutionelles Gefüge, Leitideen und Reformdruck. Die erste Annahme lautete, dass die institutionelle Struktur eines politischen Systems die Reformfähigkeit eines Landes beeinflusst. Eine große Anzahl an Vetospielern sowie heterogene Interessen führen zu politischer Stabilität (siehe Tsebelis 2002). Zweitens beeinflussen nationale Leitideen die Reaktionen eines Landes auf die PISA-Studie. Bildungspolitische Veränderungen sind weniger wahrscheinlich, wenn nationale und internationale Leitideen von Bildung eine hohe Übereinstimmung aufweisen. In einer solchen Konstellation entsteht kein oder nur geringer Anpassungsdruck (siehe Börzel/Risse 2003). Eine dritte mögliche Erklärung für die unterschiedlichen Reaktionen bietet der nationale Reformdruck eines Landes. Waren bereits vor der ersten PISA-Studie Forderungen nach Veränderungen des Bildungssystems vorhanden, ist eine deutliche Reaktion auf die Veröffentlichung zu erwarten. Insgesamt bieten die (Nicht-)Übereinstimmung von nationalen und internationalen Leitideen sowie der Reformdruck geeignete Erklärungen für die unterschiedlichen Reaktionen auf PISA; institutionelle Faktoren waren weniger ausschlaggebend. Die geringere Bedeutung institutioneller Faktoren ist auf die Eigenschaft der PISA-Studie als Instrument der Bildungspolitik zurück zu führen. Mit PISA formuliert die OECD bildungspolitische Ideen für den Sekundarschulbereich und verbreitet diese in Form von Berichten und Empfehlungen in der Arena nationaler Politik. Dort finden sie Ein-
308
POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
gang in nationale Debatten zwischen Politik, Forschung und Öffentlichkeit: Neue Ideen werden vor dem Hintergrund der nationalen Bedürfnisse diskutiert und führen entweder zu Anpassungen – oder nicht. Die weiche Form politischer Einflussnahme scheint besonders geeignet zu sein, potentielle Vetospieler in den Reformprozess zu integrieren. In Deutschland etwa war die PISA-Studie der entscheidende Impuls, um bestehende Reformblockaden zu lösen. Der Reformkonsens führte im deutschen Bildungsföderalismus zu gleichgerichteten Reformen im Schulsystem. Die gezielte Einbindung von Vetospielern in den Reformprozess lässt sich auch in Mexiko beobachten. Die Schaffung einer Reformallianz zwischen den beiden mächtigsten Bildungsakteuren wurde im Kontext von PISA 2006 von der internationalen Ebene vorgeschlagen und anschließend weiter begleitet. Bildungspolitische Leitideen besitzen insbesondere im Hinblick auf die Begründung der Kontinuität nationaler Bildungspolitik eine große Erklärungskraft. Zwischen den Leitideen der OECD und denen englischsprachiger Länder bestehen große Überschneidungen, wie in den Länderfallstudien zu England oder Neuseeland gezeigt wurde. Begriffe wie Humankapital oder die Evaluation von Schülerleistungen prägen die angelsächsische Bildungstradition. Für Länder, deren Leitideen dem von der OECD propagierten Modell von Bildung nahe kommen, sind grundlegende Umgestaltungen demnach unwahrscheinlich. Vielmehr können diese Länder anhand von erfolgreichen Modellen anderer PISA-Teilnehmer ihre Bildungssysteme weiterentwickeln. Liegen nationale Leitideen von Bildung und die der OECD hingegen weit auseinander, kann die PISA-Studie Veränderungen anstoßen. Für Länder, die einem Humboldtschen Bildungsideal folgen (siehe Clark 1983) – beispielhaft in diesem Band vertreten durch Deutschland und die Schweiz –, stellte die unzureichende Qualifizierung eines großen Teils der Jugendlichen für den Arbeitsmarkt einen Schock dar. Die nationalen Ideen unterschieden sich, insbesondere im deutschen Fallbeispiel, deutlich vom stärker ökonomisch orientierten Bildungsverständnis der OECD. Zwischen den Bildungssystemen romanischer Prägung – im Band repräsentiert durch Frankreich, Mexiko und Spanien – gibt es zwar recht große Unterschiede hinsichtlich ihrer jeweiligen nationalen Ausgestaltung. Doch die zentralistische Steuerungslogik des Bildungswesens und die Relevanz von Bildung für soziale Integration sind ihnen gemein. Die unterdurchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler sowie der absteigende
BILANZ – WAS PISA IM BILDUNGSBEREICH VERÄNDERT HAT
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Trend der PISA-Ergebnisse in diesen drei Ländern brachten die etablierten Strukturen in die Kritik. Sie veranlassten die nationalen Regierungen dazu, die Prinzipien der bisherigen Bildungssteuerung zu hinterfragen und sich von den Bildungspolitiken anderer Länder inspirieren zu lassen. Auch der Reformdruck eines Landes im Bereich der Bildungspolitik kann einige der Reaktionen auf PISA verständlich machen. Das Desinteresse der USA beispielsweise ist dadurch zu begründen, dass diese ihren Bildungsschock bereits in den 1980er Jahren erlebten. Mit der Veröffentlichung von A Nation at Risk im Jahre 1983 wurde die prekäre Lage des US-amerikanischen Bildungswesens offen gelegt. Viele grundlegende Reformen wurden als Reaktion darauf auf den Weg gebracht und die Weiterentwicklung des öffentlichen Bildungssystems hält bis heute an. Die nur mittelmäßigen PISA-Ergebnisse stellten somit keine Überraschung mehr dar, sondern bestätigten nur, was bereits im öffentlichen Bewusstsein war. Vergleichbares gilt auch für England und Neuseeland. In England wurde das Bildungssystem bereits in den 1980er Jahren grundlegend reformiert. Die konservative Regierung unter Margaret Thatcher legte den Grundstein für eine ökonomisch orientierte Bildungspolitik. Die Probleme des englischen Bildungssystems waren bereits vor PISA bekannt. Es bestand folglich kein Reformdruck, der drastischere Reaktionen hätte auslösen können. Großen Reformdruck vor PISA gab es dafür in den beiden deutschsprachigen Ländern. Der Föderalismus in Deutschland und in der Schweiz sowie die damit verbundenen Kompetenzen der Länder beziehungsweise der Kantone hatten sich über Jahrzehnte hinweg als Hindernis für grundlegende Reformen im Bildungsbereich erwiesen. Mit dem Schock über das schlechte Abschneiden bei PISA konnte diese Blockade gelöst werden. In Mexiko hatte es in den 1990er Jahren eine große Bildungsreform gegeben. Allerdings bezog sich diese vorrangig auf eine Neuordnung der bildungspolitischen Kompetenzen und Veränderungen im Primarbereich; die Sekundarbildung blieb damit weiterhin dringend reformbedürftig. Mit Hilfe von PISA und der OECD gelang es der nationalen Führung letztendlich, die Reformblockade der Lehrergewerkschaft zu überwinden. In Spanien und Frankreich lässt sich weniger der Reformdruck vor PISA als vielmehr der Reformdruck durch PISA als ein möglicher Grund für die eingeleiteten Veränderungen im Bildungsbereich anführen. In beiden Ländern war es bereits vor PISA zu Reformen im Bildungsbereich gekommen. Doch der Negativtrend der Schülerleistungen ließ diese Länder im PISA-Ranking weiter zurück fallen, wodurch sich der Druck auf die
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POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
nationalen Regierungen erhöhte, auf diesen Trend zu reagieren und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Auch in England nahm die politische und öffentliche Aufmerksamkeit für die PISA-Studie mit der Verschlechterung der nationalen Ergebnisse zu. Um deutlichere Aussagen über den Reformdruck, den PISA ausgelöst haben könnte, treffen zu können, bedürfte es weiterer Fallstudien zu den Reaktionen auf PISA in beispielsweise Griechenland, Island, Italien und Norwegen – in Ländern also, in denen sich die Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler zwischen PISA 2000 und 2006 signifikant verschlechtert haben (siehe Abbildung 2.2 bei Teltemann in diesem Band). Die empirischen Ergebnisse zu den in diesem Band untersuchten Ländern haben lediglich gezeigt, dass ein schlechtes PISA-Abschneiden nicht automatisch mit einem starken Medienecho und politischen Maßnahmen einher geht. Die gegensätzlichen Reaktionen von Deutschland und den USA auf die jeweils unterdurchschnittlichen PISA-Ergebnisse sind das beste Beispiel hierfür (siehe hierzu auch Martens/Niemann 2009). Doch möglicherweise ist der Trend der nationalen PISA-Ergebnisse ein weiterer Einflussfaktor, den es zukünftig stärker zu beachten gilt.
Nach PISA ist vor PISA Mit der Veröffentlichung der nächsten PISA-Ergebnisse am 6. Dezember 2010 beginnt ein neuer Zyklus der Bildungsstudie. Zum zweiten Mal nach PISA 2000 steht der Kompetenzbereich Lesen im Mittelpunkt. Die Studie wird aufzeigen, ob aus Sicht der OECD die durchschnittlichen Kompetenzwerte der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler eines Landes über die vergangenen neun Jahre gesteigert werden konnten oder nicht. Für manche Länder wird ihr gutes Abschneiden eine Bestätigung für die Reformbemühungen der vergangenen Jahre sein. In anderen Ländern wird ein schlechteres Ergebnis als bei den vorangegangenen Runden zu Besorgnis führen und Debatten um die Reform des Bildungssystems verschärfen. Der zweite Zyklus der PISA-Studie wird erneut drei Erhebungen über einen Zeitraum von neun Jahren umfassen. Eine Fortsetzung der Studie über das Jahr 2015 hinaus ist bislang nicht beschlossen. Dennoch ist mit der OECD im Bereich der Messung von Bildungsqualität auch zukünftig zu rechnen: Die Organisation widmet sich bereits der Entwicklung weiterer
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Bildungsstudien, die an den Erfolg von PISA anknüpfen sollen. Umgangssprachlich werden sie deshalb auch als »PISA für Lehrer«, »PISA für Erwachsene« und »PISA für Studenten« bezeichnet. Bereits im Juni 2009 wurden die Ergebnisse von TALIS (Teaching and Learning International Survey) veröffentlicht. In Deutschland erregte TALIS wenig öffentliches Aufsehen, weil sich das Land an dieser Studie zur Ermittlung von Lehrqualität und -bedingungen im internationalen Vergleich nicht beteiligte. An der Bildungsstudie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), die 2011 beginnt, wird sich Deutschland aber beteiligen. Die AHELOStudie (Assessment of Higher Education Learning Outcomes) befindet sich gegenwärtig noch in der Entwicklungsphase. Mit dem vorliegenden Buch wurde ein erster Beitrag geleistet, internationale Reaktionen auf PISA vergleichend zu untersuchen. Allgemein ist das Feld der Bildungspolitik in der politikwissenschaftlichen Forschung ein wenig beackertes Feld (siehe hierzu Jakobi/Martens/Wolf 2010). Die Ergebnisse der einzelnen Fallstudien in diesem Band lassen darauf schließen, dass insbesondere Ideen in politischen Entscheidungsprozessen von Bedeutung sind. Wandel oder Kontinuität bildungspolitischer Strukturen hängen eng mit den jeweiligen Leitideen eines Landes zusammen. Systematisch vergleichende Untersuchungen nationaler Bildungsdiskurse scheinen in diesem Kontext besonders geeignet zu sein, die Lücke zwischen PISA-Ergebnis und Reaktion zu schließen. In diesem Band konnte gezeigt werden, dass die Reaktionen auf die PISA-Studie in den teilnehmenden Ländern stark variieren. Allerdings konnte hier nur eine kleine Auswahl von Ländern behandelt werden. Weitere Vergleichsstudien sind nötig, um die Auswirkungen internationaler Bildungsaktivitäten auf nationale Bildungspolitik umfassend zu untersuchen. Zudem könnte ein systematischer Vergleich genauere Erkenntnisse über die Gründe für Wandel und Kontinuität von Bildungssystemen ergeben. Insbesondere Länder und Regionen außerhalb der OECD-Welt sind bisher weitgehend unerforscht, vermögen aber interessante Einblicke in den Umgang mit PISA zu geben (siehe de Olano in diesem Band). Aus der Perspektive der Policy-Forschung ist bislang wenig über die Dynamiken bekannt, die internationale Organisationen in den Arenen nationaler Politik ausgelöst haben. Wenig beachtet ist die letzte Phase des Politikprozesses, also die Rückwirkungen von neuen Politikinhalten auf Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse (Pierson 2005). Obwohl einige sozialpolitische Reformen aus dieser Perspektive bereits erforscht
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POPP, KNODEL, MARTENS UND DE OLANO
wurden (zum Beispiel Hacker 1998; Patashnik 2008), fehlen systematische Analysen zum Wandel von Bildungspolitik. Hier müsste untersucht werden, welche Auswirkungen die zunehmende Internationalisierung von Bildungspolitik auf betroffene Akteure hat, wie etwa Lehrerorganisationen, Gewerkschaften, politische Interessengruppen und deren Machtstrukturen. PISA hat in vielen Ländern intensive Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Bildungssysteme angestoßen. Die Frage, inwieweit die politischen Entscheidungen auf nationaler oder subnationaler Steuerungsebene auch in den Klassenzimmern, bei Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften Wirkung zeigen, bleibt auch nach drei PISA-Erhebungen noch offen. Der nun beginnende zweite Zyklus der Studie will darüber mehr Aufschluss geben.
Literatur Altrichter, Herbert/Maag-Merki, Katharina (2010), »Steuerung der Entwicklung des Schulwesens«, in: Herbert Altrichter/Katharina Maag-Merki (Hg.), Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem, Wiesbaden, S. 15–39. Börzel, Tanja A./Risse, Thomas (2003), »Conceptualizing the Domestic Impact of Europe«, in: Kevin Featherstone/Claudio Radaelli (Hg.), The Politics of Europeanization, Oxford, S. 55–78. Clark, Burton R. (1983), The Higher Education System. Academic Organization in CrossNational Perspective, Berkeley, CA. Hacker, Jacob S. (1998), »The Historical Logic of National Health Insurance: Structure and Sequence in the Development of British, Canadian, and U.S. Medical Policy«, in: Studies in American Political Development, Jg. 12, H. 1, S. 57–130. Jakobi, Anja P./Martens, Kerstin/Wolf, Klaus Dieter (Hg.) (2010), Education in Political Science. Discovering a Neglected Field, London. Martens, Kerstin (2007), »How to become an Influential Actor – The ›Comparative Turn‹ in OECD Education Policy«, in: Kerstin Martens/Alexandra Rusconi/Kathrin Leuze (Hg.), New Arenas of Education Governance. The Impact of International Organizations and Markets on Educational Policy Making, Houndmills, Basingstoke, S. 40–56. Martens, Kerstin/Jakobi, Anja P. (Hg.) (2010), Mechanisms of OECD Governance – International Incentives for National Policy-Making?, Oxford. Martens, Kerstin/Nagel, Alexander-Kenneth/Windzio, Michael/Weymann, Ansgar (Hg.) (2010), Transformation of Education Policy, Houndmills, Basingstoke.
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Martens, Kerstin/Niemann, Dennis (2009), Governance by Comparison. How Ratings & Rankings can Impact National Policy Making in Education, Beitrag zum International Studies Association Annual Meeting, 15.–18.02.2009, New York. OECD – Organisation for Economic Co-operation and Development (2004), Messages from PISA 2000. The Final Summary Report from the PISA 2000 Survey, Paris. — (2006), OECD Work on Education, Paris. — (2009), Education Today. The OECD Perspective, Paris. Patashnik, Eric M. (2008), Reforms at Risk: What Happens After Major Policy Changes Are Enacted, Princeton, NJ. Pierson, Paul (2005), »The Study of Policy Development«, in: Journal of Policy History, Jg. 17, H. 1, S. 34–51. Popp, Marie (2010), Viel Lärm um PISA. Eine qualitativ-vergleichende Presseanalyse zu den Reaktionen auf die PISA-Studie in Deutschland, Österreich, Spanien und Mexiko, TranState Working Paper 134, Bremen. Tsebelis, George (2002), Veto Players. How Political Institutions Work, Princeton, NJ.
Abkürzungsverzeichnis
AHELO
Assessment of Higher Education Learning Outcomes
AHS
Allgemein bildende höhere Schule
AICGS
American Institute for Contemporary German Studies
BEP
Brevet d’études professionnelles
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BIFIE
Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens
BMBF
Bundesministerium für Bildung und Forschung
BRD
Bundesrepublik Deutschland
CAP
Certificat d’aptitude professionnelle
CEA
Canadian Education Association
CIVED
Civic Education Study
CMEC
Council of Ministers of Education, Canada
CSAT
College Scholastic Aptitude Test
CVP
Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz
DAAD
Deutscher Akademischer Austauschdienst
DCSF
Department for Children, Schools and Families
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DfES
Department for Education and Skills
DFG
Deutsche Forschungsgemeinschaft
316
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
EDK
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
ERO
Education Review Office
ESEA
Elementary and Secondary Education Act
ESO
Educación Secundaria Obligatoria
EU
Europäische Union
EXCALE
Éxamenes para la Calidad y el Logro Educativos
FDP
Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz seit 2009: FDP.Die Liberalen
FIMS
First International Mathematics Study
FörMig
Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
FPÖ
Freiheitliche Partei Österreichs
GATS
General Agreement on Trade in Services Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
HarmoS
Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule
HISEI
Highest International Socio-Economic Index
IBE
International Bureau of Education
IEA
International Association for the Evaluation of Educational Achievement
IGLU
Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
INCE
Instituto Nacional de Calidad e Evaluación
INECSE
Instituto Nacional de Evaluación y Calidad del Sistema Educativo
INEE
Instituto Nacional de Evaluación Educativa
INES
Indicators of Education Systems
IO
Internationale Organisation
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
317
IQB
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
Kgr.
Königreich
KICE
Korea Institute of Curriculum and Evaluation
KiTa
Kindertagesstätte
KMK
Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz)
LA
Local Authority
LEA
Local Education Area
LGE
Ley General de Educación
LLECE
Laboratorio Latinoamericano de Evaluación de Calidad de la Educación
LOCE
Ley Orgánica de Calidad de la Educación
LOE
Ley Orgánica de Educación
LOGSE
Ley Orgánica de Ordenación General del Sistema Educativo
MEN
Ministère de l’Éducation Nationale
MEXT
Ministry of Education, Sports, Culture, Science and Technology
MPK
Ministerpräsidentenkonferenz
NCLB
No Child Left Behind Act
NGO
Non-governmental Organisation Nichtregierungsorganisation
NIER
National Institute of Educational Research
NZQA
New Zealand Qualifications Authority
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
OFSTED
Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills
318
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ONESQA Office for National Education Standards and Quality Assessment ÖVP
Österreichische Volkspartei
PAN
Partido Acción Nacional
PCAP
Pan-Canadian Assessment Program
PCEIP
Pan-Canadian Education Indicators Program
PIAAC
Programme for the International Assessment of Adult Competencies
PIRLS
Progress in International Reading Literacy Study
PISA
Programme for International Student Assessment
PP
Partido Popular
PRI
Partido Revolucionario Institutional
PSOE
Partido Socialista Obrero Español
QIS
Qualität in Schulen
Rep.
Republik
SAIP
School Achievement Indicator Program
SchOG
Schulorganisationsgesetz
SchUG
Schulunterrichtsgesetz
SEP
Secretaria de Educación Pública
SNTE
Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación
SP
Sozialdemokratische Partei der Schweiz
SPÖ
Sozialdemokratische Partei Österreich
SVP
Schweizerische Volkspartei
TALIS
Teaching and Learning International Survey
TIMSS
Third International Mathematics and Science Study / Trends in International Mathematics and Science Study
UMP
Union pour un mouvement populaire
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
UNESCO
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
USA
United States of America Vereinigte Staaten von Amerika
VERA
Vergleichsarbeiten in der Schule
WTO
World Trade Organization Welthandelsorganisation
YITS
Youth in Transition Survey
ZEP
Zone d’éducation prioritaire
319
Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abb. 1.1: Abb. 1.2: Abb. 2.1: Abb. 2.2: Abb. 2.3: Abb. 2.4: Abb. 2.5: Abb. 2.6: Abb. 2.7: Abb. 2.8: Abb. 2.9: Abb. 6.1: Abb. 7.1: Abb. 8.1:
Staaten und Regionen, die an mindestens einer PISA-Studie teilgenommen haben............................................15 Anzahl der Artikel zu PISA in ausgewählten Qualitätszeitungen .......................................................................17 Rangfolge der OECD-34-Staaten in PISA 2006 nach Lesewerten....................................................................................34 Rangfolge im Bereich Lesekompetenz, PISA 2000, 2003 und 2006..............................................................................37 Zusammenhang zwischen Streuung der Lesewerte und mittleren Lesewerten in Pisa 2006, OECD-34-Staaten.........41 Anteil der Schülerinnen und Schüler unterhalb Lese-Kompetenzstufe 1 .............................................................44 Effekt des Beschäftigungsstatus der Eltern auf die Lesekompetenz ............................................................................45 Geschlechterdifferenz in den Leseleistungen (Mädchen/Jungen) ......................................................................46 Geschlechterdifferenz in den Mathematikleistungen (Mädchen/Jungen) ......................................................................47 Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten zweiter Generation in den Leseleistungen ..............................50 Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten erster Generation in den Leseleistungen .................................51 Berichterstattung zu PISA in der spanischen Tageszeitung El País .................................................................154 Zeitungsartikel zu PISA in England.......................................182 PISA-Berichterstattung in der mexikanischen Tageszeitung Reforma ..............................................................197
322
ABBILDUNGEN UND TABELLEN
Tabellen Tabelle 1.1:
Entwicklung der Teilnahme an PISA...................................14
Tabelle 2.1:
PISA-Mittelwert 2006 und Differenzen zu den Jahren 2003 und 2000 ................................................39
Tabelle 3.1:
Abschneiden Deutschlands in den PISA-Studien..............66
Tabelle 3.2:
Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Sprachförderung und Verzahnung KiTa–Schule ...............74
Tabelle 3.3:
Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Lehrerfortbildung sowie Qualitätssicherung durch Standards und Evaluation.........75
Tabelle 3.4:
Zusammenschau ausgewählter Maßnahmen der Bundesländer in den Handlungsfeldern Förderung von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und Ausbau der Ganztagsschulangebote.............................76
Tabelle 4.1:
Abschneiden der Schweiz in den PISA-Studien.................99
Tabelle 5.1:
Abschneiden Frankreichs in den PISA-Studien ...............125
Tabelle 6.1:
Abschneiden Spaniens in den PISA-Studien ....................152
Tabelle 6.2:
Ausgewählte Aspekte der Bildungsreformen von 2002 und 2006 ................................................................161
Tabelle 7.1:
Abschneiden Englands in den PISA-Studien....................177
Tabelle 8.1:
Abschneiden Mexikos in den PISA-Studien .....................195
Tabelle 9.1:
Abschneiden Neuseelands in den PISA-Studien..............221
Tabelle 9.2:
Durchschnittliche PISA-Ergebnisse für das Jahr 2000 nach ethnischer Herkunft neuseeländischer Schülerinnen und Schüler ................................................................223
Tabelle 10.1:
Abschneiden der USA in den PISA-Studien.....................240
Tabelle 11.1:
Erstmalige Teilnahme so genannter Partnerländer an PISA....................................................................................252
Tabelle 11.2:
Abschneiden Finnlands in den PISA-Studien...................254
Tabelle 11.3:
Abschneiden Koreas in den PISA-Studien .......................259
ABBILDUNGEN UND TABELLEN
323
Tabelle 11.4:
Abschneiden Kanadas in den PISA-Studien.....................262
Tabelle 11.5:
Abschneiden der Schülerinnen und Schüler und Anteil an Risikogruppe (unter Kompetenzstufe 2) nach Migrationshintergrund, PISA 2003, Lesekompetenz.......264
Tabelle 11.6:
Abschneiden Japans in den PISA-Studien.........................269
Tabelle 11.7:
Abschneiden Österreichs in den PISA-Studien................273
Tabelle 11.8:
Anteil der Schülerinnen und Schüler unterhalb Kompetenzstufe 2 (Risikogruppe) und oberhalb Kompetenzstufe 3 (Spitzengruppe), Lesekompetenz......275
Tabelle 11.9:
Abschneiden Katars in den PISA-Studien ........................280
Tabelle 11.10: Abschneiden Thailands in den PISA-Studien...................283 Tabelle 11.11: Abschneiden der OECD-34 bei PISA ...............................297 Tabelle 11.12: Abschneiden der Partnerländer bei PISA..........................299 Tabelle 12.1:
Reaktionen auf PISA im Vergleich .....................................302
Autorinnen und Autoren
Tonia Bieber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Einfluss internationaler Initiativen im Bildungsbereich auf Reformen in der Schweiz. Bieber studierte Verwaltungswissenschaften an den Universitäten Konstanz, La Valletta und Grenoble. Seit September 2008 ist sie assoziierte PhD-Fellow an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). Michael Dobbins ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Vergleichende Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen. Er studierte Politikwissenschaft und Slawistik an der Universitäten Konstanz, Warschau und Rutgers und promovierte in Konstanz zum Thema »Vergleichende Hochschulpolitik in Mittel- und Osteuropa«. Dobbins ist Autor verschiedener Zeitschriftenartikel und Bücher zur Bildungs- und Hochschulpolitik sowie zur Osterweiterung der Europäischen Union. Philipp Knodel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen. Seine Forschungsinteressen sind Internationalisierungsprozesse in der Bildungspolitik und Politiknetzwerke. Knodel studierte Politikwissenschaft an den Universitäten Augsburg und Bremen. Seit September 2009 ist er assoziierter PhD-Fellow an der Bremen International Graduate School of Social Science (BIGSSS). Kerstin Martens ist Professorin für Internationale Beziehungen und Weltgesellschaft an der Universität Bremen. Seit 2004 leitet sie das Teilprojekt zur »Internationalisierung von Bildungspolitik« am Sonderforschungsbereich
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AUTORINNEN UND AUTOREN
597 »Staatlichkeit im Wandel«. Martens studierte Politikwissenschaft, internationale Beziehungen, Geschichte und Völkerrecht an den Universitäten Münster, Bordeaux und Nottingham und promovierte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Sie ist Mitherausgeberin verschiedener Bücher zum Thema Bildungspolitik und zur OECD. Dennis Niemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen. Sein Forschungsinteresse gilt dem Einfluss internationaler Organisationen auf nationale Politikgestaltung in der Bildungs- und Umweltpolitik. Niemann studierte Politikwissenschaft in Bremen und Göteborg. Daniel de Olano ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen. Sein Forschungsinteresse gilt dem Einfluss internationaler Akteure auf Reformprozesse in der schulischen Bildung. De Olano studierte Politik- und Rechtswissenschaften in Freiburg im Breisgau und Bremen. Neben dem Studium arbeitete er als Parlamentsreferent und Pressesprecher eines Abgeordneten in der Bremischen Bürgerschaft. Marie Popp promoviert an der Universität Bremen im Fach Politikwissenschaft zum Thema »Wandel von Bildungspolitik durch Internationalisierung«. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Wirksamkeit von Soft Governance am Beispiel des Einflusses der OECD auf die nationalen Bildungspolitiken im spanischen Sprachraum. An der Universität Hamburg hat sie die Fächer Spanisch, Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaft studiert. Seit Anfang 2009 ist Popp als assoziiertes Mitglied in das Forschungsprojekt »Internationalisierung von Bildungspolitik« eingebunden. Janna Teltemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für empirische und angewandte Soziologie (EMPAS) an der Universität Bremen und assoziiertes Mitglied im Forschungsprojekt »Internationalisierung von Bildungspolitik«. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Bereiche Migration und Integration, Bildungspolitik und Stadtforschung. Teltemann studierte Soziologie an der Universität Bremen und promoviert zu institutionellen Einflussfaktoren auf die PISA-Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund.