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Hans-Josef Klauck . Der erste Johannesbrief
EKK Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Herausgegeben von Norbert Brox, Rudolf Schnackenburg, Eduard Schweizer und Ulrich Wilckens in Verbindung mit Otto Böcher, Fran~ois Bovon, Gerhard Dautzenberg, Joachim Gnilka, Erich Gräßer, Martin Hengel, Paul Hoffmann, Traugott Holtz, Hans-Josef Klauck, Ulrich Luck, Ulrich Luz, Helmut Merklein, Rudolf Pesch, Jürgen Roloff, Wolfgang Schrage, Peter Stuhlmacher, Wolfgang Trilling, Anton Vögtle, Samuel Vollenweider, Hans Weder und Alfons Weiser
Band XXIIVl Hans-Josef Klauck Der erste Johannesbrief
Benziger Verlag Neukirchener Verlag
Hans-Josef Klauck Der erste Johannesbrief
Benziger Verlag N eukirchener Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
EKK: evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament / hrsg. von Norbert Brox ... In Verbindung mit Otto Böcher ... - Zürich; Braunschweig: Benziger; NeukirchenVluyn: Neukirchener Verl. Früher hrsg. von Josef Blank t NE: Brox, Norbert [Hrsg.]; Blank, Josef [Hrsg.]; EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. XXIII). Klauck, Hans-Josef: Der erste Johannesbrief. - 1991
Klauck, Hans-Josef: Der erste Johannesbrief / Hans-Josef Klauck - Zürich; Braunschweig: Benziger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl., 1991 (EKK; Bd. XXIII,1) ISBN 3-545-23122-4 (Benziger) ISBN 3-7887-1377-1 (Neukirchener Ver!.)
© 1991 by Benziger Verlag AG, Zürich und Braunschweig und Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Atelier Blumenstein + Plancherel, Zürich Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG ISBN 3-545-23122-4 (Benziger Verlag) ISBN 3-7887-1377-1 (Neukirchener Verlag)
Josef Blank (1926-1989)
IN MEMORIAM
Vorwort
»... vielmehr, hoffe ich, werden die Leser ... die theologische Art meiner Arbeit darin erkennen, daß ... nicht allein die Form der apostolischen Worte erläutert, sondern auch der Gedankengehalt soweit entwickelt ist, als dies in einem Commentar geschehen darf, welcher ein Commentar bleiben will, aber als solcher die Leser nicht bis unmittelbar vor die apostolischen Gedanken, sondern in dieselben hineinführen möchte. Gerade in dieser Absicht habe ich mich der strengsten und klarsten exegetischen Methode befleißigt. Ich wollte, daß der Leser die richtige Auslegung aus dem Texte gleichsam hervorwachsen sehn und sich an dem reichen Leben der apostolischen Gedanken weiden sollte.« (F. Düsterdieck, Die drei johanneischen Briefe. Bd. I, Göttingen 1852, III-IV)
Das Motto stammt aus einem der mit 1050 Seiten in zwei Bänden bislang massivsten Johannesbriefkommentare der Auslegungsgeschichte, einem Werk von bleibendem Wert. Ihm kann und will die im folgenden gebotene Erklärung vom Umfang her keine Konkurrenz machen. Den Benutzern bleibt das Urteil darüber anheimgestellt, ob es gelungen ist, die exegetische Arbeit für die theologische Aussage transparent werden zu lassen. Daß dieses Bemühen zur Exegese gehört, aber nicht auf Kosten der methodischen Strenge gehen darf, sondern intensives Bemühen um das Detail voraussetzt, hat Friedrich Düsterdieck ja in aller wünschenswerten Klarheit festgehalten. Mit Düsterdiecks Kompendium der Johannesbriefexegese von den Anfängen bis 1850 hat der vorliegende Kommentar das äußerliche Merkmal gemeinsam, daß er in zwei getrennten Teilen erscheint. Aber der Schnitt liegt nicht wie bei Düsterdieck zwischen 1Joh 2,28 und 2,29, vielmehr ist ein zweiter, schmaler Band den beiden kleinen Johannesbriefen vorbehalten, während der erste Band den gesamten ersten Johannesbrief behandelt. Die Aufteilung hat technische, aber auch inhaltliche Gründe. Es zeigte sich, daß die Auslegung von 2Joh und 3Joh einen ganz eigenen Weg nahm und besser gesondert dargeboten wird. Bei der Arbeit an den Johannesbriefen habe ich viel gelernt und mannigfache Hilfe erfahren. Für beides bin ich dankbar. Gern denke ich an die Gespräche im Kreis der Mitarbeiter des EKK zurück, an die freundschaftliche Atmosphäre, in der sie abliefen, an die Anregungen und Impulse, die sie für die Kommentararbeit immer wieder vermittelten, und an die theologische Gemeinschaft über Konfessionsgrenzen hinweg, die ein besonderes Geschenk
VIII
Vorwort
ist in einer Zeit sich verhärtender Fronten. Besonders möchte ich Rudolf Schnackenburg und Hans Weder hervorheben, die das Manuskript von der ersten bis zur letzten Seite mitgelesen haben und hilfreiche Ratschläge gaben. Wie immer hat sich meine Sekretärin, Frau Hannelore Ferner, um die Gestaltung des Typoskripts, das mehrere Phasen durchlief, große Verdienste erworben. Beim Korrekturenlesen unterstützte mich mein Assistent, Herr Dr. Bernhard Heininger. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön. Einer aus der Reihe der Mitarbeiter und Mitherausgeber des EKK, Josef Blank, hat uns allzu früh verlassen. Ich erinnere mich noch gut an einen begeisternden Vortrag von ihm über Amt und Priestertum nach dem Neuen Testament, den ich 1967 in meinem zweiten Studiensemester hörte. Damals konnte ich nicht ahnen, daß ich ihn einmal als liebenswerten Kollegen schätzen lernen sollte, erst recht nicht, daß die Zeit der gemeinsamen Arbeit so jäh wieder enden würde. Es ist mir ein Bedürfnis, diesen Band seinem Andenken zu widmen, in der Zuversicht, daß sich für ihn 1Joh 3,2 erfüllt hat. Würzburg, im November 1990
Hans-Josef Klauck
Inhalt
Vorwort
............................................
VI
Abkürzungen und Literatur ..............................
1
Einleitung ...........................................
13
Textüberlieferung .................................. Bezeugung und Kanonisierung. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . Sprache und Stil .................................. Literarkritik ...................................... Aufbau ......................................... Gattung ......................................... Abfassungsverhältnisse .............................. Gegnerfrage ...................................... Verfasserfrage .................................... Ort und Zeit .....................................
13 16 20 21 24 29 32 34 42 48
Kommentar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
A
Prolog: Vom Wort des Lebens (1,1-4)
53
B
Korpus: Einweisung in die Wirklichkeit der Liebe (1,5 - 5,12)
79
I 1 a b c 2 a b c 3
Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis (1,5 - 2,17) ...... Im Lichte leben (1,5 - 2,2) ........................... Gott ist Licht (1,5) ................................. Vergebung der Sünden (1,6-10) ....................... Jesus als Fürsprecher (2,1-2) .......................... Die Gebote halten (2,3-11) .......................... Kriterien der Erkenntnis (2,3-6) ....................... Das alte und neue Gebot (2,7-8) ...................... Bruderhaß und Bruderliebe (2,9-11) .................... Glaubensgewißheit und sittliche Verpflichtung (2,12-17) ....
79 79 80 85 100 110 111 120 124 129
x
Inhalt
a b
Hinwendung zum Leserkreis (2,12-14) .................. 130 Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17) .............. 136
II 1 a b c d e 2 a b c d 3 a b c d
Vor dem Anspruch der letzten Stunde (2,18 - 3,24) ........ Das Bekenntnis zum Sohn als Kriterium (2,18-27) ......... Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19) ..... Geistgewirktes Glaubenswissen (2,20-21) ................ Streit um das Taufbekenntnis (2,22-23) ................. Die anfängliche Glaubensüberlieferung (2,24-25) .......... Der einzige Lehrer (2,26-27) ......................... Heilserwartung und Sündlosigkeit der Gotteskinder (2,28 - 3,10) Wiederkunft Christi (2,28-29) ........................ Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3) ....... Sünde und Christuserkenntnis (3,4-6) .................. Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10) .................. Einübung des Liebesgebots (3,11-24) ................... Die Mitte der Botschaft (3,11-12) ..................... Einsatz des Lebens (3,13-17) ......................... Das Urteil des Herzens (3,18-22) ...................... Das eine Gebot (3,23-24) ............................
145 145 146 155 160 164 166 170 172 178 185 189 201 202 207 214 223
III 1 a b 2 a b c d e 3 a b c
Glaube und Liebe auf dem Prüfstand (4,1 - 5,12) .......... Wo sich die Geister scheiden (4,1-6) ................... Die Christologie als Testfall (4,1-3) .................... Erfolg und Mißerfolg als TestfaIl (4,4-6) ................. Das Hohelied der Liebe (4,7-21) ....................... Der Ursprung der Liebe (4,7-10) ...................... Die Antwort der Liebe (4,11-12) ...................... Die Erfahrung der Liebe (4,13-16) ..................... Die Zukunft der Liebe (4,17-18) ...................... Die Praxis der Liebe (4,19-21) ........................ Zeugnis für den Glauben (5,1-12) ..................... Der Sieg des Glaubens (5,1-5) ........................ Die drei Zeugen (5,6-8) ............................. Das Zeugnis Gottes (5,9-12) .........................
226 226 227 238 244 245 252 255 268 273 282 283 291 311
C
Epilog: Ewiges Leben (5,13-21)
1 2 a b c d
Briefschluß: Glaube und Leben (5,13) ................... Postskript: Mit Freimut und Zuversicht (5,14-21) .......... Gebetserhörung (5,14-15) ........................... Die Sünde zum Tode (5,16-17) ....................... Glaubenswissen (5,18-20) ............................ Schlußmahnung (5,21) ..............................
........................ 318 319 321 321 324 333 340
XI
Inhalt
Ausblick 1 2 3
349
Zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte ............... 349 1Joh im Gottesdienst ............................... 351 Theologische Gesichtspunkte ......................... 352
Exkurse 1 Die Wir-Form .................................... 2 Die Sprache der Immanenz .......................... 3 Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern .............. 4 Das Comma Johanneum ............................ 5 Frühkatholizismus im 1Joh? ..........................
73 264 277 303 344
Register ............................................. 355 Stellenregister (in Auswahl) .............................. 357 Sachregister .......................................... 361
Abkürzungen und Literatur
Abkürzungen 1 Für Zeitschriften, Reihen, Sammelwerke etc.: S. Schwermer, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 1976 = Theologische Realenzyklopädie (TRE). Abkürzungsverzeichnis (mit Nachträgen). 2 Biblische Bücher nach den Loccumer Richtlinien (Stuttgart 21981). Für atl. und ntl. Apokryphen, Philo, Josephus, Qumran, Rabbinen: Abkürzungsverzeichnis der TRE, S. XV/XVI. 3 Für antike Literatur und Hilfsmittel (also auch für Deißmann LO; Moult-Mill etc.), soweit vorhanden: ThWNT X 53-85. 4 Für die Kirchenväter gilt: Abkürzung der Titel nach dem ThWNT. Die jeweiligen Editionen werden durch Reihentitel etc. in Klammern ausgewiesen, wenn im ThWNT eine entsprechende Angabe fehlt.
5 Zusätzliche Abkürzungen für antike Literatur: JosAs NHC
Joseph und Aseneth, Text nach C. Burchard, DBAT Nr. 14 (1979) 2-53; übers.: ders., JSHRZ ll/4 Nag Hammadi Codex; die Sigel für die einzelnen Traktate nach KW. Tröger (Hrsg.), Altes Testament - Frühjudentum - Gnosis, Gütersloh 1980, 16-18
6 Zusätzliche Abkürzungen für Zeitschriften und Reihen etc.: Bauer-Aland WB
BbETh Bl-Debr-Rehkopf
EWNT JStNT(.S) Neot NHSt ÖTK
W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hrsg. K. und B. Aland, Berlin 61988 Beiträge zur biblischen Exegese und Theologie, Frankfurt a.M. F. Blass - A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. von F. Rehkopf, Göttingen 141976 Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Bd. 1-3, Stuttgart 1980-1983 Journal for the Study of the New Testament (Supplement Series), Sheffield 1978ff Neotestamentica, Pretoria 1967ff Nag Hammadi Studies, Leiden Ökumenischer Taschenbuchkommentar, Gütersloh-Würzburg
2
Abkürzungen und Literatur
Semeia/Semeia.S SNTUNB
7
Semeia/Semeia Supplements, Missoula 1974ff Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Reihe AI Reihe B, Linz 1976ff bzw. 1978ff
Zitationsweise:
Kommentare zu den Johannesbriefen werden nur mit Verfassernamen und Seitenzahl zitiert. Spezialliteratur zu einzelnen Perikopen und Abschnitten erscheint in den Anmerkungen mit Namen des Autors und Sternchen (*). Wo Kurztitel verwendet werden (z.B. Buhmann, Analyse 116~, finden sich die genauen Angaben im Literaturverzeichnis unter 3. und 4. Der Hinweis s.o./s.u. Anm.10 (ohne Seitenzahl) bezieht sich immer auf eine Anmerkung im gleichen Abschnitt.
II
Literaturverzeichnis
1
Kommentare bis 1800
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Kommentare bis 1800
3
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4
Abkürzungen und Literatur
{Strabo, Walafrid, (12. Jh.),] Glossa ordinaria: Epistola I B. Joannis, PL 114, 693-704. Theophylact(t um 1108), Expositio in Epistolam I S. Joannis, PG 126, 9-84 (abhängig von Ps.-Oecumenius, s.o.). 2
Kommentare ab 1800
Alexander, Neil, The Epistles of John, 1962 (TBC). Alexander, w., The Epistl~s of St. John. Twenty-one Discourses With Greek Text, Comparative Versions, and Notes Chiefly Exegetical, New York 1901. Asmussen, H, Wahrheit und Liebe. Eine Einführung in die Johannesbriefe, 31957 (UCB 22). Balz, H, Die Johannesbriefe, in: H. Balz I W. Schrage, Die »Katholischen« Briefe, 11/11973 (NTD 10), 150-216. Barker, C]., The Johannine Epistles, London 1948 (A Lutterworth Commentary). Baumgarten, 0., Die Johannes-Briefe, in: SNT 4,31920, 185-228. Belser, J.E., Die Briefe des heiligen Johannes, Freiburg 1906. Bisping, A, Die drei Briefe Johannis, in: ders., Erklärung der sieben katholischen Briefe, Münster 1871 (Exegetisches Handbuch zum NT 8), 275-394. Bonnard, P., Les Epitres johanniques, 1983 (CNT[N] Be). Bonsirven, ]., Epitres de Saint Jean, 21954 (VSal 9). Boor, W. de, Die Briefe des Johannes, Wuppertal1974 (Wuppertaler Studienbibel). Braun, F.M., Les Epitres de Saint Jean, in: D. Mollat I F.M. Braun, L'Evangile et les Epitres de Saint Jean, 1953 (SBm), 199-241. Braune, K, Die drei Briefe des Apostels Johannes, 1865 (THBW 15). Brooke, AE., A Critical and Exegetical Commentary on the Johannine Epistles, 1912, Repr. 1980 (ICC). . Brown, RE., The Epistles of John, 1982 (AncB 30). Bruce, F.F., The Epistles of John, London 1970. Brückner, B., Die Briefe Johannis, 51863, 346-418 (Bearbeitung von -+ de Wette, s. dort). . Büchsei, F., Die Johannesbriefe, 1933 (ThHK i7). Bultmann, R, Die drei Johannesbriefe, 8/21969 (KEK 14). Calmes, T., Premiere Epitre de Jean, in: ders., Epitres Catholiques. Apocalypse, Paris 1907, 86-92. Camerlynck, A, Epistola I S. Ioannis, in: ders., Commentarius in Epistolas Catholicas, Brügge 51909 (Commentarii Brugenses in S. Scripturam), 176-238. Candlish, RS., First Epistle of John, Edinburgh 31877, Repr. Grand Rapids 1979. Chaine, J., Premiere Epitre de Saint Jean, in: ders., Les Epitres Catholiques, 21939 (EtB), 97-240. Charue, A, Les Epitres de S. Jean, in: SB(pC) 12, 31951, 503-564. Culpepper, RA., 1 John, 2 John, 3 John, Atlanta 1985 (Knox Preaching Guides). De Ambroggi, P., Le tre Epistole di Giovanni, in: ders., Le EpistoJe Cattoliche, 21949 (SB[T] XIV/l), 203-289. Delebecque, E., Epitres de Jean, 1988 (CRB 25). Dodd, CH, The Johannine Epistles, 1946 (MNTC). Düsterdieck, F., Die drei johanneischen Briefe. Bd. I-II/l.2, Göttingen 1852, 1854, 1856.
Kommentare ab 1800
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6
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Einleitung
1
Textüberlieferung
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Vgl. Grunewald* 9f. Grunewald* 25f. Thiele*, VL 2611, 12*.
14
Einleitung
Majuskeln, darunter K, L, P, 'P, 048, 0494 , auch solche mit wertvollem Text wie 331241124317395, schließlich noch Kirchenväterzitate und Lektionare mit byzantinischem Text. Alte Über- Von den alten Übersetzungen ist die altlateinische in ihren verschiedenen setzungen Stadien durch die Arbeiten von Thiele* gut erforscht und durch seine große Ausgabe in der Beuroner Vetus Latina auch umfassend dokumentiert. Er stößt bis zu einer alten, vor allem durch Cyprian von Karthago um die Mitte des 3. Jahrhunderts vertretenen Textform vor. Die Vulgata der Katholischen Briefe erklärt er als Revision der altlateinischen Übersetzung, die an eine in etwa dem Text des Alexandrinus entsprechende griechische Vorlage angeglichen wurde. Vorgenommen hat diese Überarbeitung möglicherweise Rufinus, ein Schüler des Hieronymus, in Rom6. Die alte syrische Übersetzung hat die Katholischen Briefe noch überhaupt nicht erfaßt. Erst in der Peschitta, der syrischen »Vulgata« vom Anfang des 5. Jahrhunderts, tritt mit 1Petr und Jak auch 1Joh hinzu? Im Koptischen ist eine Übersetzung der Katholischen Briefe ins Sahidische für das 4. Jahrhundert zu vermuten, die übrigen Sprachbereiche folgen 8. Zur Text- Mit dieser Bezeugung steht der Text des 1Joh auf einer breiten und sicheren kritik Basis, auch wenn diese naturgemäß nicht mit der qualitativ und quantitativ umfassenderen Bezeugung der Evangelien und der Paulusbriefe zu vergleichen ist. Die Katholischen Briefe brauchten teils länger bis zu ihrer endgültigen Rezeption. Sie wurden weniger gelesen, innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes, und entsprechend weniger benötigt. Für 1Joh hat die schwächere Benutzungsfrequenz als positive Folge eine geringere Fehlerquote mit verhältnismäßig wenigen echten textkritischen Problemen (zu 1Joh 4,2 s. den Kommentar). Die Mehrzahl der Varianten bewegt sich innerhalb einer bestimmten Bandbreite: Relativ häufig werden »ihN, »euch« und »wir«, »uns« ausgetauscht oder ergänzt; öfter wird »Christus« oder »Gott« eingefügt; die Zeitstufen von Verben ändern sich, ebenso die Anredeformen; Konjunktionen, Präpositionen, Artikel und Partikel werden variiert (s. im einzelnen die textkritischen Anmerkungen zur Übersetzung). In geringerem Umfang kommt es auch zu erkennbaren Neuinterpretationen, wenn Z.B. das ungebräuchliche XQLOIlU in 2,27 durch das aus Paulus bekannte xaQLollu ersetzt Eine Vollkollation aller Majuskeln anhand einer Leitzeile, die zur Einordnung der Papyrusfragrnente dient, führt Grunewald* durch. S Weitere verzeichnet Richards* 17-19. 6 Vg!. W. Thiele, Probleme der Versio Latina in den Katholischen Briefen, in: Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare, hrsg. K. Aland, 1972 (ANTI 5), 93-119, hier 117. 4
7 S. jetzt die Ed. von B. Aland in Verbindung mit A. Jucke!, Das Neue Testament in syrischer Überlieferung. I. Die großen Katholischen Briefe, 1986 (ANTI 7), 218-256. B Vg!. vorerst K. Schüssler, Epistularum Catholicarum Versio Sahidica, Diss. phi!., Münster 1969; G. Mink, Die koptischen Versionen des Neuen Testaments, in: Die alten Übersetzungen (s.o. Anm. 6) 160-299.
Textüberlieferung
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wird oder die schwierige Wendung 6 YEWI']{tE(~ (»der Gezeugte«) in 5,18 durch f] YEVVY)m~ (»die Zeugung«). Zu den auffälligen Phänomenen zählt auch eine Reihe von längeren Zusätzen, fast immer am Vers- und Satzschluß und vorwiegend in der lateinischen Textüberlieferung belegt9. Sie entpuppen sich in der Regel als dogmatisierende Fortspinnungen der Textvorlage, gestaltet z.T. im Rückgriff auf andere, benachbarte (vgl. zu 2,26 v.l. nur 2,20) oder weiter entfernte johanneische Texte (vgl. zu 5,9 v.l. etwa 1Joh 1,1-3; 4,14). Die prominenteste längere Glosse dieser Art ist zweifellos das Comma Johanneum bei 1Joh 5,7-8 (s. Exkurs 4). Ob sich die gängigen Texttypen, die zur Hauptsache anhand der Evangelien entwik- Texttypen kelt wurden, auch auf 1Joh übertragen lassen, steht nicht ohne weiteres fest. Der Versuch, die Minuskel 1243 für den Caesarea-Text in den Katholischen Briefen zu reklamieren10, hat nachhaltige Kritik erfahren11. Über eine westliche Textform - für die D ausfällt, s.o. - wird weiter diskutiert12. Eine folgenreiche überschätzung von Sonderlesarten der Vulgata als Zeugen für den ältesten griechischen Text13 hat der Kritik nicht standhalten können. Eine statistisch abgesicherte Gruppierung auf der Basis von 81 ausgewählten Manuskripten hat Richards" unternommen. Er unterscheidet für 1Joh zwischen alexandrinischem Text mit drei Untergruppen, byzantinischem Text mit sieben oder acht Untergruppen und einem Mischtext mit drei Untergruppen. Gerade in einem wirkungsgeschichtlich orientierten Kommentar erschöpft Textsich der Sinn der Beschäftigung mit der Textkritik nicht in der methodischen geschichte Absicherung der ältesten Textform. Erhöhte Bedeutung gewinnt der Einblick in die Textgeschichte, die ein Stück weit immer schon Auslegungsgeschichte der Schrift und damit Kirchengeschichte und Theologiegeschichte ist. Auch textkritisch sekundäre Lesarten markieren oft wichtige Stationen der Wirkungsgeschichte des biblischen Textes. Diesem Aspekt werden wir von Fall zu Fall besondere Aufmerksamkeit schenken. An der Schnittstelle zwischen Textgeschichte und Auslegungsgeschichte steht auch Epistola ad der Titel Epistula ad Parthos, der dem 1Joh in der Alten Kirche verschiedentlich beige- Parthos legt wurde 14. In ihrer schriftlichen Fassung haben die Homilien, die Augustinus 407 oder 415 zum 1Joh hielt, diese Bezeichnung in der überschrift. Das ist für uns der zeitlich früheste Beleg, dem sich einige weitere Väterzeugnisse anschließen, bis im 8. Jahrhundert Beda im Proömium seines Kommentars zu den Katholischen Briefen übertreibend feststellt: »Viele Kirchenschriftsteller, darunter Athanasius, das Haupt der Kirche Alexandriens, bezeugen, daß sein erster Brief [d.h. 1Joh] an die Parther geschrieben war« (181). Aufgrund der Autorität der lateinischen Tradition verstehen 9 So in 2,5.17.26; 5,9.20; ausführliche Bezeugung bei Thiele*, VL 26/1. 10 So Carder*. 11 Durch Aland*, Bemerkungen, und Richards* 202-206. 12 Vgl. Duplacy*.
So Harnack*; dagegen schon Belser*. Dazu A. Bludau, Die »Epistola ad Parthos«, ThGlll (1919) 223-236; Lücke 46-53; Brown 772-774; ausführlicher auch Klauck, Johannesbriefe (EdF) 37-40. 13
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Einleitung
spätere Ausleger die Angabe historisch: Der Brief sei für frühere Heiden bestimmt, wie man sie unter den Parthern, d.h. in Persien und Mesopotamien, findet. Entweder hat der Apostel Johannes dort selbst missioniert, oder es wurden Anfragen aus dem Osten an den letzten Überlebenden der Apostelgeneration gerichtet15• Andere brachten die persische Adresse mit dem Briefinhalt zusammen: Die ausgeprägte Metaphorik von Licht und Finsternis und die Auseinandersetzung mit gnostischem Dualismus gehe auf die besonderen Bedürfnisse einer in Persien beheimateten Gemeinde ein16. Einige lateinische Handschriften haben die Designierung ad Parthos aufgegriffen17. Bemerkenswert erscheint, daß zwei griechische Minuskeln (459 325) den zweiten /0hannesbrief mit der Zielangabe :71{)O~ :n:aQt}olJ~ versehen. Wie es eigentlich zu dieser sicher sekundären Adressierung »an die Parther« kam, hat bis heute keine rundum befriedigende Antwort gefunden. Am aussichtsreichsten dürfte es sein, eine Beziehung zwischen IIUQt}olJ~ und :n:aQt}EvolJ~ anzunehmen. Zunächst wurde 2Joh von späterer Hand als ein Schreiben :n:Qo~ (toil~) :n:aQt}EVOlJ~, »an die Jungfrauen«, charakterisiert. Den Anlaß dazu gab die adscriptio in 2Joh 1: »an eine auserwählte Herrin und ihre Kinder«, die auch noch zur Assoziierung von 1Petr 5,13: »Es grüßt euch die Mitauserwählte in Babyion« einlud. Die Kombination von ad virgines und ad quandam Babylonicam, >Eclectam< nomine bezeugt Clemens von Alexandrien in einer Notiz zu 2Joh 118 . Zu den Parthern führt nun gleich eine doppelte Spur, von der Angabe »Babyion«, wörtlich verstanden, aus und von einem falsch gelesenen oder gehörten :n:Qo~ :n:aQt}EvOlJ~. Weil jetzt scheinbar sinnlos, wurde :n:Qo~ IIUQt}olJ~ von 2Joh abgelöst und auf 1Joh übertragen, was rein technisch auch dadurch zustande kommen konnte, daß man eine Überschrift zu 2Joh als subscriptio zu 1Joh auffaßte. Für 1Joh suchte man »an die Parther« dann als geographische Angabe zu interpretieren.
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Bezeugung und Kanonisierung
Literatur: Bludau, A., Die ersten Gegner der Johannesschriften, 1925 (BSt[F] 22/1-2); Campenhausen, H. von, Die Entstehung der christlichen Bibel, 1968 (BHTh 39); Dietze, P., Die Briefe des Ignatius und das Johannesevangelium, ThStKr 78 (1905) 563603; Hengel, Question 1-23; Klauck, Johannesbriefe (EdF) 17-25; Leipoldt, /., Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 1. Die Entstehung, Leipzig 1907; Loewenich, Johannes-Verständnis; Metzger, B.M., The Canon of the New Testament: Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987; Preuschen, E., Analeeta. Kürzere Texte zur Geschichte der Alten Kirche und des Kanons. 11. Zur Kanonsgeschichte, 21910 (SQS 8/2); Sand, A., Kanon. Von den Anfängen bis zum Fragmentum Muratorianum, 1974 (HDG I13a[1]); Siker, /.5., The Canonical Status of the Catholic Epistles in the Syriac New Testament, JThS NS 38 (1987) 311-329; Staab, Katenenkommentare; Zahn, T., Geschichte des Neutestamentlichen Kanons. Bd. I11.2 - III1.2, ErlangenLeipzig 1888-1892.
Vgl. nur Estius 658f; a Lapide 502. Paulus 80-83. 17 Belege - auch alternative Vorschläge _ bei Thiele, VL 26/1, 241.381. 15
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215,3-5 GCS 172; dazu mit etwasanderem Lösungsansatz T. Zahn, Supplementum Clementinum, 1884 (FGNK 3),100-103.
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Bezeugung
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Es gibt drei verhältnismäßig sichere Zeugnisse, die den Schluß erlauben, daß Bezeugung spätestens um 150 n.Chr., wahrscheinlich schon etwas früher, der erste Johannesbrief bekannt war und benutzt wurde: (1) Polykarp von Smyrna, der um diese Zeit (156 oder 167) den Martertod erleidet, schreibt an die Gemeinde in Philippi: »Denn jeder, der nicht bekennt, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist ein Antichrist« (Polyk 7,1). Das hat er aus 1Joh 4,2-3, vielleicht im Verein mit 2Joh 719 , aber letzteres muß nicht unbedingt sein. An einer literarischen Beziehung wird man jedoch festhalten, die These von einem unabhängigen Rückgriff auf ein bekanntes Schlagwort aus der mündlichen Tradition genügt zur Erklärung nicht. (2) Zwischen 150 und 160 bemerkt der Apologet Justin in seinem Dialog mit Trypho: »... so werden auch wir von dem her, der uns auf Gott hin gezeugt hat, nämlich Christus, Kinder Gottes genannt, und wir sind es« (123,9), wozu vor allem 1Joh 3,1-2 zu vergleichen ist. Mögliche weitere Anspielungen in Apol32,7f gewinne~ dadurch an Relevanz. (3) Eusebius berichtet, Papias habe sich auch »auf Zeugnisse aus dem ersten Johannesbrief« berufen (Bist Eccl III 39,17). Die Datierungsvorschläge für Papias reichen von ca. 100/110 bis 140. Als weitere leichte Unsicherheit bleibt die Brechung dieser Angabe durch das Referat des Eusebius zu bedenken. Was sonst noch an frühen Texten beigebracht wird, hat durchweg keine Beweiskraft. Die vermeintlichen Anspielungen beschränken sich auf einen Begriff und wenige Worte, für die gegebenenfalls auch ein gemeinsamer Traditionshintergrund Pate gestanden haben könnte. Das gilt für Did 10,5f; 11,7; lClem 27,1; 49,1.5; 50,3; 60,1; 2Clem 3,1; 6,9; IgnEph 11,1; 15,3; 18,2; Sm 7,1 2°; Herrn mand III 1; IX 5,7; XII 3,4f; 6,2; sim IX 24,4; vis 11,8 und Barn 5,9-11; 12,10; 14,5. Andere Testimonien wie der Diognetbrief (vgl. 10,2f; 11,4) sind in ihrer Datierung selbst so umstritten, daß sie wenig hergeben. Eher scheint dann schon die Aufnahme des Briefprologs IJoh 1,1-4 in EpAp 2 (Näheres s.u. im Kommentar zu IJoh 1,1) einschlägig, wenn sich die Datierung der Epistula Apostolorum auf 150 ca. bewährt.
Um 180 betreten wir mit Irenäus, dem aus Kleinasien stammenden Bischof von Lyon, endgültig festen Boden. Irenäus bringt ausführliche, wörtliche und kenntlich gemachte Zitate aus 1Joh 2,18-22 (in Haer III 16,5) und 1Joh 4,1-3; 5,1 (in Haer III 16,8), daneben evtl. noch Reminiszenzen an 1Joh 4,6 (in Haer I 9,5) und an 1Joh 1,1-4 (in Haer V 1,1). Weitere Beispiele für die frühe Wirkungsgeschichte des 1Joh bei Tertullian, Cyprian, Clemens von Alexandrien, Origenes und in gnostischen Texten verzeichnet im folgenden zu ausgewählten Perikopen der Kommentar.
So Harnack, Textkritik 558; anders (nur freie Paraphrase von IJoh 4,2-3) Metzger* 61f. 20 Vgl. dazu Loewenich* 34f, gegen Dietze*
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595f. Ausführlichere Dokumentation zu allen genannten und einigen weiteren Stellen bei Klauck* 19-21.
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Einleitung
Kanoni- Benutzung bedeutet im 2. Jahrhundert noch nicht automatisch Kanonisiesierung rung. Bei Irenäus z.B. bleibt eine Rangabstufung bestehen. Die Katholischen Briefe dienen bei ihm noch »nicht dazu, den Chor der ursprünglichen Zeugen zu verstärken«; sie »haben offenbar noch nicht eine so allgemeine Anerkennung und Bedeutung gewonnen, daß sie in der Auseinandersetzung mit den Ketzern als unwidersprechliche, >kanonische< Autorität eingesetzt werden könnten«21. Für die Kanonfrage spielen Gesichtspunkte wie katalogartige Auflistung, Exklusivität, Geschlossenheit, Gleichrangigkeit mit dem AT, Abgrenzungen gegenüber anderen literarischen Erzeugnissen eine besondere Rolle. Aber auch in dieser Hinsicht werden wir für den 1Joh sehr bald fündig. Als ältestes Kanonsverzeichnis gilt der Canon Muratori. Ihm liegt ein griechisches Original zugrunde, das um 200 in Rom entstanden sein dürfte (nach einem weniger wahrscheinlichen Alternativvorschlag erst um 400 im Osten). Bei seinen Ausführungen über das Johannesevangelium geht der Canon Muratori zur Bestätigung von dessen Echtheit in Z. 26-34 auf den ersten Johannesbrief ein und bringt als Beispiel ein verkürztes und freies Zitat aus 1Joh 1,1-4: »Was Wunder also, wenn Johannes, so sich gleichbleibend, das einzelne auch in seinen Briefen vorbringt, wo er von sich selbst sagt: >Was wir gesehen haben mit unseren Augen und mit den Ohren gehört haben und unsere Hände betastet haben, das haben wir euch geschrieben<. Denn damit bekennt er (sich) nicht nur als Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch als Schriftsteller aller Wunder des Herrn der Reihe nach.«22 Zu den treibenden Kräften bei der Kanonbildung gehören bekanntlich die Abgrenzungsbestrebungen gegenüber Marcion, der nur Lukas und Paulus in purgierter Fassung akzeptierte, und gegenüber den Montanisten. In dem Zusammenhang ist für uns aufschlußreich, daß ein führender Montanist der zweiten Generation namens Themison »in Nachahmung des Apostels einen Katholischen Brief (xaitOI..LxTjv btLO"tOI..TJV) zu verfassen« wagte 23 . Welcher Apostel das war, ob Paulus, ob Petrus oder ob Johannes, ist kaum zu entscheiden. »Katholische Briefe« als Epitheton für eine bestimmte Schriftengruppe, die zunächst nur Jak, 1Petr und 1Joh umfaßt, ist damit um ca. 200 belegt. Der Osten scheint mit dem Begriff »katholisch« mehr die Adressierung an die universale Kirche, der Westen eher die universale Akzeptanz eines Briefes verbunden zu haben. Beides stimmt in der Sache schon bei dem kleinen Kanon der drei Katholischen Briefe nicht ganz, wenn wir an die schwankende Stellung des Jakobusbriefs oder an die konkretere Adressierung des ersten
Campenhausen" 227. Text bei Zahn" n 6· Preuschen" 28f· noch Sand" 60~ Übers. nach NTApo 5 I 28; 63. 23 Eusebius, Hist Eccl V 18,5. 21
22
;gl.
19
Kanonisierung
Petrusbriefs denken; erst recht kommen wir damit angesichts der späteren Sammlung von sieben Katholischen Briefen in Schwierigkeiten. Auch die antimontanistische Reaktion kennt ihre Extreme. Sie hat in Gestalt des römischen Presbyters Gaius und der schwer faßbaren Gruppe der »Aloger« das Johannesevangelium und die Johannesapokalypse abgelehnt, teils sogar den als Erzketzer verschrienen Kerinth zu ihrem Autor erklärt. Ob davon auch der erste Johannesbrief betroffen war oder ob er im Gegenteil ausdrücklich verschont wurde, geht aus den Texten nicht eindeutig hervor und ist auch in der Forschung umstritten. Im Mittelpunkt der Kontroverse hat 1Joh jedenfalls nicht gestanden 24 . Origenes (bei Eusebius, Hist Ecd VI 25,10) hat den 1Joh als kanonisch akzeptiert, und auch Eusebius selbst rechnet in seiner Kanonsliste 1Joh zur Gruppe der völlig unbestrittenen Schriften (ebd. III 25,2). Einen Sonderweg ging die syrische Kirche 25 , die anfangs keinen der Katholischen Briefe kannte, dann aber zu Beginn des 5. Jahrhunderts die drei großen Briefe Jak, 1Petr und 1Joh in die maßgeblich gewordene Übersetzung der Peschitta aufnahm (s.o.) und damit im wesentlichen auch kanonisierte. Leise Zweifel an diesen dreien werden ab und zu dennoch laut 26 . Ansonsten gab es hinsichtlich des 1Joh im Osten wie im Westen schon vom 3. Jahrhundert an keine nennenswerten Widerstände. Er fehlt in keiner der gängigen Kanonslisten und geht in die Definierung des bis heute gebräuchlichen Kanons durch die Synoden von Hippo Regius 393 und Karthago 397/419 für Nordafrika und durch den 39. Osterfestbrief des Athanasius von 367 für Ägypten ein. So kann Augustinus in seinem Kommentar das Argument verwenden: canonica est ista Epistola; per om-
nes gentes recitatur, orbis terrae auctoritate retinetur (322). Ein Wort noch zur äußeren Anordnung der Katholischen Briefe mit dem 1Joh27• Anordnung Während der Canon Muratori die für uns gewohnte Reihenfolge Evangelien, Apostelgeschichte, Paulusbriefe, Katholische Briefe und Offenbarung vertritt, dokumentieren nahezu alle griechischen Bibelhandschriften eine andere Praxis, bei der die Katholischen Briefe zwischen der Apostelgeschichte und dem Corpus Paulinum stehen. Das kann an Gal2,9 abgelesen sein28: Die drei »Säulenapostel« Jakobus, Kephas und Johannes stehen mit ihren Schriften vor Paulus, dem »Geringsten der Apostel« (lKor 15,9). Auch die interne Abfolge Jakobusbrief, Petrusbriefe und Johannesbriefe ist mit Gal2,9 auffällig kongruent. Öfter tauchen daneben die Petrusbriefe und gelegentlich die Johannesbriefe in erster Position auf. Die kirchenpolitische Vorrangstellung des Petrus, aber auch die größere Gesamtlänge der beiden Petrusbriefe oder im letztgenannten Fall die sonst nicht mehr erreichte Dreizahl von Briefen eines Verfassers haben dabei mitgespielt.
Vgl. Bludau* 129-131. Dazu siker*. 26 Belegt bei Metzger* 220; s. auch ebd. 215 zu Theodor von Mopsuestia (gest. 428), der durchaus noch an dem älteren syrischen 24
25
Schriften bestand ohne die drei großen Katholischen Briefe festgehalten haben könnte. 27 Nach Zahn* I 375-383. 28 Metzger* 296.
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3
Einleitung
Sprache und Stil
Literatur: Beyer, K, Semitische Syntax im Neuen Testament. Bd. 1: Satzlehre Teil 1, 21968 (StUNT 1); Dodd, Epistle; Hering, Aramaismes; Higgins, AI.B., The Words ofJesus According to St. John, BJRL 49 (1966/67) 363-386, hier 373f; lohnson, Antitheses; Schlatter, A, Die Sprache und Heimat des vierten Evangelisten (1902), in: Johannes und sein Evangelium, hrsg. K.H. Rengstorf, 1973 (WdF 82), 28-201, hier 165-172; Sa10m, AP., Some Aspects of the Grammatical Style of I John, JBL 74 (1955) 96-102; Turner, N., The Style of the Johannine Epistles, in: J.H. Moulton, Grammar of New Testament Greek. Bd. 4, Edinburgh 1976, 132-138.
Merkmale Charakteristika der johanneischen Sprache, die in besonderer Weise den 1Joh prägen, sind: Parataxe, Asyndeton, Parallelismus und Antithese 29 • 1Joh kommt in der Regel mit kurzen Sätzen aus, die mit xaL aneinandergereiht werden oder unverbunden nebeneinanderstehen. Der Einsatz von Partizipien beschränkt sich auf einfachste Formen wie die Umschreibung von Relativsätzen durch 6 "AEyoov (2,4a) oder Jtä<; 6 JtOlWV (3,lOb). An Nebensätzen ersten Grades finden sich Relativsätze und Sätze mit ÖLt, EL, tuv, w<;, xa{}w<;, ö,;av und Lva30 . Typische Sprachgebilde sind Definitionssätze (eingeleitet mit »dies ist«), Erkenntnissätze (eingeleitet mit »daran erkennen wir, daß wir ...«) und sogenannte Kennzeichensätze 31 wie 2,4 oder 2,9. Allumfassend ist die Neigung zu Wiederholungen unterschiedlichen Ausmaßes, oft in der Form von synonymen oder antithetischen Parallelismen mit geringfügigen Verschiebungen und Steigerungen in der zweiten Hälfte 32. Die antithetische Gedankenführung hält sich auch auf der Wortebene durch, wo starke Kontraste an der Tagesordnung sind: Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß, Gerechtigkeit und Sünde, Bekennen und Leugnen ... Der Vokabelbestand ist sehr begrenzt, wenige Leitworte werden immer und immer wieder verwendet. An neutestamentlichen Sondervokabeln kommen vor: aYYEALa, avtLXQLO'tO<;, lAaollO<;, VLxll und XQlolla. Mehrfach wird die figura etymologica eingesetzt, z.B. in 2,25: »Die Verheißung, die er selbst verheißen hat«. Stichwortverbindungen über mehrere Verse und selbst größere Abschnitte hinweg sind beliebt. Trotz der erstaunlichen Simplizität der Sprache verhält es sich doch nicht so, als ob sie völlig kunstlos sei (s. im Kommentar zu 2,12-14) und als ob es keine ernsthaften grammatischen Probleme gäbe. Notorisch unpräzise fällt der Umgang mit den Pronomina aus. Deshalb gibt die Entscheidung darüber, ob sich eine Form von aiJ1:o<; auf Gott oder auf Christus bezieht, mehr als einmal kaum zu lösende Rätsel auf. Bei den Erkenntnissätzen liegt nicht immer auf
Dodd* 130. Übersicht bei Turner* 134f. 31 Nach K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 186. 29
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32 Dazu Johnson * 34-82, der diese kontrastierende Darstellungweise in 24 Kategorien klassifiziert.
Sprache und Stil
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der Hand, ob das einleitende Ev tomep auf das, was folgt, verweist oder auf das Voranstehende oder auf beides zugleich. Einige der grammatischen Schwierigkeiten möchte Hering'" als Aramaismen erklä- Aramaismen? ren. Er setzt dafür das indeklinable Relativum' im Aramäischen, das im Griechischen verschiedentlich unglücklich wiedergegeben sei, als Universalwaffe ein. Seine Ausführungen verdienen durchweg kein Vertrauen. Weitere syntaktische Merkmale, die ins Feld geführt werden, sind die häufigen 3tä~ o-Konstruktionen, die auf 7::1 mit dem Partizip zurückgehen sollen, die Reihung mit KUL, entsprechend einem " das Asyndeton und die Parataxe bei logischer Hypotaxe. Beyer* 216f eruiert nur einen einzigen echten syntaktischen Hebraismus in 5,18, aber das hängt von der dort gewählten übersetzung ab und bleibt somit zweifelhaft (s. im Kommentar z.St.). Was Beyer'" sonst noch im Bereich der Parataxe, des konditionalen Partizips und des konditionalen Relativsatzes auflistet, versieht er selbst mit einem mittleren oder geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad, und er konstatiert daneben echte Gräzismen (208f z.B.). Sein Ergebnis: Trotz eines starken semitischen Einflusses kann bei 1Joh »von direkter übersetzung eines semitischen Originals nicht die Rede sein« (297). Die Stärke des semitischen Einflusses auf die Syntax wäre sicher noch einmal genauer zu hinterfragen. Aussichtsreicher erscheint die Suche nach Semitismen auf lexikalischem Gebiet, aber da geht sie bereits in die Erhellung des traditionsgeschichtlichen Horizontes unseres Schreibens über. Was allgemein an Semitismen oder noch präziser an Aramaismen reklamiert wird, kann uns kaum zu der Annahme veranlassen, der Verfasser sei kein »native speaker« des Koine-Griechisch gewesen. Einen jüdischen Hintergrund werden wir ihm dennoch ohne weiteres zugestehen. Die Eigenheiten dieser Sprache, ihr elementares Griechisch, ihre Redundanz, Altersstil? ihre Nachlässigkeiten, haben Anlaß zu der Überlegung gegeben, ob das nicht der typische Stil eines alten Mannes sei: »... the Epistles might have been the work of the Evangeüst in his old age when his powers had begun to fail«33; »as if it were the style of an old man«34. Dazu ist sicher die Frage gestattet, was früher war, die altkirchliche Tradition vom Apostel Johannes, der in hohem Alter seinen Brief schreibt, oder die Beobachtungen zum Text. Ob wir über eine adäquate Methode verfügen, um in griechischen Texten einen typischen Altersstil zu verifizieren, muß sehr bezweifelt werden35 .
4
Literarkritik
Literatur: Braun, Literar-Analyse; Büchsel, F., Zu den Johannesbriefen, ZNW 28 (1929) 235-241; Bultmann, Analyse; ders., Redaktion; Dobschütz, Studien; Hirsch, E., Studien zum vierten Evangelium (TextlLiterarkritiklEntstehungsgeschichte), 1936
Salom* 98. Turner" 135. 35 Rothe 3 stellt vor über einem Jahrhundert zu »dem angeblich greisenhaften Tone« 33 34
bereits fest: »denn diese prätendirte Altersschwäche desselben ist ein leeres Phantom der trägen Exegese«.
22
Einleitung
(BHTh 11), 170-179; Iones, Analysis 435-439; Muiioz Le6n, Origen; Nauck, Tradition; Olivier, A., La strophe sacn~e en St. Jean. Contribution ala critique textuelle de l' Apocalypse, du IVe Evangile et de la Ie tpitre, Paris 1939; O'Nei/l, Puzzle; Piper, I John; Skrinjar, A., De unitate epistolae 1J, VD 47 (1969) 83-95.
Quellen- Die literarische Einheitlichkeit des 1Joh ist von verschiedener Seite aus in theorien Frage gestellt worden. Als einer der ersten arbeitete Dobschütz* aus dem Abschnitt 2,28 - 3,10 (s.u. im Kommentar) vier Zweizeiler heraus, die er als literarisch fixierten ältesten Kern des 1Joh ansah. Diese Spur nimmt Bultmann wieder auf, wenn er parallel zur Arbeit am Johannesevangelium in mehreren Etappen das dort entwickelte dreistufige Modell von gnostischer Offenbarungsrede als Quelle, Tätigkeit des Evangelisten und kirchlicher Redaktion auch auf 1Joh anwendet. Zur gnostisch ausgerichteten Vorlage des Briefautors, die in Form von antithetischen Doppelversen abgefaßt ist, gehören 36 : der Hauptbestand aus 1,5-10; 2,4-5.9-11, die vier Zweizeiler in 2,29; 3,4.610, dann in lockerer Folge 3,14.15.24(?); 4,7.8(?).12.16; 5,1.4; 4,5.6(?); 2,23; 5,10.12; 2Joh 9(?), vielleicht auch noch »die dunklen Verse« 3,18-2037 . Als Werk der kirchlichen Redaktion bestimmt Bultmann den Briefnachtrag 5,14-21, die eschatologischen Aussagen von 2,28; 3,2; 4,17 und die Sühnetheologie in 1,7de; 2,2; 4,10 38• In seinem Kommentar von 1967 bringt Bultmann noch einige Modifikationen an, ohne sie immer hinreichend klar zu kennzeichnen. Neu in den Status einer redaktionellen Glosse erhoben wird 5,7-9. Vor allem nimmt Bultmannjetzt an, daß 1Joh 1,5 - 2,27 ein selbständiges Schreiben oder der Entwurf eines solchen war, dem ab 2,28 ungeordnet weitere Materialien angehängt wurden 39 . Ohne weitere Begründung weist Hirsch einer späteren Hand zu: 1,2.10; 2,14-27; 3,13-17; 4,13-16a; 5,1-13 und die ersten vier Worte von 1,34 Braun akzeptiert mit wenigen Änderungen und Ergänzungen Bultmanns ersten Versuch, betont aber den genuin christlichen Charakter der Quelle anstelle ihrer vermeintlich dualistisch-gnostischen Herkunft und konstatiert in größerem Umfang Stilmischungen zwischen Vorlage und Endautor41 . Eine zweite ältere Schicht mit eschatologischer Ausrichtung rekonstruiert Preisker42 . Einen eigenen Weg schlägt Nauck ein. Das Besondere bei ihm: Der Verfasser der Vorlage und der Verfasser des 1Joh sind identisch. In zeitlichem Abstand kommentiert der Briefautor die früher von ihm selbst geschaffene Antithesenreihe 43 . Die Notwendigkeit, überhaupt literarkritisch zu unterscheiden, gerät bei diesem Modell mit erster Ausgabe und bearbeiteter Neuauflage aus einer Hand zunehmend ins Zwielicht. Nur schwach begründet O'Neill seinen Vorschlag: Die
°.
36 Vgl. die rekonstruierte Textfassung bei Bultmann', Analyse 121-123. 37 Ebd. 115f; zuversichtlicher in diesem Punkt H.w. Beyer, ThLZ 54 (1929) 612f. 38 Redaktion 381-393; in 4,10 ist entweder der ganze Vers redaktionell einschließlich des omw~ in 4,11 oder wenigstens 4,10d.
Vgl. Bultmann 11.83f. Vgl. Hirsch' 171. Lediglich eine Umstellung von einzelnen Versen in 1,3-10 nimmt Olivier' vor. 41 Braun' 215. 42 Bei Windisch 168-171. 43 Nauck* 67.125f. 39
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Literarkritik
Grundschrift sei eine Sammlung von zwölf isolierten hymnischen Mahnungen rein jüdischen Charakters und stamme aus einer sektiererischen jüdischen Randgruppe, der auch der Briefautor angehörte. Zusätzlich treibe noch ein Glossator sein Unwesen44 .
Das Resultat all dieser literarkritischen Bemühungen bleibt unbefriedigend. Ergebnis Auch wenn Vielhauer neuerdings wieder mit kräftigen Worten die Quellentheorie alten Zuschnitts verteidigt45, dürfte das nicht der zukunftsweisende Weg der Johannesbriefexegese sein. Ebenso wird man von redaktionellen Glossen mit traditioneller Eschatologie und Sühnevorstellung Abschied nehmen müssen. Die einzige Ausnahme bildet das »Postskript« in 5,14-21. Es könnte von zweiter Hand an das fertige Schreiben angehängt worden sein. Dafür gibt es trotz der stilistischen Einheitlichkeit, die sich in 5,14-21 durchhält, einige sehr beachtliche inhaltliche Argumente (die nähere Begründung s.u. in der Auslegung des Briefschlusses). Die Beobachtungen zum mehrfachen Stilwechsel, die den Quellentheorien Alternativzugrunde liegen, sind durchaus ernst zu nehmen. Aber es bieten sich dafür modelle andere Lösungen von der Traditionsgeschichte und vom Kontext her an. Gewiß verwendet der Briefautor vorgefertigte Materialien. Aber er entnimmt sie der johanneischen Gemeindetradition und der aktuellen Gemeindesituation, was längst nicht dasselbe ist wie das Arbeiten mit einer vorgegebenen größeren schriftlichen Quelle. Piper läßt nur für 1,6-10 offen, ob diese Verse vielleicht ein älterer Hymnus sind, vor der Niederschrift des Briefes schon komponiert und praktisch unverändert übernommen46 . Im übrigen stellt er heraus, daß der Autor sich immer wieder auf allgemein akzeptierte, in kurzen Sätzen komprimierte christliche Wahrheiten beruft und sie mit falschen Meinungen kontrastiert. Die allgemeinen Wahrheiten werden eingeleitet mit »wir wissen«, »ihr habt gehört« u.ä., die falschen Meinungen mit »wer sagt«, »wenn wir sagen«. Munoz Leon* erinnert zu Recht daran, daß uns ja auch die Jesusreden des Johannesevangeliums zur Verfügung stehen, die wir als erstes auf verwandte Sprachfiguren untersuchen sollten. Eine wertvolle Bemerkung zur rhetorischen Funktion der kurzen, prägnanten Sentenzen steuert Haenchen bei, indem er Seneca zitiert: »Leichter nämlich bleiben einzelne Sprüche, genau begrenzt und versartig gestaltet, haften. Deswegen geben wir den Knaben Sinnsprüche auswendig zu lernen ..., weil sie der kindliche Geist, der mehr noch nicht aufnehmen kann, leichter zu fassen vermag«47. Der Briefautor legt seinen »Kindlein« Merkverse vor, ZusammenfasO'Neill* 66 und passim. P. VieJhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, 21978 (GLB), 466: »Daß der Verfasser eine Vorlage benutzt, leidet m.E. keinen Zweifel«. 44 45
Piper* 450. Ep 33,6f; vgl. Haenchen, Literatur 262. Auf die jüdische Traditionsliteratur, wo er den gleichen Wechsel von antithetischem Stil und homiletischen Passagen entdeckt, rekurriert Büchsel*. 46
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Einleitung
sungen des umstrittenen Kerygmas, nicht Exzerpte aus einer gnostischen Offenbarungsquelle.
5
Aufbau
Literatur: Antoniotti, L.M., Structure litteraire et sens de la Premiere Epitre de Jean, RThom 88 (1988) 5-35; Bogaert, M., Structure et message de la premiere epitre de saint Jean, BVC 83 (1968) 33-45; Curtis, Purpose 188-241; du Rand, JA, A Discourse Analysis ofl John, Neot 13 (1979) 1-42; du Toit, BA, The Role and Meaning of Statements of >Certainty< in the Structural Composition of 1 John, Neot 13 (1979) 84-100; Erdmann, Argumentum; Ezell, D., The Johannine Letters in Outline, SWJT 13 (1970) 65f; Feuillet, Etude; Gingrich, R.E., An Outline and Analysis of the First Epistle of John, Grand Rapids 1943; Giurisato, Struttura; Häring, Gedankengang; Huther, J.E., Die Structur des ersten Briefes des Apostels Johannes, JDTh 18 (1873) 584-630; Jones, Analysis; Law, Tests 1-24; Lohmeyer, Aufbau; Malatesta, Epistles; Nagl, Gliederung; Schwertschlager, 1Joh; Segovia, Love Relationships 33-38; Skrinjar, A, De divisione epistolae primae Joannis, VD 47 (1969) 31-40; Smit Sibinga,]., A Study in I John, in: Studies in John (FS J.N. Sevenster), 1970 (NT.S 24), 194-208; Thompson, PI, Psalm 119: a possible Clue to the Structure of the First Epistle of John, StEv 2 (1964) 487492; van Staden, PI, Die struktuur van die eerste Johannesbrief, Diss. theol., Pretoria 1988 (mir zugänglich über ein 42seitiges Manuskript: The Debate on the Structure of 1 John, 1989); Wade, Impeccability 128-156; Westcott, A, The Divisions of the First Epistle of St. John. Correspondence between Drs. Westcott and Hort, Exp. VIIl3 (1907) 481-493; Wiesinger, A, Der Gedankengang des ersten Johannesbriefes, ThStKr 72 (1899) 575-581. Beispiele Wenn es darum geht, den Aufbau des IJoh zu eruieren, befindet sich die Forschung in offensichtlicher Verlegenheit. Poetische Metaphern sind an der Tagesordnung. Wir hören vom »Wogenspiel des Meeres«48 und von der »kreisförmige(n) Bewegung« des Gedankengangs49 . Der Fluß Mäander in der kleinasiatischen Heimat des Autors mit seinen vielen Windungen und Krümmungen muß zur Illustration herhalten50. Beliebt ist das Bild von der Spirale, die sich nach oben schraubt, oder von der Wendeltreppe, die sich um ein Zentrum dreht, dabei aber ständig an Höhe gewinnt 51 . In der Reformationszeit überwog der Eindruck eines losen Nebeneinanders der Gedanken ohne klares Ordnungsprinzip, was man mit dem freien Wirken des Geistes oder mit dem geschwätzigen Greisenalter des Apostels begründete. Vermitteln sollte der Vorschlag, der Autor habe sich nach Art der väterlichen Ermahnung an geliebte
48 49
Hauck 111. Düsterdieck I, XXIX.
50
Wilder 210.
51
Law* 5.
Aufbau: Beispiele
25
Söhne einer aphoristischen Methode bedient. So gliedert Lange in seinem Kommentar von 1713 den Stoff in zwölf einzelne Aphorismen auf. Darüber führt Lücke mit seinem zehnteiligen Aufbau im Grunde nicht hinaus, obwohl er selbst die aphoristische Betrachtungsweise für überwunden erklärt52 . Ihr nähern sich unverkennbar auch die Kommentare von Marshall und Bonnard wieder an, die es im Korpus auf zwölf bzw. dreizehn, mit Prolog und Epilog auf vierzehn bzw. fünfzehn Teile bringen. Erdmann* scheint der erste gewesen zu sein, der eine Abfolge von dogmatischen und Dreiteilung paränetischen Partien beobachtete. Mit nachhaltigerem Erfolg entwickelte Häring* auf dieser Linie einen Bauplan, der auf einem Wechsel zwischen christologischen und ethischen Aussagen und ihrer schließlichen Durchdringung basiert. Im Endergebnis konvergiert damit die Zyklentheorie von Law*, derzufolge in dem Brief verschiedene Testanordnungen für die überprüfung der Echtheit christlichen Lebens, gegründet auf Gerechtigkeit, Glaube und Liebe, erstellt werden. Als Resultat kommt bei den zuletzt genannten Autoren einhellig eine Grobgliederung in drei Hauptteile heraus, die insgesamt wohl- bei mannigfachen Variationen in der Du'rchführung - die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann. Aber es werden auch weiterhin andere Gliederungsvorschläge von zweiteiligen bis zu siebenteiligen verteidigt53. Dabei ist noch immer nicht die Feinaufteilung in Unterabschnitte und Perikopen erfaßt, wiewohl auf der Hand liegt, daß eine siebenteilige Gliederung eher auf eine weitere Hierarchisierung der Teiltexte verzichten kann als eine zweigliedrige. In dem Bereich der kleineren Einheiten ist der Konsens überhaupt größer, als man angesichts der disparaten Gesamtentwürfe erwarten möchte. So treffen sich die meisten Gliederungsvorschläge in der Ausgrenzung von 2,12-17; 2,18-27 und 4,1-6, setzen diese Textkomplexe nur auf verschiedenen Ebenen an. Sieben Teile hat das viel diskutierte und viel kritisierte, allzu kunstvolle Aufbausche- Siebenrna, das Lohmeyer* vorgestellt hat. Dabei sind Prolog und Epilog als Hauptteile mit- teilung gezählt, es steht somit 1,1-4 mit vier Versen auf der gleichen Ebene wie 2,18 - 3,24 mit 36 Versen. Den Prolog ausgenommen werden alle anderen Abschnitte noch einmal in sieben Einheiten unterteilt. In 2,18-27, in 3,2-6 und 3,7-12 erfaßt das Siebenerschema sogar eine untergeordnete dritte Ebene der Einzelverse, ganz zu schweigen von 4,1-21, wo sich auf Ebene 2 und 3 sieben Perikopen und drei Siebenergruppen von Einzelversen überlagern. Lohmeyer gelangt zu dieser Konstruktion eingestandenermaßen von der Johannesoffenbarung her, wo die Siebenzahl eine herausragende Rolle spielt. Mit einer gewissen Form der Außensteuerung arbeitet auch die Zweiteilung, wie sie Zweiteilung Feuillet* und Brown vom Johannesevangelium aus entwickeln. Das Johannesevangelium hat in 1,1-18 einen Prolog, in Kap. 21 einen Epilog; es besteht im Korpus aus zwei Hauptteilen, dem »book of signs« und dem »book of glory«. Der Schnitt liegt zweifelsohne zwischen Joh 12 und Joh 13. Mit einer feierlichen Einleitung beginnt in
52
53
Lücke 38-45. Eine tabellarische Übersicht mit 25 Mo-
dellen bei Klauck, Johannesbriefe (EdF) 62f.
26
Einleitung
13,1 der zweite Hauptteil, der die Abschiedsreden, die Passionsgeschichte und die Ostererzählungen aus Joh 20 beinhaltet. Daran soll der Briefautor Maß genommen, sein eigenes Werk mit Prolog und Epilog versehen und in der Mitte geteilt haben. Das wirkt in mancher Hinsicht zunächst sicher bestechend, hat aber auch seine Probleme. Ob der Briefautor das Johannesevangehum in seiner Endgestalt kannte, ist nicht so sicher. Weder 3,1 (bzw. 2,29) noch 3,11 (trotz der Parallele zu 1,5) haben im Kontext des 1Joh den strukturellen Stellenwert, der ihnen bei einem Einschnitt von solchem Gewicht zugewiesen wird. Außerdem sollte man nur in zwingenden Fällen - bei echten Kommentaren z.B. - die Gesamtanlage eines Textes von einer Vorlage gesteuert sehen. Plummer gelangt zu seiner Zweiteilung auf textinternem Weg über die Themasätze »Gott ist Licht« in 1,5 und »Gott ist Liebe« in 4,8.16 54, aber dabei stört doch die unterschiedliche Positionierung des Themasatzes im jeweiligen Hauptteil.
All die vorgelegten Konzepte eingehender zu diskutieren wäre ein endloses Unterfangen. Wir fragen statt dessen noch schärfer nach den Kriterien, den Schwierigkeiten und den Zielen dieses Zugangs zum Text. Kriterien Die Kriterien müssen aus dem Text selbst gewonnen werden und sich dort verifizieren lassen. Nützlich sind dafür Beobachtungen zur Syntax, zur Semantik und zur Pragmatik. Einen hohen Stellenwert wird man syntaktischen Signalen wie Anredeformen, Imperativen, Personenwechsel u.ä. ~ligen. Alles, was sich zur Stilistik sagen läßt, zu den rhetorischen Figuren, und was teils Anlaß zu Quellentheorien gab, kehrt bei der Abgrenzung von Texteinheiten wieder. Dreiergruppen von gleichgebauten Sätzen mit »wenn wir sagen« in 1,6-10 oder »wer sagt« in 2,3-11, aber auch die vier Antithesenpaare in 2,28 - 3,10 legen es nahe, die betreffenden Texte auf irgendeiner Ebene als Abschnitte anzusetzen. Anapher, Parallele, Kettenschluß und Inklusio tragen das ihrige bei. In der Semantik ist die Verteilung und Zuordnung von Wortfeldern, Bildfeldern, Leitbegriffen und Oppositionen zu berücksichtigen. So gibt in 1,6 - 2,11 die Metaphorik von Licht und Finsternis eine starke Klammer ab. Der Pneumabegriff, am Ende von 3,24 eingeführt, kommt in 4,16.13; 5,6-8 zum Tragen. Die Sprache der Immanenz übergreift größere Textblöcke. Pragmatisch gesehen gewinnen direkte Appelle an die Adressaten und Bezugnahmen auf die Situation an Bedeutung. 2,18-27 z.B. wird nicht nur durch »Antichrist« (2,18.22) und »Chrisma« (2,20.27) zusammengehalten, sondern auch durch die Polemik in 2,19.26 und durch die mehrfache direkte Anrede »und ihr«. Für die Großgliederung kann es auch nicht ohne Folgen bleiben, daß dreimal immer weiter ausgreifend, zugleich vertiefend und steigernd, die Liebe zu den Brüdern und Schwestern in den Mittelpunkt rückt (in 2,7-11; 3,11-17; 4,7-21).
54 Plummer LIII-LVII; ähnlich wird manchmal die Dreiteilung begründet, indem man noch »daß er (Gott) gerecht ist« aus 2,29 hin-
zunimmt (z.B. Nagl*); zur Zweiteilung bekennt sich erneut Wahlde, Commandments 199-222.
Aufbau: Kriterien
27
Die erheblichen Schwierigkeiten, die einen Konsens verhindern, haben es mit Schwierigder relativ gleichförmigen Denk- und Schreibweise unseres Autors zu tun. keiten Mehrfach streut er typische Übergangsverse ein, die, eben weil sie den Übergang von einer thematischen Einheit zur nächsten erleichtern sollen, zum Vorstehenden oder zum Folgenden gezogen werden können. So erklärt es sich, daß hinsichtlich der Stellung von 2,27; 2,28; 2,29 und 3,1 fast schon heillose Verwirrung herrscht, trotz der schönen Anredeform in 2,28, der in 3,1 nichts Gleichwertiges an die Seite tritt. Weitere Übergangsverse sind 3,18; 3,24 und 5,4-5. Im Extremfall nimmt eine komplette Perikope diesen eigentümlichen Doppelcharakter an. Über die Stellung von 4,1-6 Z.B. haben sich schon Westcott und Hort nie einigen können55 . Nicht zuletzt resultiert manche Schwierigkeit auch daraus, daß man sich zu Ziele wenig Rechenschaft über Tragweite und Ziel dieser Gliederungsversuche gibt. Allzu ausgefeilten Schemata wird gern entgegengehalten, daß der Autor so kompliziert nicht gedacht und disponiert haben kann. Dem ist z.T. beizupflichten, nur muß man auch vor dem anderen Extrem warnen, das darin besteht, dem Text jede Ordnung abzusprechen. Vollkommen ungeordnete sprachliche Äußerungen gibt es nicht oder doch nur unter ganz besonderen Bedingungen. Solange mit einem Text kommunikative Absichten verbunden sind, weist er auch bestimmte Strukturen auf, die zu seiner Rezeption beitragen. Die Suche richtet sich primär zunächst auf die textimmanenten Strukturen und nicht auf das Autorbewußtsein im Text. Das Autorbewußtsein, innerhalb dessen noch einmal verschiedene Reflexionsniveaus zu unterscheiden sind, kommt als kontrollierender Faktor mit ins Spiel. Was können wir einem bestimmten Autor noch zutrauen? Was konnte er bewußt oder auch vorbewußt, mehr aus Übung und Erfahrung denn aus gezielter Planung heraus, an formgebenden Merkmalen in seinen Text einbringen? Angesichts der sehr einfachen Sprache des Verfassers des 1Joh sollten das möglichst einfache Mittel sein. Von diesen Überlegungen her ergibt sich aber erneut ein starkes Argument Dreizahl für die Dreizahl, die nicht umsonst in der Forschung favorisiert wird, als hauptsächliches Konstruktionsprinzip. Die Dreizahl ist, wie hinlänglich bekannt, das wohl verbreitetste und urtümlichste Formelement überhaupt56 . Es bietet sich wie von selbst an, wenn einem Gedanken Nachdruck verliehen werden soll, ohne daß lange danach gesucht werden muß. Im 1Joh zeigt der Autor auch in kleineren Texteinheiten eine Neigung für den Dreischritt: je drei Schlagworte in 1,6-10 und 2,3-11, dreimal YQucpw und dreimal Ey(>u'IjJu in 2,12-14 mit je drei Personengruppen, drei Laster in 2,16, drei Zeugen in
55 56
Vgl. A. Westcott~. . Vgl. A. Olrik, Epische Gesetze der Volks-
dichtung, ZDA 51 (1909) 1-12, hier 3f.llf.
28
Einleitung
5,6-857• Das dient als zusätzliche Bestätigung. Einfache Verfahrensweisen haben auch eine Vorliebe für eine gewisse - nicht übersteigerte - Symmetrie, die sich mit Hilfe der Dreizahl leicht herstellen läßt. Das spricht gegen Gliederungsversuche mit sehr ungleichwertigen Teilen. Daß die dreimalige Thematisierung des Liebesgebotes von Stufe zu Stufe eine Ausweitung erfährt, stimmt mit dem Gesetz der Endbetonung als Komplement zur Dreizahl überein58.
Der im folgenden Kommentar dargebotene Gliederungsvorschlag beruht auf diesem Grundsatzentscheid und versucht, möglichst viele weitere Beobachtungen zum Text zu integrieren. Prolog und Epilog werden vom Briefkorpus abgesetzt. Das Korpus weist drei Hauptteile auf. Daß sie sich in jeweils drei Unterabschnitte einteilen lassen, mag Zufall sein oder auch nicht. Für die unterste Ebene der Perikopen ist ein übergreifendes Ordnungsprinzip nicht mehr intendiert. Aus einer sehr ähnlichen Gliederung im großen wie im kleinen folgert Schunack: »Es erscheint nicht zu weit gegriffen, den inneren Zusammenhalt vergewissernder Auslegung des Christseins in 1Joh. 1,5 - 5,12 trinitätstheologisch zu bestimmen«59. Auch van Staden* zentriert die drei Hauptteile der Reihe nach auf Vater, Sohn und Geist. Allein auf den formalen Stellenwert der Dreizahl für den Bauplan des 1Joh würde ich eine so weitreichende These noch nicht stützen. Nimmt man inhaltliche Gesichtspunkte hinzu, wird man etwas zurückhaltender sagen können, daß auch im 1Joh innerhalb der »nt!. Überlieferung Sprachformen und Vorstellungen« geschaffen werden als eine »Voraussetzung, ohne welche die dogmatische Fixierung« der Trinitätslehre letztlich »nicht denkbar ist «60. Rhetorische Der Versuch einer rhetorischen Analyse des Aufbaus des 1Joh61 in Analogie zur dispositio einer Rede fällt unter Verzicht auf das Briefpräskript in 1,1-4 und den BriefAnalyse schluß ab 5,13 folgendermaßen aus:
(1) captatio benevolentiae 1,5 - 2,17 (2) narratio - 2,18-27 (3) propositio - 2,28-29 (4) probatio - 3,1-24 (5) exhortatio - 4,1-21 (6) peroratio 5,1-12 Zur Kritik wäre verschiedenes zu sagen: Die brieftypischen Rahmenstücke sind nicht integriert, ein eigentliches exordium wird nicht ausgewiesen. Die captatio fällt mit 1,4 - 2,17 reichlich lang aus. Ob 2,28-29 inhaltlich gesehen wirklich die Aufgabe einer
Vgl. Brown 123. Vgl. Olrik, a.a.O. 7: »achtergewicht mit dreizahl verbunden ist das vornehmste merkmal der volksdichtung«. 59 Schunack 15. 57
58
60 M. Görg, Art. Dreifaltigkeit, in: Neues Bibellexikon I 447f. 61 Bei Vouga, Reception 288-290, und im Komm. (6-9); vgl. die Diskussion bei Klauck, Zur rhetorischen Analyse 209-213.
Rhetorische Analyse, Gattung
29
propositio (sie »ist der gedankliche Kernbestand des Inhalts der narratio«, erscheint gern als deren Zusammenfassung am Ende und leitet die argumentatio ein62) wirklich ausfüllt, wird man fragen müssen. Ein Problem der Abgrenzung von 3,1-24 als probatio besteht darin, daß ein unverkennbares Gliederungssignal überspielt wird, nämlich 3,11. Ob die wenigen Imperative und Aufforderungen in 4,1-24 den ganzen Abschnitt mit seinen tiefgreifenden Aussagen über die Liebe schon zu einer - in den rhetorischen Handbüchern nicht behandelten - exhortatio machen, bleibt zumindest offen. Zweifel an der universalen Verwendbarkeit der rhetorischen dispositio für Texte aller Art, die von Haus aus keine Reden sind, können nicht von der Hand gewiesen werden. Daß IJoh eine Rede sei, etwa eine sekundär verschriftlichte Homilie, war weder Voraussetzung des oben besprochenen rhetorischen Zugangs noch sein Resultat. Was den Brief angeht, zeigten sich die antiken Rhetoriker um einiges zurückhaltender,. da sie darauf verzichteten, das Schema der dispositio in die Epistolographie zu übernehmen. Aber der Frage nach der Gattung des IJoh müssen wir uns nun noch gesondert zuwenden.
6
Gattung
Literatur: Berger, K., Apostelbrief und apostolische Rede / Zum Formular frühchristlicher Briefe, ZNW 65 (1974) 190-231; Bultmann, Redaktion 38lf; Doty, w.c., Letters in Primitive Christianity, Philadelphia 31979 (Guides to Biblical Scholarship. New Testament Series); Ermert, K., Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation, Tübingen 1979 (Reihe Germanistische Linguistik 20); Eschlimann, 1.A" La redaction des epitres Pauliniennes d' apres une comparaison avec les lettres profanes de son temps, RB 63 (1946) 185-196, Francis, Form; Haenchen, literatur 246-248; Karrer, M., Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, 1986 (FRLANT 140); Koskenniemi, Studien; Malherbe, Al., Ancient Epistolary Theorists, 1988 (SBibSt 19); Miehle, H.L., Theme in Greek Hortatory Discourse: Van Dijk and Beekman-Callow Approaches Applied to I John, Diss. Arlington 1981 (vgl. DissAb 42 [1982] 3584-A); Roller, 0., Das Formular der paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Briefe, 1933 (BWANT 58), 213-238; Stowers, S. K., Letter Writing in Greco-Roman Antiquity, Philadelphia 1986 (Library of Early Christianity 5); Thraede, K., Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, 1970 (Zet. 48); White, 1.L., New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, in: ANRW W25,2 (1984) 1730-1756; ders., Light from Ancient Letters, Philadelphia 1986 (Foundations and Facets); ders., Ancient Greek Letters, in: Greco-Roman Literature and the New Testament: Selected Forms and Genres, hrsg. D.E. Aune, 1988 (SBibSt 21), 85-105.
62
Lausberg, Handbuch § 346.
30
Einleitung
Das Problem Die traditionelle Einordnung des 1Joh unter die Katholischen Briefe ließ Jahrhunderte hindurch die Bezeichnung »Brief« für 1Joh völlig problemlos erscheinen, zumal die anderen neutestamentlichen Großgattungen sowieso nicht in Frage kamen. In der Neuzeit werden aber zunehmend Zweifel an der brieflichen Form laut, ohne daß sich eine klare Alternative herausgebildet hätte. Die Vorschläge lauten (in Auswahl): ein »sendschreiben ... an die ganze Christenheit«63; »Encyklika« oder »Cirkularschreiben«64; »Pastoral Epistle«, »comment on the Gospel«65; »Abhandlung oder Predigt«66; »religiöse Diatribe«67; »ein der Traktatform sich nähernder Brief«68; »informal tract or homily«69; »letter-essay form«70; »an enchiridion, an instruction booklet«71; »briefartige Homilie«72. Die Hauptschwierigkeit resultiert offenkundig aus dem Fehlen eines formgerechten Briefpräskripts und daneben aus dem Fehlen der Schlußgrüße. Auch der Hebräerbrief hat kein Präskript, wohl aber Schlußwünsche und -grüße (Hebr 13,22-25), falls diese nicht erst sekundär hinzugetreten sind. Der Jakobusbriefhat ein förmliches Präskript (Jak I)), aber keinen brieflichen Schluß. Hier von einer allgemeinen Tendenz innerhalb der Katholischen Briefe auszugehen, die in 1Joh an ihren Endpunkt gelangt sei, wurde-das Problem aber nur verschieben. Der johanneische Traditionsbereich im weitesten Sinn kennt einen eigentümlichen Umgang mit der literarischen Form des Briefes, der nicht ausschließlich unter dem in der übrigen frühchristlichen Briefliteratur zu konstatierenden massiven Einfluß der Paulusbriefe als prägendem Vorbild stehtl3. Lösungs- Erstaunlich oft wurde die Vermutung geäußert, der ursprüngliche Briefeinversuche gang des 1Joh mit den Formalien, evtl. auch der ursprüngliche Briefschluß mit den Grüßen sei weggefallen, aus Versehen, aus Absicht oder aus technischen Gründen bei der Zusammenstellung der johanneischen Schriften oder der Katholischen Briefe zu einem Korpus 74 . Dem widerspricht der feierliche Charakter der Eingangsverse 1,1-4, die keine vorgeschaltete Adresse vertragen. Ebensowenig bewährt sich die These vom vorderasiatischen Botenbrief, der das griechische Präskript nicht übernahm, weil der Briefbote diese Dinge mündlich vortrug und dann das eigentliche Schreiben verlas 75 . Ewald 441. Braune 8. 65 Plummer XLIIXLY. 66 Luthardt 213. 67 Deißmann LO 207. 68 Büchsel 1. 69 Dodd XXI. 70 Doty* 68. 71 Grayston 4. 72 Strecker 49. 73 White* hatte den Gang der Dinge zunächst so beurteilt, daß sich unter dem Eindruck der Paulusbriefe ein Teil der späteren 63
64
Schreiben, darunter 1Joh, in Richtung auf »the systematic treatise or homily« entwikkelte, während andere wie 2/3Joh von Paulus ausgehend wieder stärker »conventional epistolary features« inkorporierten (Epistolary Literature 1752). Neuerdings rückt er davon ab und gesteht selbständige Adaptionsprozesse außerhalb des übermächtigen paulinischen Paradigmas zu (Greek Letters 100). 74 Vgl. Lücke 18; Wendt, Johannesbriefe 5; elemen, Beiträge 279; Simpson, Letters 486. 75 So Roller* 237; Eschlimann* 195; Kritik bei Haenchen*.
31
Gattung
Einen anderen Weg schlägt Francis* ein. Er isoliert in der literarischen Wiedergabe von Briefen bei jüdisch-hellenistischen Autoren eine doppelte Eröffnungsformel, die wesentliche Aspekte der Briefthemen vorwegnimmt. Diese Doppelung der Eröffnung werde im 1Joh durch die teilweise Wiederholung von 1,1-2 in 1,3 erreicht, sie kehre in den zwei Hauptteilen des Briefkorpus wieder. Aber die zweiteilige Struktur mit thematischer Antizipation läßt sich auch in den von Francis herangezogenen Beispielen nur mit Mühe überhaupt identifizieren. Außerdem geht der Einführung ausnahmslos ein Präskript vorauf76 • Nach Bultmann* hat der Verfasser in 1,1-4 »die Motive des brieflichen Präskripts frei verwertet«. Der Schluß des Proömiums in 1,4 ist dem »Segenswunsch des brieflichen Präskripts ... nachgeahmt«. Aus xciQ~, Gnade, wurde in spezifisch johanneischer Terminologie Xa.g(J., Freude. Als klarer Briefschluß fungiere 5,13, wenn man nur das EyQu'\jlu in Phlm 21; Ga16,1l u.ö. vergleicht (das dort aber keineswegs die Schlußgrüße ersetzt). Auf diesen Wegen werden wir nicht zum Aufweis der brieflichen Form gelangen können.
Gattungsbestimmungen erfordern immer auch einen Textvergleich. Die evi- Textdente Nähe von lJoh 1,1-4 zu Joh 1,1-18 und von lJoh 5,13 zu Joh 20,31 vergleich kann daher nicht ignoriert werden. Sie bietet auch einen Schlüssel zur Lösung wenigstens eines Rätsels. Die eigenartige Form des lJoh kommt zum Teil dadurch zustande, daß sich der Autor für den Prolog 1,1-4 und für den eigentlichen Schlußvers in 5,13 am Johannesevangelium im Umfang von Joh 1-20 orientiert. Wenn wir das in eine Funktionsbestimmung ummünzen, können wir sagen, daß lJoh als Lesehilfe für das Verständnis des Johannesevangeliurns gedacht warJ7• Aber Funktionsbestimmung heißt noch nicht Gattungsbestimmung, und man wird sicher nicht so weit gehen dürfen, lJoh als regelrechten Kommentar - eine identifizierbare literarische Gattung! - zum Johannesevangelium auszugeben. Man muß bei der Gattungsdiskussion auch bedenken, daß das Durchbrechen Briefinhalt von relativ festen Gattungsregeln als bewußtes Aufmerksamkeitssignal eingesetzt sein kann. Die Regelabweichung macht erst die besonderen Anliegen des Einzeltextes in seiner konkreten Sprechsituation transparent. Außerdem bestehen Briefe glücklicherweise nicht nur aus Präskript und Schlußgruß. Obwohl sie an diesen standardisierten Elementen am leichtesten zu erkennen sind, erschöpft sich ihr Inhalt darin nicht. Für den Briefinhalt hat Koskenniemi* sehr schön herausgearbeitet, daß Briefe ihrem innersten Wesen nach auf der freundschaftlichen GesinJlung zwischen dem Absender und den Adressaten beruhen; sie wollen das räumliche Getrenntsein überwinden, die Abwesenheit in Anwesenheit verwandeln, und sie sind als Teil eines fortgehenden Gespräches dialogisch angelegt. Bezieht man anstelle einer rein formalisierten Betrachtungsweise verstärkt auch solche Gesichtspunkte mit ein,
76 Vgl. Josephus, Ant 8,51.53; 11,123; 1Makk 10,18.25; Eupolemos, bei Eusebius, Praep Ev IX 33,1; 34,1.
77
Brown 90f.
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Einleitung
tut man sich nicht mehr so schwer damit, das Korpus des 1Joh als Brief anzusehen7B • Der Autor wendet sich an konkrete Adressaten in einer unverwechselbaren Situation. Er ist um ihr geistliches Wohlergehen ernstlich besorgt. Er reflektiert ansatzweise den notwendigen Akt des Schreibens und bezieht sich auf gemeinsame Erfahrungen und auf die gemeinsame Geschichte. Brieftypen Die Brieftheoretiker der Spätantike haben im Rückgriff auf eine lange Tradition Briefe in verschiedene Typen klassifiziert. Darunter befindet sich bei Pseudo-Libanius, 'EltLO'tOALflULOl XClQU%TiiQE~ 5.52, auch der paränetische Brief, zu dessen Hauptanliegen gutes Zureden und Raten bzw. Abraten gehären. Dem ähnelt - trotz verbaler Gegenwehr des Autors selbst - der symbuleutische Brief bei Pseudo-Demetrius, TUltOL 'EmO'toAL%OL 11, der aufmuntern und von Schädlichem fernhalten will 79. Damit ist der Hauptduktus des 1Joh getroffenBo • Die heftige Gegnerpolemik ordnet sich diesem Anliegen ebenso unter wie die lobenden Äußerungen über den Glaubensstand der Adressaten. Man muß diese weiteren Gesichtspunkte nicht unbedingt entsprechenden Brieftypen zuordnen (dem preisenden Brief, dem tadelnden Brief etc.), die in den Briefstellern freilich gleichfalls zur Verfügung stehen.
7
Abfassungsverhältnisse
Literatur: Beutler, ]., Krise und Untergang der johanneischen Gemeinde. Das Zeugnis der Johannesbriefe, in: The New Testament in Early Christianity, hrsg. J.M. Sevrin, 1989 (BEThL 86), 85-103; Brown, R.E., The Community of the Beloved Disciple. The Life, Loves, and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York 1979; dt. als: Ringen um die Gemeinde. Der Weg der Kirche nach den Johanneischen Schriften, Salzburg 1982; Culpepper, R.A., Synthesis and Schism in the Johannine Community and the Southern Baptist Convention, PRSt 13 (1986) 1-20; Hartin, P.j., A Community in Crisis. The Christology of the Johannine Community as the Point at Issue, Neot 19 (1985) 37-49; Johnson, Antitheses; Klauck, Gemeinde ohne Amt; Olsson, B., The History of the Johannine Movement, in: Aspects on the Johannine Literature, hrsg. L. Hartman / B. Olsson, 1987 (CBNT 18), 27-43; Perkins, Koinonia (s. die Lit. zu 1,1-4).
Die Situation Jeder Versuch einer Situationsbeschreibung wird seinen Ausgang nehmen bei dem Reflex des johanneischen Schismas in 1Joh 2,19: »Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen ...« In der Gemeinde ist es offensichtlich zu einer Spaltung gekommen. Schismen entstehen in der Sicht soziologischer Konflikttheorie B1 , wo Basiswerte und Identitätsgefühl bedroht erscheinen; jede der streitenden Gruppen sieht sich in Kontinuität mit den ursprünglichen Vgl. Schunack 9f. Texte bei Malherbe* 36.68.74. 80 Vgl. Stowers* 96; ferner die Klassifizierung von 1Joh als »hortatory text with the 78
79
perlocutionary function of persuasion« bei Miehle*. 81 Vgl. Johnson* 241-260.
Abfassungsverhältnisse
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Zielen; begünstigt werden Spaltungen sowohl durch extremen Dogmatismus wie auch durch eine zu unverbindliche Definition und Handhabung der Wahrheitsfrage (d.h., auch das eher lockere johanneische Gemeindemodell ohne letzte Zentralisierung der Verantwortung kann zur Verschärfung der Lage beigetragen haben). In 2,19 verarbeitet der Briefautor also eine zutiefst traumatische Erfahrung, indem er sagt: Sie, die anderen, sind weggegangen, nicht wir. Wir, der verbleibende Rest, sind Träger der Identität der Gemeinde und ihrer Überlieferungen vom ersten Anfang an. Jede gemeinsame Geschichte wird negiert. Es gab sie nie, sie war nur vordergründiger Schein. Die Wortwahl in 2,19 erweckt den Eindruck, als habe sich eine kleine - man beachte aber auch die »vielen« Antichristen in 2,18 - häretische Gruppe abgesetzt, möglicherweise durch ein Auswandern im geographischen Sinn. Das rührt von der wertenden Sichtweise des Verfassers her, es stimmt nicht unbedingt mit der Wirklichkeit überein82 . Vermutlich haben die »Sezessionisten« ungerührt am gleichen Ort weitergelebt, sich selbst als die einzig wahre johanneische Gemeinde gefühlt und den Briefautor mit seinen Anhängern als Splittergruppe betrachtet. Eine förmliche Exkommunikation der Gegner hat gewiß nicht stattgefunden, dazu fehlten sämtliche Voraussetzungen. Möglicherweise sind sie sogar numerisch in der Überzahl, haben mehr Erfolg nach außen hin und verstehen es besser, sich mit der nichtchristlichen Umwelt zu arrangieren (lJ oh 4,5). Es wird auch eine enorme soziale Dynamik freigesetzt, die sich verselbständigt. Wenn 2,16 die »Prahlerei mit dem Wohlstand« anprangert und 3,17 unterlassene Hilfeleistungen einklagt, dürfte das verraten, daß die einflußreichen und begüterten Leute unter den Gegnern zu suchen sind. Daß ihre Ressourcen, z.B. Häuser, wo man sich versammeln konnte oder wo Wandermissionare Aufnahme fanden, nun plötzlich ausfielen, hatte zur Folge, daß sich die Gruppe um den Briefautor »Verraten und verkauft« fühlte. Das Ringen mit dem Problem der Spaltung bedeutete für die Restgemeinde Die Briefeine Frage auf Leben und Tod. Sie war in ihrem zahlenmäßigen Bestand be- absicht droht und sah ihr eigenes theologisches Erbe ins Zwielicht gezogen durch den Gebrauch, den die Gegner davon machten. In diese Lage hinein spricht der lJoh als paränetisch-mahnender Brief. Er will nach innen hin stabilisieren und nach außen hin abgrenzen. Er will die genuine Evangelientradition gegen Mißdeutung sichern und insoweit eine »orthodoxe« Leseanleitung für das Johannesevangelium in seinem Grundbestand geben. Den intendierten Horizont seiner Wirkung bilden zunächst alle, die mit und aus johanneischen Überlieferungen leben. Konkret kann man an ein größeres städtisches Zentrum und sein Umland mit einigen Hausgemeinden denken. Sie sollten fortan den Brief zusammen mit der Evangelienschrift benutzen. Die zeitliche Ein82
Haenchen, Literatur 273f.
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Einleitung
ordnung sähe dann so aus, daß sich das Schisma im Vollzug befindet. Die »Kernspaltung« liegt schon etwas zurück, sie hat sich aber noch nicht bis in alle Ecken fortgesetzt, und es gibt immer noch Definitionsprobleme. Die Unterscheidung zwischen wahren johanneischen Glaubenden und falschen antichristlichen Irrlehrern muß aus der Sicht des 1Joh im Einzelfall noch zu Ende gebracht werden, und dafür stellt der Brief Kriterien bereit. Die Lösung des Konflikts hat er nicht bewirkt. Sie ist in der Richtung zu suchen, die Joh 21 signalisiert83. Sie geschah durch Übernahme anderer Gemeindestrukturen und Eingliederung in einen anderen rein organisatorisch funktionsfähigeren Gemeindeverband.
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Gegnerfrage
Literatur: Balz, H., Johanneische Theologie und Ethik im Licht der »letzten Stunde«, in: Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments (FS H. Greeven), 1986 (BZNW 47), 35-56; Bardy, G., cerinthe, RB 30 (1921) 344-373; Belser, J.E., Erläuterungen zu I Joh, ThQ 95 (1913) 514-531; Berger, K., Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschließens von »Gegnern« in neutestamentlichen Texten, in: Kirche (FS G. Bornkamm), Tübingen 1980, 373-400; Blank, J., Die Irrlehrer des ersten Johannesbriefes, Kairos 26 (1984) 166-193; Bogart, Perfectionism; Brown, R.E., The Relationship to the Fourth Gospel Shared by the Author of 1 John and by His Opponents, in: Text and Interpretation (FS M. Black), Cambridge 1979, 57-68; Brownson, ]., The Odes of Solomon and the Johannine Tradition, Journal for the Study of the Pseudepigrapha 2 (1988) 49-69; Brox, N., »Doketismus« - eine Problem anzeige, ZKG 95 (1984) 301-314; Clemen, Beiträge; Curtis, Purpose 4-105; Ghiberti, G., Ortodossia e eterodossia neHe lettere giovannee, RivBib 30 (1982) 381-400; Holtzmann, Problem 3; Hümpel, E., De errore christologico in epistolis loannis impugnato eiusque auctore. Quaestio historico-critica, Erlangen 1897; Johnson, S.E., ParaHels Between the Letters of Ignatius und the Johannine Epistles, in: Perspectives on Language and Text (FS F.I. Andersen), Winona Lake 1987, 327-338; Klauck, Gespaltene Gemeinde; ders., Johannesbriefe (EdF) 127-151; Kügler, J., In Tat und Wahrheit. Zur Problemlage des Ersten Johannesbriefes, Biblische Notizen 48 (1989) 61-88; Langbrandtner, Weltferner Gott; Müller, U.B., Die Geschichte der Christologie in der johanneischen Gemeinde, 1975 (SBS 77), 53-68; ders., Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche InkarnationsvorsteHungen und die Anfänge des Doketismus, 1990 (SBS 140), 84-122; Painter, Opponents; Schwartz, E., Johannes und Kerinthos, ZNW 15 (1914) 210-219 = ders., Gesammelte Schriften. Bd. 5, Berlin 1963, 170-182; Skrinjar, A., Errores in epistola I Jo impugnati, VD 41 (1963) 60-72; ders., Prima Epistola Johannis in theologia aetatis suae, VD 46 (1968) 148-168; ders., Theologia Epistolae IJ comparatur cum philonismo et hermetismo, VD 46 (1968) 224-234; Smalley, 5.5., What about 1 John?, in: Studia Biblica 1978. III. Papers on Paul and Other New Testament Authors, 1980 83 Vgl. E. Ruckstuhl, Zur Aussage und Botschaft von Johannes 21, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), Leipzig/Freiburg 1977, 339-362; auch in: ders., Jesus im
Horizont der Evangelien, Stuttgart 1988 (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 3), 327353.
Gegnerfrage: Problemansatz
35
(JStNTS 3), 337-343; Songer, H.S., The Life Situation of the Johannine Epistles, RExp 67 (1970) 399-409; Stagg, F., Orthodoxy and Orthopraxy in the Johannine Epistles, RExp 67 (1970) 423-432; Theobald, Fleischwerdung 400-437; Thyen, H., Art. Johannesbriefe, in: TRE XVII 186-200; Vorster, WS., Heterodoxy in I John, Neot 9 (1975) 87-97; Vouga, F., The Johannine School: A Gnostic Tradition in Primitive Christianity?, Bib. 69 (1988) 371-385; Wahlde, Commandments 105-198; Weiss, K., Orthodoxie und Heterodoxie im 1. Johannesbrief, ZNW 58 (1967) 247-255; ders., Die »Gnosis« im Hintergrund und im Spiegel der Johannesbriefe, in: Gnosis und Neues Testament. Studien aus Religionswissenschaft und Theologie, hrsg. K.W. Tröger, Berlin 1973, 341-356; Wengst, Häresie; Whitacre, Polemic; Wurm, Irrlehrer.
Was sind das für Leute, die in 1Joh 2,19 als solche, die »von uns weggegan- Fragestellung gen« sind, angeprangert werden? Ihre Existenz mehr oder weniger zu leugnen84 führt nicht weiter, auch wenn man die Schwierigkeit der Suche nach den »impliziten Gegnern« in neutestamentlichen Texten zugesteht85 , die Gegnerfrage nicht zum alles beherrschenden hermeneutischen Schlüssel der Exegese des 1Joh macht und der Gefahr eines spiegelbildlichen Lesens (»mirror reading«) zu entgehen sucht. Zu deutlich sind andererseits in den Text Spuren einer erbitterten Kontroverse eingegangen (s. im einzelnen den Kommentar). Die Bestimmung des Gegnerprofils geht in der Regel so vor sich, daß man bestimmte textliche Daten mit bestimmten Materialien aus dem religionsgeschichtlichen Kontext zur Deckung zu bringen versucht. Man kann dazu als erstes das urchristlichen Umfeld abschreiten. So werden z.B. die libertinistisch eingestellten Enthusiasten, mit denen Paulus sich in seiner korinthischen Korrespondenz herumschlägt, als Parallelerscheinung herangezogen86 , obwohl sich aus 1Joh kein Anhaltspunkt für ein direkt lasterhaftes Leben der Gegner ergibt (die einzige Andeutung eines Lasterkatalogs in 2,16 biegt ins Grundsätzliche ab). Bleibt man im johanneischen Schriftenkorpus, bietet sich ein Seitenblick auf die Nikolaiten in Offb 2,6.15 an 8? Aber die Forschung hat sich damit nie begnügt, sondern weiter ausgegriffen ins Judentum und in die frühe Gnosis. Von der anderen Seite her ist es wichtig, daß man nicht zwei verschiedene Gegnergruppen88 , sondern nur eine angesprochen sieht und an einem Zusammenhang von Lehre und Leben, der sich auf sozia84 Vgl. Perkins XXI-XXllI: In einer auf Mündlichkeit basierenden Kultur lasse überhitzte Rhetorik als zerstörerischen Konflikt erscheinen, was in der Realität doch nur eine Debatte unter Freunden, ein kleiner Familienzwist war; sehr zurückhaltend auch Lieu, Authority; Vouga 46-48. 85 Vgl. Berger*; Kügler*. 86 Weiss 17f; W. Lütgert, Amt und Geist im Kampf. Studien zur Geschichte des Urchristentums, 1911 (BFChTh 15/4-5), 7-49. 87 L. Seesemann, Die Nikolaiten. Ein Beitrag zur ältesten Häresiologie, ThStKr 66 (1893) 47-82, hier 62.
88 So etwa, um ein frühes Beispiel zu nennen, G.c. Storr, Ueber den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe Johannis, Tübingen 1786, 224f.384 u.ö., der mit der doppelten Frontstellung gegen Jünger Johannes' des Täufers und Anhänger Kerinths arbeitet, und Smalley*, der die polemisehen Aussagen auf hellenistisch-gnostische, nahe bei Kerinth stehende, Doketisten und einen jüdisch-ebionitischen Adoptianismus verteilt; so schon Sander 17 und Tertullian, Praescr 33.
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Einleitung
lern Gebiet auswirkt, festhält 89 . Die Stichworte, die unter dieser Voraussetzung am häufigsten fallen, sind: Juden(christen)tum, Kerinth, Doketismus, Gnosis, Ultra-Johanneer. Judentum Am energischsten hat sich Wurm"" für die Herkunft der Gegner aus dem Judentum eingesetzt9o . Streitpunkt sei wie im Evangelium die Messianität Jesu, die gegen jüdische Angriffe verteidigt werden muß. Erhebliche Probleme bekommt Wurm aber mit der Einbindung des moralisch-ethischen Konfliktpotentials. In der klassischen Ausprägung dieser These sind die Gegner »Sendboten aus Judäa«91. Deshalb kann die verschiedentlich vertretene Herleitung der Gegner aus dem hellenistischen Diasporajudentum92 mit diesem Ansatz nicht einfach verrechnet werden. Zugeben wird man, daß der Brief beim Angriff auf die GegnerKlischees reaktiviert, die im Evangelium eine antijüdische Zuspitzung tragen, aber man darf sich von dieser Neuverwendung älteren Materials nicht täuschen lassen 93 . Qumran Zur Stützung der Judaistenhypothese könnte man auch auf manche Analogien zum Schrifttum aus Qumran zurückgreifen. Am weitesten hat sich Boismard vorgewagt mit der Behauptung, 1Joh sei adressiert an »a Christian community whose members to a large extent had been Essenes«94. Doch haben sich die kühnen, von Entdeckerfreude inspirierten Vorstöße der ersten Stunde nicht bewährt. Bestehende Ähnlichkeiten sind auf eine Kombination von gemeinsamem Traditionshintergrund und vergleichbarer aktueller Situation zurückzuführen. Im begrenzteren Sinn wird man die Qumranschriften weiterhin mit Nutzen heranziehen. Sie bereichern unsere Kenntnis dessen, was im Frühjudentum an Denk- und Sprechmöglichkeiten schon ausgebildet war, und bieten auch Beispiele für den Ablauf von innergemeindlichen Konflikten (vgl. z.B. 1QpHab 2,1-3; 5,9-11). Kerinth In kaum einem Beitrag zu den Gegnern im 1Joh fehlt ein Hinweis auf ihre mögliche Beeinflussung durch Kerinth (ca. 100/120)95. Nach Irenäus, Haer I Vgl. Stagg"; Ghiberti". Ihm folgen Bardy" 349; Belser"; Thyen"; vorher schon Kar!, Studien, und Semler in seinem Kommentar von 1792; die Wiederbelebung einer verwandten Sicht bei O'Neill, Puzzle, scheitert an der unzureichenden Quellentheorie. 91 So wörtlich Belser 3. 92 Weiss"; Songer"; Robinson, Destination 138: »gnosticizing movement within Greekspeaking Diaspora Judaism«, in deutlicher Spannung zu ebd. 131: »orthodox Jews«. 93 Ein weiterreichender Vorschlag in dieser Richtung bei Kügler": Rein innertextlich erzeugt der Autor die Fiktion, es handle sich wie in der Vergangenheit um Juden, zielt damit in der Realität aber auf eine innerchristliche Gruppe. 89 90
94 M.E. Boismard, The First Epistle of John and the Writings of Qumran, in: John and Qumran, hrsg. JH. Charlesworth, London 1972,156-165, hier 165. Aber auch das Modell von Nauck, Tradition, ist in hohem Maße Qumran verpflichtet; vgl. dazu noch J. Smit Sibinga, 1 Johannes tegen de achtergrond van de teksten van Qumran, VoxTh 29 (1958/59) 11-14; TA Hoffman, 1 Johnand theQurnran Scrolls, BTB 8 (1978) 117-125. 95 Vgl. nur Hümpel"; Schwartz"; Skrinjar", Errores; Wengst"; zu Kerinth selbst Bardy"; A.F,J. Klijn / G. Reinink, Patristic Evidence for Jewish-Christian Sects, 1973 (NT.5 36), 3-19.102-281 (Textsammlung).
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Gegnerfrage: Religionsgeschichtlicher Horizont
26,3, vertrat Kerinth eine lupenreine Trennungschristologie: Das himmlische Geistwesen Christus geht mit dem irdisch-fleischlichen Menschen Jesus nur eine zeitweilige Verbindung ein, die mit der Johannestaufe beginnt und unmittelbar vor der Kreuzigung endet. Irenäus betrachtet Kerinth als Gnostiker, was aufgrund der Auseinanderdividierung von Weltenschöpfer und wahrem Gott zutreffend erscheint. Aber gerade dieser kosmologische Zug eignet sich zum Vergleich mit 1Joh nicht. An späterer Stelle meint Irenäus, Johannes habe mit seinem Evangelium den Irrtum Kerinths widerlegen wollen (Haer III 11,1), während der römische Presbyter Gaius und die Aloger im 2. Jahrhundert Kerinth zum Urheber des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe erklären96 . Andere Zeugnisse schreiben Kerinth eine materialistische, chiliastische Eschatologie ZU 97 oder schildern ihn als entschiedenen Judaisten 98 , so daß man sich schließlich fragt, was Kerinth nun eigentlich war, Judaist, Chiliast, Gnostiker oder eine Mischung aus all dem. Man wird nicht fehlgehen, wenn man bei Kerinth die problematische Variante einer johanneischen »Einwohnungschristologie« erkennt 99 , die ihrerseits jüdische Voraussetzungen hat: die Schekina':'Vorstellung und das Eingehen der Weisheit in die frommen Seelen der Gottesfreunde und Propheten100. Die Bindung an die Taufe hat eine Parallele im Hebräerevangelium: »... als der Herr aus dem Wasser herausgestiegen war, stieg die ganze Quelle des heiligen Geistes auf ihn herab und ruhte auf ihm«lOl. Das trifft sich mit dem zunehmenden Bemühen, deviante Randerscheinungen des Judentums als einen Nährboden für die Ausbildung der Gnosis auszumachen. Eine Verwandtschaft in Problemansatz und Problemlösung zwischen der Doketismus Trennungs- oder Einwohnungschristologie Kerinths und dem Doketismus wird man nicht leugnen können, auch wenn Kerinths Christologie als ZweiNaturenlPersonen-Lehre zu charakterisieren ist, die des strengen Doketismus eines Kerdon oder eines Sartonil hingegen102 als Monophysitismus. Christus hat nur einen Scheinleib besessen, der aber durchgehend als Träger für die innerweltliche Erscheinungsform des Erlösers dient, wie immer man sich das konkret auch denken mochte (bei den Valentinianern etwa als pneumatische und dadurch leidensunfähige Substanz). Als Sonderfall können wir noch die Ansicht ausgrenzen, nicht Jesus habe gelitten, sondern Simon von Kyrene, der in Jesu menschliche Gestalt verwandelt wurde 103. Auf die um-
96 Bludau, Gegner (5. die Lit. zu § 2 der Einleitung) 131-136. 97 Eusebius, Hist Eccl m 28,2-4. 98 Epiphanius, Panarion xxvm 2,3-6; 4,1. 99 Blank. 174-177. 100 Weish 7,2; vgl. Irenäus, Haer I 26,3: Nach Kerinth habe Jesus alle anderen Menschen übertroffen »an Gerechtigkeit, Klugheit und Weisheit«.
Fr. 2, NTAp0 5 I 146. Vgl. zu den terminologischen Schwierigkeiten Brox·; außerdem Müller·, Menschwerdung; aus der weiteren Literatur bes. P. Weigandt, Der Doketismus im Urchristentum und in der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts, Diss. theol., Heidelberg 1961 (zu lJoh: I 103-107). 103 So Irenäus, Haer I 24,4, über Basilides. 101
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Einleitung
strittene Polymorphie des Erlösers in ActJoh wollen wir uns hier nicht weiter einlassen. Ignatius Gegen »Doketen« polemisiert anscheinend an einigen Stellen Ignatius von Antiochien 104. In Sm 4,lf wendet er gegen die »Bestien in Menschengestalt« ein: »Wenn nämlich dies zum Schein ('to ÖOXELV) von unserem Herrn vollbracht wurde ...«, oder in Tralll0 (ähnlich Sm 2): »Wenn er (Christus) aber, wie einige, die gottlos, das heißt ungläubig sind, sagen, zum Schein gelitten habe (ÖOXELV l'tEJ'tOvfrfVm U1JLov) ... « Die gleiche Gruppe leugnet, daß der Herr »einen Leib trägt« (Sm 5,2: fA,ij OfA.OAoywv umov o
XocpoQov), und sie läßt es an Liebeswerken gegenüber den Notleidenden fehlen (Sm 6,2). Ob die Gegner aus dem Judentum stammen, wie Phld 6,1; Magn 8,1; 10,2 nahelegen könnten, oder ob Ignatius an zwei und drei gegnerischen Fronten zu kämpfen hat, wird nach wie vor kontrovers diskutiert105 . Verwandtschaft im Phänotyp könnte zwischen den »Doketen« bei Ignatius und im lJoh bestehen, während die Problembewältigung teils unterschiedlich ausfällt. So zieht sich Ignatius u.a. auf das kirchliche Amt als Basis der Einheit zurück, was lJoh unterläßt. Freilich stehen alle Ausführungen zu Ignatius unter dem Vorbehalt der Datierungsfrage 106 . Bei einem Spätansatz auf ca. 160/170 verliert der Vergleich mit lJoh an Relevanz, der Anschluß an die bekannten trinitarischen und christologischen Auseinandersetzungen des 2. Jahrhunderts ist erreicht. Nag Auf doketistische Tendenzen stoßen wir auch in einigen Traktaten aus Nag HammaHammadi di107. Die Verwechslung von Simon von Kyrene und Jesus kennt 2LogSeth NHC VIII 2: »Ich starb nicht in Wirklichkeit, sondern nur scheinbar« (55,18f); »Es war ein anderer, Simon, der das Kreuz auf seiner Schulter trug, ein anderer, dem sie die Dornenkrone aufsetzten. Ich aber freute mich in der Höhe ... und ich lachte über ihre Unwissenheit« (56,9-14.18-20). In ApcPt NHC VIII3 wird Petrus Schritt für Schritt an die Erkenntnis herangeführt, daß nur das Sarkische am Erlöser leidet, nicht das Pneumatische: »Der, den du siehst bei dem Holz, heiter und lachend, das ist der lebendige Jesus. Aber der, in dessen Hände und Füße sie Nägel treiben, ist (nur) sein fleischlicher Teil (OXLXOV), sein >Ersatzmann< [im Koptischen steht das Wort für >Tausch<] ... , welcher sein Gleichbild war« (81,15-23); die weltmächte haben den Falschen zuschanden gemacht, nämlich »den Sohn ihrer (eigenen) Herrlichkeit« (82,lf). Der Auferstandene sagt in lApcJac NHC V/3 31,17-22: »Zu keinem Zeitpunkt habe ich irgend etwas erlitten, noch wurde ich gequält. Und dieses Volk hat mir kein Leid angetan.« Petrus berichtet in EpPt NHC VIIII2 139,15-23 zunächst in ganz orthodoxem 104 Vgl. Müller~, Menschwerdung 102-122; H. Paulsen, Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Brief des Polykarp von Smyrna, 21985 (HNT 18), 64f (Lit.); W.R. Schoedel, A Commentary on the Letters of Ignatius of Antioch, Philadelphia 1985 (Hermeneia); auch in Übers. München 1990. Weitere Parallelen zu 1Joh bei Johnson~. 105 Vgl. nur E. Molland, The Heretics Combatted by Ignatius of Antioch, JEH 5 (1954) 1-6; auch in: ders., Opuscula Patristica, 1970 (BNT 2), 17-23; c.K. Barrett, Jews and Judaizers in the Epistles of Ignatius, in: Jews,
Greeks and Christians. Religious Cultures in Late Antiquity (FS WD. Davis), 1976 (SJLA 2), 220-244. 106 Die Einwände von R. Joly, Le dossier d'Ignace d'Antioche, Brüssel1979 (Universite libre de Bruxelles. Faculte de Philosophie et Lettres 69), gegen den traditionellen Frühansatz auf 110 sind nicht restlos aus dem Weg geräumt. 107 Zum folgenden K.W. Tröger, Doketistische Christologie in Nag-Hammadi-Texten. Ein Beitrag zum Doketismus in frühchristlicher Zeit, Kairos 19 (1977) 45-52.
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Gegnerfrage: Doketismus, Gnosis
Stil von der Passion Jesu, gibt dann aber die Deutung: »Jesus ist diesem Leiden gegenüber ein Fremder. Wir sind diejenigen, die gelitten haben wegen der übertretung der Mutter.«
Doketismus und Gnosis überlagern sich in der Christologie über eine beträchtliche Strecke hin, auch wenn sich die Forschung von einer einfachen Identifizierung mehr und mehr abgewendet hat. Es gibt für Frühformen des Doketismus auch einen Ansatz im Judentum, das den biblischen Monotheismus nicht mit der Inkarnationsvorstellung vermitteln konnte. Hier bot sich die Epiphanie von Engelwesen im AT als Hilfe an: »Abrahams Besucher in Mamre sahen aus wie Menschen, waren aber keineswegs Menschen.«108 Im Buch T obit verabschiedet sich der Engel Rafael, der zuvor sehr direkt und lebendig als Reisebegleiter anwesend war, mit den Worten: »Alle Tage bin ich euch erschienen, und ich habe weder gegessen noch getrunken, sondern ihr habt eine Erscheinung (öQaOL~) gesehen. Und nun sagt Gott Dank dafür, denn ich steige hinauf zu dem, der mich gesandt hat« (Tob 12,19f). Nimmt man noch seine Selbstvorstellung EYW dilL Paepa'l1A in 12,15 hinzu, führt uns das in beträchtliche Nähe zur johanneischen Christologie, ihrer Herkunft und einer möglichen Interpretation, die in einem veränderten Koordinatensystem als Fehlinterpretation eingeschätzt wurde. Zugleich ergibt sich von hier aus eine Konvergenzlinie zu griechisch-hellenistischem Denken109 , das vor dem Hintergrund des Dualismus von Geist und Materie, Gott und Welt durch eine Inkarnationschristologie in die Aporie geführt wurde, außerdem gewohnt war, daß Gottheiten und Heroen nur von Zeit zu Zeit in menschlicher Gestalt auf Erden erscheinen (Homer, Od 10,277-280; 13,221-225; 17,483-487) oder sich durch ein schattenhaftes Abbild und Trugbild vertreten lassen, man denke nur an das E'(ÖWAOV des Herakles in der Unterwelt bei Homer, Od 1l,60lf, an das beseelte Abbild der Helena, das Paris nur zum Schein besaß, in der griechischen Mythologie (z.B. Euripides, Hel 33-36: 0IlOLwaao' Elloi dÖWAOV ... ÖoxEt f1' EXELV - XEvr'jV öOX'I1OLV) und an das simulacrum nudum und die umbra Caesars bei Ovid, Fasti 3,70lf. Dieses Zusammentreffen dürfte nicht die geringste Ursache für den Erfolg und die Attraktivität einer doketistisch eingefärbten Christologie gewesen sein. Sowohl Kerinth als auch der Doketismus laufen oft unter dem unscharfen Gnosis Oberbegriff »Gnosis« mit. Die Mehrheitsmeinung der Forschung, daß 1Joh Gnostiker bekämpfe, reicht bis in die Alte Kirche zurück, wo der Brief spätestens seit Irenäus und Tertullian als Waffe gegen die Gnosis eingesetzt wurde. Man muß dazu aber auch festhalten, was an Erkennungsmerkmalen der ausgearbeiteten gnostischen Systeme alles noch fehlt. Die »Devolution« (Abwärtsentwicklung) des Göttlichen, ein böser Demiurg mit seinen Äonen, die 108 Brox' 314 zu Gen 18; vgL die »doketistisehe« Exegese dieses Textes bei Philo, s. Müller', Menschwerdung 116f.
VgL Weigandt, Doketismus (s.o. Anm. 102) I 32-35.
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Einleitung
Widergöttlichkeit der Welt, der Mythos von Fall und Rettung der Sophia, komplexe Kosmologien mit bis zu 10 Himmelssphären, zwei- oder dreiteilige Anthropologie mit überkosmischer Seele oder Lichtfunken, Seelenaufstieg nichts von diesen Dingen, die als wesentlich gelten llO , findet sich im 1Joh. Immer gilt: Einzelelemente an sich sind noch nicht unbedingt gnostisch, sie werden es mit Sicherheit erst im geschlossenen System. Eine Kehrtwendung innerhalb der gnostischen Parameter vollzieht, wer nicht mehr die Gegner als gnostisch infiziert ansieht, sondern den Briefautor selbst und die Gruppe, für die er spricht111 . Die Gegner sucht man dann in den Gemeinden der Pastoralbriefe oder des lukanischen Doppelwerks. Der Autor sehe sich mit einer Ketzerpolemik nach der Art von 1Tim 5,24; 2Tim 2,18; 3,6 konfrontiert und setze sich mit kräftigen Worten zur Wehr. Ob die Nag-Hammadi-Texte, wo solche gnostischen Attakken auf die frühkatholische Kirche anzutreffen sind, genügen, um 1Joh 2,19 entsprechend zu deuten, muß doch, vorsichtig gesagt, offenbleiben. Genuine Gnosis in den Eigenaussagen des 1Joh aufzuweisen fällt um keinen Deut leichter. Diotrephes aus 3Joh 9 steht in dieser Optik auf einer Linie mit den Gegnern in 1Joh, was aufgrund der unterschiedlichen Schärfe der Auseinandersetzung hier wie dort nahezu ausgeschlossen erscheint.
UltraDer Ausdruck »Ultra-Johanneer« ist von Vielhauer entlehnt. Für ihn bestand Johanneer »die Irrlehre aus der Überspitzung einzelner johanneischer Gedanken«112. Ihre Vertreter haben sich weiter vorgewagt (2 Joh 9) als erlaubt, berufen sich aber für ihr Denken auf das Johannesevangelium bzw. auf johanneische Traditionen, die ins Evangelium Aufnahme fanden oder auch neben der im Evangelium getroffenen Auswahl (Joh 20,30) her gepflegt wurden, wie z.B. die synoptische Taufperikope, die das Evangelium als bekannt voraussetzt. Dadurch wird einsichtig, wieso sich der Autor und seine Gegner oft nur um Nuancen voneinander unterscheiden und nahezu identische Positionen beziehen können. Sie ringen um das rechte Verständnis des gemeinsamen Erbes. In welche Richtung die gegnerische Theologie verläuft, deutet Bonnard mit dem Begriff der »desincarnation« an113 . Besondere Bedeutung gewinnt als ihr traditionsgeschichtlicher Horizont eine im 2. Jahrhundert von Anfang an verbreitete Taufchristologie, die bei einer adoptianischen Lektüre der Taufperikope Mk 1,9-11 parr ansetzen konnte, um dann durch Ankoppelung Vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1: Die mythologische Gnosis, 31964 (FRLANT 51), 5. 111 Vgl. Vouga*; ders., Reception; vorbereitet ist diese Position durch E. Käsemann, Ketzer und Zeuge. Zum johanneischen Verfasserproblem (1951), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 168-187. 112 Vielhauer, Geschichte (s.o. Anm. 45) 472. 110
113 Bonnard 12; am gründlichsten ausgearbeitet und in eine umfassende Rekonstruktion der joh. Gemeindegeschichte eingebettet hat diesen Vorschlag Brown* (und Komm.), bei dem die Konturen des Gegnerbildes jedoch manchmal eigentümlich unscharf und verschwommen wirken; in die innerjohanneische Theologiegeschichte tragen auch Müller* und Theobald* die im IJoh ausgefochtene Kontroverse ein.
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Gegnerfrage: Ultra-Johanneer, Ergebnis
an die Präexistenzchristologie zu einer mythologischen Überhöhung voranzuschreiten 114• Weniger deutlich stellt sich der Sachverhalt bei dem anderen Eckpfeiler, dem Sterben Jesu, dar, wenn man nicht doch das Aufgeben des Geistes in Joh 19,30 im Sinn einer Trennungschristologie liest. Die Herleitung des christologischen Konflikts im 1Joh aus einem Streit um evangeliare Traditionen erfordert im übrigen nicht, dem Johannesevangelium einen »naiven Doketismus« zu unterstellen115 . Eine gewisse Offenheit und Ambivalenz, eine mangelnde Eindeutigkeit in Fragen, die als solche erst später aufbrechen mochten, genügt vollauf. Neben der innergemeindlichen Geschichte mit ihren Krisenphänomenen (Tod des Evangelisten?, des Lieblingsjüngers?) wird man auch dem äußeren Ambiente einen Anteil beim Aufkommen neuer Herausforderungen zugestehen, auch wenn es im einzelnen nur schwer exakt zu fassen ist. Ein großer und kühner theologischer Entwurf hat es außerdem so an sich, daß er auch Gefahren in sich birgt und Effekte freisetzen kann, die den Hütern der Tradition mehr als bedenklich vorkommen. Es ist die Crux aller Überlegungen zur Gegnerfrage, daß die textlichen Daten Zusammennicht so eindeutig sind und wir auf die Heranziehung von Kontexten und von fassung besser ausgearbeiteten Modellen kaum verzichten können, und sei es nur, daß wir sie heuristisch einsetzen, um manchen Dingen auf die Spur zu kommen. Die Bestimmung der gegnerischen Christologie scheint sich auf die Alternative von striktem Doketismus oder Trennungschristologie zuzuspitzen, wenn sich nicht eine Position finden läßt, die beidem noch vorausliegt. Eine große Rolle dürfte in jedem Fall die Taufe gespielt haben, als christologisches und als existentielles Fundamentaldatum. Die Geistbegabung Jesu, die ihn zur Erscheinungsweise des Gottessohnes macht, gilt zweifelsfrei erst von der Taufe an. Ob sie vor dem Sterben endete oder vom Sterben nicht tangiert wurde, läßt sich nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit ausmachen, aber daß Inkarnation und Kreuzestod in ihrer soteriologischen Relevanz in den Hintergrund traten, wird man festhalten können. Von der Ausstattung mit dem Geist bei der Taufe an datiert auch die grundlegende Wende im Leben der Glaubenden. Es wird fortan von einer starken und intensiven Geisterfahrung geprägt, die sich aber anders als im Korinth des Paulus nicht in ekstatischen und charismatischen Phänomenen äußerte, sondern in einer konsequenten und folgenreichen Verinnerlichung des Glaubenslebens. Gotteserkenntnis und Gemeinschaft mit Gott, gesteigert bis zur Gottesschau, eine rein präsentisch gefaßte Eschatologie, völlig" Sündlosigkeit der Gotteskinder, das sind quantitativ geringfügige, in der Auswirkung nach Meinung des Briefautors aber verhängnisvolle Radikalisierungen johanneischer Theologumena auf
114 Vgl. das körperliche Verschmelzen der vom Himmel herabkommenden Taube - diese auch in Joh 1,32 - mit Jesus im Ebionäer-
evangelium Fr. 3; NTApo 5 I, 141. Wie es E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 31971, tut. 115
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Einleitung
Seiten der Gegner. Nicht umsonst betont er die reale, leibhaftige Existenz des Gottessohnes (»im Fleisch gekommen«), der uns als Mensch handgreiflich nah (1,1) begegnet ist, ebenso aber auch die leibhafte Dimension des christlichen Lebens, die nicht in elitärem Bewußtsein überspielt werden darf: Wer Bruder und Schwester Not leiden sieht, ohne zu helfen, wie kann der sich der Illusion hingeben, von der Liebe Gottes beseelt zu sein (3,17)? Blicken wir noch einmal auf die Gnosisdiskussion zurück. Auch die Gnosis fiel nicht vom Himmel, sie hat ihre Wurzeln, sie wurde vorbereitet und von Zeitströmungen in ihrem Entstehen begünstigt. Man weiß inzwischen, daß aus der Täuferbewegung im Jordangraben ein kräftiger Impuls in die Gnosis einging. Hier wäre an die prominente Stellung des Täufers und der Täuferjünger in den Evangeliumsstoffen zu erinnern. Man weiß ferner, daß auch Segmente des Judentums das ihre in den großen gnostischen Topf einbrachten. Bekannt ist die Rezeption des Sophiamythos, die Z.T. über die Weisheitsliteratur verlief. Denken wir in dem Zusammenhang an die weisheitlich geprägte Christologie des Johannesevangeliums zurück, die man zur Einwohnungschristologie in ontologischem Sinn ausbauen konnte. Das sind nur zwei Stränge von mehreren - angelomorphe Sendbotenkonzepte im Judentum und Epiphanien von Heroen und Göttern im hellenistischen Raum sind weitere -, die einerseits zum alles andere als uniformen Judentum des 1. Jahrhunderts und andererseits zur Gnosis des 2. Jahrhunderts hin verlaufen. Darin liegt m.E. das Körnchen Wahrheit der jüdisch-judenchristlichen Einordnung der Gegner und das größere Korn Wahrheit der Gnostikerthese. Daß sich aus diesem brodelnden Gemisch noch keine ganz festen Größen herauskristallisiert hatten, ist der innere Grund dafür, warum uns die historische Verortung so schwer fällt. Es liegt auch nichts an dieser oder jener Etikettierung. Es kommt vielmehr darauf an, die konkrete historische Erscheinung so scharf ,:"ie möglich zu erfassen, zugleich aber auch Entwicklungstendenzen zu erkennen und strukturelle Verwandtschaften wahrzunehmen.
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Verfasserfrage
Literatur: Baur, F.C, Das Verhältniss des ersten johanneischen Briefs zum johanneischen Evangelium, ThJb(T) 16 (1857) 315-331; Bonnard, P., La Premiere Epitre de Jean est-elle johannique?, in: ders., Anamnesis. Recherches sur le Nouveau Testament, 1980 (Cahiers de la RThPh 3),195-200; Charles, R.H., A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St. John 1, 1920 (lCC), N -VII; Culpepper, R.A., The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools, 1975 (SBLDS 26); Dodd, Epistle; Ewald, H., Über die Johannesbriefe, JBW 3 (1851) 174-183; ders., Ueber die zweifel an der abkunft des vierten Evangeliums und der drei Sendschreiben vorn Apostel Johannes, JBW 10 (1860) 83-114; Grimm, w., Ueber das Evangelium und den ersten Brief des Johannes als Werke Eines und desselben Verfassers, ThStKr 20 (1847) 171-187; Gunther, J.j., Early Identifications of Authorship of the Johannine Writings, JEH 31
Verfasserfrage: Verhältnis zum Johannesevangelium
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(1980) 407-427; Hengel, Question; Hilgenfeld, A, Das Evangelium und die Briefe Johannis, nach ihrem Lehrbegriff dargestellt, Halle 1849, 322-355; ders., Briefe; Hoekstra, 5., Oorsprong der verwantschap van den eersten brief van Johannes mit het vierde Evangelie, ThT 1 (1867) 137-188; Holtzmann, Problem; Howard, W.F., The Common Authorship of the Johannine Gospel and Epistles, JThS 48 (1947) 12-25; aufgenommen in: The Linguistic Unity of the Gospel and Epistles, in: ders., The Fourth Gospel in Recent Criticism and Interpretation, London 41955, 276-296; Kügler,]., Die Belehrung der Unbelehrbaren. Zur Funktion des Traditionsarguments in lJoh, BZ NF 32 (1988) 249-254; Lützelberger, E.C]., Die kirchliche Tradition über den Apostel Johannes und seine Schriften in ihrer Grundlosigkeit nachgewiesen, Leipzig 1840; Mian, F., Sull'autenticita delle »epistole giovannee«, VetChr23 (1986) 399-411; Morgen, M., L'evangile interprete par l'epttre: Jean et I Jean, FV 86 (1987) 59-70; Nunn, H.P.v., The First Epistle of St. John, EvQ 17 (1945) 296-303; Poythress, V.S., Testing for Johannine Authorship by Examining the Use of Conjunctions, WThJ 46 (1984) 350-369, hier 365f; Roos, F., Das Verhältniss zwischen dem Evangelium Johannis und den johanneischen Briefen, ThSW 2 (1881) 186-209; Ruckstuhl, E., Zur Antithese Idiolekt - Soziolekt im johanneischen Schrifttum, SNTU/A 12 (1987) 141-181 = ders., Jesus im Horizont der Evangelien, Stuttgart 1988 (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 3), 219-264; Schnelle, U., Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule, 1987 (FRLANT 144), 53-75; Skrinjar, A, Differentiae theologicae I Jo et Jo, VD 41 (1963) 175-185; Soltau, Verwandtschaft; Valentin, A, The Johannine Authorship of Apocalypse, Gospel and Epistles, Scrip. 5 (1952/53) 148-150; Whitacre, Polemic 153-182; Wilson, w.G., An Examination of the Linguistic Evidence Adduced against the Unity of Authorship of the First Epistle of John and the Fourth Gospel, JThS 49 (1948) 147-156.
Die Suche nach dem Verfasser des lJoh führt uns mitten hinein in die nach wie vor dornige »johanneische Frage«116, die wir hier nur in einem engen, streng auf lJoh konzentrierten Ausschnitt behandeln können117• Dennoch besteht die Hauptaufgabe in der Abklärung des Verhältnisses zum Johannesevangelium. Dazu zwingt uns nicht nur die altkirchliche Tradition, die von einem einheitlichen Korpus johanneischer Schriften ausging, auch die Berührungspunkte zwischen lJoh und dem Johannesevangelium machen überlegungen in dieser Richtung unumgänglich. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen lJoh und dem Johannesevangelium hat Holtzmannlf mit lange Zeit unerreichter Gründlichkeit erörtert. Seine umfänglichen Tabellen wurden des öfteren reproduziert, kritisch diskutiert, teils auch ergänztl18. Am großen Ausmaß der stilistisch-sprachli116 S. zuletzt Hengel*i als Streiflicht aus der frühen Kontroverse Ewald* und Lützelberger*; als Verteidiger des traditionellen Standpunkts für IJoh Grimm*; Mian*; Roos*; Valentin". l17 Die Gestalt des Presbyters aus 2/3Joh
wie überhaupt die Verfasserschaft der beiden kleinen Johannesbriefe sparen wir hier zunächst aus und gehen erst bei der Kommentierung von 2/3Joh darauf ein, s. dort. 118 Vgl. nur Brooke I-XXVII; Brown 757759; auch Charles*.
Verhältnis zum Johannesevangelium
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Einleitung
chen Einheitlichkeit der bei den Texte kann nach allem kein Zweifel bestehen. Ihre Nähe ist eingestandenermaßen größer als die zwischen Lukasevangelium und Apostelgeschichte und vergleichbar mit dem Verhältnis von Kolosser- und Epheserbrief. Aber gerade damit ist auch die Schwierigkeit angedeutet, denn die kritische Forschung rechnet nicht mehr mit einer Verfasseridentität für Kol und Eph, sondern versteht die sprachliche Verwandtschaft als Ergebnis bewußter Aufnahme und Imitation des früheren Textes durch einen anderen, späteren Autor. Es bleibt ein Restbestand an Differenzen auch in stilistischer Hinsicht. Ihre höhere Objektivität als »unconscious index of the way in which a writer's mind works«119 sucht sich nach Holtzmann auch Dodd* zunutze zu machen. Er arbeitet die unterschiedliche Dichte des Gebrauchs von Präpositionen, adverbialen Partikeln und Verbkomposita heraus. Besonders fällt auf, daß lJoh das im Evangelium häufige yaQ nur zweimal verwendet, während kausales ö-n erheblich häufiger als im Evangelium vorkommt, und daß oirv (202mal im Evangelium) in lJoh völlig fehlt. Andererseits hat lJoh manche johanneischen Spracheigentümlichkeiten bis zum Überdruß strapaziert. Die Gegenkritik120 hat nicht geruht und Dodds Argumentation, die auf unterschiedliche Verfasser für lJoh und das Johannesevangelium hinauslief, wieder erschüttert. So muß man zum Fehlen des oiiv bedenken, daß es vor allem in erzählenden Texten Verwendung findet. In den Abschiedsreden des Evangeliums begegnet es von den erzählenden Rahmenversen abgesehen nur ein einziges Mal (in Joh 16,22). Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, daß beide Schriften eine sehr unterschiedliche Länge aufweisen und ganz verschiedenen Gattungen angehören: In einem Fall liegt narrative Jesuserzählung vor, im anderen appellative Mahnrede. Das läßt sich mit statistischen Mitteln nur sehr unvollkommen einholen. Das Hauptaugenmerk wurde deswegen zunehmend auf subtile inhaltliche Verschiebungen gerichtet. Auch aus dem Evangelium bekannte Themen erscheinen im lJoh oft in anderer Beleuchtung. Um nur weniges zu nennenl2l : In lJoh 1,1 haben »von Anfang an« und »Wort des Lebens« eine etwas andere Bedeutung als »im Anfang« und »Wort« in Joh 1,1. Das Evangelium konzentriert die Lichtmetaphorik streng auf Christus hin, der Brief sagt ebenso eindeutig: »Gott ist Licht« (1,5). Die Immanenzsprache gewinnt im lJoh eine eigene Färbung (s. Exkurs 2). »Paraklet« ist in lJoh 2,1 Jesus Christus als Fürsprecher beim Vater im Himmel, nicht wie in den Abschiedsreden des Evangeliums der Geist der Wahrheit als Beistand der Jüngerschar auf Erden. Es tauchen in lJoh verstärkt traditionelle Topoi einer apokalyptisch geprägten Zukunftserwartung auf. Zwar könnten der Zwang einer bestimmten Situation und theologische Entwicklungen die inhaltlichen Verschiebungen auch Dodd~ 132; vgl. Holtzmann~ 2, 135. Vertreten besonders durch Howard~ und Wilson~; s. auch Poythress~. 119 120
Vgl. (mit Beispielen) Bonnard~; Conzelmann, Anfang; Klein, Licht; neben Holtzmann~ auch schon Hoekstra~.
121
Verfasserfrage: Johannes / johanneische Schule
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bei gleichbleibender Verfasserschaft erklären helfen. Aber ein Abwägen aller Gesichtspunkte führt doch eher dazu, zwei verschiedene Verfasser für 1Joh und das Johannesevangelium anzunehmen. Da durch den Briefprolog und den Briefschluß der Eindruck erweckt wird, der Evangelienautor sei erneut am Werk (zur zeitlichen Folge s.u.), und der Briefautor sich in 1,1-3 in die Schar der Augenzeugen einreiht, liegt ein Fall von anonymer Pseudepigraphie vor122 • Das sachliche Recht für sein Vorgehen bezieht der Verfasser daraus, daß er im Traditionskontinuum der johanneischen Schule steht. Die Argumente für die Existenz einer johanneischen Schule 123 ergeben sich zum ei- Die johanneinen von den historischen Analogien her, die Culpepper" ausgewertet hat. Gemeinsa- sche Schule me Merkmale wie Stifterpersönlichkeit, Traditionspflege, Gemeinschaftsleben, Freundschaftsideal und Identitätsfindung gegenüber der Außenwelt entdeckt er im johanneischen Schrifttum wieder. Neben der Schulbildung in der antiken philosophie überhaupt (bei den Anhängern und Nachfolgern von Pythagoras, Platon, Aristoteles, Epikur und der Stoa) bildet eine beachtliche Vergleichsgröße Qumran, weil wir dort mit dem Lehrer der Gerechtigkeit eine Stifterpersönlichkeit vorfinden und zugleich eine ausgebreitete schriftliche Hinterlassenschaft, die ganz sicher nicht aus einer Hand stammt, sondern einen regelrechten Studien- und Schulbetrieb voraussetzt, wo Texte kommentiert und überarbeitet wurden, allerdings über einen längeren Zeitraum hinweg, als er für das johanneischen Schrifttum zur Verfügung steht. Daß Philos literarische Produktion den Kontext einer Art Synagogenschule in Alexandrien erfordert, hatte - mit einem Seitenblick auf Johannes - Bousset schon in die Debatte eingebracht124• Vergleichbare urchristliche Phänomene sind die Paulusschule in Ephesus125 und »the School of St. Matthew«126. Der zweite Argumentationsstrang geht vom johanneischen Schrifttum aus, wo die auffällige Wir-Form an verschiedenen Stellen Goh 3,11; 21,24; 1Joh 1,1-3) einen Einstieg bietet. Hier reden Lehrer und Theologen, die einen eigenen Stand in der Gemeinde bilden und von Fall zu Fall als Autoren und Redaktoren tätig werden127. Auch manche der großen Redestücke im Evangelium wirken sehr viel plastischer, wenn man sie als Niederschlag von schuldiskussionen betrachtet (besonders deutlich m.E. Joh 16,16-33). Das Ineinander von Gemeinsamkeiten und Unterschieden könnte so eine angemessene Erklärung finden, die gegenüber dem Postulat einer bloßen litera122 Anonym deswegen, weil kein großer Name aus der Vergangenheit usurpiert wird; vgl. Kügler". 123 Dazu Culpepper"; Schnelle" 53-64; Strecker, Anfänge; Becker, Joh 40-43 (Ut.); K Berger, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, 1977 (UTB 658), 226-234. Zurückhaltend, was die Auswertung betrifft, Hengel"; Ruckstuhl". 124 W. Bousset, Jüdisch-Christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom. Literarische Untersuchungen zu Philo und Clemens von Alexandria, Justin und Irenäus, 1915 (FRLANT 23), bes. 316. 125 Vgl. H. Conzelmann, Paulus und die
Weisheit, in: ders., Theologie als Schriftausle-
gung. Aufsätze zum Neuen Testament, 1974 (BEvTh 65), 177-190; P. Müller, Anfänge der Paulusschule. Dargestellt am zweiten Thessalonicherbrief und am Kolosserbrief, 1988 (AThANT 74), bes. 1-3. 126 K Stendahl, The School of St. Matthew and Its Use of the Old Testament, 21968 (ASNU 20), bes. 31.163. 127 Etwas anders als Culpepper" wird man dafür den Begriff Schule reservieren und für die Gesamtgemeinde einen weiteren Ausdruck wählen wie johanneischer Gemeindeverband oder johanneischer Kreis, vgl. Taeger, Johannesapokalypse 9-20.
46
Einleitung
rischen Imitation manche Vorteile hat, insofern sie mit einem soziologischen Kontinuum rechnet. Der einheitliche Sprach- und Denkstil ist ein Erbstück der Schule, die für den eigenen Gebrauch eine theologische Sondersprache entwickelte. Mit Nutzen kann man dazu Untersuchungen zur Gruppensprache (»in-grouplanguage«) heranziehen128 • So läßt sich feststellen, »daß Gruppen, die in bezug auf einen bestimmten Erfahrungsbereich in einem relativ isolierten Kommunikations- und Interaktionsrahmen leben, auch eine eigene, für Außenstehende kaum authentisch interpretierbare Sprachwelt entwickeln.« Mehr noch, es bilden sich »trotz ständiger komplizierter Anpassungsprozesse aufgrund der starken Fluktuation sehr schnell und deutlich sprachliche Sonderungen im Bereich des Wortschatzes, der Ausdrucksund Verwendungsweisen wie auch der Flexion und der Satzbaupläne« (I) heraus. In einem konkreten Fall wurde die Mehrzahl der Besonderheiten von zwei Personen, die von Anfang des Experiments an dabei waren, eingebracht, strahlte dann aber über die Gruppe auch auf den Sprachgebrauch in den Familien und in neuen Beziehungsfeldern aus. Innerhalb der Gruppe erschöpfte sich die Funktion der Sondersprache nicht darin, Verständigungsnorm zu sein, sondern stärkte auch das Gruppenbewußtsein und schloß Gruppenfremde aus.
Zeitliche Verfasserfrage und zeitliche Abfolge stehen in einem engen Wechselverhältnis. Natürlich erfordert die These von der bewußten literarischen Imitation Folge des Evangeliums durch den Autor des 1Joh die zeitliche Vorordnung des Evangeliums. Die Tübinger Schule war in dieser Frage gespalten. Ihr Schulhaupt Baur* plädierte für die Priorität des Evangeliums. Hilgenfeld* hingegen läßt den Brief früher entstanden sein und sieht in ihm den übergang von der altjohanneischen Prophetie der Apokalypse als frühestem Erzeugnis der johanneischen Schule zu dem mystisch-gnostischen Evangelium als ihrem Spätprodukt. Die vermittelnde Lösung, der Brief sei das Begleitschreiben zum Evangelium, sieht sich, sofern sie von einer »völligen Gleichzeitigkeit heider Schriften« ausgeht129, dem Einwand ausgesetzt, daß sich dann die vorhandenen inhaltlichen Verschiebungen nicht mehr erklären lassen. Mit großer Mehrheit entscheiden sich die Kommentare der letzten 150 Jahre für die zeitliche Priorität des Evangeliums. Neuerdings melden sich wieder Stimmen, die eine im 19. Jahrhundert durchaus übliche Ansetzung des Briefes vor dem Evangelium verteidigen13o. Ausdrückliche Zitate aus dem Evangelium finden sich im 1Joh nicht, das ist der Grund, warum sich keine letzte Sicherheit erreichen läßt. Die größere Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür, den Brief später zu datieren als den Hauptbestand des Evangeliums und ihn auf das Evangelium (nicht nur auf Vgl. den Exkurs »Das Problem der >ingroup-language<(( bei R. Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike, 1991 (SBB 22), 79-81 (mit außerexegetischer Lit.); die folgenden Zitate ebd. 79. 128
So Ebrard 29 (Hervorheb. im Orig.); ähnlich Haupt, Brief 317f. 130 Besonders ausführlich Schnelle· 65-75; auch Strecker, Anfänge (unter Einbezug von 2/3Joh, was wir vorerst zurückstellen); Vawter 405; Grayston 11. 129
Verfasserfrage: Zeitliche Folge
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die darin verarbeiteten Traditionen) Bezug nehmen zu lassen. Die Absicherung müßte noch über ausführliche Textvergleiche erfolgen131. Immer wieder macht man beim Einzelvergleich der zahlreichen Parallelen die Erfahrung, daß man das Evangelium fast braucht, um Verse aus dem Brief wirklich zu verstehen132• Und das dürfte nicht nur unser heutiges Problem sein. Es dürfte vielmehr darauf hindeuten, daß der Briefautor nicht »ohne Netz und doppelten Boden« gearbeitet hat, sondern das Evangelium als Netz ausgespannt wußte und seinen Text in die durch das Evangelium erstellte Sprachwelt einbetten konnte. In einer Hinsicht bedarf das aber noch einer weiteren Differenzierung. Besonders dicht werden die Berührungen der beiden Schriften im Bereich der Abschiedsreden Joh 13-17 und hier noch einmal im zweiten Durchgang in Joh 15-17. Eine ansprechende Erklärung ist sicher schon die, daß »die Situation des inmitten der Seinigen redenden und von ihnen Abschied nehmenden Christus« in größerer Analogie »zu derjenigen des apostolischen Oberhirten, der seinen Gemeinden das schriftliche Vermächtniss des Briefes hinterlässt«, steht als die des »mit den Juden streitenden Christus« in der ersten Evangelienhälfte Joh 1-12133 • Aber genügt das schon? Gerade die Abschiedsreden in Joh 15-16 werden - ungeachtet von Alter und Herkunft des in ihnen verarbeiteten Materials - des öfteren als redaktioneller Nachtrag angesehen. Die einfache Alternative »früher oder später?« wird dadurch aufgefächert. Die Frage muß präziser lauten: In welchem Verhältnis steht 1Joh zum älteren Hauptbestand und zur jüngeren redaktionellen überarbeitung des Johannesevangeliums? Zu ersterem ist zu sagen, daß nach unseren bisherigen Ergebnissen 1Joh später liegt als das Werk des Evangelisten selbst. Zu der vermuteten Redaktionsschicht bestehen besondere Affinitäten, aber auch einige Unterschiede, am unverkennbarsten zum Nachtragskapitel Joh 21, wenn man Gemeinde- und Amtsvorstellungen hier wie dort vergleicht. Das macht es schwierig, eine einfache Lösung zu übernehmen wie die, der kirchliche Redaktor des vierten Evangeliums sei zugleich der Hauptverfasser des ersten Johannesbriefs134 • Innerhalb des gemeinsamen Horizontes der johanneischen Schule können komplexere Prozesse abgelaufen sein, die wir nicht mehr exakt genug zu rekonstruieren vermögen. So viel wird man festhalten, daß die schwierige Gemeindesituation, die 1Joh bearbeitet, sich auch in der redaktionellen Schicht im Evangelium spiegelt. Das Nachtragskapitel des Evangeliums Joh 21 hat der Verfasser des Briefes vermutlich noch nicht gekannt. Allzu große zeitliche Abstände brauchen dafür nicht veranschlagt zu werden.
131 s. zur Abhängigkeit des Briefprologs vom Evangeliumprolog erneut Theobald, Fleischwerdung 421-437. 132 Auch wenn man das nicht ins Extrem steigert wie Nunn~ 296: »if the Fourth Gospel had never been written, or had been acciden-
tally lost, it would have been impossible to understand the Epistle in anything but a lirnited sense«. 133 Holtzrnann~ 1, 704. 134 So Hirsch, Studien (s. die Lit. zu § 4 der Einleitung) 174f.
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10
Einleitung
Ort und Zeit
Literatur: Baur, Briefe; Bruce, F.F., St. John at Ephesus, BJRL 60 (1978) 339-361; Goodenough, E.R., John a Primitive Gospel, JBL 64 (1945) 145-182, hier 160-165; Gunther, J.]., The Alexandrian Gospel and Letters of John, CBQ 41 (1979) 581-603, hier 600602; Hengel, Question; Robinson, J.A. T., Redating the New Testament, London 41981; dt.: Wann entstand das Neue Testament?, übers. J. Madey, Paderborn/Wuppertal 1986,265-322; vgl. auch ders., The Priority ofJohn, London 21987; Schnacken burg, R., Ephesus: Entwicklung einer Gemeinde von Paulus zu Johannes, BZ NF 35 (1991) 4164; Wengst, K., Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 1990; Zurhellen, 0., Die Heimat des vierten Evangeliums (1909), in: Johannes und sein Evangelium, hrsg. K.H. Rengstorf, 1973 (WdF 82), 314-380.
Ort Eine sehr beachtliche altkirchliche Tradition, die älter ist als Irenäus, versetzt das gesamte johanneische Schrifttum nach Ephesus. Unterstützend kann man ins Feld führen, daß die johanneische Theologie ihre Wirkungsgeschichte in Kleinasien entfaltete. Irenäus von Lyon, der selbst aus Kleinasien stammt, und andere Theologen haben sie im Abwehrkampf gegen die Gnosis eingesetzt. Unter ihrem Einfluß stehen aber auch die Montanisten, die im 2. Jahrhundert in Phrygien auftreten und die johanneische Parakletverheißung in ihren Reihen erfüllt sehen. Ein Seitenblick auf die kleinasiatischen Adressatenstädte der Sendschreiben in Offb 2-3 und der Ignatianen ist erlaubt. Die Angelegenheit wird dadurch erschwert, daß wir vom Entstehungsort des Evangeliums, der mit dem der Briefe nicht unbedingt identisch sein muß, nicht völlig absehen können. Daß im Evangelium Traditionen verarbeitet sind, die nach Palästina, Jerusalem, Samarien und in die Jordangegend zurückreichen, liegt auf der Hand. Aber auch Autoren wie Wengst* und Zurhellen*, die das Johannesevangelium in Transjordanien bzw. in Syrien ansiedeln, halten für die Johannesbriefe am westlichen Kleinasien als Entstehungsort fest. Das würde einen »Umzug« vom Ostjordanland nach Ephesus erfordern, an dem zumindest die Kerngemeinde und führende Vertreter der johanneischen Schule beteiligt waren. Eine solche Entwurzelung aus dem heimatlichen Boden und der Zwang, im fremden Lebensraum wieder Wurzeln zu schlagen, kann ein faktor beim Ausbruch der Unsicherheiten im Umgang mit der anfänglichen Überlieferung gewesen sein. Es wäre dazu aber dringend erforderlich, die historischen Koordinaten einer solchen Umsiedlungsaktion sehr viel präziser nachzuzeichnen, als dies bisher geschehen ist. Vielleicht sollte man aber auch für das Evangelium, zumindest in seiner letzten Phase, stärker auf Ephesus rekurrieren 135 .
135 Vgl. Hengel*. Die Alternativvorschläge sind nicht sehr zahlreich. Mit dem Evangelium zusammen versetzt man die Briefe auch nach Antiochien in Syrien (Chaine 124) oder
nach Alexandrien in Ägypten (Gunther*). Im Exil aufPatmos geschrieben, aber für Ephesus bestimmt, so lautet die von üffb 1,9 aus entwickelte Lösung bei Ebrard 43f.
Ort und Zeit
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Man kann ohne Übertreibung sagen, daß Ephesus von der Stadt des Paulus zur Stadt des Johannes geworden ist136. Eine Zeitlang müssen sich die beiden Traditionskreise in Ephesus überlappt haben. In der großen Metropole - einer der größtenStädte des Reiches - unter Einbezug ihres Umlandes und anderer benachbarter Städte der Provinz Asien kann man sich ein befristetes Nebeneinander verschiedener Gruppen ohne weiteres vorstellen, zumal die johanneischen »Freundeskreise« (3Joh 15) wohl nicht mit großen Mitgliederzahlen aufwarten konnten. Manche Berührungspunkte sollten sich auf Dauer doch einstellen, und sie sind auch in den relativ späten Briefen zu verspüren. Erwähnt sei hier nur die Koinoniabegrifflichkeit im lJoh, die näher an Paulus heranrückt. Die Extreme in der zeitlichen Ansetzung sind durch Baur* (1848) und Robin- Zeit son* (11976) abgesteckt. Baur datiert die Johannesbriefe in die frühe Montanistenzeit, das heißt in die Jahre 170/180. Robinson hingegen versucht es mit einem Frühansatz auf 60/65. Die Gesamtkonstruktion von Robinson kann leider nur insgesamt als gründlich verfehlt bezeichnet werden. Sonst wurde eine Frühdatierung in die 70er Jahre nur dort vertreten, wo man »die letzte Stunde« in lJoh 2,18 fälschlicherweise mit der Zerstörung Jerusalems zusammenbrachte 137. Auch die konservativen Ausleger hatten keine Probleme damit, bis zum Ende des 1. Jahrhunderts herabzugehen. Zu Hilfe kam ihnen die Legende vom hohen Lebensalter des Apostels Johannes, der nach Rückkehr aus der Verbannung bis in die Zeit Trajans in Ephesus geweilt habe 138 . In der reinen Zeitangabe herrscht seltene Einmütigkeit mit der kritischen Forschung, die höchstens noch ein bis zwei Jahrzehnte zugibt. Die Spät datierung von Baur verbietet sich schon aufgrund der frühen Zeugnisse, die für ca. 140/ 150 aussagekräftig genug sind (s.o. § 2). Die Nähe zu den Ignatianen wäre sicher hilfreich, wenn deren Datierung auf 110 als gesichert angesehen wird. Der fortgeschrittene Reflexionsstand johanneischer Theologie läßt einen Frühansatz nicht zu. Die Prädikation Jesu als {tE6~ (Joh 1,18 si vera lectio; 20,28; evtl. lJoh 5,20) steht nun einmal nicht am Anfang urchristlicher Theologiegeschichte. Darüber, wieviel Zeit es braucht, bis sich ein Schisma ereignet, kann man streiten. Aber daß in diesem Konflikt Tendenzen sichtbar werden,. die mit innerer Logik auf die Gnosis hinführen, ist ein Indiz für das begin~ende 2. Jahrhundert, wo diese Dinge zum Durchbruch kommen. Unsere Antwort auf die Frage nach Ort und Zeit lautet also: in Ephesus, um 100/110.
136
Vgl. Schnackenburg*, auch zum folgen-
den. 137
So Düsterdieck 1, CIII.
138 Irenäus, Haer 11 22,5; Eusebius, Hist Eccl III 23,1-6.
Kommentar
A Prolog Vom Wort des Lebens (1,1-4)1
Literatur: Blank, l., Was von Anfang war. Zum Proömium des Ersten Johannesbriefes, in: Anfänge der Theologie (FS J.B. Bauer), Graz 1987, 65-79; Conzelmann, Anfang; Dobson, ].H, Emphatic Personal Pronouns in the New Testament, BiTr 22 (1971) 5860; Findlay, GG, The Preface to the First Epistle of John, Exp. IV/7 (1893) 97-108; Francis, Form; Grayston, K., >Logos( in 1 Jn 11, ET 86 (1974/75) 279; longe, M. de, An Analysis of I John 1,1-4, BiTr 29 (1978) 322-330; de Keulenaer, ]., De interpretatione prologi I Joannis (1,1-4), CMech 21 (1932) 167-173; Klauck, Hl., Der »Rückgriff« auf Jesus im Prolog des ersten Johannesbriefs, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg 1989,433-451; la Potterie, 1. de, La notion de »commencement« dans les ecrits johanniques, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), Leipzig/Freiburg 1978,379-403; le Fort, Structures 58-62; Perkins, P., Koinonia in 1 John 1:3-7: The Social Context ofDivision in the Johannine Letters, CBQ 45 (1983) 631-641; Segalla, G, Annuncio e communione nella prima lettera di Giov. 1,1-7, Parole di Vita (Turin) 18 (1973) 35-50; Theobald, Fleischwerdung 422-431; Weir, l.E., The Identity of the Logos in the First Epistle of}ohn, ET 86 (1974/75) 118-120; Wendt, HH, Der »Anfang« am Beginne des 1. Johannesbriefes, ZNW 21 (1922) 38-42.
la b c
d e
f 2a
Was von Anfang an war: was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut und (was) unsere Hände betastet haben, bezüglich des Wortes des Lebens - und das Leben ist erschienen,
1 Verschiedene Titel, die dem 1Joh in den Hss. gegeben werden (z.T. erst in der subscriptio), s. bei TischendorfII 317; Thiele, VL 26/1, 241. Der Kurztitel '!WUWOlJ a' steht in A B. Hingegen haben K 1p u.a. '!WUWOlJ Em.moAt) a' bzw. 3tQ6m]. Des öfteren findet sich noch der Zusatz 'XattoAL'Xi] (614 z.B.). Von den anderen Überschriften seien erwähnt: 'IWUWOlJ
'tOU e1'JaYYEALmou 'Xai futomoA.olJ E:n:LO'tOAt) a' (P); tou <'xYLOlJ '!WUWOlJ tOU tteoA.OyolJ EmmOAt) 'XattoAL'Xt) a' (133). In sie sind Entscheidungen in der Verfasserfrage Gohannes als Evangelist und Apostel) und theologische Wertungen Gohannes als der Theologe unter den Evangelisten) eingegangen.
Prolog (1,1-4)
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b c
cl e
f 3a
b c
d e
4a b
und2 wir haben gesehen3 und wir bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, welches beim Vater war und uns erschienen ist -, was wir (also) gesehen und gehört haben, verkündigen wir auch4 euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Und unsere Gemeinschaft aber (ist Gemeinschaft) mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und wir (sind es, die) dieses schreiben, damit unsere Freude erfüllt seis.
Analyse 1 Zum Aufbau: Die W. 1a-3c bilden einen einzigen überladenen Satz mit ineinander verschachtelten Teilen und mehreren Wiederholungen. Seine Syntax ist alles andere als durchsichtig;. Immerhin läßt sich ein Grundgerüst eruieren, das folgendermaßen aussieht: Was von Anfang an war ... Objektsatz (la): verkündigen wir auch euch, Hauptsatz (3b): damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Finalsatz (3c):
2 B fügt an dieser Stelle ö ein und gleicht so die Satzkonstruktion an V. 3 an. Man müßte nach B übersetzen: »und was wir gesehen haben, bezeugen wir auch, und wir verkündigen euch«. 3 Teils wird »wir haben gesehen« auf »das Leben« in 2a bezogen und folglich »es« als Objekt ergänzt (Windisch 108). Damit gerät die Konstruktion des folgenden »wir bezeugen« ins Zwielicht. Soll man hier bereits neu einsetzen, was der Tempuswechsel evtl. nahelegt? Oder soll man gleichfalls »es« (d.h. das Leben) als Objekt hinzudenken (Marshall 99; Perkins 7) bzw. auf einen objektlosen Gebrauch ausweichen (Smalley 3)? Von der Satzkonstruktion her dürfte mit Baumgarten 189; Thüsing 25 die oben gebotene Übersetzung zu bevorzugen sein, die »ewiges Leben« am Satzende als Objekt zu allen drei Verbformen auffaßt und lediglich den Tempuswechsel durch Wiederholung des »wir« akzentuiert. 4 Der Mehrheitstext läßt Kat vor Uf.lLV aus. Entweder liegt ein reiner Schreibfehler vor
(vgl. Kai UfLEL; in 3d, was ein Überlesen des ersten Kat zur Folge haben kann), oder die Bedeutungsnuance des doppelten Kat wurde nicht mehr verstanden. Möglich wäre schließlich auch noch eine Angleichung an 2d. 5 Der Mehrheitstext liest 4a so: »Und dies schreiben wir euch«, und fährt in 4b vielfach fort: »damit eure Freude erfüllt sei«. Diese von Lücke 218 und Düsterdieck I 6lf verteidigte LA mit »euch« und »eure« ist in den textus receptus eingegangen. Vulgata-Hss. füllen den Finalsatz mit ut gaudeatis auf. Die Änderungen sind als Erleichterungen und als Angleichung an Joh 15,11; 16,24 zu werten, vgl. Metzger, Commentary 709. Anders Dobson*, der an der LA »eure Freude« festhält. 6 Abrupta est et confusa oratio, sagt Calvin 300. Noch krasser Luther 601: »So reden sonst nur Kinder. Ich habe nie eine einfältigere Sprache gehört. Und doch ist darunter eine solche Größe verborgen, daß man' s nicht begreifen kann«; vgl. Posset, Christology 145150.
l]oh 1,1-4: Analyse
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V. 1 enthält vier Objektsätze 7, eingeleitet jeweils mit Ö, dem satzintern eine unterschiedliche Funktion zukommt. In la ist es innerhalb des Relativsatzes Subjekt von »war« (Imperfekt), in lb-e Objekt zu den Verben der sinnlichen Wahrnehmung. lbc und lde sind ein Stück weit parallel geführt, mit angedeuteter chiastischer Verschränkung. Hören und Sehen (im Perfekt) wird wieder aufgenommen durch Schauen und Betasten (im Aorist). Der Nachsatz erscheint zusätzlich gewichtet durch »mit unseren Augen« (nach dem Verb) bzw. »unsere Hände« (vor dem Verb): was wir gehört, was wir gesehen haben mit unseren Augen was wir geschaut und unsere Hände betastet haben Etwas isoliert wirkt »über das Wort des Lebens« in H. Man könnte es vom Hauptverb »wir verkündigen« in 3c abhängig machen, das dann zu dem Akkusativobjekt »was von Anfang an war« und dem Dativobjekt »euch« eine weitere adverbiale Bestimmung mit :rtEQL erhielte. Besser aber sieht man es als eine erste Zwischenbemerkung an, die la-e inhaltlich zusammenfassen soll und der mit V. 2 zum Stichwort »Leben« eine zweite größere Parenthese an die Seite gestellt wird. Die beiden Bestandteile von 2a, ~wii und EqJUVEQW{hj, kehren in 2df in gleicher Reihenfolge wieder; damit ist eine Klammer um den Einschub gelegt. Zu V. 1 und v. 3 bestehen mehrere Verbindungslinien: EWQUKU!lEV 2b kommt bereits in lc vor. Mit »wir bezeugen und verkündigen euch« 2cd folgen zwei Präsensformen, deren zweite das Hauptverb aus 3c vorwegnimmt. Schließlich weist noch il't~ ~v 2e zurück auf ö ~v zu Beginn. Nach diesem Ausufern des ursprünglich intendierten Gedankengangs bleibt dem Autor in V. 3 zunächst nichts anderes übrig, als durch Wiederholung des bisher Gesagten notdürftig Ordnung zu schaffen. Neu ist die Zweckangabe in dem Finalsatz 3d, wo »ihr« (emphatisches Vf.1E~) zum ersten und einzigen Mal im Prolog als Subjekt auftritt und wo mit KOLVWVLU ein weiterer theologisch gefüllter Begriff eingeführt wird. Zu Koinonia gibt 3e sogleich eine nähere Erläuterung, in einer Art Glosse, die man nur durch Ergänzung von Kopula und Prädikatsnomen zu einem kompletten Satz auffüllen kann. V. 4 läuft im Aufbau mit 3a-d parallel: v. 3: Ö... 6.:rtUyyEMof.1EV ... , LVU .. . V. 4: Kui 1UÜ'tU YQuqJof.1EV ... , LVU .. . Formal auffällig ist in V. 4 die erneute Konzentrierung auf die Wir-Form, die den ganzen Abschnitt bestimmt (s. Exkurs 1). Ein Wort noch zu den Tempusstufen. Für die Vergangenheit werden Imperfekt, Perfekt und Aorist gebraucht. Die Perfekte stehen ohne Ausnahme in der Wir-Form. Das Imperfekt ~v hat nur A6yor;, (la) und ~wii (2e) zum Subjekt. Die vier Aoriste sind gleichmäßig auf die Wir-Gruppe (lde) und auf das Leben (2af) aufgeteilt. Die Gegenwartsformen beziehen sich auf Tätigkeiten der Wir. Gruppe (bezeugen, verkünden, schreiben). Ein Futur fehlt, aber die Konjunktive in den beiden Finalsätzen 3d und 4b haben futurischen Klang. Für die Deutung ergibt sich daraus: Mit einem vergangenen Geschehen (Imperfekt, Aorist) standen die Sprecher in unmittelbarer (Aorist), fortwirkender (Perfekt) Verbindung. Die zurückliegende Erfahrung ermöglicht ihre Verkündigung, durch die sie das Vergangene in die
7 Originell, aber fragwürdig Drumwright, Passages 54: Vier sei die Zahl rhetorischer Vollständigkeit; die Sinneswahrnehmungen hören/sehen/tasten müsse man als drei unab-
hängige Zeugen in juristischem Sinn ansehen; es werde ein formal unanfechtbarer Beweis für die Realität der Inkarnation geführt.
56
Prolog (1,1-4)
Gegenwart hinein- und an die Adressaten herantragen (Präsens), in einer ganz bestimmten Absicht (Konjunktiv). 2 Zur Genese: Ist dieses komplizierte Gefüge in einem Zug entstanden oder setzt es einen ebenso verwickelten Wachstumsprozeß voraus? Manche Erklärer sehen eine zweite Hand am Werks. Verschiedentlich wird V. 2 als Interpolation betrachtet. Man sollte dann aber konsequenterweise lf-3b als Einschub ausgrenzen, da sich von le zu 3c ein glatter Übergang ergäbe 9. Den weitreichendsten Vorstoß hat Grayston unternommen: Ein Basistext, bestehend aus la.3abc, sei sukzessiv in drei Anläufen redaktionell ausgestaltet worden. Das Endprodukt lese sich wie »a piece of committee drafting«lo. Eine adäquate Begründung für diese weitreichende Hypothese bietet er jedoch nicht. Ein zwingender Grund für eine literarkritische Dekomposition des Textes ist nicht in Sicht. Der überbordende Sprachstil erklärt sich zum einen aus dem Ausdruckswillen des Verfassers, der alles Wichtige und Grundlegende am liebsten auf einmal sagen möchte. Zum andern dürfte die bewußte Anlehnung an den längeren Prolog des Johannesevangeliums ihren Teil beigetragen haben. 3 Vergleich mit loh 1,1-18: Die enge Verwandtschaft zwischen dem IJoh und dem Prolog des Evangeliums hat schon im 3. Jahrhundert Bischof Dionysius von Alexandrien mit den Worten kommentiert: »Das Evangelium und der Brief nämlich stimmen miteinander überein und beginnen auf gleiche Weise ... Überall dieselben Grundgedanken und Ausdrücke.«ll Die wichtigsten Parallelen seien in einer Übersicht zusammengestellt. Dabei halten wir uns an die Reihenfolge von IJoh 1,1-4 und beziehen 1,5 mit ein:
1loh 1,1-5 la lc Id
Was von Anfang an war Was wir gesehen haben12 (vgl. 3a) Was wir geschaut haben
Bezüglich13 des Wortes des Lebens 2ab Und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen ... (vgl. 2f: uns erschienen) lf
B Vgl. E. Schwartz, Aporien im vierten Evangelium I, NGWG.PH 1907, 342-372, hier 366: Der Anfang wurde dem Brief »später angeklebt«; er wird verunstaltet von »wirren Anakoluthen und Dittographien«. 9 Richtig Bultmann 13 Anm. 2. 10 Grayston 35; zurückhaltender Theobald* 422f, der zunächst in 3a-d ein älteres Logion aus joh. Gemeindetradition ausmachen mächte, vergleichbar vor allem mit Joh 3,11,
loh 1,1-18 la 18a
Im Anfang war das Wort Niemand hat Gott je gesehen
14c
Und wir haben seine Herrlichkeit geschaut In ihm (dem Wort) war
4a 14ab
Leben Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt
in Anm. 2 aber auch einen »festen Motivzusarnmenhang« als hinreichend ansieht. 11 Bei Eusebius, Hist Ece! VII 25,18.20 (Übers. P. Haeuser). 12 Vielleicht darf man »was wir gehört haben« 1b (vgl. 3a) in Beziehung setzen zu Joh 1,15: »Johannes legt Zeugnis für ihn ab und ruft: Dieser war es, von dem ich sagte . ..« 13 Vgl. :7tEQL in Joh 1,7b.8b.15a.
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l]oh 1,1-4: Analyse
2c
Und wir bezeugen14
7ab
2e
Welches beim Vater war
3c
Verkündigen wir auch euch (vgl. 2d) Damit unsere Freude (xaQa) erfüllt sei (l'tEl'tAT]Qwl.tEVr])
Ib 18b 18c
4b
5de Daß Gott Licht ist und es in ihm keine Finsternis gibt
14e 16ab
4b 5ab
Dieser kam zum Zeugnis, damit er bezeuge bezüglich des Lichts (vgl. 8b.15) Und das Wort war bei Gott Der an der Brust des Vaters ruht Jener hat Kunde gebracht Voll (l't":tiQT]~) Gnade (XaQLC;) und Wahrheit Denn aus seiner Fülle (l'tAtlQwfUl) haben wir alle empfangen, Gnade (XaQLC;) über Gnade Und das Leben war das Licht der Menschen Und das Licht scheint in der Finsternis und die finsternis hat es nicht ergriffen (vgl. 8-9).
Gemeinsam ist beiden Texten ferner die späte Einführung des Namens »Jesus Christus« (Joh 1,17b; IJoh 1,3e)15. Stilbildend wirken im Evangelienprolog (a) das Imperfekt ~v, (b) die Reihung mit xal und (c) in V. 14.16 die Wir-Form. Diese Merkmale kehren im Briefproömium wieder. Die ersten beiden Elemente erscheinen im Vergleich eher etwas zurückgenommen. Für das dritte, die Wir-Form, ist im Briefeingang ein erheblicher überhang zu konstatieren. Was die Unterschiede angeht, muß man prinzipiell zunächst die divergierende Länge der beiden Texte bedenken. Schon aus diesem mehr äußeren Grund kann das kurze Briefproömium nur einen Ausschnitt aus der viel reicheren Gedankenwelt des Evangelienprologs bieten. So fehlt in IJoh 1,1-4 jede Erwähnung von Schöpfung und Kosmos, d.h. vom Text her, es findet sich keine direkte Verbindung zu Joh 1,3.10-13. Der Täufer kommt im Briefeingang namentlich nicht vor, obwohl über die Zeugnisthematik eine Verbindung zu den Täuferstücken Joh 1,6-8.15 gegeben ist. Die Aufgabe des Täufers, Zeugnis abzulegen, wird denjenigen zugewiesen, die sich in der WirForm zu Wort melden. Sie treten anders als im Evangelienprolog, wo der Handlungsbereich der Wir-Gruppe rezeptiv bleibt (schauen, empfangen), selbst in Aktion. Sie verkünden und sie schreiben. Das Hauptinteresse gilt nicht der Ablehnung oder Annahme des Wortes durch den Kosmos. Die Anrede mit »ihr« bzw. »euch« hat Adressaten im Auge, die offenkundig schon zur Gemeinde gehören, mit Joh 1,12 also »Glaubende« und »Kinder Gottes« heißen. Von den tragenden Begriffen wird neu eingeführt XOlVWVla in 3de. Zwar schildert Joh 1,18b mit Hilfe des dem Mahlgeschehen entlehnten Bildes vom Ruhen an der Brust des Vaters ein enges Gemeinschaftsverhältnis, das der Koinoniabegrifflichkeit durchaus entsprechen würde. Aber es geht
14 IJoh 1,2 ist wie gesagt eine Parenthese, Joh 1,7-8 ein Einschub in den Hymnus, vgL Brown 179.
15 üb man auch UW~ IJoh 1,3e mit Joh 1,18 vergleichen kann, hängt davon ab, ob man dort mit dem Mehrheitstext uL6~ liest oder mit den neueren Ausgaben {tE6~.
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Prolog (1,1-4)
dort um die Gemeinschaft zwischen dem Vater und Sohn, während Koinonia in 1Joh 1,3 viel unmittelbarer auf die Menschen abzielt und sie in die Gemeinschaft einbezieht16 .
Aus dem Vergleich ergibt sich, daß in den Eingangsversen des IJoh eine Zuspitzung auf ein ekklesiologisches Anliegen hin vorgenommen wird. Nichts widerspricht der Annahme, daß Joh 1,1-18 der ältere Text ist, vieles spricht dafür17. Der Briefautor kommentiert den Evangelienprolog in seiner Endgestalt, greift also nicht am Evangelium vorbei nur auf den älteren Hymnus zurück. Aber er wählt aus, er hebt jene Linien hervor, die ihm in seiner Situation am wichtigsten scheinen, und läßt andere in den Hintergrund treten. Die inhaltliche Bedeutung dieser Anknüpfung, die für die Erklärung relevant wird, dürfte vor allem darin zu suchen sein: Die Fleischwerdung des Logos aus dem Evangelienprolog stellt der Briefautor in die Mitte seines theologischen Bemühens, das auf ein möglichst hohes Maß an Konkretheit abzielt. Erklärung Das Neutrum »was« in la, das bis 3a durchgehalten wird, muß verwundern, la wenn man sich die möglichen Bezugswörter ansieht. In Frage kommen »Wort« in 1f, ein Maskulinum (A6yo~), und »Leben« in 2a, ein Femininum (~roi)). Lesen wir weiter, stoßen wir in 2,13b.14d auf die eigenartige Wendung »den, (der) von Anfang an (war)«. Spätestens hier wird deutlich, daß auch das Neutrum in 1,1 eine personale Bezugsgröße fordert. Neutrisehe Formulierungen mit personaler Füllung kennen wir aus dem Evangelium, z.B. aus 4,22: »Ihr verehrt, was ihr nicht kennt«, und aus 6,37: »Alles, was mir mein Vater gibt, wird zu mir kommen, und den, der zu mir kommt, werfe ich nicht hinaus« (vgl. noch 3,6; 17,2). Es handelt sich um ein Phänomen der johanneischen Sondersprache, dem man zuviel Gewicht beimißt, wenn man es als Ausdruck für »das Geheimnisvolle, das ihm [dem Offenbarer] anhaftet, das sozusagen Unaussagbare seines Wesens«18 versteht. Nach den Regeln der Grammatik kann ein Neutrum für Bezugswörter jedes Genus Verwendung finden, wenn eine Generalisierung der übergeordneten Aussage angestrebt wird19. Das ganze Christusgeschehen als Inhalt der gegenwärtigen Verkündigung, so können wir die Reichweite des »was«, das ja von »wir verkündigen«
16 Bedenkenswert aber M. Theobald, Im Anfang war das Wort. Textlinguistische Studie zum Johannesprolog, 1983 (SBS 106), 57 Anm. 90, der meint, TJIlELc; :rtavtet; aus Joh 1,1 werde »im Proömium des ersten Johannesbriefs (1,1-4) mit der Rede von der >Koinonia< zwischen >uns<, den ersten Zeugen, und >euch<, den späteren Adressaten der Heilsbotschaft, aufgegriffen und interpretiert«. 17 Anders im 19. Jh. Huther 35; Hilgenfeld, Briefe 477f; neuerdings Grayston 40f; Strekker 56f; s. § 9 der Einleitung.
Gaugler 28f. Kühner-Gerth II/1, 61: »Auch das Relativpronomen steht ohne Rücksicht auf das Geschlecht seines Substantivs in der Neutralform des Singulars, wenn der Begriff des Substantivs nicht als ein individueller, sondern als ein allgemeiner aufzufassen ist« (Hervorheb. im Orig.); Bl-Debr-Rehkopf § 138,1. Damit eriibrigt sich hier und in 2,8 der Rekurs auf einen Aramaismus bei Hering, Aramaismes 114-116. 18 19
IJoh l,la: Erklärung
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in 3c abhängt, vorerst bestimmen. Jede weitere Präzisierung muß sich zuvor Rechenschaft geben über die zeitliche Reichweite, die man dem »von Anfang an« zubilligen will. Die verschiedenen Interpretationen laufen ungeachtet aller Nuancierungen20 auf die grundsätzliche Alternative hinaus: Bezieht sich der Anfang auf einen Zeitpunkt vor der Inkarnation oder nach bzw. ab der Inkarnation? Anders formuliert: Soll man von Joh 1,1 her auslegen oder von lJoh 2,24 her? Im ersten Fall läge eine Präexistenzaussage vor. In bewußter Aufnahme und Überbietung von Gen 1,1 »datiert« der Evangelienprolog diesen besonderen Anfang, über den hinaus kein sonstiger Anfang mehr gedacht werden kann, in den zeitlosen Urgrund vor aller Schöpfung. Zwar steht in Joh 1,1 €v &Qx'ii ~v, nicht wie hier ~v ö:rt' &Qxii~21. Dem kann man aber Joh 8,44 entgegenhalten: der Teufel als Menschenmörder »von Anfang an«, wo ö:rt' &Qxii~ bis in die Schöpfungszeit zurückreicht, wenn auch nicht ganz so weit wie €v &Qx'ii, nämlich nur bis zur Sündenfallerzählung Gen 3. Andererseits zeigt in Joh 15,27 ö:rt' CtQxii~ den Beginn der Jüngerschaft in der Nachfolge des irdischen Jesus an (mit ähnlicher Sinngebung €; &Qxii~ Joh 6,64; 16,4). Eine davon abgeleitete »kirchengeschichtliche« Verwendungsweise 22 dominiert in den Johannesbriefen. Der Autor spricht in 2,7.24 (bis); 3,11 (vgl. 2Joh 5-6) die Leser auf Erfahrungen hin an, die sie bereits am Anfang ihres Christseins gemacht haben, was zugleich bedeutet: erst nach Ostern. Aber auch hier gibt es - neben den strittigen Stellen 1,1 und 2,13b.14d - eine Ausnahme in 3,8: Der Teufel sündigt »von Anfang an« (vgl. Joh 8,44). In anderen urchristlichen Schriften ist UQx.f), wenn es vom Schöpfungsbeginn ausgesagt wird, mit einem qualifizierenden Zusatz versehen (Mk 10,6; 13,19; 2Petr 3,4; Bam 15,3). »Augenzeugen von Anfang an« in Lk 1,2 meint jene, die von der Taufe Jesu an (Apg 1,22) sein öffentliches Wirken miterleben. Auch in Mk 1,1 erscheint UQx.f) eingeengt auf die Jesuszeit. Allerdings sind die übergänge zum Beginn der nachösterlichen Missionspredigt (dafür CtQxf) Phil4,15; vgl. Apg 11,15) fließend. Das Bemühen um Sicherung der Tradition durch Rückbindung an den (innerchristlichen) Ursprung tritt deutlicher in Polyk 7,2 zutage: »Wenden wir uns dem Wort zu, das uns von (es) Anfang an überliefert wurde.« Ähnlich liegen die Dinge in 1Clem 19,2, während 'tu fut' UQx.Tj~ yevof.I.€Vu in 1Clem 31,1 wegen der atl. Exempla, die in 31,2-4 referiert werden, die Ereignisse der Patriarchenzeit mit umfassen dürfte.
20 Brown 155-158listet sechs verschiedene Positionen auf; de Keulenaer* 172 unterscheidet zwischen initium ministerii Christi (1Joh 1,1), initium mundi (2,13) und tempus
conversionis lectorum ad christianismum. VgL jedoch Sir 24,9: »Vor aller Zeit, von Anfang an (fut' c'tQxiic;) erschuf er mich«; Mich 5,1 LXX; Weish 6,22. Nicht für alle LXX-Belege bei Hatch-Redp 164 kann der zeitliche 21
Bezugspunkt genau fixiert werden. In der Mehrzahl der Fälle markiert fut' &Qxiic; aber einen heilsgeschichtlichen Beginn (Väterzeit, Erwählung des Volkes u.ä., z.B. Jos 24,2; Ps 74,2; Hab 1,12 [?]; Jes 1,26 u.ö.; bes. häufig bei Deuterojesaja). Für einen kurz zurückliegenden Zeitpunkt innerhalb der Erzählung wird fut' c'tQxiic; z.B. gebraucht in ActThom 102. 22 Wengst 33.
CtQxfJ
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Prolog (1,1-4)
Eine Entscheidung läßt sich für 1Joh 1,1 nur schwer fällen, wie man auch an den divergierenden Stellungnahmen in der Forschung sieht23 . Es ist nicht auszuschließen, daß eine gewisse Ambivalenz den Intentionen des Autors sogar entgegenkommt. Wer den ersten Vers des Evangeliums im Ohr hat, assoziiert mit dem Briefeingang fast notwendigerweise die Uranfänglichkeit des Logos, denkt als erstes an Präexistenzchristologie. Aber sehr bald stellt sich ein Gefühl der Verfremdung ein. Die Änderung von »im Anfang« zu »von Anfang an« gibt zu denken. Das Neutrum verleiht der Aussage etwas Unbestimmtes, Schwebendes. Die kontextuelle Rahmung sieht anders aus als im Evangelienprolog. Von Schöpfung und Welt wird nicht mehr gesprochen. Dadurch geht ein wichtiger Grund dafür, den Anfang mit der Weltentstehung zusammenzusehen, verloren. Statt dessen schiebt sich das Interesse an der Gemeinde und ihrer Geschichte rasch in den Vordergrund. Kehrt man aber vom »kirchengeschichtlichen« Gebrauch von &.n' uQXiiC; im Briefkorpus zum Proömium zurück, entsteht noch einmal ein anderes Bild, denn eins ist deutlich: Der Anfang in 1a liegt konzeptuell früher als der Beginn des individuellen Christseins der Adressaten, weil er schon für die Zeugen, die am Anfang der Glaubensgeschichte der Leser stehen, der Anfang war. Den Schlüssel zum Verstehen liefert möglicherweise Joh 2,11: »Diesen Anfang seiner Zeichen setzte Jesus in Kana in Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger gelangten zum Glauben an ihn.« Auf den beginnenden Prozeß der Selbstoffenbarung des Irdischen und das damit korrespondierende glaubende Wahrnehmen der Jünger kann der Anfang dessen festgelegt werden, was jetzt, zur Zeit der Abfassung des Briefes, in der Verkündigung weitergegeben wird 24 • Das heißt, &.n'
23 Von Joh 1,1 her interpretieren Balz 162; de Jonge* 328; Findlay* 101f; Conzelmann* 208. Für ein Datum innerhalb der urchristlichen Geschichte optieren Paulus 116 (»Anfang des Lehrumgangs Jesu mit den Seinigen, welcher für Einzelne etwas früher oder später gewesen war«); Kohler 21f; Bonnard 19 (»I' origine de I' enseignement johannique«);
Wendt*; Blank* 70-73; Cook, Interpretation 445f; Vouga 25. Ich erspare es mir, die Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb des zweiten Modells (Inkarnation, Jesusereignis allgemein, Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu, Ostergeschehen, Gemeindegründung) einzeln zu belegen. Vgl. Anm. 20. 24 Vgl. la Potterie* 390f.397f.
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lJoh l,lb-e: Erklärung
sich daraus ergeben (s. dazu den Exkurs 1), muß man daran festhalten, daß hier der Anspruch der Augenzeugenschaft erhoben wird. Die Wortwahl weist eindeutig in diese Richtung. Die Abfolge ist auf eine Klimax hin angelegt. Das bloße Hören in 1b ohne weiteren qualifizierenden Zusatz könnte man noch auf ein Hören aus zweiter Hand, auf ein Vernehmen der Evangelienbotschaft hin umbiegen. Daß an die Worte des Irdischen gedacht ist, ergibt sich durch einen Rückschluß aus 1c. Dort sorgt die Wendung »mit unseren Augen« für Klarheit. Wer so spricht, sollte in eigener Person bei dem, was er berichtet, dabeigewesen sein. Was die Steigerung von »hören« zu »sehen« angeht, darf man an die Hochschätzung der Autopsie durch die griechischen Historiker erinnern. Sie schlägt sich nieder in Sätzen wie: »Den Ohren darf man weniger trauen als den Augen. Ich schreibe daher hier nur nieder, was ich gesehen, nicht was ich gehört habe.«25 In deutlichem Unterschied zum AT, wo der Ton auf dem Hören des Gotteswortes liegt, wertet Philo das Hören sogar als trügerisch ab zugunsten des zuverlässigeren Sehens26. Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob »wir haben geschaut« 1d im Vergleich zu »wir haben gesehen« 1c lediglich eine stilistische Variation darstellt27 oder ob damit eine Bedeutungsverschiebung Hand in Hand geht in dem Sinn, daß »schauen« als intensivierte, vertiefte Form des Sehens zu gelten hat28 . Die Antwort ergibt sich von Stellen wie Joh 1,14 oder 2,11 her. Das Sehen kommt erst zum Ziel, wenn es in der unscheinbaren Gestalt des Irdischen das Aufstrahlen göttlicher Herrlichkeit zu erkennen vermag. »Sehen mit eigenen Augen« kann von allen, auch von den ungläubigen Zeitgenossen Jesu ausgesagt werden, »schauen« nur von den Jüngern, die zum Glauben finden, ohne daß deshalb aus »schauen« schon ein rein visionäres Erleben würde 29 . Dieser Sachverhalt ermöglicht in Joh 20,29 ein Auseinandertreten von »sehen« (nicht: »schauen«) und »glauben«, bezogen auf die Situation derer, die nach Ostern für Christus gewonnen werden: »Selig, die nicht sehen und zum Glauben gelangten.« Damit stehen wir bei der Erzählung vom »ungläubigen« Thomas Joh 20,24-29, an die unwillkürlich als erstes denkt, wer in 1Joh 1,le die Worte vernimmt: »was unsere Hände betastet haben.« Die Vokabel 'l\J11AUcpaV findet sich in Joh 20 nicht, sie kommt in einem ver- 'lV'I1AUcpav gleichbaren Kontext in Lk 24,39 vor. Die Leiblichkeit des Auferstandenen 25 Lucian, Hist Conscrib 29. Übers. nach H. Homeyer, München 1965, 133. Ebd. 233 weitere Belege, vgL bes. Heraklit FVS 22 BIOla: »Augen sind genauere Zeugen als Ohren«, zitiert bei Polybius XII 27,1; Herodot I 8,2; TI 99,1; ferner Seneca, Ep 6,5: quia homines amplius oculis quam auribus credunt. Kritik daran bei Strabo TI 5,11. 26 Fug 208; vgL Sacr 78. Im Hintergrund steht die platonische Ideenschau als erkennt-
nistheoretisches Programm. Schnackenburg 60. 28 VgL Baumgarten 190: »das sorgfältig aufmerkende, absichtliche, verweilende Betrachten«; ähnlich Bruce 36. 29 Als ekstatisches Erleben, das in naiver Weise mit der Wirklichkeit verwechselt werde, erklärt das Hören und Sehen Kar!, Studien 3. Das Richtige hat Braune 13f. 27
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Prolog (1,1-4)
soll durch »handgreifliche« Demonstrationen abgesichert werden (vgl. die Aufforderung an die Jünger IgnSm 3,2: »Betastet mich und seht, daß ich kein leibloser Dämon bin«). Ein solches Interesse ist in lJoh 1,le nicht zu erkennen. Eine Einschränkung dieser Aussage nur auf die Begegnung mit dem Auferstandenen30 empfiehlt sich daher nicht. Aber die Thomaserzählung ganz auszublenden geht ebensowenig an. Sie dürfte dem Briefautor vorschweben, auch wenn er den Vorgang des Betastens nach vorne in die Jesuszeit hinein verlagern will. Vielleicht nimmt er zugleich Anfang (Joh 2,11) und Ende des Evangeliums in den Blick31 . Im Evangelienkorpus gibt es nichts, was den Gedanken an ein Betasten des irdischen Jesus nahelegen könnte, es sei denn, wir greifen mit den älteren Auslegern auf das Ruhen des Lieblingsjüngers an der Brust Jesu beim Abschiedsmahl Joh 13,23 zurück32. Gerade weil echte Äquivalente fehlen, wird um so deutlicher, daß der Autor auf diese Weise die sinnenfällige Realität des Kontaktes mit dem leibhaftigen Jesus über das Evangelium hinaus untermauern wi1l33• Die LXX verwendet 'ljJrJm
31
(130B): Körper von Athleten werden massiert ('ljlTJAaljlooj.tEVa). Wörtlich auch Polybius vrn 29(31),8. 35 Platon, Phaed 99B; Plutarch, Gen Socr 20 (589B); Amat 19 (766A). 36 Vgl. Polybius vrn 16(18),4: er »überprüfte (e'IjITJMljla) jede mögliche List«; Plutarch, Exil 1 (59). Von lClem 62,2 ausgehend postuliert Bonnard 20 Anm. 1 für IJoh 1,le den Sinn: »examiner attentivement«. 37 Dio Chrys., Or 12,60: Alle Menschen wollen das Göttliche verehren, »indem sie hinzutreten und es anrühren (futtO!JEvoui;;)«, kann dafür jedoch nur mit Vorbehalt herangezogen werden, da im Kontext die Legitimität von Götterstatuen und -bildern zur Debatte steht.
1Joh 1,1e: Wirkungsgeschichte
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du denn dein Denken sehen und es mit deinen eigenen Händen greifen (Außeafrm) und (dieses) Ebenbild Gottes (in deinem Inneren) betrachten? «38 Genausowenig kann kann man Gott mit den Sinnesorganen wahrnehmen. Wir halten als Fazit fest: Zwar gibt es für eine metaphorische Verwendung von 'lJ!'Y\AmpÖov genügend Belege, aber der Stichentscheid muß immer vom Kontext her fallen, und der spricht in unserem Fall gegen eine Vergeistigung. Mit den Händen betasten und mit eigenen Augen sehen ist so wörtlich gemeint, wie es klingt. Teils im Verein mit Joh 20,24-29 hat 1Joh 1,le eine ganz eigentümliche Nachge- Wirkungsschichte gehabt. Dazu gehört EV NHC I/3 30,27-32: »Denn als sie ihn [den Sohn] ge- geschichte sehen und gehört hatten, ließ er [der Geist] sie von ihm kosten [vgl. Joh 6,52-58] und riechen und den geliebten Sohn berühren.« Angesprochen wird nicht die konkrete Wahrnehmung des Irdischen in seiner täuschenden Fleischesgestalt (31,5f), sondern die geistige Erkenntnisfähigkeit des Gnostikers, der zum immateriellen Wesen der Dinge vordringt39. Sehr intensiv arbeitet mit johanneischem Sprach- und Denkmaterial die Epistula Apostolorum, die in Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen für die Leiblichkeit des Auferstandenen kämpft. Gleich zu Beginn läßt sie die elf Apostel sagen: »Wir haben geschrieben [vgl. 1Joh 1,4] an die Kirchen des Ostens und des Westens, gen Norden und Süden, indem wir euch erzählen und verkünden [vgl. 1Joh 1,2-3] das von unserem Herrn Jesus Christus ... wir haben ihn gehört und betastet, nachdem er auferstanden war von den Toten.«4o Clemens von Alexandrien berichtet in den erhaltenen Notizen zur Auslegung von 1Joh 1,1: »In den überlieferungen wird gesagt, daß Johannes, als er den äußeren Körper [Jesu] berührte, seine Hand tief ins Innere ausgestreckt habe und daß die Festigkeit des Fleisches keinen Widerstand bot, sondern der Hand des Jüngers wich.«41 Erst im Innern bekommt der Lieblingsjünger die göttliche Kraft des Logos unmittelbar zu packen, so dürfte die damit verbundene, theologisch keineswegs unproblematische Vorstellung aussehen. Das erinnert an eine Erscheinungsform der Polymorphie des Herrn in ActJoh 93: »Manchmal, wenn ich ihn [Jesus] anfassen wollte, traf ich auf einen materiellen und festen Körper. Ein andermal wiederum, wenn ich ihn berührte ('ljrrJAU
wo vom Auferstandenen als Objekt des Hörens und Sehens weggelenkt wird; ActThom 143 (dazu Loewenich, Johannes-Verständnis 111). 40 EpAp 2, nach NTAp0 5 I 207; vgl. 1.3. 12.29. In EpAp 11 ergeht die Aufforderung zum Berühren der Wundmale auch an Petrus und Andreas. Mit 1Joh 1,3 vgl. EpAp 6: »damit ihr Genossen . . . unseres Dienstes . . . seid.« Vgl. Loewenich, Johannes-Verständnis 57-59. 41 Clemens Alex. 210,12-15. Dazu T. Rüther, Die Leiblichkeit Christi nach Clemens von Alexandrien, ThQ 107 (1926) 231-254, hier 252f.
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Prolog (1,1-4)
handen sei.« In diesem Vorgang enthüllt sich wie in all den anderen Erscheinungsformen die Doxa des Herrn (ActJoh 88). Die beiden verwandten Aussagen dürften unabhängig voneinander auf eine apokryphe mündliche Tradition über den Apostel Johannes zurückgehen, die bei IJoh 1,1 ihren Ausgang nimmt42 , Joh 20,27 und 13,23 einbezieht und Erzählungen über die veränderte Seinsweise des Auferstandenen ins irdische Leben zurück transponiert. Bemerkenswert erscheint, daß selbst IJoh 1,1 trotz des Insistierens auf der erfahrbaren Realität des Geschichtlichen vor dem allgegenwärtigen gnostischen Zugriff nicht geschützt war, wie die Rezeption durch das Evangelium Veritatis zeigt. Wie weit man die Tradition bei Clemens Alex. bzw. in den ActJoh mit ihrer eher naiven Ausrichtung als gnostisch oder doketistisch einstuft, bleibt ein Stück weit eine Frage der Definition. Der Brückenschlag zu den Auferstehungserzählungen hat sich in der Exegese bis in die Neuzeit durchgehalten. Dabei sind gegenläufige Tendenzen am Werk, weil man nicht nur der Leiblichkeit des Auferstandenen, sondern auch dem Moment des Wunderbaren zu seinem gebührenden Recht verhelfen wollte.
Erklärung Die gleiche Ambivalenz, auf die wir bei dem Begriff »Anfang« in la gestoßen 1f sind, kennzeichnet auch das Syntagma »Wort des Lebens«. Soll man Logos hier (a) personal interpretieren, als Titel für Jesus Christus, das fleischgewordene Gotteswort, oder soll man (b) unter Logos eher die Botschaft Jesu und die Evangeliumsverkündigung verstehen43 ? Wenn man wiederum vom Evangelienprolog herkommt, möchte man sich ohne Zögern im erstgenannten Sinn entscheiden. Aber in Joh 1,1 steht Logos absolut, nicht in einer präpositionalen Verbindung und ohne qualifizierenden Genitiv. Außerdem bildet dieser absolute, personale Gebrauch des Begriffs auch im Evangelium die Ausnahme. Die übrigen Belege bezeichnen damit das Wort der Verkündigung, die Rede u.ä., wie die weiteren Vorkommen im Briefkorpus (1,10; 2,5.7.14; 3,18). Für die Kombination von Wort und Leben ist zu erinnern an Joh 5,24: »Wer mein Wort hört ..., hat ewiges Leben« und an die »Worte (Q1il-tma) ewigen Lebens« in Joh 6,68 (vgl. »Brot des Lebens« 6,35.48; »Licht des Lebens« 8,12). Im Grunde ist mit der Festlegung des Anfangs von la auf die beginnende Selbstoffenbarung Jesu im Evangelium die Entscheidung für Logos in 1f bereits gefallen. »Wort des Lebens« meint die Botschaft, die Jesus Christus zum Ursprung und zum Inhalt hat und die eben deshalb dem Hörer den Zugang zum Leben ermöglicht, und zwar meint es diese Botschaft in ihrer in der jo42 So E. Junod / J.D. Kaestli, L'histoire des Actes apocryphes des apötres du m' au IX' siede: le cas des Actes de Jean, 1982 (Cahiers de la RThPh 7), 13-16. 43 Für die erste Möglichkeit: Weiß 23f; Huther 45f; de Jonge* 327; Weir*; Haas, Handbook 23f.29. Für die zweite: Houlden 50f; Neil Alexander 41; Grayston*; E. Tobac, La notion du Christ-Logos dans la litterature johannique, RHE 25 (1929) 213-238, hier 236f. Von
einer Ambivalenz der Aussage sprechen Bultmann 14 mit Anm. 1; Marshall 103. Zu verschwommen E. Krebs, Der Logos als Heiland im ersten Jahrhundert. Ein religions- und dogmengeschichtlicher Beitrag zur Erlösungslehre, 1910 (FThSt 2), 113f. Titulare Verwendung von »Wort des Lebens« liegt in mandäischen Schriften vor: Lit. 22 (35,7 Lidz.); RGinza 3 (88,19 Lidz.): »Doch da kam das Wort des Lebens«; 14 (289,11 Lidz.).
lloh 1,2a: Erklärung
65
hanneischen Gemeinde tradierten, im Johannesevangelium z.T. schriftlich fixierten besonderen Gestalt44. Was in 2a berichtet wird, liegt in unserer Sicht zeitlich früher als der Anfang 2a von 1a. Ein Nachtrag, formal durch die parenthetische Struktur als solcher kenntlich gemacht, nennt die Voraussetzung dafür, daß die Selbstoffenbarung Jesu beginnen und von den Jüngern wahrgenommen werden konnte. Göttliches Leben erscheint in menschlicher Gestalt. Dieses inkarnatorische Geschehen bringt Joh 1,14 durch »und das Wort ist Fleisch geworden« zum Ausdruck. Die Wortwahl im Briefeingang differiert in doppelter Hinsicht: Statt A6yor;, heißt es ~rot1, und a6Ql; tyf:vF:tO wird ersetzt durch tcpavEQ
Im johanneischen Befund spiegelt sich noch die Herkunft aus der LXX-Sprache und aus der jüdisch-apokalyptischen Hoffnung auf ein Weiterleben nach der Auferstehung von den Toten. Mit Unsterblichkeit, jenseitigem Leben oder Weiterleben nach dem Tod wäre die johanneische Konzeption aber nur höchst unzureichend erfaßt. »Ewig« ist mehr ein Qualitätsbegriff als ein Zeitbegriff. »Leben« hat einen transzendenten Bezug. Der Evangelist nimmt im Rahmen seiner präsentischen Eschatologie eine christologische Zuspitzung vor. Volle Lebensqualität besitzt nur Gott. Aber der Sohn als Offenbarer Gottes ermöglicht dem Menschen inmitten einer todgeweihten Welt die Kom44 In Phi! 2,16 hat "J..iyyov ~orii~ (ohne Artikel) den Sinn: Evangelium; vgl. Dodd 5: Der Briefschreiber wolle das Johannesevangelium als »Wort des Lebens« definieren. 45 Vgl. Düsterdieck I 22f, der die ältere Diskussion um "J..iyyo~ ~orii~ ausführlich referiert. 46 Vgl. die übersicht bei F. Mußner, ZOH. Die Anschauung vom »Leben« im vierten Evangelium unter besonderer Berücksichtigung der Johannesbriefe, 1952 (MThS.H 5), 48.177f. Zur Erklärung Schnackenburg, Joh n 434-445. 47 Z.B. Op 155; Plant 44. ~cm) alOOvLO~ nur Fug 78. Der früheste Beleg außerhalb des jü-
disch-christlichen Schrifttums scheint Plutarch, Is et Os 1 (351 E), zu sein (alOOv~ ~
66
Prolog (1,1-4)
munikation mit dieser Lebensfülle, die den biologischen Tod nicht mehr als echten Einschnitt empfinden läßt (11,25-26). Zwar bringt der Brief an anderen Stellen die zukunftsorientierte Eschatologie wieder stärker zum Zuge. Aber dennoch darf der Lebensgedanke auch in lJoh nicht abgekoppelt werden von seiner christologischen Konzentration und seiner Anwendung auf die christliche Existenz im Hier und Jetzt. Leider erfährt man nicht viel über die Realisierung des ewigen Lebens in der Gegenwart. Aber die Liebe zu den Brüdern und Schwestern z.B. wäre ein solcher Punkt, wo sich im Gemeindeleben eine neue Dimension göttlicher Wirklichkeit auftut. Wo jede Konkretisierung fehlt, kommt es notwendigerWeise zu berechtigter Kritik am Christentum als einer bloßen Religion der Vertröstung auf das Jenseits48 . ecpaVEQÜY&rJ Das Johannesevangelium macht einen Unterscheid zwischen miQI; tyEvE'tO und tcpavEQ~, zwischen Fleischwerdung in 1,14 und dem Offenbarwerden des Inkarnierten vor Israel durch das Täuferzeugnis in 1,31, das im Aufscheinen seiner Herrlichkeit vor den Jüngern in 2,11 seine Fortsetzung findet (vgl. noch 7,4; 9,3; 17,6), um schließlich im Nachtragskapitel in das Erscheinen des Auferstandenen einzumünden (21,1.14). Der Brief gebraucht cpavEQow vergleichsweise unpräzise, aber im Einklang mit älteren urchristlichen Traditionen (a) für die Inkarnation (neben 1,2 auch in 3,5.8; 4,9; vgl. dazu die hymnischen Stücke lTim 3,16; IPetr 1,20), (b) für die im Evangelium kaum erwähnte Parusie (2,28; vgl. IPetr 5,4) und (c) für das Offenbarwerden der Christen bei der Parusie oder beim Endgericht (3,2; vgl. 2Kor 5,10 und die Kombinierung beider Aspekte in KoI3,4). Das Moment der Fleischwerdung bleibt aber der Sache nach dadurch gewahrt, daß der Briefautor so entschieden die sinnenfällige Wahrnehmbarkeit dieser Erscheinungsweise göttlichen Lebens herausstellt49 . »Handgreiflich werden« können die Zeugen nur, weil ein wirklicher Mensch vor ihnen steht. Als Zusammenfassung dieses unverzichtbaren Gedankens aus Ib-e wiederholt 2b noch einmal »wir haben gesehen«. Wirkungs- Im Verlauf der Auslegungsgeschichte wurd~ 2a durchweg und mit Recht als inkarnageschichte torisehe Aussage verstanden. Damit geht Hand in Hand die weniger schlüssige Deutung von fut' aQxii~ in la auf den präexistenten Gottessohn 50, der in der Zeit erscheint. Der Umgang mit beiden Versen in den christologischen Kontroversen der ersten Jahrhunderte fällt keineswegs einheitlich aus. Einerseits entdeckte man hier eine vorzügliche Waffe, die man gegen alle Leugner der realen Menschwerdung Gottes in
46 Vgl. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Kritische Gesamtausgabe V12, Berlin 1973, 401: »Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einern unbestimmten anderen Leben hinblikken lehrten« (Hervorheb. im Orig.); J.G. fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, in: Sämtliche Werke. Bd. 5, Berlin 1845, 397-580, hier 409: »Ganz gewiss zwar liegt die Seligkeit auch jenseits
des Grabes, für denjenigen, für welchen sie schon diesseits desselben begonnen hat, und in keiner andern Weise und Art als sie diesseits, in jedem Augenblicke, beginnen kann; durch das bloße Sichbegrabenlassen aber kommt man nicht in die Seligkeit.« Vgl. H. Echternach, HWP V 103-107. 49 Vgl. Wengst 40. 50 Eine bes. ausführliche Begründung für die überzeitliche Deutung von uQxi) bietet PS.-Oecumenius 621.
IJoh 1,lf-2a: Wirkungsgeschichte; 1,2b-e: Erklärung
67
der Person Jesu Christi richten konnte, z.B. gegen einen teils falsch verstandenen Nestorius 51 , aber nicht nur gegen ihn. In bunter Reihe tauchen die verschiedensten Irrlehren auf52 . Aber damit war es nicht getan. Origenes hat mehrfach betont, die Verben der Sinneswahrnehmung in 1Joh 1,1-2 seien nicht wörtlich gemeint, sondern metaphorisch; sie zielten auf jene besondere Form des Sehens ab, wie sie dem Glauben eigentümlich ist53 . Diese Argumentationslinie begegnet erneut bei Vigilius, Bischof von Thapsus in Afrika (ca. 480/500). Er wendet sich gegen Eutychus, der in antinestorianischem Übereifer nur eine Natur in Christus gelten ließ, nämlich die göttliche, was zur Folge hätte, daß die Zeitgenossen Jesu unmittelbar Gott sahen und berührten. Man muß, so Vigilius, verschiedene Arten des Sehens und Berührens auseinanderhalten. Gesehen und berührt haben ihn auch die Soldaten, die ihn kreuzigten. Von ihnen gilt 1Joh 1,1-2 nicht; sie werden ja auch nicht zu Verkündigern. Nach dem Grundsatz spiri ta lia Apostoli verba spiritaliter advertamus müssen wir den ganzen Komplex der Wahrnehmung auf das gläubige Schauen, auf die innere Aufnahmefähigkeit der Apostel beziehen. Das Berühren will nur die besondere Festigkeit ihres Glaubens unterstreichen. Allein mit den Augen des Glaubens kann in Jesus der menschgewordene Gottessohn erkannt werden54•
Der Übergang vom Perfekt in 2b zum Präsens in 2c (vgl. 4,14) signalisiert den Erklärung Übergang vom Offenbarungsempfang zur Offenbarungsweitergabe in der 2b-e gegenwärtigen Verkündigung. Für die Kontinuität zwischen beidem bürgen die Zeugen, die sowohl rückblickend als auch vorausblickend von sich sagen können: fl
51 Vgl. Johannes Cassian, De incarnatione contra Nestorium V 6,1-6 (308,23-310,20 CSEL 17), eine Paraphrase zu lJoh 1,1-2, wo auch das Wort vom sacramentum divinae incamationis fällt. Vgl. den antinestorianischen Gebrauch der Stelle im Zusammenhang der Konzilien von Ephesus (ACO 1/5, 80,10-22) und Konstantinopel (ACO IVI2, 36,6-13). Eine interessante Variante zu »was wir gehört haben« bietet Nicolaus de Lyra z.St.: Der Verf. Johannes und sein Gefährte Andreas seien jene beiden Jünger gewesen, die nach Joh 1,3637 vom Täufer das Wort hörten: »Seht, das Lamm Gottes.«
52 Tertullian, An 17,14, ruft lJoh 1,1 als Zeugen gegen Marcion, Eutropius, PL 30, 194D, gegen die Manichäer auf. Massiert Ps.Hilarius 109: contra Ebionem et Cherintum et Photinum et Sabellium et Arrium haec dicta componit. 53 Origenes, Cels 1,48; 7,34: 'tQ01tLXW~ müsse man das »Berühren« verstehen. 54 Contra Eutychetem 22f (132D-134C PL 62). 55 Vgl. Beutler, Martyria 283f und passim. 56 Eine vollständige Übersicht gibt Westcou 30-34.
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Prolog (1,1-4)
genstück gehört dazu die Bevorzugung von 'U16~ als christologischer Titel. 2e enthält indirekt den ersten Fingerzeig auf die Präexistenz des Sohnes. Er verkörpert das Leben, das schon immer beim Vater war. Erst hier haben wir die StufevonJoh 1,1 (der Logos war bei Gott) erreicht, die noch früher liegt als 2a (= Joh 1,14). 2e gibt den Grund dafür an, daß Erscheinen des Lebens überhaupt möglich wurde: Es stammt unmittelbar aus Gottes ewiger Wirklichkeit. Aufs Ganze von Evangelium und Brief gesehen bilden sehen/hören, bezeugen und verkünden ein Begriffsbündel, dem als Subjekt einerseits der Vater, Jesus und der Paraklet, andererseits der Täufer, der Lieblingsjünger und die johanneische Schule zugeordnet sind. Was er in seiner engen Gemeinschaft mit dem Vatergott Ooh 1,1.18; 6,46; 8,47 und als Gegenbild 5,37) gesehen und gehört hat, das bezeugt Jesus (3,32), das redet er vor den Menschen (8,26.38.40), so daß schließlich gilt: Wer ihn sieht, sieht den Vater (14,7.9). Als erster nimmt das in christologischer Akzentuierung der Täufer auf: »Was ich gesehen habe, habe ich auch bezeugt« (1,34). Diese Zeugentätigkeit setzen der Paraklet (15,26) und die Jünger (15,27) fort, unter ihnen vorzüglich der Lieblingsjünger, das Sprachrohr des Parakleten in der Gemeinde: »Der dies gesehen hat, legt Zeugnis davon ab, und sein Zeugnis ist wahr« (19,35). Das Bezeugen vollendet sich innerkirchlich in der Verkündigung. Jesus verkündet den Vater (Ww.'('(fJ.kLV 16,25), der Paraklet verkündet Jesus (avayyfJJ..ELv 16,13.14.15), die Traditionsträger der johanneischen Schule verkünden (ÖJta'('(fJ.kLV 1Joh 1,2-3), was aus dem Erleben der ersten Augenzeugen Ooh 3,11) in den geistigen Besitz derjohanneische Gemeinde eingegangen ist. 2f Wenn in 2f die Parenthese durch »und uns erschienen ist« abgerundet wird, so bedeutet das mehr als eine bloße Wiederholung. Zu den Zeugen zählen nur einige, nicht alle, nur gläubige Zeitgenossen Jesu, nicht Vertreter der nachgeborenen Generationen, die zum Christentum finden. Sie müssen sich die Botschaft sagen lassen von denen, die dabeigewesen sind. Die Verkündigung, die weitergeht, beruht auf dem einmaligen Erscheinen, fällt aber damit nicht zusammen. Mit anderen Worten: »uns« in 2f ist exklusiv zu fassen. Es schließt nur die Sprecher ein, nicht die Hörer. Wirkungs- Augustinus erklärt seinen Zuhörern, dem testes in der lat. übersetzung von 1Joh 1,2 geschichte entspreche ein griech. martyres. Wahres Zeugnis legen jene ab, die wie die Apostel für ihr christliches Bekenntnis den Martertod erleiden57• Sie sind, wie Didymus Alex. zur Stelle ausführt, pietatis athletae, quos consuetudo fraterna martyres vocat58• Das hält sich in der Neuzeit durch bis hin zu a Lapide und zu Belser, die übereinstimmend das legendarische Olmartyrium des Johannes in Rom unter Nero oder Domitian zur Er-
Augustinus 114. Didymus Alex. 40. Zur Herkunft dieses Kommentars und zu seinem Verhältnis zu 57 58
der bei Cramer abgedruckten Katene vgl. Staab, Katenenkommentare 314-320.
69
l]oh 1,2b-f Wirkungsgeschichte; 1,3a-e: Erklärung
klärung des !W{Yt'UQOU!1EV bemühen59 . Der Gedanke, daß Glaube und Zeugenschaft auch Verwirklichung durch die Tat fordern, paßt sich gut in die Theologie des lJoh ein. Dennoch bedeutet diese assoziative Auslegung für 1,2 eine Überinterpretation. Vielleicht ist sie aber der Grund dafür, daß der Erzähler in der Passio 55. Felicitatis et Perpetuae seinen Bericht mit den Worten aus dem Briefproömium einleitet: Was'er selbst erlebte, will er den Brüdern und »Kindlein« (filioli, vg1.1Joh 2,1) verkünden, damit auch sie Gemeinschaft (communionem) haben mit den heiligen Märtyrern 6o •
Bei der zusammenfassenden Rekapitulierung von 1b-e in 3ab erscheint anders als zu Beginn sehen an erster und hören an zweiter Stelle. Verschiedene Erklärungen werden vorgeschlagen: Sehen ist die angemessenere Reaktion auf das Erscheinen in 2f61 . Hören bildet den besseren Anknüpfungspunkt für das Verkündigen von 3b62 . Es handelt sich wahrscheinlich nur um eine Stilfigur, die eine formale Verknüpfung mit 2b und eine chiastische Verschränkung mit Ibc herstellt63 . Möglich wäre aber auch, daß die oben schon erwähnte Hochschätzung der Autopsie eine Rolle spielt. Sehen bzw. schauen ist mit vier Belegen im Briefproömium stärker gewichtet als hören (zwei Belege). In 3c fällt das xal vor Uf!LV ins Auge. Das bedeutet nicht: Die Botschaft ergeht jetzt auch an euch, nachdem sie früher und andernorts schon andere Hörer gefunden hatte. In dem Fall würde die Verkündigung vor allem im folgenden Brief geschehen, und man könnte mit Zahn überlegen, ob sich darin nicht ein Indiz für einen geographischen Wechsel des johanneischen Kreises von Palästina nach Ephesus verbirgt64. Aber der Sinn ist anders zu bestimmen: Die Verkündigung überwindet den zeitlichen Abstand, der die Adressaten von den Ereignissen trennt. Sie bringt auch ihnen nahe, was die ersten Zeugen aus eigenem Erleben wußten. Das vermittelnde Glied bildet die johanneische Tradition und ihre Umsetzung in die Predigt. Auf sie, nicht aber auf den folgenden Brief oder auf das Evangelium65 bezieht sich »wir verkünden«. Daraus folgt zugleich, daß die intendierten Leser des Briefes im gleichen Umkreis zu suchen sind, in dem sich bislang auch sonst die Tätigkeit der johanneischen Traditionsträger abspielte 66 . Als Ziel der Verkündigung nennt der Finalsatz 3d die Gemeinschaft, die, so werden wir ergänzen, in der »durch die Verkündigung gewirkte(n) Verbundenheit im gemeinsamen Glauben«67 besteht und entsprechende Lebensformen innerhalb der christlichen Gemeinde aus sich heraus freisetzt. In 3e wird
59 A Lapide 519; Be!ser 16f. Zur Entstehung der Legende vom römischen Martyrium, das Johannes unversehrt überstand, vgL H.D. Saffrey, Le temoignage des Peres sur le martyre de S. Jean l'Evangeliste, RSPhTh 69 (1985) 265-272. 60 Mart Fe! Perp 1,5 (36,17-20 SQS NF 3). 61 Schnackenburg 63.
62
Benge!1004: quia ex auditu est annuntia-
tio maxime.
63 Brown 170. 64 T. Zahn, Einleitung in das Neue Testament. Bd. 2, Leipzig 31907, 577. 65 So Bisping 291; Ebrard 76-78. 66 VgL Brooke 7f. 67 Bultmann 18.
Erklärung 3ab
3c
3d
3e
70
Prolog (1,1-4)
mit XUt und mit öt68 ein prädikatloser Satz angeschlossen. Er enthält eine Feststellung, keinen frommen Wunsch69, und er macht eine doppelte Aussage (deshalb auch die doppelte überleitung): (a) Als letzte Zielvorstellung steht hinter dem Gemeinschaftsbegriff die Gemeinschaft mit Gott. Die im Finalsatz verheißene Gemeinschaft der Adressaten mit den Verkündem soll zu diesem Ziel hinführen. Der Weg zum Vater aber verläuft über den Sohn. Zwar stellt 3e »mit dem Vater« und »mit seinem Sohn Jesus Christus« koordiniert nebeneinander (wobei besonderes Gewicht auf dem Schluß liegt; hier erhält das, was gesehen und wahrgenommen wurde, endlich seinen Namen). Aus dem Gesamtrahmen johanneischen Denkens ergibt sich jedoch die Mittlerstellung des Sohnes, in dem die Offenbarung des Vatergottes ihre geschichtliche Gestalt gewonnen hat. (b) Die Sprecher sagen von sich, daß sie bereits in dieser Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn stehen. Das betonte TJ TJIJEtEQU in 3d kann angesichts des Auseinandertretens von UIlEL~ und !JEfr' TJJLOOv in 3c die Adressaten nicht miteinschließen. Die Berechtigung zu dieser kühnen Behauptung wurde in den W. I-3a hinreichend abgesichert. Wer in so unmittelbarem Kontakt zu Jesus stand und ihn gläubig als Offenbarung des Vaters erkannte, der darf mit gutem Grund einen solchen Anspruch erheben. XOLVONta Mit Gemeinschaft haben wir KOLVWVLa wiedergegeben, das, "Yenn wir 1,6-7 hinzunehmen, hier gleich viermal auftaucht (vgl. noch KOLVOOVELV 2Joh 11), während das johanneische Schrifttum diese Vokabel ansonsten nicht kennt. Sie ist eher im paulinischen Traditionsbereich zu Hause 70 , so daß man fast überlegen muß, ob die johanneische Schule zu einem bestimmten Zeitpunkt mit paulinischem Gut in Berührung kam (was an einem Ort wie Ephesus ohne weiteres möglich wäre) oder ob sie nur einen terminus technicus der christlichen Missionsbewegung aufgreift71 • Für die Sache stehen dem johanneische Denken an sich andere Konzepte zur Verfügung, etwa die Immanenzformeln mit dVaL tv, das Bleiben (!J.fvELV) oder im Bild das enge Miteinander von Weinstock und Reben Ooh 15,1-10)72. Vermutlich haben die ekklesiologischen Implikationen von KOLVWVLa die Wahl dieses Begriffs veranlaßt. Ebenso wie die Bildrede vom Weinstock sind !J.fvELvund dVaL tv einlinig angelegt. Sie haben nur das unmittelbare Gottes- und Christusverhältnis des Glaubenden im Blick In KOLVWVLa hingegen steckt auch der Gedanke an eine Gemeinschaft, die zwischen Menschen 68 Vgl. zu diesem Stilphänomen Joh 6,51; 8,16-17; 15,27; 3Joh 12. 69 Als Wunsch versteht es die Vulgata: 50cietas nostra sit cum Patre. 70 Vgl. J. Hainz, Koinonia. »Kirche« als Gemeinschaft bei Paulus, 1982 (BU 16); ders., EWNT II 749-755 (mit weiterer Lit.); F. Hauck, ThWNT m 798-810; G. Panikulam, Koinonia in the New Testament. A Dynamic Expression of Christian Life, 1979 (AnBib 85), bes.130-140 (zu 1Joh); E. Franco, Comunione e partecipazione. La koinönia nell' epistolario paolino, 1986 (Aloi. 20), 292. Zu 1Joh
noch V. Castro, La comunion con Dios seg6.n la primera carta de S. Juan, Cistercium (Santander) 27 (1975) 183-200. 71 So Perkins· 633-635. 72 Vgl. H. Seesemann, Der Begriff KOINCNIA im Neuen Testament, 1933 (BZNW 14), 94-98, der auch Joh 13,8 (»... hast du keinen Teil an mir«) heranzieht. Aber seine Gesamtdeutung, Joh bezeichne Gemeinschaft »nur dann mit einer substantivischen Wendung, wenn die verbale sich nicht in den Zusammenhang einfügt« (98), reicht nicht aus.
l]oh 1,3de: Erklärung; 1,3: Wirkungsgeschichte
71
entsteht, aber nicht in ihrem eigenen Entschluß, sondern in einer gemeinsamen Vorgabe gründetl 3, z.B. im anfänglichen Evangelium (Phil 1,5), im Sakrament (lKor 10,16f) oder im Gottessohn und Kyrios Jesus Christus (lKor 1,9). Das erlaubt es, zwischen Gott/Christus und den Adressaten eine dritte Gruppe einzuschalten, die Verkündiger, die selbst in der Christusgemeinschaft stehen und ihre Hörer zur Glaubensgemeinschaft mit sich einladen. Im Evangelium kommt dem am nächsten Joh 17,2021: Jesus bittet auch für jene, »die durch ihr Wort zum Glauben an mich kommen, damit alle eins seien«. Nun treibt 1Joh nicht Glaubenswerbung bei Außenstehenden, sondern richtet sich evidentermaßen an solche, die von der johanneischen Verkündigung schon längst erreicht wurden. Ihnen kann und will der Brief nicht absprechen, daß sie bereits das Leben haben (lJoh 5,13) und daß sie, wenn man das überträgt, längst in der Koinonia stehen. Das Bemühen um Koinonia in 1,3 gibt somit sehr präzise darüber Auskunft, daß die bestehende Gemeinschaft zu zerbrechen droht. Das Auftreten der Sezessionisten, die ihre eigenen Wandermissionare umherschicken, führt zum Auseinanderfallen des lockeren johanneischen Gemeindeverbandes. Auch die Adressaten des Schreibens laufen Gefahr, in diesen Strudel hineingerissen zu werden. Ein Grund für den raschen Erfolg der Abweichler liegt, das muß der Briefschreiber sich selbst eingestehen, in der Lehre von der Christusunmittelbarkeit jedes Glaubenden, die der johanneischen Theologie ein Herzensbedürfnis war. Angesichts ihres Mißbrauchs bringt der Verfasser im Gegenzug die geschichtliche Kontingenz des Offenbarungsgeschehens im Menschen Jesus von Nazaret zur Geltung, aus der sich mit Notwendigkeit kontingente Vermittlungsformen ergeben. Ohne die recht verstandene überlieferung, die auf die ersten Zeugen zurückgeht, ist Gemeinschaft mit Christus nicht zu haben. Dieses Wort muß sich jeder zunächst von den dazu berufenen Verkündigern sagen lassen. Kirchlichem, insbesondere katholischem Selbstverständnis kam die theologische WirkungsOrtsbestimmung, die lJoh unternimmt, zu allen Zeiten entgegen. Beda folgert im 8. geschichte Jahrhundert aus lJoh 1,3: Also muß, wer Gemeinschaft mit Gott haben möchte, sich zunächst der Gemeinschaft der Kirche anschließen, ihren Glauben übernehmen und an ihren Sakramenten Anteil erhalten74. Estius gibt im 17. Jahrhundert nicht ohne Triumph in der Stimme zu verstehen, das lasse sich vorzüglich gegen Schismatiker verwenden, die keine Gemeinschaft mit der katholischen und apostolischen Kirche halten, und fügt das bekannte Wort aus Cyprian an: »Niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter haben will.«75 In unserem Jahrhundert kann man in einer popularisierenden Betrachtung zu lJoh den Satz lesen: »Bei einer Glau-
73 J. Hainz, EWNT II 751, definiert die Begriffsstruktur von XOLVWVLa bei Paulus so: »Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas).« 74 Beda 285: Manifeste ostendit beatus 10-
hannes quia quicumque societatem cum Deo
habere desiderant primo ecclesiae societati debent adunari illamque fidem addiscere eius sacramentis imbui. 75 Estius 665; vgl. Cyprian, De unitate 6 (253,149f CChr.S1 3).
72
Prolog (1,1-4)
bensgemeinschaft mit Gott, die der Mensch selbst und allein gestaltet, wird die Einheit im Glauben verlorengehen und der Subjektivismus Triumphe feiern. Den klaren Beweis liefert der Protestantismus mit seinen ungezählten Sekten und Glaubensauffassungen.«76 Ein protestantischer Erklärer fühlt sich zu der ökumenischen Konzession genötigt: »Die Christenheit bleibt für ein lebensvolles Bild des Sohnes und somit auch des Vaters gebunden an das Zeugnis der Apostel ... Uns ist die Bedeutung der Apostel, überhaupt der überlieferung für die kirchliche Gemeinschaft aus übertriebenem Gegensatz gegen die katholische Schätzung vielfach verhüllt; sollte in ihr nicht soviel Wahrheit stecken, wie dieser Text sie wiedergibt?«77 Man darf darüber eines nicht aus dem Auge verlieren: Den Apostel im paulinischen oder lukanischen Sinn kennt das johanneische Schrifttum nicht, bewußt nicht, möchte man für die Johannesbriefe fast vermuten. Die Autoritätsfrage kann deshalb nicht einfach durch Rekurs auf das Apostolische gelöst werden. Die Relativierung menschlicher Autorität in IJoh 2,27 will mitbedacht sein. Hier treten Konturen eines johanneischen Sonderwegs in der Amtsproblematik hervor, die im Verlauf der Wirkungsgeschichte zum Schaden für die Sache meist übersehen wurden 78. Erklärung Im Verein mit »dies habe ich geschrieben« in 5,13 rahmt »dies schreiben wir« 4a in 1,4 das Korpus des 1Joh ein. Aus der Inklusio folgt, daß nicht das Proömium oder die dort herausgestellte Verkündigung des Anfangs die Bezugsgröße für .oi,,:o bildee 9 • Es verweist vielmehr auf den folgenden BriefBo. Angesichts des emphatischen f)!lEi~ verbietet es sich auch, hier einen unmerklichen Übergang zum schriftstellerischen Plural zu erblicken, so daß »wir schreiben« austauschbar wäre mit »ich schreibe« ab 2,1 (analog sollte es dort heißen: YQa
77
78 Ausführlicher Klauck, Gemeinde ohne Amt; Perkins*. 79 So etwa Rothe 23. 80 So Smalley 14. 81 Vgl. Brown 172. 82 Vgl. Haas, Handbook 28, gegen Plummer 21 u.a.; zur Textkritik s. Anm. 5.
l]oh 1,4b: Erklärung; Exkurs 1
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vollkommnet« ist mitenthalten, daß die Freude als Signum der eschatologischen Heilszeit (vgl. die Freude des Täufers Joh 3,29) für die Schreiber nichts völlig Neues oder Fremdes bedeutet. Weil sie in Gemeinschaft mit Vater und Sohn stehen (3e), hat sich für sie schon die Verheißung Jesu an seine Jünger aus den Abschiedsreden erfüllt: »Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde« (Joh 15,11; vgl. 16,24). Aber diese Gottesgabe hat Jesus allen Glaubenden zugedacht (17,13). Solange ein Teil der Gemeinde aus der Koinonia herauszufallen droht, kann es für die Verkündiger reine Freude nicht geben 83 . Vollkommene Freude gedeiht nur in vollkommener Gemeinschaft. Die im Urchristentum allgemein verbreitete Freude über den missionarischen Erfolg (Lk 10,17; Apg 15,3; 1 Thess 3,9) erscheint hier abgewandelt in Freude darüber, daß Gefährdete dem Zugriff der Häresie entrissen werden.
Exkurs 1: Die Wir-Fonn Literatur: Guy, H.A., 1 John i.1-3, ET 62 (1950/51) 285; Hamack, A, Das »Wir« in den Johanneischen Schriften, SPAW.PH 1923, 96-113; longe, M. de, Who are »We«?, in: ders., Jesus: Inspiring and Disturbing Presence, Nashville 1974, 148-166; Lee, G.M., I John i. 1-3, ET 62 (1950/51) 125; Schnacken burg 52-58. Ein auffälliges Phänomen im 1Joh, das uns gerade bei der Auslegung der ersten vier BestandsVerse eine Reihe von Fragen aufgibt, ist der Wir-StiL In 1,1-4 stehen von 17 Verbfor- aufnahme men 10 in der 1. Pers. Plural, nur zwei in der 2. Pers. PluraL Dem entspricht die Verteilung der Pronomina: 4mal f}!tiÜv, je 1mal f}!.tLV, f}f.lE~ und f}flE'tEQU, dagegen nur 2mal UflLV und 1mal Uf.lE~. Zwar folgt wenig später in 2,la eine Ich-Aussage, aber auch im ganzen Schreiben herrscht fraglos das Wir vor, wobei man das eher unpersönliche ra.v ElJtWf.lEv in 1,6.8.10, das in 2,4.6.9 durch 6 'AEywv ersetzt wird, gar nicht mitzuzählen braucht. Das Ich dient in fast allen Fällen als Subjekt zu »schreiben« (2,1.8.12.13.14.21.26; 5,13), mit der einen Ausnahme in 5,16, wo »ich rede« steht. Folgende Erklärungsmöglichkeiten sind zu überprüfen: 1 Es handelt sich um ein kommunikatives Wir. Der Redende oder Schreibende Erklärungen schließt sich mit den Adressaten zu einer Gruppe zusammen, die sich gegebenenfalls in einem weiteren Schritt gegenüber Außenstehenden oder gegenüber der Umwelt abgrenzt. Wir umfaßt ihr und ich, oft im Gegensatz zu sie. So verhält es sich in 2,1921: »ich habe geschrieben«, »ihr wißt alle«, »von uns sind sie ausgegangen«. Schreiber und Adressaten heben sich als Gemeinde mit Wir-Bewußtsein von den Gegnern ab.
Vergleichbar ist neben 3Joh 4 auch Phil 2,lf: »Wenn es Gemeinschaft (xowoovia) des Geistes gibt ... so macht meine Freude vollkommen.« Treffend bemerkt Beda 286: Gau83
dium doctorum fit plenum cum multos praedicando ad sanctae ecclesiae societatem . .. perducunt. Das wird verkannt von Houlden 47,
wenn er den Gedanken der Abschiedsreden hier nur »altered if not trivialized« wiederfindet. Zum Ganzen E.G. Gulin, Die Freude im N.T. II, 1936 (AASF 37/3), bes. 67f; G. Ferraro, ntema della gioia nelle lettere giovannee, RivBib 36 (1988) 439-461.
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Exkurs 1: Die Wir-Form
Ein kommunikatives Wir wird z.B. in 2,1-5 argumentativ eingesetzt84. Man kann die meisten Wir-Formen des 1Joh unter diese Kategorie subsumieren (problematisch bleibt 4,14). Für 1,1-5 trifft diese Deutung aber keinesfalls zu. Sie vermag das klare Gegenüber von wir und ihr nicht zu erklären, das in jedem Lösungsversuch berücksichtigt werden muß. 2 Es liegt ein schriftstellerischer Plural vor. Das Wir meint lediglich den Schreiber selbst. Diese Stilfigur ist verwandt, aber nicht schlechthin identisch mit dem pluralis majestatis. Nachweisen läßt sie sich im Griechischen in der Alltagssprache, bei Schriftstellern und insbesondere in Briefen, amtlichen wie privaten85, wo »wir« als eher zurückhaltende Umschreibung der eigenen Person fungiert 86 . Auch der Wechsel vom Plural zum Singular oder umgekehrt kommt vor 8l . Gewinnt vor diesem Hintergrund nicht die Position Harnacks an Plausibilität, die Wir-Form stehe entweder für das Ich des Autors oder stelle Gemeinschaft zwischen ihm und der Gemeinde her? Um dem Gewicht des Wir in 1,1-4 gerecht zu werden, fügt Harnack hinzu, hier nehme der Verfasser »für seine Person allein eine Autorität in Anspruch ... als spräche die Gemeinde der Gläubigen selbst«88. Dann fragt sich jedoch, warum eben diese Gemeinde im Proömium in der Ihr-Form auch noch angeredet wird. Allen Textdaten wird nur das dritte Modell gerecht: 3. Das Wir umfaßt eine Gruppe, die sowohl von dem Ich des Schreibenden als auch von dem Ihr der angesprochenen Gemeinde zu unterscheiden ist, zu deren repräsentativem Sprecher sich aber der Verfasser, der später zur Ich-Form überwechselt, aufschwingen kann89. Dazu wäre Joh 21,24 zu vergleichen:» Wir wissen, sein Zeugnis ist wahr« im Verein mit 19,35: »... damit auch ihr glaubt« (vgI. 20,31). Auch inJoh 3,11 meldet sich innerhalb einer Jesusrede diese Gruppe unvermittelt zu Wort: »Was wir wissen, reden wir, und was wir gesehen haben, bezeugen wir.« Es ist das Wir der johanneischen Schule (s. § 9 der Einleitung). Dahinter stehen Tradenten, Theologen und Lehrer der Gemeinde, die für das johanneische Schrifttum in seinen verschiedenen Phasen verantwortlich zeichnen.
Joh
1,14.16 Vor ein besonderes Problem stellt uns in dieser Hinsicht das Wir im Johannesprolog. In 1,14 heißt es: Das Wort »hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut«, in 1,16: »aus seiner Fülle haben wir alle empfangen.« Gewöhnlich setzt man beide Wir-Formen gleich und interpretiert sie als pluralis ecclesiasticus. Es spreche die glaubende Gemeinde, die das Bekenntnis der ersten Zeugen zu ihrem eigenen macht 90. Aber das nuvt€l; in 1,16 will ernst genommen sein. Erst in V. 16 werden alle Glaubenden angesprochen, während man für V. 14 fragen darf, ob nicht primär »an
84 Ein Beispiel für den argumentativen Gebrauch des Wir, verbunden mit einem Wechsel der Pronomina, bei Epictet, Diss 11 4,2-5: »Wenn wir diese Treue aufgeben ... , was tun wir dann? ... In welche Lage bringen wir uns selbst? Wie soll ich dich behandeln? ... Was werden wir mit dir machen?« 85 Beispiele aus Papyrus briefen bei Mayser IIIl, 40-43. 86 Vgl. E. Stauffer, ThWNT 11 354: »Es ist der Stil des feinen Mannes, der mit seiner
Person und seinen Privatangelegenheiten möglichst im Hintergrund bleiben will«; auch BI-Debr-Rehkopf § 280. 87 Z.B. in PTebt 58, bei S. Witkowski, Epistulae Privatae Graecae, 21911 (BiTeu), 101106. 88 Harnack* 104 (im Orig. gespem). 89 Ähnlich vielleicht Rheg NHC V3 44,4.6f: »Da du uns fragst ..., schreibe ich dir.« 90 Z.B. Bultmann, Joh 46 mit Anm. 1.
Augenzeugenschaft
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die ersten Zeugen« zu denken ist, »die Jesu Weg mitgegangen sind und ihm zuletzt in seiner österlichen Herrlichkeit begegnet sind«91. Damit stoßen wir erneut auf die Frage der Augenzeugenschaft, die im Briefpro- Augenzeuömium (und wahrscheinlich auch in Joh 1,14) von einem Vertreter der johanneischen genschaft? Schule für sich reklamiert wird. Müssen wir deshalb zu einer konservativen Lösung in der Verfasserfrage greifen und den Brief einem echten Jesusjünger zuschreiben? Artikuliert sich hier die Stimme des letzten überlebenden aus einer größeren Zahl von Zeugen, die schon verstorben sind 92 ? An der Stelle setzt in den Kommentaren eine Beispielreihe ein, die belegen soll, mit welchem Recht auch ein zeitlich späterer Nicht-Augenzeuge so reden kann. Man bemüht dafür die »Solidarität der nachfolgenden Geschlechter mit dem Urgeschlecht« oder »ein mystisches Nacherleben«93. Im AT fühlt sich auch eine nachgeborene Generation, für die das Exodusgeschehen tief in der Vergangenheit liegt, angesprochen durch Worte wie: »Eure Augen sahen, was ich den Ägyptern getan habe« (Jos 24,7), oder: »Ich bin es, der euch aus dem Lande Ägypten herausführte und vierzig Jahre in der Wüste geleitet hat« (Am 2,10). Aus einer ähnlichen Geisteshaltung heraus ist der Rabbi Gamaliel zugeschriebene Ausspruch über das Paschafest entstanden: »In jeder Generation fühle man sich verpflichtet, sich selbst so anzusehen, als ob man selbst aus Ägypten ausgezogen wäre ... Darum schulden wir ihm Dank ... , der uns von der Knechtschaft zur Freiheit geführt hat.«94 Über die Zeitgenossen Jesu soll das Blut des Zacharias (vgl. 2Chr 24,20-22) kommen, »den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt«, wie es in Mt 23,35 heißt 95. In Lk 1,1 und Hebr 1,2 verlängert die Zielangabe T]!lLV das Christusgeschehen (einschließlich seiner nachösterlichen Aspekte) in die Gegenwart des Schreibenden. Viel zitiert wird Tacitus, Agric 45,1: »Bald schleppten wir mit eigener Hand Helvidius ins Gefängnis.« Die Situation ist folgende: Tacitus schreibt 98 n.Chr. über ein Ereignis, das sich 93 n.Chr. abspielte. Verantwortlich zeichnete formal der Senat, dem Tacitus angehörte, obwohl er bei der entscheidenden Sitzung wahrscheinlich nicht anwesend war. Die Affinitäten zu 1Joh 1,1-4 sind gering. Polykarp erinnert seine Leser an das Beispiel des Paulus und der anderen Apostel, welches »ihr ja auch vor Augen hattet« (Polyk 9,1). Augustinus erklärt sich mit seinen Mitchristen solidarisch, wenn er den Donatisten sinngemäß vorhält: Ihr verfolgt uns; wir müssen leiden (Ep 88,8). Bei Irenäus, Haer V 5,1, dürfte neben anderen Schriftstellen auch 1Joh 1,1.3 eingear- Wirkungsbeitet sein, so daß dieser Beleg bereits zur Wirkungs geschichte unseres Textes gehört: geschichte Das Geheimnis Gottes konnte sich uns nicht anders erschließen, »als daß wir unseren Lehrer (d.h. das menschgewordene Wort) sahen und mit unserem Gehör seine Stimme aufnahmen, damit wir ... Gemeinschaft (XOLVUlVfa) mit ihm hätten«. Der vermit91 Theobald, Anfang (s.o. Anm. 16) 56f. Das verbindet Robinson, Destination 128, mit der Frage, ob »wir« vielleicht jene meine, die mit dem Autor von Palästina gekommen sind. 92 So Bruce 38; Brooke 9; Filson, Purpose 266. 93 Windisch 108; vgl. Holtzmann 328f; Dodd 13-15. 94 mPes 10,5. Allerdings fehlt der entschei-
dende Satz in den besseren Textzeugen, vgl. G. Beer, Pesachim, Gießen 1912, 195f. 95 Zu dieser überzeitlichen Schuldverhaftung vgl. die bekannte Choralstrophe: »Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich habe es verschuldet, was du getragen hast.« Beliebtes profanes Beispiel: »Wir haben gewonnen/verloren« (vom Fußballspiel oder Krieg).
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Exkurs 1: Die Wir-Form
telte Charakter dieser beso~deren Form von Erfahrung, der auch für Irenäus anzusetzen ist, tritt bei Ambrosius und Paulinus von Nola klarer zutage, die 1Joh 1,1 sinngemäß so auslegen: Wir selbst sehen mit den Augen der Apostel, wir selbst haben ihn mit ihren Händen betastet96 • Fazit So sehr diese heilsgeschichtliche Denkweise mit ihren biblischen Wurzeln, die jede Generation in Unmittelbarkeit zu den Geschehnissen des Anfangs sieht, zu respektieren ist - etwas genau mit 1Joh 1,1-4 Vergleichbares liegt nirgends vor. Die Verbundenheit des Sprechers solcher Sätze mit den eigenen Zeitgenossen verhindert es gerade, daß wir und ihr wie im 1Joh auseinandertreten. Es führt kein Weg an dem Urteil vorbei: Wer so spricht, wie es in 1Joh 1,1-4 geschieht, nimmt eine direkte Augenzeugenschaft in Anspruch, die späteren Christen nicht in gleicher Weise möglich ist. Dennoch kann der Brief aus verschiedenen zeitlichen und sachlichen Gründen schwerlich von einem Angehörigen der ersten Generation der Jesusjünger geschrieben sein, so wenig wie das Johannesevangelium (s. § 9-10 der Einleitung). Wie soll man diese Diskrepanz erklären? 2Petr 1,16-18 Ziehen wir zum Vergleich eine Stelle aus einem anderen späten Schreiben heran, nämlich 2Petr 1,16-1897: »Denn nicht ausgeklügelten Sagen (j.tOOou;) folgend, haben wir euch die Macht und Ankunft des Herrn Jesus Christus kundgetan, sondern da wir Augenzeugen (oder Eingeweihte: bt6mm) seiner Größe geworden sind.« Es folgt eine Anspielung auf die Verklärung Jesu, dann heißt es: »Und diese Stimme hörten wir vom Himmel kommen, da wir mit ihm auf dem heiligen Berge waren.« Weil mythologische Verzerrungen der Christusbotschaft drohen, bindet der Autor sie an die vergangene Jesuszeit und an die apostolische Zeugenschaft zurück. Beides bleibt aber in der Schwebe, weil er ausgerechnet die Erzählung von der Verklärung, in der sich das die Geschichte transzendierende österliche Mysterium erschließt, als Bezugspunkt wählt und weil er mit bt63tUlL einen Begriff aus der Mysteriensprache aufgreift, der nicht historische Augenzeugenschaft, sondern Eingeweihtsein durch Schau eines geheimnisvollen Kultrituals beinhaltet. Die pseudoepigraphische Rahmung wird in 2Petr 1,1 durch die Namensnennung konsequent durchgeführt. Ein Vergleich mit 1Joh 1,1-4 läßt Gemeinsamkeiten (z.B. die Wir-Form und die Hinwendung zu einer Adressatengruppe) zutage treten. Der »Rückgriff« auf die Gestalt Jesu geschieht im ersten Vers des 1Joh unkomplizierter und direkter, aber wohl auch unter Einschluß österlicher Aspekte (s.o.). Die Pseudepigraphie bleibt anonym, da der große Name aus der Vergangenheit, der dem Schreiben Autorität verleihen soll, durch Anlehnung an das gleichfalls namenlose Evangelium ersetzt wird. Verwandt ist die Frontstellung gegen den Mythos, auch wenn dieses Stichwort aus 2Petr 1,16 in 1Joh nicht vorkommt. Als einen zentralen Fehler der christologischen Irrlehre, die ihm die Gesetze seines HandeIns diktiert, diagnostiziert der Autor des 1Joh Geschichtsverlust, wie er mythischem und gnostischem Denken zu eigen ist. In 1,1-4 legt er die Fundamente zur Bekämpfung dieser bedrohlichen Entwicklung, das erklärt sein Insistieren auf Augenzeugenschaft und vergangener Sinneswahrnehmung. 96 Ambrosius, Expositio Evangelii secundum Lucam 5,96 (166,1013-1018 CChr.SL 14); Paulinus von Nola, Ep 13,26 (106,3f CChr.SL 29): apostolorum oculis vidimus manibusque palpavimus.
97 VgL KH. Schelkle, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief, 41976 (HThK Xill/2), 193-199.
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Pseudepigraphie, Rezeption
Als weiterer Faktor kommt hinzu, daß er sich als verantwortliches Mitglied der johanneische Schule fühlt und daraus die Berechtigung für sein Vorgehen bezieht. Am Anfang dieser Schule wie am Anfang der Gemeinde überhaupt steht der Lieblingsjünger als der große Lehrer und Traditionsbegründer. Er war ein Jesusjünger, wenn auch keiner von den Zwölfen, er hat den Herrn erlebt98 . Wer nach seinem Tod Goh 21,23) sein Erbe verwaltet und in seinem Geiste spricht, mag sich in bestimmten Situationen zu einer solchen Redeweise gedrängt sehen. Man kann darüber streiten, ob man dieses Selbstbewußtsein prophetisch nennen und statt von einem pluralis ecclesiasticus zutreffender von einem pluralis propheticus sprechen sollte 99. Im Evangelium trägt der Paraklet, der nach Ostern die Jesusüberlieferung auslegt, prophetische Züge (vgl. sein EA.f:rt.Etv 16,8 mit lKor 14,24). Seiner Stilisierung wie der des Lieblingsjüngers (zu seiner Interpretenfunktion vgl. Joh 13,23f) ist ein Stück weit das Selbstverständnis der johanneischen Schule zu entnehmen. Man muß in unserem Fall die Kategorie des Prophetischen, wenn man sie ins Spiel bringen will, einschränken auf die Weitergabe, Erklärung und Sicherung von Tradition. »Der Schreiber ist - wenn wir es einmal so zugespitzt ausdrücken dürfen - die Stimme der Tradition selbst.«lOo Der wirkungsgeschichtliche Stellenwert der Wir-Form ist sehr hoch anzusetzen. lJoh Wirkungs1,1-4 hat wesentlich dazu beigetragen, daß man dem ganzen johanneischen Schrift- geschichte turn den Status eines Augenzeugenberichtes zuerkannte. Der Canon Muratori ist dafür ein gutes Beispiel. Er zieht aus V. 1 die Schlußfolgerung: Damit bekennt sich Johannes als Augen- und Ohrenzeuge, und deutet V. 4 auf das Evangelium: Derselbe hat alle Wundertaten des Herrn der Reihe nach aufgezeichnet101 • Übereinstimmend berufen sich Hieronymus, Tertullian und Dionysius von Alexandrien auf die Augenzeugenschaft in lJoh 1,1, wo sie mehr oder minder unreflektiert die Identität von Evangelist, Briefautor und Apostel aus dem Zwölferkreis voraussetzen102• Daß es auch andere autorisierte Zeugen geben konnte als die Zwölf, war offenbar rasch aus dem Bewußtsein verschwunden. Die Eigenart der johanneischen Traditionssicherung wiederzuentdecken blieb der kritischen Exegese der Neuzeit vorbehalten.
Als einfältige Kindersprache hatte Luther den Briefeingang ob seines ver- Zusammenmeintlich so schlichten Stils eingestuft, dies aber eher als Lob gemeint (s. fassung Anm. 6). Planloses Flickwerk, von drei bis vier Händen zusammengeschustert, das war der Eindruck, zu dem konsequent betriebene Literarkritik zu98 Vgl. zu dieser Option in der Lieblingsjüngerfrage und zur Diskussion insgesamt Schnackenburg, Joh m 449-464.484; Becker, Joh 434-439; zur Auswertung für lJoh Brown 95f. Anders J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte, 1988 (SBB 16); zur Auseinandersetzung s. M. Theobald, BZ NF 34 (1990) 138-140. 99 So A. Kragerud, Der Lieblingsjünger im Johannesevangelium. Ein exegetischer Versuch, Oslo 1959, 102.
Haenchen, Literatur 249. Canon Muratori Z. 26-34; vgl. § 2 der Einleitung. 102 Tertullian, Adv Prax 15,2 (1178f,l1f CChr.SL 2); Dionysius Alex., bei Eusebius, Hist Eccl VII 25,7.12; Hieronymus, Vir Illustr 9 (13,14-17 TU 14/1a). Vgl. noch die Rezeption von lJoh 1,1 bei Irenäus, Flor (nach Eusebius, Hist Eccl V 20,6): Polykarp erzählt, was er von denen erfahren hat, »die Augenzeugen waren des Wortes des Lebens«. 100 101
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Prolog (1,1-4)
letzt gelangte. Aber es gibt auch eine täuschende Einfachheit, und der erste Anschein von Planlosigkeit kann manchmal trügen. Das Briefproömium 1Joh 1,1-4 erweist sich bei näherem Hinsehen als durchdachte Komposition von hohem theologischen Rang. Ihr Thema ist die Wahrnehmung der kontingenten Gestalt des irdischen Jesus in ihrer bleibenden Bedeutsamkeit für die Grundlegung christlichen Glaubens, der als solcher erst nach Ostern möglich ist, weil das Osterereignis der vorgegebenen Geschichte Jesu ihre Zukünftigkeit verleiht. Der Briefautor nimmt damit die Herausforderung an, vor die ihn die aktuelle Situation, in der er sich befindet, stellt und treibt ihre denkerische Bewältigung bis ins Grundsätzliche vor. Daß gegnerisches Gedankengut spalterisch wirken und die innergemeindliche Communio bedrohen konnte, liegt an einer geschichtslosen Theologie, die das Moment der menschlichen Vermittlung eines einmaligen historischen Ereignisses zugunsten der überzeitlichen Gottunmittelbarkeit des Glaubenden überspringt. Der Autor muß zunächst die schwankenden Fundamente sichern. Er tut das, indem er sich in die Reihe der Traditionszeugen einordnet. Was sie an Inhalten weitergeben und in geistgeleiteter Interpretation erschließen, läßt sich mit einigem Recht bis zu den Anfängen, bis in die Jesuszeit hinein zurückverfolgen. Hier kommen die Verben der sinnlichen Wahrnehmung ins Spiel, das Hören, Sehen, Schauen, Betasten. Augen und Hände gelangen zum Einsatz. Ohne solche Handgreiflichkeiten würde sich, so steht zu befürchten, die Person Jesu auflösen in ein nebulöses Phantasiegebilde. Aller Nachdruck liegt deshalb auf der leibhaftigen Begegnung mit ihm. Das hat, wie sich noch zeigen wird, erhebliche Folgen auch für den christlichen Umgang mit der eigenen Lebenswirklichkeit. Hier bereits entscheidet sich, ob man sie illusionär überspielt oder als zu bewältigende Aufgabe annimmt. Dieser leibhaftige Jesus, der auch nach seiner Auferstehung geschaut und betastet werden kann, ist zugleich der Präexistente, der zur Welt kommt, der Gottessohn, die personale Verkörperung des von Gott verheißenen Lebens in Fülle. Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret verlangt, daß diese Pole nicht als unvereinbar auseinandergerissen, sondern in einer dynamischen Einheit zusammengedacht werden. Auf dieses Ziel hin bewegt sich die christologische Linienführung im Briefproömium und - gattungskonform - im ganzen Brief. Wie soll Begegnung mit Jesus geschehen über einen trennenden zeitlichen Abstand hinweg? Die Antwort lautet: im Wort, das vom Leben handelt und Leben schafft. Es ist eingegangen in das Zeugnis und in die kirchengründende Verkündigung der Jünger, in deren Tradition die johanneische Schule steht. Gemeinschaft mit Jesus und durch ihn mit Gott bleibt gebunden an dieses Zeugnis und diese Verkündigung, die in der johanneischen Gemeinde ihren theologischen Ort hat. »Und doch ist eine solche Größe darunter verborgen, daß man es kaum begreifen mag« (Martin Luther).
B Korpus Einweisung in die Wirklichkeit der Liebe (1,5 - 5,12)
I
Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis (1,5 - 2,17)
Literatur (zu den »Slogans« in 1,6 - 2,11): Bogart, Perfectionism 25-39; Johnson, Antitheses; Munoz Le6n, Origen 225-232; Painter, Opponents 53-61.
Wie in der Einleitung erörtert (s. § 5), entscheiden wir uns für eine Dreiteilung des Briefkorpus und setzen den ersten größeren Einschnitt zwischen 2,17 und 2,18 an. Eine starke Klammer stellt im ersten Hauptteil 1,5 - 2,17 die Bildlichkeit von Licht und Finsternis dar, die ethisch als Wandeln oder als Sein in der von Licht oder Finsternis durchwalteten Sphäre ausgewertet wird (1,5-7; 2,8-11). Durchgehend ist auch eine implizite Auseinandersetzung zu verspüren: Positionen werden schlagwortartig aufgerufen und attackiert (1,6.8.10; 2,4.6.9). Gemeinschaft mit Gott (1,6; 2,6) und Erkenntnis Gottes (2,3.14) sind die großen Leitbegriffe, deren rechtem Verständnis das ganze Bemühen des Verf. gilt. Wo die Liebe zu den Brüdern und Schwestern (2,10) den Lebensvollzug bestimmt, hat das von Gott her strahlende Licht die Herzen der Menschen erfaßt. Auf die Seite der Finsternis gehören die Sünde (1,7 2,2) und die Begierde der Welt (2,15-17).
1
Im Lichte leben (1,5 - 2,2)
Literatur: Chmiel, Lumil~re 30-155; Houlden, ].1., Salvation Proclaimed II. 1. John 1,5 2,6: Belief and Growth, ET 93 (1981/82) 132-136; Malatesta, Interiority 95-161; Taeger, Johannesapokalypse 200-203.
Als erste geschlossene Gruppe von Versen hebt sich 1,5 - 2,2 heraus. Das Textstück weist eine große formale und inhaltliche Kohärenz auf, erlaubt aber dennoch eine Untergliederung in drei kleinere Abschnitte: (a) Am Anfang steht als Themasatz mit feierlicher Einleitung 1,5. (b) Die Opposition von Licht und Finsternis aus 1,5 wird in dem konditionalen Satzgefüge von 1,6-10 mit dem Koinonia-Gedanken und der Sündenproblematik verbunden. (c) Ein retardierendes Moment kommt durch die neue Anrede in 2,1 herein. Inhaltlich bildet 2,1-2 eine steigernde Fortführung der zuvor schon angeschnittenen Frage nach der Möglichkeit der Vergebung von Sünden.
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a
Gott ist Licht (1,5)
Gott ist Licht (1,5)
Literatur: Bott, !.C, De notione lucis in scriptis S. Iohannis Apostoli, VD 19 (1939) 8190.117-122; Schäfer, 0., »Gott ist Licht«, 1Joh.1,5. Inhalt und Tragweite des Wortes, ThStKr 105 (1933) 467-476; Schwank/, 0., Die Metaphorik von Licht und Finsternis im johanneischen Schrifttum, in: Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, hrsg. K Kertelge, 1990 (QD 126), 135-167.
Und dies ist die Botschaft, b die wir von ihm gehört haben c und euch verkündigen: d Gott ist Licht, e und in ihm gibt es keinerlei Finsternis.
5a
Analyse Wir bleiben mit V. 5 noch im Einzugsbereich des Briefproömiums und des Evangelienprologs. Die Thematik von Licht und Finsternis hat in Joh 1,4-5.7-9 ihre Parallele. Joh 1,19 leitet vom Prolog zu den Täuferstücken über mit den Worten: »Und dies ist das Zeugnis des Johannes« (vgl. 1,7.15). Ebenso hier 5a: »Und dies ist die Botschaft.« Im Unterschied zu anderen Definitionssätzen, wie das johanneische Schrifttum sie liebt, steht in 5a EO'tLV vor aÜ't'rJ, was unserer Stelle evtl. ein besonderes Gewicht verleiht. Der Relativsatz in 5bc summiert das Proömium. Sb entspricht lab, Sc lehnt sich an 3e an (mit
1 Einige Textzeugen ersetzen es durch das gebräuchlichere btayyfÄta (vgl. 1Joh 2,25). 2 Spr 12,25; 25,25 kennt den Ausdruck ö.yyfÄta ö.ya&f). Vgl. Jes 28,9LXX: ö.'VI1yyelAa!U'V ö.yyfÄtav.
3 Die Konnotation »Offenlegen des Verborgenen« (sc. der Bedeutung eines Traumes) gewinnt Ö.Vayy~LV in Dan 2,2-27 Th. Vgl. ebd. 9,23; 10,21; 11,2.
l]oh 1,5de: Erklärung
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in der Verkündigung weiter (avayytM.fLv)4, was ihnen als Selbsterschließung Gottes in Jesus zuteil wurde (s.o. zu 2d). »Gott (ist) Geist«, hieß es in Joh 4,24. »Gott ist Liebe«, werden wir in lJoh 4,8 5de vernehmen. »Gott ist Licht«, so lautet die parallele Sprach- und Denkfigur in 5d. Diesen Themasatz unterstreicht 5e durch die doppelte Negation des Gegenteils: Es gibt in ihm nicht die geringste Spur von Finsternis (zur Diktion vgl. Ps 92,16: »Gerecht ist der Herr ... , kein Unrecht ist an ihm«). Sätze wie »Gott ist Licht«, »Gott ist Liebe« sind mehr als bloße Funktionsaussagen. Sie wollen nicht nur zum Ausdruck bringen, daß Gott von den Menschen als Liebe oder als Licht erfahren wird, daß wir von Gott nur da reden sollten, wo die eigene Existenz sich - um mit Heidegger zu sprechen -lichtet und sich in der Begegnung mit einem anderen Menschen Liebe ereignet. Es ist in diesen Sätzen etwas eingefangen von Gottes unvergänglichem Wesen, dies aber wiederum nicht so, daß man von einer einfachen Identität sprechen könnte. Dann nämlich wäre 5d auch umkehrbar; man dürfte mit gleichem Recht sagen: Das Licht ist Gott s. Im Verlauf der antiken Religionsgeschichte ist diese Konsequenz oft genug gezogen Licht und worden. Die Sonne als Spenderin von Licht, Leben und Wärme genießt göttliche Ver- Finsternis ehrung. Die Sterne sieht man als mächtige Götterwesen an, die das Schicksal der Menschen bestimmen. Helioskult und Astrologie als Religionsersatz nehmen in der Spätantike an Bedeutung eher noch ZU6. Schon der Schöpfungsbericht in Gen 1 setzt sich mit ähnlichen Mythologemen auseinander, wenn er das Licht des Tages und die Leuchten am Himmel dem Schöpfergott unterordnet, dessen Werk sie sind. Innerhalb dieser Grenzen scheut auch die atl.-jüdische Tradition vor der Anwendung der Lichtterminologie auf den Bereich göttlichen Handeins und Wirkens keineswegs zurück 7. Licht dient als Symbol für das Heil, das von Gott kommt, und für das eschatologische Hoffnungsgut Des 9,1; 58,8; 60,1-3.19f). Gott wird angesprochen als »Licht Israels« (Jes 10,17) oder »mein Licht« (Ps 27,1). Mythologische Sprachreste kommen in Ps 104,2 zum Vorschein: »Der du in Licht dich hüllst wie in ein Gewand.« Ansonsten liegt der Ton auf der gnädigen Zuwendung Gottes zu den Menschen (Ps 43,3; 97,11). Licht ist austauschbar mit Leben (Ps 36,10). Aus der Prädikation Gottes als Licht gewinnt das AT die Motivierung für die Gestaltung des Lebens: »Haus Jakob, auf, laßt uns wandeln im Lichte des Herrn« (Jes 2,5), »auf seinen Pfaden« (Jes 2,3). Das geht soweit, daß man Licht und Wandel geradezu »als Korrelate bezeichnen kann«8. Der Schöpfergott sagt in Jes 45,7 von sich: »Der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe ... « (vgl. Am 5,8). Damit steht für das AT fest, daß die Finsternis nicht als P. Joüon, Le verb 'ANArrEAAQ dans Saint Jean, RSR 28 (1938) 234f, übersetzt mit »redire«, wieder sagen. 5 Balz 166. 6 So propagiert der Roman Aithiopika des Heliodor (ca. 3./4. Jh. n.Chr.) die Verehrung der Sonne als höchste Gottheit. 7 Vgl. zum folgenden S. Aalen, Die Begriffe »Licht« und »Finsternis« im Alten Testament, im Spätjudentum und im Rabbinismus, 1951 4
(SNVAO.HF 1951,1); ders., ThWAT I 160182 (mit Lit.); zu einem wichtigen Teil des Traditionsfeldes B. Langer, Gott als »Licht« in Israel und Mesopotamien. Eine Studie zu Jes 60,1-3.19f, Klosterneuburg 1989 (Österreichische Biblische Studien 7). 8 Schäfer* 468. Vgl. die Übertragung von Lichttermini auf das Gesetz und auf die Weisheit (ps 119,105.130; Spr 6,23; Weish 7,26).
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Gott ist Licht (1,5)
mythische Gegengröße zu Gott auftreten kann. Aber nur das Licht wird in Gen 1,4 »gut« genannt, die Finsternis bleibt im gleichen Zusammenhang den Chaosmächten zugeordnet (Gen 1,2). Mühsam gebändigt durch das Eingespanntsein in den Rhythmus von Tag und Nacht, weist sie doch bleibend »auf das Spannungsvolle und Vorläufige dieser Welt« hin, läßt sie »die fehlende Stabihtät der Welt gewahr werden und führt die Möghchkeit ihrer Chaotisierung vor Augen«9 . Das wirkt sich im menschhchen Handeln aus. Die Finsternis ist das Medium der Sünde. Die Frevler bevorzugen für ihr schändliches Tun das Dunkel, im Finstern sind sie in ihrem Element (Hi 24,13-17). Wie zur Weisheit das Licht gehört, so zur Torheit die Finsternis (Koh 2,13f). Die Linie, die sich hier abzeichnet, führt zum kampfbetonten Duahsmus der Schriften von Qumran. Die Söhne des Lichtes und die Söhne der Finsternis stehe'n sich unversöhnhch gegenüber (lQS 1,9f). Beherrscht werden sie von einem Fürsten des Lichts und einem Engel der Finsternis (lQS 3,20f). Ihre Heere formieren sich, um den endzeithchen Kampf auszufechten (lQM 1,1-17), der mit einem überwältigenden Sieg des Lichtes enden wird10. Rein sprachlich kommt am nächsten an lJoh 1,5 die gleichlautende Stelle bei Philo, Som 1,75 heran: 61'tEO~ CPÖJ~ EO'u (mit Zitat aus Ps 17,1 als Begründung). Philo will das so verstanden wissen, daß man in allegorischem, uneigentlichem Sinn die Sonne auf Gott deuten kann (ebd. 73) und auf seinen Logos, den himmlischen Archetyp, aus dem nach dem Urbild-Abbild-Schema das irdische Licht hervorgeht. Bei Philo hat die Lichtmetaphorik eine Wendung ins Intellektualistische genommen. Das verrät den Einfluß der griechischen Lichtmetaphysik, wo seit Parmenides und Platon der Weg der philosophischen Wahrheitserkenntnis als übergang vom Dunkel der Sinnenwelt zum Licht der reinen Ideenschau gezeichnet wirdl l. Massiert begegnen das Licht als Chiffre für das höchste, überweltliche Sein und der Dualismus von Licht und Finsternis im Umkreis der Gnosis: in den hermetischen Schriften12 , in den Oden Salomos13, bei den Mandäern14, bei den Manichäern15, in den Schriften von Nag Hammadi 16 . Teils ist die gleiche Traditionsgrundlage gegeben wie bei Johannes, die letztlich auf den biblischen Schöpfungsbericht zurückreicht17•
S. Aalen, ThWAT I 171f. Vgl. 1QM 13,5.9-12.15-16. Ferner Test Lev 19,1: »Und jetzt, meine Kinder (vgl. 1Joh 2,1) ..., wählt euch das Licht oder die finsternis, das Gesetz des Herrn oder die Werke Beliars.« 11 Vgl. noch Praem 45f; Op 30f.71. Dazu F.N. Klein, Die Lichtterminologie bei Phiion von Alexandrien und in den hermetischen Schriften. Untersuchungen zur Struktur der religiösen Sprache der hellenistischen Mystik, Leiden 1962, 25-31. Zu den Griechen u.a. D. Bremer, Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung. Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik, 1976 (ABG. Supplementheft 1). 12 CorpHerm 1,21: cp&~ Kat ~wiJ WtLV Ö i}EÖ~ 1!.Ut :1tU't'f]Q. Weiteres bei FN. Klein, ebd. 80-192. Zur Gnosis insgesamt H. Conzelmann, ThWNT IX 324-334. 9
10
OdSai 5,5f; 6,17; 8,2; 10,6; 11,11.19; 15,2; 16,15f; 21,3.6; 32,1; 38,1. 14 RGinza 1,3 (6,20.26 Lidz.): »Er ist der hohe Lichtkönig, der Herr aller Lichtwelten ... Er ist das Licht, in dem keine Finsternis ist.« 15 Vgl. die Ausführungen über das Reich der Finsternis und über die Lichtwelt in Kephalaia M. Die Glossa ordinaria 694D sieht in 1Joh 1,5 einen Bezug zum manichäischen Gottesbild. 16 u.a. AJ NHC 11/1 2,31; 4,4.26.29.32f; Protennoia NHC XIII/l 36,32f; OdNor NHC 002 27,12.15. Ein Appell am Schluß von Zostr NHC VIII/l 132,3f: »Blicke auf das Licht. Fliehe die Dunkelheit.« 17 Lichtmetaphorik in Paraphrasen zu Gen 1: HA NHC 11/4 87,23; ParSern NHC VII/1 1,24-26: »... im Anfang, ehe ich erschien. Es gab Licht und Finsternis ...« 13
l]oh 1,5: Metaphorik von Licht und Finsternis
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Da die genannten Texte zeitlich später liegen als das johanneische Korpus, muß auch mit einem unmittelbaren Nachwirken der johanneischen Theologie gerechnet werden 18 . Die drängende Frage, wo die Finsternis eigentlich herkommt, wird in der Gnosis verschieden gelöst. Entweder postuliert man ein Gegeneinander von zwei gleich ursprünglichen Prinzipien, oder man läßt die Finsternis aus einer Devolution des Göttlichen, aus einer Art kosmischem Unfall resultieren. Aber auch bei der zweiten Lösung kann man nicht sagen, im Gottesbild der Gnosis werde dem Licht als Signum des Göttlichen ein Stück Finsternis als weiterer Bestandteil beigemischt. Die Überlegung, ob der Briefautor nicht schon in Sde ein Schlagwort seiner zur Gnosis neigenden Gegner aufgreife - des Inhalts etwa, es gebe in Gott auch einen finsteren Bereich - und widerlege, hat schon deshalb wenig fiir sich19 .
Es bedarf keiner gewagten Hypothesen, um den Rekurs des Briefautors auf die Lichtmetaphorik zu erklären. Ihm stand die reiche Evangelientradition zur Verfügung, die davon förmlich durchzogen wird. Das beginnt beim Prolog: »Und das Licht scheint in der Finsternis« (Joh 1,5), geht über Joh 3,19: »Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht« und 8,12: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in der Finsternis« (vgl. noch 9,5; 11,9-10) bis 12,35: »Nur noch kurze Zeit ist das Licht unter euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit nicht die Finsternis euch ergreife« und endet in 12,46: »Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Dunkelheit bleibt.« Ein Unterschied fällt sofort ins Auge: Das Evangelium verwendet die Lichtmetapher für Christus, der Brief für Gott. Doch war dem Briefautor diese Fortschreibung ohne weiteres möglich, wenn er Joh 14,9 ernst nahm: »Wer mich sieht, sieht den Vater.« Wenn vom Offenbarer gilt, daß er Licht ist, muß das erst recht von dem gelten, den er aus eigener Anschauung offenbart20 . Nur auf diesem Wege wird auch verständlich, wieso der Verf. behaupten kann, er habe dieses Wissen »von ihm«, d.h. von Jesus Christus. Ein solches Jesuswort findet sich im ganzen Evangelium nicht und wohl auch nicht in der außerevangeliaren Jesusüberlieferung. Aber wo das Prinzip der geistgeleiteten nachösterlichen Erschließung der Jesustradition in Geltung bleibt (16,1315), darf es anhand der Vorgaben im Evangelium neu gebildet werden, um der Kontinuität der Verkündigung willen (Sc). Die christologische Herleitung des Satzes »Gott ist Licht« stellt zugleich sein christliches Spezifikum dar, das ihn heraushebt aus der Fülle ähnlich lautender Aussagen in der Umwelt21 . Jesus hat die Selbsterschließung Gottes als Licht vorgelebt, er macht sie erfahrbar, anschaubar, vor allem: nachvollziehbar. Als ein Aspekt der Lichtaussage So setzt, um nur ein Beispiel aus manichäischen Texten herauszugreifen, Kephalaia 7, Z. 32-34, eindeutig Joh 1,18; 6,46; 8,26.44 voraus. 19 Richtig Gaugier 58; Law, Tests 61. 20 Soltau, Verwandtschaft 230, postuliert zu Unrecht einen bewußten Einspruch des 18
Verf. gegen die Christologisierung der Lichtmetapher im Evangelium. Eine andere Erklärung von einem sich wandelnden Zeitverständnis aus bietet Klein, Licht 284-289; zur Lichtmetaphorik im Evangelium noch Theobald, Fleischwerdung 305-329; Schwankl*. 21 Vgl. Wengst 50.
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Gott ist Licht (1,5)
ist ihre Offenbarungsqualität22 festzuhalten: Gott ist Licht, insofern er in Jesus als solches erkennbar wird und durch ihn die Menschen erleuchtet. Das sprachliche Muster für Sd könnte Joh 4,24 abgegeben haben. Dort wird aus dem Vordersatz »Gott ist Geist« sogleich die Folgerung abgeleitet: Also muß man ihn anbeten in Geist und Wahrheit. Das gleiche geschieht hier: Der Verf. schafft sich durch Sde die Basis für seine anschließende Forderung nach einer angemessenen Lebensführung23. Auch für ihn sind wie im AT auf seiten des Menschen Licht und Wandel enge Korrelate. Die emphatische Negation in Se will im Vorgriff auf spätere Polemik auch dies unterstreichen: Es kann nicht sein, daß sich ein Leben, in dem das Finstere der Sünde noch Platz hat, mit diesem Gottesbild verträgt. Grundsätzlicher noch verhält es sich bei Johannes so, daß die Finsternis sich eigentlich erst konstituiert durch die Ablehnung des Lichtes, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Gotteswort, ins Dasein von Welt und Mensch hineinstrahlt. Dieser Widerspruch besteht nicht in Gott selbst, sondern entsteht im Widerspiel und im Widerstand von seiten der Menschen. Wirkungs- Bei der Rezeption der johanneischen Lichttheologie in frühchristlichen Schriften fällt geschichte es nicht immer leicht zu entscheiden, wo das Evangelium und wo IJoh Pate stand. Es dominiert sicher die christologische Ausrichtung im Anschluß an Joh 1,5; 8,12 etc. Auf IJoh 1,5 greift der gnostische Hymnus in ActJoh 94 zurück: »Wir loben dich, Vater; wir preisen dich, Licht, in dem keine Finsternis wohnt«. Bezeichnend.erweise wird aber die theozentrische Orientierung des Briefes nicht durchgehalten, denn wenig später, bei der berühmten Beschreibung des Lichtkreuzes, verwischen sich die Grenzen. Das Lichtkreuz kann unterschiedslos in exoterischer Rede Logos, Christus, Vater, Sohn, Geist usw. genannt werden, weil sich für den Eingeweihten dahinter ein und dasselbe Grundprinzip verbirgt (ActJoh 98). Origenes sieht den religionsgeschichtlichen Zusammenhang, wenn er aus IJoh 1,5 folgert, daß sich der Kult der Gestirne fortan von selbst verbiete, seien doch Sonne, Mond und Sterne nichts and~res als Funken des wahren Gotteslichts (Cels 5,11). Bei der Auslegung von Joh 1,4 beschäftigt er sich mit der Frage, warum es im Evangelienprolog heißt: »Das Licht scheint in der Finsternis«, im Brief aber: »In ihm gibt es keinerlei Finsternis.« Es wird, so seine Antwort, von zwei verschiedenen Lichtem gesprochen, nämlich von Vater und Sohn. »In ihm gibt es keinerlei Finsternis« gilt vom Vater, nicht vom Sohn, vom Sohn deshalb nicht, weil er das Fleisch der Sünde angenommen und so mit unserem Dunkel Bekanntschaft gemacht hat (Comm in Joh 2,149-166). Novatian stellt in seinem einflußreichen Traktat De Trinitatefest, daß die Benennung Gottes als Pneuma, als Liebe und als Licht nicht etwa seine substantia erschöpfend einfangen will. Es handle sich vielmehr um figurative, dem menschlichen Fassungsvermögen angemessene Sprache24 • In den christologischen Artikel des Symbolum von Nicaea ging die Formel »Licht vom Lichte« ein (DS 125)25. Im johanneischen 22 Betont von Weiss 31; Schäfer· 471-473; Chmiel, Lurniere 92f. 23 Vgl. Westcott 17; Brown 230. 24 De trinitate 7,2 (22,8-11 CChr.SL 4).
25 Vgl. den Anfang der 3. Strophe des Liedes »Liebster Jesus, wir sind hier ...« (Gotteslob Nr. 520): »0 du Glanz der Herrlichkeit, Licht vom Licht, aus Gott geboren.«
l]oh 1,5: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
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Schrifttum, das dafür den Anstoß gegeben haben dürfte, verlief die Entwicklung von der christologischen Zentrierung im Evangelium Oesus als Licht) zur theologischen des Briefes (Gott als Licht) hin. Das Symbolum beschreitet diesen Weg in umgekehrter Richtung. Aus dem Lichtsein des Vatergottes ergibt sich das Lichtsein des Sohnes. Das hätten allerdings auch die Arianer, gegen die sich das Credo von Nicaea richtete, noch mittragen können, weil immer noch Raum zur Interpretation bleibt. Erst das folgende »wahrer Gott vom wahren Gott« legt das großkirchliche Verständnis der Lichtaussage eindeutig fest.
Die Lichtmetaphorik verdankt ihre nahezu universelle Verbreitung der Tat- Zusammensache, daß sie auf einfachen menschlichen Grunderfahrungen beruht. Das fassung Dunkel ängstigt, das Licht macht heiter und frei. Im Finstern verschwimmen die Konturen, die Wahrnehmungsfähigkeit wird eingeschränkt. Mit der Erkenntnisleistung des menschlichen Intellekts assozüert man die Helligkeit (vgl. den Begriff der »Aufklärung«). Das Verbrechen sucht das Dunkel der Nacht und scheut das Licht des Tages. Die rettende Gottheit steht in der Religionsgeschichte eigentlich immer auf der Seite des Lichts, ihr Gegenspieler auf der Seite der Finsternis. Der Umgang mit der Lichtmetaphorik im 1Joh bewegt sich auf dem Hintergrund der Bildersprache des AT und des Johannesevangeliums im Spannungsfeld von Theologie (im strikten Wortsinn der Rede von Gott), Christologie, Offenbarung und Ethik. Als Kernpunkt der Botschaft, die Jesus Christus gebracht hat, identifiziert 1,5 den Satz »Gott ist Licht«. Der Weg führt von der Selbstvorstellung des Gesandten Gottes als Licht für die Welt zur Prädikation des sendenden Gottes als Licht. Das heißt aber zugleich, daß man zu diesem Verständnis Gottes nicht anders gelangen kann als über Jesus Christus. Es ist eine zutiefst christologische Theologie. Der völlige Ausschluß der Finsternis aus Gott verbietet es eigentlich, hier von einem Dualismus von Licht und Finsternis zu sprechen. Gott hat keinen Gegenspieler, sondern nur einen Protagonisten und Boten. Das Licht liegt aller Finsternis voraus. Ins Soteriologische gewendet beinhaltet dies den Vorrang des Willens Gottes, in Jesus Christus die Menschen zu retten, vor aller widerständigen Macht des Bösen.
b
Vergebung der Sünden (1,6-10)
Literatur: Conti, M., La riconciliazione in 1 Gv 1,9, Anton. 54 (1979) 163-224; Cook, W.R., Hamartiological Problems in First John, BS 123 (1966) 249-260; Hodges, z.c., Fellowship and Confession in 1 John 1:5-10, BS 129 (1972) 48-60; Keulenaer, ]. de, De interpretatione I Joannis, 1,5-10, CMech 28 (1939) 279-282; Rogers, L.M., I John i.9, EI 45 (1933/34) 527; Thomton-Duesbery, ].P., I John i.9, EI 45 (1933/34) 183f; Wade, Impeccability; Zerwick, M., Veritatem facere. loh. 3,21; 1 loh 1,6, VD 18 (1938) 338342.373-377. Weitere Lit. s. zu 3,4-6.7-10; 5,16-17.
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
6a
b c
d e 7a
b c
d e 8a
b c
d 9a
b c
d 10a
b c
d
Wenn wir sagen: »Wir haben Gemeinschaft mit ihm«, und (doch) im Finstern wandeln, lügen wir und tun die Wahrheit nicht. Wenn wir aber im Lichte wandeln, wie er selbst im Lichte ist, haben wir Gemeinschaft miteinander26 , und das Blut Jesu27 , seines Sohnes, reinigt uns von jeglicher Sünde. Wenn wir sagen: »Wir haben keine Sünde«, täuschen wir uns selbst, und die Wahrheit28 ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, um uns die Sünden nachzulassen und uns von jeglicher Ungerechtigkeit zu reinigen. Wenn wir sagen: »Wir haben nicht gesündigt((, machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
Analyse 1 Zum Aufbau: Der streng durchstilisierte Abschnitt gruppiert sich um die drei Schlagworte in 6b, 8b und lOb herum. Zwar ist lOb ein wenig anders gebaut als 6b und 8b (ein Hauptverb statt EXOIlEV mit Objekt), vervollständigt aber die Dreizahl und rahmt mit 6b den Text ein. Das Wir in dem dreifachen EUV El.:rtWIlfV hat mit dem Wir der johanneischen Schule aus den Anfangsversen (s. Exkurs 1) nichts mehr zu tun. Es zielt auf die Adressaten ab, die so eben nicht sprechen sollen. Nur in V. 6 ist der These von 6b noch eine Erläuterung in 6c beigegeben. In allen drei Beispielen folgt dem Konditionalsatz mit dem Slogan ein zweigliedriger Hauptsatz mit einer Negation im Schlußteil. Ins Auge fällt die Parallelität von 8d und IOd: 8d: xai II uA:fp'}Elu om EO'tLV Ev lllllv IOd: xai 6 Myor; . . . om EO'tLV EV l]IlLV Die W. 7 und 9, gleichfalls Bedingungssätze mit EUV, komplettieren die Symmetrie im Aufbau. Sie bringen die positiven Gegenthesen. Im Detail ist die Symmetrie nicht bis ins letzte durchgeführt. So korrespondieren 7b und 9b zwar insoweit, als beide Versteile eine Aussage über Gott machen, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer syntaktischen Stellung (7b als Art Parenthese im Nebensatz, 9b als Hauptsatz). Einen förmlichen Refrain bilden 7e und 9d: Die Lesart »haben wir Gemeinschaft mit ihm«, d.h. mit Gott, ist inhaltlich zwar folgenreich, textlich aber nur schwach bezeugt (vgl. den Apparat bei Thiele, VL 26/1, 252) und als Angleichung an 6b sicher sekundär. 50 die meisten Ausleger, nach anfänglichem Zögern 26
auch Buhmann 26. Anders Wendt, Johannesbriefe 39; 5eesemann, Koinonia (s. 5. 70, Anm. 72) 93 Anm. 1; Büchsel 19. 27 Der Mehrheitstext ergänzt »Christi«. 28 Einige Minuskeln fügen »Gottes« hinzu.
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l]oh 1,6-10: Analyse
7e: xa"l'(lQ~EL fJllÜc; MO nuO'l]C; af.,tUQ1:laC; 9d: xa1'lUQWu Y1f.,tac; uno nuO'l]C; UöLxLac; Auch über diese Parallelen in Sd/10d und 7e/9d hinaus werden Schlüsselbegriffe wiederholt: »Gemeinschaft haben« in 6b/7c, »wandeln« in 6c/7a, »lügen«/»Lügner« in 6d/10c, »Wahrheit« in 6e/Sd, »Sünde«!»sündigen« in Sb/9ac/10b. Die Verbindung zum Briefproömium stellen xOLvwvLa in 6b/7c und A6yoC; in IOd her, diejenige zum Themasatz aus 1,5 »Finsternis« in 6c und »Licht« in 7ab. Die Basisopposition Licht vs. Finsternis wird überführt in die Opposition Wahrheit vs. Lüge. 2 Quellenfrage: Die verschiedenen Quellentheorien (s. § 4 der Einleitung) sind auch an 1,6-10 erprobt worden. Bultmann läßt die Vorlage zunächst von 1,5d-10 reichen, mit Ausnahme von 7de und 9d, die vom Verf. stammten 29 . Später sieht er in 7de die kirchliche- Redaktion am Werk 30 und verteilt schließlich V. 9 auf Verf. (9abc) und Redaktion (9d)31, eliminiert ihn also aus der vermuteten Quelle, wodurch aber, wie Braun richtig sieht32, deren kunstvoller Aufbau empfindlich gestört wird. O'Neill nimmt nur 7d heraus, liest 7ce so: »haben wir Gemeinschaft mit ihm [Gott], und er [Gott] reinigt uns von jeglicher Sünde« und weist mit dieser Änderung 1,6-10 der postulierten jüdischen Mahnschrift ZU 33 . Nauck läßt den Wortlaut von V. 6-10 intakt, rechnet die Verse aber insgesamt mit 2,4-11 und 2,29 - 3,10 zur Vorlage 34. Das vermag alles nicht zu überzeugen. Es genügt die Annahme, daß der Verf. in den Schlagworten zentrale Punkte einer umstrittenen Theologie auf einen knappen Nenner bringt und sich damit selbständig, wenn auch in Rückgriff auf Überlieferungsgut (7de z.B.) auseinandersetzt. Hilfreicher erscheint Naucks Hinweis auf mögliche stilistische Vorbilder 35 . Die Antithesen, die Reihenbildung und der Konditionalstil erinnern an Sprachformen des atl.-jüdischen Rechts, der Konditionalstil rein formal besonders an das kasuistische Recht, während dil;' Grundhaltung eher apodiktisch zu nennen ist. Berührungen im Stil bestehen mit der Sektenregel von Qumran. 3. Religions- und traditionsgeschichtlicher Horizont: Auch inhaltlich gibt es einige Übereinstimmungen mit der Sektenregel. Ihren Schwerpunkt haben sie (a) im Formular für den Eintritt in die Gemeinschaft und die jährliche Bundeserneuerung 1QS 1,16 - 3,12 und (b) in der Katechese über die beiden Geister 1QS 3,13 - 4,26, wo wir den Dualismus von Licht und FinsternisIWahrheit und Lüge und seine Anbindung an den Lebenswandel antreffen. Auf die Sachparallelen ist bei der Erklärung zurückzukommen. Hier kann schon festgehalten werden, daß die betreffenden Qumrantexte um die Initiation kreisen. Aufnahme in den Bund und Verbleiben im Bund sind die Hauptanliegen. Das ganze Motivbündel von Licht und Finsternis, Lebenswandel, Reinigung, Vergebung von Sünden und Bekenntnis läßt sich weiterverfolgen in die frühchristliche Bekehrungs- und Taufparänese hinein 36 . Nauck zieht daraus für 1Joh 1,6-10 den Schluß: »Die Antithesen sind als reditus ad baptismum zu verstehen«3? Der Verf. greift Material aus der Taufunterweisung auf, das für seine Adressaten, die als Erwachsene die Bekehrung vollzogen und die Taufe empfangen haben, emotional sehr stark besetzt war. Er will zum Zuge bringen, was »von Anfang an«, d.h. für die Analyse 106-108. Redaktion 391f. Auch Grayston 50 beurteilt 7de als Zusatz. 31 Buhmann 27f. 32 Literar-Analyse 213. 33 Puzzle 8-14. 34 Tradition 19-26. 29
30
Ebd. 26-36. Vgl. die breit gestreuten Einzelnachweise ebd.41-64. 37 Ebd. 65. Aufgenommen von Brown 242245; Chmiel, Lumiere 224f; anders Braun, Qurnran I 305. 35 36
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
Adressaten vom Moment ihrer Hinwendung zum Christentum an gelehrt wurde. Der ursprüngliche Glaube soll sich angesichts einer neuen Herausforderung bewähren.
Erklärung Auch wenn wir in den Schlagworten der folgenden Verse Positionen einer 6a gegnerischen Theologie erkennen, mit denen der Briefautor sich kritisch beschäftigt, bleibt doch bemerkenswert, daß er nicht auf Distanz geht. Er sagt nicht: Wenn sie so etwas behaupten, sondern wählt die Wir-Form, die auch und gerade die Restgemeinde betrifft38 . Er redet auch nicht im Irrealis, so, als könne dieser Fall kaum noch eintreten. Dieses Gedankengut ist in der Gemeinde virulent und kann jederzeit wieder durchbrechen, weil es aus einer Radikalisierung bestimmter Grundüberzeugungen johanneischer Theologie 6b erwachsen ist. Denn: Gemeinschaft mit Gott zu haben - so der Inhalt der ersten These - ist auch für den Verf. ein erstrebenswertes Ziel. In solcher Gemeinschaft steht die johanneische Schule (l,3e). Solche Gemeinschaft, vermittelt durch die Traditionsträger, stellte der Autor in 1,3d den Adressaten in Aussicht. Nicht um den Gemeinschaftsgedanken selbst als eine besondere Ausprägung der Immanenzvorstellung wird also gestritten, der eigentliche 6c Kritikpunkt findet sich erst in 6c. Es wird der Fall gesetzt, daß jemand, der Gemeinschaft mit Gott für sich in Anspruch nimmt, gleichzeitig ein Leben führt, das die Qualifizierung »im Finstern wandeln« verdient. rtEQlJta'tEIV Die Verwendung VOnltEQmu'tELv für eine bestimmte Art und Weise, sein Leben zu
führen, leitet sich von biblischer Sprache her. Diesen Sinn gewinnt ltEQmu'tELv als Wiedergabe des hebr. ,'m (z.B. Spr 8,20: »Ich wandle auf den Wegen der Gerechtigkeit«). Im atl. Bildfeld von Licht und Finsternis ist, wie oben gezeigt, der Gedanke des Lebenswandels bereits angelegt, oft in Verbindung mit der Vorstellung vom Weg, auf dem man geht, wie in lQS 3,20f: »... alle Söhne der Gerechtigkeit, auf den Wegen des Lichtes wandeln sie ... die Söhne des Frevels ... auf den Wegen der Finsternis wandeln sie«39. Im NT haben sich neben dem Corpus Paulinum (33 von 95 Belegen) vor allem die Johannesbriefe diese metaphorische Aussageweise zu eigen gemacht (10 Belege). Etwas anders sieht es im Evangelium aus. Die meisten der 17 Belege sind wörtlich gemeint. Man darf aber die vier Stellen herausheben, wo vom Gehen im finstern (8,12) oder bei Licht (12,35), am Tag (11,9) oder in der Nacht (11,10) gesprochen wird (vgl. auch Offb 21,24). Damit sind alternative Lebensentwürfe aufgezeigt, die ihren jeweiligen Charakter durch die Nähe oder Ferne zu Jesus, dem Licht der Welt, erhalten.
6d Die Diskrepanz zwischen Anspruch - Gemeinschaft mit Gott - und Verhalten - Wandeln in der Finsternis - bezeichnet der Hauptsatz 6d als »lügen«. Die Verbform fehlt im Evangelium, aber in Joh 8,44 wird an exponierter StelDie Bedeutung des Wir überzieht Stott 78: »John now humbly identifies hirnself with them.« Man könnte eher von einem homiletischen Wir sprechen (Haas, Handbook 33: »the preacher's >we<<<). 38
39 Vgl. 1QS 3,3.9f; äthHen 92,4f: Der Gerechte »wird in ewigem Licht wandeln, und die Sünde wird für ewig in der Finsternis vertilgt werden«; TestNaph 2,10: »Ihr könnt nicht in Finsternis Werke des Lichtes tun.«
l]oh 1,6de: Erklärung
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le der Teufel ein Lügner genannt, der Lüge redet und keine Wahrheit in sich hat. Lüge bedeutet mehr als eine falsche Wiedergabe von Sachverhalten. Die Lüge ist der aktive Gegenpol zur Offenbarung und ihrer Wahrheit. Wer durch sein Handeln das Bekenntnis, das er voll Stolz ausspricht, Lügen straft, begibt sich in die Sphäre des Bösen, das für ihn zur existenzbestimmenden Macht wird. Vergleichbar ist in 1QS die Warnung vor Eintritt in die Gemeinschaft in falscher Gesinnung, ohne innere Bereitschaft zur Umkehr, vgl. 1QS 3/3: »Und nicht ist er gerecht, solange er die Verstocktheit seines Herzens gewähren läßt; und Finsternis schaut er für Wege des Lichts.« Ihn treffen die Flüche in 1QS 2/11-17: »Verflucht sei der, der mit den Götzen seines Herzens übertritt ... weil er abtrünnig geworden ist von Gott durch seine Götzen und den Anstoß seiner Sünde.« In 6e gebraucht der Briefautor zum ersten Mal das johanneische Vorzugs- 6e wort »Wahrheit«4o. Die Konstruktion »die Wahrheit tun« klingt für griechische Ohren sehr ungewöhnlich. Wie kann ein solcher Abstraktbegriff zum Objekt menschlichen HandeIns oder Unterlassens werden? Das unmittelbare Vorbild, das der Briefautor adaptiert, steht in Joh 3/21: »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht.« Hier darf ausnahmsweise einmal die Etymologie als Verständnishilfe herangezogen werden: <'xA:f]ttELU hängt mit der Wurzel "AuvttavELv, verborgen sein, zusammen und meint im Griech. die Unverborgenheit des Seins, sodann die Richtigkeit einer Aussage, die sich an der vorgegebenen Seinsstruktur orientiert. Das hebr. Wort für Wahrheit (molK) leitet sich von einem Wortstamm her, zu dessen Bedeutungsskala auch Beständigkeit, Festigkeit, Zuverlässigkeit gehören. Wahrheit kann und muß verifiziert werden in wahrheitsgemäßem Tun, so wie auch Gott seine Wahrheit erweist durch sein rettendes Eingreifen in die Geschichte. Der Ausdruck »die Wahrheit tun« mit einem Menschen als Subjekt kommt in der Masora (2Chr 31,20) und in der LXX (Gen 47,29; Jes 26,10; Tob 4,6; 13,6) vor, in dem Sinn: sich durch sein Tun als treu und rechtschaffen erweisen. Als Kriterium für das rechte Handeln dient meist das Gesetz mit seinen Geboten. So verhält es sich in den TestXII41 und in Qumran42, wo das Konzept der Wahrheit verstärkt in einen dualistischen Rahmen eingespannt wird.
40 20mal in den Johannesbriefen, 25mal im Evangelium, bei 109 ntl. Belegen insgesamt. Vgl. aus der Lit. F. Büchsel, Der Begriff der Wahrheit in dem Evangelium und den Briefen des Johannes, 1911 (BFChTh 15/3); S. Aalen, »Truth«, a Key Ward in St. John's Gospel, StEv 2 (1964) 3-24; la Potterie, Verite, bes. 479-535; H. Hübner, EWNT I 138145; Schnackenburg, Joh 11 265-281. Eine gute Zusammenfassung und Konfrontation mit modemen Wahrheitstheorien, die auf Korrespondenz, Evidenz, Kohärenz und Konsens aufbauen, bei E. Arens, Zur Struktur theologischer Wahrheit. Überlegungen aus wahr-
heitstheoretischer, biblischer und fundamentaltheologischer Sicht, ZThK 112 (1990) 1-17. 41 TestBenj 10,3: »Tut nun die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten. Und das Gesetz des Herrn und seine Gebote beachtet.« 42 lQS 8,1-3: die Mitglieder des Rates sollen vollkommen sein »in allem, was offenbart ist aus dem Gesetz, um Treue zu üben (= Wahrheit zu tun), Gerechtigkeit, Recht, barmherzige Liebe und demütigen Wandel, ein jeder mit seinem Nächsten, Treue (= Wahrheit) zu bewahren«.
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
Das johanneische Denken setzt an die Stelle der Tora Christus (Joh 1,17), der als personale Verkörperung der Wahrheit vor die Menschen tritt (Joh 14,6). Nach Bultmanns berühmter Definition bezeichnet Wahrheit bei Johannes »die in ihm [d.h. in Christus] sich offenbarende, geschehende Wirklichkeit Gottes selbst«43. Über die religionsgeschichtliche Herleitung dieser Formulierung aus Hellenismus und Gnosis, über ihre Nähe zu Heidegger und über ihre systematischen Implikationen hat man schon viel gestritten. Man hat dagegengehalten, für das johanneische Wahrheitsverständnis sei »auszugehen von dem Grundsatz: Jesus Christus ist die Wahrheit in Person«44. Unüberbrückbar scheint dieser Gegensatz nicht. Im 1Joh öffnet sich die christologisch-personale Konzentration des Evangeliums wieder auf direkte Aussagen über Gott hin. Für den Briefautor ist überdies wichtig, daß in der durch Christus erschlossenen Wahrheit das christliche Ethos seinen Wurzelgrund hat. Die erkannte Wahrheit muß das konkrete Tun bestimmen. 7a Die Antithese zum Wandeln im Finstern aus 6c lautet in 7a: Wandeln im Licht. Der Übergang ist in Joh 3,21 (s.o.) vorbereitet, nur daß dort mehr der einmalige Glaubensentscheid (EQXEafrm, vgl. 6,45), hier hingegen die Bewäh7b rung im gläubigen Leben (rtEQlJta'tELV) ins Blickfeld rückt. 7b gibt eine theologische Begründung. Gott ist Licht (5d), Gott ist im Licht (7b) - der Unterschied ist nicht so krass, wie es zunächst den Anschein hat. Der Briefautor liebt es, stereotypes Sprachmaterial immer wieder neu zu arrangieren, zumal wo er mit dvm und Elvm EV (Imma~enzformel) umgeht45 . Immerhin findet die Erkenntnis, daß 5d keine reine Wesensaussagemachen will, von 7b aus ihre Bestätigung. Unmittelbar hat der Wandel im Licht aus 7a den Anlaß dafür gegeben, auch von Gott zu sagen, er sei »im Licht«46. Der Verf. vervollständigt seine im atl. Bildfeld und in V. 5 angelegte paränetische Auswertung. Der Begründungszusammenhang ähnelt unverkennbar Lev 19,2: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, euer Gott« (vgl. Mt 5,48). 7c Überraschenderweise heißt es im Hauptsatz 7c: Unter der Voraussetzung des Wandels im Licht »haben wir Gemeinschaft miteinander«, nicht etwa »mit Gott«, was in Analogie zu 6b zu erwarten stünde47 . Aber in dem Wechsel liegt die Pointe, auf die es dem Autor ankommt. Die Gemeinschaft miteinander,
R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 71977 (UTB 630), 371. 44 Arens, Struktur (s.o. Anm. 40) 11, im Anschluß an la Potterie. 45 Schon die Katene bei Cramer 108f löst das vermeintliche Problem durch Verweis auf die Urnkehrbarkeit von Immanenzaussagen. 46 Der Wechsel von JtEQl.1tmELV zu EtvUL hat nicht das Gewicht, das ihm Belser 22 (»Bei Gott kann von einem Wandeln nicht die Rede sein, sondern nur von einem wechsellosen 43
Sein«); Chaine 147; GaugIer 63 beilegen, trotz des ehrwürdigen Alters dieser Deutung, die sich über Bengel 1005 bis zu Beda 286 zurückverfolgen läßt. Dagegen schon der scharfsinnige Estius: Verum eam annotationem parum solidam esse (667). 47 Zur Textkritik s.o. Anm. 26. Augustinus 124 und Calvin 304 lesen zwar »miteinander«, deuten aber dennoch auf Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott; ebenso Hodges* 53; Häring 23.
l/oh l,7c-e: Erklärung
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d.h. mit den anderen Christen, die zur johanneischen Gemeinde zählen48 , hat die Gemeinschaft mit Gott zur Voraussetzung und erfordert zweierlei: (a) Von 1,3 her versteht sie sich zuallererst als Gemeinschaft mit den Traditionsträgem. (b) Sie muß sich ständig bewähren in der praktischen Liebe, oder sie hört auf zu bestehen (vgl. 2,7-11). Die führenden Begriffe für die weitere Begründung des Gemeinschaftsver- 7 de hältnisses in 7de hat der Verf. der urchristlichen Bekenntnistradition entlehnt, die ihrerseits in die Welt des atl.-jüdischen Opferkults zurückweist. Reinigung von Sündenschuld durch Blut geschieht bei jedem Sündopfer im Tempel, Reinigung das nach den Vorschriften von Lev 4 ablief49 • Die Sühnewirkung stellt sich nicht von Sünden schon beim Tod des Opfertieres ein, sondern nach dem Grundsatz Lev 17,11: »Das Blut ist es, das durch das (in ihm wohnende) Leben Sühne erwirkt«, erst dann, wenn der Priester mit dem vergossenen Blut den Vorhang vor dem Heiligtum benetzt und die Ecken des Altars bestreicht. Das wiederholt sich in gesteigerter Form am großen Versöhnungstag. Der Hohepriester besprengt im Allerheiligsten die Deckplatte auf der Bundeslade mit Opferblut (Lev 16,14-16), was den Effekt hat: »An diesem Tag schafft man euch Sühne, indem man euch reinigt (Xu-fhxQLom); von allen euren Sünden sollt ihr rein werden« (Lev 16,30; die terminologische Nähe zu 1Joh 1,7e liegt auf der Hand). Das Urchristentum hat daraus eine Deutekategorie für das erlösende Sterben Jesu am Kreuz gewonnen. Zwei Dinge kommen zusammen: Einmal dient utlUl auch für sich genommen als Symbol für einen gewaltsamen Tod (Gen 4,10; Mt 23,35). Zum anderen wurde in alten Bekenntnisformeln der Tod Jesu auch ohne Zuhilfenahme von kultischen Denkmustern als Sühne für die Sünden interpretiert (1Kor 15,3; Röm 5,8). In diese Entwicklung wird im vorpaulinischen Judenchristentum die Sprache des Opferkults einbezogen, wie Röm 3,25 belegt50.
Im Johannesevangelium kommt das Theologumenon von der Vergebung der Sünden durch Jesu Blut ausformuliert nicht vor. Von fünf Stellen, an denen das Blut Jesu erwähnt ist, stehen vier im eucharistischen Redestück (6,53-56). Es verbleibt 19,34: Aus der geöffneten Seite des Gekreuzigten »fließen Blut und Wasser hervor«, außerdem noch das Täuferwort in 1,29 (vgl. 1,36): »Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.« Denn gleichgültig, ob man das Paschalamm oder ein Opferlamm (Tamid) oder Jes 53,7 als Bezugsgröße wählt, eine Assoziation von Opfer und Tod ist gegeben, ebenso die Sündenthematik (dem »Hinwegnehmen« entspricht das »Reinigen« in 1Joh
Viel zu weit steckt die Grenzen Bultmann 26: »die menschliche Gemeinschaft überhaupt«, aber auch Marshall 111: »the whole company of God' s people«. 49 Baumgarten 194 meint, auf IJoh hätten darüber hinaus »kultische Weihe(n)« aus »gnostischen Mysterien-Kulte(n)« abgefärbt. Er denkt vermutlich an die Bluttaufe beim Taurobolium. Aber das geht schon aus zeitlichen Gründen nicht, vgl. R Duthoy, The 48
Taurobolium. Its Evolution and Terminology, 1969 (EPRO 10). Wettstein 11 714 vergleicht Athenäus XIII (602C): Attika wird von den Folgen eines Verbrechens gereinigt und entsühnt durch Menschenblut. 50 Vgl. Kol 1,20; Eph 1,7; 2,13; IPetr 1,2.18f; Apg 20,28. Zum Umgang mit der Kultsprache im Hebr s. E. Gräßer, Hebr (EKK).
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
1,7e und das »Vergeben« in 9c). Man kann Joh 1,29 so lesen, wie es der Autor von 1Joh l,7de getan hat. Er stützt sich dabei auf Gemeindetraditionen älteren Datums51 , die ins Evangelium weiter keinen Eingang fanden. Daß durch Vergießen des Blutes am Kreuz, d.h. durch die Selbsthingabe Jesu, Erlösung von Sünden zustande kommt, paßte nicht in den christologischen Entwurf der Gegenseite und war dort eher ein Stein des Anstoßes. Damit haben wir einen ersten Fingerzeig dafür, wie sich 7de in den Kontext einfügt, denn der Anschluß an 7c ist unmittelbar nicht zu erkennen. Es gibt noch zwei weitere Klammern, die für eine übergreifende Gesamtlinie sorgen: (1) Bei der Beschränkung auf V. 7 hilft eine Beobachtung von Nauck weiter52: Leben in der Gemeinschaft (7c) ist nur möglich, wenn Reinigung von Sünden voraufgeht (7e), weil Sünde die Gemeinschaft zerstört. Eine Analogie dazu finden wir im Aufnahmeformular der Qumrangemeinde: »Und durch den heiligen Geist der Gemeinschaft in Wahrheit wird er gereinigt von allen seinen Sünden«, er kann »das Licht des Lebens erblicken« (lQS 3,7f; vgl. 3,11). Die gleichen Grundsätze gelten auch für die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft nach vorherigem Bruch. (2) Blickt man auf das Folgende, sieht man leicht: Das Stichwort »Sünde« bereitet die neuen Schlagworte in 8b und lOb vor. Das hat einen inneren Grund. Gehen wir davon aus, daß Wandel im finstern (6c) soviel wie Sünde bedeutet und Wandel im Licht (7b) soviel wie Sündlosigkeit. Die Behauptung der Sündlosigkeit der Christen widerspricht aber allen Erfahrungswerten und wird in V. 8 als Illusion entlarvt. Wandel im Licht ist also nur möglich, wenn es einen Weg gibt, die Macht der Sünde zu überwinden. Mit dieser Einordnung in den Kontext sind andere Deutungsvorschläge zurückgewiesen: (1) Eine Auslegungstradition, für die hier Belser stehen soll, schränkt den Adressatenkreis von 7de ein: »Die Worte ... gelten ... hauptsächlich den von den Falschlehrern Verführten und jenen selbst, nicht den treu gebliebenen Gliedern der Gemeinden.«53 Den Dissidenten solle eine Möglichkeit zur Rückkehr in die Gemeinschaft geboten werden. (2) Man hat ferner versucht, Differenzierungen am Sündenbegriff anzubringen 54. Sünde im Singular betreffe nur die Erbsünde. Die Reinigung geschehe einmalig bei der Taufe und beseitige die Sünden der vorchristlichen Lebensphase. Bei Christen könne man höchstens noch mit einer Vergebung läßlicher oder unbewußter Sünden, nicht aber schwerer Sünden rechnen. Aber die Unterscheidung von läßlichen und schweren Sünden ist aus 5,16-17 in den Text eingetragen. Der Beschränkung auf einen einmaligen Akt widerspricht das Präsenz xa{}aQ~EL, das eine fortdauernde Handlung anzeigt. »Sünde« steht zwar anders als in 9ac im Singular, ist aber durch l'taO'l']~ qualifiziert, was den Numeruswechsel belanglos macht.
51 Es bleibt fraglich, ob man dafür üffb 1,5: »der uns erlöst hat aus unseren Sünden durch sein Blut«; 5,9; 7,14; 12,11 beanspruchen kann; zuversichtlich Brown 203. 52 Tradition 40f.
Belser 22. Z.B. Stott 81; vgl. den Überblick bei Bonsirven 92f. Weiteres im Abschnitt »Wirkungsgeschichte« im Anschluß an V. 10. 53 54
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1 loh 1,7de.8ab: Erklärung
Die Schwierigkeiten, die man mit diesem Text immer wieder hat, resultieren z.T. aus der prononcierten Behauptung der Sündlosigkeit des Christen in 3,9. Darüber wird gesondert zu handeln sein. Vor einem anderen Problem stehen wir, wenn wir nach dem Verhältnis des Bedingungssatzes in 7a zu der Aussage von 7de fragen. Ist der Wandel im Licht die Vorleistung, die erbracht werden muß, um Vergebung der Sünden zu erlangen? Das stünde nicht nur in Widerspruch zur paulinischen Rechtfertigungslehre, es würde auch textintern für erhebliche Spannungen sorgen. Eine Soteriologie in zwei Stufen, mit einer Abfolge von »justification« (einmalig) und »sanctification« (wiederholt, andauernd)55, führt nicht weiter. Eher bietet dann schon die Unterscheidung von Realgrund und Erkenntnisgrund eine vorläufige Hilfe: Am Wandel im Licht kann man erkennen, daß Reinigung von aller Sünde durch Jesu Blut real vollzogen wurde, und zwar von Gott (vgl. »seines Sohnes« in 7d). Der Schlüssel zum Verständnis steckt aber in dem Koinonia-Begriff im Zentrum von V. 7. Im Licht wandelt nur, wer in der Gemeinschaft mit den anderen Glaubenden bleibt. Die Gemeinde ist aber auch der einzige Raum, in dem Vergebung von Sünden vollzogen werden kann Ooh 20,23). Wandel im LiCht und Reinigung von Sünden brauchen nicht in kausale Relation gesetzt, sondern können im umgreifenden Horizont der Gemeinde dynamisch aufeinander bezogen werden. Da für 1Joh die Bruderliebe das wichtigste Gebot und Verstöße dagegen kapitale Sünden darstellen, kann man überlegen, ob die Sünden nicht vor allem in Vergehen gegen den Geist der Liebe, der in der Gemeinde nach dem Beispiel Jesu (Joh 13,14-15) herrschen soll, bestehen56 . Das würde nur den Verdacht verstärken, daß auch der Sündennachlaß an die Gemeinde gebunden ist. Direkt wird an unserer Stelle über das Wie und Wann der Reinigung nichts gesagt. Erst V. 9 gibt nähere Auskunft. Das zweite Schlagwort »Wir haben keine Sünde« ist in der Formulierung gut 8ab johanneisch. Der Ausdruck »Sünde haben« kommt im Evangelium 4mal vor Ooh 9,41; 15,22.24; 19,11). In 1Joh 1,8-10 wird er bewußt neben das Verb »sündigen« (in lOb) gestellt. »Sündigen« als Verbform zielt mehr auf die Tat, »Sünde haben« mit dem Substantiv auf objektivierbare, vom Subjekt ablösbare Sachverhalte. Die Gefahr eines Satzes wie 8b dürfte eben in dieser Objektivierungstendenz bestehen. Sie nimmt die Sünde nicht mehr als existenzbestimmende Macht ernst, die vom handelnden Subjekt in die Tat umgesetzt wird, sondern sieht sie nur noch als überindividuelles Verhängnis. Für sich genommen impliziert 8b noch nicht den Anspruch auf faktische Sündlosigkeit im Sinne eines perfektionistischen Vollkommenheitsideals, sondern kann durchaus mit sündhaften Einzelhandlungen zusammengedacht werden, sofern nur das Bewußtsein vorliegt, der Verflechtung in die Wirklichkeit der Welt, die immer auch Provokation zu sündigem Tun bedeutet, grund55 56
Westcott 21. Wengst 57; vgl. auch das
~'t'
&MtjAWV in
7c und das &MtjAoUC; im Liebesgebot 3,11.23; 4,7.11.12.
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
sätzlich enthoben zu sein. In diese Richtung haben die Enthusiasten in Korinth argumentiert, wenn sie in pneumatischer Hochstimmung Paulus entgegenhalten: Äußere Sünden tangieren den Kern der Person nicht, Sexualität und Nahrungsaufnahme entziehen sich der Bewertung mit moralischen Maßstäben (lKor 6,13.18; 8,8), dem echten Pneumatiker ist alles erlaubt (lKor 6,12; 10,23). Diese Vergleichgültigung konkreten Verhaltens entwikkelt sich später zu einem hervorstechenden Merkmal der Gnosis. So sagt das EvPhil: »Wer die Erkenntnis der Wahrheit hat, ist ein freier Mann. Der freie Mann aber sündigt nicht.«57 In einigen Fällen hat man daraus libertinistische Konsequenzen gezogen und sich über alle gesellschaftlichen Konventionen bewußt hinweggesetzt58 . Wir brauchen die Gegner, die 1Joh 1,8 anvisiert, deswegen dennoch nicht in vorderster Front der Libertinisten zu suchen. Es genügt, an die vom Verf. schon in 6bc konstatierte Diskrepanz zwischen Anspruch und Verhalten zu erinnern. Wer Gemeinschaft mit Gott für einen unverlierbaren Besitz hält und sich ein für allemal in den Bereich des Lebens versetzt wähnt (Joh 5,24), erliegt einer grandiosen Selbsttäuschung (8c). Durch Lüge (6d) und Täuschung - andernorts den Handlungsfeldern der Irrlehrer (2,26) und des Gegenspielers Christi (4,6) zugeordnet - bringt man sich selbst in einen unversöhnlichen Gegensatz zur Wahrheit der Offenbarung Gottes in Christus. Die Wahrheit, in 6e noch Objekt unseres Tuns, wird in 8d internalisiert, d.h. als Größe defininiert, die vom Persqnzentrum des Menschen aus sein Leben in all seinen Verzweigungen bestimmt. 9a Daß diese Wahrheit sich im Menschen so auswirkt, erfordert auf seiner Seite Eingeständnis der eigenen Verstrickung in Sündenschuld und Bekenntnis der Sünden59 .
0IlOAOYElV Bei Johannes wird »Bekennen« (OflOAoYELV) im Evangelium und in den Briefen (lJoh 2,23; 4,2.3.15; 2Joh 7) in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der ntl. Belege sonst für das christologische Bekenntnis gebraucht. Dieses wird vernehmlich mit lauter Stimme (Röm 10,9: »Wenn du mit deinem Munde bekennst«) in der Öffentlichkeit abgelegt. Joh 12,42-43 kritisiert den unzureichenden Glauben jener jüdischen Führer, die aus Furcht vor Repressalien das öffentliche Bekenntnis nicht wagen. Für das Sündenbekenntnis steht in der Regel das Kompositum E1;oflOA.OYELV (Apg 19,18). Bei der Johannestaufe sprechen die Taufwilligen zum Zeichen ihrer Bußgesinnung laut ihre Sünden aus (Mk 1,5 parr: E1;oflOA.OYOVflEVOL). Nach Jak 5,16 soll man einander seine Sünden sagen. Die Didache kennt ein Sündenbekenntnis vor versammelter Gemein-
57 NHC II/3 77,15-17. Es ist unklar, ob die folgenden Zeilen diesen Gedanken nur verstärken oder ob sie eine Polemik gegen arrogante Gnostiker enthalten, die sich dieser Freiheit zu sicher fühlen. 58 50 u.a. Karpokrates nach Irenäus, Haer I 25,4. 59 Bultmann 28 stellt heraus, daß vorn
strukturellen Aufbau her 5ündenbekenntnis und Wandel im Licht zusammengehören: ,>Der Christ hat durch seinen Glauben das Licht nie als dauernden Besitz erworben. Er hat seinen Glauben im JtEQIJtU1:ELV zu bewähren, ist immer unterwegs und steht nie als ein Fertiger vor Gott, sondern ist auf Vergebung angewiesen.«
l]oh 1,9a: Erklärung, Wirkungsgeschichte
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de (Did 4,14), das bereits liturgisch stilisiert zu sein scheint (Did 14,1). In der LXX hat E;0[10AOYELV, das meist mit »preisen« übersetzt werden muß, die Bedeutung »bekennen« in Dan 9,4 (vgl. 9,20). Vor allem aber ist aus dem AT heranzuziehen Ps 32,3-5: »Da ich es verschwieg, zerfiel mein Gebein ... Da bekannte ich meine Sünde ... Du aber vergabst mir« und die damit verwandte Stelle Spr 28,13: »Wer seine Verfehlungen geheim hält, hat keinen Erfolg, wer sie aber bekennt und unterläßt, erfährt Barmherzigkeit.« Da die Reinigung durch Jesu Blut kultische Konzepte durchschimmern läßt, verdient auch das Sündopferritual Aufmerksamkeit. Der Schuldige soll seine Sünde bekennen (Lev 5,5) und ein Opfer darbringen. Der refrainartige Schluß »und es wird ihm vergeben« (5,6.10.13 u.ö.) deutet vielleicht einen deklaratorischen Zuspruch der göttlichen Vergebung durch den Priester an. Terminologisch nah an IJoh heran rücken Philos Ausführungen in Praem 163: »Wenn sie sich Vorwürfe machen wegen ihres Irrwegs (l'tMVT]~) und ihre Sünden laut bekennen werden (6[10AoyfJaavtE~), zuerst bei sich selbst mit reinem Sinn ... , dann aber auch mit dem Munde zum Zwecke der Besserung der sie Anhörenden, werden sie Vergebung erlangen bei dem hilfreichen und gnädigen Gott.«60 Ein öffentliches Sündenbekenntnis setzt auch das Bundesformular in lQS voraus. Der Wortlaut scheint vorgegeben: »Die in den Bund eintreten, sollen ... bekennen mit folgenden Worten: Wir haben Unrecht getan ... « (IQS 1,24; vgl. CD 20,28~. Auf das persönliche Bekennen des einzelnen, das keines äußeren Rahmens bedarf, stoßen wir in lQS 10,11; 11,llf. Hier ist die sprachliche Form sehr viel weniger stilisiert. Zwar ist nicht völlig auszuschließen, daß dem Briefautor ein privates, inneres Eingeständnis sündhaften Tuns, das nur Gott zum Zeugen hat, oder gar ein allgemeines Sündenbewußtsein genügen würde 61 . Aber das Vergleichsmaterial und der Kontext mit dem betonten Interesse an innergemeindlicher Koinonia weisen in eine andere Richtung. Das Bekenntnis der Sünden (man beachte den Plural) geschieht öffentlich vor dem Forum der Gemeinde 62 . Nur so wird das zerstörte Gemeinschaftsverhältnis wiederhergestellt. Nur so kann die Gemeinde jene Funktion ausüben, die ihr in Joh 20,23 übertragen wird. Lediglich einzelne Amtsträger mit der Entgegennahme des Bekenntnisses zu betrauen, würde dem Gemeindemodell des Verf. allerdings widersprechen. Die ältere Auslegung ist von Augustinus beeinflußt, der V. 9 auf das innere Einge- Wirkungsständnis der eigenen Sündhaftigkeit vor Gott deutet. Man muß aber sehr genau die geschichte Zielrichtung beachten. Augustinus begnügt sich damit, vor der Verharmlosung läßlicher Sünden, auf die er 1,9-10 bezieht, zu warnen, denn: Levia multa faciunt unum grandl'3. Deshalb sieht er in der Frage des Bekennens eher die Gefahr, daß jemand öffentlich den Demütigen spielt, sich zerknirscht gibt und seine - nach eigener Meinung unerheblichen - Sünden laut bekennt, im Herzen aber von der eigenen Sündenfreiheit überzeugt ist.
Übers. von L. Cohn (Werke II 423fj. So Weiss 37; Luthardt 231; Rogers*. 62 In diesem Sinn Thüsing 47; Wengst 58f; Thornton-Duesbery*; auch Gore 80-82, trotz 60 61
gefühlsmäßigen Widerstrebens. 63 Augustinus 126. Reiches Material zur Wirkungsgeschichte bei Conti*.
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
Das Konzil von Trient zitiert 1Joh 1,9 neben Jak 5,16 im 5. Kap. des Bußdekrets als Begründung für die Forderung nach einem vollständigen Sündenbekenntnis (DS 1679: integram peccatorum confessionem). Nach Ausweis der Konzilsakten64 spielte in der Diskussion 1Joh 1,9 keine sonderliche Rolle, man griff lieber auf Joh 20,23 zurück, aus naheliegenden Gründen. Die Reformatoren ließen das öffentliche Bekenntnis der Sünden gelten, lehnten aber das geheime Bekenntnis vor dem Priester in der Einzelbeichte als schriftwidrige menschliche Erfindung ab. Die Konzilsväter verstanden im Einklang mit der Exegese ihrer Zeit Joh 20,23 als übertragung der Vergebungsvollmacht an die Apostel und ihre Nachfolger und sahen hier einen Weg, die Rolle des Priesters in der Beichte zu legitimieren, was von 1Joh 1,9 aus nicht möglich war. Die Quintessenz der Konzilsbeschlüsse stellt sich verkürzt so dar: Dogmatisch definiert wurde die Heilsnotwendigkeit eines Bekenntnisses überhaupt (confessio in genere), sei es öffentlich (confessio pub/ica) oder geheim (confessio secreta). Die Aussagen über die Ohrenbeichte, deren äußere Form das Konzil als schrift- und traditionsgemäß verteidigt (DS 1706), haben nicht den gleichen Verbindlichkeitsgrad65 • Es ist verständlich, daß dieser Gebrauch von Joh 1,9 in der Folgezeit66 auf den heftigen Widerspruch protestantischer Exegeten gestoßen ist67. Völlig unbeeindruckt teilt a Lapide seinerseits kräftige Seitenhiebe gegen Lutheraner und Calvinisten aus und trägt in den Text die katholische Bußlehre ein: Johannes verlange beides, ein Bekenntnis vor Gott für die leichten Sünden und ein Bekenntnis vor dem Priester für die schweren68 • Man sollte über dem berechtigten Protest gegen diese konfessionalistische Verengung der Exegese das Gewicht der Sachfrage nicht übersehen. Die Form der Einzelbeichte mag unbefriedigend erscheinen, zumal der Gemeindebezug leicht aus dem Blick entschwindet, ebenso unbefriedigend aber ist der Verzicht auf jeden öffentlichen Bekenntnisakt und die völlige Privatisierung von Schuld und Vergebung. Jede Sünde ist Verstoß gegen die Gemeinschaft (Koinonia), Wiederherstellung der Gemeinschaft fordert die Teilnahme der Gemeinde am Vollzug von Bekenntnis und Vergebung; jedenfalls ist das die Sicht des 1Joh.
Erklärung Vergeben werden die Sünden wie stets in der atl.-jüdischen Tradition von 9b Gott selbst. Die Attribute »treu« und »gerecht« (vgl. Jer 42,5) charakterisieren ihn als den Bundesgott seines Volkes 69: Er ist »der treue Gott, der seinen Bund hält und die Huld bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote halten« (Dtn 7,9). In diesem Doppelattribut hat »gerecht« nicht den sonst möglichen forensischen Sinn, es ist nicht Eigenschaft des Richters, der die verdiente Strafe zumißt. Gott erweist sich gerecht in der Treue, die er den Seinen trotz 9c ihrer Verfehlungen hältl°. Im Sündennachl.aß von 9c wirkt sich seine vielfach 64 Sie sind ausgewertet bei K.J. Becker, Die Notwendigkeit des vollständigen Bekenntnisses in der Beichte nach dem Konzil von Trient, ThPh 47 (1972) 161-228. 65 Vgl. H. Vorgrimler, HDG IV/3, 179f. 66 Chaine 150 macht darauf aufmerksam, daß man IJoh 1,9 bes. vom 17. Jh. an im Gefolge von Bellarmins Schrift De poenitentia in der kath. Theologie als Beleg für das sakramentale Beichtbekenntnis wertete. 67 Ausführliche Behandlung - unter Ein-
schluß der Deutung des XU{}
l]oh 1,9cd.lOab: Erklärung
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erprobte und bewährte Bundestreue beispielhaft aus 71 . Nur zwei Verse weiter wird das Attribut öLxmo~Jesus zugesprochen (2,1; vgl. 2,29; 3,7). Die Bundestreue Gottes hat im Kommen seines Sohnes in die Menschenwelt (1,2) ihren Höhepunkt erreicht. 9d steht zu 9c im Verhältnis eines synthetischen Parallelismus. Die Wahl von 9d aÖLxLu anstelle von U!lClQ1:LU 7e ist durch das Gottesattribut öLxmo~ in 9c veranlaßt. Das Nebeneinander von acpf] und xuttClQWn verdeutlicht, daß »reinigen« soviel meint wie »vergeben«, nur daß »reinigen« aus der kultischen Sprache stammt, »nachlassen« aus der Rechts- und Geschäftssprache. In 7e reinigt das Blut Jesu, in 9d der Bundesgott. Das hebt die christologische Vermittlung göttlichen Vergebungswillens ans Licht. Im Unterschied zur allgemeinen Sündhaftigkeit und Schuldverfallenheit von 10ab 8b richtet sich das dritte und letzte Schlagwort in lOb auf einzelne Taten und bestimmte sündhafte Aktionen 72 . Mit »Wir haben nicht gesündigt« wird rundweg bestritten, Sünden je begangen zu haben. Sicher eine erstaunliche These angesichts der überwältigenden Fülle atl. und frühjüdischer Zeugnisse für ein sehr ausgeprägtes Sündenbewußtsein: »Es ist kein Mensch, der nicht sündigt« (lKön 8,46); »Keiner ist, der Gutes tut, auch nicht einer« (Ps 14,3). Auch das Tableau, das Paulus in Röm 1,18 - 3,20 entwirft, spricht für sich. Aber eine Position, wie sie sich in lOb äußert, scheint dennoch möglich, wenn man eine Einschränkung beachtet: Das Freisein von jeglicher sündigen Tat tritt im Sinne ihrer Vertreter mit der Reinigung durch die Taufe in Kraft. Die Rede von der Sündhaftigkeit aller Menschen trifft auf die vor- und außerchristliche Welt voll und ganz zu. Das Johannesevangelium wendet sie mit Recht auf jene an, die Jesus ablehnen. Unglaube stellt sich mehr und mehr als die eigentliche Sünde heraus (loh 16,9). Christen hingegen berührt die allgemeine Sündenverfallenheit nicht mehr. Sie sind seit der Taufe nicht nur dem Nicht-anders-als-sündigen-Können (non posse non peccare) enthoben, sondern auch dem Sündigen-Können (posse peccare), für sie gilt nur noch: Sie können nicht mehr sündigen (non posse peccare). Als wahre Gotteskinder haben sie sich den Ausspruch des Gottessohnes zu eigen gemacht: »Wer unter euch kann mich einer Sünde überführen?«73 Überschlagen wird dabei aber der Status des posse non peccare, d.h. die Befreiung vom Zwang zum Sündigen, die Freiheit zu einem Leben ohne Sünde, das aber dennoch unter den Bedingungen von Welt und Zeit der Bedrohung durch Sünde nicht enthoben ist. Ohne das gleichzeitige posse peccare verliert das Geschenk des posse non peccare seinen Sinn. Es liegt also eine unverkennbare Steigerung von 6b über 8b zu lOb vor. Dem korrespondiert die Klimax im ersten Teil des Hauptsatzes. Sie führt von »wir lügen« in 6d über »wir täuschen uns selbst« in 8c zu »wir machen Gott zum Lügner« in 10c (vgl. 5,10). Die These aus lOb verkehrt den Gotteswillen, wie 10c 71 Zum konsekutiven Sinn von Lva in 9c vgl. Bl-Debr-Rehkopf § 391,5 mit Anm. 9-11.
72 Den Fortschritt von V. 8 zu V. 10 arbeitet Brown 211f gut heraus; vgl. auch Cook' 252. 73 Joh 8,46; vgl. Brown 234.
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Vergebung der Sünden (1,6-10)
er in den Schriftaussagen über die sündige Natur des Menschen zum Ausdruck kommt, ins Gegenteil. Sie verkennt die Heilsnotwendigkeit des rettenden Eingreifens Gottes in Jesus Christus und zerrt Gott auf die Ebene seines Widersachers herab, der ein Lügner war von Anbeginn (loh 8,44)14. In den Schlußstücken ist eine vergleichbare Steigerung nicht auszumachen, obwohl sie durch &.Idl'l'tELU und Elvm EV sehr eng verkettet sind (s. die AnalyIOd se). Es ändert sich von 8d zu lOd das Subjekt, statt »Wahrheit« ist es jetzt »sein Wort« (vgl. Joh 17,17: »Dein Wort ist Wahrheit«). Da Jesus nicht sein eigenes Wort spricht, sondern das, was vom Vater kommt (Joh 14,24), kann es im Evangelium wechselweise heißen, daß »ihr sein [d.h. Gottes] Wort nicht bleibend in euch habt« (5,38) .oder daß »mein [Jesu] Wort in euch keinen Raum findet« (8,37). Eine Steigerung unterbleibt in den Schlußstücken wohl deshalb, weil es sich bei ihnen um die Negation einer in sich eminent positiven Grundaussage handelt. Mehr als die Wahrheit, die sich im Wort offenbart, als lebensbestimmende Kraft kann man nicht verlieren. Es gibt kein höheres Ziel, als in seinem Innern und in seinem Handeln ganz von der Wahrheit getragen zu sein. Wirkungs- 1 In De Pudicitia, einer Schrift aus seiner montanistischen Zeit, stellt Tertullian den geschichte Grundsatz auf, die Kirche habe kein Recht, Todsünden wie Mord, Unzucht und Glaubensabfall bzw. Götzendienst zu vergeben, sie dürfe solche schweren Sünder nicht wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufnehmen. Das bringt ihn in Konflikt mit 1Joh 1,6-10, wo ausdrücklich die Reinigung von jeglicher Sünde (7e) in Aussicht gestellt ist. Dagegen spielt Tertullian recht geschickt vermeintlich anderslautende Stellen wie 1Joh 3,9 und 5,16 aus. Vor allem aber führt er eine sehr folgenreiche Unterscheidung ein: In 1,6 - 2,2 spricht der Autor überhaupt nicht von schweren Sünden, sondern nur von leichten Sünden, wie sie »uns täglich zustoßen, denen wir alle ausgesetzt sind. Denn wem wird es nicht passieren, daß er einmal mit Unrecht zürnt ... daß er einmal zuschlägt, leicht flucht, leichtfertig schwört, sein gegebenes Wort nicht hält und eine Scham- oder Notlüge begeht? Im Geschäft, im Amt, im Erwerb, beim Sehen und Hören sind wir so vielen Versuchungen ausgesetzt, daß niemand zum Heile gelangt, wenn es für solche Dinge keine Vergebung gibt.«75 Wie man aus dieser Liste erkennt, sieht sich Tertullian gezwungen, die Definition einer leichten Sünde erheblich weiter zu fassen, als er es in seiner katholischen Zeit getan hatte, und die unvergebbaren schweren Sünden auf wenige Vergehen zu reduzieren. Seine rigoristische Grundhaltung hat nicht viele Nachahmer gefunden, aber die Unterscheidung von läßlichen und schweren Sünden gehört bis in die Gegenwart zum festen Re-
74 In seinem letzten Streit mit den Vertretern der Staatskirche schreibt S. Kierkegaard voll Bitterkeit: Sollte das gegenwärtige Christentum wirklich mit dem, was das NT fordert, übereinstimmen, dann ist »Gott, der Gott der Wahrheit, der größte Lügner von uns allen«. Um Gott nicht zum Lügner zu machen, ist ein offenes Eingeständnis des
schuldhaften Versagens der Kirche gefordert (Gesammelte Werke. Bd. 34, Düsseldorf 1959, 71). 75 Tertullian, Pud 19,23f (Übers. H. Kellner, BKV). Vgl. den ganzen Zusammenhang 19,10-28. Dazu Poschrnann, Paenitentia 335346.
l]oh 1,9b.1O: Wirkungsgeschichte; 1,6-10: Zusammenfassung
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pertoire der Auslegung von 1Joh 1,6 - 2,2, weil man damit exegetische Schwierigkeiten zu lösen glaubt, ohne die theologischen Folgen immer hinreichend zu reflektieren. 2 Ganz anders geht Cyprian von Karthago an das Problem heran. Er zitiert 1Joh 1,8 in seiner Abhandlung über die Wohltätigkeit und zieht daraus die Folgerung: »Wenn also niemand ohne Sünde sein kann und jeder, der sich sündlos nennt, entweder überheblich oder töricht ist, wie notwendig, wie gütig ist da die göttliche Milde, die uns, da sie weiß, daß es auch bei Geheilten nicht ohne spätere Wunden abgeht, heilsame Mittel zur neuerlichen Pflege und Heilung der Wunden gegeben hat.«76 Zu diesen Heilmitteln zählen Almosen und gute Werke. Sie haben geradezu sündentilgende Kraft. Man muß, um diesem Verdienstdenken gerecht zu werden, die von Tertullian markierte Extremposition berücksichtigen, mit der sich Cyprian implizit auseinandersetzt. Die gnadenhafte Vergebung aller Sünden geschieht einmalig bei der Taufe, dem Beginn des neuen Lebens, darüber besteht Einigkeit. Was macht man mit Verfehlungen aller Gradstufen, auch mit schweren und schwersten Sünden wie GlaubensabfalJ77, die sich nach der Taufe ereignen? Cyprian zeigt sich realistisch und konziliant, wenn er ohne falschen Rigorismus Wege zur Vergebung schwerer Schuld für getaufte Christen aufzeigt. Bestimmte Intentionen von 1Joh 1,8-9 sind damit getroffen. 3 418 n.Chr. verurteilt eine Kirchenversammlung zu Karthago die Lehren des Mönchs Pelagius, der eine Erbsünde nicht anerkannte und der freien Natur des Menschen die Fähigkeit zum völligen Vermeiden von Sünden zutraute. Dagegen formuliert die Synode in Canon 6 ihres Dekrets: »Ebenso wer glaubt, das Wort des Apostels Johannes ... [lJoh 1,8] müsse man so auffassen, als wolle er sagen: Wir müssen aus Demut sagen, daß wir Sünden haben, nicht weil es wirklich so ist, der sei ausgeschlossen«78. Darin wird der pelagianische Umgang mit der widerstrebenden Stelle ebenso sichtbar wie die großkirchliche Lösung, die auf der ausnahmslosen Sündigkeit der menschlichen Natur beharrt. Die Frontstellung gegen Pelagius bleibt für lange Zeit ein Standardtopos in der Auslegung von 1Joh 1,6-1079 . Damit sind aber längst nicht alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt. Daß man immer wieder auf die Unterscheidung von Erbsünde, Todsünde und läßlicher Sünde (mit weiteren Abstufungen) zurückgreift, hängt auch mit dem verständlichen Wunsch zusammen, den Eindruck zu vermeiden, Christen seien durchweg ein laxer Haufen schwerer Sünder (aus diesem verzerrten Erscheinungsbild bezog der Vorstoß des Pelagius ja seine faszinierende Kraft).
In drei Anläufen bearbeitet 1,6-10 einen Grundwiderspruch, der sich zwi- Zusammensehen Anspruch und Verhalten auftut. Wenn der Satz aus 1,5 zutrifft, daß es fassung in Gott nur reines Licht, aber nicht die geringste Spur von Finsternis gibt, 76 De opere et eleemosynis 3 (56,54-60 CChr.5L 3a); vgl. Poschmann, Paenitentia 398-411. 77 In Ep 55,18 (637,6-11 CSEL 3) verteidigt Cyprian gegen Novatian die Rekonziliation nach Glaubensabfall und zitiert 1Joh 2,1-2. Außerdem führt er 1 Joh 1,8-9 in seiner Auslegung des Vaterunsers aus Anlaß der Verge-
bungsbitte an, vgl. Dom Or 22 (104,415-424 CChr.SL 3a). 78 DS 228; NR 683. Das Konzil von Trient behandelt im Rechtfertigungsdekret eine ähnlich klingende These (DS 1573), greift aber nicht erkennbar auf 1Joh zurück. 79 Vgl. Beda 287; Calvin 306; Natalis Alexander 135; Estius 669.
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Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
ebenso die Aussage von 1,7, daß Gott in der Sphäre des reinen Lichtes weilt, dann kann mit ihm nicht in Gemeinschaft stehen, wer durch seine Taten zugleich dem Einzugsbereich der Finsternis angehört. Die Macht der Finsternis zeigt sich bleibend in der Sünde, in die Christen auch nach der Taufe zurückfallen können. Einen Ausweg aus dieser Zwangslage eröffnet nur die von Gott geschenkte Vergebung. Diesen Weg schneidet sich selbst ab, wer die Realität der Sünde und die Notwendigkeit der Vergebung nicht eingesteht. Vergebung wird vermittelt durch den, der als Mensch in unserer Mitte weilte. Weil Jesus die ganze Lebenswirklichkeit mit uns geteilt hat, bis zum bitteren Ende, bis zum Vergießen seines Blutes am Kreuz, geht gründlich in die Irre, wer sich in pneumatischer Überheblichkeit von der irdischen Realität und ihren ständigen Herausforderungen dispensiert wähnt. Die inkarnatorische Struktur des Offenbarungsvorgangs ermöglicht und fordert eine christliche Ethik des Alltags. Vergebung geschieht im Raum der Gemeinde, Vergebung ist Voraussetzung dafür, daß Gemeinschaft der Glaubenden entsteht und Intakt bleibt. Das ist auch der Grund für das Insistieren auf dem Bekenntnis der Sünden, das ohne ein gewisses Maß an Öffentlichkeit nicht auskommt. Vielleicht gab es die Institution eines kumulativen Sündenbekenntnisses wie in Qumran. Die Wirkungsgeschichte zeigt, daß es nicht so einfach ist, den rechten Weg zu finden zwischen menschenfeindlichem, ja menschenverachtendem Rigorismus und allzu optimistischem Vertrauen in die Kräfte des Menschen (Pelagius), ganz zu schweigen von einer sittlichen Gleichgültigkeit, die ins Beliebige und Unverbindliche abgleitet.
c
Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
Literatur: Clavier, H., Notes sur un mot-clef du johannisme et de la soteriologie biblique: tAao~<;, NT 10 (1968) 287-304; Dodd, CH., li\A1:KE~eAI, Its Cognates, Derivatives, and Synonyms, in the Septuagint, JThS 32 (1931) 352-360; Findlay, G, Studies in the First Epistle ofJohn, Exp. VI/8 (1903) 321-344(.455-467); Grayston, K., The Meaning of PARAKLEToS, JStNT 13 (1981) 67-82; farnes, A.G, Jesus our Advocate. A Free Exposition of I John 11.1/2, ET 39 (1928) 473-475; Lyonnet, S., The Noun hilasrnos in the Greek old Testament and in 1 John, in: ders. 1 1. Sabourin, Sin, Redemption, and Sacrifice. A Biblical and Patristic Study, 1970 (AnBib 48),148-155; Thomton, I.CG, Propitiation or Expiation? 'D..aO"t"l']QLOV and Thaof.lo<; in Romans and 1 John, ET 80 (1968/69) 53-55.
1a
b c
d e
Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn einer sündigt, haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus, (den) Gerechten.
101
lIoh 2,1-2: Analyse; 2,1a: Erklärung
2a
b c
Und er selbst ist (die) Sühne für unsere Sünden, nicht nur für die unsrigen allein, sondern auch für die (der) ganze(n) Welt80•
Die direkte Anrede in lab durchbricht das Gefüge der Bedingungssätze von 1,6-10 Analyse und ist als bloße Parenthese nicht hinreichend erklärt. Zwar scheint es zunächst verführerisch, lab einzuklammern und 1c-2c zu 1,10 zu ziehen, um so die gleiche Abfolge von gegnerischem Schlagwort in 1,10 und Antwort des Verf. in 2,lc-2c zu erhalten wie zuvor81 • Aber diese Rechnung geht nicht auf, selbst wenn man von lab absieht, denn im Bedingungssatz 1c steht nicht die Wir-Form, sondern 't~, und es wird ein negativer Fall gesetzt, nicht ein positiver wie in 1,7 und in 1,9. Man muß 2,1-2 von 1,610 absetzen, gewiß als Fortführung, aber auch als steigernden Abschluß der gesamten Komposition. Den leichten Bruch in der Gedankenführung hat Bultmann richtig erkannt, auch wenn seine Lösung, V. 1 dem Autor, V. 2 der kirchlichen Redaktion und 1,6-10 im wesentlichen der Quelle zuzuweisen82 , aus den Textdaten nicht abzulesen ist. Die Anrede »meine Kinder« verwendet die Diminutivform 'tE'XVLU, eigentlich: Erklärung Kindlein, Kindchen. Sie kehrt in lJoh 6mal wieder (2,12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21) la und kann mit dem Diminutivum 3tmÖLU ausgetauscht werden (2,14.18). Im Evangelium kommt 'tEXVLU als Anrede der Jünger durch Jesus nur einmal vor, und zwar in 13,33, im Rahmen von Fußwaschung und Abschiedsmahl. Es schließt sich in 13,34-35 - möglicherweise redaktionell eingefügt - das Gebot der Bruderliebe an, das auch im Brief wenig später folgt (lJoh 2,7). Der Briefautor schlüpft in die Rolle Jesu und wendet sich seinen Adressaten in der gleichen liebevollen, fürsorglichen Haltung zu wie dieser seinen Jüngern. Die Wurzeln der Anredeform 'tEXVLU u.ä. lassen sich zurückverfolgen in die weisheitliche Mahnrede 83 , die ihrerseits die Unterweisung der Söhne durch den Vater im Familien- und Sippenverband aufnimmt. Im frühen Christentum hat man sie für die Taufparänese adaptiert, wo der Neophyt mit einem neugeborenen Kind verglichen wird (vgl. lPetr 2,2). Aber selbst in diesem Umfeld würde eine solche Anrede im Munde eines jungen Mannes nicht anders als komisch klingen. Es bleibt sehr fraglich, ob die Erklärung, der Autor wolle mit Hilfe eines fiktiven Kunstgriffs seine Autorität legitimieren, er wolle nur seine Identität mit dem Presbyter, dem »Älteren«, aus den beiden kleinen Briefen suggerieren, schon genügt. Warum soll der Verf. nicht eine echte Autoritätsfigur gewesen sein, die auf eine längere Glaubens- und Lebenserfahrung zurückblickt?
80 Die Übersetzung: Sühne "für die ganze Welt«, verteidigen Bonsirven 98; Huther 79; Westcott 45. Es fehlt ein niYv, das die Wiederaufnahme des Sündenbegriffes aus 2a klarstellen würde. Man kann es aber sinngemäß ergänzen, mit Haas, Handbook 42. Zur Kon-
struktion vgl. Joh 17,20. 81 So Brown 213.224f; Lyonnet* 149f. 82 Bultmann 29; s.o. die Analyse zu 1,6-10. 83 Vgl. Sir 2,1; 3,1 ('ttKvov); Spr 7,24 (ul.6;); Tob 4,3.12.13 (rcmöiov).
102
Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
Wirkungs- Daß man dieser Möglichkeit in der kritischen Exegese so skeptisch gegenübersteht, geschichte hängt sicher auch damit zusammen, daß genau an dieser Stelle die spätere Legendenbildung einsetzt. Sie will im Verf. des Briefes den Apostel Johannes erkennen, der inzwischen in hohem Alter stehe. In einer bei Clemens und Eusebius überlieferten Anekdote macht er sich auf die Suche nach einem Räuberhauptmann, den er vor Jahren als jungen Mann einem Bischof zur Erziehung anvertraut hatte. Von ihrer Begegnung heißt es: »Johannes aber, sein hohes Alter vergessend, lief ihm eilends nach und rief: >Mein Kind, warum fliehst du vor mir, deinem Vater, einem wehrlosen Greis?«(B4 Als Argument in der Verfasserfrage ist der Rückschluß aus der Anrede auf das hohe Alter des Schreibers und von da aus auf den Zebedäussohn bis in unser Jahrhundert in übung geblieben85. Diese Position soll hier keineswegs wiederbelebt oder verteidigt werden. Wir rechnen lediglich mit einer für uns namenlosen geistigen Führergestalt innerhalb der johanneischen Schule B6 . Erklärung Mit der Anrede »meine Kinder« und dem folgenden »dies schreibe ich euch« löst sich der Autor aus dem Kreis seiner Adressaten. Er löst sich auch als Einzelperson aus dem Kreis der Traditionsträger, für die er im Briefproömium in der Wir-Form sprach. »Dies schreiben wir« in 1,4 bezog sich auf den ganzen Brief, der unter die Autorität der johanneischen Schule gestellt wird. »Dies schreibe ich« in 2,1 engt das auf einen kleinen Ausschnitt, nämlich auf 1,8-10 hin ein. Bisher hat der Autor gegen das Postulat der Sündlosigkeit polemisiert und die Notwendigkeit des Bekennens eingeschärft. Das darf aber nicht als Freibrief zum Sündigen mißverstanden werden, deshalb der Finalsatz »da1b mit ihr nicht sündigt« in 1b, der auf die Aussage über die Sündlosigkeit der Christen in 3,9 vorausweist. Dem Zwang zum Sündigen ist der Christ enthoben. Im Idealfall- oder sollte man besser sagen: im Normalfall? - verwirklicht er in seinem Leben nichts anderes mehr als diese neugewonnene eschatologische Freiheit. Aber deshalb gibt der Autor die realistische Sicht der Dinge, die 1cd er zuvor an den Tag legte, nicht preis. Einzelne Tatsünden von Christen geschehen, dafür steht Jesus als der himmlische Paraklet bereit. Paraklet :rtaeUxA'I]"toc; ist Verbaladjektiv zu :rtaea-xaNoLv (herbeirufen, zur Hilfe rufen; aber auch: zusprechen, trösten). Als Grundbedeutung ist demnach anzusetzen: »der zur Unterstützung Herbeigerufene«, »der als Beistand Zugezogene«87. Doch gewinnt die Vokabel sehr rasch auch das aktivische Moment »Fürsprecher«, »Helfer«, sogar »Trö-
84 Clemens Alex., Quis Div Salv 42,12f; Eusebius, Hist Eccl m 23,17. 85 Wolf 26; Bisping 301; Ross 147: »this old man of 90 or more«. Vgl. § 3 und § 9 der Einleitung und die Ausführungen zum Presbyter im Komm. zu 2/3Joh. 86 K. Marti, Gottesbefragung. Der 1. Johannesbrief heute, Stuttgart 1982, 26f, bemerkt in einer Predigt über 2,1-2 zur Anrede: »Also: mir klingt das zu patriarchalisch, zu onkelhaft«, und fragt: »Ist der gute Johannes viel-
leicht bereits angesteckt gewesen von jenem autoritären, hierarchischen Wesen oder Unwesen, das sich in der Kirche bald breit macht und durch die Jahrhunderte durch erhalten hat?« Man möchte zurückfragen: Woher nimmt der Prediger das Recht zu diesem herablassenden Tonfall? 87 Bauer-Aland WB 1249f; J. Behm, ThWNT V 798-812, hier 799. Zu Lit. und Forschungsstand vgl. Becker, Joh 470-475; Schnackenburg, Joh m 156-173.477f.
l]oh 2,1: Paraklet
103
ster« (die Lateiner unterscheiden zwischen advocatus und consolator). Das erinnert an den häufigen Gebrauch von :n:aeaxa.A.ELV im Sinne von »ermahnen«, »aufmuntern« oder von :n:aeUxA,1]OL~ im Sinne von »Tröstung«, »Trost« in der ntl. Briefliteratur, so daß man den Parakleten schon als Verkörperung der urchristlichen Paraklese ansehen wollte. Es muß aber beachtet werden, daß :n:aQuxA,1]'to~ im NT nur bei Johannes vorkommt, :n:aeaXaA.cLV und :n:aeuxA.1]a~ bei ihm jedoch fehlen. Die Suche nach traditions- und religionsgeschichtlichen Haftpunkten sieht sich deshalb auf andere Felder verwiesen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (1) der Sache, nämlich dem Phänomen der (himmlischen) Fürbitte, das nicht an den Parakletentitel gebunden ist, (2) dem Ausdruck :n:aQuxA,1]'to~ in seiner Herkunft und Verwendung und (3) dem unterschiedlichen Gebrauch, den das johanneische Schrifttum davon macht. 1 Das irdische Fürbittgebet von Menschen für Menschen ist im AT eine geläufige Erscheinung. Abraham bittet für Sodom (Gen 18,20-33), Mose legt Fürbitte für die Ägypter ein (Ex 8,28-30), die Propheten bitten um Vergebung für das Volk (Am 7,2.5). Nachexilisch wird diese Aufgabe auf den Hohenpriester übertragen, von dem Weish 18,21 ein idealtypisches Bild entwirft: »Ein Mann ohne Tadel eilte hinzu und kämpfte für sie mit der Waffe seines Amtes, mit Gebet und versöhnendem Räucherwerk.« Diese Aktion verlagert sich zunehmend in den Himmel. Menschen werden dorthin versetzt und können vor Gott Fürbitte leisten wie Henoch (äthHen 84,4f) oder wie der Prophet Jeremia in 2Makk 15,14: »Das ist der Freund der Brüder, der so eifrig für das Volk und die heilige Stadt betet, Jeremia, der Prophet Gottes« (der in 15,13 in verklärter Gestalt erscheint). In Hi 33,23-26 ist es ein Engel, der bei Gott um Vergebung für menschliche Schuld bittet. Dieser Zug, daß Engel sich im Himmel für Menschen einsetzen, dominiert in der apokalyptischen Literatur88 . Das Gegenbild entwirft die Rahmenerzählung des Hiobbuches (1,6-12 etc.): Der Satan tritt vor dem himmlischen Gerichtshof als Ankläger des Menschen auf, der aus diesem Grund einen himmlischen Anwalt braucht (vgl. Sach 3,1f). Das greift Offb 12,10f auf: »Denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor ihrem Herrn verklagt. Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeugnisses« (vgl. Joh 1,29; 1Joh1,!.7). Von der himmlischen Fürbitte spricht der Traditionssplitter in Röm 8,26f: Der Geist selbst tritt vor Gott für uns ein, was in 8,34 so gedeutet wird: Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, tritt für uns ein. Der Hebräerbrief zeichnet Jesus als den himmlischen Hohenpriester, der Fürbitte leistet, damit die Christen auf Erden in ihren Leiden und Versuchungen bestehen können89. 2 Der Terminus :n:aQuxA,1]'tO~ verweist auf die Gerichtssituation. Allerdings ist weniger an den berufsmäßigen Rechtsanwalt zu denken, der die Verteidigung des Angeklagten übernimmt. :n:aQUxA,1]'tOL sind alle, die durch ihre bloße Anwesenheit das Verfahren günstig beeinflussen können, z.B. Frau und Kinder des Angeklagten, die mit
88 Z.B. TestLev 3,5; 5,6; äthHen 40,6f; 47,2. Vgl. zu diesem Aspekt der Parakletengestalt O. Betz, Der Paraklet, 1963 (AGSU 2), 1222.36-72.138-158. Himmlische Helfergestalten, die der Seele bei ihrem Aufstieg zur Lichtwelt beistehen, kennt auch die Gnosis, vgl. die Belege, namentlich aus mandäischen Schriften, bei J. Behm, ThWNT V 805f; Bult-
mann, Joh 437-440. Der strukturelle Ort dieser Helfer ist ein anderer als der des Parakleten in IJoh 2,1. 89 Bes. Hebr 7,25; 9,24; vgl. W.R.G. Loader, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes, 1981 (WMANT 53),142160. Auf dieser Linie liegt lClem 36,1.
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Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
ihrem Jammern Mitleid erregen, oder eine Gruppe von gekauften Zwischenrufern, die das Gericht einschüchtern 90. Als Paraklet kommt namentlich der begüterte und einflußreiche patronus in Frage. Er braucht sich bloß im Gerichtssaal sehen zu lassen, schon entsteht eine Atmosphäre, die seinem Klienten Vorteile bringt. Besonders aussagekräftig sind die Belege bei Philo: Der alexandrinische Stadtpräfekt benötigt einen mächtigen Fürsprecher9l , um bei Kaiser Caligula nicht völlig in Ungnade zu fallen. Die Brüder Josefs brauchen keinen anderen Fürsprecher als ihn selbst (Jos 239). Drei naQuxA:rp:oL stehen für das Volk bereit, um es mit Gott zu versöhnen, nämlich Gottes Güte, die Heiligkeit der Patriarchen und der eigene Umkehrwille 92 . Der Hohepriester trägt beim Beten und Opfern für die Sünden ein Gewand, das den Kosmos symbolisiert, »denn wer dem Vater des Weltalls zum Priester geweiht war, mußte unbedingt dessen an Vortrefflichkeit äußerst vollkommenen Sohn [d.h. den Kosmos] zu seinem Fürsprecher nehmen, sowohl zur Vergebung der Sünden als auch zur Bitte um Gewährung unerschöpflichen GlÜcks«93. Wer sich dem sühnopferritual aus Lev 6 unterzieht, der bringt in den Tempel als »gewichtigen Fürsprecher die Mahnung seines Gewissens« mit (SpecLeg 1,237)94. Den Vorstellungshintergrund bildet der einflußreiche patronus, der die höchste Autorität (Kaiser/Gott) gegenüber dem Klienten, der sich verfehlt hat, gnädig stimmt. 3 Die verschiedenen Bedeutungskomponenten, die wir zum himmlischen Fürbittgebet und zur Aufgabe eines Parakleten bei Gericht bisher eruiert haben, passen ausgezeichnet zu 1Joh 2,1: Der erhöhte Herr tritt im Himmel bei Gott als Fürsprecher für die Sünder ein. Sie passen weniger gut zur Parakletengestalt in den Abschiedsreden Joh 13-17. Obwohl forensische Züge nicht fehlen (Joh 15,26; 16,7-8), wird der Paraklet dort mehr als ein prophetischer Lehrer gesehen, der die Nachfolge des scheidenden Jesus antritt 95. In 1Joh ist Jesus der Paraklet, und er wirkt im Himmel. Die Abschiedsreden des Evangeliums setzen den Parakleten mit dem Geist gleich (14,1617.26; 15,26; 16,13), und er entfaltet seine Tätigkeit auf der Erde. Für die Annäherung von Paraklet und Geist gibt es im Brief keinen Anhaltspunkt, wohl aber im Evangelium, trotz seiner Bevorzugung des Geistparakleten: Jesus verspricht, der Vater werde einen »anderen Parakleten« senden (14,16), er selbst war also der erste Paraklet. Der Paraklet übernimmt jene Funktionen des Lehrens, Offenbarens, Bezeugens und Verkündigens, die im ersten Teil des Evangeliums Jesus selbst wahrnahm. Ihr Tätigkeitsfeld ist weithin identisch. Und schon der irdische Jesus tritt in Joh 17 betend für die Seinen vor den Vater.
90 Findlay* 327f; Grayston* 69f. Die klassischen Belege erörtert auch Brooke 23f. Vgl. Demosthenes, Fals Leg 1 (= Or 19,1); Diogenes Laert. 4,50; Ps.-Heraklit, All Horn 59,9 (66 CUFr Buffit!re): Der Gott Herrnes, der die Überredungskraft des Wortes verkörpert, fungiert als J"taeaKATrto~ für Priamus beim zornigen AchilI. 91 JtaeaKAT]"(o~ Flacc 22.151.181. 92 Praem 166f. Kurz zuvor in 163 wurde als Zeichen der Umkehr das laute Bekennen (OfJ.OI.oyELV) gefordert, s.o. zu 1Joh 1,9.
93 VitMos 2,134; Übers. B. Badt (Werke I 329). 94 Vgl. Grayston* 73f: »This is good Jewish doctrine: when men ask God for forgiveness and benefits, they rely for support on God's nature and their own repentance.« Die rabbinische Lit. hat JtaeaxAT]"(o~ als Lehnwort übernommen, vgl. rnAv 4,11; bSchab 32a. 95 Vgl. E. Franck, Revelation Taught. The Paraclete in the Gospel ofJohn, 1985 (CBNT 14).
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1Joh 2,1: Paraklet, Wirkungsgeschichte
Man muß daraus den Schluß ziehen, daß uns in lJoh 2,1 die ältere Parakletenkonzeption entgegentritt, die sich in den religionsgeschichtlichen und urchristlichen Kontext nahtlos einfügt, während die Abschiedsreden eine fortgeschrittene Reflexionsstufe repräsentieren96 . Wie so oft unterlegt der Briefautor seine Argumentation mit älteren Gemeindetraditionen97. Als Paraklet weüt Jesus nach ld beim Vater (:rtQü; tÜV :rtatEQa). Das ruft den Gedanken an die Präexistenzaussagen von 1,2e (das Leben war :rtQü; tÜV :rtatEQa) und Joh 1,1 (der Logos war :rtQü; tÜV tl-EOV) wach. Der Auferstandene und Erhöhte ist in diese anfängliche Gottesgemeinschaft zurückgekehrt. Er allein hat ungehinderten Zugang zu Gott. Wenn man dem Ex,Of.tEV (»wir haben«) im gleichen Versteil noch eine Nuance abgewinnen will, wird man es nicht wie Augustinus auf eine Demutsübung des Apostels Johannes deuten98, sondern in der Verlängerung des Koinonia-Gedankens von 1,3.7 den Gemeindebezug darin erkennen. Die Parakletentätigkeit Jesu kommt der Gemeinde insgesamt zugute und dem einzelnen insoweit, als er in ihrer Gemeinschaft verbleibt. Der Doppelname »Jesus Christus« in le, aus 1,3 her- le übergeholt, ist mit dem Attribut »gerecht« versehen, das in Parallele steht zur Gerechtigkeit Gottes in 1,% und in Opposition zu unserer Ungerechtigkeit in 1,9d. Auf Jesus trifft zu, was wir nur fälschlicherweise von uns behaupten, sündlos zu sein. Nur als der Sündlose kann er für uns Sünder wirksam eintreten99• Die folgenreichere Wirkungsgeschichte hat der von Jesus unterschiedene Geist- Wirkungsparaklet des Evangeliums ausgelöst. Man hat ihn identifiziert mit Montanus, mit geschichte Mani, mit dem novus dux des Joachimismus, den die Franziskanerspiritualen auf Franziskus deuteten, oder, in der idealistischen Philosophie, allgemein mit dem kommenden Reich des Geistes lOO • überlagern könnten sich die unterschiedlichen Konzeptionen von Brief und Evangelium in der Epistula Jacobi aus Nag Hammadi (NHC 1/2). Dort fällt das Wort »Paraklet« (11,12f) in einer Passage, die sich an die Abschiedsre~en anlehnt101 • Aber es ist Jesus selbst, der beim Vater für die Jünger bittet (11,4f). Das 1
96 Anders Balz 169; Bonnard 35, die für IJoh 2,1 eine Weiterentwicklung der Parakletenvorstellung konstatieren wollen. 97 G. Johnston, The Spirit-Paraclete in the Gospel of John, 1970 (MSSNTS 12), 75-77, datiert den Brief früher als das Evangelium und· sieht eine bruchlose Fortschreibung von IJoh 2,1 zum »anderen Parakleten« in Joh
14,16. 98 Augustinus 130: »Obwohl er ein gerechter und großer Mann war ..., hat er es vorgezogen, sich unter die Zahl der Sünder zu rechnen, um Christus zum Anwalt zu haben, anstatt sich selbst zum Anwalt an Christi Stelle zu machen und sich unter denen wiederzufinden, die wegen ihres Stolzes verdammt werden.«
99 Vgl. Schnackenburg 92. In seiner Wiedergabe von Gen 18,20-33 schreibt Philo, Migr 121f: Nur als Gerechter konnte Abraham eine Stütze für die Menschen sein und Gott um Erbarmen anflehen. 100 Vgl. die Einzelnachweise bei G. Bomkamm, Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte, in: ders., Geschichte und Glaube I, 1968 (BEvTh 48),
90-103. 101
Vgl. P. Perkins, Johannine Traditions in
Ap. Jas. (NHC 1,2), JBL 101 (1982) 403-414. In PrecPl NHC 1/1 A, 16-18 findet sich die Verbindung: »Der Menschensohn, der Geist, der Paraklet der Wahrheit.«
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Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
Bestreben geht offenbar dahin, ihn mit dem Parakleten gleichzusetzen, wie es nach Exc Theod 23,1 auch die Valentinianer tun. 2 Einige Fragen ergaben sich aus dem Nebeneinander der Parakletenbezeichnung für Jesus und für den Geist im Rahmen der Trinitätslehre. Origenes erkennt diese Spannung und löst sie, indem er - der Wiedergabe durch Rufinus zufolge - für die Abschiedsreden die Übersetzung consolator und für den Brief deprecator einführt. Die jeweiligen Aufgaben seien deutlich unterschieden102. Weiter ausgearbeitet hat diesen Ansatz Gregor von Nyssa in seiner Schrift gegen den Arianer Eunomius. Nach ihm wendet das NT den Titel »Paraklet« auf alle drei göttlichen Personen an, nicht nur auf den Sohn und auf den Geist, sondern auch auf den Vater. Den Schriftbeleg dafür gibt Paulus in 2Kor 1,3f an die Hand: Gott ist der »Gott allen Trostes (:7taeUKA:tlOEW~), der uns tröstet (:7taeUKaAroV) in all unserer Trübsal«. Die verschiedenen Dimensionen des :7taeUKaAELV illustriert Gregor sodann mit 2Kor 5,20 und 7,6 103. Mit Hilfe dieses etwas gewaltsamen exegetischen Kunstgriffs erreicht er, daß die Rede vom Parakleten, weit davon entfernt, ein unlösbares Problem in die Trinitätslehre hineinzutragen, gerade das eine Wesen in der Verschiedenheit der Personen einfängt. 3 In der Reformationszeit wurde IJoh 2,1 in den Streit um die Heiligen-, namentlich um die Marienverehrung hineingezogen. Wie kann man sie als Fürsprecher anrufen 104, wenn es nach der Schrift keinen anderen Fürsprecher gibt als Jesus Christus allein? Mit großer Schärfe sagt Calvin zur Stelle: »Soviele Fürsprecher (patronos) die Papisten sich verschaffen, so viele Götzen (idola) stellen sie gegen Christus auf« (309t). Die Verteidiger des katholischen Brauchtums105 versuchen, den Unterschied zwischen der Fürsprache Jesu und dem Eintreten der Heiligen herauszuarbeiten, der nicht nur graduell, sondern prinzipiell gesehen werden muß. Jede Fürbitte kann letztlich nur im Erlösungswerk Jesu Christi gründen, dessen Exklusivität und Einmaligkeit nie in Frage gestellt werden darf. Das Problem liegt weniger in der Theorie, sondern in einer Praxis, die diese Grenze nicht immer gebührend respektiert. Hier bedarf die Volksfrömmigkeit des kritischen Korrektivs von Exegese und Theologie. Erklärung Daß Jesus jetzt im Himmel als Paraklet wirken kann, hat eine Voraussetzung, 2a die 2a nachträgt. Durch das, was er auf Erden erlitten hat, wurde er zur »Sühne für unsere Sünden«. Er plädiert, wenn wir bei dem Bild vom göttlichen Gerichtshofbleiben, nicht auf Unschuld des Angeklagten, sondern er macht geltend, daß die Tilgung der tatsächlichen Vergehen von ihm schon längst erbracht wurde. Die Sühnekonzeption von 2a gibt immer wieder Anlaß zu erbitterten theologischen Kontroversen. Gehen wir dem zunächst auf der sprachlichen Ebene nach. Sühne WxOfl6~ hängt mit MOKEO'frm zusammen, was soviel bedeutet wie besänftigen, begütigen, versöhnlich oder heiter stimmen. Die Konstruktion mit :7tEQ( in V. 2 verweist auf die LXX, wo die Wortgruppe - am häufigsten gebraucht wird E1;WiOKEO'frm - das 102 Princ 11 7,4. Vgl. A. Casurella, The Johannine Paraclete in the Church Fathers. A Study in the History of Exegesis, 1983 (BGBE 25), 4f mit Anm. 20. 103 Eunom 185f. Vgl. Casurella, ebd. 65 (weiteres ebd. 91f.127).
Es heißt in der marianischen Antiphon Salve Regina in der Tat: Eia ergo, advocata nostra. Zu Luthers Umgang damit s. Posset, Christology 124-128.198f. 105 Z.B. Lallemant 201f; a Lapide 533f. 104
l]oh 2,2a: Sühne
107
hebr. '!)j wiedergibt, oft in Texten, die von einem Sündopferritual handeln (z.B. Lev 5,6). Der große Versöhnungstag heißt in Lev 25,9 LXX t] t]!JfQu tO'Ü lAao!Wü, weil an ihm Entsühnung von allen Sünden geschaffen wird (Lev 16,16 LXX: ~W'wE'tUt ... :TtEQI, :Ttumöv "tÖ>V aIlUQttÖ>v), und zwar dadurch, daß der Hohepriester das Blut des Opfertieres auf den »Sühnedeckel« (Lev 16,15 LXX: I.A.<W"t'l')Qwv), d.h. auf die Goldplatte über der Bundeslade sprengt. In Lev 12,7 steht ~WioE'tm neben XU{}UQtEL (vgl. 1Joh 1,7), in Lev 4,20 neben acpE"ßi]oE'tm (vgl. 1Joh 1,9). Religionsgeschichtlich gesehen haben Sühnopfer den Zweck, jenseitige Mächte, die man als unberechenbar und bedrohlich empfindet, in ihrem Zorn zu beschwichtigen. Ihren Strafaktionen will man mit Gesten der Unterwerfung und des Verzichts zuvorkommen. Im Bedarfsfall greift man zu drastischen Mitteln, die bis zum Menschenopfer reichen106 . Einem aufgeklärten Bewußtsein erscheint ein solches Gottesbild unannehmbar. Man hat deshalb für die LXX eine Sonderbedeutung von W't<Jl(Eo{}m postuliert, die derartige Ober- und Untertöne ausschließt. Wenn Gott wie oft im AT Subjekt des Verbs sei, meine es lediglich »vergeben«. Die Entsühnung, die der Priester vornimmt, habe nicht Versöhnung Gottes zum Ziel, sondern wolle den Menschen rein waschen von seiner Schuld. Er wird wieder kultfähig gemacht, so daß er sich erneut vor Gott präsentieren kann107. Das ist aber, wie die Kritik gezeigt hat, nicht strikt durchzuhalten, weil es auch Fälle gibt, wo sich die Entsühnung der Intention nach an Gott richtet, und weil der Kontext nicht selten den Zorn Gottes erwähnt108 . Einen Schritt weiter führt das stark hellenisierte vierte Makkabäerbuch, das dem Tod des Märtyrers sündentilgende Kraft zuschreibt. In seinem Fürbittgebet richtet der sterbende Eleazar an Gott die Worte: »Sei gnädig ('lAEw~) deinem Volk. Laß dir an unserer Bestrafung genügen, die wir für sie auf uns nehmen. Zu einem Reinigungsopfer für sie mache mein Blut« (4Makk 6,28f). Von den gemarterten Frommen sagt 4Makk 17,21f im Rückblick: »Sind sie doch zu einer Art Ersatzleistung für die Sünden des Volkes geworden. Durch das Blut jener Frommen und ihren sühnenden Tod (lAaO'tl]Qwu {}uvu"tou) hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer heimgesuchte Israel gerettet.« Die kultischen Denk- und Sprachmuster werden benutzt, um ein eminent personales Geschehen zu deuten, nämlich die gehorsame Lebenshingabe derer, die dem Gesetz treu bleiben und so zu einem Segen für ihr Volk werden109• Das hat Gott in seiner Vorsehung so geplant, die Handlungsinitiative liegt also bei ihm. Damit sind Bahnen vorgezeichnet, die es ermöglichen, in der frühen christologischen Reflexion das Sühnopfer als ein Erklärungsmodell neben anderen für den Kreuzestod Jesu einzusetzen.
106 Vgl. Plutarch, Fab Max 18,3: Als schweres Unglück die Stadt trifft, werden alle Riten ausgeführt, die zur Besänftigung (:rtQo<; (AaO!-tOll<;) der Götter geeignet erscheinen. Dazu gehört auch, daß man eine Vestalin lebendig begräbt und eine andere in den Selbstmord treibt. 107 Vgl. Dodd*. hn Englischen arbeitet man mit der Unterscheidung von »expiation« (akzeptabel) und »propitiation« (inakzeptabel), vgl. Thornton*. Schon Paulus 125-167 läßt
nichts unversucht, um mit philologischen Mitteln aus AT und NT den Sühnegedanken zu eliminieren. 1Joh 2,2 gibt er ebd. 166 so wieder: Gott ist lauter Erbarmung und Verzeihung. lOB Vgl. Hill, Words (s. S. 65, Anrn. 47), 2348, bes. 24f. 109 Vgl. K. Grayston, 'DLtO'XEattm and Related Words in the LXX, NTS 27 (1981) 640656, hier 650-652; HJ Klauck, 4. Makkabäerbuch, 1989 aSHRZ III/6), 670-672.
108
Jesus als Fürsprecher (2,1-2)
Der Verf. verwendet in 2a eine ältere christologische Formel, die etwa so lautete: »Christus ist Sühne für unsere Sünden.« Sie ist verwandt mit der Dahingabeformel (»Christus hat sich für uns dahingegeben«)l1O. Die Wahl eines Abstraktums wie »Sühne« als Christusprädikat hat Parallelen, z.B. in 1Kor 1,30: Er ist für uns »Rechtfertigung und Heiligung und Erlösung« geworden. Der Briefautor hat das Abstraktum stehen lassen, weil das die Aussage der Formel ins Endgültige, Allumfassende hebt (vgl. das neutrische ö im Anfangsvers). Inhaltlich befindet sich die Vorlage in der Nähe einer vorpaulinischen, dem hellenistischen Judenchristentum entstammenden Überlieferung in Röm 3,25: »Den Gott hingestellt hat als Sühneort (iAaoti')QLOv) in seinem Blut zur Vergebung der Sünden.« Den Vorstellungshintergrund bildet der große Versöhnungstag aus Lev 16, der auf Golgota seine eschatologische Erfüllung gefunden hat 111 . Die Gestalt des Parakleten ordnet sich hier ohne weiteres ein. Wir haben gesehen, daß bei Philo und im Hebräerbrief die Fürsprache bei Gott mit dem Tun des Hohenpriesters verbunden wird, der durch sein sühnendes Opferhandeln Vergebung der Sünden bewirkt. Im Text führt eine direkte Linie von 1,7de über 1, 9cd zu 2,2a. In Jesus Christus handelt Gott und schafft unter Respektierung der menschlichen Freiheit, die sich im Gehorsam seines menschgewordenen Sohnes realisiert, jene Sühnung menschlicher Schuld, die Menschen von sich aus nie erbringen könnten. Das bestätigt lJoh 4,10, die zweite und letzte Stelle, an der im NT !Aaafl6~ vorkommt: Gott »hat seinen Sohn gesandt als Sühne für unsere Sünden«. Wenn hier die Sühneaussage mit der Sendungsformel gekoppelt ist, ersehen wir daraus, daß zwar das Hauptgewicht auf dem Kreuzestod liegt, aber auch das Menschsein Jesu in das Sühnegeschehen einbezogen wird. Zu dem Sohnestitel in 1,7 und 4,10 tritt in 2,1 das Beim-Vater-Sein des Parakleten Jesus. Der Sohn wirft sich nicht als Opfer einem wütenden Gott in den Weg, um ihn vom Schlimmsten abzuhalten. Den Weg, den er zurückgelegt hat, ist mit ihm Gott selbst gegangen112 . Wir stehen vor einem doppelten Paradox: Gott wird versöhnt, aber er selbst ist der, der versöhnt, und: Christus handelt als Hoherpriester, der das Opfer darbringt, ist aber selbst zugleich die Opfergabe. Dadurch wird die kultische Sprache, die das Gemeinte sowieso nur mühsam einfangen kann, von innen her zerbrochen. Sie gibt den Blick frei auf ein Geschehen, in dem die Liebe Gottes zu den Menschen unverstellt zum Ereignis wird. 2bc Die Sühneaussage von V. 2 reicht weiter als die Parakletenvorstellung von V. 1. Als Paraklet tritt Jesus im Himmel nur für uns, d.h. für die Christen ein, sofern sie in Sünden fallen (ansonsten gilt Joh 16,26: »Ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten werde«). Sein Sühnetod auf Erden kommt in seiner bleibenden soteriologischen Auswirkung der ganzen Welt, d.h. bei Johannes der Menschenwelt, der Menschheit, zugute (2c).
Vgl. Wengst 63f. Vgl. schon Origenes, Horn in Lev 9,5; dazu Brown 220f.
110 111
112
vgl. Gaugier 92f.
l]oh 2,2bc: Welt; 2,2: Wirkungsgeschichte
109
Man stutzt an dieser Stelle zunächst, weil man es eher gewohnt ist, Kosmos Welt bei Johannes als dezidiert negative Größe zu sehen113 . Die Welt will den Offenbarer nicht anerkennen (Joh 1,10), sie haßt Jesus (7,7) und seine Jünger (15,18), sie kann den Geist der Wahrheit nicht aufnehmen (14,17), sie steht unter der Herrschaft des Bösen (14,30). Auf eine vergleichbare Abwertung des Kosmos stoßen wir im Dualismus der Apokalyptik und in der weltflüchtigen hellenistischen Mystik (vgl. CorpHerm 6,4: »Dieser Kosmos ist die Fülle des Bösen«). Aber das ist ein sehr einseitiges Bild, wie mit einfachen statistischen Mitteln gezeigt wurde 114 . In der ersten Hälfte des Evangeliums überwiegen die positiven Stellungnahmen: Jesus nimmt die Sünden der Welt hinweg (1,29), Gott will die Welt retten (3,16-17), Jesus ist ihr Heiland (4,42), er gibt sein Fleisch dahin für das Leben der Welt (6,51; vgl. noch 12,46-47). In der Verlängerung dieser Aussagenreihe steht 2c. Zuvor war in 1,7e. 9d die Reinigung von jeglicher Sünde in Aussicht gestellt, aber eingeschränkt auf Christen. 2bc summiert das und überbietet es noch115 . Die Grenzen der Gemeinde sind gesprengt. Sie kann sich nicht in elitärem Bewußtsein zurückziehen und die Weh sich selbst überlassen. Ob der Autor damit einen geziehen Seitenhieb gegen esoterische Bestrebungen seiner Gegner anbringen will 116 , ist nicht sicher. Dieser Dissens dürfte tiefer reichen und die Möglichkeit oder Notwendigkeit der Sühnung durch den Tod am Kreuz überhaupt betreffen. Im Verlauf der Auslegung von V. 2 melden sich immer wieder Tendenzen zu Wort, Wirkungsdie den Universalismus von 2c ekklesiologisch eingrenzen wollen. Verhältnismäßig geschichte großzügig zeigt sich noch Ps.-Oecumenius 629D, wenn er ~fA.Ö:>v aus 2ab auf die Juden deutet und den Kosmos auf die Heiden, denen die Möglichkeit geboten ist, sich zur Kirche zu bekehren. Augustinus versteht darunter von vornherein nur die Kirche, die unter vielen Völkern und in der ganzen Welt verbreitet ist, womit er wie immer Nachahmer findet 117. Calvin spannt die verengte Sicht in den Rahmen seiner Prädestinationslehre ein. Jene »Wahnwitzigen«, die aus dem Vers die Lehre von der Allversöhnung ableiten, hält er nicht einmal einer Entgegnung für wertllS . In der Neuzeit
Man vergleiche die Probleme, die Baumgarten 196 mit dem Vers hat. 114 Vgl. N.H. Cassem, A Grammatical and Contextual Inventory of the Use of KOOj.l.O<; in the Johannine Corpus with some Irnplications for a Johannine Cosmic Theology, NTS 19 (1972/73) 81-91. Andere Wege geht Grayston 56f, der Kosmos lediglich als »andere Leute« außerhalb der eigenen Gruppe definiert. Vgl. weiter zu 2,15-17. 115 Vgl. dazu die Überbietung einer atl. Aussage wie Lev 16,17 (Sühne für ganz IsraeO durch Philo, SpecLeg 1,97: »Die Priester der anderen Völker pflegen nur für ihre Angehörigen, Freunde und Mitbürger die Gebete und 113
Opfer zu verrichten, der jüdische Hohepriester dagegen spricht seine Bitt- und Dankgebete nicht nur für das ganze Menschengeschlecht, sondern auch für die Teile der Natur ...« (Übers. 1. Heinemann, Werke II 37f). 116 So Bonnard 36; anders Schnackenburg 93: »Ohne besondere Spitze«. 117 Augustinus 132; Martin von Leon 258B. An einer universalen Sicht hält a Lapide 534 fest, schließt aber vorsorglich die Exkommunizierten davon aus. 118 Er spricht 310 von phreneticorum deliria. Kritik daran aus lutherischer Sicht bei Sander 101: »Vergeblich ereifert sich Calvin ... «
110
Die Gebote halten (2,3-11)
macht sich das Bestreben bemerkbar, 2c in den Dienst der persönlichen Heilsgewißheit zu stellen. Wenn von Sühne für alle Welt gesprochen wird, »besteht also kein Grund, daß ich mich ausschließe. Ich soll mich hier mitrechnen!«119 Das Umgekehrte wäre richtiger. Der einzelne soll einsehen: »Er kann nur selig werden, sofern sein Geschlecht selig wird.«120 Wie aber soll man sich die Tätigkeit Jesu als Fürsprecher eigentlich vorstellen? Gregor von Nazianz gibt zur Antwort: Sicher nicht so, als ob Jesus »sich vor dem Vater niederwerfe oder sklavisch ihm zu Füßen falle ..., sondern durch das, was er als Mensch gelitten hat, überredet er Gott nun zur Geduld«121. Der Sohn bringt sein Menschsein, das ihn ans Kreuz und in den Tod geführt hat, in die österliche Gemeinschaft mit dem Vater ein122, was Offb 5,6 mit dem Bild vom geschlachteten Lamm am Throne Gottes wiedergibt.
Zusammen- Erst im Zusammenklang von 2,1 und 2,2 findet die Frage nach dem Grund fassung und der Art und Weise der Fürsprache Jesu, die das theologische Denken bewegt hat, ihre Antwort. Es besteht ein unaufhebbares Wechselverhältnis zwischen der Fürsprache an Gottes Thron im Himmel und dem sühnenden Leiden und Sterben des Menschgewordenen. Die Erlösungstat, die von der Last der Sünde befreit, ist bleibend gegenwärtig und strahlt auf die Zeit nach Ostern aus, denn der Auferstandene trägt auch in seiner himmlischen Seinsweise die Spuren seines Kreuzestodes am Leib (Joh 20,27). Das kann nicht ohne Folgen für das Gottesbild selbst bleiben. Es rückt von der Vorstellung des strengen Richters, der Sünden unerbittlich straft, ab und betont jene Züge der sorgenden Güte und Liebe, die in die Bezeichnung Gottes als Vater eingegangen sind. Durch das Eintreten Jesu Christi für uns in Vergangenheit und Gegenwart wird Vergebung der Sünden auch in Zukunft möglich sein, darin liegt Hoffnung beschlossen nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die Welt.
2
Die Gebote halten (2,3-11)
Der neue Abschnitt 2,3-11 bildet in mehrfacher Hinsicht eine Parallele zum ersten Textblock in 1,5 - 2,2 123 . Wiederum tauchen drei Schlagworte auf, in direkter Rede in 4b und verkürzt zu einem Infinitiv in 6b und 9b. Die Einleitungsformel ändert sich. Statt »wenn wir sagen« heißt es jetzt »wer sagt« (0
Asmussen 40. Rothe 48. 121 Or 30,14. 122 Ps.-Hilarius 110 definiert geradezu: propitiatio, id est corporis nostri ostensione in divinitate. VgL Beda 289; Düsterdieck I 158: »Weil der Sohn Mensch geworden ist, des119 120
halb hat gerade er ein wahrhaft brüderliches Mitleid mit uns ..., wie es in dieser Weise der Vater als solcher nicht hat« (Hervorheb. im Orig.) 123 Vgl. Haupt, Brief 53.57; zur Feingliederung Malatesta, Interiority 119f, im Unterschied zu Brown 247.
lIoh 2,3-6: Übersetzung, Analyse
111
AEywv). Die Anrede in 7a entspricht 2,la, findet sich allerdings an anderer Stelle, nicht am Ende, sondern in der Mitte der thematischen Ausführungen. Aus der Strukturverwandtschaft folgt für den Inhalt: Im Rückgriff auf die Ausgangsthese »Gott ist Licht« von 1,5 erfährt das übergreifende Anliegen eine weitere Explikation. Die Frage nach der Gemeinschaft mit Gott erscheint in neuer Transformation als Frage nach der Erkenntnis Gottes. Die Einforderung des Liebesgebotes in 2,7-11 hat mit den Aussagen über Sünde und Sündenvergebung im vorigen Abschnitt zu tun.
a
Kriterien der Erkenntnis (2,3-6)
Literatur: Alfaro,]., Cognitio Dei et Christi in I Jo, VD 39 (1961) 82-91; vgl. SelTeol1 (1962) 127-130 (Kurzfassung); Boismard, M.E., La connaissance de Dieu dans l' Alliance nouvelle, d'apres la Premiere Lettre de Saint Jean, RB 56 (1949) 365-391.
Und daran erkennen wir, daß wir ihn erkannt haben: c wenn wir seine Gebote halten. 4a Wer sagt: b nlch habe ihn erkanntce, c und (doch) seine Gebote nicht hält, d ist ein Lügner, e und in diesem ist die Wahrheit124 nicht. 5a Wer aber sein Wort hält, b wahrhaftig, in diesem ist die Liebe Gottes vollendet worden. c Daran erkennen wir, d daß wir in ihm sind125 • 6a Wer sagt, b er bleibe in ihm, c ist verpflichtet, d so wie jener gewandelt ist, e auch selbst [S0126] zu wandeln. 3a b
1 . Viennal kommt f:v WUtq> vor, in 3a/5c, wo wir es mit »daran« übersetzt haben, Analyse und in 4e/5b, wo es »in diesem (Menschen)« bedeutet. Der semantische Kontrast bei gleichbleibender syntaktischer Form ist ein Indiz dafür, daß zwei Einheiten miteinan-
124
It
läßt
tv
'toüt
ttroü (aus Sb): »Und die Wahrheit Gottes ist nicht (vorhanden).« Hier ergänzt 'I' mit einem Teil der Lateiner: »... wenn wir in ihm vervollkommnet worden sind«. Unter Zuhilfenahme von Sb wird die Struktur von V. 3 nachgeahmt. 125
126 Das oi'rtooc; ist durch It, die Koine u.a. gut bezeugt; es fehlt in A B und der Vulgata. Möglicherweise liegt eher eine nachträgliche AuHüllung als eine Auslassung vor (vgl. Smalley 42; anders Braune 39), doch fällt die Entscheidung schwer.
112
Kriterien der Erkenntnis (2,3-6)
der verzahnt worden sind, nämlich eine thematische Rahmung in 3abc/5cd und die doppelte Behandlung von Schlagworten in 4a-5b und 6a-e. Die Verzahnung erfolgt zwischen V. 3 und V. 4 durch die Stichworte »erkennen« und »Gebote halten«. V. 6 ist dadurch eingebunden, daß der Schlußsatz in 5d mit Ev airtep EOJAEV bereits das Ev airtep !AiVELV von 6b vorbereitet. Das heißt aber nicht, daß 5cd unmittelbar mit V. 6 zusammengenommen werden dürfte, als gäbe V. 6 ein von 5cd gefordertes weiteres Erkenntniskriterium an 127• Dazu hat die Inklusio mit V. 3, die 5cd den Charakter eines Zwischenresümees verleiht, zuviel Gewicht. 2 Besonders eng sind die Berührungen zwischen 2,4 und 1,6:
1,6 Wenn wir sagen: »Wir haben Gemeinschaft mit ihm« und (doch) im Finstern wandeln, lügen wir und tun die Wahrheit nicht.
2,4 Wer sagt: »Ich habe ihn erkannt« und (doch) seine Gebote nicht hält, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit
nicht. Es folgt in 1,7 und in 2,5 die positiv gewichtete Antithese, die im Wortlaut aber weit . auseinandergeht. Das Schlußglied in 2,4e hat außerdem eine fast wörtliche Parallele in 1,8d. 3 Umstritten ist die Referenz von airt6v 3b.4b, airtO'ü 3c.4c.5a und Ev airtep 5d.6b. Der nächste Bezugspunkt wäre »Jesus Christus« in 2,1e (vgl. das davon abhängige a'Ö"t6~ in 2,2a). Die Pronominalisierung des ganzen Abschnitts ginge dann auf Christus128• Die Erkenntnis Christi, das Gebot Christi und das Bleiben in Christus wären die tragenden Anliegen. Dagegen spricht aber die interne Opposition von airt6v etc. an den genannten Stellen und b.ELVO~ in 6d. 1Joh benutzt b.eLVO~ fast schon idiomatisch für Christus129• Demnach sollte airt6~ jemand anderen meinen. Zu »seine Gebote« in 3c/4c ist zu bemerken, daß in 3,23 und 4,21 höchstwahrscheinlich und in 2Joh 4 ausdrücklich Gott als Geber des Liebesgebotes in Erscheinung tritt. Das führt über das Evangelium hinaus, wo es als Jesu Gebot begegnet Ooh 13,34; 15,12; vgl. 14,15.21; 15,10), obwohl in anderer Hinsicht auch Jesus dem Gebot des Vaters folgt, das ihn zur Lebenshingabe bewegt (vgl. 10,18; 12,49-50; 14,31; 15,10). Man wird hier wie immer die johanneische Wirkeinheit von Vaier und Sohn zu beachten haben, aber das darf nicht dazu führen, den Pronomina in 2,3-6 eine präzise Funktion abzusprechen130. Es kommt hinzu, daß airt6~ und airtO'ü in dem teils parallelen Satzgefüge 1,6-7 Ö il-E6~ aus 1,5d aufnehmen. Wir deuteten schon an, daß 2,3-11 nicht als unmittelbare Fortsetzung von 2,1-2 zu lesen ist, sondern als Wiederaufnahme des gesamten Abschnitts 1,5 - 2,2. Aus alldem ergibt sich, daß 2,3-6 unmittelbar von Gott handelt131 und nur in 6d durch b.Eiv~ die christologische Vermittlung angesprochen
wird. Vgl. die Übersetzung bei William 22: »Here is the test by which we can make sure that we are in him: whoever claims to be dwelling in him ...«; ebenso Bruce 52; Chaine 156. 128 Dafür entscheiden sich Neander 58f; Calmes 72; Lauck 479; Painter, Opponents 58. 129 Vgl. nur 3,3.5.7.16. Aus dem Evange127
Iium bes. Joh 2,21; 3,30; 7,11; 19,21. Dazu Jamblichos, Vit Pyth 88 und 255: Die Pythagoräer nennen Pythagoras nie mit Namen, sondern bezeichnen ihn nach seinem Tod als »jenen (txEivov) Mann«. 130 Dazu neigen Hauck 121; de Jonge 74; Dodd 31. 131 So auch Brückner 364f; Michl 209; Ruckstuhl 46f; Vrede 154.
lJoh 2,3: Erklärung
113
In äußerster Kürze entfaltet V. 3 eine theologische Erkenntnis- und Hand- Erklärung lungstheorie. Der zentrale Begriff ist YLVWO'XELV, erkennen, der in 3a im Prä- 3a sens (vgl. Sc) und in 3b im Perfekt (vgl. 4b) steht, was auf eine unterschiedliche semantische Reichweite hindeutet. Die Einleitung mit »daran erkennen wir« hat formelhaften Klang. Sie kommt in lJoh 8mal vor132• Angebahnt ist diese Redeweise im Evangelium durch die teils als redaktionell eingestufte Stelle Joh 13,35: »Daran werden alle erkennen, daß ihr mir Jünger seid, wenn ihr Liebe habt zueinander.« Man sieht schon an diesem Beispiel, wie der Inhalt und die Kriterien des Erkennens in den Nebensätzen entfaltet werden. Für die Reichweite von f:v "tom
verbindung »Gott erkennen« als ungriechisch ein, fühlt sich durch sie »wie in eine andere Welt versetzt« und spricht von orientalischem Material, »das mit hellenischem Wesen eigentlich nur die griechischen Buchstaben gemeinsam hat« (95).
114
Kriterien der Erkenntnis (2,3-6)
sich dieser Vorgang an der wachsenden Verbreitung der Mysterienkulte, die Erkenntnis durch Initiation versprechen. Die geheime Weihe verbürgt Teilhabe am mythischen Schicksal der Gottheit und schenkt die Gewißheit individueller Rettung. Auf diesen Bahnen bewegt sich auch die Gnosis, die das Erkennen als Programm in ihrem Namen trägt. Das Erkennen hat in der Gnosis soteriologischen Rang, es bedeutet für den Erkennenden Heilsgewinn, aber es spielt sich zugleich losgelöst von aller äußeren Wahrnehmung nur noch im Innern des Menschen ab. Erkenntnis wird nur durch Offenbarung geschenkt. Der Gnostiker macht sich die dualistische Weltsicht des Erlösermythos zu eigen und bestimmt von da aus seinen Standort in der Welt 135 . Durch Erkenntnis vergewissert er sich seines göttlichen Ursprungs und seines göttlichen Wesens 136 . Von alldem müssen wir den biblischen Erkenntnisbegriff, der seine Besonderheiten aufweist, noch einmal absetzen137• Schon im profanen Bereich impliziert die Wurzel lT1' über das kognitive Wahrnehmen hinaus einen praktischen Bezug zum Erkenntnisgegenstand und, wo es um Menschen geht, eine existentielle Anteilnahme. Entsprechend verhält es sich mit der Aussage »Gott kennen« bzw. »Gott nicht kennen«. Im Kontext wird »kennen« oft parallel geführt mit Gott »fürchten« (lKön 8,43), ihm »dienen« (lehr 28,9), an ihn »glauben« (Jes 43,10), ihn »anrufen« (Ps 79,6). Daß es »keine Gotteserkenntnis im Lande« gibt, wirkt sich nach Hos 4,lf im Übertreten sämtlicher Gebote aus (vgl. Jes 1,31). Das ins Herz geschriebene Gesetz des neuen Bundes hat zur Folge, daß der mahnende Ruf »Erkennet den Herrn« verstummen kann, weil alle ihn dann erkannt haben werden (Jer 31,34). Trotz des griechischen Sprachgewandes hält Philo an der Verbindung von Erkenntnis und Gebot fest, wenn er aus Anlaß des zweiten Dekaloggebotes schreibt, mit seiner Hilfe solle die Menschheit zur »Erkenntnis des wahrhaft Seienden« gelangen (Decal 81). Der Beter der Qumranpsalmen dankt für die gottgeschenkte Erkenntnis (IQH 14,121), die ihn an Gottes Wort festhalten läßt (14,15: »alle, die dich kennen, ändern deine Worte nicht«) und ihm Abscheu gegen die Frevler (14,14) und den »Weg des Trugs« (14,251) einflößt138 .
Im johanneischen Schriftenkorpus kommt das Verb YLVOOO'X.€LV häufig vor (56mal im Evangelium, 26mal in l/2Joh), das Substantiv YVÖJaL~ fehlt. Ob 135 Vgl. als beliebig herausgegriffene Textbeispiele CorpHerm 10,9 (I 117fNock-FestugIere): »... die Erkenntnis (yv<öo~) unterscheidet sich gründlich von der Wahrnehmung (aLcrlhloEoo<;). Denn Wahrnehmung geschieht vom greifbaren Objekt her ... Erkenntnis aber ist vollendetes Wissen und als solches Geschenk Gottes«; Manich. PsalmBook 268 (86,15-18.27f Allberry): »Ich habe meine Zunge nicht mit Lästerung beschmutzt aufgrund der Erkenntnis, die du mir gabst, bezüglich der Trennung dieser beiden Rassen, der des Lichtes und der der Finsternis ... Das Lichtkreuz, das der Welt Leben gibt,
habe ich erkannt und daran geglaubt«; Prec Val NHC XI/2A 40,30-34: »Dies ist die Fülle (31:A:r"ieOO!ID) der Summe (XElpaAaLOV) der Erkenntnis (yv<öo~), die uns offenbart hat unser Herr Jesus, der Christus, der Eingeborene.« 136 PrecHerm NHC VIl7 64,18f: »Du hast uns göttlich gemacht durch deine Erkenntnis.« 137 Zum folgenden W. Schottroff, THAT I 689-697; G.J. Botterweck, ThWAT III 480482 (Lit.).498-500. 138 Dazu H.-W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil, 1966 (StUNT 4), 139175.
IJoh 2,3: Erklärung, Wirkungsgeschichte
115
dieser Befund schon als Frontstellung gegen Frühformen der Gnosis interpretiert werden soll, ist eine Frage. Die Koppelung von Erkenntnis Gottes und Halten seiner Gebote stellt ein Spezifikum des IJoh dar, was eine im Vergleich zum Evangelium veränderte Situation sichtbar macht. Einen Anhaltspunkt gibt im Johannesevangelium eigentlich nur 8,55 an die Hand: »Und ihr kennt (tyv6Yxa'tE) ihn nicht ... Ich aber kenne (oiöa) ihn und halte sein Wort.« In 3c wird an die Erkenntnistheorie eine Handlungstheorie angeschlossen. Erklärung Wie dem Sollen immer das Sein vorausliegt und größer ist, so dem Handeln 3c das Erkennen. Aber das Sein hat Folgen für das Sollen und das Erkennen für das Handeln. Den Hintergrund bildet der biblische Erkenntnisbegriff, der die praktischen und existentiellen Konsequenzen des Erkennens mitbedenkt. Für »halten« ist 'tl']QELV gewählt, das ein Moment des Bewahrens und des Andauerns einschließt139. Der Plural »Gebote« kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Argumentationsgefälle auf das eine Liebesgebot hin abzielt. In differierenden Situationen kann es sich in unterschiedlichen Einzelanforderungen konkretisieren. Immer geht dem Handeln des Menschen das Handeln Gottes in Christus Jesus voraus. Aus der liebenden Selbsthingabe Jesu, mit der er das Gebot des Vaters gehorsam einlöst (Joh 10,18), bezieht das Liebesgebot seine Motivationskraft. Das Halten der Gebote ist kein rein äußerliches Kriterium für die Gotteserkenntnis, das seine Existenz positivistischer Setzung verdankte, es darf ebensowenig zur Bedingung der Gotteserkenntnis emporstilisiert werden. Vielmehr ergibt sich die Praxis des Liebesgebotes im christlichen Leben als ebenso selbstverständliche wie notwendige Folge aus der geschenkten Erkenntnis Gottes. Das erste ist also das Erkennen Gottes, das zweite das Halten der Gebote, nicht als Leistung, sondern als spontane Antwort der Liebe, und das dritte das Erkennen von 3a als Selbstvergewisserung des eigenen Glaubensstandes. Aber mit diesem logischen Zergliedern laufen wir Gefahr, an der Intention des biblischen Autors vorbeizuzielen, für den diese Komponenten im Glaubensvollzug ineinanderfallen. V.3 bot sich dazu an, über das Verhältnis von Erkennen und Tun, von Glaube und WirkungsWerk und über die Möglichkeit von Heilsgewißheit nachzudenken. Clemens von geschichte Alexandrien stellt heraus, daß der Erkennende (yvwO"tLx6~) immer auch die »geziemenden Werke« tun wird, daß man aber umgekehrt aus dem Tun von Werken keinesfalls auf die Echtheit der Erkenntnis schließen dürfe, weil das Tun auch aus Furcht vor Strafe oder um der erhofften Belohnung willen geschehen könne 140. Calvin be139 Die LXX bevorzugt
wurde als von der sokratischen Philosophie, ob Nicht-Erkennen schon zur Herleitung des Bösen genüge; vgl. die erhellenden Ausführungen von G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1983 (FRLANT 131), zu Röm 7.
116
Kriterien der Erkenntnis (2,3-6)
tont, es gehe aus V. 3 nicht hervor, daß der Glaube von Werken abhänge: »Obwohl ein jeder an seinen Werken ein Zeugnis für seinen Glauben hat, beruht dieser nicht auf ihnen; sie sind eine spätere Bewährung, die als Zeichen hinzutritt. Glaubensgewißheit gründet einzig auf der Gnade Christi.«141 Dem hat das Trienter Konzil entgegengehalten, Werke seien nicht nur Frucht und Zeichen der Rechtfertigung, sondern auch Realgrund ihres ständigen Wachstums (DS 1574). Die nachtridentinische katholische Exegese vermerkt zu V. 3 mit antireformatorischer Spitze, das hier angesprochene Glaubenswissen gewähre keine echte Gewißheit, sondern trage nur Hinweischarakter142. Der Autor des 1Joh dürfte das um einiges zuversichtlicher beurteilt haben.
Erklärung Während »Wenn wir sagen« in 1,6.8.10 die Befürchtung des Autors durch4a scheinen läßt, seine Christen könnten sich solche Sätze wie die zitierten zu eigen machen, bringt die neue Zitationsformel 6, /.i:yoov verstärkt zum Ausdruck, daß der Verf. vielleicht mit eigenen Ohren solche Schlagworte in der Gemeinde- und Schuldiskussion vernommen hat143 . Da er soeben in V. 3 selbst die Möglichkeit der Gotteserkenntnis eingeräumt hat, braucht die Be4b hauptung »Ich habe ihn erkannt« in sich noch nicht falsch zu sein, zumal es dafür Vorbilder gibt (vgl. Joh 14,7.17). Der Gegenseite wird nicht unbedingt ein elitäres gnostisches Geheimwissen unterstellt, wie es später Irenäus mit den Gnostikern tutl44 . Die Probleme resultieren daraus, daß der vermeindich 4c Erkennende die Gebote Gottes nicht hält, wie es in Umkehrung von V. 3 in 4c heißt. Auch dafür wird man noch nicht den sittlichen Libertinismus vergleichen, dem sich manche Gnostiker aus ihrem Überlegenheitsgefühl heraus zuwandten145 . Es reicht; wenn ein Verstoß gegen das eine Gebot der Liebe zu 4de den Brüdern und Schwestern vorliegt. Wer so agiert, belügt mit seinen Worten die andern und sich selbst (vgl. 1,6d); er stellt augenfällig unter Beweis, daß bei ihm die Internalisierung der götdichen Wahrheit (vgl. 1,6e.8d) nicht gelungen ist. 5a Das Gegenbild entwirft V. 5. Der Wechsel vom Plural »seine Gebote« zum Singular »sein Wort« in 5a (vgl. 1,10d) deutet - falls es sich überhaupt um mehr als eine stilistische Variante handelt146 - auf die Einheitlichkeit der göttlichen Weisung, einander zu lieben, die sich in die Vielzahl der Gebote verzweigt. Sb Bei der Auflösung der Wortverbindung »Liebe Gottes« in Sb herrscht nach wie vor große Unsicherheit. Handelt es sich um einen Genitivus subjectivus: Gottes Liebe zu uns147 oder um einen Genitivus objectivus: unsere Liebe zu 141
Calvin 311.
A Lapide 534: non certo et demonstrative, sed probabiliter et conjecturaliter; Estius 677; Maß183. 143 Vgl. Bonnard 37. 144 Haer I 24,6: »Diese Erkenntnis können nir"ht viele haben, sondern nur einer aus tausend, zwei aus zehntausend.« l45 Irenäus, Haer I 31,2: »Dies sei die voll142
kommene Erkenntnis, ohne Furcht sich solchen Handlungen hinzugeben, die man nicht einmal nennen darf.« 146 Vgl. loh 14,21 mit 14,23; Joh 8,51; 17,6. Generell FM. Braun, La reduction du pluriel au singulier dans l'Evangile et la Premiere Lettre de Jean, NTS 24 (1978) 40-67. 147 Smith 174f; Schlatter 25f; Schunack 34.
110h 2,5b: Erklärung; 2,4-5b: Wirkungsgeschichte
117
Gott 148 ? Oder muß man beides zusammen heraushören 149 ? Gibt es vermittelnde Lösungen 150 ? Soll man angesichts des Widerstreits der Meinungen die Frage als unlösbar einstufen151? Für einen Genitivus objectivus hat man Ex 20,6 ins Feld geführt: »die mich lieben und meine Gebote halten«, ebenso Jer 2,2, wo die LXX eine Vollendung (U:N::({J)OL~) der Liebe Israels zu Gott kennt. In 1Joh kommt 1:EA.ELOilv nur in 4,12.17.18 im Kontext der Agape vor152, aber gerade in 4,12 spricht, wenn man 4,9-11 berücksichtigt, alles dafür, daß »seine Liebe« die Liebe bezeichnet, die Gott uns erwiesen hat. Es mag befremden, daß dann von einer Vollendung der Liebe die Rede sein kann, als ob es an der Liebe Gottes etwas Unvollkommenes gäbe. Eine Lösung besteht darin, für die Übersetzung »in diesem ist die Liebe Gottes zu ihrem Ziel gekommen« zu optieren153. Wichtiger noch ist aber der Blick auf Joh 13,1: »Da er die Seinen liebte ... ,liebte er sie bis zum Ende / bis zur Vollendung (EL~ 1:EAo~).« Die Vollendung der Liebe Gottes besteht in der Lebenshingabe seines Sohnes für uns, und dies ist auch der Ernstfall der Liebe zu den Brüdern und Schwestern (vgl. 15,12-13). Die Gefahr, daß ein Ausdruck wie »Liebe Gottes« hoffnungslos überfrachtet wird, soll man gewiß nicht unterschätzen. Vor die Alternative gestellt bleibt aber kaum eine andere Wahl, als für 5b Gottes Liebe zu uns, konzentriert in Sendung und Tod seines Sohnes, in Anschlag zu bringen. Sie ermöglicht die Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern, die uns somit nicht als harte Forderung, sondern als Geschenk der Freiheit entgegentritt. Im einflußreichen Kommentar des Nikolaus von Lyra fällt z.St. das Wort caritate for- Wirkungsmata. Damit ist die Gefahr angezeigt, daß die ganze Sachproblematik, die sich an geschichte Röm 5,5 entzündete, in 1Joh 2,5 eingetragen wird. Aber anders als in Röm 5,5 votiert auch die ältere protestantische Exegese zu 1Joh 2,5 mehrheitlich für die Deutung: »unsere Liebe zu Gott«. Die sporadisch vertretene gegenteilige Auslegung führt man gerne auf einen an dieser Stelle unangemessenen antirömischen Affekt zurück154. Harte Worte findet noch 1931 Fritz Horn für ein auf V. 5 aufruhendes Vollendungsstreben von Christen: »Das ist der Aberglaube Roms.«155
148 Holtzmann 332; de Wette 244; Lewis 41.45f. 149 Windisch 114; Vawter 407; Hoskyns 662. 150 Ein Genitivus auctoris z.B.: Gott als Urheber jeglicher Liebe. Schnackenburg 103 arbeitet mit einern Genitivus qualitatis: »göttliche Liebe« als »Wesensart der Gotterzeugten«. Das übernimmt Strecker 97, während Schnackenburg inzwischen seine Meinung geändert hat, vgl. ders., Die Agape Gottes nach Johannes, in: Creatio ex amore. Beiträge zu einer Theologie der Liebe (FS A. Ganoczy), Würzburg 1988, 36-47, hier 37. 151 Brown 257.
152 Vgl. Did 10,5; 1Clem 49,5; 50,3. Eine religionsgeschichtliche Verankerung von "tEA.eLOlrv in den Mysterienkulten intendiert Paulus 168: »... ein bey den Mystificierten besonders beliebter Initiations-Ausdruck«. 153 Vgl. Lenski 408; Balz 170; H. Hübner, EWNTill 826. 154 Vgl. Lücke 243 (»Weil die Römischen Dogmatiker im sechzehnten Jahrhundert diesen Satz im Streit gegen die Evangelische Rechtfertigungslehre mißbrauchten, haben mehrere Protestantische Exegeten jener Zeit ... von der Liebe Gottes zu uns ausgelegt«); Sander 106. 155 Horn 37.
118
Kriterien der Erkenntnis (2,3-6)
Sc Sc zieht die Summe aus dem Vorstehenden. Die Skizzierung einer theologischen Erkenntnistheorie, die auch das Handeln von Christen einschließt, scheint beendet, Kriterien sind an die Hand gegeben. Aber die Diskussion 5d geht weiter. 5d nennt als Inhalt des Erkennens zweiter Ordnung nicht mehr die Erkenntnis Gottes, sondern das Sein in Gott, und bereitet so fast unmerk6a lich V. 6 vor, der das Bleiben in Gott thematisiert. Mit anderen Worten, die Frage nach dem rechten Erkennen wird schrittweise überführt in das typisch johanneische Immanenzdenken, zu dessen sprachlichem Repertoire Elvm EV 6b 5d und ~ELV EV 6b gehören (s. Exkurs 2). Den Ausgangspunkt bildet wiederum eine These in 6b, die lautet: »Ich bleibe in ihm.« !AEVELV
Von 118 Belegen für !AEVELV im NT finden sich 40 im Johannesevangelium und 27 in 112Joh, was mehr als die Hälfte ausmacht. In den Briefen kommt bis auf zwei Ausnahmen immer !AEVELV EV in fester Verbindung vor, während das Evangelium in ca. 50 % der Fälle anders konstruiert. Es dominiert im Evangelium die christologische Ausrichtung: Die Glaubenden bleiben in Jesus und Jesus in ihnen (Joh 6,56; 15,4-7), wie der Vater in Jesus bleibt (14,10). Das Bleiben in Gott hingegen ist ein Charakteristikum des lJoh, ebenso die reziproke Aussage, daß Gott in den Christen bleibt (vg!. 3,24; 4,12f.15f). Vorbilder für diesen Sprachgebrauch gibt es kaum156 . Die johanneische Schule hat sich damit ein unverwechselbar eigenes Ausdrucksmittel geschaffen, das geeignet ist, personale Gemeinschaft auszusagen und zugleich einem mystischen Verschwimmen der Persongrenzen zu wehren. Zwar werden Elvm Ev und !AEVELV EV teils unterschiedslos verwandt, aber ~ELV Ev enthält von der Wortbedeutung her neben der lokalen Nuance stärker das zeitliche Moment des Verweilens, des Überdauerns, der Stabilität in den gegenseitigen Beziehungen. Das erklärt die Vorliebe des Briefautors für ~ELV Ev.
Die These vom Bleiben-in-Gott knüpft an das Evangelium an, namentlich an Joh 15,4-7, wo das Ineinander-Bleiben ins Bild vom Weinstock und den Reben gefaßt ist. Dem widerspricht in eklatanter Weise, daß die Gegner nicht in der Gemeinde geblieben sind (lJoh 2,19) und damit ihr vermeintliches Bleiben-in-Gott selbst als Trug entlarvt haben. Wer weiterhin innerhalb der Restgemeinde vom Bleiben-in-Gott sprechen will, muß sich sagen lassen, 6c daß dies nicht ohne Übernahme einer Verpflichtung (O
Der Überblick bei Heise, Bleiben 1-43, !AfvELV tv nur wenig ein.
trägt für
l]oh 2,5c-6: Erklärung; 2,3-6: Zusammenfassung
119
kann das Leben Jesu für unseren eigenen Lebenswandel ein Vorbild sein? Der Autor nimmt die ganze Existenz Christi, konzentriert im Liebeserweis seines Sterbens, in den Blick und will wohl bewußt auf Joh 13,15 hinlenken, wo ebenfalls das vergleichende und begründende XU{tOO~157 steht: »Ein Beispiel (U:rt60EtYILU) gab ich euch, damit auch ihr so tut, wie ich an euch getan.« Das zielt über den Akt der Fußwaschung (davon in 13 ,14 OCPElAE'tE: dazu seid auch ihr verpflichtet) hinaus auf den Tod für die Seinen, der in der Symbolhandlung zur Anschauung gelangt. Eine Bestätigung findet diese Interpretation158 von 1Joh 3,16 her: Wie Jesus für uns sein Leben hingab, »sind auch wir verpflichtet (OCPELAOfAEV)«, das eigene Leben für den anderen einzusetzen. Die Aufforderung, wie Jesus zu wandeln, hat ihre innere Sinnspitze in der Ausrichtung auf das Liebesgebot, dessen Konsequenzen bis zum Wagnis des eigenen Lebens reichen. Augustinus legt V. 6 auf die Feindesliebe hin aus 159; er führt damit ein unjohannei- Wirkungssches Moment in die Erklärung ein. Ihm folgt Caesar von Arles, der in einer Predigt geschichte zum Thema Feindesliebe mit Bezug auf V. 6 fragt: Welches Exempel hat uns der Herr hinterlassen? Sollen wir wie er Tote auferwecken oder zu Fuß auf dem Wasser wandeln? Nein, wir sollen milde sein und demütig von Herzen und nicht nur die Freunde lieben, sondern auch die Feinde, wie Christus, der am Kreuz für seine Peiniger gebetet hat160. Die Tendenz läuft hin zu einer punktuellen Imitation des Christusweges. V. 6 dient als Motivation für unterschiedliche paränetische Einzelmahnungen: Christen sollen in der drohenden Verfolgung die Treue bewahren161, eine junge Witwe soll keine neue Ehe eingehen162, Christen sollen fasten nach dem Beispiel ihres Herrn163, Mönche sollen sich ernsthafter um die Erfüllungen der Weisungen des Evangeliums bemühen164 - all das wird unterfangen mit dem Hinweis auf den Wandel des Herrn, zu dessen Nachahmung Christen aufgerufen sind. Nahezu verloren geht darüber das unterscheidend christliche Moment 1790 bei Rosenmüller: »Wenn die Pythagoräer den Pythagoras, die Stoiker den Zenon, die Akademiker den Sokrates nachahmen, um wieviel mehr die Christen ChristuS?«165
In streng theologischer Zentrierung kreist der Abschnitt um die Frage nach Zusammender Erkenntnis Gottes und dem Bleiben in Gott. Beide Themen sind aus der fassung johanneischen Gemeindetradition vorgegeben. Die theologischen Gegenspieler des Briefautors reklamieren für sich die vollkommene Realisierung
157 Vgl. o. de Dinechin, KAE>QL: la similitude dans l'Evangile selon Saint Jean, RSR 58 (1970) 195-236, hier 208f. 158 Vgl. zu ihr Kohler 53; Wengst 73; PerlOns 24; auch Heise, Bleiben 125 (in gewisser Spannung zur ebd. 124 vorgenommenen Einbindung des ltEQIJtU1:ELV in das gnostische Wegschema vom Abstieg und Aufstieg des Erlösers). 159 Augustinus 136. 160 Sermo 37,3 (164,6-14 CChr.Sl 103); vgl.
Ml Delage, la premiere epitre de Jean dans les sermons de Cesaire d' Arles, StPatr 15 (1984) 140-145. 161 Cyprian, Ep 58,1 (657,6f CSEl 3). 162 Hieronymus, Ep 54,2. 163 Maximus von Turin, Sermo 69,3 (289,59f CChr.Sl 23). 164 Salvianus von Marseille, De gubernatione 2,14f (196/198 SC 220). 165 Rosenmüller 472.
120
Das alte und neue Gebet (2,7-8)
des Erkennens und des Bleibens. Wie kann die Echtheit eines derart hohen Anspruchs überprüft werden? Der Verf. führt als Differenzierungskriterium die Orientierung an den Geboten und am Wort ein, die für die praktische Lebensgestaltung Folgen haben muß. Dabei hat er das Liebesgebot im Blick, das er aus der uns erwiesenen Liebe Gottes herleitet. Diese Liebe ist nichts Abstraktes und Spekulatives, sie hat im Tod Jesu eine unüberbietbare Anschaulichkeit gewonnen. Jesu Sterben als Tat seiner Liebe eröffnet einen Raum, in dem Christen ihren Lebensweg finden können.
b
Das alte und neue Gebot (2,7-8)
Literatur: Klein, Licht 270-284.304-307; Vicent Cernuda, A., Enganan la oscuridad y el mundo; la luz era y manifiesta 10 verdadero, EstB 27 (1968) 153-175.215-232.
7a
b c
d e Ba
b c
d
Geliebte166 , nicht ein neues Gebot schreibe ich euch, sondern. ein altes Gebot, welches ihr hattet von Anfang an: Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt167 • Wiederum: Ein neues Gebot schreibe ich euch, (etwas,) was wahr ist in ihm und in euch168 , weil die Dunkelheit169 vergeht und das wahre Licht schon scheint.
Analyse Viermal kommt in den beiden Versen »Gebot« vor, mit Ausnahme von 7d immer als Objekt zu »ich schreibe euch«. Je zweimal steht als Attribut »alt« und »neu«. Ihre Verteilung geschieht in chiastischer Anordnung: neu (7a) - alt (7b) - alt (7d) - neu (8a), womit eine Aufhebung der anfänglichen Negation »nicht neu« in 7a einhergeht. In 8b befremdet zunächst das Neutrum ö (entsprechend im folgenden W:11ÖE~), das sich keinesfalls auf die Femininform EvtOA:r)v xmvf]v in 8a beziehen kann. Ähnlich wie bei den neutrischen Relativpronomina in 1,1.3 wird dadurch eine Generalisierung der Satzaussage erreicht. In Analogie EV amlP in 5d.6b wäre man fast geneigt, auch EV amlP in 8b als »in Gott« aufzulösen. Das wird zu Unrecht kaum ernsthaft erwogen170. Die allgemein vertretene Auslegung auf Christus läßt sich aber rechtfertigen, wenn
Statt »Geliebte« liest der Mehrheitstext »Brüder«, was sekundär aus liturgischem Gebrauch Gede Perikopenlesung begann mit dieser Anrede) eingedrungen ist, vgL Metzger, Commentary 709. 167 Hier trägt die Mehrzahl der Handschriften aus 7c noch »von Anfang an« ein, vgL Aland, Text und Textwert I/1, 129f. 168 A liest mit wenigen anderen Zeugen »in uns«. Meist wird die Anderung als belanglos 166
abgetan, weil man »uns« auf Gemeinde und Verf. bezieht; es könnte aber auch sein, daß ein Schreiber die Behauptung als zu vollmundig empfand und sie einschränken wollte auf den Kreis der apostolischen Zeugen aus 1,14, vgL Düsterdieck I 213. 169 Die LA oxta (»Schatten«) in A deutet die Aussage auf den Alten Bund als vergehenden Schatten des Neuen (Hebr 10,1). 170 Problematisiert immerhin bei Weiss 49.
l]oh 2,7-8: Analyse; 2,7: Erklärung
121
man sieht, daß mit ExELVO~ in 6d das nächstmögliche Bezugswort gleichfalls auf Christus geht. Die engen Verschränkungen innerhalb der Verse 7-8 machen es nahezu unmöglich, hier zwei verschiedene Gebote zu entdecken, ein altes, das in 1,5 - 2,6 aufzuspüren sei, und ein neues, von dem das Folgende spreche l7l . Vielmehr wird ein und dasselbe Gebot von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Um welches Gebot es sich dabei handelt, war in 2,5-6 schon angedeutet. Die explizite Klarstellung, wenn es ihrer denn noch bedürfte, leistet 2,9-10. Es geht auch in V. 7-8 um nichts anderes als das Liebesgebot.
Die Anrede mit »Geliebte« ist im urchristlichen Schrifttum zwar nichts Ungewöhnliches (vgl. 1Kor 10,14; 2Kor 12,19), sie paßt aber besonders gut in den vorliegenden Zusammenhang, der die Adressaten der Liebe Gottes versichert (Sb) und sie in die Praxis der Liebe einweist172• Die Basis für die paradoxe Redefigur vom alten und neuen Gebot bildet Joh 13,34: »Ein neues Gebot gebe ich euch, damit ihr einander liebt ... « Wieso kann dieses Gebot gegen den ausdrücklichen Wortlaut des Evangeliums ein altes Gebot heißen? Die Antwort gibt 7c: Die Adressaten kannten es »von Anfang an« (vgl. 2Joh 5). Mit der Rückerinnerung an die Evangeliumsverkündigung, die sie vernommen haben (zum Wechsel von »Gebot« zu »Wort« in 7d vgl. Joh 15,12 mit 15,17), legt 7de die Reichweite von fut' ÖQxiic;noch genauer fest. Die Vermittlung des Liebesgebotes gehört zu den grundlegenden Dingen, die in der Taufkatechese der johanneischen Gemeinde nicht fehlen durften. Vom Anfang ihres Christwerdens an sind die Leser des Briefs mit dem Gebot vertraut, das seinerseits im Sinne des fut'
171 So teils die ältere Exegese, vgl. bes. Ebrard 147-161. 172 Wengst 75; Chaine 157 (verweist noch auf den »geliebten Jünger« als Empfänger des Liebesgebotes im Evangelium). Zum Vorkommen in familiären Papyrusbriefen und zur Verwendung als bevorzugte, von Erwählungsbewußtsein gespeiste Anrede unter
Christen vgl. O. Wischmeyer, Das Adjektiv ArAllHTO~ in den paulinischen Briefen. Eine traditionsgeschichtliche Miszelle, NT5 32 (1986) 476-480. 173 Vgl. Houlden 67: »It is one of the clearest indications that the Epistle is later than and presupposes the Johannine Gospel.«
Erklärung 7a
7b
7c
7de
122
Das alte und neue Gebot (2,7-8)
gen unterstellt (vgl. ihr »Voranschreiten« in 2Joh 9). Das Alte ist das Bewährte und Wahre, an ihm soll man sich orientieren. Wirkungs- In der griechischen Exegese hat die Opposition von Alt und Neu eine eigene Deutung geschichte mit einer langen Nachgeschichte erfahren. »Alt« und »von Anfang an« bezog man auf das Mosegesetz, das in Lev 19,18 bereits die Liebe zum Nächsten fordere 174, ja, man weitete das auf dem Umweg über Röm 2,14 ins Universale aus: Das Liebesgebot sei ein Naturgesetz, ein Stück Schöpfungsordnung, allen vernunftbegabten Wesen ins Herz eingetragen175. Das bringt Schwierigkeiten mit sich, wenn es darum geht, das Moment des Neuen am christlichen Liebesgebot zu bestimmen. Von vornherein gerät es damit in Konkurrenz zu einem allgemeinen humanen Ethos. Angesichts seiner jüdischen Vorgeschichte behilft man sich so, daß man für das AT erhebliche Defizite konstatiert: Liebe sei nur den Stammesgenossen gegenüber vorgeschrieben, ihre Praktizierung entspringe oft genug der Furcht oder dem Egoismus etc. 176 De facto gilt als das unterscheidend Neue in der Regel die Feindesliebe, von der 1Joh gerade nicht spricht. Erklärung Das gleiche soeben noch als »alt« apostrophierte Gebot kann in 8a schon al8a lein deswegen »neu« heißen, weil es im Evangelium von Jesus so genannt wird (13,34). Für xmv6~ finden sich vier von insgesamt fünf Belegen bei Joh im Kontext des Liebesgebots (die Ausnahme macht Joh 19,41). Nicht zufällig ist xmv6~ gewählt anstelle von VEO~, steht doch gerade xmv6~ in einem reichen Bezugsfeld endzeitlicher Heilserwartung und Heilsgewißheit. Es kommt u.a. in folgenden Verbindungen vor: der neue Bund (lKor 11,25; vgl. Jer 38,31 LXX), die neue Schöpfung (GaI6,15), der neue Mensch (Eph 2,15), der neue Himmel und die neue Erde (Offb 21,1; vgl. Jes 66,22). Von daher erübrigt es sich, für das neue Gebot der Liebe krampfhaft nach neuen, bisher nicht dagewesenen Inhalten zu suchen, denn: »Neu ist es nicht als geistesgeschichtliches Phänomen, sondern als eschatologische Wirklichkeit.«!77 Das Neue liegt mehr im Vorgang des Gebietens und in der Person des Gebieters. Jesus legt den Willen Gottes erschöpfend und verbindlich aus, in 8b Wort und Leben. Diesen Sachverhalt suchen der Relativsatz in 8b und der Kausalsatz in 8cd zu begründen. Sie greifen mit aA'YJihl~ und aA'YJ{jw6~ das johanneische Themawort aAf]{}ELU (s. zu 1,8) auf. Was wahr ist, hängt innerlich zusammen mit der Selbsterschließung Gottes, dessen Wahrheit in Jesus Christus als offenbarte Wirklichkeit dem Menschen entgegentritt. Damit bricht die neue Weltzeit an, und Glaubende leben in dieser neuen Wirklichkeit, von ihr im Innern ergriffen und verwandelt, als neue Menschen.
Didymus Alex. 46. Dagegen Cassiodor 1371B. 175 So bes. Ps.-Oecumenius 633C/D in Übereinstimmung mit der Katene bei Cramer 112. Zur Nachgeschichte Calmet 643; Brentano 309f; a Lapide 537; Bisping 308; Rothe 52f; Brooke 34. Selbst die Tierwelt 174 '
bleibt nicht verschont, vgl. Law, Tests 233: »which is seen in the self-sacrificing care of the tigress for her whelps«. 176 Ps.-Oecumenius 635B; Belser 38; Vrede 155. 177 Bultmann 33; vgl. ders., Joh 404f.
l]oh 2,8cd: Erklärung; 2,7-8: Zusammenfassung
123
Die Opposition von Finsternis und Licht in 8cd folgt bekannten Sprachmu- 8cd stern aus jüdischer Apokalyptik und urchristlicher Taufparänese (1 Thess 5,4f; Eph 5,8). Der Kampf zwischen den Mächten der Finsternis und den Söhnen des Lichtes, in lQM 1,1 z.B. für die nahe Zukunft erwartet, ist bereits entschieden. Die Finsternis befindet sich auf dem Rückzug178 vor dem Licht, das immer weitere Bereiche in seinen hellen Schein taucht, auch wenn es die Finsternis noch nicht restlos beseitigen konnte, wie aus der Präsensform hervorgeht179 . Nachhutgefechte sind weiterhin nötig. »Wahr« wird das Licht genannt, weil es als himmlische und endzeitliche Größe allein echte Helligkeit verbürgt. So bewahrt es auch davor, irreführenden Erwartungen und Verheißungen baldiger Erleuchtung zu erliegen. Nicht zu überhören sind die Reminiszenzen an den Johannesprolog: »Und das Licht scheint (<pa(vEL) in der finsternis« (Joh 1,5); »Er war das wahre (aA:rr6wov) Licht« (Joh 1,9). Wir sagten zu IJoh 1,5, daß die christologische Lichtmetaphorik des Johannesevangeliums im Brief auf Gott hin ausgerichtet werde. Davon brauchen wir nichts zurückzunehmen, denn in 8d ist das wahre Licht nicht einfach mit Christus gleichzusetzen. Das Evangelium blickt auf den Inkarnierten, der als Licht der Welt auf Zeit unter den Menschen weilt (Joh 9,5), und leitet daraus für die Gegenwart die Notwendigkeit der je neu zu fällenden Glaubensentscheidung ab. Anders der Briefautor, der Christus als Erhöhten im Himmel sieht (lJoh 2,1). Das Licht, das in der Gegenwart kontinuierlich scheint, resultiert aus dem zurückliegenden, von Gott in Gang gesetzten Heilsgeschehen in Christus. Den Raum für seine von Gott geschenkte und vom Geist mitgetragene Kontinuität bildet die johanneische Gemeinde. Insofern kann man sagen, daß die Lichtmetaphorik im Brief historisiert und an die Gemeindegeschichte gebunden wird180 , ohne daß dies ein negatives Werturteil impliziert. Der Verf. nimmt seine Christen in Pflicht. Es liegt auch an ihnen, ob das göttliche Licht als erhellende Macht die vorfindliche Welt mit ihren düsteren Schattenseiten wirklich erreicht und durchdringt. Die Verse 7-8 sind formal und inhaltlich die Achse des Abschnitts 2,3-11. Das ZusammenHalten der Gebote als Erkenntniskriterium der Gottesgemeinschaft aus 2,3-6 fassung und die Praxis der Liebe zu den Brüdern .und Schwestern als Bleiben im Licht aus 2,9-11 spannt 2,7-8 in das Raster von alt und neu, bezogen auf das eine Liebesgebot, ein. Gegenüber der alten Welt mit all ihrer Dunkelheit stellt die Liebe, wie sie Jesus gelebt und den Seinen als Aufgabe übertragen hat, ein leuchtendes Zeichen für den Anbruch der neuen Schöpfung dar. »Kirchengeschichtlich« betrachtet gehört die Einweisung in die Liebe mit all ihren Konsequenzen zum ältesten Überlieferungsbestand der Gemeinde. Sich davon
178 Vicent Cernuda* 166-173 will JtUgUYELV hier und in 2,17 mit »betrügen«, »täuschen« übersetzen; zur Kritik vgl. Brown 268. 179 Die Vulgata liest fälschlicherweise ein
Präteritum, was Calvin 314 dem Sinn nach unterstützt. 180 Vgl. Klein, Licht 282f.
124
Bruderhaß und Bruderliebe (2,9-11)
emanzipieren zu wollen bedeutet, die Einheit der Gemeinde fundamental in Frage zu stellen.
Bruderhaß und Bruderliebe (2,9-11)
c
Literatur: S. die Lit. zu Exkurs 3. 9a
b c d 10a
b c lla
b c
d e
Wer sagt, er sei im Licht, und seinen Bruder haßt181 , ist bis jetzt noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht, und einen Anstoß gibt es in ihm nicht182 • Wer aber seinen Bruder haßt, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis, und er weiß nicht, wo er geht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat.
Analyse Zum dritten und letzten Mal innerhalb der Einheit 2,3-11 setzt V. 9 mit ö IJ:ywv ein. Das Schlagwort, um das die W. 9-11 kreisenl steht wie in V. 6 im Infinitiv. Die aus 8cd heriibergenommene Basisopposition Licht vs. Finsternis konvergiert mit der neu eingeführten Opposition lieben vs. hassen. Hassen (zweimal) und Finsternis (viermal) erscheinen stärker gewichtet als lieben (einmal) und Licht (zweimal). Strukturell zeigt sich das daran, daß die negative Aussage von 9cd in 11ab fast wörtlich wiederholt wird (im Griech. mit einem Chiasmus im Vordersatz). Für Quellentheorien183 gibt der kurze Abschnitt keine Anhaltspunkte an die Hand. Erklärung Die Behauptung, im Licht zu sein, setzt einen treffenden Schlußpunkt unter 9ab die Reihe der Schlagworte. Gemeinschaft mit Gott (1,6), Erkenntnis Gottes (2,3) und bleiben in Gott (2,6) gelten als Errungenschaften des erleuchteten Christen, der sich mit Fug und Recht auf das Jesuswort aus Joh 12,46 berufen kann: »Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.« Unerbittlich insistiert der Verf. aber darauf, daß dieser Anspruch auf Kongruenz mit dem praktischen Verhalten angewiesen ist. Indem er die Lichtthematik an den Schluß rückt, unter-
181 Der Sinaiticus ergänzt aus 2,4c: »ist ein Lügner und ... « 182 Die Mehrzahl der Zeugen hat die Wortfolge: (J')(clVÖaÄov tv nUtcp oim EO"tLV, während K A C umstellen: m«lvÖaA.oV o'Öx EO"tLV tv nUtcp. Das dürfte mit der Schwierigkeit zu-
sammenhängen, für tv nUtcp die Bezugsgröße zu finden, s. die Erklärung. 183 Bultmann 34f beurteilt EOO~ ClQ'tL am Schluß von 9d und llde als Zusätze des Verf. zur Quelle.
lIoh 2,9-lOa: Erklärung
125
streicht er erneut die Bedeutung des Themasatzes in 1,5 mit seiner erkenntnistheoretischen und ethischen Ausrichtung. In V. 9-11 tritt endgültig das Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in den Vordergrund, das von V. 3 an die geheime Mitte des Gedankengangs bildete. In 9c erscheint es zunächst in seiner negativen Fassung als Bruderhaß. 9c Der strikte Gegensatz von Haß und Liebe paßt sich in den Gesamtrahmen des johanneischen Dualismus ein und berechtigt zu der Erklärung, der Autor kenne nur eine Wahl zwischen lieben und hassen und lasse ein Ausweichen auf ein neutrales oder indifferentes Feld nicht ZU 184 . Doch sollte man darüber nicht vergessen, daß in biblischer Sprache manchmal »hassen« soviel bedeutet wie »nicht lieben«, die gebotene Liebe unterlassen, ohne daß es dazu unbedingt eines besonderen Affekts und einer aktiv feindlichen Verhaltensweise bedarf1 85 . Schon Gleichgültigkeit, Überheblichkeit und Geringschätzung gegenüber dem vermeintlich zurückgebliebenen Durchschnittsgläubigen186 würden genügen, um den Verf. auf seiten der Gegner »Bruderhaß« diagnostizieren zu lassen. In 3,17 wird er aber auch massive Unterlassung notwendiger materieller Hilfe anprangern. Das Evangelium spricht von dem Haß, den die Welt gegen Jesus und seine Jünger empfindet 187. Die johanneische Gemeinde hat im Verlauf ihrer Geschichte diesen Haß schmerzlich erfahren. Angesichts dessen erscheint der Haß unter »Brüdern«, d.h. unter Christen, besonders tragisch, denn dadurch wird das feindliche Verhalten der Welt innerhalb der Gemeinde reproduziert. Darüber muß sie auseinanderbrechen. Die dafür verantwortlich zeichnen, haben im Grunde den Bereich jener Finsternis, die zu den Charakteristika der 9d Welt außerhalb der Christusoffenbarung zählt (Joh 1,5), nie verlassen. »Bis jetzt noch« in 9d gewinnt aus dem Kontrast zu »schon« in 8d seine Aussagekraft. Es steckt darin also nicht, wie man zunächst vielleicht vermuten möchte188 , die Hoffnung auf eine künftige Bekehrung all jener, die sich jetzt durch ihren Haß selbst aus dem Einzugsbereich des Lichtes ausschließen. Vielmehr wird gesagt: Wer so etwas tut, verkennt die neue, eschatologische Qualifikation der Zeit. Er merkt nicht, was die Stunde längst geschlagen hat, und bleibt einer unseligen Vergangenheit verhaftet, die in der Gegenwart des Glaubens überwunden ist189 . Die Glaubenspraxis, die ins Licht stellt und alles Dunkle vertreibt, trägt auch 10a einen Namen, und der lautet: Bruderliebe. Bruder heißt in der johanneischen
184 Oft zitiert wird das prägnante Wort von Bengel 1007: Ubi non est amor, odium est; cor non est vacuum. 185 VgL Dtn 21,15-17; Spr 13,24; dazu Balz 17lf; Bonsirven 108f. 186 VgL Dodd 36: »their contentiousness, their arrogance and contempt for the >unenlightened<.«
187 Joh 7,7; 15,18-19; 17,14; zur Metaphorik von Licht und Finsternis in Verbindung mit Lieben und Hassen Joh 3,19-20. 188 VgL Lenski 414f. 189 VgL Wengst 82.
126
Bruderhaß und Bruderliebe (2,9-11)
Gemeinde der Mitchrist (zu Herkunft und Verwendung s. Exkurs 3). Es verwundert eigentlich, daß zu unserer Stelle in der Forschung so kontroverse Deutungen für den Brudertitel vertreten werden. Manche Erklärer wollen ihn möglichst universal verstehen; es seien alle Menschen gemeint190 . Andere sprechen von allen Christen 191 , wobei teils eine potentielle Ausweitung auf die Menschheit schlechthin offengehalten wird 192, oder kombinieren einfach beide Ansätze 193 . Unverkennbar steht dabei das synoptische Gebot der Nächstenliebe (Mk 12,31) und der Feindesliebe (Mt 5,44) Pate. Das geht methodisch nicht an. Rein pragmatisch gesehen meint Bruder hier und im weiteren Verlauf ein Mitglied der johanneischen Gemeinde 194 , genauer noch einen johanneischen Christen, der zur Restgruppe des Briefautors gehört und sich nicht den Dissidenten anschließt. Die Gegner selbst waren für den Verf. wohl keine Brüder mehr. Man darf sich nicht durch die Tatsache irreführen lassen, daß vom Hassenden gesagt wird, sein Haß treffe einen Bruder. Den Brudernamen verwendet der Verf. in solchen teils hypothetischen Erörterungen nur für Angehörige der eigenen Gruppe, die von den Aktionen der Dissidenten tangiert sind, nicht aber für diese selbst. Ob eine programmatische Einschränkung und Verzerrung des jesuanisch-synoptischen Liebesgebots vorliegt, bedarf der näheren Überprüfung (s. Exkurs 3). lOb Im Vergleich zu der thetischen Aussage »im Licht sein« von 9b zielt die Zusage, daß der Liebende »im Licht bleibt«, in lOb auf die aktive und dauernde Bewährung der Liebe ab. Schwierigkeiten macht die Übersetzung und Erklä10c rung von 10c. Der lexikalischen Bedeutung des außerbiblisch nur selten belegten Wortes O'itUVÖaAOV brauchen wir nicht weiter nachzugehen. Ein Skandalon ist ein Anstoß, ein provozierendes Ärgernis von solcher Intensität, daß der Glaubende darüber zu Fall kommt und seines ewigen Heils verlustig geht195 . Das Hauptproblem besteht in der Auflösung von Ev am<9. Wir besprechen die wichtigsten Lösungsvorschläge: 1 »In ihm« bezieht sich auf »im Licht« von 10b196 . Dafür spricht: qJÜ>~ steht von allen Bezugsworten am nächsten; f:v mit Dativ prägt die Struktur der W. 9-11 (zweimal EV't<1> qJonL, dreimal f:v TfI mo't(Q.). Wenn man mavÖw.ov metaphorisch als den Stolperstein versteht, der im Weg liegt und zum Straucheln bringt (vg!. Lev 19,14 LXX), und damit das Umherirren in der Finsternis aus V. 11 verbindet, fügt sich 10c gut in die Bildebene ein: Im hellen Licht besteht diese Gefahr gar nicht, sondern nur im Dunkeln. Dagegen muß man allerdings festhalten, daß EV airt<1> om EOLLV wohl doch zu den Immanenzaussagen gehört, die eine personale Dimension besitzen.
Brooke 38; Bultmann 35. Huther 94f; Plummer 42. 192 Mayer 73. 193 De Ambroggi 235: »della comunita cristiana edella grande famiglia umana.« 194 Schneider 142; de Jonge 86. 195 Buhmann 34 übersetzt: »und kein Ma190 191
kel ist in ihm«, aber das bleibt viel zu schwach, vgl. Grayston 69. Übergreifend K. Müller, Anstoß und Gericht. Eine Studie zum jüdischen Hintergrund des paulinischen Skandalon-Begriffs, 1969 (StANT 19). 196 So Moody 38; Schnackenburg 115; Smalley 62.
127
lJoh 2,lOc-11: Erklärung
Vergleichbares hatten wir in 1,8d: »die Wahrheit ist nicht in uns«, in 1,10d: »sein Wort ist nicht in uns«, und in 2,4e: »in diesem (Menschen) ist die Wahrheit nicht«. 2 Wenn wir aber tv Ulrt
Im Schlußvers verdichten sich die Anklänge an früher schon Gesagtes und 11 die Zitatfragmente aus dem Evangelium. Vom Wandeln als christologisch bestimmter Lebensführung sprach schon 2,6, vom Wandeln in der Finsternis bzw. im Licht 1,6-7. Aus dem Evangelium ist neben 11,9-10 (s.o.) und 8,12 (»Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in der Finsternis«) der Schluß des ersten Teils in Kap. 12 einschlägig. In 12,35 sagt Jesus zum Volk: »Nur kurze Zeit noch ist das Licht unter euch. Wandelt einher, solange ihr das Licht habt, damit euch nicht die Finsternis überwältigt. Und wer in der Finsternis wandelt, weiß nicht, wo er geht.«20o In 12,40 polemisiert der Evangelist mittels jesajanischer Verstockungsaussagen gegen den Unglauben: »Er hat ihre Augen verblendet« (Jes 6,10; 29,10).
Nauck, Tradition 39f, vergleicht noch 1QS 2,12.17. 198 In diesem Sinne Marshall 132; Brown 274f. 197
Vgl. Bonnard 45; Wengst 83. Vgl. Spr 4,19: »Der Weg der Gottlosen ist wie dunkle Nacht. Sie wissen nicht, woran sie straucheln.« 199 200
128
Bruderhaß und Bruderliebe (2,9-11)
Der V. 11 hat wie seine Vorlagen eine gleichnishafte Dimension: Wo es stockfinster ist, wo man die Hand nicht vor den Augen sieht, stellt sich Unsicherheit und Orientierungslosigkeit ein. Die Beschaffenheit des Weges, der vor den eigenen Füßen liegt, ist unerkennbar geworden. Es gibt keine Möglichkeit mehr, das ursprüngliche Ziel entschlossen ins Auge zu fassen. Diese Bildebene trägt die existentielle und theologische Aussage. Die Finsternis wird als aktive Macht gesehen, die den Menschen bedroht. Aber sie überwältigt ihn nur da, wo er selbst sich dafür entscheidet, sein Verhalten vom Haß statt von der Liebe bestimmt sein zu lassen. Was im Evangelium gegen die Juden gerichtet war und um das Problem des Unglaubens kreiste, fixiert der Briefautor auf die Dissidenten, die nach ihrer Selbsteinschätzung Glaubende sind, ' und auf ihr Tun. Nicht Liebe macht blind, sondern, so der Verf., Haß. Und dieser blinde Haß hat es verursacht, daß auf die Gemeinde düstere Schatten gefallen sind und nicht wenige Mitglieder sich aus dem Lichtkegel der göttlichen Gnade herausbegeben haben. Wirkungs- Cyprian von Karthago gibt in seinem Traktat »über Eifersucht und Neid« von 256/ geschichte 257 n.Chr. zu V. 11 die später immer aufs neue varüerte Erklärung: Wer den Bruder haßt, »geht unwissend in die Hölle, stürzt ahnungslos und blindlings in die ewige Pein«201. Zeitlich gesehen gehört der Traktat in den Kontext des Ketzertaufstreits. Es ist anzunehmen, daß Cyprian etwas verdeckt mit seinen theologischen Widersachern abrechnen will. Unverkennbar ist das der Fall, wenn er in seiner Schrift »über die Einheit der katholischen Kirche« die Metaphorik von V. 9 und 11 auswertet: Der Widersacher reißt Menschen aus der Kirche heraus, die sich schon der Nacht dieser Weltzeit enthoben glaubten, und umgibt sie mit neuer Finsternis. Nur noch dem Namen nach sind sie Christen, nicht aber in der Tatl°2. Positiv ist zu vermerken, daß die angefochtene Form der Liebe, die Cyprian verteidigt, die Reintegration von abgefallenen Christen in die kirchliche Gemeinschaft vorsieht. Augustinus zitiert V. 11 mehrfach in seiner antidonatistischen Abhandlung über die Taufe. Auch er sieht mangelnde Bruderliebe als Wurzel aller Schismen und Häresien an, und zwar lassen es immer jene an der Bruderliebe fehlen, die sich von der katholischen Kirche lossagen und eine Sonderkirche bilden203. Die gleiche Auslegungslinie begegnet bei Martin Luther wieder. Die Flügelkämpfe innerhalb der reformatorischen Bewegung bestimmen seine Exgese von V. 9-11. Mit deutlicher Bezugnahme u.a. auf Zwingli spricht er von Irrlehrern und »Rottengeistern«, die sich selbst den Anschein von toleranten, maßvollen Christen geben, in Wirklichkeit aber von wütendem Haß gegen die Vertreter der Rechtgläubigkeit erfüllt sind, denen Luther sich selbst zuzählt. Er fordert geradezu auf, die Irrlehrer aus ganzem Herzen zu hassen und leidenschaftlich zu bekämpfen, schränkt das aber wieder ein auf ihre Lehre. Die Liebe, die man ihnen gegenüber immer noch empfinden soll, reduziert er auf den Wunsch, sie möchten doch zur reinen Lehre zurückfinden204.
v.
Cyprian, Oe zelo et livore 11 (81,196f CChr.Sl 3A). 202 Cyprian, Oe unitate 3 (250,57-62 CChr.Sl3). 201
Vgl. Augustinus, Oe baptismo 1,16; 7,91 (161,9-12; 366,23-26 CSEl 51). 204 luther 649-653.
203
129
1Joh 2,9-11: Zusammenfassung; 2,12-17
Wahrheit und Lüge, Licht und Finsternis, Liebe und Haß - diese starken ZusammenKontraste, die den ganzen Abschnitt von 2,3 an bestimmen, zentriert der fassung Verf. auf das alte und neue Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde hin. In V. 9-11 kommt die Erfahrungsbasis dafür allmählich zum Vorschein. Die Dissidenten lassen ihren großen Worten keine Taten folgen bzw. nur solche Taten, die für die Gemeinschaft zerstörerisch wirken. Wer so handelt, erkennt, auch wenn er es verbal auf das entschiedenste in Abrede stellt, die Finsternis wieder als existenzbestimmende Macht über sich an. Nur dem Liebenden gilt die Verheißung des Bleibens in der Immanenz mit jenem Gott, der reines Licht, reine Wahrheit, reine Liebe ist und keine Spur von Finsternis, von Lüge und von Haß in sich trägt. Die Korrelation von Gottesbild und Verhalten des Menschen erlaubt es dem Autor, in einer aktuellen Krise mit schier unlösbar scheinenden Problemen Kriterien der Wahrheitsfindung aufzustellen. Er bedient sich dabei einer bilderreichen Sprache, wie sie auch das Evangelium kennt. Dazu gehören: der Stolperstein, der den Weg blockiert und den Fuß straucheln macht; das Umhertappen in pechschwarzer Nacht, wo man die Hand nicht mehr vor Augen sieht; die Blendung der Augen, die ihres Lichts beraubt werden - alles kräftige Metaphern für den Glaubensverlust mit all seinen Folgen für den Lebensvollzug.
3
Glaubensgewißheit und sittliche Verpflichtung (2,12-17)
Literatur: Oke, CC, The Plan of the First Epistle of John, ET 51 (1939/40) 347-350. Der Schlußabschnitt des ersten Hauptteils gliedert sich in zwei Teile: V. 12-14 mit der Hinwendung zu den Adressaten und V. 15-17 mit der Warnung vor Weltliebe. Die innere Verbindung zwischen den beiden Stücken und ihre Stellung im Kontext wird verschiedentlich als schwierig empfunden, was spätestens seit Calvin, der V. 14c-h als Randglosse ansah205 , zu literarkritischen überlegungen Anlaß gab206 . Die Anbindung nach vorne hin steht aber zumal für 2,12-14 außer Frage. Reflexionen auf den Vorgang des Schreibens kennen wir schon aus 1,4; 2,1 und 2,7-8. Besonders groß ist die Ähnlichkeit von 2,12 und 2,1. An Schlüsselbegriffen aus dem Vorstehenden werden ferner verarbeitet: »erkennen« in 13b.14bd (vgl. 2,3-5), M' öexii~ in 13b.14d (vgl. l,la; 2,7c), J...6yo~ (vgl. l,1f; 2,7d) in Verbindung mit !AivELV tv (vgl. 2,6b sowie J...6yo~ und ELvm tv in 1,10d) in 14g. Kontextbezüge gibt es aber auch
Calvin 318. Bultmann 36: V. 15-17 ist Werk der kirchlichen Redaktion; O'Neill, Puzzle 20: V. 12-13 stammt vom christlichen Bearbeiter, V. 17bc ist fromme Glosse; Oke" 349: V. 1213 gehört zwischen 1,10 und 2,1, während V. 205 206
14-17 vorzüglich hinter 5,21 ans Ende paßt (Versangaben nach unserer Zählung; Oke" zieht mit der englischen übersetzung und dem ihr zugrundeliegenden textus receptus unseren V. 14ab noch zu V. 13).
130
Hinwendung zum Leserkreis (2,12-14)
für 2,15-17: zu »Kosmos« vgL 2,2e, zu ayroriiv in 15ab vgL 2,10a, zu »Liebe des Vaters« und »in ihm« in 15e vgl. bes. 2,5b und die übrigen Immanenzaussagen, zu :rtuQaYE'tUL in 17a vgl. 2,8e, zu flEvELV in 17c vgL 2,6b.14g (mit leichter Bedeutungsverschiebung).
Mit einer Heilszusage in 2,12-14 und einem paränetischen Appell in 2,15-17 bringt 2,12-17 die Gedankenbewegung, die in 1,5 anhob, zu einem vorläufigen Ruhepunkt. Die leicht exkursartigen Züge hat 2,12-14 mit der anderen Reflexion auf den Akt des Schreibens in 2,1-2 gemeinsam.
Hinwendung zum Leserkreis (2,12-14)
a
Literatur: Bruns,J.E., ANote on John 16,33 and IJohn 2,13-14, JBL 86 (1967) 451-453; Giacinto, S. de, »... a voi, giovani, ehe siete forti« (1 Giov. 2,14), BeO 2 (1960) 81-85; Klauck, Zur rhetorischen Analyse 214-216; la Potterie, 1. de, La eonnaissance de Dieu dans le dualisme eschatologique d'apres I Jn, II,12-14, in: Au Service de la Parole de Dieu (FS AM. Charue), Gembloux 1969, 77-99; Noack, B., On IJohn II.12-14, NTS 6 (1959/60) 236-241; Spicq, c., La place ou le röle des jeunes dans certaines communautes neotestamentaires, RB 76 (1969) 508-527; Watson, D.F., 1 John 2.12-14 as Distributio, Conduplicatio, and Expolitio: ARhetorical Understanding, JStNT 35 (1989) 97110; Weder, H., Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986 (Zürcher Grundrisse zur Bibel), 324f; Wendt, RH., Die Beziehung unseres ersten Johannesbriefes auf den zweiten, ZNW 21 (1922) 140-146.
12a b 13a b c d 14a
b c cl e f
g h
Ich schreibe euch, Kinder: Vergeben sind euch die Sünden um seines Namens willen. Ich schreibe euch, Väter: Ihr habt erkannt ))den von Anfang an«. Ich schreibe euch, junge Männer: Ihr habt besiegt den207 Bösen. Ich habe euch geschrieben208 , Kinder: Ihr habt erkannt den Vater. Ich habe euch geschrieben, Väter: Ihr habt erkannt ))den209 von Anfang an«. Ich habe euch geschrieben, junge Männer: Ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt besiegt den Bösen.
K hat statt dessen '[6 (»das Böse«). Der Mehrheitstext gleicht nur 14a an V. 12 -13 an und liest YQaq)(J}. Ein Teil der lat. Hss. bietet in V. 14 dreimal das Präsenz scribo; vgl. Aland, Text und Textwert IIl, 133f. 209 Nur hier, nicht aber in 13b setzt der Va207 208
ticanus das Neutrum: »das ('[6) von Anfang an (Verkündigte o.ä.)«. Q'Neill, Puzzle 20, verteidigt diese LA als originalen Wortlaut der älteren jüdischen Quelle - wider alle textkritische Vernunft.
1Joh 2,12-14: Analyse
131
1 Der Abschnitt weist eine besonders stringente Struktur auf. In zwei Durchgängen Analyse werden nacheinander kleine Kinder (LEXVLa in 12a, Jtmö(a in 14a ohne Bedeutungsdifferenz210), Väter und junge Männer angeredet. Die erste Trias hat als Einleitung dreimal die Gegenwartsform YQu
210 Differenzierungsversuche bei Barker 38; Weiss 56 (s.u. Anm. 222). 211 Nach Watson* ist das ebenso wie die anderen Wiederholungen eine conduplicatio, die in der Rhetorik als unius aut plurum verborum iteratio zum Zweck der Amplifikation und der Affekterregung definiert wird, vgl. Lausberg, Handbuch § 612. 212 >>väter« und >>Vater« (gleicher Wortkörper bei verschiedener Bedeutung) bezeichnet Watson* mit Lausberg, Handbuch § 658, als
traductio. In rhetorischer Terminologie eine expolitio, s. Watson* (auch zu weiteren Stilfigu-
213
ren, Zusammenfassung bei Klauck*); Lausberg, Handbuch § 830. 214 Mayer 76 (»die feierliche Widmung des
Evangeliums«); Smith 177; Camerlynck 211; Loisy 543. 215 Baljon, Bijdrage (s. die Lit. zu § 1 der Einleitung) 247; Schneider 144f. 216 Wendt*; Hauck 124; jetzt wieder Strekker 113f. 217 Law, Tests 309; Gore 102. 218 Charue 529; Wilder 237; la Potterie* 80f. 219 Beispiele bei H. Büttner, Griechische Privatbriefe, 1931 (MPSG 3), NI. 24, Z. 7f; Nr. 27, Z. 3f.8: öU11:Oirt6 aOL Ey(lu'ljJu Ö"tL .••; vgl. Mayser II11, 144 (zurückhaltend); Koskenniemi, Studien 192f. 220 Paulus 175 vergleicht Urkundenstil: Wir dekretieren und haben dekretiert.
132
Hinwendung zum Leserkreis (2,12-14)
sage, insbesondere des Erkannthabens und des Besiegthabens, was im weiteren Verlauf als nachdrückliche Motivierung für die Forderung von 2,15-17 dient221 • 2.2 Die drei Anreden auf echte Altersklassen zu verteilen, ist nicht möglich. Dagegen spricht die unsystematische, sprunghafte Reihenfolge Kinder - Väter - junge Männer und die partielle Austauschbarkeit von Inhalten im Nachsatz. Dagegen spricht vor allem die Tatsache, daß der Autor lEXVia (vgl. 2,1) und Jtmöia (vgl. 2,18) als Anrede für alle Christen verwendet222 . Man muß auch fragen, ob es sinnvoll erscheint, Kindern, selbst wenn man ihr faktisches Alter sehr großzügig bemißt, derart betont Sündenvergebung (12b) und Gotteserkenntnis (14b) einzuräumen. Diesen Schwierigkeiten entgeht man noch nicht, wenn man geistliche Klassen oder Erkenntnisgrade in Anschlag bringt, etwa »Neophyten, Fortschreitende und Vollkommene«223 (vgl. 1Kor 3,lf; 13,11). Die derzeit gängige Lösung geht deshalb dahin, die Kinder in 12a und 14a als Anrede an die Gesamtgemeinde aufzufassen, die dann je nach Zeitdauer ihres Christseins in zwei Gruppen aufgespalten werde 224 , so wie im AT das ganze Bundesvolk Israel eingeteilt wird in Kleine und Große, Junge und Alte, Kinder und Greise 225 . Teils geht man dabei so weit, Ansätze für kirchliche Ämter zu entdekken: die jungen Männer als Diakone, die auch vHolEQm (vgl. Apg 5,6.10) heißen, die Väter als Presbyter oder Episkopen226. Letzteres hat keinen Anhalt im Text. Aber auch gegenüber dem meistfavorisierten Erklärungsmodell bleibt die Alternative zu erwägen, die in der alten Kirche Augustinus und unter den Neueren vor allem Dodd vertritt: Alle drei Begriffe beschreiben alle Glaubenden unter je verschiedenem Aspekt; »all Christians are (by grace, not nature) children in innocence ... , young men in strength, and fathers in experience«227. Nur müßte man das noch gattungskritisch absichern. In Ko13,20f und Eph 6,1.4 kommen lbtva und JtatEQE~ als Begriffspaar im Haustafelschema vor. Es scheint, daß sich der Verf. an der urchristlichen Haustafel orientiert, die Ausrichtung auf die einzelnen Gruppen im christlichen Haus aber umbiegt auf die Gesamtgemeinde hin und auf jeden einzelnen in ihr2 28 . Das hat eine leichte Diskrepanz zwischen Sprachform und Intention zur Folge, was die Auslegung vor die bekannten und kontrovers gelösten Probleme stellt. 2.3 Das sechsmalige Ö1L, das den Nachsatz einleitet, kann mit »weil« und mit »daß« übersetzt werden. Für die kausale Deutung229 beruft man sich u.a. auf 2,21. Der Autor gibt den Grund an, warum er es wagt, sich voll Zuversicht an seine Leser zu wenden, weshalb er sie auf seiner Seite weiß. Unbezweifelbar wäre die Wiedergabe mit »weik wenn YQu
schen Argumenten abzusichern versucht von Watson* 99-101: Der Briefautor benutzt die Stilfigur der distributio (Lausberg, Handbuch § 675), die erst ein Ganzes benennt und anschließend seine Teile aufzählt. 225 Ex 10,9; Jes 20,4; Jer 31,34; Joel 2,28; Apg 2,17; vgl. Tit 2,2.6. 226 Houlden 70f. Noch krasser Spicq* 524: Amtsträger und Laien. 227 Dodd 38f; vgl. auch Love 18; Weder*. 228 Vgl. Windisch 115; Perkins 28-30; Marshall 138. 229 Nach Westcott 58 besteht an ihr »no doubt«.
133
l]oh 2,12-14: Analyse; 2,12-13ab: Erklärung
Möglichkeit, daß der Ö1:L-Satz das Objekt zu YQuq)(1l enthält, ÖlL also mit »daß« zu übersetzen ist2 3o • Es geht in die gleiche Richtung, wenn man, wie oben geschehen, den Doppelpunkt wählt, auch wenn er eine etwas größere Offenheit wahrt, die dem Griechischen möglicherweise eignet. Jedenfalls wendet sich der Verf. in dieser Sicht an desorientierte Christen und versucht, sie der Grundlagen ihres Glaubens und ihres Heilsstandes zu versichern. Was er tut, könnte man mit einer Redewendung im Deutschen so umschreiben: Hiermit gebe ich es euch schriftlich, daß ihr Erlöste seid.
In der aus der Weisheitsliteratur bekannten Rolle des väterlichen Lehrers Erklärung tritt der Verf. mit der Anrede »Kinder« vor seine Gemeinde hin. Die Zusage 12 vollzogener und bleibend gültiger Sündenvergebung erinnert schon in der grammatischen Form (acpewvtm) an die Übertragung der Vergebungsvollmacht an die Jünger in Joh 20,23. Vergebung ist an die Gemeinde gebunden und an das Verbleiben in ihrem Verbund. Gewährt wird die Vergebung aberund das kommt in der passivischen Formulierung zum Zuge - letztlich von Gott, und er tut es »um seines Namens willen« (vgl. Ez 20,9; 36,22). Trotz des atl. Sprachmusters meint »sein Name« hier aber den Namen Jesu, den die Gemeinde bekennt und an den sie glaubt (Joh 1,12; 1Joh 5,13). Der Name steht für die Person231 dessen, in dem Gott sich den Menschen zugewandt und ihnen den eigenen Namen als Kundgabe seine Wesens offenbart hat (Joh 17,6.26). Die Verbindung von Sündenvergebung und Name Jesu ruft den Gedanken an die Taufe auf den Namen Jesu mit ihrer sündentilgenden Kraft wach (vgl. Apg 2,38; 10,43). Die Vermutung hat einiges für sich, daß der Autor seine Leser wie so oft auf ihren Weg als Glaubende hin anspricht, ihnen den Vorgang bei ihrer Aufnahme in die Gemeinde ins Gedächtnis ruft. Auch die Metaphorik, deren er sich bedient, stimmt damit überein: Kinder sind jene, die in Taufe und Sündenvergebung das neue Leben als Geschenk aus der Hand des Vaters empfangen. Die Anrede der Glaubenden als »Väter« wehrt jedem Verdacht eines »geistli- 13ab chen Paternalismus«232, der sich sonst, wenn man nur auf die geläufigere Titulierung »Kinder« blickt, leicht einstellen könnte. Der Verf. als Vertreter der Traditionsträger steht in der Gemeinschaft dieser »Väter« und nicht über ihr. Besonderes Merkmal der »Väter« ist ihre Erkenntnisfähigkeit und die vertiefte Erkenntnis, zu der sie gelangt sind. Das Erkennen richtet sich auf »den von Anfang an«. Zuletzt kam fut' Ct.Qx'ii; in 2,7c vor, jedoch steht hier als Besonderheit der Artikel, der eine personale Bezugsgröße fordert, die Suche nach dem temporalen Haftpunkt des »Anfangs« aber schwieriger gestaltet233 . Meist ergänzt man unwillkürlich »den von Anfang an Seiendem o.ä. und deu-
Dafür plädiert mit Nachdruck Noack*. Unnötig Hering, Aramaismes 116-119. 231 Gaugler 119: »Der Name ist die der Gemeinde zugekehrte Seite der Person des Namensträgers in ihrer dynamischen Auswir230
kung.«
Vgl. Thüsing 73. Marshall 140 Anrn. 27 spielt mit dem Gedanken, ob es nicht einmal umov <'m;' aQX'ii~ geheißen habe, was die Erklärung erleichtern würde, aber reine Spekulation bleibt. 232 233
134
Hinwendung zum Leserkreis (2,12-14)
tet das als Aussage über die Präexistenz Christi (nur ganz vereinzelt als Aussage über Gott). Das gerät in Spannung zur oben vertretenen Sicht von fut' &QX:ij~ in l,la (Beginn der Selbstoffenbarung Jesu vor seinen Jüngern als Anfang der Glaubensgeschichte). Zu berücksichtigen ist auch, daß »ihr habt erkannt« und »Von Anfang an« auf engstem Raum die Abfolge von 2,3-5 und 2,7 rekapitulieren. In 2,7 aber ist fut' &Qxii~ eindeutig ein »kirchengeschichtliches« Datum. In diese Perspektive ordnet sich 13b ein, wenn man so interpretiert: Zur Gotteserkenntnis (2,3-5) gelangt man über die Christuserkenntnis (vgl. Joh 14,9); Christus erkennen aber bedeutet ihn wahrnehmen in seiner irdischen Lebenswirklichkeit mit allem, was er in seinem Dasein »von Anfang an« personal verkörpert hat. Die Präexistenzvorstellung des Evangelienprologs, den der Verf. bei seinen Adressaten als bekannt voraussetzt, mag den Rahmen bilden. Die Akzente aber sind verschoben worden auf die Jesusüberlieferung und ihre Verkündigung hin. 13cd Die »jungen Männer« in 13c darf man sich auf der normalsprachlichen Ebene nicht zu jung vorstellen. Plutarch unterscheidet bei den Spartanern drei Altersklassen, Greise, Knaben und junge Männer. Er definiert letztere, die vwVLaxOL, als Männer in der Blüte ihrer Jahre, die die waffenfähige Mannschaft des Stadtstaates stellen234 . Die besondere Eignung der VWVLaxOL für das Kriegshandwerk könnte eine gedankliche Brücke darstellen zum Bild vom Sieg über den Bösen, den 13d ihnen zuschreibt. Aber auch die Olympischen Spiele, wo junge Männer um den Sieg stritten, kommen dafür in Frage wie überhaupt das, was man das agonistische Lebensideal der Griechen genannt hat. Laut Konkordanz und Statistik ist »siegen« ein Vorzugswort des 1Joh (6 Belege von 28, dazu »Sieg« in 5,4; im Evangelium vgl. 16,33) und vor allem der Offb (17 Belege), was die unmittelbare Herkunft des Motivs aus der dualistischen Sprache der jüdischen Apokalyptik illustriert. Sie entwirft wahre Schlachtengemälde vom endzeitlichen Kampf, aus welchem die Söhne des Lichts als Sieger über die Söhne der Finsternis hervorgehen (lQM). In ihrem Weltbild gibt es einen Widersacher Gottes, in christlicher Adaption einen Widersacher Christi. Im Johannesevangelium heißt er »Fürst dieser Welt« (12,31; 14,30; 16,11), »Teufel« (6,70; 8,44; 13,2; vgl.1Joh 3,8.10) oder »Satan« (13,27)235. Hier erscheint er in 13d als personale Verkörperung des Bösen schlechthin (vgl. 1Joh 3,12; 5,19). Wenn man den Rückbezug von 12b auf 234 Vg!. Plutarch, Laud s Inv 15 (544E), mit Inst Lac 15 (238NB). Spicq* 510-512 gibt die Reichweite mit 17 bis 40 Jahren an, betont aber, daß primär die soziale Rolle angezielt sei und nicht das Lebensalter. Nach G. Sacco, Sui VEaVLoxOL deli' eta ellenistica, Revista di filologia e d'istruzione classica 107 (1979) 3949, hier 43 (mit Belegen), kann VEaVLoxOL auch einfach »Soldaten« heißen. Zu phantasievoll E. Peterson, Die Einholung des Kyrios,
ZSTh 7 (1930) 682-702, hier 694 Anm. 5 (fragt aufgrund einer Stelle aus PPetr II 45 = Mitteis-Wilcken I1U~r. 1, wo in Co!. III Z. 22 [oL fut]o '1:O'Ü yu~vaa(ou VEav(O'XOL bei einem Festzug erwähnt werden, ob 1Joh 2,13 »vielleicht einen Jugendverein [nach Art der städtischen]« voraussetzt). 235 übersicht bei Coetzee, Christ and the prince of this world in the Gospel and the Epistles of St. John, Neot 2 (1968) 104-121,
rc.
l]oh 2,14: Erklärung; 2,12-14: Wirkungsgeschichte
135
1,6 - 2,2 (Sündenthematik) und von 13b auf 2,3-7 erkennt, legt es sich nahe, 13d mit 2,9-11 zusammenzusehen 236 . Der Sieg, den die Christenschar als kämpfende Kirche über den Bösen erringt, ist der Sieg über den Haß unter Brüdern und Schwestern. Er fordert die Praxis der Liebe. Über den auffälligen Wechsel von »ich schreibe euch« zu »ich habe euch ge- 14 schrieben« und über die Wiederholung der Trias Kinder - Väter - junge Männer wurde bei der Analyse schon das Nötigste gesagt. Die variierte Rekapitulation verstärkt die Gesamtaussage, die in 14e-h ihren Schwerpunkt hat. Das Erkennen des Vaters stimmt auf der Bildebene mit der Anrede »Knäblein« besonders gut zusammen. In Wiederaufnahme von 13b transformiert 14d den strikt theologischen Erkenntnisvorgang aus 14b wieder in seine christologische Fassung und ordnet diese den »Vätern im Glauben« zu. Dem Sieg der »jungen Männer« ist in 14fg eine doppelte Begründung vorausgeschickt: Den Sieg erringen sie aufgrund ihrer Stärke, und diese ist auf die Immanenz des Wortes Gottes in ihrem Innern zurückzuführen. Zwar weckt der Begriff »junge Männer« von Hause aus Assoziationen wie »kraftvoll« und »stark« (vgl. 1Chr 12,28; 1Makk 2,66), aber es liegt auf der Hand, daß Stärke hier nicht die körperliche oder seelische Verfassung meint. Eher trifft den Sachverhalt Jes 40,30f, wo auch die Kraft der jungen Männer von Gott kommt: »Jünglinge werden müde und matt, Krieger straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, empfangen immer neue Kraft.« Die Stärke besteht in der Stärke des Glaubens (lJoh 5,4), und eben wegen ihrer Glaubensstärke können Christen metaphorisch »junge Männer« genannt werden. Die Konstatierung der bleibenden Immanenz des Wortes Gottes, das allein die notwendige Kraft im Kampf mit dem Bösen schenkt, in 14g läßt besonders klar zutage treten, in welchem Umfang die Zusagen an die einzelnen Gruppen tendenziell immer allen Glaubenden gelten. Die negative Folie für 14g hat der Autor schon in 1,10d geschaffen. Die Einschränkung der Adressatenangaben auf genau abgegrenzte Altersgruppen Wirkungsführt gerade in der Neuzeit zu Interpretationen, die mehr über die pastoralen und geschichte moralischen Fixierungen ihrer Urheber verraten als über den Text. Die »Kindlein« identifiziert man mit Kleinkindern237 und gewinnt daraus einen mehr als zweifelhaften neutestamentlichen Beleg für die Kindertaufe 238 . Die Gewichtung der Mahnung an die »jungen Männer« scheint manchen angemessen, weil das Jugendalter besonderen Versuchungen und Gefahren auf sexuellem Gebiet ausgesetzt sei239 . Der Jesuit a Lapide meint, der Apostel empfehle die Einrichtung von Schulen für die allseitige Heranbildung der christlichen Jugend (ein Postulat, das sein Orden mit zahlreichen Gymnasien vorbildlich erfülle), während er nach Josef Könn »die Jugendseelsorge wohl mit besonderer Liebe betrieben haben« muß240. Fast sehnt man sich wieder nach
236 237 238
Vgl. Wengst 87. Maurice 108. Wolf 57.
239 240
Findlay 187f; Belser 46. A Lapide 542f; Könn 60.
136
Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17)
der altkirchlichen Auslegung zurück, auch wenn ihr Grenzen gesetzt sind. Sie versteht nämlich die Altersstufen allegorisch als Schritte auf dem Weg des Christen zu immer höherer Vollkommenheit und teilt die Gläubigen in entsprechende Klassen ein241 . Näher beim Text dürfte Augustinus bleiben, wenn er, wie schon angedeutet, auf derartige Klassifizierungen verzichtet und mit allen drei Kategorien ein und dieselben Gläubigen angesprochen sieht: Filii sunt, patres sunt, juvenes sunt . .. In filiis na-
tivitas, in patribus antiquitas, in juvenibus fortitudo 242•
Zusammen- Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern, die er von seinen Adressaten einfassung fordert (2,10), bildet für den Verf. auch den eigentlichen Beweggrund dafür, daß er zur Feder greift (vgl. 2Joh 12). Die Verse 12-14 geben einen Durchblick frei auf den Akt des Schreibens als kommunikatives Geschehen von der Basis besorgter Zuneigung aus. Gegen alle etwaigen Zweifel wird die Sicherheit des gemeinsamen Glaubens beschworen, der auf der Gewißheit aufruht, daß Erlösung bereits geschehen ist. Im Bild gesprochen: Gekämpft wird nicht, um zu siegen, sondern weil der Sieg schon errungen wurde und aus dem Überschwang dieses Sieges heraus. In abstrakter Sprache sichern die Verse Sündenvergebung, Gotteserkenntnis, Christuserkenntnis und Immanenz des Gotteswortes zu. Der Verf. zeigt sich auch mit der Praxis vertraut, einzelne Gruppen in der Gemeinde gesondert anzusprechen (Haustafeltradition), macht damit aber nicht wirklich ernst. Er hat immer die Gesamtheit der Glaubenden vor Augen, weil er jeden einzelnen von ihnen als selbstverantwortliches gläubiges Individuum respektiert (vgl. 2,20-21.27).
b Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17) Literatur: Joüon, P., I Jean 2,16: 'H 'AAAZONEIA TOY BIOY. »La presomption des richesses«, RSR 28 (1938) 479-481; Keulenaer, J. de, De I Joannis II, 15-17, CMech 21 (1932) 189f; Klauck, H.f., In der Welt - aus der Welt (lJoh 2,15-17). Beobachtungen zur Ambivalenz des johanneischen Kosmosbegriffs, FS 71 (1989) 58-68 (engl. Kurzfassung: ThD 37 [1990]209-214); Lazure, N., La convoitise de la chair en I Jean, II,16, RB 76 (1969) 161-205; Procope, /.F., Augustine, Plotinus and Saint John's Three >Concupiscences<, in: Studia Patristica XVII, hrsg. E.A. Livingstone, Oxford 1982, 1300-1305.
15a
b c 16a
Liebt nicht die Welt noch das ("ta) in der Welt! Wenn einer die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters 243 nicht in ihm. Denn a11 das ("t6) in der Welt
Vgl. Origenes, Horn in Num 9,9: ... quas Iohannes ... distinctione mystica comprehendit . . . In quibus utique non corporales aetates, sed animae profectuum differentias ponit; Ambro241
sius, Explanatio super Psalmos 43,5 (262,17-
19 CSEL 64); Hieronymus, Ep 140,20; Dionysius bar Salibi 122; Cramer, Catenae 113-115 . 242 Augustinus 164/166. 243 A C u.a. haben in Angleichung an 2,5 »die Liebe Gottes«.
137
1]oh 2,15-17: Analyse; 2,15ab: Erklärung
b
c
d 17a
b c
- die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und die Prahlerei mit dem Wohlstand ist nicht aus dem Vater, sondern ist aus der Welt. Und die Welt vergeht und ihre244 Begierde. Wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit245 •
Achten wir zunächst auf die rekurrenten Begriffe. Dem führenden Terminus 'X6allo~ Analyse (6mal) ist buthJllLa (3mal) zugeordnet. Den Gegenpol bildet die Erwähnung Gottes bzw. des Vaters (3mal). Intern enthält jeder der drei Verse eine Variante der Basisopposition Welt vs. Gott. In V. ISlautet sie Liebe zur Welt vs. Liebe des Vaters, in 16cd chiastisch dazu »aus dem Vater« vs. »aus der Welt«, in V. 17 schließlich »die Welt ... und ihre Begierde« vs. Tun des Willens Gottes, verbunden mit vergehen vs. ewig bleiben. Der Weltbegriff wird näher entfaltet, in ISa durch »das in der Welt« (plural tal, in 16a durch die äquivalente Aussage »all das in der Welt« (Singular t6, durch :rriiv universalisiert). In einer dreigliedrigen Parenthese erläutert 16b, was unter »all das« im einzelnen zu verstehen ist. Für V. 12-14 hatten wir oben auf die urchristliche Haustafeltradition verwiesen. In ähnlicher Weise lehnt sich die Trias in 16b an die Gattung des Lasterkatalogs an (vgl. bes. GalS,19-21: die Werke des Fleisches), verarbeitet dieses Muster aber in einer freien, numerisch eingeschränkten und inhaltlich grundsätzlichen Weise. Der Sündenbegriff wird durch Reduktion generalisiert und radikalisiert. Immerhin ist die Abhängigkeit von paränetischen Traditionen des Urchristentums noch erkennbar, und sie dürfte auch der Grund sein für die Nähe zu Jak 4,1-17 (vgl. auch die Rolle der Begierde in Jak 1,14f). Aus der Abfolge von »in der Welt« in ISa/16a und »aus der Welt« in 16d ergibt sich die paradox klingende Grundthese: Was in der Welt ist, ist aus der Welt. Der Heilszusage aus V. 12-14 folgt in V. 15 der mahnende Appell, und zwar in Erklärung der Form des Verbots. Wieweit reicht diese Negation? Impliziert sie eine 15ab grundsätzliche Absage an die Welt? Fordert sie die Christen zum Rückzug in ein selbstgewähltes Ghetto auf? Diese Problematik kann man nicht schon dadurch entschärfen, daß man im Anschluß an antike Zeit- und Gesellschaftskritik die in vieler Hinsicht unheilvollen Zustände in der heidnischen Umwelt, vor allem das lasterhafte Leben und die Greueltaten am römischen Kaiserhof, in breiten Sittengemälden aufrollt. Es ist mehr angesprochen als nur die »contemporary ... pagan society, with its sensuality, superficiality and pretentiousness, its materialism and its egoism«246. Die Welt scheint in unserem Text nur noch als Wirkungsfeld des Bösen (vgl. 14h) und als Wider-
244 airwü fehlt in A P 33 u.a., vgl. Metzger, Commentary 710. 245 Die Anfügung »wie auch er (Gott) selbst in Ewigkeit bleibt« bei einigen Lateinern u.a. (vgl. Thiele, VL 26/1, 283) ist textkritisch oh-
ne Bedeutung, gegen Harnack, Textkritik 561f. 246 So Dodd 42; Neil Alexander 62f; Grayston 75.
138
Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17)
sacher Gottes betrachtet zu werden. Es führt kaum ein Weg daran vorbei, den Kosmosbegriff im Kontext an die Finsternis von V. 9-11 anzunähern. In der Welt herrscht jene Dunkelheit, die den Schritt straucheln macht und das Auge verdüstert. Es ist eine lieblose und vom Haß regiert Welt, der man als Christ unmöglich die für Brüder und Schwestern reservierte Liebe (2,10) zuwenden kann, es sei denn, man nehme den eigenen Heilsverlust bewußt in Kauf. Nun widerspricht dem jene andere, positivere Sicht der Welt, auf die der Text kurz zuvor in 2,2 zu sprechen kam: Jesus starb den Sühnetod zur Rettung der ganzen Welt. Ein Differenzierungskriterium gibt der Ausdruck »die ganze Welt« in 2,2 im Vergleich zu »all das in der Welt« und »aus der Welt« in 2,16 an die Hand. Die ganze Welt als Adressatin des Erlösungsgeschehens - damit ist die Welt noch nicht erschöpfend beschrieben. Es gibt die Welt auch als eine gottfeindliche Größe. Wie sie und warum sie dazu wird, das deutet 2,16 an. 15c Der Klärung bedarf noch, ehe wir uns der Trias in 16b zuwenden, die Immanenzaussage in 15c. Die meisten Ausleger deuten die »Liebe des Vaters« als unsere Liebe zum Vater247. Sie berufen sich darauf, daß zuvor von unserer Liebe zur Welt gesprochen wurde. Das Argument verliert bei näherem Hinsehen viel von seiner Wirkung. Warum sagt der Verf. dann nicht unmißverständlich: »der hat nicht (EXEL) die Liebe zum (JtQo~ "tov) Vater«? Bei »Liebe des Vaters« liegt die Vorstellung vom Vater als Urheber der Liebe einfach näher. Genauso ist der Genitiv in »der Wille Gottes« in 17b zu verstehen. Außerdem kann »Liebe des Vaters« schwerlich anders aufgelöst werden als »Liebe Gottes« in 2,5. Auch dort verdient die Deutung: Liebe, die Gott uns erweist, den Vorzug. Daß es hier »Vater« heißt und nicht »Gott«, erklärt sich von der Anrede der Gläubigen als Kinder und ihrer Erkenntnis des Vaters in V. 14 her. Die Liebe, die Gott als Vater in Jesus Christus der Welt zugewendet hat, ist dort nicht gegenwärtig, wo sich jemand der unter einem negativen Vorzeichen stehenden Welt verschreibt und damit unfähig wird, die Antwort der Liebe zu geben. Dieses Vorzeichen, das eine Negierung der Liebe zur Welt er16ab zwingt, bestimmt V. 16 näher als Begierde, die als treibende Kraft in die Grundstruktur der Welt eingezeichnet ist und sie erst zur Welt im eingeschränkten (dualistischen) Sinn macht. Begierde 1 Das NT gebraucht rnL1'tUl-tLa vorwiegend pejorativ als böses Begehren, sündige Begierde (Röm 7,7f), ohne dabei schon die später vorherrschende Einschränkung auf sexuelle Wünsche und Triebimpulse vorzunehmen. Wir stoßen im Judentum bereits auf die Tendenz, das letzte Dekaloggebot Ex 20,17 (»Du sollst nicht begehren ...«) von seiner Bindung an Eigentumsdelikte abzulösen und auf die zweite Dekalogtafel auszudehnen (vgl. 4Makk 2,5f). 247 Vgl. nur Bonnard 50; anders etwa Schunack 42; vermittelnd Smalley 83.
lJoh 2,16b: Begierde
139
Philo bezeichnet die Begierde als »die Quelle aller übel«, als das »Grundübel« schlechthin (SpecLeg 4,84f). Alle Kriege, die je geführt wurden, entspringen »der Begierde nach Schätzen oder Ruhm oder Sinnenlust« (Decal 153). Deutlich wird im letzten Zitat auch die Tendenz zur Reihenbildung, speziell zur Bildung von Triaden. So warnt die Damaskusschrift vor den »drei Netzen Belials«, die da sind: Unzucht, Reichtum und Befleckung des Heiligtums (CD 4,15-18). Verdeckt finden wir eine solche Reihung auch in einer Stelle aus dem Sirachbuch, die nicht zuletzt durch die Nennung der Augen Verwandtschaft mit 1Joh 2,16b aufweist: Herr, Vater und Gott meines Lebens, den Blicken der Augen gib mich nicht hin! Und Begierde wende ab von mir! Die Begierde des Essens und die Lust mögen mich nicht ergreifen, und schändlicher Gier gib mich nicht preisF48
Im Johannesevangelium korrunt E:7tL'Ö'UJ.l.ia nur in 8,44 vor: »Ihr habt den T eufel zum Vater und wollt die Begierden eures Vaters tun.« Die Begierde wird dem personalen Vertreter des widergöttlichen Bösen (vgl. 1Joh 2,14h) zugeordnet. Nach Joh 8 verhindert sie, daß die Juden sich Jesus und seinem Wort im Glauben öffnen und so zur Erkenntnis des Vatergottes (8,42) und seiner Wahrheit gelangen. 2 Zu »Begierde des Fleisches« assoziieren christliche Erklärer nahezu re- '" des flexhaft sinnliche Lust, vor allem Neigung zur Unzucht, unter Einschluß von Fleisches Unmäßigkeit im Essen und Trinken. Die Auslegungsgeschichte bietet dafür eine einzige Kette von Beispielen. Man kann dieses Verständnis nicht einfach für absurd erklären, gibt es doch deutliche Hinweise für entsprechende antike Sprachkonventionen. Eine fast wörtliche Parallele steht bei Plutarch bezeichnenderweise in einem Traktat, in dem er sich mit den Epikuräern auseinandersetzt. In ihrem System werde die Seele von den Begierden des Fleisches ('ta~ 'rii~ O
Sir 23,4-6 (übers. G. Sauer, JSHRZ ill/
5). 249 250
Plutarch, Suav Viv Epic 14 (1096C). Vgl. seinen gleichnamigen Aufsatz
ZNW 48 (1957) 237-253. Falsche Alternativen konstruiert Lazure 4 16lf. Mit Recht widerspricht Schnackenburg 337.
140
Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17)
Qumran zusammen. Das »frevelnde Fleisch« mit seiner Bosheit provoziert Sünden und Übertretungen (lQS 11,9.12), es steht in Opposition zu Gott (lQM 4,3). Im NT bildet Sarx mit Pneuma als gottgeschenkter Gabe ein antithetisches Begriffspaar. Einleitend zu seinem großen Laster- und Tugendkatalog schreibt Paulus in GaI5,17, daß die Sarx aufbegehrt (bu&uIlEY wider das Pneuma (vgl. Röm 13,14). Zwei weitere Belege für aae1; im Johannesevangelium sind gleichfalls vom Gegenüber von Geist und Fleisch bestimmt (Joh 3,6; 6,63; vgl. 1,13). Das Merkmal des Sündigen steht an diesen Stellen nicht im Vordergrund. Hier geht es um das, was den Menschen in seinem Menschsein bestimmt, wenn ihm das göttliche Pneuma fehlt .
. . . der 3 Die »Begierde der Augen« hat Augustinus auf jene verderbliche NeugierAugen de gedeutet, von der Circus und Theater, heidnische Kulte, Magie und Zauberei leben251 . Die biblischen Paradigmen weisen aber in andere Richtung. Möglich wäre zum einen die Einschränkung auf Verleitung zur Unzucht, an der begehrliche Blicke maßgeblich beteiligt sind252. Das steht und fällt aber mit einem entsprechenden Verständnis von »Begierde des Fleisches«, das nicht das johanneische sein dürfte. Möglich wäre zum andern die Auslegung auf Habsucht, Geiz und Gier nach immer mehr Besitz (vgl. Koh 4,8; Sir 14,9: das Auge des Habgierigen 253). Einen Fingerzeig gibt der Kontext an die Hand. 1Joh 2,11 hat kurz zuvor metaphorisch von der Verdüsterung der Augen durch die Finsternis gesprochen (vgl. die bildhafte Aussageebene in der Erzählung von der Blindenheilung in Joh 9). Begehrliche Augen richten sich nur auf das Irdische und dringen deshalb nicht zu dem Licht durch, das allein wahres Sehen ermöglicht. c:'xAa~oVE(a 4
Der w..a~(Ov, der Angeber oder Prahler, ist ein stehender Charakter in der antiken Komödie. Seine Eigenschaften umreißt mit scharfer Feder Theophrast: Er »steht an der Mole und erzählt Fremden, wie hohe Summen er in die Schiffahrt investiert hat ... Im gleichen Moment sendet er seinen Knaben zur Bank, obwohl er nur eine Drachme auf seinem Konto hat ... Zur Zeit der letzten Hungersnot hat er nach seinen Worten mehr als fünf Talente aufgebracht für notleidende Mitbürger, weil er nun einmal nicht nein sagen kann ... Er lebt in einem gemieteten Haus, erzählt aber jedem, der es nicht besser weiß, es sei sein Vaterhaus, und er müsse es nun doch bald verkaufen, weil es zu klein sei für seine Empfänge und Parties«254. Auffällig dabei die ausschließliche Konzentrierung auf - nicht vorhandenen - Reichtum und der vorgeschobene Altruismus. Die gleichen Worte wie 1Joh 2,16 verwendet Polybius, wo er den Untergang eines blühenden Staatswesens aufgrund des ehrgeizigen Strebens
Augustinus 176: Ipsa in spectaculis, in theatris, in sacramentis diaboli, in magicis artibus, in maleficiis ipsa est curiositas. Zur Herleitung Procope* 1304f. 252 Gen 39,7 (die Frau des Potifar wirft ein Auge auf Joset); Mt 5,28; 2Petr 2,14; aus Qumran 1QS 1,6 (»Augen der Unzucht«); CD 2,16; 1QpHab 5,7 (»hinter ihren Augen her huren«), dazu Braun, Qumran I 294f. 251
253 Zu Unzucht und Habgier als Hauptlaster in der jüdisch-christlichen Tradition katalogartiger Mahnrede vgl. E. Reinmuth, Geist und Gesetz. Studien zu Voraussetzungen und Inhalt der paulinischen Paränese, 1985 (ThA 44),12-47. 254 Theophrast, Char 23,lf.5.9. Vgl. Spicq, Notes I 64-66.
l/oh 2,16b: Lastertrias
141
nach Ämtern und des protzigen Zurschaustellens der Besitztümer (tl :rtEQL 'tOiJ~ ßwu~ ~OVELa) vorhersagt255. ßw~, in der Grundbedeutung irdisches, »biologisches« Leben, bei Johannes unterschieden vom Heilsgut der ~O)'ll, bedeutet, wie 1Joh 3,17 zusätzlich belegt, in unserem Zusammenhang: Mittel zum Lebensunterhalt (Mk 12,44), Reichtum, Vermögen, Wohlstand. Hier fügt sich die Frage aus Weish 5,8, die sich die Gottlosen stellen, ein: »Was hat uns unsere Vermessenheit genützt? Welchen Vorteil hat uns der Reichtum mitsamt der Hoffart (Ma1;oVELa) gebracht?« Philo polemisiert gegen aufgeblasene und prahlerische (im' ~OVELa~ cpuaw!!Evwv) Zeitgenossen, die zu üppiger Lebensführung (ßwv) neigen, sofern sie über genügend materielle Güter (ßwv) verfügen. Einer von ihren Vertretern hat laut philo die gutgemeinten Mahnungen eines älteren Mannes (:rtQEOßirrr]~) und väterlichen Freundes sehr übel aufgenommen256 • Es steckt in ~OVELa eine nach außen gerichtete Bewegung, ein bewußtes Agieren vor den Augen anderer; w.a~ovELa ist auf ein Publikum hin zugeschnitten257. Wie Protzerei mit dem Reichtum in der römischen Gesellschaft aussah, kann man an Petrons genialer Schilderung des Gastmahls des Trimalchio, eines neureichen Emporkömmlings, ablesen258 •
Hat die Trias von 16b trotz der formalen Adressierung an die Gemeinde etwas mit den Gegnern des Verf. zu tun und liegt darin vielleicht ihr einheitlicher Fluchtpunkt, wie Brown und Wengst auf je eigene Weise vermuten? Wengst faßt von 3,17 her alle drei Begriffe in materiellem Sinn auf, als Formen von Habgier und Geiz. Das Grundübel sei das Mehr-sein-Wollen und Mehr-haben-Wollen, das die Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern zerstört259. Brown geht von der Nähe der Dissidenten zum Kosmos in 4,1.5 und 2Joh 7 aus, bescheinigt ihnen eine missionarische Hingabe an die Welt, die aber zur Selbstaufgabe führt, und ordnet die Trias restlos in den johanneischen Dualismus ein. Ohne libidinöse Untertöne beschreibe sie die Bedingungen des Seins in der Welt außerhalb der Christusoffenbarung26o • Richtig ist, daß die »Prahlerei mit dem Wohlstand« im Verein mit 3,17 auf soziale Mißstände in der Gemeinde anspielt, die dem Geist der Liebe, der in ihr herrschen sollte, zuwiderlaufen. Richtig ist ferner, daß eine einseitige Ausrichtung auf sexuelle Vergehen und sinnliche Lust für Johannes in Abrede zu stellen ist, ErrlihJllla vielmehr in umfassender Weise die Situation des Menschen in seiner ganzen Verlorenheit einfangen will. Ob sich eine noch präzisere einheitliche Interpretation erzwingen läßt, erscheint fraglich. Man muß überhaupt für die gebotene Erklärung wie schon für 2,12-14 einräumen, daß sich zwischen der traditionellen Sprachform (Andeutung eines Lasterkatalogs) und der eigentlichen Intention eine gewisse Diskrepanz auftut. Polybius VI 57,6. SpecLeg 2,18f. Vgl. Virt 16lf und 172: ö.A.atovEia ist ein Laster der Seele; der &Mtoov hält sich (mit einem Pindar-Zitat) »nicht für einen Menschen und nicht für einen Halbgott, sondern für einen ganzen Gott«. 257 Dies als Einwand gegen Joüon*, der ö.A.a255 256
tovEia "tOii ßio1! von Lk 12,19 und Jak 4,16 her als vermessenes Vertrauen auf Sicherheit, die der Reichtum gewährt, interpretiert. 258 Petronius, Satyricon 27-78. 259 Wengst 95-97. 260 Brown 323-326. Ein Vorläufer ist Wurm, Irrlehrer 116-121.
142
Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17)
16cd Nachdem die Trias von 16b das In-der-Welt-Sein näher beleuchtet hat, folgt in 16cd eine Antithese, die ein typisch johanneisches Idiom enthält: ElvaL EX (vgl. nur Joh 3,6; 8,23). Mit ElvaL EX (sein aus) bestimmt die johanneische Sondersprache Ursprung und Wesen eines Phänomens innerhalb des dualistischen Begriffsrahmens von Himmel, oben, Geist, Vater vs. Erde, unten, Fleisch, Teufel (vgl. Joh 8,44). Die Herkunftsangabe macht zugleich eine Aussage über Wesenseigenschaften und über Verhalten, vgl. Joh 3,31: »Wer aus der Erde ist, ist aus der Erde, und aus der Erde (d.h. Irdisches) redet er.« Aus dem Vater sein bedeutet johanneisch gesprochen soviel wie von Gott gezeugt sein (Joh 1,13), wiedergeboren sein aus Wasser und Geist (Joh 3,5). Anders ausgedrückt: Wer aus dem Vater ist, hat sich von der Liebe, die der Vater in der Sendung seines Sohnes der Welt erwiesen hat, ergreifen lassen und wurde so zu einem neuen Menschen. Die Welt hat sich dem verschlossen. Erst durch diese schuldhafte Verweigerung wird sie zur gottfeindlichen, dem Bösen überantworteten Gegenrnacht. Die Liebe Gottes (vgl.15c) wirkt als Katalysator. In der Reaktion auf sie kristallisiert sich heraus, was fortan das Sein bestimmt. Jetzt gilt: Was in der Welt ist, ist aus der Welt. Grundstrukturen menschlichen Existierens, wie sie in der Welt vorkommen, verstellen den Zugang zum Heilsangebot Gottes und erhalten dadurch eine neue Qualität, insofern sie nun den Kosmos als Widersacher Gottes konstituieren. Es liegt auf der Hand, daß wir damit vom weltfeindlichen metaphysischen Dualismus der Gnosis ein ganzes Stück weit entfernt sind. , 17 Das Vergehen der Welt und ihrer Begierde, die wir inzwischen als Merkmal ihres gottfernen Wesens kennengelernt haben, ist nicht als Thematisierung der prinzipiellen Vergänglichkeit alles Seienden oder Geschaffenen gemeint, erst recht nicht als Betrachtung über die Kürze des Lebens, wie sie Seneca anstellt261 . Es verläuft eine Linie von 2,8: Die Finsternis vergeht (:rtaeaYETaL, vgl. 1Kor 7,31) über 2,17 zu 2,18: Die letzte Stunde ist da. Die Welt hat ein Zeitlimit, aber ein eschatologisch bestimmtes, und das heißt letztendlich, daß ihre Zeit bereits abgelaufen ist. Der Verf. will seinen Lesern sagen, daß sie die Endphase des apokalyptischen Dramas miterleben. Das verleiht auch der Verheißung des Bleibens (vgl. Joh 8,35; 12,34) erst ihr Profil. Sie reicht in eine eschatologische Zukunft hinein, die gegenwärtig in der Gemeinschaft der Glaubenden und Liebenden schon anbricht. Garant dafür ist das In-uns-Bleiben des Wortes Gottes (14g), dem unser Tun aufgrund selbstverständlicher innerer Übereinstimmung entspricht. Das Tun des Gotteswillens nimmt Gedanken aus 2,3-11 auf: die Gebote halten, wandeln wie Jesus (vgl. Joh 4,34; 6,38), die Schwestern und Brüder lieben.
261 De brevitate vitae 1,1: »Ein großer Teil der Sterblichen beklagt die Mißgunst der Natur: daß wir für eine kurze Spanne Zeit nur geboren werden, daß derart schnell, derart rasch die uns gegebene Frist dahineilt ... « (a
Lapide 548 zitiert zu V. 17 Seneca). VgI. noch RGinza 1 (16,25-27 Lidz.): »Liebt nicht Gold und Silber und nicht den Besitz dieser Welt. Denn diese Welt hört auf und vergeht, und ihr Besitz und ihre Werke werden verlassen.«
l]oh 2,15-17: Wirkungsgeschichte
143
1 Die Ambivalenz des johanneischen Weltbegriffs wiederholt sich unter veränder- Wirkungsten Vorzeichen bei Augustinus, in dessen Gesamtwerk 1Joh 2,16 sehr häufig vor- geschichte kommt. Augustinus sieht sich zu einem Zweifrontenkrieg gegen Pelagianer und Manichäer gezwungen. Den Pelagianern unterstellt er, sie würden die Begierde als etwas Gottgewolltes und Gottgeschaffenes loben, weil sich ihnen erst durch sie die Möglichkeit zur sittlichen Bewährung auftut. Demgegenüber insistiert Augustinus bis zur Erschöpfung auf dem Wortlaut des Textes: Begierde ist nicht vom Vater, d.h. vom Schöpfergott, sondern kommt aus der (entgöttlichten) Welt; sie ist mit anderen Worten als concupiscentia ein Akzidenz der gefallenen Natur und als solches nicht gottgewollt262 . Damit stellt sich aber, wie Augustinus selbst sehr klar sieht, das andere Problem einer Abgrenzung gegenüber dem weltfeindlichen Dualismus der Manichäer. Hier beharrt Augustinus darauf, daß die Welt Schöpfung Gottes ist und bleibt. Ansatzweise versucht er, sprachlich zu differenzieren zwischen »Himmel und Erde« (Welt als Schöpfung Gottes) und mundus (die Welt, die den Teufel zum Herrn hat). Eine Betrachtung der Schönheit der Schöpfung (consideratio pulchritudinis) gesteht er zu, die Bewegung der Begierde auf die falschen Sinnangebote der Welt hin (commotio libidinis) lehnt er aP63. In der Sache geht es darum, ob es gelingt, den Weltbegriff so zu fassen, daß Schöpfung, Soteriologie und Ethik nicht auseinanderbrechen. Es ist kein leichtes Unterfangen, und Augustinus gibt das zu erkennen, wenn er einem seiner Widersacher empfiehlt: Pugna igitur cum apostolo Iohanne, non mecum264 • 2 Die traditionelle Auswertung von 1Joh 2,16 verläuft in festgelegten Bahnen. Durchgängig parallelisiert man die Trias im Zentrum des Verses mit den drei Hauptsünden Wollust, Habsucht und Hoffart des Leben (voluptas, avaritia, superbiaj265. In einem weiteren Schritt werden sie in Beziehung gesetzt zu den drei Versuchungen Jesu, teils auch zur Ursünde im Paradies 266 . Als Gegenmittel empfehlen sich einmal gute Werke, in erster Linie die Trias von Fasten, Almosengeben und Beten. Ein noch wirksameres Hilfsmittel aber bieten die drei Evangelischen Räte, die institutionalisiert wurden zu den drei klösterlichen Gelübden Keuschheit, Armut und Gehorsam 267 . 3 Von Johannes von Schoonhoven, als Prior des Augustinerstifts Groenendael ein wichtiger Vertreter der Devotio moderna, stammt der Traktat De contemptu huius mundi268 , der als Musterbeispiel für eine ganze Literaturgattung dienen kann. Ein reicher Handschriftenbestand bezeugt seine Verbreitung im lateinischen Original und in Übersetzungen. Eine Kurzfassung wurde bis ins 19. Jahrhundert unter den Werken Bonaventuras abgedruckt. Der Text beginnt und endet mit 1Joh 2,15, und jeder der 262 Vgl. (in Auswahl) Contra Julianum 3,45; 4,6 (725.739 PL 44); Opus imperfectum 2,31 (185,14f CSEL 85/1); Contra duas epistulas Pelagianorum 2,2 (461,16-21 CSEL 60). Zum Ganzen Dideberg, Augustin 175-189. 263 Vgl. Contra Julianum 4,64.73; 6,3 (768f.775.822 PL 44). 264 Opus imperfectum 3,209 (503,12f CSEL 85/1). 265 So z.B. noch B. Häring, Das Gesetz Christi. Moraltheologie - dargestellt für Priester und Laien, Freiburg 1956, 382f. Vgl. auch R. Völkl, Christ und Welt nach dem Neuen Testament, Würzburg 1961, 410. Von den
Kommentaren Schnappinger 453; Calmet 646 (mit Rückbindung an Pythagoras und Philo). 266 Bisping 317; Mayer 86; Moody 45. 267 Zur Gesamtlinie vgl. Thomas von Aquin, S. th. I-li q. 108, a. 3, ad 4; a. 4, respondeo. 268 A. Gruijs, Jean de Schoonhoven (13561432). Son interpretation de I Jean 2,15 »N'aimez pas ce monde, ni ce qui est dans ce monde.« De contemptu huius mundi. Bd. 1-4, Nijmegen 1967; dort in Bd. 1 der Text und in Bd. 3 ein Kommentar.
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Warnung vor der Liebe zur Welt (2,15-17)
sieben Durchgänge, der je für sich ein Motiv für den Verzicht auf die Welt nahelegt, mündet in das Zitat aus 1Joh 2,15 ein. Bei genauerer Analyse zeigt sich, daß der Weltbegriff nicht ontologisch angelegt ist, sondern moralisch. Eine Absage an die Welt wird gefordert, insofern sie mit ihren oberflächlichen Beschäftigungen und zweifelhaften Vergnügungen den Zugang zu Gott verstellt. Allerdings weiß der Autor auch kein Rezept für eine befriedigende Gestaltung des Lebens in der Welt von diesen Prämissen aus. Sein zusammenfassender Ratschlag geht dahin, die Welt zu verlassen und in klösterlicher Abgeschiedenheit zu leben. 4 Einen (bewußten?) Kontrapunkt zu 1Joh 2,15 setzt Friedrich Nietzsche, wenn er dazu aufruft, die Welt zu lieben269: »ihr Ewige, liebt sie ewig und allezeit«270. Es mag überraschen, wenn als letztes Beispiel in dieser Reihe Zarathustras Lied zitiert wird, das Gustav Mahler im 4. Satz seiner 3. Sinfonie mit einer bewegenden Melodie versehen und einer Altstimme anvertraut hat. Aber wesentliche Momente unseres Textes kommen darin vor: die Begierde oder Lust (mit dem Leid als ihrem unaufhebbaren Schatten 271 ), die Welt, das Vergehen, die Ewigkeit. Nur wird die Ewigkeit nicht mehr von Gott her gedacht, sondern innerzeitlich als ewige Wiederkehr, nach der Leid und Lust, die der Welt in ihrer Tiefenstruktur eingeschrieben sind, gebieterisch verlangen: Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? »Ich schlief, ich schlief -, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh -, Lust - tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit -, - will tiefe, tiefe Ewigkeit!«272
Zusammen- Die negative Weltsicht, die sich in V. 15-17 Bahn bricht, ist sicher mitbedingt fassung durch sehr unangenehme Erfahrungen des Verf. und seiner Gemeinde(n) mit ihrer Umwelt, findet in diesem Faktum aber keinesfalls schon eine hinreichende Erklärung. Die im johanneischen Weltbegriff angelegte tiefreichende Spannung darf nicht weginterpretiert, sondern muß theologisch ausgehalten werden. Der Briefautor spricht von der Welt nicht als von etwas unveränderlich Vorgegebenem. Für ihn gibt es Welt nicht unter Absehen von ihrer Ge-
Was übrigens Büchsel33 auch dem Kulturprotestantismus um die Jahrhundertwende zum Vorwurf macht: Man habe »gegen diese Forderung Einwände erhoben und sie abgeschwächt, ja sie geradezu umgekehrt: Habt lieb die Welt.« Tendenzen dazu bei Baumgarten 199f. 270 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Kritische Gesamtausgabe VIII, Berlin 1968, 398. 271 Ebd.: »Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? 269
üh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe.« 272 Ebd. 400. Für Hinweise zu Nietzsche danke ich Herrn Dr. Rainer Bucher. In einern Brief vorn 29.9.1989 bemerkt N. Walter, Jena: »ich bin ganz sicher, daß Ihr Zitat eine ganz bewußte Gegenformulierung zu IJoh 2,15 ist. Derartige Bibelworte sitzen einern protestantischen Pfarrhauskind (alten Stils ...) ja doch in den Knochen.«
1Joh 2,15-17: Zusammenfassung; 2,18 - 3,24
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schichte, die Geschichte des Menschen und Geschichte Gottes umfaßt. Zur Geschichte Gottes gehört seine neue Liebestat in Sendung und Kreuzestod seines Sohnes, die der Welt eine neue Zukunft eröffnet. Zur Geschichte des Menschen gehört die Ablehnung des Offenbarers, wodurch sich die Welt gegen Gott verschließt und ihr eigenes Gesetz, nämlich das der Begierde in umfassendem Sinn, zum obersten Prinzip ihres Handeins erhebt. In einer solchen Welt, in der gnadenlose Praktiken herrschen und Menschen lieblos miteinander umgehen, können die Glaubenden gerade als Liebende kein Zuhause mehr finden. Sie müssen sich sogar davor hüten, daß sie nicht wieder unversehens Verhaltensweisen dieser Welt übernehmen und die Liebe als Grundlage ihres Lebensentwurfs über Bord werfen. Deshalb warnt der Verf. vor einer direkten Hinwendung zur Welt, so wie sie sich am Schnittpunkt göttlichen Handelns und menschlichen Widerspruchs in der eschatologischen Stunde (2,18) darstellt. Wenn noch Hoffnung für die Welt besteht (2,2), dann nicht ohne das Kreuz und nicht am Kreuz vorbei. Der Wunsch nach einem völlig konfliktfreien christlichen Weltverhältnis ist und bleibt eine gefährliche Illusion. Im Gegenüber zur Welt führt die Liebe ins Leiden, nimmt sie auch im Lebensweg der Gläubigen die Grundgestalt des Kreuzes an.
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Vor dem Anspruch der letzten Stunde (2,18 - 3,24)
Der zweite größere Abschnitt, der von 2,18 - 3,24 reicht, geht eingangs sehr viel konkreter als der erste Hauptteil auf die Ereignisse ein, die sich in den Gemeinden abgespielt haben, und rückt sie in eine eschatologische Perspektive (2,18-27). Waren die Kontroverspunkte anfangs vor allem ethisch definiert, so gewinnen sie nun die zentrale christologische Dimension hinzu, die auch einen Ausblick auf die Parusie einschließt (2,28 - 3,3). Im weiteren Verlauf schieben sich mit der pointierten These von der Sündlosigkeit der Gotteskinder (3,4-10) wieder paränetische Anliegen in den Vordergrund, wobei strukturelle Beobachtungen dafür sprechen, 2,28 - 3,10 zu einem größeren Abschnitt zusammenzufassen (s.u.). An dessen Schluß fällt das Stichwort Bruderliebe. Damit ist das Hauptthema von 3,11-24 angegeben, dem in 3,18-24 ergänzend der mit 2,28 - 3,3 verwandte Gedanke von der Beruhigung des Herzens und dem Freimut vor Gott zur Seite tritt. Die Erwähnung des Geistes in 3,24 leitet zum nächsten Hauptteil über, der in 4,1-3 mit der Regel für die »Unterscheidung der Geister« beginnt.
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Das Bekenntnis zum Sohn als Kriterium (2,18-27)
In der Mitte des Textstücks steht die Auseinandersetzung um das christologische Bekenntnis (2,22). Verklammert wird das Ganze durch die Einführung der Termini »Antichristus« (2,18.22) und »Salböl« (2,20.27) in Verbindung
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Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
mit der Polemik gegen die Sezessionisten (2,19.26), um nur das Wichtigste zu nennen (vgl. auch »bleiben« in 2,19.24.27). Eine weitere Untergliederung könnte, wenn sie sich an einem rein formalen Maßstab orientiert, die betonte Anrede mit ulffii:~ in V. 20.24.27 aufgreifen und als kleine Einheiten ausgrenzen: V. 18-19, V. 20-23, V. 24-26, V. 27273 • Problematisch erscheint dabei z.B. die Zuordnung von V. 26, wo mit '(ama eYQa'IjJa (vgl. 2,1) ein Neueinsatz markiert sein dürfte (bei oux EyQa'IjJa in V. 21 liegt der Fall etwas anders, weil dort 'tama fehlt). Wenn man inhaltliche Gesichtspunkte stärker miteinbezieht, kommt man zu folgender Einteilung: V. 18-19 (das Auftreten von Antichristen in der letzten Stunde als Deutung für das johanneische Schisma), V. 20-21 (das geistgewirkte Glaubenswissen derer, die der vom Verf. in Anspruch genommenen Überlieferung treu bleiben), V. 22-23 (die explizite Leugnung des christologischen Grundbekenntnisses durch die Dissidenten), V. 24-25 (Rückblick auf die anfängliche Glaubensüberlieferung), V. 26-27 (zusammenfassende Auskunft über die einzig nötige und gültige Form der Belehrung für Gläubige).
Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
a
Literatur: Ernst, l., Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments, 1967 (BU 3),168-177; Henle, F.A., Der Evangelist Johannes und die Antichristen seiner Zeit, München 1884, bes. 85-129; lenks, G.c., The Origins and Early Development of the Antichrist Myth, 1991 (BZNW 59), 328-347; Klauck, H.l., Der Antichrist und das johanneische Schisma. Zu I Joh 2,18-19, in: Christus bezeugen (FS W. Trilling), 1989 (EThSt 59), 237-248; Prete, B., Anticristo ed anticristi in 1 Giov. 2,18, in: Testimonium Christi (FS J. Dupont), Brescia 1985,439-452; Rauh, HD., Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus, 1973 (BGPhMA NF 9),91-97; Rigaux, B., L'Antechrist et l'Opposition aux Royaume Messianique dans l'Ancien et le Nouveau Testament, 1932 (DGMFT 11/24), 383-387; Sanchez Mielgo, Perspectivas 14-24; Strecker, G., Der Antichrist. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund von 1 Joh 2,18.22; 4,3 und 2 Joh 7, in: Text and Testimony (FS A.F.J. Klijn), Kampen 1988, 247-254; Taeger, Johannesapokalypse 188-195. 18a
b c
d e
f 19a
b 273
gen).
Kinder, es ist letzte Stunde; und wie ihr gehört habt, daß ein Antichrist kommt und jetzt sind viele Antichristen entstanden. Von daher erkennen wir, daß es letzte Stunde ist. Aus uns(erer Mitte) sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht aus uns(erer Mitte).
So Brown 362f (mit weiteren Vorschlä-
l]oh 2,18-19: Analyse; 2,18a: Erklärung
c
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Denn wenn sie aus uns(erer Mitte) gewesen wären, wären sie bei uns geblieben. Aber damit sie offenkundig werden, daß sie alle nicht aus uns(erer Mitte) sind.
Zur neuen Anrede mit :rtmÖfa in 18a ist formal 2,1, vom Vokabular her 2,14 zu ver- Analyse gleichen. Die »Zeitangabe« eOXa"t"T} wQa eO"tlv in 18a und 18f rahmt V. 18 ein. Eine weitere Inklusio bilden »ihr habt gehört« in 18b und »wir erkennen« in 18e. Ins Zentrum dieser konzentrischen Anordnung rückt die Opposition von »ein Antichrist« in 18c und »viele Antichristen« in 18d. In Y.19 fällt das viermalige e; f1l-lwv ins Auge. In 19d tritt 1-lEi}' f1l-lwv hinzu. Dem e; f1!!Wv ist das sehr reale e1;ijMav (sie sind von uns weggegangen) zugeordnet, dem ~' f1!!Wv die irreale Möglichkeit des I-lE!AEvf)xEUJav av (sie wären bei uns geblieben). Unsicherheiten herrschen hinsichtlich der übersetzung des Schlußstückes 1gef, und zwar geht es um olm ELOlV :rtavtE~. Heißt das: »nicht alle sind«, oder: »sie alle sind nicht«? Im ersten Fall wäre der ganze Satz so zu paraphrasieren: An ihnen, den Gegnern, sollte klar werden, daß nicht alle, die sich Christen nennen, wirklich zur Gemeinde gehören und wahre Christen sind. Die Dissidenten geben Anlaß, auf eine allgemeine Gefahr hinzuweisen, von der auch andere Mitglieder der Restgruppe weiterhin bedroht sind. Im zweiten Fall bezieht sich 19f ausschließlich auf die Dissidenten. Kein einziger von ihnen ist je ein echtes Gemeindemitglied gewesen. Die Trennung von olm und :rtavtE~ durch ELolV, die personale Konstruktion von IPavEQOJ'I'twoLV, die Korrespondenz von olm ELolV in 19f und olm ~oav in 19b, all diese Beobachtungen lassen eigentlich nur die zweite Lösung zu 274 . Da der Verf. schon in 2,17 vom Vergehen dieser Welt handelte und in 2,28 Erklärung auf die Wiederkunft Christi ausblicken wird, kommt die Charakterisierung 18a der Gegenwart als »letzte Stunde« nicht überraschend. Der Ausdruck selbst begegnet in dieser eschatologischen Sinngebung andernorts nicht. Ihn hat der Briefautor selbst gebildet, wobei ihm zwei Vorgaben zur Verfügung standen: die Redeweise von den »letzten Tagen« in apokalyptischen Texten und der theologisch qualifizierte Gebrauch von »Stunde« im Johannesevangelium. Von den »letzten Tagen« wird im AT bei den Propheten gesprochen (Jes 2,2; Letzte Ez 38,1; Mi 4,1), aber auch im Pentateuch (Gen 49,1; Dtn 31,29). Aufgegriffen Stunde und ausgebaut hat das die Apokalyptik (vgl. Dan 2,28; 10,14; 1QSa 1,1: »Und dies ist die Ordnung für die ganze Gemeinde Israels am Ende der Tage«; 1QpHab 2,5~. Im urchristlichen Schrifttum verdichten sich die Belege in den späten Schichten, wo als Substantiv zu Eoxmo~ statt T!!AEQu ohne Bedeutungsunterschied auch xULQ6~ (lPetr 1,5; IgnEph 11,1) oder XQ6vo~ (Jud 18) treten kann. Für den Kontext in 1Joh 2,18-19 ist die Beobachtung wichtig, daß die »letzten Tage« nicht nur wie in Apg 2,17 den Anbruch der Heilszeit So auch Henle* 113; Brooke 54; Schnakkenburg 151. Anders Braune 59; Buhmann 42. 274
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Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
anzeigen, sondern daß sie auch harte Prüfungen für die Glaubenden mit sich bringen: »In den letzten Tagen werden schwierige Zeiten aufkommen« (2Tim 3,1), es ist eine »gesetzlose Zeit« mit vielen »Ärgernissen« (Barn 4,9). Im Johannesevangelium kommt EOX(X"tl1 f]f1EQa im Singular vor, im Dialog zwischen Martha und Jesus in 11,24 und an den vermutlich redaktionellen Stellen 6,39-40.44.54; 12,48. Die »Stunde« gewinnt allein, ohne Näherbestimmung durch ein Adjektiv, in der synoptischen Apokalypse (Mk 13,32 par; vgl. Lk 12,40 par) und in der üffb275 eschatologische Bedeutungsgehalte. Das bleibt rein sprachlich zunächst dort gewahrt, wo das Johannesevangelium davon spricht, daß »eine Stunde kommt« (redaktionell evtl. in 5,28), was durch die kommentierende Hinzufügung von >>Und jetzt ist sie da« aber sogleich in die Gegenwartseschatologie des Evangelisten eingebunden wird (so in 4,21.23; 5,25). Auf verschiedene Zeitpunkte innerhalb der Jünger- und Gemeindegeschichte scheint die Wendung in 16,2.25.32 abzuzielen. Charakteristisch für das Denken des Evangelisten sind jene Stellen, wo »Stunde«, absolut gebraucht, die im Kreuzestod sich vollziehende, als Verherrlichung gedeutete Heimkehr Jesu zum Vater einfängt276. Der Verf. des 1Joh setzt nicht bei dieser christologischen Konzentration der eschatologischen Linienführung durch den Evangelisten ein, sondern reaktiviert die apokalyptischen Potenzen, die in dem Syntagma »Es kommt die Stunde« als Traditionsrest noch enthalten waren. Die Reaktivierung beinhaltet zugleich eine Historisierung277, insofern die Zeitangabe »letzte Stunde« jetzt als Legitimation dafür dient, die unheilvollen Endereignisse in der eigenen Gegenwart bereits ins Werk gesetzt zu sehen. Das entschärft, so paradox es klingt, schon etwas die alte Streitfrage nach dem Intensitätsgrad der Nahoder Enderwartung, die in »letzte Stunde« steckt. Weil die urchristliche Naherwartung historisch gesehen so nicht eingelöst wurde, hat man, um dem Verdacht einer Beschränktheit der eschatologischen Perspektive ntl. Autoren zu entgehen, auch zu unserer Stelle verschiedene Gegenstrategien entwikkelt. Eine beliebte Auskunft geht dahin, der Verf. meine mit »letzte Stunde« die ganze Periode seit dem Auftreten Jesu Christi und seiner Auferstehung bis zu seiner Wiederkunft, ohne jede zeitliche Festlegung. Deshalb sei es möglich, problemlos die gesamte Kirchengeschichte in dieser »letzten Stunde« unterzubringen, ob sie nun 100 oder 2000 Jahre umspanne 278 . Andere haben für 1Joh das Vorliegen einer Naherwartung prinzipiell in Abrede gestellt 279 . Hilfreich wäre es sicher, die Bedeutung der Zeitkategorie genauer zu erfassen. Nicht jede Deutung der eigenen Gegenwart im Licht der Endereignisse will 275 Offb 3,3; 9,15; 11,13; 14,15; mit Zusätzen 3,10: »Stunde der Versuchung«; 14,7: »Stunde des Gerichts«. 276 Joh 2,4; 7,30; 8,20; 12,23.27; 13,1; 17,1. 277 Scharf herausgearbeitet von Klein, Licht 291-304.
278 VgL die Einzelnachweise bei Düsterdieck I 292. Andere Vorschläge: Die letzte Stunde sei der Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems (Socinus 107f); der Verf. denke an sein eigenes Greisenalter (Bengel 1009f). 279 Taeger* 142f.
l]oh 2,18: Letzte Stunde, Antichrist
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auf eine lineare Zeitstrecke aufgetragen werden, sie steht im Gegenteil oft quer dazu. »Letzte Stunde« qualifiziert im 1Joh die Zeit der Welt dahingehend, daß sich in ihr Gottes definitives und verbindliches Handeln ereignet. Gottes Handeln in Christus stößt auf Widerstand, und für diesen Widerstand 18bc gibt es auch einen Namen: Antichrist. Belege für ävtL'XQLO'tO~ als festen Terminus finden sich im NT ausschließlich in 1/2Joh280. Nirgends ist an diesen Stellen das weitreichende mythische Potential, das man gemeinhin mit der Antichristvorstellung verbindet, auch nur angedeutet, so daß man fast geneigt wäre, auf seine Heranziehung zu verzichten und sich mit einer rein kontextuellen Bestimmung des Begriffsinhalts zu begnügen. Aber das geht nicht, da der Autor selbst zu erkennen gibt, daß er in 18c einen Traditionssatz aus mündlicher Überlieferung zitiert. Seine Adressaten haben gehört (18b), »daß ein Antichrist kommt«, d.h., für sie zählt dieses spezielle Wissen zum gängigen Vorrat an Endzeiterwartungen. Wir müssen also versuchen, seine Konturen umrißhaft zu bestimmen. Die religionsgeschichtliche Forschung hat den Topos vom endzeitlichen Wi- Antichrist dersacher Gottes und seines Gesalbten weit zurückverfolgt bis zu entfernten mythischen Ursprüngen281 . Als relevant gilt insbesondere das Mythologem vom Kampf des Schöpfergottes mit dem gewaltigen Meeresdrachen, einer Verkörperung der Chaosmacht (Jes 51,9f; Ps 74,3~. Eine Neuauflage dieses urzeitlichen Geschehens steht in der Endzeit bevor (Jes 27,1: »An jenem Tage wird der Herr ... den Drachen töten, der im Meere haust«). Teils ist eine Identifizierung der feindlichen Macht mit Satan als Widersacher (Sach 3,1) oder mit Beliar als Oberbefehlshaber aller gottfeindlichen Kräfte (1QM 1,1) zu beobachten. Die Apokalyptik nimmt seit dem Buch Daniel realpolitische Gegner und Bedrücker des Gottesvolkes wie Antiochus IV. Epiphanes als Modellgestalt für den Anführer des letzten Ansturms gegen Gott282• Ein regelrechter »Gegen-Messias« läßt sich aus dem zeitgleichen jüdischen Schrifttum nicht sicher belegen283 , wohl aber kann man auf den Umgang mit den Pseudopropheten aus Dtn 13,1-5 (im Verein mit Dtn 18,20) verweisen. Als Gruppe oder als herausragende Einzelperson treten sie in der Endzeit auf und verführen durch Zei-
280 1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 7. Ansonsten in der urchristlichen Lit. nur Polyk 7,1 (wohl ein Zitatfragment aus 1Joh 4,2-3). 281 Vgl. dazu immer noch W. Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apocalypse, Göttingen 1885, Repr. Hildesheim 1983; zum Ganzen Rigaux~; Emst~; Strekker·.
282 Vgl. Dan 8,24f; 11,36-39; AssMos 8,1 (mit der Anm. von E. Brandenburger, JSHRZ V/2, 75: »deutet hier auf einen universalen Weltherrscher am Ende der Tage, dessen Bild im folgenden mit Ereignissen aus der Schrekkensherrschaft des Antiochus IV. Epiphanes erstellt wird«). 283 Auch D. Flusser, The Hubris of the Antichrist in a Fragment from Qumran, Irnrn. 10 (1980) 31-37, bleibt problematisch.
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Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
chen und Wunder viele zum Abfall. Das hat die synoptische Apokalypse in Mk 13,22 par Mt 24,24 aufgenommen und durch die zusätzliche Erwähnung von falschen Messiasprätendenten ('Ij1E1JöOXQlO·WL neben 'Ij1E1JÖo:7tQocpi)1m, vgL Mk 13,6) angereichert284. Die ausführlichste Rezeption dieses Stoffes im NT bieten 2Thess 2,1-12 und die Offb. Der nachpaulinische Verf. des 2Thess spricht von der »Parusie« einer mit prophetischer Wunderkraft begabten Gestalt, in der satanische »Energie« steckt (2,9f) und deren letztes Ziel es ist, sich an die Stelle Gottes zu setzen (2,4)285. Ihre Namen lauten: »Mensch der Bosheit«, »Sohn des Verderbens«, »der Gesetzlose« (2,3.8). In Offb 12,7-9 kämpft Michael gegen den »großen Drachen, die alte Schlange, auch Teufel und Satan genannt, der den ganzen Erdkreis verführt«. Von ihm inspiriert ist das Tier aus dem Meer in 13,1-10, in dessen Dienst sich das Tier vom Land in 13,1118 stellt. Beide sind mit Attributen Christi ausgestattet (die Todeswunde, die Hörner gleich einem Lamm). Stellen wie 16,13; 19,20; 20,10, wo innerhalb dieser Trias an dritter Stelle der Pseudoprophet genannt wird, erlauben es, eine teuflische Trinität zu erkennen, in der die mittlere Größe, das erste Tier von 13,1-10, die Rolle des Widerparts Christi übernimmt286 . Damit ist zugleich gesagt, daß im NT der Antichrist nicht wie im Verlauf der späteren Auslegungsgeschichte mit dem Teufel in eins gesetzt oder sogar als dessen Inkarnation angesehen wird 287. Wie die traditionsgeschichtlichen Verbindungslinien verlaufen, ob etwa Einfluß aus dem paulinischen Traditionsbereich vorliegt, ob Offb 12-13 als Indiz für johanneische Gemeindeüberlieferung gewertet werden kann oder ob die jüdisch-apokalyptischen Stoffe in urchristlicher Brechung als gemeinsamer Mutterboden genügen, ist im einzelnen schwer zu sagen. Das Wort »Antichrist« selbst scheint in jedem Fall eine sprachliche Neuschöpfung zu sein, die in der johanneischen Gemeinde geprägt wurde, um einen vorgegebenen komplexen Themenbereich prägnant zu benennen. Die Präposition avtt kann verschieden nuanciert werden. Entweder hat sie den Sinn »anstelle von«. Dann ergibt sich für »Antichrist«: Er ist derjenige, der sich an die Stelle Christi setzen will, der fälschlicherweise vorgibt, Christus zu vertreten und Christus zu sein. Das berührt sich mit den »Pseudo-Christussen« aus Mk 13,22288 • Oder avtt meint »gegen«. In IJoh 2,18 ist eher dieses Moment her-
284 2Petr 2,1 vergleicht die Pseudopropheten in Israel mit den »falschen Lehrern ('l!ElJöOÖLÖaOXaAOL) unter euch, die verderbliche Spaltungen einführen werden, den Herrn verleugnend, der sie erkauft hat«. 285 Vgl. W. Trilling, Der zweite Brief an die Thessalonicher, 1980 (EKK 14), 68-117. 286 So O. Böcher, Die Johannesapokalypse, 1975 (EdF 41), 76-83; R. Yates, The Antichrist, EvQ 46 (1974) 42-50, hier 46f. Zum Nachleben und Weiterwuchern des Mythos vgl. u.a. ApkE131,5 - 43,6; Noema NHC VV4 44,13 - 46,5. 287 P. Schütz, Der Anti-Christus. Eine Stu-
die über die widergöttliche Macht und die deutsche Sendung (1932), in: ders., Der AntiChristus. Gesammelte Aufsätze, Kassel 1949, 9-64, hier 16: der Antichrist »ist die Fleischwerdung des höllischen Logos«. 288 Auch daß es im Traditionssatz 18c vom Antichrist heißt »er kommt« (EQXE'tUL), hängt mit der Erwartung vom Kommen des Messias Goh 4(25), die sich in dem titularen 0 EQXOIJ.EVO; verdichtet (vgl. Plummer 56), und vom Kommen Christi zum Endgericht zusammen. Piper, I John 444f, hält avtLXQL
l]oh 2,18: Antichrist, Wirkungsgeschichte
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auszuhören, legt doch das Folgende dar, daß derjenige ein Antichrist ist, der sich gegen das christologische Bekenntnis wendet289 . Der Briefautor greift die traditionelle Antichristvorstellung nur auf, um sie in 18d polemischer Absicht zu aktualisieren. Die Erwartungen, die seine Leser mit dem Antichrist verbinden, sollen sie auf die Dissidenten übertragen, die hier und jetzt durch ihre abweichende Christologie jenes für den Antichrist typische Sich-gegen-Christus-Wenden realisieren. Die vielverhandelte Streitfrage, ob die gegenwärtigen Irrlehrer nur Vorläufer des einen großen Antichrist sind, der nach ihnen kommt290 , oder ob sie als Kollektiv den Antichrist bereits endgültig repräsentieren291 , ist im letzteren Sinn zu entscheiden. Die »letzte Stunde« läßt keinen Raum für eine Abwicklung des Antichristdramas in verschiedenen Akten. Folgerichtig wird V. 18 abgerundet mit einer nicht 18ef sehr originellen Denkfigur: Am Auftreten von Irrlehrern, zumal von solchen, die den Antichrist darstellen, läßt sich der Beginn der Endereignisse ablesen292. Die Entfaltung einer regelrechten Antichristologie geschieht im Verlauf der Theolo- Wirkungsgiegeschichte auf der Textbasis von 2Thess 2,1-12, der synoptischen Apokalypse und geschichte der Offb. Die Johannesbriefe scheinen eher im Abseits zu stehen. Und doch haben sie in doppelter Hinsicht als ein unentbehrlicher Katalysator gewirkt: 1 Erstmalig stellt 1Joh 2,18 den Namen bereit, der es fortan ermöglicht, die diversen Stoffe aus jüdischer und urchristlicher Überlieferung unter einem Schlagwort zusammenzufassen. Insofern bleiben die theologischen Traktate und Spezialabhandlungen, die den Antichrist im Titel führen 293, den Johannesbriefen verpflichtet, auch wo sie dies nicht eigens erwähnen. Ähnliches gilt für die geistlichen Spiele über den Antichrist, angefangen beim staufischen Ludus de Antichristo294• Schon die bloße Chiffre genügt, um eine Fülle von Erwartungen, Ängsten und Emotionen zu evozieren 295. Für die Faszination dieses Namens bietet noch Friedrich Nietzsche eines der letzten großen Beispiele. Zu den nachgelassenen Schriften, die er vor seiner geistigen Umnachtung für den Druck vorbereitete, gehört auch die Abhandlung »Der Antichrist«296. Beigegeben hat Nietzsche dieser ungeheuer scharfen Endabrechnung mit dem christlichen Glauben in der handschriftlichen Fassung ein »Gesetz wider das
289 VgL de Jonge 107. Dafür wird gern verwiesen auf avti-{}EO~ = widergöttlich, das Philo mehrfach adjektivisch gebraucht (z.B. l?ost 37.123). Zum Sprachlichen Moult-Mill 46f.49. 290 Z.B. H. Preuß, Der Antichrist, 1909 (BZSF V/4), 39. 291 VgL Prete* 447f. 292 VgL Did 16,3f: »In den letzten Tagen werden zahlreich werden die Pseudopropheten ... dann wird der Weltverführer (xoolWMavo~) erscheinen wie der Sohn Gottes und Zeichen und Wunder tun«; dazu Niederwimmer, Did 260-262. 293 Darunter als »Standardwerke«: Hippo-
Iyt von Rom, IIEQL "tOll avtLXQLmOlJ (3-47 GCS 1/2); Adso Dervensis, Libellus de ortu et de tempore Antichristi (CChr.CM 45); Gerhoch von Reichersberg, De investigatione Antichristi I (305-395 MGH.LL 3). VgL GA Bemath / G. Seebaß, TRE m 24-43. 294 VgL K. Aichele, Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und Gegemeformation, Den Haag 1974 (verzeichnet 43 Spiele). 295 Virtuos gehandhabt von U. Eco, Der Name der Rose, München 1982, 507-517 u.ö. 296 In: Kritische Gesamtausgabe VIl3, Ber!in 1969, 163-251.
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Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
Christentum«, das er mit »Der Antichrist« unterzeichnete297• Nietzsche rechnet sich selbst der Schar der Antichristen (im Plural) ZU298 und sagt von sich: »... ich bin, auf griechisch, und nicht nur auf griechisch, der Antichrist«299. Mit dieser Selbstabgrenzung versteht sich Nietzsche nicht nur als unerbittlicher Gegner des Christentums, sondern als sein überwinder, weil er eine lebensbejahende Botschaft zu verkünden meint, die sich von allen hemmenden Fesseln der christlichen Moral befreit habe 30o• Daß die Gegenkritik christlicher Theologen Nietzsche beim Wort nahm und ihn in die Schar der Antichristen einreihte, versteht sich fast von selbst, war man es doch gewohnt, unbequeme Zeiterscheinungen außerhalb und innerhalb der Kirche als Auftreten des Antichristen zu deuten: die Aufklärung3°l, die liberale Theologie 302, Bolschewismus und Materialismus 303• Ihr Vorbild haben die neuzeitlichen Identifikationsversuche in den langen Listen mit Namen von Häretikern, die bei der Auslegung von 1Joh 2,18 regelmäßig auftauchen und jeweils auf den neuesten Stand gebracht werden304• 2 Damit aber sind wir schon bei einem zweiten Gesichtspunkt angelangt. HD. Rauh stellt in seiner gründlichen auslegungsgeschichtlichen Studie fest: Der Einfluß der Johannesbriefe »auf die Tradition steht dem des zweiten Thessalonicherbriefes kaum nach. Seither ist es möglich, den Antichrist als Kollektiv zu denken, das in der Kirche aufwächst ... Das Beispiel der Johannesbriefe erlaubt es dem Mittelalter, den Endfeind in bestimmten religiös-politischen Gruppen zu aktualisieren«305. Die Vermittlung verlief über den Donatisten Tyconius, der im Rückgriff auf 1Joh seine siebte hermeneutische Regel De diabolo et eius corpore formulierte, und über Augustinus, der sie an das Mittelalter weitergab. Inhaltlich besagt sie, daß der Antichrist als Gruppe, als falsi fratres, schon anwesend ist, und zwar in der Kirche selbst306• Ihren sensibelsten und ökumenisch heikelsten Punkt erreicht diese an 1Joh 2,18 anknüpfende kirchenkritische Auswertung des Antichristgedankens da, wo sie gegen das Papsttum gerichtet wird, zum ersten Mal von einer Synode 991 gegen Johannes XV. 307 Von der Geschichtskonstruktion Joachim von Hores ausgehend haben sodann die Franziska-
Ebd. 252; vgl. 161. Götzen-Dämmerung, in: ebd. 49-157, hier 78: »wir Immoralisten und Antichristen«. 299 Ecce homo, in: ebd. 253-372, hier 300 (Hervorheb. im Orig.). 300 Vgl. dazu J. Salaquarda, Der Antichrist, NS 2 (1973) 91-136 (arbeitet den Zusammenhang mit Schopenhauer heraus und verweist auf die ntl. Wurzeln). 301 Ritter 39. 297 298
302 303
Rump 46f. A. Jeremias, Der Antichrist in Geschich-
te und Gegenwart, Leipzig 1930 (Religionswissenschaftliche Darstellungen für die Gegenwart 6), 27-30; P. Steigleder, Das Spiel vom Antichrist. Eine geistesgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 1938 (Bonner Beiträge zur Deutschen Philologie 6), 74 (heide mit manchen Entgleisungen). 304 Eine Zusammenstellung gibt Düsterdieck I 31H. Wirkungsgeschichtlich interes-
sant ist J.W. Nevin, Antichrist oder der Sectengeist. Ein Beitrag zur Kenntniß der Schattenseite des amerikanischen Christenthums, ThStKr 22 (1849) 989-1039: Im Protestantismus, der »eine höhere Stufe des christlichen Lebens repräsentiert« (1008), wirkt der Antichrist weiter in Gestalt der zahlreichen Sekten, die sich abspalten und verselbständigen. 30S Rauh~ 95f. 306 Rauh~ 102-121. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man auch, wenn man 2Thess 2,4 (der Widersacher setzt sich »in den Tempel Gottes«) auf die Kirche bezieht; doch geht die vorherrschende Deutung bei den Vätern dahin, daß der Antichrist den zerstörten Jerusalemer Tempel für sich wieder errichten wird, vgL w.c. Weinrich, Antichrist in the Early Church, Concordia Theological Quarterly 49 (1985) 135-147, hier 141. 307 Rauh~ 191.
l]oh 2,18: Wirkungsgeschichte; 2,19: Erklärung
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nerspiritualen im 13./14. Jahrhundert jene Päpste, die ihrer strengen Armutsauffassung nicht entsprachen, als Antichristen eingestuft3°8 • Die Reformatoren übertragen dieses Urteil auf das Papsttum als Institution. Deutliche·Aussagen fallen u.a. bei der Exegese von 1Joh 2,18 durch Luther und Calvin309• Als Lehrmeinung ging das in einige Bekenntnisschriften ein, wurde Bestandteil der lutherischen Orthodoxie, blieb aber auch weit darüber hinaus virulent310• Noch in einer einschlägigen Untersuchung vom Beginn unseres Jahrhunderts steht zu lesen: »Luthers Antichristauffassung« ist nicht »dumpfe Mythologie«, sondern »Befreiung von dunklen Banden religiösen Irrwahns«; sein Vorstoß fiel keineswegs zu hart aus, ohne ihn hätten wir »den Papst noch heute auf dem Halse«; somit »möchten wir nicht nur die historische Berechtigung der Antichristpolemik Luthers behaupten, sondern ihr auch ein bleibendes Recht einräumen«3l1. Und es steht zu befürchten, daß wir zwar in der theologischen Aufarbeitung etwas weitergekommen sind, daß aber in manchen christlichen Kreisen derartige Aversionen gegen das Papsttum nach wie vor gepflegt werden. Einer sachlichen Auseinandersetzung um Aufgabe und Grenzen des Petrusamtes steht eine solche Polemik im Wege. Daraus ist die Lehre zu ziehen: Mit dem mythologischen Potential der Antichristkonzeption, das schon in 1Joh 2,18 erheblich zurückgeschraubt wurde, sollten wir sehr behutsam umgehen und auf historische Konkretisierungen verzichten. Was bleibt, ist der Schmerz über Spaltungen innerhalb der Christenheit, die seit den Tagen der Johannesbriefe das theologische Denken nicht zur Ruhe kommen lassen.
Im Anschluß an die Passage über die Pseudopropheten in Dtn 13,1-5, die wir Erklärung soeben zum Thema Antichrist und Antichristen verglichen haben, heißt es 19 im gleichen Kapitel wenig später: »Wenn du hörst ..., daß nichtswürdige Menschen aus deiner Mitte hervorgegangen sind (LXX: E;f)Moaav ... €; ulJ.Ö>V) und die Bewohner ihrer Stadt verführt haben mit den Worten: Wohlan, wir wollen gehen und anderen Göttern dienen ... « (Dtn 13,13f). Das ist die Sprache, in die 1Joh 2,19 die weiteren Ausführungen über die vielen Antichristen und über das johanneische Schisma (s. § 7 der Einleitung) kleidet312• Zwar wird versucht, das mehrfache »uns« in V. 19 auf die »apostolic commu-
308 Vgl. R. Manselli, L'Anticristo mistico: Pietro di Giovanni ülivi, Ubertino da Casale ei papi delloro tempo, CFr 47 (1977) 5-25. 309 Luther 670: »Darum ist das Reich des Papstes in Wahrheit das Reich des Antichrist« (weil er die Rechtfertigungslehre leugnet); 672: »Wer also gegen diese Lehre streitet, ist der Antichrist. Keiner hat's mit einem solchen Ansehen betrieben wie der Papst; darum ist er das Haupt der Antichristen«; Calvin 321: Omnes notae, quibusAntichristum
designat spiritus Dei, in papa clare apparent. Ausschließlich vom Papsttum handelt auch H. Tollin, Der Antichrist Michael Servet's, ZWTh 22 (1879) 351-374. 310 Vgl. zur anglikanischen Kirche im 17. Jahrhundert C. Hili, Antichrist in Seven-
teenth-Century England, London 1971, 32: »the old medieval heresy that the Pope was Antichrist had been almost officially accepted by the Church of England.« Dagegen stellt lias 128f fest, daß die von der römisch-katholischen Kirche beanspruchte Autorität zwar nicht die Jesu Christi sei, daß man aber weder die kath. Kirche noch das Papsttum ernsthaft als Antichrist einstufen dürfe. 311 H. Preuß, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Leipzig 1906, 180f. 312 Vgl. Sanchez Mielgo".
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Der Antichrist und das johanneische Schisma (2,18-19)
nity« zu deuten: Der Schreiber versichere, daß die Irrlehrer entgegen ihrer Selbstaussage nicht aus dem Kreis der Apostel kommen313 , oder es auf die Christenheit allgemein zu beziehen: Die Opponenten stammten aus anderen, nichtjohanneischen Gemeinden314 . Aber beide Erklärungen sind zu gezwungen und laufen sogar Gefahr, den Wortsinn zu verstellen. Das viermalige e; tl~WV, »aus unserer Mitte«, das Ursprung und Zugehörigkeit zum Ausdruck bringt, verweist auf eine vorausliegende gemeinsame Geschichte, auf eine längere Phase des Miteinanders in ein und derselben Gemeinschaft. Die Dramatik des Vorgangs besteht gerade darin, daß der Riß sich mitten durch die frühere Gemeinde hindurchzieht und sie in feindliche Lager spaltet. Um diese heikle und bittere Lage zu bewältigen, schreibt der Briefautor zunächst eindeutig die Verantwortung fest: Sie, die gegnerische Gruppe, hat die Initiative bei der Trennung ergriffen und sich fortbewegt, nicht räumlich, aber geistig. Wir, die Beharrenden, sind Träger der Kontinuität; nur wer zu uns hält, hat Anteil an dem, was in johanneischer Sprache »bleiben« heißt. Sodann unterscheidet er zwischen Schein und Wirklichkeit: Echte Glaubende sind die Dissidenten, das haben sie durch ihren Weggang bewiesen, nie gewesen; zur Gemeinde haben sie innerlich nie gehört. Diese Vorspiegelung falscher Tatsachen wird jetzt endlich aufgedeckt. Auf eine Figur im Johannesevangelium treffen ähnliche Aussagen zu: auf Judas 315 . Scheinbar gehört er zu den Zwölfen, aber beim ersten Auftreten schon wird er als ein Teufel entlarvt (6,70-71). Er gibt sich zum Werkzeug Satans her (13,2.27), geht hinaus in die Nacht des Unglaubens (13,30: e/;f)).:{tEv!) und trägt in 17,12 den Namen »Sohn des Verderbens«. Damit tauchen auch Motive aus dem Repertoire der Antichristvorstellung auf. Die negative Typisierung der Judasgestalt verdankt sich schon dem Evangelisten, wurde aber durch die Jüngerredaktion noch verschärft. Anscheinend geschieht auch die Beschreibung der Dissidenten in 1Joh 2,18-19 mit einem Seitenblick auf Judas, der uns im Evangelium als falscher, weil teuflischer Jünger und als»Verräter« des Christus entgegentritt316 . Wirkungs- In der frühen Kirche übte V. 19 eine Entlastungsfunktion beim Umgang mit der Hägeschichte resie aus. Faktisch wurde sie oft genug von Kirchenchristen vertreten, in der Theorie aber konnte man darauf beharren, daß sie nicht in der Kirche entstanden sei, weil ihre Vertreter immer schon unter falscher Flagge segelten317• Wie der gleiche Vorgang je Curtis, Purpose 45f. Wade, hnpeccability 64.78-81. 315 Zum folgenden H.]. Klauck, Judas - ein Jünger des Herrn, 1987 (QD 111), 70-92. 316 Diese Analogie wird in der Kommentarliteratur durchweg notiert (Asmussen 64; Baumgarten 201; Düsterdieck I 347f; Hoskyns 663; Houlden 78; Michl 215; Neander 106), bis hin zu den neueren Beiträgen (Smalley 102; Culpepper 46), wo sie sogar an Gewicht gewinnt, vgl. Langbrandtner, Ketzer313 314
streit 375 (die Redaktion des Evangeliums hat »die Gestalt des Judas ... unter dem Eindruck des dogmatischen Streites zum Erzketzer stilisiert«), und bes. Grayston 80f, der eine mythische Herleitung der Antichristthematik grundsätzlich anzweifelt und die Judasgestalt im Evangelium als hinreichenden Anlaß für ihre Entwicklung wertet. 317 Vgl. mit Nachweisen N. Brox, RAC XIII 260f.
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1Joh 2,18-19: Zusammenfassung; 2,20-21
nach Standort ganz verschieden beleuchtet werden konnte, zeigen die Klagen von Gnostikern. Was auf seiten der Großkirche als ein »Weggehen aus unseren Reihen« angeprangert wurde, gab den betroffenen Gnostikern Anlaß zu der Beschwerde, wider Willen verketzert und hinausgedrängt zu werden: »Wir wurden gehaßt und verfolgt ... auch von denen, die glauben, reich am Namen Christi zu sein«318.
Schmerzliche Erfahrungen verlangen gebieterisch nach einer theologischen ZusammenAufarbeitung. Als Hauptursache des unheilbaren Schismas wird der Verf. im fassung weiteren Verlauf christologische Kontroversen diagnostizieren. Aus der urchristlichen Tradition kennt er - zunächst unter anderem Namen - die mythische Gestalt des Antichrist. Dieses hochsensible Deutungsmuster wendet er auf seine theologischen Gegner an. Der Mythos wird dadurch ein Stück weit rationalisiert und historisiert. Zusätzlicher Endzeitereignisse bedarf es nicht mehr, das Auftreten von Irrlehrern genügt. Zugleich impliziert das eine ungeheure Dramatisierung der eigenen Situation. Das vernichtende Urteil über die Dissidenten arbeitet mit scharfen Schwarzweiß-Kontrasten. Es setzt die Reihe der dämonologisch eingefärbten negativen Charakterbilder fort, die das Evangelium von den Juden und von Judas entwirft.
b Geistgewirktes Glaubenswissen (2,20-21) Literatur: La Potterie, 1. de, L'onction du chretien par la foi, in: ders., Vie 107-167 (aus: Bib.40 [1959]12-69); Michi,]., Der Geist als Garant des rechten Glaubens, in: Vom Wort des Lebens (FS M. Meinertz), 1951 (NTAE 1), 142-151; Prete, B., L'unzione ')(.QLof.lU ricevuta dai credenti (1 Giov 2,20-27), in: Fede e sacramenti negli scritti Giovannei, hrsg. P.R. Tragan, 1985 (StAns 90), 199-234. 20a
b 21a
b c
d
Und ihr, »Chrisma« habt ihr vom Heiligen, und ihr alle wißt319 • Ich habe euch nicht geschrieben: Ihr wißt die Wahrheit nicht, sondern: Ihr wißt sie, und: Jede Lüge ist nicht aus der Wahrheit.
318 2LogSeth NHC VIV2 59,22-26; kontrapunktisch zu 1Joh auch ApcPt NHC VIV3 73,23-27; vgl. Brown 62f. 319 Da man nach oLöa"CE ein Objekt erwartet, ist lt
bis zur Jahrhundertwende (vgl. Harnack, Textkritik 563f) interpretiert den Mehrheitstext, muß sich folglich fragen, was mit »alles« gemeint sei, und gibt zur Antwort: nicht beliebiges, sondern nur heilsnotwendiges Wissen, vgl. Dionysius Cartus. 24f; Nicolaus de Gorran 389; Rickli 137: »das wesentlich Nothwendige«.
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Geistgewirktes Glaubenswissen (2,20-21)
Analyse Das emphatische »und ihr«, mit dem sich der Verf. eingangs seinen Getreuen zuwendet, wird noch verstärkt durch die Opposition von »ihr alle wißt« in 20b und »sie alle sind nicht aus unserer Mitte« in 19f. Auch ein Wortspiel mit »Anti-chris-ten«, dem neu eingeführten Begriff »Chris-ma« und »Chris-tus« (V. 22) scheint beabsichtigt zu sein 32o • Die Verklammerung von V. 20 und V. 21 leistet OLöU'tE in 20b (absolut gebraucht) und in 21bc (mit Objektangabe »die Wahrheit«). Der Gegensatz von Wahrheit und Lüge in 21d bereitet die Frage nach dem Lügner in V. 22 vor. Zu eYQU1jIU in 21a und dem dreifachen Ö'tL in 21bcd tauchen die gleichen Fragen auf, die schon zu 2,12-14 (s.o. die Analyse) diskutiert wurden und hier nicht erneut ausgebreitet werden sollen. Die Aoristform verbleibt als Brieftempus im Horizont des vorliegenden Schreibens und zielt nicht auf das Evangelium oder einen früheren Brief321 . Das syntaktische Verhältnis der drei ö'tL-Sätze ist als einfache Koordination zu bestimmen, kompliziertere Lösungsversuche 322 erübrigen sich. Da wir uns zu 2,12-14 für Aussagesätze entschieden haben, werden wir es auch hier tun. Der Autor schreibt nicht, weil seine Leser die Wahrheit kennen und er deshalb eine positive Resonanz auf seine Zeilen erwarten kann, sondern er versichert ihnen durch seinen Brief, daß es so ist, daß ihr eigenes Glaubenswissen ihnen Zugang zur Wahrheit schenkt. Erklärung Was ist mit »Chrisma« gemeint? Welche Übersetzung trifft den Sachverhalt 20a besser, »Salbung« oder »Salböl«? Handelt es sich um einen Ritus oder um ein Bild? Was wird durch das Chrisma übermittelt, wer ist sein Spender? Das sind die Hauptfragen, die einer Antwort bedürfen.
XQLOf.,tU Als Ableitung von dem Verb XQLeLV, salben, gehört XQLaf.,tu nach den griech. Wortbildungsregeln zu jenen Substantiven auf -f.,tU, »welche meistens das Ergebnis der Handlung bedeuten«323. Ob dem die Wiedergabe mit »Salbö!«324 als Materie des Salbungsvorgangs besser entspricht als die mit »Salbung«325, scheint so sicher nicht (»Gesalbtheit« z.B. käme der grammatikalischen Definition näher). In dem Syntagma 'to EAaLOV 'WÜ XQLOf.,tmO~ der LXX schwingen beide Bedeutungsnuancen mit (»das Öl für die Salbung« / »das Öl, mit dem gesalbt wird«), außerdem kann an diesen Stellen XQLaf.,tU ausgetauscht werden gegen XQLOL~, was »Salbung« heißt326. »Salböl« wirkt im Deutschen im übrigen eher seltsam. Richtig ist, daß nach V. 27 (das Chrisma »bleibt in
Vgl. schon Scottus Anonymus 41 (mit Bezug auf die Antichristen): a diabulo unctionem econtrario habent. Dagegen Gaugier 142f. 321 Anders wieder Strecker 128. 322 Vgl. Chaine 170f; Michl* 146: 21b und 21c sind von eyQU1jJU in 21a abhängig, 21d hingegen fungiert als Objektsatz zu ot6U'tE in 21c; zu übersetzen wäre folglich so: »Ich habe euch nicht geschrieben, weil ihr die Wahrheit nicht wißt, sondern weil ihr sie wißt, und (weil ihr wißt), daß jede Lüge nicht aus der Wahrheit ist.« 323 Kühner-Gerth U2, 272 (Hervorheb. im Orig.). 320
324 Dafür optieren Schnackenburg 152; Thüsing 83; la Potterie* 135. 325 So das lat. unctio der Vetus Latina und der Vulgata. Didymus Alex. 50 und Hieronymus (vgl. Thiele, VL 26/1, 289) haben unguentum. Holtzmann 336 und Schlatter 48f verwenden »Salbung« und »Salböl« nebeneinander her. 326 Vgl. Ex 29,7; 35,19 mit 29,21; 35,28 sowie 38,25 (mit v.l.); 40,9 (mit v.l.); dazu Brooke 55.
l/oh 2,20a: Chrisma
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euch«, es »lehrt euch«) nicht der Vorgang der Salbung im Blick steht, sondern der bleibende Effekt, den er bei den Gesalbten hervorruft. Gesalbt wird im AT neben dem Priester (Ex 29,7 etc.) noch der König undseltener - der Prophet, wobei die Verbindung von Salbung und Geistbegabungvon besonderem Interesse ist, vgl. für den König 1Sam 16,13: »Da nahm Samuel das Olhorn und salbte David inmitten seiner Brüder, und der Geist des Herrn kam über David und blieb auf ihm«, für den Propheten Jes 61,1: »Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat.« Zur Konversion der Aseneth zum Judentum gehört eine - erzählerisch allerdings nie realisierte - Salbung mit »Salbe der Unverweslichkeit«327. Im NT kommt XQlof,l.
327
JosAs 16,16: 1!.ExeLO
Spiritus Sanctus est. Ps.-Hilarius 112: >Unctionem<, id est doctrinam. Neu zur Diskussion gestellt durch R.
330
Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen, Leipzig 31927, 396f. Übersubtil la Potterie' 136-142. Gegen die Zuhilfenahme von IgnEph 17,1 (»Salbt euch nicht mit dem üblen Geruch der Lehre des Fürsten dieser Welt«) wendet sich Nauck, Tradition 94.
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Geistgewirktes Glaubenswissen (2,20-21)
auf unkontrollierbare persönliche Geisterfahrungen zu erschweren331 , macht sie nicht akzeptabler. Wirkungs- 1 Von einer rituell vollzogenen Salbung nach der Taufe dürfte zum ersten Mal Tergeschichte tullian sprechen332• Cyrill von Jerusalern entwickelt in seinen Katechesen die Lehre über die Olsalbung (XQLoJ.Ul) im Anschluß an 1Joh 2,20-28. Die Salbung erfolgt nach der Taufe, sie verleiht den Geist, und sie macht aus den Getauften erst richtige Christen (Cat Myst 3,1-7). Nicht zu überhören ist wie schon bei Tertullian das Wortspiel mit Chrisma, Christus, Christen333. Neben der postbaptismalen Salbung kennen wir aus der syrischen Kirche auch eine präbaptismale Salbung. In den Apostolischen Konstitutionen rahmen beide die Taufe ein: »Zuerst salbe (XQi.oE~) mit heiligem 01, dann taufe mit Wasser, und zum Schluß versiegle mit Myron«; dabei bedeutet die anfängliche »Salbung (XQLoJ.Ul) Teilhabe am Heiligen Geist«. Wichtig ist auch die folgende Vorschrift: »Wenn aber weder 01 noch Myron da ist, genügt das Wasser auch für die Salbung (XQLoW) und das Siegel«334, weil man an ihr noch die zentrale Stellung der Taufe mit Wasser erkennt, die metaphorisch und später auch liturgisch die Olsalbung an sich zog. Bei der Schriftbegründung des Firmsakraments konkurriert die 01salbung mit der Handauflegung aus Apg 8,17-19 und 19,6, die in der abendländischen Kirche das Übergewicht gewinnt 335• Es ist somit weder möglich, die Firmung als Sakrament des Geistempfangs schon für 1Joh 2,20 vorauszusetzen336, noch kann man einfach sagen, die Firmpraxis sei aus der bildhaften Sprache dieser Stelle herausgesponnen worden 337. Der Text stellt nur ein Moment in einer komplexen Entwicklungsgeschichte dar, die auch die Gnosis mit einschließt. 2 Keinen Zweifel gibt es am hohen Stellenwert der rituell vollzogenen und theologisch gedeuteten Olsalbung in der Gnosis338. In den Thomasakten stoßen wir auf eine der Taufe vorangehende Salbung mit 01, die der Wassertaufe den Rang abzulaufen schein~39. Die Naassener verstehen sich nach Hippolyt als solche, die »mit unaussprechlichem Chrisma« gesalbt sind 340. Celsus zitiert einen Ausspruch christlicher Initianden: »Ich bin gesalbt mit weißem Chrisma vom Baum des Lebens«, von dem Origenes sagt, nicht einmal von Anhängern gnostischer Sekten habe er so etwas ge-
So Dodd 63f. Vgl. auch Semler 162: »Chrisma« steht nur den doctoribus zu; es meint die legitima auctoritas docendi. 332 Bapt 7,1: »Aus dem Taufbade herausgestiegen, werden wir gesalbt mit der gesegneten Salbung ... unde christi dicti a chrismate 331
... « 333 In Cat Myst 3,5 ist der Effekt der Salbung: XaAEloitE XQLO"tLaVOL, in 3,1 sogar: XQL-
mOL
öt YF:Y6Va'tE.
ConstAp VII 22,2f. Weitere Belege für beide Formen (vor und nach der Taufe) in PGL 444 s.v. EAaLOV C 2-3; 889 s.v. ILUQov C 3; 1529 s.v. XQLaJ.Ul C 2 und 1533f s.v. XQLoo B 9. 335 Vgl. B. Neunheuser, HDG 2IVI2, 29-33. 336 So Mayer 98; Camerlynck 215. Bei Baur, Briefe 320, dient das als Argument für die Spätdatierung des lJoh. 334
So Lücke 287; Luthardt 239. Vgl. W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis, 1907 (FRLANT 10), 296-305; K Rudolph, Die Mandäer. II. Der Kult, 1961 (FRLANT 75), 155-174 (die Salbung mit öl hat bei den Mandäern unter christlichem Einfluß eine ältere »Salbung« mit Wasser bei der Taufe verdrängt); H.G. Gaffron, Studien zum koptischen Philippusevangelium unter besonderer Berücksichtigung der Sakramente, Diss. theol., Bonn 1969, 140-171. 339 Bes. ActThom 27 (verbunden mit einer Geistepiklese). Ferner ActThom 67.121.132. 157. 340 RefV 7,19; 9,22: XQWIJ.EV0L clA<'tA
IJoh 2,20a: Wirkungsgeschichte, Erklärung
159
hört341 . Das Philippusevangelium zählt fünf Sakramente auf, darunter an zweiter Stelle die Salbung: »Der Herr hat alles in einem Mysterion gemacht. Eine Taufe und eine Salbung (XQLof.«l) und eine Eucharistie und eine Erlösung und ein Brautgemach« (EvPhiI68). Die Reihenfolge enthält eine Rangfolge: »Die Salbung steht über der Taufe. Denn durch die Salbung (XQLoJ.LU) wurden wir >Christen< (XQLO"tLUv6~) genannt« (ebd. 95)342. Daß wir es dabei zum Teil bereits mit der Wirkungsgeschichte von johanneischen Texten zu tun haben, beweist der Rückgriff auf die Parakletstellen des Evangeliums in HA NHC II/4 96,35 - 97,3: »... der Geist der Wahrheit, den der Vater gesendet hat. Er ist es, der sie belehren wird über alle Dinge und sie salben wird mit der Salbe (XQLoJ.LU) ewigen Lebens ... « An der Salbung hängt das Überlegenheitsbewußtsein des Gnostikers, sie hebt ihn aus der Masse der Getauften heraus.
Das bringt uns zu einer Frage, die wir bisher bewußt ausgespart haben: Ver- Erklärung dankt sich die Redeweise vom »Chrisma« nur einer polemischen Frontstellung? Haben die Gegner des Verf. mit Hilfe dieser Etikettierung den Geistbesitz exklusiv für sich beansprucht343 ? Der Textbefund mahnt zur Zurückhaltung. Vom »Chrisma« ist nur positiv die Rede; es erscheint als etwas, das allen Gläubigen unbestritten eignet, damit allerdings auch denen, die inzwischen ihren eigenen Weg gesucht haben. Sie nehmen dieses Erbe mit und bringen es in den breiten gnostischen Traditionsstrom ein. Die Aufgabe des Briefautors besteht weniger darin, das »Chrisma« den Gegnern abzujagen und es für die eigenen Anhänger zu retten. Er muß vielmehr erklären, warum vermeintlicher gemeinsamer Geistbesitz so unterschiedliche Folgen haben kann. Die Linie dafür ist durch V. 19 abgesteckt: Sie haben nicht zu uns gehört; ihr »Chrisma« war kein wahres »Chrisma«, sondern, so 21d, Lüge. Als Spender des »Chrisma« nennt 20a den »Heiligen«. Vom AT herkom- 20a mend 344 denkt man dabei sofort an Gott, aber im Rahmen der urchristlichen Tradition345 erscheint eine christologische Deutung ebenso plausibel. Der innerjohanneische Vergleich führt zu keinem restlos gesicherten Ergebnis 346 . Bleibt der unmittelbare Kontext. Da sich am6~ in 25b und rot' amoiJ in 27b eher auf Christus beziehen und insgesamt eine christologische Linienführung vorherrscht, ziehen wir es vor, auch »vom Heiligen« in 20a als Aussage über Christus zu verstehen. Cels 6,27. Vgl. noch Irenäus, Haer I 21,3-5 (u.a. ermöglicht die Olsalbung bei Verstorbenen den Seelenaufstieg); OdSal 36,3; PistSoph 112: Sphragis, Baptisma und Chrisma. 342 Vgl. EV NHC V3 36,16-26: »... die Salbung ist das Erbarmen des Vaters ... die, die er gesalbt hat, sind die, die vollendet wurden ...«; das Gebet zur Olsalbung PrecVal NHC XI/2A 40,1-29. 343 In diesem Sinn Wengst, Häresie 48f; Schunack 46; Grayston 83f. 344 Vgl. die Gottesbezeichnung »der Heilige Israels« Jes 1,4; Ps 71,22 und das titulare »der 341
Heilige« Hab 3,3; Sir 23,9; ferner die Gottesanrede in Joh 17,11. 345 Vgl. »der Heilige Gottes« Mk 1,24; Joh 6,69 sowie Apg 3,14; Offb 3,7. 346 In Joh 14,16.26 sendet Gott den Parakleten, in 15,26; 16,7 sendet ihn Jesus. Die expliziten Pneuma-Stellen in lJoh 3,24; 4,13 sind gleichfalls nicht ganz eindeutig. Einen inneren Zusammenhang von XQikW und ayL6.~ELv Goh 17,17.19; vgl. Ex 40,13) eruiert Haupt, Brief 108. Eine Identifikation des »Heiligen« mit dem Geist erwägen Düsterdieck I 353f; Morris 1264.
160
Streit um das Taufbekenntnis (2,22-23)
20b Als der erhöhte Herr schenkt Christus bei der Taufe den Geist, und daraus erwächst das christliche Glaubenswissen. Das objektlose o'(ömE 3tCIVtEC; in 20b hat den Sinn: Ihr alle seid Wissende (vgl. Jer 31,34), es ist also nicht einschränkend als »ihr alle wißt (es)«, nämlich daß ihr »Chrisma« habt, zu interpretie21 ren. Die inhaltliche Auffüllung des Wissens wird erst in 21 über den Wahrheitsbegriff geleistet. Die Betonung des Wissens hat eine weitere Angleichung der Gläubigen an Christus zur Folge, den uns das Evangelium als den Wissenden schlechthin vor Augen stellt347. Der Autor sieht sich mit dem selbstgeschaffenen Problem konfrontiert, was er Wissenden, die im Besitz der Wahrheit sind, überhaupt noch zu schreiben hat. In 21 und erneut in 26-27 denkt er deshalb über die Grundlagen seiner Interaktion mit der Gemeinde nach. Dabei bleibt er seiner Linie treu. Wiewohl zu den Traditionsträgern gehörend, nimmt er doch nicht einfach eine formale Lehrautorität in Anspruch, sondern läßt sein mahnendes Wort aufgehen in dem, was er an Glaubenswissen auf seiten seiner Zielgruppe voraussetzt. Ihr Wissen ist Zeichen für eine tieferliegende ursprungs- und wesensmäßige Verwurzelung in der Wahrheit. Für sie gilt das Wort aus Joh 18,37: »Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme« (vgl. lJoh 3,19; 4,5). Für die Lüge trifft das nach 21d per definitionem nicht zu. Die Kluft zwischen dem Adressatenkreis des Briefes und den Dissidenten, auf deren christologischen Irrtum V. 22 sofort eingehen wird, ist genauso tief und unüberbrückbar wie jene, die Wahrheit und Lüge voneinander trennt. Zusammen- Der Verf. respektiert das geistgewirkte Glaubenswissen seiner Adressaten, und er tut es aus innerster Überzeugung, nicht aus bloß taktischen Erwägungen fassung heraus. Seine selbstgestellte Aufgabe macht er sich nicht gerade leichter, wenn er allen Glaubenden unterschiedslos eine bleibende Begabung mit dem Geist zugesteht, der in die Wahrheit einführt. Die Dissidenten sind ausgenommen; sie waren in seiner Sicht nie echte Glaubende in dem beschriebenen Sinn.
Streit um das Taufbekenntnis (2,22-23)
c
Literatur: Hanse, H., »Gott haben« in der Antike und im frühen Christentum. Eine religions- und begriffsgeschichtliche Untersuchung, 1939 (RW 27), 104-108. 22a
b c
Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der leugnet, daß Jesus der Christus ist348 ]
347
Joh 7,29; 8,14; 13,3; 16,30; 18,4; 19,28.
348
Im Griechischen steht in 22c noch die
Negation oim, die im Deutschen entfällt. Wiedergeben könnte man sie so: »... wenn nicht der, der leugnend (sagt): >Jesus ist nicht
der Christus<<<; treffend Braune 60: »... es wird aber die Aussage des Lügners, trotzdem daß sie als Ableugnung markirt wird, vollständig notirt, ganz entsprechend dem griechischen Genius.«
161
IJoh 2,22-23: Analyse; 2,22ab: Erklärung
d e 23a
b c
d
Dieser ist der Antichrist, der leugnet den Vater und den Sohn. Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht. Wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater349 •
Die Basisopposition in V. 22-23 lautet: Leugnen (3mal) vs. Bekennen. Als Subjekt Analyse werden »der Lügner« (22a) und »der Antichrist« (22d) namhaft gemacht. Leugnen und Bekennen haben es mit den Hoheitstiteln Christus (22c) und Gottessohn (23c) zu tun. Daß damit auch das Gottesbild tangiert ist, postuliert der Verf. in 22e, und er erläutert es mit einem parallel gebauten Vierzeiler in V. 23 35 Ähnlich konstruiert wie V. 22 ist 1Joh 5,5: »Wer ist der Sieger ..., wenn nicht der, der glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?« (man beachte die Austauschbarkeit von Christus in 2,22 und Gottessohn in 5,5). Ein mit V. 23 verwandter Vierzeiler begegnet in 5,12.
°.
Das Johannesevangelium sagt in 8,44 vom Teufel, daß »keine Wahrheit in Erklärung ihm ist« und daß er »die Lüge redet« (vgl. 21d), um sodann die definitorische 22a Feststellung zu treffen: »weil er ein Lügner ist«. Hier nun werden »Lügner«351 in 22a und »Antichrist« in 22d gleichgesetzt, aber mit kollektiver Sinnspitze: Jeder, der das christologische Bekenntnis anzweifelt, zieht sich dieses Verdikt zu und reiht sich in die Schar der vielen Antichristen ein. Joh 8,44 steuert die mythologischen Konturen bei. Der Verf. stattet seine realen oder potentiellen Widersacher mit diabolischen Zügen aus. In Joh 1,20 heißt es vom Täufer: »Und er bekannte und leugnete nicht, und er 22b bekannte: >Ich bin nicht der Christus<<<. Die Stelle ist aufschlußreich, weil hier die beiden Verben CtQvELafrm und 0IWAoyELV nebeneinanderstehen, mit einem negierten Bekenntnissatz als Objekt. Vom Verleugnen spricht das Evangelium sonst nur noch im Zusammenhang mit der Verleugnung Jesu durch Petrus352. Das Bekennen stellt ein Problem besonderer Art dar. Die Gemeinde sieht sich starkem jüdischen Druck ausgesetzt. Das Bekenntnis zu Jesus als Christus (20,31), das heißt als Messias Israels (1,41), führt zum Synagogenausschluß (9,22), was viele potentielle Anhänger vom öffentlichen Bekenntnis abhält (12,42). Am Offentlichkeitscharakter des christologischen Bekenntnisses wird man auch für 1Joh festhalten und seinen anfänglichen Sitz im Leben in der Taufe 349 Im Mehrheitstext ist 23cd infolge von Homoioteleuton ausgefallen, vgl. Metzger, Commentary 711. 350 Für die Zuweisung von 2,23 zu einer älteren Quelle (Bultmann 45) oder von 2,22-23 zu einer späteren überarbeitung (O'Neill, Puzzle 25-28) besteht kein Anlaß. 351 Vgl. CD 20,15; 4QPs371,18 (der »Mann der Lüge, der viele verführte durch Worte des Truges«).
352 Joh 13,38; 18,25.27. Da für die Charakterisierung der Gegner in V. 19 Judas das Modell abgab (s.o.), ist die überlegung von Houlden 81, ob hier Petrus als Negativbeispiel vor Augen stehe, nicht ganz von der Hand zu weisen; allerdings sind die Anklänge erheblich schwächer.
162
Streit um das Taufbekenntnis (2,22-23)
lokalisieren. Vom Wortlaut her war es zur Zeit des Briefes auf den Sohn-Gottes-Titel ausgerichtet, nicht auf den Christus-Titel, wie die Bekenntnissätze in 4,15 und 5,5 unterstreichen (anders 5,1). XQLCTt6~ erscheint in 1Joh meist als Bestandteil des Doppelnamens Jesus Christus353 und gewinnt mehr und mehr den 'Status eines Eigennamens. Daß ö XQLCTt6~ hier in 22c titular gebraucht wird, hat seinen Grund vor allem in der vom Verf. bewußt gesuchten Konfrontation mit der Gestalt des &vtLXQLCTtO~ 22c Die alternativen Möglichkeiten der inhaltlichen Auswertung von 22c hat A. Wurm auf den Nenner gebracht: »Entweder ist damit gesagt: Jesus ist nicht der verheißene Messias, oder: Jesus ist nicht identisch mit dem himmlischen Geistwesen, namens ChristuS«354. Selbst entscheidet er sich für die erste Lösung: Der aus dem Evangelium bekannte Streit mit Juden (und Judenchristen) um die Messianität Jesu werde fortgesetzt. Die Gegengründe, die sich aus unserer Stelle selbst ergeben - etwa die Synonymität von Christus und Gottessohn; die innergemeindlichen Koordinaten des Schismas aus V. 19 -, wären für sich betrachtet noch nicht zwingend. Den Ausschlag gibt die Parallele in 4,2, wo es darum geht, ob Jesus als Christus im Fleisch gekommen ist oder nicht (s. dort). Gegen den Christus wendet sich - und wird dadurch zum 22de Antichrist -, wer nicht zulassen will, daß im Menschen Jesus von N azaret ohne alle Abstriche Gott selbst der Welt begegnet. Aus 22e ist allerdings nicht zu schließen, daß die Dissidenten auch an einer Demontage des Gottesbildes gearbeitet und die Existenz des Vatergottes geleugnet hätten. Das unterstellt der Verf. nur als letzte und schlimmste Folge, die für ihn aus dem christologischen Irrtum zwangsläufig hervorgeht. Die Gegner selbst haben eher damit argumentiert, ihre Christologie respektiere die weltüberlegene Gottheit Gottes in besonderer Weise. Außerdem sei sie inhaltlich getragen von einer tiefen Gotteserkenntnis und Gottesgemeinschaft. 23 Die strenge Reziprozität von V. 23 nimmt Maß an Vorgaben aus dem Evangelium, näherhin an Texten wie Joh 1,18; 5,23 (»Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht«); 6,46; 10,30 (»Ich und der Vater sind eins«); 12,45; 15,23 (»Wer mich haßt, haßt auch meinen Vater«), unter denen 14,6-7 noch einmal herauszuheben ist: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt hättet, würdet ihr auch den Vater kennen.« Das Evangelium sichert damit den exklusiven Offenbarungsanspruch des Sohnes ab. Der Brief zieht die Linien aus, die sich daraus für das Gottesbild ergeben. Das christologische Begründungsverhältnis, das zwischen V. 22 und V. 23 herrscht, hat sein sprachliches Pendant in der chiastischen Verschränkung
353 1Joh 1,3; 2,1; 3,23; 4,2; 5,6.20. Vgl. M. de Jonge, The Use of the Word X.QLO"t~ in the Johannine Epistles, in: Studies in John (FS JN. Sevenster), 1970 (NT.S 24), 66-74.
354
tung.
Wurm, Irrlehrer 24f; s. § 8 der Einlei-
l]oh 2,23: Erklärung; 2,22-23: Wirkungsgeschichte
163
von 22e (Vater - Sohn) und 23ab (Sohn - Vater). Historisch unmittelbar faßbar ist für den Betrachter nur der Streit um das Christusbekenntnis. Der Briefautor verbindet damit den Gedanken, daß wir zu Gott keinen Zugang mehr finden - etwa über einen allgemeinen philosophischen Gottesbegriff -, wenn wir ihn nicht als Vater und Jesus als Sohn sehen. Die unterschiedlichen Folgen, die das Leugnen und das Bekennen des Sohnes nach sich ziehen, packt der Verf. in die prägnante Formulierung »den Vater nicht haben« in 22b bzw. »den Vater haben« in 22d. Mit »Vater« oder »Gott« als direktem Objekt ohne weitere Zusätze begegnet EXElV im NT nur noch an der literarisch verwandten Stelle 2Joh 9. Vergleichbar ist »den Sohn haben« in 1Joh 5,12. Die weit ausgreifenden Untersuchungen von Hanse* haben entgegen ihrer Intention letztlich ergeben, daß echte Parallelen dazu kaum existieren und das religionsgeschichtliche Umfeld für die BedeutungserheIlung wenig beiträgt. Weder ist die Bundesformel im AT355 ein wirkliches Vorbild, noch helfen die Stellen bei Epictet weiter, an denen der stoische Philosoph über die persönliche Teilhabe des Menschen am göttlichen Wesen der Allnatur reflektiert356 . Da es sich bei EXELV um ein Allerweltswort handelt, kommt alles auf die jeweiligen Kontexte an, und die erlauben bei näherem Hinsehen weder die Erhebung einer relevanten Vorgeschichte noch die präzise Nachzeichnung einer Wirkungsgeschichte357 . Zweifelhaft bleibt auch, ob der Verf. den Ausdruck erst einer »Gottesmystik«358 seiner gnostischen Gegner verdankt oder nicht vielmehr dem gemeinsamen johanneischen Erbe. Aus dem bisherigen Briefverlauf sind herauszuheben: Koinonia »haben« (1,3.6.7), einen Parakleten »haben« (2,1) und Chrisma »haben« (2,20). Daß dieses »Haben Gottes« schwerlich ein Besitzen oder Verfügen-Können aussagen will, liegt auf der Hand. Geboten wird nichts anderes als eine Zuspitzung der beiden Themen, die im ersten Hauptteil schon im Mittelpunkt standen: Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis. Verwandt mit dem »Haben« sind trotz unterschiedlicher Akzentsetzung die Immanenzaussagen mit »sein in« und »bleiben in«. Wir können Gott nur dann zum Vater haben (3,12), wenn wir Jesus als Sohn anerkennen. Nur so erfahren wir Gottes menschenfreundliches Wesen. Die Sicherheit der dann gewährten Gemeinschaft und die Tiefe dieses Erkennens sind eingegangen in das pointierte Wort vom »Haben des Vaters«. Ausgewertet wurden W. 22-23 verschiedentlich bei der Ausarbeitung und Abgren- Wirkungszung der Trinitätslehre. Einen Vorstoß unternahm Tertullian in seiner Schrift gegen geschichte Praxeas, der einen modalistischen Monarchianismus und Patripassianismus vertrat. Zur Widerlegung bemüht Tertullian u.a. lJoh 2,22-23, wo seiner Ansicht nach mit 355 Lev 26,12: »Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein«; nach Hanse' 92 gleichwertig mit: »Ich werde euch zu meinem Volk haben, und ihr sollt mich zu eurem Gott haben«.
356 357 358
Hanse' 89f nennt Diss II 8,17; N 1,145. Versucht bei Hanse' 108-115. So Hanse' 105; ders., ThWNT II 824.
164
Die anfängliche Glaubensüberlie.ferung (2,24-25)
klaren Worten die Verschiedenheit der göttlichen Personen ausgesagt ist359• Auch im trinitarischen Traktat des Hilarius von Poitiers (zur Hauptsache gegen den Monophysitismus der Arianer gerichtet) steht in einem Paragraphen IJoh 2,22-23 im Zentrum der Argumentation. Die Stelle beweise, daß es sich bei der Rede von Vater und Sohn nicht um bloße austauschbare Namen (adoptiva nomina) handle, sondern um eine Wesensaussage (naturae res), die es nicht zulasse, den Sohn nur als Geschöpf (creatura) des Vaters zu denken360• Zusammen- Aus V. 22-23 geht hervor, daß die Einführung der Antichristthematik mit der fassung Christologie der Gegner zusammenhängt. Der Dissens wird festgemacht am Bekenntnis zu Jesus als Christus und Gottessohn, das in der Taufe seinen Sitz im Leben hat. Es wird weniger der Wortlaut auf dem Spiel stehen als vielmehr die Inhalte, die man hier wie dort damit verbindet und die Konsequenzen haben für das jeweilige Gottesbild. Die Kehrseite des Bekennens ist das Leugnen, das dem Bekennen wie ein dunkler Schatten folgt. Was das Bekennen bedeutet und was mit dem Leugnen verlorengeht, will der Verf. möglichst klar herausstellen. Dazu prägt er das kühne Wort vom »Haben« des Vaters. Einen Vater haben, Gott zum Vater haben, das ist nicht selbsterworbener Besitz, sondern ein Geschenk, auf das der Beschenkte mit dem gläubigen Bekenntnis Antwort gibt.
d Die anfängliche Glaubensüberlieferung (2,24-25) Literatur: S.o. bei 2,20-21.
24a
b c d e 25a
b
Ihr, was ihr gehört habt von Anfang an, in euch soll es bleiben. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, werdet auch ihr im Sohn und im Vater bleiben. Und dies ist die Verheißung, die er selbst uns361 verheißen hat: das ewige Leben.
Analyse In V. 24 steht UIlELc; als casus pendens im Nominativ dem ganzen Satzgefüge voran (vgl. xai. UIlELc; 2,20.27). Das Folgende ist bis 24d konzentrisch und chiastisch aufgebaut. 24e greift mit Kat UIlELc; auf das einleitende UIlELc; zurück und zieht die Summe. 359 Tertullian, Adv Prax 28,5 (1201,19-21 CChr.SL 2); 31,3 (1204,11-14). Ebd. 2,4; 3,1 (1161,32.11) fällt das Wort trinitas. 360 Hilarius von Poitiers, De trinitate 6,42 (247,19-24 CChr.SL 62). Vgl. noch Ps.-Vigilius von Thapsus, De trinitate 4,4 (57,33-37 CChr.SL 9); Arnobius der Jüngere, Conflictus
cum Serapione Aegyptico de deo trino et uno 1,18 (272A PL 53); 2,10 (285A); Johannes Cassian, Contra Nestorium m 7,5 (270,22-24 CSEL 17); die Akten der Lateransynode von 649, wo der Monotheletismus verurteilt wurde (1056B Mansi 10). 361 Einige Hss. lesen »euch«.
165
l]oh 2,24-25: Analyse, Erklärung
Charakteristisches Merkmal von V. 25 ist das an eine figura etymologica erinnernde Nacheinander von btaYYEALa und btTJYYEfAato. Das Demonstrativum aÜtrj verweist nach vorn: Die Verheißung besteht im ewigen Leben. Die Akkusativform der Zielangabe »ewiges Leben« erklärt sich als Angleichung an das Relativpronomen l]V, das als Objekt zu »verheißen« gehört.
Das Verhältnis von V. 24-25 zu V. 22-23 ist ähnlich zu bestimmen wie das von V. 20-21 zu V. 18-19. Die Anrede mit »ihr« kontrastiert jeweils die Zielgruppe des Schreibens mit den zuvor attackierten »Abweichlern«. Gegen die Verlockung, ihrem Beispiel zu folgen, hilft das in V. 24 eingeschärfte unbeirrbare Festhalten an der anfänglichen Glaubensüberlieferung. Durch »ihr habt gehört« ist die Reichweite von <'x.n;' &QxfJ~ eindeutig festgelegt: Die Adressaten werden an die Anfänge ihres eigenen Christseins erinnert, an die Verkündigung der Botschaft und an das Bekenntnis, das daraus erwuchs und bei der Taufe abgelegt wurde. Unmittelbar schließt <'x.n;' &QxfJ~ also an die verdeckte Zitation des Bekenntnisses zu Jesus als Christus und Gottessohn in V. 22-23 an. Über das Relativpronomen ö mit seiner neutrischen Form verläuft eine weitere Linie zum Briefanfang in 1,1. Dadurch gewinnt <'x.n;' &QxfJ~ an Transparenz. Das beim Beginn des individuellen Christseins empfangene Glaubensgut ist am Christusereignis ausgerichtet und wird durch die Traditionsträger vermittelt. Der Traditionsvorgang geschieht, wie der Umgang mit Jesusüberlieferungen im Evangelium zur Genüge zeigt, nie ohne ständige begleitende Interpretation. Eine buchstabengetreue Weitergabe von anfänglichen Glaubenssätzen beschränkt sich, sofern es sie überhaupt gibt, auf wenige zentrale Titel und Formeln362 • Wenn wir soeben vom Festhalten an der Überlieferung sprachen, so ist das von 24bc her etwas zu korrigieren. Nicht die Aktivität der Glaubenden steht im Vordergrund, sondern die beharrende Kraft des Wortes selbst, wie in 2,14g: »Und das Wort Gottes bleibt in euch« (vgl. Joh 15,7). Im Rahmen des johanneischen Immanenzdenkens bildet 24e dazu die Ergänzung. Bleibt das Wort vom Anfang in den Gläubigen, so bleiben sie im Sohn und im Vater. Vom Bleiben »in ihm« (Gott oder Christus) erfahren wir in 2,6 und in 2,27. Im Vergleich wirkt 24e durch die singuläre Doppelung »im Sohn und im Vater«, die aus V. 23 herübergeholt ist, besonders zwingend. Dem Bleiben des Wortes vom Anfang in uns und unserem Bleiben im Sohn und im Vater gilt die Verheißung ewigen Lebens. Da a1rt6~ in 25b sich wohl nicht auf Gott bezieht, sondern auf Jesus 363 , entsteht die Frage, ob sich und wo sich unter den Jesusworten der Evangelientradition passende Logien finden. Stellen wie Joh 3,16.36; 5,24; 6,47.63 würden als Haftpunkte eigentlich
362 Vgl. R. Schnackenburg, Wahrheit in Glaubenssätzen. Überlegungen nach dem ersten Johannesbrief, in: Zum Problem Unfehlbarkeit. Antworten auf die Anfrage von
Hans Küng, 1977 (QD 54), 134-147. Vgl. Balz 178; gegen Weiss 71; ausgleichend Büchsel 41. 363
Erklärung 24a
24bc
24de
25
166
Der einzige Lehrer (2,26-27)
genügen. Hinzunehmen wird man noch den Definitionssatz in 17,3 (ein verhältnismäßig später Text): »Dies ist das ewige Leben, daß sie dich erkennen ... « Das ewige Leben besteht im Glauben, im Erkennen, in der Gabe des Wortes; es ist also präsentisch konzipiert364 . Im 1Joh kommt die futurische Eschatologie wieder stärker zur Geltung. Auch »Verheißung« und »verheißen« haben von Hause aus eine futurische Komponente, die aber durch den Gedanken an die Erfüllung eingeholt sein kann (2Kor 1,20). Soll man aufgrund dieser Verschiebungen das ewige Leben in 25c als rein zukünftiges Heilsgut verstehen 365 ? Dagegen spricht 1Joh 5,11: »Und dies ist das Zeugnis, daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat« (vgl. 3,14). Das dem Johannesevangelium eigentümliche präsentische Denken behält das Übergewicht, doch rückt der - im Evangelium fehlende - Begriff der »Verheißung« zusammen mit dem Ausblick von 2,28 und 3,1-2 auch das Ausständige ins Blickfeld, das, was an der vollkommenen Realisierung des gegenwärtigen Heils noch fehlt. Zusammen- Nach V. 20-21 bietet die Geistbegabung aller Glaubenden den besten Schutz fassung gegen die Bedrohung durch die Irrlehre. In V. 24 übernimmt die Tradition diese Schutzfunktion. Damit ist ein doppeltes Bollwerk errichtet, dessen Festigkeit dennoch nicht über alle Zweifel erhaben ist. Denn Geist und Tradition können, wie die Erfahrung lehrt, in ein Konkurrenzverhältnis treten. Der Briefautor hat sich offenbar vom Modell des Parakleten aus den johanneischen Abschiedsreden inspirieren lassen, wo dieser Gegensatz in einer höheren Einheit aufgehoben ist. Der Paraklet sagt Neues, ohne die Bindung an das Alte zu verliereno(vgl. Joh 16,13-15). Anders ausgedrückt: Der Paraklet steht für die Möglichkeit einer geisterfüllten Entfaltung dessen, was intentional immer schon da war, aber erst in einer neuen Situation als Antwort auf neue Herausforderungen ausformuliert wird. Andere urchristliche Versuche einer theologischen Situationsbewältigung weisen innerhalb dieses Prozesses dem kirchlichen Amt die Schlüsselrolle für die Sicherung von Tradition und Lehre zu. Wie es der Verf. des 1Joh damit hält, sagt er in 2,27.
e
Der einzige Lehrer (2,26-27)
Literatur: Bonsirven, J., Individualisme chrhien chez Saint Jean, NRTh 62 (1935) 449476; Burge, G.M., The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand Rapids 1987, 174f; Couture, P., The Teaching Function in the Church of I John (I John 2,20.27). A contribution to Johannine Ecclesiology and Ecumenics, Rom 1968, 43-55; Klauck, Gemeinde ohne Amt; Sanchez Mielgo, Perspectivas; Pastor, Comunidad 51-54. Weitere Lit. s.o. bei 2,20-21. 364 Eine Ausnahme machen 10,28; 12,25. In 6,40 verdankt sich die futurische Komponente vielleicht erst einer Überarbeitung.
VgL Thüsing 87, der dafür das Futur aus 24e auswertet. Eher präsentisch deutet Marshall 161. 365
!U'VELtE
l]oh 2,26-27: Analyse; 2,26: Erklärung
26a
b 27a
b c
d e f g h
167
Das habe ich euch geschrieben über die, die euch in die Irre führen 366 . Und ihr, das ))Chrisma«367, das ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch. Und ihr habt es nicht nötig, daß irgend jemand euch belehrt, sondern wie sein368 ))Chrisma«369 euch belehrt über alles, und wahr ist, und keine Lüge ist-, und so, wie es euch belehrt hat, bleibt370 in ihm!
Der Satzbau von 27e-i ist zwar nicht gerade »unheilbar verunglückt«371, aber doch ei- Analyse nigermaßen undurchsichtig. Wenn man in 27e mit w~ einen Satz beginnen läßt, den 27h mit Ka{l-6:J~ zu Ende führt 372, stört empfindlich das Kai in 27h, und die Wiederholung von ÖtÖQ(J')(ELV im Präteritum bleibt funktionslos. Bei wörtlicher Übersetzung bricht der Satz von 27ein 27g als Anakolouth ab. 27h setzt, ohne ihn weiterzuführen, neu ein und sorgt für den Abschluß. Dem kommt die Deutung näher, die mit zwei selbständigen Satzgefügen arbeitet373: »... sondern wie seine Salbung euch belehrt über alles, ist sie auch wahr und ist keine Lüge; und so, wie sie euch belehrt hat, bleibt in ihm.« Ein Subjektwechsel in 27h - »er«, Christus (oder Gott), statt »es«, das Chrisma, bzw. »sie«, die Salbung374 - ist angesichts der Parallelführung von 27e und 27h eher auszuschließen. Unabhängig davon wird sich Ev am
366 Bei manchen Lateinern findet sich der aus V. 20 herübergeholte Zusatz: ut stiatis quia unctionem habetis a sancto et scitis omnia, vgl. Thiele, VL 26/1, 294. 367 B liest anstelle des seltenen XQLaIW das gebräuchlichere XUQL<Jf.tu. 368 Der Mehrheitstext hat 1:0 umo XQLaIW (»dasselbe Chrisma«). 369 Einige Minuskeln bieten auch hier XUQLolW, während 11* XQLaIW durch JtVEUf.tU ersetzt. 370 Mehrheitlich bezeugt, aber nicht ursprünglich ist das Futur f.tEVEL'tE. Manche Ausleger übersetzten statt des Imperativs ei-
nen Indikativ: »So ... bleibt ihr in ihm«. Kohler 96 begründet das mit dem Indikativ f-tEvEL in 27b und mit der Tatsache, daß in 28a die gleiche Form f-tEvE'tE als Imperativ aufzufassen sei. Der Autor habe sich nicht einfach wiederholen, sondern stilistisch variieren und die Abfolge von Feststellung und Ermahnung einbringen wollen. Dagegen spricht aber f.tEVE1:W in 24b. 371 So Baumgarten 203. 372 Westcott 80; Marshall 163. 373 Vgl. Haas, Handbook 72. 374 Windisch 118. 375 Vgl. Brown 361.
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Der einzige Lehrer (2,26-27)
tionell mit der Tätigkeit der falschen Propheten (Dtn 13,6) und Messiasprätendenten (Mk 13,5f.22), mit dem Wirken des Satans (Offb 12,9) und des Antichrist (2Thess 2,11; Did 16,4) assoziiert. Das trügerische Reden und Handeln geht darauf aus, auch jene Gläubigen, die treu geblieben sind, zum Abfall zu provozieren. 27ab Dem kurzen Rückblick auf die gegnerischen Aktivitäten, der V. 18-19 und V. 22-23 rekapituliert, folgt ein zuversichtlicher Ausblick, den der Verf. in Anlehnung an V. 20-21 und V. 24-25 gestaltet hat. Der Anfang des Verses geht mit 20a parallel: Das Chrisma ist Gabe des Heiligen, d.h. Gabe Christi. Empfangen haben es die Adressaten bei ihrer Aufnahme in die Gemeinde mit vorbereitender und begleitender Unterweisung. »Was ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch« berührt sich mit »Was ihr von Anfang an gehört habt, soll in euch bleiben« in 24ab. Geistmitteilung und Einweisung in die Glaubensüberlieferung gehören eng zusammen, ohne ineinander aufzugehen. Die bleibende Geistbegabung der Getauften ist der Ermöglichungsgrund für ihr Festhalten am Taufbekenntnis. Ganz ähnlich spricht Joh 14,16-17 vom Parakleten: Er ist »mit euch«, er bleibt »bei euch«, er ist »in euch«. Am Parakleten orientiert sich auch die Beschreibung der Lehrtätigkeit des Chrisma in 27eh376 . 27c-e Der Geist, der in 27e als Chrisma-Paraklet auf Erden in den Herzen der Glaubenden das frühere Lehren des jetzigen himmlischen Parakleten (2,1) Jesus Christus fortsetzt (Joh 16,13-15), ist zugleich der einzige Lehrer der Gemeinde, neben dem es keine anderen gibt. Wahrscheinlich enthält 27cd auch eine Spitze gegen die Dissidenten (vgl. 2Joh 10): Die Gemeindemitglieder können auf deren esoterische Geheimlehren gut und gern verzichten. Aber darin erschöpft sich das programmatische Wort keineswegs. Es trifft auch ein Lehren, das den Kriterien der Rechtgläubigkeit genügen würde. Im Evangelium ist das Wortfeld des »Lehrens« im wesentlichen für Jesus reserviert377 • Zu dem, was die Traditionsträger der johanneischen Schule tun, besteht, wie immer man es benennen mag, ein qualitativer Abstand. Dessen bleibt sich der Verf. sehr wohl bewußt. Er hat ja schon in V. 21 zu verstehen gegeben, daß er nur bekannte Wahrheiten in Erinnerung rufen will. Ganz unvorbereitet ist dieser Gedankengang in der johanneischen Traditionslinie nicht. Im Evangelium gehört zum Wortfeld des »Lehrens« noch 6,45 (mit Zitat aus Jes 54,13): »Und sie werden alle Gelehrte (ötöaxtoy Gottes sein.« Im Judentum würde das bedeuten, daß in der Endzeit Gott selbst ganz Israel die Tora lehrt und auch der einfache Gläubige keinen Fachgelehrten mehr dazu braucht378 . Anders gesagt: Das Herrschaftswissen von theolo376 Vgl. bes. Joh 14,26: ullii; 6LÖU!;EL llUVta, mit 1Joh 2,27e: ÖLMoxEL UlLä\; llEQL llUvtWV. 377 6LMoxELV in 6,59; 7,14.28.35; 8,20; 18,20; dazu noch vom Vater 8,28 und vom Parakleten 14,26; 6LÖUOXaAo\; in 1,38; 3,2; 11,28; 13,13-14; 20,16; öLÖaxi] in 7,16-17; 18,19 (Sonderfälle: 3,10; 9,34).
378 Vgl. auch Jer 31,34: "Da wird keiner mehr den anderen, keiner seinen Bruder belehren und sprechen: ,Erkennet den Herrn<, sondern sie werden mich alle erkennen ...« (als Merkmal des Neuen Bundes).
l]oh 2,27c-i: Erklärung; 2,26-27: Wirkungsgeschichte
169
gischen Spezialisten muß abgebaut werden. Ein Lehrmonopol in Menschenhand erscheint dem johanneischen Denken inakzeptabel. Es entspräche nicht dem Selbstverständnis der johanneischen Schule. Die Qualifizierung des Chrisma als »wahr« in 27f erinnert wieder an den Pa- 27fg rakleten, den »Geist der Wahrheit«, in Joh 14,17; 16,13. Außerdem verweisen »wahr« und »keine Lüge« zurück auf 21-22: Der Geist Christi und der Antichrist stehen sich gegenüber wie Wahrheit und Lüge. Der Lügner aus V. 22 führt durch Leugnen in die Irre, der Geist schenkt festen Stand in der Wahrheit. Der Aorist tÖ(Öa;EV in 27h grenzt aus der kontinuierlichen Tätigkeit des 27hi belehrenden Geistes einen Punkt in der Vergangenheit aus, nämlich die Übergabe der anfänglichen Lehre bei der Initiation379• Daran schließt sich sinnvoll der Imperativ an, in ihm, d.h. in Christus, zu bleiben. In ihm bleibt, wer unbeirrbar am anfänglichen Bekenntnis zu ihm festhält. Der Geist lehrt uns, dieses Bekenntnis erstmalig zu buchstabieren. Er hilft uns auch, ihm treu zu bleiben.
v.
Über die Konfessionsgrenzen hinweg bemühen sich die Ausleger nach Kräften, die WirkungsBrisanz unserer Stelle zu entschärfen. Vor ihrem Mißbrauch wird nachdrücklich ge- geschichte warnt. Einschränkend macht man vor allem zwei Dinge geltend: (1) Angesprochen sei lediglich das Belehren, das von den Dissidenten ausgeht; vor diesem Lehren wolle der Verf. seine Gläubigen schützen38o . (2) Schon das Niederschreiben einer solchen Warnung beweise, daß der Verf. des Briefes aus der Autorität der Traditionsträger von 1,1-4 heraus im Akt des Schreibens ein echtes Lehramt ausübe 381 . So fragt Robert Bellarmin in seinem einflußreichen Hauptwerk, den Kontroversschriften (1586-93), warum denn Johannes überhaupt noch diesen Brief schreibe, warum er mahne und belehre, und er findet für 27cd folgenden Vergleich: Das sei, wie wenn ein katholischer Autor Katholiken anspreche und ihnen sage, sie hätten es nicht nötig, »daß irgendein Lutheraner oder Calvinist« ihnen die Lehre Christi nahebringe, denn das hätten sie alles schon aus der Verkündigung der Kirche empfangen, »wobei die Salbung des Heiligen Geistes mithilft (adiuvante unctione)«382. Die Salbung erscheint lediglich als Hilfsinstrument des hierarchisch strukturierten Lehramtes der Kirche. Darüber soll aber eine andere Traditionslinie keinesfalls übersehen werden. Augustinus wiederholt im Kommentar zur Stelle einen Gedankengang, den er auch in der Schrift De magistro niedergelegt hat. Erfahrungsgemäß reagieren die Hörer verschieden auf eine Predigt, obwohl sie im Wortlaut doch für alle gleich war. Daran sieht man: Wichtiger als die Worte, die von außen an das Ohr dringen, ist der Lehrer, der im Inneren der Herzen wohnt (interior magister). Ohne diesen inneren Lehrer, der überhaupt erst die Erkenntnis der Wahrheit des Verkündigungswortes und seine exi-
379 Vgl. Schnackenburg 162. Anders Smalley 127: »relates to the teaching of Jesus during his earthly ministry«. 380 Rosenmüller 485; a Lapide 558; Lücke 295. 381 De Ambroggi 244: »Dando queste istruzioni I' Apostolo esercita precisamente il ma-
gistero gerarchico.« Protestantischerseits schiebt Lange 305-349 in seinen Kommentar von 1713 eine umfangreiche Spezialabhandlung zu V. 27 ein, die der Legitimierung kirchlicher Ämter dient. 382 R. Bellarmin, Controversiae generalis I 3,10 (Opera omnia I, Paris 1870, 191).
170
Der einzige Lehrer (2,26-27)
stentielle Aneignung ermöglicht, bleibt alles äußere Lehren völlig nutzlos 383. Genauso legt Gregor der Große IJoh 2,27 aus 384, und selbst ein Mann wie Ignatius von Loyola räumt in den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu der Salbung mit Heiligem Geist und der daraus erwachsenden Klugheit die Schlüsselrolle bei der Entscheidungsfindung in schwierigen Situationen ein 385. Auf dieser Überzeugung vom inneren Glaubenssinn, die zunächst nur das Individuum betrifft, ruht die Lehre vom consensus fidelium auf, die das 11. Vatikanum in der Kirchenkonstitution erneut aus IJoh 2,20.27 entwickelt: »Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren.«386 Diese Rezeption hält sicher das theologische Sachanliegen von lJoh 2,27 wach, holt es in seiner ganzen Radikalität aber nicht ein, weil der innere Glaubenssinn nie institutionskritisch gegen vorfindliche Amtsstrukturen ins Spiel gebracht, sondern ihnen letztlich immer untergeordnet wird.
Zusammen- Die Besonderheit des 1Joh besteht genau darin, daß die Aufgabe der Traditionssicherung und der Bekämpfung von Irrlehren nicht einem fest umrissefassung nen kirchlichen Amt zugewiesen wird. Vielmehr stellt der Autor programmatisch die Führung der Gesamtgemeinde in all ihren einzelnen Gliedern durch den Geist in den Mittelpunkt. Wenn man andere urchristliche Entwürfe zum Vergleich heranzieht, muß man festhalten, daß der Verf. sich nicht als Amtsträger im eigentlichen Sinn verstanden hat, auch wenn er ohne Frage als ein Vertreter der Traditionsträger aus 1,1-4 ein brüderliches Wort der Aufmunterung und Mahnung an die Gemeinde richtet. Auch durch eine Kirchenspaltung im Vollzug, die gebieterisch nach einer streng ordnenden Hand verlangt, läßt er sich darin nicht beirren. Seine theologische Konzeption ist von einer bestechenden Kühnheit. Die Einheit der eigenen Gemeinde aber vermochte sie nicht zu wahren, in der Vergangenheit nicht und wohl auch nicht in der Zukunft. Die Bewahrung und Verteidigung der Einheit im Glauben aber ist die treibende Kraft hinter der raschen Festschreibung kirchlicher Lehr- und Leitungsämter. Die Redaktoren des Nachtragskapitels Joh 21 gehen in diesem Punkt über den Briefautor hinaus, wenn sie in bildhafter Verschlüsselung den petrinischen Pastoralprimat für die johanneische Gruppe akzeptieren.
2
Heilserwartung und Sündlosigkeit der Gotteskinder (2,28 - 3,10)
Abgrenzung Die Abgrenzung dieses Abschnitts ist mit Unsicherheiten belastet. Teils zieht man V. 28 oder v. 28-2 9 noch zu 2,18-27 und erblickt einen Neuansatz erst in 383 De rnagistro 11/38; 12/39; 14/45-46 (195f.202f CChr.SL 29); lJoh 210: Cathedram
in caelo habet qui corda docet. Horn in Ev 11 30,3 (1222A PL 76); Moraliurn libri 29,49 (1467,22-25 CChr.SL 143B). 385 Constituciones de la Cornpania de lesus 12,13 (283,74-76 MHSJ 64); IV 8,8 (451,86fj: 384
»sola la uncti6n de Spiritu Sancto pueda ensenarlo, y la prudencia ...«; vgl. Bonsirven* 45lf. 386 Lumen gentiurn 2,12. Vgl. auch die Verwendung der gleichen Stelle in den Akten des ephesinischen Konzils (7,25-27 ACO 1/3).
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lJoh 2,28 - 3,10: Aufbau, Antithesen
2,29 oder in 3,1 387 . Für die Anbindungvon 2,28-29 an 3,1-3 spricht aber, ganz abgesehen vom Gewicht der Anrede "tE'XVLa in 2,28a, die Wiederaufnahme von <pavEQow aus 2,28b in 3,2be und die Verwandtschaft der Zeugung aus Gott in 2,2ge mit der Gotteskindschaft in 3,1-2. Ähnliche Beobachtungen führen auch dazu, den Schlußpunkt erst bei 3,10 zu setzen und nicht schon bei 3,3388 , denn 3,8-10 bildet mit den Eingangsversen eine Inklusio, vgl. <pavEQOw (mit anderem zeitlichen Bezug) in 8d und <pavEQu EO"tLV in 10a, die Zeugung aus Gott in 9ae, die Gotteskindschaft in 10a und das Tun der Gerechtigkeit in 2,29d und 3,7b/l0b. Die beiden Schwerpunkte des Textes, die futurische Heilserwartung in 2,28 - 3,3 und die Sündlosigkeit der Glaubenden, werden unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Gotteskindschaft miteinander verzahnt. Als kleine Einheiten heben sich heraus: 2,28-29 (die Paru - Aufbau sie Christi und unsere Zeugung durch Gott), 3,1-3 (die eschatologische Einlösung der bereits jetzt gewährten Gotteskindschaft), 3,4-6 (die Selbstoffenbarung Gottes in Christus als Überwindung der Sündenrnacht) und 3,7-10 (Sündlosigkeit als Differenzierungskriterium zwischen Kindern Gottes und Kindern des Teufels). Es gibt noch ein strukturelles Phänomen in 2,28 - 3,10, das den Charakter des Antithesen ganzen Abschnitts bestimmt: Eine Reihe von gleichgebauten Sätzen ordnet sich mit einer Ausnahme (V. 3) zu antithetischen Paaren an: Jeder, der die Gerechtigkeit tut, ist aus ihm gezeugt Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit - Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht - Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel - Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut die Sünde nicht - Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut, ist nicht aus Gott
(29de) (4ab) (6ab) (6cd)
(7bc) (8ab)
(9ab) (lOab)
Im Vordersatz steht immer ein Partizip, in sechs von acht Fällen eingeleitet mit :rta~. Am deutlichsten fällt die Antithetik in 2,29/3,4 und 3,7/3,8 aus (Gerechtigkeit vs. Sünde), während sie in V. 6 und V. 9-10 zugunsten von anderen Elementen wie Kettenschluß und Chiasmus zurücktritt. Die vier antithetischen Paare gelten bei den Vertretern der Quellentheorie als sicherstes Indiz für die Verarbeitung einer schriftlichen Vorlage durch den Briefautor389 . Einen Einschnitt zwischen V. 28 und V. 29 machen Erdmann, Argumentum 105; Malatesta, Epistles 18-21; Giurisato, Struttura 362. Zwischen 2,29 und 3,1 setzen die Zäsur Perkins 37; Smalley 93f, während Feuillet, Etude 312f, bei einer Zweiteilung des ganzen Schreibens an dieser Stelle die Entscheidung bezüglich V. 29 in der Schwebe läßt. 388 So Wolf 116; de Jonge 128. Für 2,28 387
3,10 als eigenen Abschnitt vgl. Jones, Analysis 444; Brown 418. Von 2,28/29 bis 3,12 lassen ihn reichen Plummer 69; Hauck 128; Nagt Gliederung 84. Schon bei 3,6 be endet ihn Häring, Gedankengang 186. 389 Dobschütz, Studien 4-7; Bultmann, Analyse 112-115; Braun, Literar-Analyse 210f; Nauck, Tradition 15-19; s. § 4 der Einleitung.
172
Wiederkunft Christi (2,28-29)
Dann müßte man aber auch die genauso strukturierten Sätze in 2,23; 3,15 und 4,7 der Quelle zuweisen (was Bultmann anders als Dobschütz auch tut), und für 3,3ab scheint nur eine Nachahmung des Stils der Quelle durch den Verf. als Erklärung zu bleiben. Aber diese lapidare, thetische Sprechweise stimmt mit dem Stil des Verf. überein (was Nauck ja bewogen hat, lediglich die Überarbeitung eines eigenen älteren Texts durch den Autor zu postulieren). Es mag sein, daß dieses Stilmittel für die Auseinandersetzung besonders geeignet erschien. Für eine Quellenschicht reservieren läßt es sich deswegen noch nicht. Die Betrachtungsweise, die Dobschütz inaugurierte, bleibt in anderer Hinsicht wertvoll, weil sie wesentliche Strukturelemente des gesamten Textkomplexes in ihrem inneren Zusammenhang aufzeigt.
Wiederkunft Christi (2,28-29)
a
Literatur: Unnik, W.c. van, The Christian's Freedom ofSpeech in the NewTestament, in: ders., Sparsa Collecta H, 1980 (NT.S 30), 269-289, hier 287f (vgL 290-306); Vicent Cernuda, A., La filiacion divina segUn XUL en 1Jn 2,29 y 3,1, EstB 36 (1977) 85-90.
Und nun, Kindlein, bleibt in ihm, damit, wenn er offenbar wird, c wir Freimut haben d und nicht beschämt werden vor ihm390 bei seiner Parusie. 29a Wenn ihr wißt, b daß er gerecht ist, cerkennt ibr3 91 , d daß auch jeder, der die Gerechtigkeit tut, e aus ihm gezeugt ist. 28a
b
Analyse Ein Hauptproblern stellen in dieser Perikope die Pronomina dar. Wer ist Subjekt in 28b/29b, worauf beziehen sich Ev U'Ö1:cp 28a, an' U'Ö1:0U und U'Ö1:0U 28d und t; U'Ö1:0U 2ge? Bei einem christologischen Verständnis von ~VE1:E Ev U'Ö1:cp in 27i wird man auch 28a auf das Bleiben in Christus deuten. »Seine Parusie« in 28d meint die Wiederkunft Christi als Weltenrichter. Das Attribut »gerecht« in 29b sollte dann gleichfalls von Christus gelten, wie in 2,1 (anders 1(9) und in 3,7, wo ExEivo~ (vgL 2(6) den christologischen Bezug sicherstellt. Mit »aus ihm gezeugt« in 2ge geht das aber nicht mehr. Die Vorstellung einer Zeugung aus Christus scheint nicht nachvollziehbar. Zu exklusiv ist an den anderen Stellen (3,9; 4,7; 5,1.4.18) von einer Zeugung aus Gott die
390 cm' amoti heißt es im Griechischen, was vielleicht noch die Vorstellung enthält: sich beschämt von ihm wegwenden. Sir 21,22 atoxuvlh'jocraL cmo rrQoowrrou läßt sich aber wegen der problematischen Obersetzungslage kaum zum Vergleich heranziehen.
391 Die Vulgata hat den Imperativ, so auch Vicent Cernuda* 87, doch der einleitende Konditionalsatz verträgt sich eher mit einer bloßen Feststellung, vgl. Schnackenburg 167.
l]oh 2,28-29: Analyse; 2,28: Erklärung
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Rede. Außerdem läuft der Argumentationsgang darauf hinaus, die Gläubigen als Gotteskinder aufgrund ihres Tuns der Gerechtigkeit dem gerechten Gottessohn anzugleichen. Extreme Lösungen, die beide Verse auf Gott deuten und V. 28 von der Parusie Gottes zum Gericht sprechen lassen 392 oder alles christologisch lesen bis hin zu einer Zeugung aus Christus393, kommen nicht ernsthaft in Betracht. Die Frage kann nur sein, ob man den Subjektwechsel zwischen V. 28 und V. 29 ansetzt und das Attribut »gerecht« in 29b wie im AT als Kennzeichnung Gottes versteht394 oder ob man die christologische Linie weitgehend durchhält und nur 2ge davon ausnimmt395 . Die letztgenannte Lösung verdient den Vorzug. Die unleugbare Härte kommt dadurch zustande, daß der Autor über einen bestimmten Vorrat an stereotypen Wendungen, um nicht zu sagen Floskeln verfügt, die auch kontextunabhängig funktionieren. Dazu gehört die »Zeugung«, die für ihn immer Gott zum Urheber hat. Sprachliche Nachlässigkeiten kann er sich deshalb erlauben, ohne Mißverständnisse befürchten zu müssen. Sicher kommt hinzu, daß für ihn ein beträchtlicher Teil der Aussagen über Gott wie »gerecht« oder »heilig« auf Jesus übertragbar ist, aber eben nur ein Teil und nicht restlos alle.
V. 28 greift über V. 27, aus dem der Imperativ »bleibt in ihm« herübergenom- Erklärung men wird, bis auf V. 18 zurück (vgl. die Anredeformen nmöfa und "tEXV(U so- 28 wie das xui vUv in 18d). Für den Inhalt bedeutet das: Die Zeitangabe »letzte Stunde« aus V. 18 gilt auch für V. 28. Berichtet wird von einer neuen und letzten Etappe, die innerhalb der einen eschatologischen Stunde auf das Wirken des Antichristen folgt und ihm ein Ende setzt, vom Erscheinen Jesu Christi als machtvoller Richter, dem Endereignis schlechthin. Dieses Geschehen hat eine doppelte Dimension, nämlich 1. eine christologische und 2. eine anthropologische. Die christologische hängt an den Vokabeln »offenbar werden« in 28b und »Parusie« in 28d, die anthropologische an »Freimut« in 28c und »beschämt werden« in 28d. Ein Wortspiel mit nOQouo(u und nOQQTjo(u dürfte intendiert sein, um die beiden Ebenen in ihrer Verflechtung kenntlich zu machen. 1 Das Verb epuvEQoiiafrm, »offenbar werden«, kommt in 2,28 - 3,10 fünfmal vor, mit differierender zeitlicher Schichtung. In zwei Fällen (Sb/8d) charakterisiert es wie in 1,2a das vergangene Christusereignis in seiner Gesamtheit. In 28b ist es futurisch-eschatologisch ausgerichtet, ebenso in 3be, nur daß es dort nicht um die Wiederkunft Christi geht, sondern um die noch ausstehende Vollendung unserer gegenwärtigen Gotteskindschaft. Für nOQ- nOQouoLu ouaLu bietet 28d den einzigen johanneischen Beleg (von 24 im NT). Die tech-
392 Weiss 76; Moody 58f (unter Berufung auf TestJud 22,2); Grayston 95. 393 So in der älteren Exegese Lorinus 64; dann Rothe 90f; Schwertschlager, 1Joh 36. In diese Richtung verläuft auch die Rezeption der Stelle bei Justin, Dial 123,9 (vgl. Loewe-
nich, Johannes-Verständnis 46), und Ambrosius, De fide IV 11,154 (211,112-120 eSEL 78). 394 Sander 170; Findlay 236f. 395 Häring 43; Ruckstuhl 53.
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Wiederkunft Christi (2,28-29)
nische Bedeutung des Terminus ergibt sich nicht schon aus seiner Etymologie (»Dasein«, »Gegenwart«, von da aus vielleicht »Ankunft als Eintritt der Anwesenheit«396), wohl aber aus seinem kontextuellen Gebrauch in Papyri, Inschriften und literarischen Texten. Dort meint JtOQovo(u entweder die Epiphanie einer Gottheit, die im Kult aus der Verborgenheit heraustritt und ihren Verehrern Zeichen ihrer Anwesenheit gibt (SIO 1169,35), oder es bezeichnet den offiziellen Besuch eines Königs, Statthalters oder sonstigen Würdenträgers in einer Stadt (3Makk 3,17). Im Kaiserkult kann sich beides überlagern. 2Thess 2,8f kennt nicht nur eine Parusie des Kyrios Jesus, sondern auch eine voraufgehende Parusie jener widergöttlichen Gestalt, die in 1Joh 2,18 Antichrist heißt. 2 Die Parusie bringt das Gericht mit sich. Im kommunikativen Wir-Stil schildert der Verf. die Zuversicht der Glaubenden in dieser Stunde als Frucht JtOQQlJo(u des In-Christus-Bleibens. Im NT hat JtOQQlJo(u einen Schwerpunkt bei Johannes (13 von 31 Belegen). In der athenischen Demokratie benennt die Vokabel das Recht des Bürgers der Polis auf freie Rede, sein Privileg, alles geradeheraus sagen zu können, und sei es, daß er es dem Gewalthaber ins Gesicht schleudert397 . Bei Philo dürfen sich Gestalten wie Mose und Abraham eine solche Kühnheit auch Gott gegenüber erlauben, nach dem Grundsatz: Wie ein Sklave freimütig zu seinem Herrn redet, »wenn er sich bewußt ist, daß er kein Unrecht beging«, so darf sich auch der Diener Gottes vor ihm äußern, »wenn er von Sünden rein und sich seiner Gottesliebe bewußt ist«398. Die Verwendung von JtOQQlJo(u ist im Johannesevangelium auf das öffentliche (18,20) und klare (16,29) Reden Jesu zentriert, im Brief hingegen auf die vertrauensvolle Zuversicht der Glaubenden im Gebet (3,21; 5,14) oder angesichts des Richters (4,17). Das Beschämtwerden als Gegenstück dazu resultiert entweder aus dem Richterspruch, der den Angeklagten seiner Schuld überführt, oder es äußert sich schon im Vorfeld so, daß sich der Schuldige vor Scham am liebsten verkriechen würde 399 . In beiden Varianten zählt die Scham der Frevler ebenso wie die Zuversicht der Frommen zu den festen Topoi in den Gerichtsgemälden der Apokalyptik40o •
In 2,22-23 sind wir dem Begriffspaar leugnen - bekennen begegnet, mit dessen Antithetik auch ein Gerichtswort aus Q arbeitet (Lk 12,8f par). Bei Mar396 Bauer-Aland WB 1272. Zum folgenden vgl. Deißmann LO 314-320; Spicq, Notes II 673-675. 397 Vgl. den Freimut der Märtyrer gegenüber ihren Peinigern 4Makk 10,5. Ins Philosophisch-Ethische gewendet im Kynikerideal bei Epictet, Diss m 22,96. 398 Her 5-7; vgl. 14.19.21; ferner Weish 5,1. Zum Ganzen van Unnik*; Spicq, Notes m 526-533 (Lit.); Strecker 144f. 399 S. o. Anm. 390. Vgl. Spr 13,5LXX: »Der
Gottlose wird beschämt und hat keinen Freimut«; 20,8f. An paradiesische Zustände und ihre Umkehrung (Adams Unschuld vor und nach dem Fall) erinnert im Anschluß an manche Väter Gaugier 155. 400 Vgl. nur äthHen 48,8: sie werden »niedergeschlagenen Angesichts sein wegen des Werkes ihrer Hände«, mit 62,15; 4Esr 7,87: sie werden »in Scham vergehen«, mit 7,98: Die Frommen werden »mit Zuversicht jubeln«.
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l]oh 2,28-29: Erklärung
kus lautet dieses Logion: »Wer sich meiner und meiner Worte schämt . .. , dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommt ... « (Mk 8,38). Aus dieser negativen Fassung eines verwandten Gedankens ist für V. 28 zu erschließen, daß ein Bestehen im Gericht wesentlich vom Festhalten am anfänglichen Bekenntnis abhängt. Der, den wir als Christus und Gottessohn bekennen, in dessen Gemeinschaft wir bleiben, er ist es auch, der über uns richten wird. Schon dieses Wissen um die Person des Richters, der uns nicht als völlig Fremder mit drohender Gebärde entgegentritt, schenkt Zuversicht und Gelassenheit. Diesen Gedanken führt V. 29 weiter: Ihr wißt ja - so ist der 29ab Konditionalsatz 29a zu verstehen -, er ist gerecht. »Jesus Christus, der Gerechte«, hieß es in 2,1. Der Kontext sprach davon, daß Jesus durch seinen Tod unsere Sünden gesühnt hat und jetzt als himmlischer Paraklet für die Sünder eintritt. Sein endgültiges Kommen bringt soviel Neues nicht mehr. Es wird vielmehr das, was verborgen bereits längst am Werk ist, offen zutage treten lassen. Der Richter bleibt sich selbst treu. Sein Sühnen und seine Fürsprache werden in jener letzten Stunde nicht plötzlich außer Kraft gesetzt. Die christologische Einsicht aus 29ab erlaubt ein Schlußverfahren, das leicht 29c nachzuvollziehen ist (29c): Das Attribut »gerecht« steht Jesus zu, weil er in allen Dingen gehorsam den Willen des Vaters tat und darin sein Sohnsein bewährte. Wenn. sich nun Glaubende durch ihre Lebenspraxis gleichfalls als gerecht erweisen (29d), kann man auch von ihnen sagen, daß sie von Gott ab- 29de stammen (2ge), daß sie Kinder Gottes sind (3,1). Auf die Gotteskindschaft in 3,1-2 läuft das ganze Argumentationsgefälle zu. In 2ge kommt aber zunächst eine selbständige Ausprägung dieses Themas zur Sprache: die Zeugung aus Gott (oder von Gott, durch Gott). Statt »von Gott gezeugt« wäre auch die übersetzung »aus Gott geboren« möglich, aber es spricht doch mehr für »gezeugt«, u.a. die dem gleichen Bildfeld angehörende Metapher »sein Same« in 3,9. Das AT bietet nur wenige Anknüpfungspunkte, offenbar aufgrund einer bewußt ge- Aus Gott pflegten Zurückhaltung. Die Vorstellung vom Volk Israel als Kind oder Sohn Gottes gezeugt gäbe an sich eine hinreichende Rahmenbedingung dafür ab, auch von der Zeugung . des Volkes durch Gott zu reden, dennoch geschieht das selten so deutlich wie in Dm 32,18: »Des Felses, der dich gezeugt, gedachtest du nicht, und vergaßest des Gottes, der dich geboren hat.« Spr 8,25 macht eine solche Aussage von der Weisheit, Ps 2,7 vom König bei seiner Inthronisierung, doch ist dort eindeutig an eine Adoption gedacht. Die Auslegungstradition gewinnt daraus eine messianische Aussage 401 , die aber nicht ohne weiteres und erst recht nicht bei Johannes auf die Anhänger des Messias übertragbar ist. Bultmann und Dodd leiten das johanneische Theologumenon deshalb aus hellenistischem Denken ab, aus Gnosis und Mysterienkulten402, obwohl auch dort exakte Parallelen, die über die allgemeine Idee einer Wiedergeburt hinaus-
401 1QSa 2,l1f; Apg 13,33; Hebr 1,5; 5,5; vgl. Lk 1,35.
402
Dodd 68; Bultmann 50f.
176
Wiederkunft Christi (2,28-29)
führen, weithin fehlen403 . Der mit Abstand aufschlußreichste Zeuge dürfte philo von Alexandrien sein. Er spricht davon, daß der Herr den Isaak »gezeugt hat« (All 3,219; Som 1,173), daß Lea empfängt von dem »zeugenden Vater« (Post 135), d.h. von dem Gott, der »alles erzeugt« (Cher 43). philo kann sich das leisten, weil er ja »nur« allegorische Exegese betreibt. Die Patriarchengestalten sind Sinnbilder der menschlichen Seele, in der durch Gottes Tun die Tugenden entstehen. Philo kennzeichnet solche Passagen als tiefgründige Geheimlehre, nur für die Ohren von Eingeweihten bestimmt (Cher 42; All 3,219), was Mysterienatmosphäre herstellt.
Dem Briefautor ist das Sprachmuster vorgegeben aus dem Evangelium, das in 1,13 von den Kindern Gottes sagt, sie seien »nicht aus Blut noch aus Wollen des Fleisches noch aus Wollen des Mannes, sondern aus Gott gezeugt worden«. Die konkreten physiologischen Daten (vgl. Weish 7,1f), die als Kontrast dienen, lassen noch die reale Verwurzelung der Bildersprache im biologischen Zeugungsvorgang verspüren (wie <mEQf.lU in 1Joh 3,9). Wie Zeugung aus Gott vor sich geht, präzisiert Joh 3,3-8: als Zeugung aus Wasser und Geist. Der Geist ist Gottes Schöpferkraft. Zeugung durch Gott besagt somit, daß Gottes kreatives Handeln etwas Neues schafft, das der Mensch aus eigener Kraft nicht herstellen kann. Ein derartiger schöpferischer Zeugungsakt spielt sich nach Joh 1,12-13 immer dann ab, wenn jemand zum Glauben an Jesus gelangt. Die Erwähnung des Wassers in Joh 3,5 zielt auf die Taufe als sichtbares äußeres Zeichen für diesen Vorgang. Das findet eine Bestätigung in 1Petr 1,3.23, wo eine ähnliche Zeugungsmetaphorik ebenfalls auf den Taufritus als Sitz im Leben zurückgeführt werden kann. Der gemeinsame Taufhintergrund genügt wohl auch, um die Verwandtschaft der recht weit auseinanderliegenden Texte in 1Petr und 1Joh in diesem Punkt zu erklären. Die These, daß erst die Dissidenten die »Zeugung durch Gott« als Thema theologischer Reflexion eingeführt hätten und der Briefautor nur polemisch darauf eingehe404 , hat wenig für sich. Beide Kontrahenten bewegen sich auf dem Boden der ins Evangelium aufgenommenen johanneischen Schultheologie. Bei aller Angleichung der Glaubenden an Christus wahrt das johanneische Denken doch eine Grenze und vermeidet eine Identifikation. Alle Glaubenden sind Kinder Gottes, der Titel Sohn Gottes kommt nur Jesus zu. Von Jesus wiederum wird nicht gesagt, er sei von Gott gezeugt. In ihm kam Gott selbst zur Welt, und das ist mehr, als die Kategorie der Zeugung erfassen kann. Die Annäherung von Gottessohn und Gotteskindern geschieht in 2,29 auf der Handlungsebene (vgl. 2,6) über den Begriff der Gerechtigkeit. Als problema-
Vgl. CorpHerm 13,2: 6 YfVVW!J.€VO~ {tEOÜ (als Erläuterung der Lehre von der ltaALYYEVEOLU, vgl. Tit 3,5). In dem Gebet, das er in seiner Todesstunde sprechen möchte, dankt Epictet, Diss IV 10,16, Gott dafür, »daß du mich gezeugt hast«; er dankt mit anderen 403
{tEO~ ltU~
Worten für das physische Leben als Gabe der Allnatur. 404 Bonnard 66: Die Gegner sprachen von »generation divine«, der Autor von »filiation divine«.
l]oh 2,28-29: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
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tisch wird manchmal das Begründungsverhältnis in 29de empfunden405 , das aber sehr bewußt so und nicht anders ausfällt: Das Tun der Gerechtigkeit ist nicht die Voraussetzung dafür, durch Zeugung ein Gotteskind zu werden, sondern es ist eine selbstverständliche Folge aus der vorgängigen Erwählung durch Gott. Auf die Ausgestaltung der Parusieerwartung hat der isolierte Vers sicher nicht den Wirkungsgleichen Einfluß ausgeübt wie die sehr viel dichteren paulinischen Stellen. Von einer geschichte doppelten Parusie Christi, in der Vergangenheit bei der Menschwerdung und in der Zukunft beim Endgericht, spricht wohl zum ersten Mal Justin (ApoI52,3). Eine Tendenz dazu gibt es in 1Joh 2,28 - 3,10, weil dort beide Akte mit dem gleichen Verb qJUVEQoW belegt werden. Durch fJfvELV in 28a und die Anbindung an 2,1 erhält das Ganze noch einen präsentischen Akzent. Das sind Gesichtspunkte, die Martin Deutinger, bedeutender kath. Theologe um die Mitte des 19. Jahrhunderts, einholt, wenn er eine Predigt zu 1Joh 2,28-29 in der Münchener Universitätskirche St. Ludwig unter den Leitgedanken einer dreifachen Ankunft des Herrn stellt: »Wie er als Erlöser kam; so wird er kommen als Richter; aber zwischen dieser letzten und jener ersten Ankunft will er zu Jedem kommen als Lehrer, Tröster und Freund; und nur wer diese Wiedergeburt und Ankunft in der eigenen Seele erkannt und erfahren hat, der kann sich freuen über die erste und mit Zuversicht entgegensehen der letzten Ankunft des Herrn.«406 Die christologische Konzentration apokalyptischer Zukunftsentwürfe, wie Zusammensie für die präsentische Eschatologie des Evangeliums charakteristisch ist, fassung wird im 1Joh nicht einfach verabschiedet. Stationen aus dem Fahrplan für die Endereignisse blitzen zwar in knappen Momentaufnahmen auf. Überschwenglichem Vollendungsbewußtsein, das es mit dem einmal Erreichten genug sein läßt, ist so ein Riegel vorgeschoben. Doch soll auch das Aufreißen eines apokalyptischen Horizonts im letzten die Verständigung über die Gegenwart erleichtern. Die Gerichtsthematik verstärkt die durchgehende Handlungsperspektive, die ihren Zielpunkt in der Praxis der Liebe hat. Zu dieser Praxis bewegen kann nur der Glaube, und der ist keine menschliche Möglichkeit, die es neben anderen auch noch gibt, sondern ein gottgeschenktes und von Gott gewirktes Wunder. Die Metaphorik der Zeugung aus Gott bildet mit der in der nächsten Perikope entfalteten Gotteskindschaft ein Paradigma, das seinen Fluchtpunkt in der Sprache der Liebe hat: Zeugung als Akt der Liebe, der Kindern das Leben schenkt, wird Gott zugeschrieben, der selbst Liebe ist (s. zu 4,16).
Mayer l1lf führt zu V. 29 eine Auseinandersetzung mit der lutherischen Rechtfertigungslehre aus kath. Sicht; Düsterdieck TI 32f polemisiert gegen kath. Ausleger, aber mehr noch gegen die rationalistischen Exegeten aus dem eigenen Lager, die das Tun zur Bedingung für das Sein machen wollen (z.B. 405
Paulus 191: das Gezeugtsein ist »Folge der Willensthätigkeit für das göttliche Wollen des Rechten«). 406 M. Deutinger, Die christliche Ethik nach dem Apostel Johannes, Regensburg 1867, 226 (von 583 S. in diesem Buch sind 563 S. den Johannesbriefen gewidmet).
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b
Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3)
Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3)
Literatur: Coggi, K, Lo vedremo cosl come Egli e (1 Gv. 3,2), SacDot 27 (1982) 134152; Segalla, G., nDio inaccessibile di Giovanni, in: Dio neUa Bibbia e neUe culture ad essa contemporaneo, Turin 1980, 84-123, hier 115-118; Synge, F.C., 1 John 3,2, JThS NS 3 (1952) 79; Vellanickal, Sonship 227-263.331-351.
1a Seht, welch große Liebe uns407 der Vater geschenkt hat, b daß wir Kinder Gottes heißen -, c und wir sind (esr08• d Deshalb erkennt die Welt uns nicht, e weil sie ihn nicht erkannt hat. 2a Geliebte, jetzt (schon) sind wir Kinder Gottes, b und noch ist nicht offenbar geworden, c was wir sein werden409 . d Wir wissen, e daß, wenn es offenbar wird, f wir ihm ähnlich sein werden, g weil wir ihn sehen werden, h wie er ist. 3a Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat, b reinigt sich selbst, so wie jener rein ist. c Analyse 1
Orientieren wir uns für die sprachliche Beschreibung am Vorkommen der Vokabel dvm, sein. Die Achse des Abschnitts bildet die Opposition von »wir sind« (tolJiv in 1c und 2a) und »wir werden sein« (to6~u in 2c und 2~. Dem gegenwärtigen Sein ist die Gotteskindschaft zugeordnet, dem künftigen Sein die Gottähnlichkeit und die Gottesschau. Im Fluchtpunkt von Gotteskindschaft und Gottähnlichkeit bzw. Gottesschau steht das unveränderliche Sein Gottes (xuöwc; t
Wie des öfteren hat ein beträchtlicher Teil der Hss. hier und in 1d »euch«, aber die Verbformen sprechen für die LA »uns«. 408 Der Mehrheitstext läßt Kat ta,..tv aus, aus Versehen oder wegen der harten Konstruktion, die von manchen Lateinern gemilden wird, indem sie durch die Übersetzung et sirnus 1c noch zum Lva-Satz 1b ziehen, vgl. 407
.'
Smalley 138. Überblick über die Bezeugung und weitere Varianten bei Aland, Text und Tex'twen 1/1, 144-146. 409 Synge~ interpunktien anders und übersetzt: »Jetzt schon sind wir Kinder Gottes, und er ist noch nicht offenbar geworden. Was wir sein werden, wissen wir, weil wir ...« (sehr unwahrscheinlich).
l/oh 3,1-3: Analyse; 3,lab: Erklärung
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werden) auch übersetzen »wenn er offenbar wird«. Der Versteil würde dann von Christus und seiner Wiederkunft handeln (wohl kaum vom Kommen Gottes). Das stärkste Argument dafür ist der Parusiebezug von EU.V <pavEQW1'tf! in 2,28b. Aber <pavEQoüv wird im 1Joh nicht einheitlich gebraucht (s. 2,1ge!). In 3,5b und 3,8d hat es zwar wieder christologischen Sinn, meint dort aber nicht die Parusie, sond~rn die Inkarnation. Man wird sich deshalb die Deutung am besten vom unmittelbaren Textgefüge vorgeben lassen. Dann aber spricht alles dafür, daß EaV <pavEQwflii in 2e nur das OlJrtW E<pavEQWlh] aus 2b wiederholt, beides also vom künftigen Sein der Christen gilt. 3 Die Übersetzung »wenn er offenbar wird« zieht in der Regel die Erklärung von 2f-h als Ähnlichkeit mit Christus und Christusschau nach sich410 , während »wenn es offenbar wird« besser mit der Bestimmung der fraglichen Aussagen als Gottähnlichkeit und Gottesschau harmoniert411 , obwohl es auch Ausnahmen gibt412 • Nach 2,2ge und im Blick auf rtU'ti]Q in 1a und 'tExva {tEOV in 1b/2a liegt es näher, alle einschlägigen Pronomina (am6v 1e; amcp 2f; amov 2g; tn' amcp 3a) auf Gott zu beziehen und nur ExELVOC; in 3c auf Christus, obwohl wegen 2,28-29 ein abrupter Wechsel nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Für das Ähnlichwerden scheint sich eher der Gedanke an eine Angleichung der Glaubenden an Christus anzubieten (vgl. Röm 8,29). Aber im 1Joh wird das ansonsten - wie hier in V. 3 - für das gegenwärtige ethische Verhalten ausgewertet. Schon das Konzept der Gottebenbildlichkeit des Menschen (dafür in der LXX zu Gen 1,26 )ta-/}' olf,tokooLV) sollte davor warnen, für Öf,tOLOL amcp in 2f die Möglichkeit der Gottähnlichkeit der Christen von der Hand zu weisen. Der eschatologische Vollendungszustand hat auch etwas zu tun mit der Wiedergewinnung der verlorenen Gottebenbildlichkeit des Anfangs. Anders verhält es sich von vornherein mit der Schau. Daß ein Sehen Jesu Christi so, wie er ist, erst für das Eschaton in Aussicht gestellt werden sollte, scheint doch problematisch413 , trotz Joh 17,24. Was haben dann die Traditionsträger (lJoh 1,1-2) und die Auferstehungszeugen (Joh 20,18.25) gesehen? Eine eschatologische Gottesschau hingegen hat allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz4 14 durchaus ihren Platz im johanneischen Denken.
Die Wahl des Vatertitels für Gott in V. 1 geht Hand in Hand mit der Benen- Erklärung nung der Christen als Kinder Gottes. Der Nebensatz in lb (mit epexegeti- lab sehern Lva) erläutert, worin die übergroße Liebe des Vaters besteht, nämlich im Geschenk dieser Gotteskindschaft, die nicht unabhängig von jenem anderen großen Liebeserweis des Vaters in der Sendung seines Sohnes (Joh 3,16) zustande kam. Die Gotteskindschaft, hier zum ersten Mal im lJoh erwähnt, steht in engstem Zusammenhang mit der zuvor in 2,29 eingeführten Zeugung aus Gott, ohne damit schlechthin identisch zu sein. Wir können das interne Verhältnis so bestimmen: Die Rede von der Zeugung durch Gott bietet ein neues Erklärungsmuster für die Gotteskindschaft. Im AT war die Zeu-
Schneider 152; Smalley 145f. Vgl. Bisping 330f; Segalla*. 412 Vgl. Dionysius Cartus. 29: Christus in secundo adventu se manifestaverit . .. Deo perfecte conformabimur. 413 Das bestätigen unfreiwillig ältere Ausle410 411
ger, wenn sie 2gh auf die gleichzeitige Schau Jesu Christi in seinen beiden Naturen, als Gott und als Mensch, deuten (z.B. Estius 700f). 414 Zuletzt wieder Vellanickal* 344.
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Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3)
gung durch Gott ein königlich-messianisches Privileg, bei Johannes wird sie auf alle Glaubenden ausgeweitet, um ihrer Titulierung als Kinder Gottes mehr Gewicht und mehr Hintergrund zu verleihen. Andererseits bleibt der messianische Titel »Sohn Gottes« streng für Christus reserviert. Deshalb spricht 3,1 nicht von »Söhnen Gottes«, was sonst im AT und im urchristlichen Schrifttum die gebräuchlichere Vokabel war415 , sondern von »Kindern Gottes«. Wenn der Briefautor seine Adressaten als »Kindlein« anredet, gebraucht er in 1Joh immer die Verkleinerungsform 'tEXVLa, niemals wie hier 'tEXVa. »Kinder Gottes« ist für ihn so etwas wie ein christlicher Hoheitstitel, ein Würdename, den alle Glaubenden voll Stolz tragen dürfen. Kinder Gottes »heißen« bzw. so »genannt werden« bedeutet in biblischem Denken nichts rein Äußerliches. Der Name, den jemand trägt und bei dem er gerufen wird, macht vielmehr eine reale Aussage über das Wesen des Na1c mensträgers. Das wird in 1c emphatisch unterstrichen, damit nicht der geringste Zweifel zurück bleibt: Und wir sind es wirklich416 . Man kann die Doppelung der Aussage auf die Innenseite und die Außenseite desselben Phäno-' mens verteilen. »Wir sind es« meint: Wir selbst dürfen uns dessen sicher sein. »Wir heißen so« bedeutet: Als solche sind wir für andere identifizierbar, erkennbar und ansprechbar. Der Name Gotteskinder steht zusammenfassend für die neue Identität der Christen, eine Identität nach innen und außen. Ihr Leben haben sie - wie es bei Kindern nicht anders sein kann - empfangen, sie haben es nicht selbst erarbeitet oder hergestellt. Ihr neues Sein gewinnen sie aus ihrer neuen Relation zu dem lebendigen Gott. Gotteskinder Für die Herkunft des Ausdrucks »Kinder Gottes« sind wir wieder auf das AT verwiesen, wo er dem Bundesvolk Israel gilt. Doch spricht das AT mit Ausnahme etwa von Dtn 14,1: »Ihr seid Kinder des Herrn, unseres Gottes«, bevorzugt von Söhnen Gottes. Die Kommentare zitieren eine Stelle aus dem Jubiläenbuch, wo Gott für die Endzeit die Gabe des Geistes verspricht; dann wird Israel seine Gebote halten. Es folgt ein Rückgriff auf die atl. Bundesformel: »Und ich werde ihnen Vater sein und sie werden meine Kinder sein. Und sie alle werden genannt werden Kinder des lebendigen Gottes. Und es werden sie kennen alle Engel und alle Geister. Und sie sollen sie kennen, daß sie meine Kinder sind und ich ihr Vater in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und daß ich sie liebe.«417 Neben der Wahl des selteneren Begriffs »Kinder« verdient auch die Gleichsetzung von »genannt werden« und »sein« Interesse. Aber realisiert wird die Gotteskindschaft im Jubiläenbuch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Einen eschatologischen Vorbehalt kennt auch der siebte
415 Vgl. das Nebeneinander von »Kinder Gottes« in Röm 8,16.21 und »Söhne Gottes« in Röm 8,14.19. 416 Vgl. Epietet, Diss II 16,44: »Darum hat
man ihn (Herakles) für einen Sohn des Zeus gehalten, und er war es (Kai. ~v)«. 417 Jub 1,24f (Übers. K. Berger, JSHRZ 11/3, 318).
lJoh 3,ld-2h: Erklärung
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Makarismus der Bergpredigt: »... denn sie werden Söhne Gottes genannt werden« (Mt 5,9). Die johanneische Tradition holt das zukünftige Heilsgut in die Gegenwart hinein. Als mutmaßliche Vorlage für den Briefautor ist insbesondere der Evangelienprolog heranzuziehen, der in 1,12-13 Gotteskindschaft und Zeugung aus Gott miteinander verknüpft. Als Kriterium der Gotteskindschaft nennt Joh 1,12 den Glauben (vgl. 11,52, wo die Grenzen des Judentums aufgebrochen werden: »nicht allein für das Volk, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zusammenzuführen«). Für die Welt bleibt das neue Sein der Christen unverständlich. Es provoziert 1de nur Mißverständnisse und, wenn wir an Joh 15,18-21 denken oder bis 1Joh 3,13 vorausblicken, Ablehnung und Haß. Aber das ist die Folge eines viel fundamentaleren Nichtverstehens. Das primäre Übel ist in dem Kausalsatz von 1e eingefangen: Weil die Welt ihn, d.h. Gott nicht erkannt hat. Sie hat ihn nicht erkannt als den Vater, der die Kinder zu solchen macht. Gotteskindschaft ist gegenwärtige Realität, und dennoch ist damit noch 2a-c nicht das ganze Heil in seinem vollen Umfang verwirklicht. Auch für Gotteskinder steht noch etwas aus, auch ihnen hat die Zukunft, hat das Eschaton noch Neues zu bieten. Gegenüber einer präsentischen Eschatologie, wie sie Kernaussagen des Evangeliums auszeichnet, setzt der Briefautor verstärkt Elemente einer futurischen Erwartung ein, dies wohl als Korrektur gegenüber einer Position, die einer reinen Gegenwartseschatologie das Wort redet, für die über die Gotteskindschaft, die wir jetzt schon in vollem Umfang besitzen, nichts mehr hinausführt. Was an Neuem zu erwarten steht, sagt der Autor in 2d-h. Mit der Einleitung 2d-h »wir wissen« r,äumt er ein, daß das Folgende so neu wiederum nicht ist, sondern breiteren urchristlichen Traditionen entstammt (vgl. 2Kor 3,18). Die Steigerung der Gotteskindschaft erblickt er in zwei Dingen: Gottähnlichkeit und Gottesschau. Im Griechischen meint ÖIlOLOC; »gleich«, aber auch »ähnlich«, womit wir hier Gottähnwohl auskommen (für »gleich« im strengen Sinn gebraucht Joh 5,18 LoOC;, vgl. lichkeit Phil 2,6). Inwieweit kann eschatologische Gottähnlichkeit überhaupt eine Steigerung bedeuten, wenn man an der Wirklichkeit des Erlöstseins keine Abstriche machen will? Wir müssen davon ausgehen, daß biblisch gesprochen Gottes Wesen aus reiner Doxa besteht, aus reinem Lichtglanz (vgl. 1Joh 1,5). Diese Doxa ist irdisch nicht ungebrochen darstellbar. Sie setzt Verwandlung des Menschen voraus. Vom Lichtglanz und von der Doxa der Auferstandenen sprechen auch jüdisch-apokalyptische Zukunftsschilderungen (syrBar 51,3). Bei Paulus wäre das Konzept eines OWIlU Tt'VEullatLXOV, einer neuen pneumatischen Seinsweise, in 1Kor 15,44 vergleichbar. Die Gottähnlichkeit versteht sich näherhin als Verwandlung irdischer Existenz in eine neue, ganz von Gott bestimmte Wirklichkeit.
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Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3)
Gottesschau Die Stellungnahme des AT zur Frage der Gottesschau418 kann man zusammenfassen mit einem Wort aus dem Johannesevangelium: »Niemand hat Gott je gesehen« (Joh 1,18). So sagt Gott zu Moses in Ex 33,20.23: »Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut ... Mein Angesicht kann niemand sehen.« Gewisse Ausnahmen, besonders für Moses, werden in der späteren Tradition eingeräumt. Der Beter der Psalmen wünscht sich, im Tempel Gottes Angesicht schauen zu dürfen (Ps 42,3). Im Kult scheint es am ehesten möglich, etwas von der Herrlichkeit Gottes aufblitzen zu sehen. Aber nicht zufällig ist der sechste Makarismus der Bergpredigt im Futur gehalten: »... sie werden Gott schauen« (Mt 5,8). Im johanneischen Schrifttum wird dieser Vorbehalt mehrfach herausgestellt (vgl. neben Joh 1,18 noch 6,46; 1Joh 4,12.20). Wohl gilt: Wer Jesus sieht, der sieht den Vater (Joh 14,9), aber dies eben nicht direkt, sondern über eine Mittlergestalt. Das direkte, unverhüllte Schauen Gottes in seinem Wesen, wie er ist, reserviert die johanneische Schule für einen noch ausstehenden Vollendungszustand. . Die Vergottung des Menschen, sei es in der Gegenwart, sei es im Jenseits, gehört auch zu den Heilsverheißungen der antiken Mysterienkulte und der Gnosis419 . Zustande kommt sie teils durch die geheime Schau. Der Myste wird in das hineinverwandelt, was er schaut. Das Kultbild, das er bei der Weihe zum ersten Mal im Dunkel aufstrahlen sieht, besitzt magische und verwandelnde Kraft. Ein Beispiel für die vergeistigte Rezeption dieses mysterienhaften Denkens durch die Gnosis bietet EvPhi144: »Du sahst den Geist, du wurdest zum Geist. Du sahst Christus, du wurdest Christus. Du sahst [den Vater, du] wirst Vater werden.«
Gottähnlichkeit und Gottesschau stehen in 1Joh 3,2 nicht einfach nebeneinander, sondern werden in eine kausale Relation gebracht: Wir werden Gott ähnlich sein, weil wir ihn sehen werden. Die Gottesschau ist der Grund der Gottähnlichkeit420 . Das erinnert fraglos an die soeben erwähnte mysterienhaft-gnostische Lehre von der Verwandlung durch Schau421 . Dem könnte man entgegenhalten, daß es auch genügen würde, das Verhältnis der beiden Aussagen als noetische Kausalität zu bestimmen: Erst wenn wir Gott sehen,
Vgl. W.W. Graf Baudissin, »Gott schauen« in der alttestamentlichen Religion, ARW 18 (1915) 173-239; F. Nötscher, »Das Angesicht Gottes schauen« nach biblischer und babylonischer Auffassung, Würzburg 1924 (Repr. beider Arbeiten Darmstadt 1969). 419 Lamellae Orphicae (OrphFrag 32c = S. 107 Kern) Z. 10: »Seliger und Glücklichster, Gott wirst du sein statt eines Sterblichen«; CorpHerm 13,1: »Ein anderer wird der Gezeugte sein, ein Gott als Gotteskind«. 420 Nicht etwa: Nur Gottähnlichkeit er418
möglicht die Gottesschau. Windisch 120 läßt sich zu dieser Deutung, die das Begründungsverhältnis auf den Kopf stellt, verleiten durch den allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundsatz, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt wird (z.B. Philo, Gig 9; CorpHerm 11,20). 421 In diesem Sinn interpretiert W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus, 61967 (FRLANT 21), 163168, lJoh 3,2.
l]oh 3,2g-3: Erklärung; 3,1-3: Wirkungsgeschichte
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erkennen wir, daß wir ihm ähnlich sind422 • Erst dann haben wir dafür überhaupt eine Vergleichsmöglichkeit. Aber das bleibt doch zu blaß. Der Verfasser dürfte die massivere Konzeption in irgendeiner Form gekannt haben. Vielleicht vermutete er sie bei seinen Gegnern, vielleicht war sie dort wirklich vqrhanden. Wenn er das noetische Moment betont haben sollte, bedeutet das bereits eine Entschärfung der vorgegebenen Anschauung. Das ist auch der Effekt der strengen Bindung an die eschatologische Zukunft, die diese Weltzeit transzendiert. Anders als die Gotteskindschaft sind Gottähnlichkeit und Gottesschau in der Gegenwart für Christen nicht unmittelbar zu haben. Läßt sich der Zeitpunkt für das Offenbarwerden von Gottähnlichkeit durch Gottesschau noch genauer eingrenzen? Da es sich um ein eschatologisches Geschehen handelt, bietet sich dafür die Auferstehung an. Die traditionelle Erwartung einer allgemeinen Auferstehung der Toten war in der johanneischen Schule bekannt, das geht aus Joh 5,28-29, unabhängig von der Verfasserfrage, hervor. Zusätzlich wäre zu überlegen, inwieweit man den Zeitpunkt des Ähnlichwerdens und des Schauens schon mit dem Tod des einzelnen verbinden kann. Das wäre möglich, falls der Briefautor Joh 14,2-3(»... ich komme wieder und werde euch zu mir holen«) in individuellem Sinn gelesen hat: Das geht jedes Mal in Erfüllung, wenn ein Glaubender stirbt423 • »Hoffnung« (VJt~) kommt bei Johannes nur an dieser einen Stelle vor424 . 3a Nach anderen Größen einer herkömmlichen Enderwartung wird nun auch die Hoffnung eingeführt, die im Kontext näher zu bestimmen ist als ein Hoffen auf den Gott, der uns seine Liebe schon geschenkt hat und auch am Ende entsprechend dieser Liebe und nicht anders handeln wird. Die Reinigung in 3b führt uns wie 1,7 und 2,2 wieder in den Bereich des Opferkultes und des 3b Tempelrituals. Im AT muß der Mensch sich reinigen, damit er aus Anlaß einer Theophanie (Ex 19,10f) oder beim Dienst im Tempel (Num 8,21f) Gott begegnen kann. Als Motivation dient der Verweis auf das Vorbild Christi in 3c (vgl. Joh 17,19). Wie in 2,6 wird Christus den Glaubenden als Modell vor 3c Augen gestellt. Das kultische »Reinigen« hat einen Zug ins Ethische hinzugewonnen425 • 1 Origenes verbindet 1Joh 3,2 mit Gen 1,26 (Gottebenbildlichk~it des Menschen) Wirkungsund mit Platon, Theaet 176B (das Ähnlichwerden des Menschen mit Gott als höch- geschichte stes Gut). Er führt eine Differenzierung ein: Die Gottebenbildlichkeit wurde dem Menschen bei der Schöpfung geschenkt, die Gottähnlichkeit ist für den Vollendungszustand aufgespart; sie erfordert für ihr Zustandekommen das Zutun des Menschen
Vgl. die überlegungen bei Brown 396. Fragend Bultmann 53. 424 Das Verb tM:L!;ELV nur von jüdischer Hoffnung in Joh 5,45 und untheologisch in 2Joh 12; 3Joh 14. Vgl. Klein, Licht 317-319. 422
423
Vgl. H. Balz, EWNT I 53: Die Wortgruppe begegnet in der hellenistischen Zeit »häufig in ethischem Sinne und auf das alltägliche Verhalten übertr. für >tadellosen< Lebenswandel usw.« 425
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Gotteskindschaft in Gegenwart und Zukunft (3,1-3)
in Form der Nachahmung Gottes426 . Augustinus zitiert 1Joh 3,2 in seinem Gesamtwerk weit über hundertmal. Wir können dem nicht in alle Verästelungen folgen, sondern wollen nur hinweisen auf den langen 147. Brief, der zur Gänze der Frage der Gottesschau gewidmet ist427• Die direkte Gottesschau gesteht Augustinus erst der Auferstehungsexistenz zu, ringt dabei aber mit einem Problem, das er anscheinend nicht ganz zu seiner eigenen Befriedigung zu lösen vermochte, ob dieses Schauen nämlich mit den Augen des Körpers oder mit den Augen des Geistes geschehe. In der Folgezeit bildet 1Joh 3,2 im Verein mit Mt 5,8; 1Kor 13,12 und Offb 22,4 die biblische Grundlage für die Ausarbeitung der Lehre von der visio beatifica, der beseligenden Gottesschau als dem höchsten Heilsgut, das die Erlösten in der Ewigkeit erwartet (vgl. DS 1000), ein Thema, das bis in die dogmatischen Lehrbücher der Gegenwart428 und bis in die gegenwärtige Liturgie und Frömmigkeitspraxis429 hineinreicht. 2 Biblische Texte entfalten ihre Potenz manchmal an überraschenden Orten. Ernst Bloch zitiert 1Joh 3,2 gegen Ende seines Buches »Atheismus im Christentum«. Er deutet das Ähnlichwerden und das Schauen als Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen, »als unsere wahre, erst am Ende der Geschichte erscheinbare Radikalisierung, Identifizierung«. Er konfrontiert den Schrifttext Il1it dem Wort von Karl Marx, die Wurzel aller gesellschaftlichen Dinge sei der Mensch, und folgert daraus: »Hätten diese beiden Textstellen einander gelesen oder hätten sie einmal wechselseitig ein Treffen, dann fiele auch auf das Realproblem der Entfremdung in allem und ihrer möglichen Aufhebung ein gleichzeitig detektivisches wie utopisches Licht.«430 Im Menschen stecken nach Bloch noch ungeahnte Möglichkeiten. Es wird ihm gelingen, durch entsprechendes Engagement seine gesellschaftliche Entfremdung zu überwinden. So wird er sich selbst entwerfen und im Prozeß der Geschichte sein eigenes wirkliches Wesen zutage treten lassen. Das sagt 1Joh 3,2 nur dann, wenn man das MarxZitat als hermeneutischen Schlüssel verwendet. Bloch arbeitet mit einem ungemein optimistischen Menschenbild. Er traut dem Menschen zu, aus eigener Kraft das zu leisten, was der biblische Autor ihm als Geschenk Gottes in Aussicht stellt. Innerweltliche Entwicklungen kann so optimistisch nicht beurteilen, wer mit dem Autor des 1Joh dem Schon-Jetzt auch ein Noch-Nicht zur Seite stellt (2ab). Zusammen- Die Liebe seiner Eltern schenkt dem Kind das Leben. Analog empfangen wir fassung als Gabe der väterlichen Liebe Gottes unseren Status als seine Kinder. Das ist mehr als ein bloßer Name, es beinhaltet eine neue Identität, die zu einem »reinen«, d.h. sündlosen Leben nach dem Vorbild Jesu Christi drängt. Kinder haben eine Zukunft vor sich, ihr Lebensentwurf liegt nicht abgeschlossen hinter ihnen, sondern harrt noch der Vollendung. So ähnlich werden auch für die_ Gotteskinder in 3,1-3 Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt. 426 Origenes, Princ III 6,1; vgl. Cels 4,29f. Zur Gottesschau als endzeitliche Heilsverheißung: Comm in Mt 17,19. 427 Zit. von 1Joh 3,2 in Ep 147,12.20.23.32. 35.37.46 (274-332 CSEL 44). 428 Auseinandersetzung damit bei M. Kehl, Eschatologie, Würzburg 1986, 290f. 429 Im Dritten Hochgebet der kath. Meßliturgie heißt es in einem Einschub für das Re-
quiem: »Dann wirst du alle Tränen trocknen. Wir werden dich, unseren Gott, schauen, wie du bist, dir ähnlich sein auf ewig und dein Lob singen ohne Ende.« Zum Ganzen ausführlicher Coggi*. 430 E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a.M. 1968, 350f.
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l]oh 3,1-3: Zusammenfassung; 3,4-6: Analyse
Daß überhaupt der christliche Hoheitstitel »Gotteskinder« auf die Glaubenden im Hier und Jetzt übertragen wird, wahrt einen bei Johannes nicht verwunderlichen Grundzug präsentischer Eschatologie, der aber in traditionellere futurische Erwartungen eingebettet wird. Der noch ausstehende Vollendungszustand ist dadurch ausgezeichnet, daß Gotteskindschaftdann ihre Ergänzung und Überbietung erfährt durch Gottähnlichkeit aufgrund von Gottesschau. Auch für Kinder gilt: Ihr Leben in Welt- und Zeitlichkeit läuft dem Tod entgegen. Ewiges Leben, johanneisch gesprochen, ist nur dem Glauben verheißen (2,25). Gotteskinder altern nicht, sie finden endgültig zu ihrem Ursprung, zu Gott.
Sünde und Christuserkenntnis (3,4-6)
c
Literatur: Argyle, A.w., 1 John iii, 4f., EI 65 (1953/54) 62f; Clapperton, J.A., TiJv 'AIlUQ"tLaV (1 John iii.4), EI 47 (1935/36) 92f; Cooper, E.j., The Consciousness of Sin in IJohn, LTP 28 (1972) 237-248; la Potterie, 1. de, »Le peche, c'estl'iniquite« (1 Jn 3,4), in: ders., Vie 65-83 (aus: NRTh 78 [1956] 785-797); Manns, F., »Le peche, c'est Belial« 1 Jn: 3,4 a la lumiere du judaisme, RevSR 62 (1988) 1-9; Wennemer, K., Der Christ und die Sünde nach der Lehre des ersten Johannesbriefes, GuL 33 (1960) 370-376. Weitere Lit. s. zu 1,6-10; 3,7-10; 5,16-17.
Jeder, der die -Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit. Und ihr wißt4 31 , daß jener erschienen ist, damit er die Sünden432 wegnehme, und Sünde gibt es in ihm nicht. Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht. Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und hat ihn nicht erkannt.
4a
b c 5a
b
c
d 6a
b c
d e
Im Gesamtgefüge von 2,28 - 3,10 mit den vier antithetischen Satzpaaren bildet 4ab Analyse das Gegenstück zu 29de. Das nächste, gleichgebaute Antithesenpaar folgt in 6ab und 6cd. V. 5 bringt mit der Einleitung »ihr wißt« vorgegebene Glaubenstraditi6nen ins Spiel. »Jener« in 5b bezieht sich wie immer im 1Joh auf Christus (vgl. nur 3c), ebenso demgemäß auch »in ihm« 5d!6a und »ihn« 6de. Leitbegriffe sind »Sünde« (4mal) und »sündigen« (2mal). Zugeordnet wird der Sünde in V. 4 die »Gesetzlosigkeit« (2mal). In dem definitionsmäßig klingenden Satz in 4c fällt der Artikelgebrauch auf, nicht: Sün431
sen«.
K
hat mit wenigen Hss. »und wir wis-
K liest mit dem Mehrheitstext »unsere Sünden<<.
432
186
Sünde und Christuserkenntnis (3,4-6)
de ist Gesetzlosigkeit, sondern: Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit, als sei aVof.tLU eine bekannte Größe besonderer Art.
Erklärung Sünde (a!!ClQtla) und Gesetzlosigkeit (aVO!!la) sind zwei Begriffe, die ohne 4 weiteres synonym verwendet werden können, z.B. in Ps 51(50),5 LXX: »Denn ich selber kenne mein Vergehen (aVO!!la), und meine Sünde (a!!ClQtla) steht mir immer vor Augen.«433 V. 4 würde unter dieser Voraussetzung eine reine Tautologie beinhalten. Dem widerspricht aber der Wortlaut des Verses selbst. Zumindest soll die Sünde dadurch, daß sie mit der Gesetzlosigkeit auf eine Stufe gestellt wird, neu qualifiziert werden. Es entsteht sogar rein textimmanent der Eindruck, als sei eine Steigerung angezielt: Sünde ist nicht so harmlos, wie sie aussieht; sie bedeutet mehr, als manche zugeben wollen; sie kommt der Gesetzlosigkeit gleich. Die Frage ist dann, was aVO!!la eigentlich bedeutet, wieso darin evtl. eine Steigerung der Sündhaftigkeit liegen kann. aVO!!la Unbefriedigend bleibt die Erklärung, der Verf. wolle lediglich sagen, jede materiale Sünde bedeute zugleich formal die Übertretung einer Gesetzesnorm434 . Ebensowenig führt es weiter, wenn man die Perspektive des Autors als streng judenchristlich bestimmt und ihn eine antinomistische Haltung, die sich gegen die Tora richtet, bekämpfen sieht435 • Dafür gibt es im 1Joh keinerlei sonstige Anhaltspunkte. Den Nomos, der im Akt der aVO!!lU übertreten wird, von vornherein auf das eine, große Gebot der Liebe einzuschränken436 geht auf der Wortebene nicht an, weil dafür im johanneischen Schrifttum nie v6!!0~, sondern nur tvtOA.~ verwendet wird. Doch hat aVO!!la im urchristlichen Sprachgebrauch noch einen anderen, aus der Apokalyptik herübergenommenen Sinn: »In den Schilderungen der eschatologischen Unheilszeit vor der Parusie wird das widergöttliche, satanische Wirken mit diesem Ausdruck gebrandmarkt.«437 Die LXX gebraucht aVO!!la gelegentlich zur Übersetzung von (:1)1m7 438 , einem Wort, das in dem qumranischen Begriffspaar »Wahrheit und Frevel« wiederkehrt. Die gegenwärtige Endzeit vor dem Tag des großen Gerichts steht unter der Herrschaft des Frevels und seiner personalen Träger (lQS 3,18-21; 4,17-20). Der Antichrist heißt in 2Thess 2,8 ävo!!o~, in 2,3 »Mann der aVO!!la«, und in 2,7 fällt das Wort vom »Geheimnis der aVO!!la« (lat. mysterium iniquitatis), das jetzt schon wirkt. Nach
433 Vgl. Ps 32,1, zitiert in Röm 4,7; Jer 31,34, zitiert in Hebr 10,17; Ex 34,9; gute Übersicht zur Terminologie bei Wade, Irnpeccability 157-201. 434 Bei Rothe 99 führt das über die Zwischenüberlegung, das atl. Gesetz könne nicht gut gemeint sein, zu der Konsequenz: »Die Behauptung der völligen Identität der positiv christlichen Sittlichkeit mit der an sich . menschlichen ist hier aufgestellt.« Vgl. dazu immerhin Plutarch, Stoic Rep 11 (1037C):
»Verfehlung (UIlUQTIJ!ill) ist Übertretung eines Gesetzes.« 435 Windisch 121: »rückt ... scharf von allem Antinomismus und radikalem Paulinismus ab.« 436 Houlden 92; Bonnard 69. 437 Schnackenburg 186; weitergeführt von la Potterie* 68-80; rezipiert u.a. von Wennemer* 374; Cooper* 242-246. 438 Z.B. Ps 53(52),2; 58(57),3.
187
l]oh 3,4-6b: Erklärung
Did 16,4 erscheint »der Weltverführer wie der Sohn Gottes« in einer Zeit zunehmender »Gesetzlosigkeit«439. Die apokalyptische Füllung des Begriffs avoflLu ordnet sich vorzüglich in die Linie im Text ein, die mit dem Antichrist und der letzten Stunde in 2,18 beginnt und in 3,8.10 durch den Vorwurf der Teufelskindschaft weitergeführt wird. Die endzeitliche Manifestation des Bösen, die Rebellion des Antichristus gegen Gott und seinen Gesalbten, sieht der Briefautor in 2,18 im Auftreten der Irrlehrer in der Gegenwart schon verwirklicht. Ebenso verdienen ihre gegenwärtigen Taten die Qualifikation als Gesetzlosigkeit, wie sie traditionellerweise dem Antichrist zugeschrieben wird. Sie beteiligen sich damit am Werk des endzeitlichen Widersachers. In V. 5 wertet der Verf., wie er es öfter tut, Täuferstoffe aus dem Anfangskapitel des Johannesevangeliums aus. In Joh 1,31 bestimmte der Täufer seine eigene Aufgabe dahingehend, Jesus als Präexistenten vor dem Volk Israel zur Erscheinung zu bringen (tvu CPUVEQro6fJ). Auch Sb spricht vom Erscheinen Christi und wendet darauf das im lJoh sehr variabel gebrauchte CPUVEQOUv an. Voraus ging im Evangelium in 1,29 das Täuferwort über das Gotteslamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Sünde stand dort im Singular, hier in Sc hingegen im Plural. Ohne diese Verschiebung überzubewerten, kann man aus dem Plural doch dies folgern, daß der Sündenbegriff in Sc nicht enggeführt werden darf auf die eine Grundsünde des Unglaubens oder der Ablehnung Jesu Christi hin, sondern sich auf eine Mehrzahl von Vergehen erstreckt. Das erleichtert auch die von der Sache geforderte Rückbindung an lJoh 1,7 und 2,2. Das aktive Wegschaffen der Sündenlast - nicht nur ihr passives Tragen, wie verschiedentlich im Rückgriff aufJes 53,4-7 oder Lev 16,21f erwogen wurde440 - hat zur Voraussetzung das Denken in Kategorien des sühnenden Opferkultes, wie sie in 1,7 und 2,2 direkt angesprochen sind und auch in Joh 1,29 durch die Erwähnung des Opferlamms zum Vorschein kommen. Ein Opferlamm muß fehlerfrei sein und der Opfernde selbst kultisch rein, damit ist eine Brücke geschlagen zu Sd: In Jesus Christus gibt es keine Sünde. Für die Sündlosigkeit Christi, die auch die paulinische Tradition kennt (2Kor 5,21), stützt sich der Briefautor auf Evangelienstellen wie Joh 7,18: »In ihm gibt es keine Ungerechtigkeit« und 8,46: »Wer von euch kann mich einer Sünde überführen?« Im Briefkontext sind gleichwertig mit Sd die Attribute »gerecht« (2,29) und »rein« (3,3) für Christus. Aus der Sündlosigkeit Christi folgert V. 6, daß alle, die in ihm bleiben, ebenfalls nicht sündigen. Macht sich der Autor damit nicht doch die These von der Sündlosigkeit der Glaubenden zu eigen, die er andernorts als trügerischen
439 Vgl. noch Barn 18,2: »Der Fürst der jetzigen Zeit der Gesetzlosigkeit« und (wohl christlich interpoliert) TestDan 6,6. Zum jüdischen Hintergrund Manns*.
Über die Kontroverse, ob a'(QELV mit »wegnehmen« oder mit »tragen« zu übersetzen sei, in der älteren Lit. orientiert ausführlich Düsterdieck II 109-112. 440
Sab
Sc
Sd
6ab
188
Sünde und Christuserkenntnis (3,4-6)
Irrtum entlarven wollte? Man könnte sich hier zur Not noch behelfen, indem man sagt, das Nicht-Sündigen sei an das Bleiben gebunden441 und dadurch implizit an eine vom Menschen zu erfüllende Forderung. Aber mit dieser Ethisierung der Sünde kommen wir im 1Joh nicht durch. Schon das Bleiben ist nicht nur Tat, sondern auch Geschenk, nicht geleistet, sondern ermöglicht. Schärfer noch und unmißverständlicher formuliert V. 9 die gleiche These von der Sündlosigkeit der Gotteskinder. Wir müssen dort darauf zurückkommen. 6c-e Im übrigen erscheint in V. 6 vom Text her die zweite, negative Hälfte des antithetischen Paares stärker gewichtet. Der Sünder hat, so 6de, Christus nicht gesehen und nicht erkannt (durch die Deutung auf Christus entgehen wir hier noch der Frage, wie sich das Nicht-Sehen mit der prinzipiellen Negierung eines direkten Sehens Gottes und dessen Reservierung für das Eschaton in 3,2 verträgt, vgl. aber 3Joh 11). Im Prolog hatte der Briefautor das Sehen Christi an das Wahrnehmen des irdischen Jesus gebunden und an die Gemeinschaft mit den Traditionsträgern, die in Kontinuität mit diesem Anfang stehen (1,1.3). Aber das ist in V. 6 nicht die entscheidende Aussage. Wir werden den Zwischengedanken ergänzen müssen, daß eine bestimmte Gruppe Begegnungen mit dem erhöhten Christus oder mit Gott in visionärer Schau für sich reklamierte442 , was der Verf. in 6d kritisch glossiert. Unproblematischer ist die Erkenntnisthematik in 6e. Daß sich Gotteserkenntnis, an sich ein erstrebenswertes Ziel für alle, nicht mit dem Übertreten der Gebote verträgt, wissen wir spätestens seit 2,4. Das weitet V. 6 auf die Christuserkenntnis aus. Sünden, die als solche nicht ernst genommen und nicht bekannt werden (1,9), zeugen von einem fundamentalen Mißverstehen der Person und des erlösenden Wirkens Jesu Christi. Zusammen- Die Hoffnung auf künftige Gottähnlichkeit und Gottesschau und die Gewißheit gegenwärtiger Gotteskindschaft sind gebunden an ein vergangenes Gefassung schehen, das Erscheinen des Gottessohnes Jesus Christus. Zu den bleibenden Effekten seines Kommens zählt die Überwindung der Sündenmacht, die V. 4 durch den Terminus der »Gesetzlosigkeit« in endzeitliche Perspektive rückt.
441 Berühmt wurde das Dictum bei Augustinus 234, übernommen von Beda 304: In quantum in ipso manet, in tantum non peccat. Vgl. Philo, Fug 117: »Denn so lange dieser heilige Logos lebt und in der Seele anwesend ist, ist es unmöglich, daß eine unabhängige Veränderung in sie eindringt; denn er hat an keinem Vergehen (af1aQTIU.tm:o~) teil '" Wenn er ... sich von unserer Seele trennt, so ist sogleich den unabsichtlichen Verfehlungen die Rückkehr gestattet, denn wenn sie, solange er in uns weilte (!!EvoVto~) und heil war, ausgeschlossen wurden, werden sie je-
denfalls wieder herein gelassen, sobald sich jener ganz entfernt« (Übers. M. Adler, Werke VI 82). 442 So Büchsel 51; übertreibend Kar!, Studien 48: »dass ... in der Lesergemeinde die Visionen fast allgemein gewesen sein müssen«; aber die meistens vertretene Bestimmung des Sehens als geistiger Erkenntnisund Glaubensakt wird nicht genügen, ebensowenig die Einschränkung des Sehens auf Augenzeugenschaft in striktem Sinn bei Weiss 88; Mayer 124.
189
lJoh 3,4-6: Zusammenfassung; 3,7-10
Von der christologischen Grundlegung aus ist das Problem von Sünde und Sündlosigkeit im Leben der Christen anzugehen. Begegnung mit Christus (als Bleiben, als Sehen, als Erkennen) bedeutet zugleich Entmachtung der Sünde, die den Menschen gefangen hält, durch Gott. Wer glaubt, ist zu einem neuen Leben außerhalb des Einflußbereiches der Sünde befreit.
d Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10) Literatur: Belling, H., Zu 1 Joh. 3,9, ThStKr 61 (1888) 163-166; Bogart, Perfectionism; Culler, M.L., Exposition of I John 3:9, LuthQ 26 (1896) 244-248; Curtis, Purpose 163197; du Preez, J., >Sperma autou( in I John 3:9, Neot 9 (1975) 105-112; Galtier, P., Le chretien impeccable, MSR 4 (1947) 137-154; Gebert, G., Whosoever is Born of God Doth Not Comit Sin. An Exegetical Discussion, LCR 18 (1899) 42-49; Inman, V.K., Distinctive Johannine Vocabulary and the Interpretation of I John 3:9, WThJ 40 (1977) 136-144; Kotze, P.PA, The Meaningof 1 John 3:9with Reference to 1 John 1:8 and 10, Neot 13 (1979) 68-83; Kuba, 5., I John 3:9: Absolute or Habitual?, AUSS 7 (1969) 47-56; la Patterie, 1. de, L'impeccabilite du chretien d' apres IJn 3,6-9, in: ders., Vie 197-216 (aus: L'Evangile de Jean. Etudes et Problemes, 1958 [RechBib 3], 161177); Lavell, O.D., The Present Possession of Perfection in First John, WTJ 8 (1973) 3844; segalla, G., L'impeccabilita deI credente in 1 Giov. 2,29 - 3,10 alla luce dell' analisi strutturale, RivBib 29 (1981) 331-341; stalder, K., In ihm ist keine Finsternis, IKZ 72 (1982) 191-206; swadling, H.c., Sin and Sinlessness in I John, SJTh 35 (1982) 205-211; Vitrano, S. P., The Doctrine of Sin in 1 John, AUSS 25 (1987) 123-131; Wade, Impeccability; Zahn, A., De notione peccati, quam Johannes in prima epistola docet, commentatio, Halle 1872. Weitere Lit. s. zu 1,6-10; 3,4-6; 5,16-17.
7a b c d 8a
b c
d e 9a
b c
d e
Kinder4 43 , niemand soll euch in die Irre führen! Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht, so wie jener gerecht ist. Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel, weil der Teufel von Anfang an sündigt. Dazu ist der Sohn Gottes erschienen, daß er die Werke des Teufels zerstöre. Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut keine Sünde, weil sein Same in ihm bleibt. Und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist.
443 Ein Teil der Textüberlieferung hat die Anrede 'tEXVLU geändert in nmÖLa. Zur Aus-
tauschbarkeit der beiden Formen im joh. Idiom vgl. nur 2,12.14.
190
Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10)
10a
Daran sind offenbar die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels. Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut444 , ist nicht aus Gott und der, der seinen Bruder nicht liebt.
b c
d
Analyse Die Verse 7-10 bilden eine erweiterte Parallele zu V. 4-6. Mehr oder minder wörtlich entsprechen sich: 4a: Jeder, der die Sünde tut Sbc: daß jener erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme 6ab: Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht 6c: Jeder, der sündigt
8a: Wer die Sünde tut 8de: Dazu ist der Sohn Gottes erschienen, daß er die Werke des Teufels zerstöre 9ab: Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut keine Sünde lOb: Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut
Die Berührungen erstrecken sich auf die Ausgangsthese, auf die Verwendung von Traditionsmaterial in Sbc/8de und auf die doppelte Schlußfolgerung445 . In einem neuen, aber ähnlich strukturierten Durchgang behandelt V. 7-10 in vertiefter Weise das gleiche Thema wie V. 4-6, Sünde und Sündlosigkeit im Leben der Glaubenden. Die christologische Konzentrierung der vorigen Perikope wird durch eine streng theologische Perspektive (Zeugung aus Gott, Gotteskindschaft) aufgenommen und ergänzt. Textintern haben wir in 7bc/8ab und in 9ab/lObc die beiden letzten der vier Antithesenpaare in 2,28 - 3,10. Sie sind eingebettet in weitere Begründungen und Erläuterungen. V. 9 weist einen konzentrischen Aufbau auf, mit einer äußeren Rahmung (»aus Gott gezeugt«), einer inneren Rahmung (nicht sündigen) und dem Wort vom Bleiben des Samens im Zentrum. Zwischen die Antithesen 9ab und 10bc ist in 10a ein Kennzeichensatz mit f:v 'Wirtq> eingeschoben. Da anders als in 2,3 und 3,16 kein erläuternder Nebensatz folgt, braucht 10a nicht unbedingt vorwärts zu weisen auf 10bc, sondern kann sich sowohl auf V. 9 wie auf V. 10 beziehen oder eher noch die voranstehenden Ausführungen bündeln. Inzwischen dürfte, das wäre der damit verbundene Gedankengang, klar geworden sein, was eschatologische Scheidung der Menschen in der letzten Stunde bedeutet und wie sie sich vollzieht. Der sprachlich ungeschickt angehängte VersteiliOd bereitet die nächste Sinneinheit vor, die dem Liebesgebot gewidmet ist. Erklärung Den thetischen, belehrenden Sprachstil des Textstücks durchbricht in 7 a die 7a Anrede an den Leserkreis und der Appell, der 2,26 rekapituliert. Diejenigen, die in die Irre führen, sind vordergründig die Gegner mit ihren abweichenden christologischen und ethischen Lehrmeinungen, aber darin scheint antichristliches, oder, wie wir gleich in V. 8 erfahren, teuflisches Wesen auf. In Codex IJlliest OOV ÖLxatO~ (»jeder, der gerecht ist«), eine LA, die einigen alten Übersetzungen und Väterzitaten zugrunde liegt. Abgesehen von der schwachen Bezeugung for-
444
dert auch der Kontext (Parallele zu 9b) JtOliOv statt OOV, mit Belser, Textkritik 178, gegen Harnack, Textkritik 564f. 445 Vgl. Stott 125; Wengst l3lf.
191
lJoh 3,7-8c: Erklärung
2,29 war das Tun der Gerechtigkeit Zeichen für die Zeugung aus Gott. 3,7 betont im Vergleich etwas stärker den Handlungsimpuls und unterfängt das Ganze nach dem Beispiel von 2,6 mit einer christologischen Motivierung. Durch gerechtes und das heißt zugleich durch sündloses und den Forderungen des Liebesgebotes angemessenes Handeln vollziehen die Glaubenden in ihrem Leben nach, was ihnen von Gott in Jesus, dem Sündlosen (Sd) und Gerechten (7d), als neue Seinsmöglichkeit vorgegeben wurde. Gegen das Sein wie Jesus mit dem gerechten Tun als Folge stellt V. 8 das Sein aus dem Teufel, das sich im Sündigen realisiert. Im 1Joh kommt der Teufel (ÖL(ißOAO~) unter diesem Namen nur hier in V. 8 und in V. 10 vor (insgesamt viermal). Er ist, wenn wir die Parallele von V. 8 zu V. 4 ernst nehmen (s. die Analyse), der Urheber der <'xvO!lla, der endzeitlichen Rebellion gegen Gott. Daran wird zugleich kenntlich, daß seine Gestalt im 1Joh in Zusammenhang mit der Antichristthematik in 2,18 steht. Verschiedentlich wird ja in der Tradition der Antichrist als menschliches Werkzeug des Teufels, manchmal sogar als seine Inkarnation eingestuft. Die johanneische Redefigur »sein aus« (Elvm EX) hatten wir schon zu 2,16 besprochen. Sie gibt Ursprung und Wesen an, dies aber in einer dialektischen Weise. In 2,16 war es so, daß sich der Kosmos erst durch sein Handeln als gottfeindliche Größe konstituiert und sich von da ab weltliche Verhaltensweisen die negative Herkunftsbezeichnung »aus der Welt« verdienen. Etwas Ähnliches werden wir auch für V. 8 in Erwägung ziehen müssen. Wer die Sünde tut, verrät damit, auf welche Seite er sich endgültig geschlagen hat und wohin er fortan wesensmäßig gehört. Wenn es in 8c weiter heißt, daß der Teufel von Anfang an fortgesetzt sündigt (Präsens), so fragt sich, was fut' &Qx:ti~, aus früheren Zusammenhängen schon bestens bekannt, diesmal bedeutet. Wie weit reicht dieser Anfang zurück?
7bc
7d 8ab
8c
Joh 8,44 sagt vom Teufel: Er war ein Menschenmörder von Anfang an (fut' fut' &Qxii~ &Qxii~). 1Joh wird anschließend in 3,12 auf die Begebenheit um Kain und Abel eingehen, den ersten Mordfall, der sich in der Geschichte ereignet hat446 . Der Autor dürfte die Vorgeschichte aus Gen 3 und 4 im Blick haben, zumindest die Episode mit Kain und Abel in Gen 4, wo im menschlichen Verhalten das Teuflische durchbricht, wahrscheinlich auch die Paradieserzählung. Die verführerische Schlange aus Gen 3, die das erste Menschenpaar zur Sünde verleitete, wurde im Judentum als Verkörperung des Teufels, des Versuchers und Betrügers schlechthin, angesehen (vgl. Weish 2,23f). Daraus ergibt sich eine doppelte Abgrenzung. Erstens: Der Teufel ist nicht gleichursprünglich mit Gott oder mit dem Logos, von dem der Evangelienprolog sagte, daß er schon im Anfang da war, vor aller Schöpfung. Der Teufel existiert nicht EV &Qx:fl, sondern fur' &Qxii~. Ihm wird keine Präexistenz zuerkannt, es gibt ihn erst in der Schöpfung und in der Zeit. Zweitens: Wenn wir an der Er446 Dazu Philo, Praem 68: »Es gab sofort am Anfang (Km' UQXU~) ... einen Brudermord.«
Christlich Justin, Dia145,4: Ö JtOVllQEUOUIJEvo~
nlV aexitv
Ö
192
Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10)
klärung von fut' CtQxf)t; in lJoh 1,1 etc. als Beginn der Selbstoffenbarung des irdischen Jesus festhalten, hieße das ja, daß der Teufel früher war als Jesus. Das trifft in gewissem Sinne tatsächlich die Intention des Autors, wie 8de bestätigt. Als Logos und Sohn Gottes ist Christus von Ewigkeit her, im Unterschied zum Teufel, der einen zeitlichen Anfang hat. Als Menschgewordener und Irdischer aber hat auch Jesus einen solchen zeitlichen Anfang, und dieser Anfang seines Wirkens beginnt erst mit der Inkarnation, liegt also später als der Anfang des teuflischen Wirkens. 8de Der Sohn Gottes von Ewigkeit her muß, so 8de, erst in der Welt erscheinen, um den Kampf aufzunehmen gegen den verhängnisvollen Schuldzusammenhang, den das Böse in der Welt verursacht hat. Die Setzung des christologischen Hoheitstitels »Sohn Gottes« (im Unterschied zu ExELVOt; in Sb) versteht sich zum einen vom eben herausgearbeiteten Kontrast mit dem Auftreten des Teufels, zum andern von der Einführung der Zeugung aus Gott und der Gotteskindschaft der Christen in V. 9-10 her. Das Zerstören der Werke des Teufels447 bildet das Äquivalent zum Wegnehmen der Sünden in Sc. Da Joh 8,44 dem Briefautor als Bezugstext vorschwebt, liegt es nahe, den Ausdruck »Werke des Teufels« aus Joh 8,41 herzuleiten, wo Jesus den Juden vorhält: »Ihr wollt die Werke eures Vaters tun.« Euer Vater, das ist der Teufel (8,44), und die bösen Werke konkretisieren sich in der Tötungsabsicht gegenüber Jesus (8,40). Im Sterben Jesu aber und nirgends sonst geschieht das Überwinden der Sünde, für die V. 8 als mythischen Verursacher den Teufel namhaft macht. Woher der Teufel eigentlich stammt, wird in V. 8 nicht gesagt, ebensowenig in V. 10 oder an anderen Stellen. Aber er taucht, wenn die Bindung von fut' &Qxf)t; an Gen 3-4 richtig ist, zum ersten Mal dort auf, wo Menschen sündigen und krasses Fehlverhalten an den Tag legen. In weniger mythologischer Sprache könnte man ihn als Personifizierung jener Kräfte ansehen, die den Menschen im eigenen Inneren zu dem mörderischen Tun von Gen 4 treiben, wie sie ihn zuvor in Gen 3 zur Auflehnung gegen Gott getrieben haben. Hinzu kommt, daß von diesem Moment an die Sünde in der Geschichte freigesetzt ist und den folgenden Generationen als Wirklichkeit von außen her begegnet. Der Teufel stünde dann als Chiffre für einen strukturell vorgegebenen Schuldzusammenhang, der sich durch menschliches Handeln von Anbeginn an in der Geschichte ausbreitet und sich inzwischen zu einer unheilvollen Macht ausgewachsen hat, die dem Individuum vorgeordnet ist und Zwang auf es ausübt. Die Eingliederung in diese unheilvolle Sphäre vollzieht jeder 447 Im Griech. A:UELV, das »lösen«, »auflösen« (vgl. Joh 1,27) und >>niederreißen«, »zerstören« (vgl. Joh 2,19) bedeutet. Ein bildhaftes Moment - Auflösen der Stricke und Bande, mit denen die Sünde den Menschen umschlungen hält - wollen noch heraushören
Lange 436; Smalley 170. Traditionsgeschichtlich könnten Exorzismen synoptischen Typs, die bei Johannes fehlen, den entfernten Anhaltspunkt für diese Anspielung auf einen Kampf Jesu mit teuflischen Mächten abgeben, vgl. Brown 407.
l]oh 3,9: Same Gottes
193
selbst durch seine eigenen Taten nach (es gibt auch in der Gegenwart Verhaltensweisen, die wir unwillkürlich mit dem Attribut »teuflisch« belegen, ohne damit auf einen mythischen Verursacher rekurrieren zu wollen). Auf der Bildebene sind in V. 9 unmittelbar aufeinander bezogen die äußeren 9a.e Rahmenstücke mit dem zweimaligen »aus Gott gezeugt« und der Satz im Zentrum in 9c, der vom Bleiben seines Samens spricht. Zeugung und Same 9c (rntEQILU) gehören einem gemeinsamen Wortfeld an. Trotz dieser recht klaren Textlage konkurrieren zwei sehr unterschiedliche Deutungen miteinander. 1 Die eine Erklärung faßt OJtEQlLu als Nachkommenschaft. Dann bestehen OJtEQlLu immer noch zwei Alternativen: (a) Nach Joh 7,42 stammt der Messias »aus Samen Davids« (vgl. Röm 1,3). »Seine Same« ist Christus, der in ihm, d.h. im Glaubenden bleibt - eine nur selten vertretene 448 , äußerst unwahrscheinliche Lösung. (b) Eher käme von Joh 8,33.37 her (die Juden als »Same Abrahams«; vgl. Röm 9,7) eine kollektive Sicht in Frage: Sein Same, die Gesamtheit der Gotteskinder, bleibt in ihm, in Gott449 . Die Aussage des Verses liefe unter dieser Voraussetzung weithin mit V. 6 parallel. Aber Same Abrahams ist ebensowenig wie Same Davids dasselbe wie Same Gottes. Man würde erwarten, daß der Verf., wenn er das gemeint haben sollte, nicht vom Samen Gottes, sondern mit seinem bevorzugten Paradigma von Kindern Gottes spricht. 2 Bei der zweiten Deutung fassen wir »Samen« als die generative Kraft der Erzeugung. Der Ort für sein Bleiben ist der, der gezeugt wurde, ist das neue Geschöpf selbst. Zu übersetzen wäre: Weil Gottes Same in ihm, dem Glaubenden, bleibt. Das Bild ist damit gesprengt, weil der Same nicht mehr nur das Prinzip der Zeugung markiert, sondern als kontinuierliche Kraft im Innern des Christen verweilt (vgl. aber als Analogon Joh 4,14: das Wasser, das im Menschen ins ewige Leben sprudelt - gleichfalls eine unter Strapazierung der Bildlogik erzielte Internalisierung der lebenspendenden Kraft). Die leitende Absicht ist die: »Aus Gott gezeugt« kann man punktuell verstehen, einmal geschehen und dann vorbei. Mit der neuen Metapher soll gesagt werden, daß der Akt der Zeugung weiterwirkt und die Existenz des so erzeugten Geschöpfes durchgehend bestimmt. Daß man in der Antike so reden konnte, zeigen Philo von Alexandrien und die Gnosis. Die Seelen der Kinder Israels sind nach Philo aus göttlichem Samen entstanden, daher ihre Wesensverwandtschaft mit Gott (VitMos 1,279). Gott befruchtet vom Himmel herab die Tugenden mit dem Samen des Guten (Cher 44; Det 60), er sät diesen Samen in die Menschenseelen hinein (Post 171; All 3,40). Das Evangelium Veritatis sagt vom vollkommenen Licht im Pleroma, es sei »voll vom Samen des Vaters«; verbunden ist das mit dem Kindschaftsverhältnis, in dem die Gnostiker zum Vatergott stehen450 • Irenäus referiert als valentinianische Lehre: »Die Seelen, die den SaErwogen bei PS.-Oecumenius 653. Neil Alexander 86f; Wohlenberg, Glossen 582f.
448
449
450 EV NHC I/3 43,9-24. Vgl. CorpHerm 13,2 (Saatmetaphorik im Umkreis der Wiedergeburt und der Zeugung aus Gott).
194
Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10)
men der Achamoth hatten, sollen besser als die übrigen gewesen sein ... Die guten (Seelen) seien die, die zur Aufnahme des Samens fähig sind, die von Natur aus schlechten würden niemals jenen Samen erhalten.«451
Für die nähere Bestimmung des Samens Gottes stehen, wenn wir von VOfschlägen wie göttliche Gnade, göttliche Natur, göttliches Leben absehen452 , im wesentlichen zwei Möglichkeiten zur Wahl, und es sind dieselben, mit denen wir uns bereits bei der Interpretation des Chrisma in 2,20.27 konfrontiert sahen: Same als Wort Gottes453 oder Same als Geist Gottes454 . Für die Deutung als Wort argumentiert man u.a. mit Jak 1,18 (»gezeugt durch das Wort der Wahrheit«) und 1Petr 1,23 (wiedergeboren »aus unvergänglichem Samen, durch Gottes lebendiges und bleibendes Wort«)455, aber die Gleichsetzung von Wort und Samen, bekannt nicht zuletzt aus der stoischen Lehre vom Logos spermatikos, funktioniert meist auf einer anderen metaphorischen Basis. Das Wort wird mit a~gestreuten Saat- und Samenkörnern verglichen (Lk 8,11). In V. 9 aber dient, auch wenn manche Ausleger das aus Gründen der Schicklichkeit lieber nicht wahrhaben möchten456 , wegen der Zeugungsthematik in den Rahmenstücken als Bildspender der physische Vorgang der Zeugung eines neuen Menschen durch - nach antiker Anschauung - männliches Sperma. Diese generative Kraft erscheint eher vergleichbar mit dem schöpferischen Wirken des Geistes. Der Geist Gottes, der ins Herz des Neugetauften eingesenkt wird und fortan in ihm bleibt, ist der Same, der das neue, aus Gott gezeugte Geschöpf hervorbringt und diesen neuen Ursprung bleibend wachhält. Das trifft sich mit der Deutung des Chrisma in 1Joh 2,20.27 auf den Geist, es trifft sich mit der pneumatischen Begründung des »Bleibens« in 1Joh 3,24; 4,13, und es paßt zum Evangelium, wo nach Joh 3,5.8 Zeugung von oben durch Wasser und Geist geschieht. Schließlich lassen sich Vergleichstexte beibringen, auf jüdischer Seite TestBenj 8,2: Der Rechtschaffene »hat keine Befleckung im Herzen, weil der Geist Gottes in ihm (oder auf ihm) ruht«, und auf gnostischer Seite ExAn NHC II/6 133,34-134,3: Als sich die Seele mit ihrem Geliebten vereinte, »empfing sie den Samen von ihm - das ist der Geist, welcher lebendig macht -, so daß sie durch ihn gute Kinder gebar«.
Haer 17,3.5. Vgl. Hippolyt, RefV 8,28f; Clemens Alex., Exc Theod 53,1-5: Die Sophia hat pneumatischen Samen in Adams Seele eingesenkt. 452 Überblick bei du Preez* 105f. 453 Dodd 77f; Malatesta, Interiority 247249. 454 Luthardt 248; Lewis 82; Culpepper 62f; Strecker 171f. 455 Vgl. noch Justin, Apol 32,8: In den Glau451
benden »wohnt der Same von Gott, das Wort«. 456 Wolf 129 überlegt, »ob das Bild von der menschlichen Zeugung oder vom Pflanzenreiche hergenommen sei«, und kommt zu dem Schluß: »Anständiger jedoch und fasslicher ist es, wenn man den Vergleich mit dem Saatkorne zum Grunde legt.« Ganz von den synoptischen Saatgleichnissen her legt Lange 443-445 aus.
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l]oh 3,9: Sündlosigkeit
Aus der Zeugung durch Gott, verstärkt durch die permanente Anwesenheit 9b.d der zeugenden Kraft des geistlichen Samens, folgert 9b.d in doppeltem Zugriff das Nichtsündigen der Glaubenden. Konnte man in 3,6 bei der These »jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht« unter Umständen noch an das Bleiben als eine vorgängige Bedingung denken, die wenigstens zum Teil der Aktivität des Menschen anheimgestellt ist, so geht das in V. 9 nicht mehr. Die Zeugung aus Gott liegt nicht in der Macht des Menschen, weil sie ihm geschenkt wird. Aus diesem Geschenk ergibt sich das Nichtsündigen, das innerhalb des Verses noch einmal eine Steigerung erfährt. Er »tut keine Sünde« in 9b impliziert strenggenommen nur einen faktischen Zustand: Es gelingt, die Sünde zu vermeiden und sündenfrei zu bleiben. In 9d aber erscheint das in einer erneuten Zuspitzung: Er »kann nicht sündigen«, er hat, wenn man das beim Wort nimmt, nicht einmal mehr die Möglichkeit dazu457 • Das ist in sich schon eine sehr kühne und in ihrer Kühnheit schwer verständliche Aussage. Es kommt hinzu, daß sie unverkennbar in Widerspruch gerät zu 1,8.10, wo Thesen, die nicht einmal ganz so exponiert erscheinen, scharf bekämpft werden. In 5,1618 treffen wir zwar auf engstem Raum auf die gleiche Spannung. 5,16 empfiehlt das Bittgebet für sündige Mitchristen, 5,18 wiederholt die These von der Sündlosigkeit der Gotteskinder. Wahrscheinlich wird dort aber ein Lösungsvorschlag mitgeliefert, insofern 5,16 zwischen einer Sünde zum Tode und einer Sünde nicht zum Tode unterscheidet (s. die Kommentierung). Möglicherweise liegt von 5,14 ab ein Nachtrag vor, der bewußt den Versuch eines Ausgleichs im Spannungsfeld von Sünde und Sündlosigkeit unternimmt. Außerdem steht der Text recht weit von 3,9 entfernt. Zurückhaltung in der Verwendung von 5,16-18 erscheint daher angebracht. Daß die Problemlage nicht sonderlich einfach ist, zeigt die Fülle von wider- Sündlosigkeit sprüchlichen Lösungsvorschlägen. Aussparen wollen wir von vornherein literarkritische Operationen, die die beiden Aussagereihen auf zwei verschiedene Autoren verteilen. Wir übergehen ebenso die Annahme, hier wie dort seien differierende gegnerische Gruppen anvisiert, halten uns auch nicht bei der allzu schlichten Auskunft auf, der Verf. entwerfe eben nur ein Idealbild458 , das in der Praxis höchstens von Elitechristen einzulösen sei459 , und lassen uns schließlich nicht auf hermeneutische Gewaltsamkeiten ein, die in ihrer gewollten Paradoxie noch schwieriger erscheinen als der Text selbst460 . Folgende Lösungstypen seien vorgestellt: 1 Kap. 1 soll nur für das Individuum gelten, Kap. 3 nur für die Gesamtgemeinde. Etwas Ähnliches gibt es in Qumran: Die Gesamtgemeinde gilt als heilig, unbefleckt, sündenfrei. Das hindert nicht daran, für die Fehltritte von einzelnen Mitgliedern eiVgl. Gaugier 170: »Hier scheint in dem betonten >kann nicht< wirklich etwas wie eine naturhaft-ontologische Aussage zu stecken.« 458 Vrede 163; Findlay 267. 457
Bonsirven 160f. Unverständlich blieb mir z.B. Stalder*; ein ausführliches Referat über die diversen Positionen bietet Wade* 7-61. 459 460
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nen detaillierten Strafkatalog aufzustellen und Formen für Buße und Wiedereingliederung zu schaffen461 . Leider ist im Kontext der beiden Kapitel im 1Joh eine solche an sich mögliche Differenzierung (man denke an die Adressierung der Gemeindemitglieder als »die Heiligen« bei Paulus, die mit kräftiger Schelte wegen faktischer Fehltritte einhergeht) durch nichts angezeigt. Die Einführung der Thesen in 3,6 und 3,9 mit »jeder, der ... « spricht eher dagegen. 2 In Kap. 1 gehe es nur um punktuelle Einzelsünden, in Kap. 3 um habituelle Sündhaftigkeit, die einem Christen schlecht ansteht. Festmachen will man das teils an den Präsensformen von 3,6.9, die eine andauernde Aktion anzeigen462, teils an dem JtOLeiv von 9ab463 . Die sprachlichen Subtilitäten können eine derart schwerwiegende Bedeutungsverschiebung nicht tragen. 3 Nur ein kleiner Schritt ist es von da aus zur nächsten Position, die mit Sünden unterschiedlicher Qualität rechnet. Einen gewissen, wenn auch geringfügigen Anhalt hat das im Text an dem Begriff aVOIlLa in dem speziellen Sinn einer eschatologischen Sünde in 3,4. Die klassische katholische Theorie nimmt ihren Ausgangspunkt aber eher bei 5,16-17 und läßt den Briefautor in Kap. 1 ausschließlich von läßlichen Sünden, die vergeben werden, sprechen, in Kap. 3 hingegen von Todsünden, die ein Christ gar nicht erst begehen wird464 . Augustinus, der die Spannung zwischen Kap. 1 und Kap. 3 stark empfand 465, hat dem eine etwas andere, gleichfalls einflußreiche Wendung gegeben, wenn er in seinem Kommentar nach langer Diskussion das Nichtsündigen als Freisein von Verstößen gegen das Liebesgebot präzisiert466 . 4 Als »paulinischer« Lösungstyp ist einzustufen, was Buhmann vorschlägt, wenn er schreibt: Das Nichtsündigenkönnen »muß also als die Möglichkeit des Nichtsündigens verstanden werden, die der Glaubende als das unverlierbare Geschenk der ay6m] Gottes empfangen hat, eine Möglichkeit, die freilich stets zu realisieren ist«467. Er »tut keine Sünde« 9b würde paulinisch gesprochen bedeuten, daß der Glaubende dem Zwang zum Sündigen enthoben ist, »er kann nicht sündigen« 9d würde dem eine futurische Dimension verleihen: Das wird auch in Zukunft so bleiben, das Nichtsündigen kann durchgehalten werden, weil Gott das Geschenk des neuen Lebens nicht zurücknimmt468 . 9d klingt zwar, als würde ein non posse peccare ausgesagt, gemeint wäre aber nur ein posse non peccare oder besser die wirksame Überwindung des non posse non peccare, des Zwangs zum Sündigen. Theologisch erscheint diese Lösung befriedigend, am Wortlaut von 3,9 nimmt sie Abstriche vor.
Perkins 40. Stott 130f.139f; Ross 183.185; vgl. auch Galtier* 144. Dagegen Kubo*. 463 Inman* 14lf. 464 Estius 704; Natalis Alexander 152f; Lallemant 223. Mit charakteristischer Engführung Belser 78: Unzuchtsünden. Auf die Häresie der Gegner beschränkt Segalla* 337f die Sünde von 3,9; Vitrano* erblickt den Unterschied im Vorhandensein oder im Fehlen des Beistands aus 2,1. 465 •.. est enim non parva quaestio, sagt er 246. 466 250.260; dazu Dideberg, Augustin 107124, der einen anderen Umgang mit der Stelle außerhalb des Kommentars herausarbeitet. 461
462
Favorisiert wird die augustinische Auslegung wieder von Whitacre, Polemic 137. 467 Bultmann 58. Auch Nauck 98-122 gehört hierher, der 1Joh und Paulus untereinander und mit Qumran vergleicht und ein untrennbares Ineinander von statischen und dynamischen Momenten im Umgang mit Sünde und Sündlosigkeit herausstellt. Das lutherische simul iustus et peccator benutzt Eichholz, Erwählung 19-28, als hermeneutischen Schlüssel. Dagegen beobachtet Posset, Christology 232-243, zutreffend, daß Luther zu 3,9 fast das Gegenteil festhält: Non stant simul peccare et nasci ex deo (707); s.u. in C. 468 Vgl. Schunack 59.
l]oh 3,9: Sündlosigkeit
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5 Ein weiterer Ansatz argumentiert von der Eschatologie her469. Die Messiaszeit wird nach jüdischer Erwartung eine sündenfreie Zeit sein (TestLev 18(9). Gott schafft den Menschen eine neue und gerechte Natur, »damit sie nicht sündigen bis in Ewigkeit« Gub 5(12). Dann »wird den Auserwählten Weisheit verliehen werden, und sie alle werden leben und nicht mehr sündigen, weder aus Pflichtvergessenheit noch aus Überheblichkeit, ... und sie werden nicht mehr sündigen« (äthHen 5,8f). Wenn wir auf lJoh blicken, so hatte das Material, das Kap. 1 verarbeitete, seinen Sitz im Leben in der Taufunterweisung. Hier, am Anfang christlicher Existenz, war Sünde und Sündenvergebung ein besonders wichtiges Thema. Die gleiche Thematik taucht in Kap. 3 in einem apokalyptisch gefärbten Rahmen auf. Wir befinden uns in der letzten Stunde. Das in 3,2 in Aussicht gestellte Offenbarwerden unseres christlichen Seins in seiner ganzen Fülle steht unmittelbar bevor. Proleptisch kann die endzeitliche Sündlosigkeit schon in die Gegenwart der Glaubenden hineingezogen werden. Die skeptische Stellungnahme von Kap. 1 und die enthusiastische von Kap. 3 markieren zwei Eckpunkte in einem prozeßhaften Verlauf. 6 Manches für sich hat die Vermutung, daß der Verf. sich in 3,6.9 auf Positionen seiner Gegner einläßt. Sie sucht man meist mit gnostischen Texten zu illustrieren. Es fällt aber auf, daß wörtliche Parallelen kaum zu finden sind. Die Irenäuszitate, die man beibringt, sprechen von der Vergleichgültigung konkreten sittlichen Verhaltens. Der Gnostiker ist sündlos, weil herkömmliche Wertmaßstäbe für ihn nicht mehr gelten470 . Das ist mit lJoh nur von ferne vergleichbar, eher noch mit Kap. 1 als mit Kap. 3. Näher heran führt ein Text wie OgdEnn NHC VI/6 62,33-63,14: »Und der, der nicht von Beginn an von Gott gezeugt sein wird, ist angewiesen auf die allgemeinen und einführenden Lehren. Er wird nicht imstande sein, die Dinge, die in diesem Buch geschrieben stehen, zu lesen, auch wenn sein Gewissen in ihm rein ist, da er nichts Schändliches tut und solchem auch nicht zustimmt. Vielmehr schreitet er stufenweise fort und gelangt so auf den Weg der Unsterblichkeit. Und er gelangt zur Erkenntnis der Achtheit, die die Neunheit offenbart.«471 Sündlosigkeit wird hier nicht als Ziel gesehen, sondern als Voraussetzung für das graduelle Hineinwachsen in die Vollendung. Gewisse Gemeinsamkeiten zeichnen sich ab. Nur wird man es sich nicht so einfach machen dürfen, V. 6 und V. 9 in lJoh 3 einfach in Anführun.gszeichen zu setzen, als seien sie nur gegnerische Slogans, die der Briefautor in keiner Weise befürworte, sondern im Gegenteil energisch bekämpfe472 • Anders als in Kap. 1-2 und in 4,20 fehlen dafür die sprachlichen Indizien (Einführungsformeln etc.), sie können auch aus dem Kontext von 3,1-10 nicht ergänzt werden. Wir müssen davon ausgehen, daß der Verf. die in 3,6.9 geäußerte Meinung selbst teilt.
Hilfreich erscheint am ehesten eine Kombination der Lösungsmodelle Nr. 4, 5 und 6. In 3,9 macht sich der Autor eine Position seiner Gegner zueigen. Er kann nicht zulassen, daß sie allein - in der Theorie zumindest - als vollkomVgl. la Potterie~ 201-208. Irenäus, Haer I 6,3f: »Darum tun auch die Vollkommensten von ihnen alles, was verboten ist, ohne Scheu ... «; 25,4: »Sie sagen, böse und gute Werke gebe es nur nach menschlicher Ansicht ...« Vgl. allgemein Seneca, Ep 72,6: »Der Weise kann nicht zurück469
470
fallen [in die überwundene Krankheit des Geistes], nicht einmal mehr erkranken«; IgnEph 8,2; 14,2. 471 Nach J. Brashler u.a., NHSt XI 371. Mit einer anderen Übersetzung, die 1Joh 3,9 mehr ähnelt, arbeitet Wengst, Häresie 46. 472 So Swadling~.
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mene Christen dastehen, die Restgemeinde hingegen als ein Haufen notorischer Sünder. Außerdem teilt er ein Stück weit ihr perfektionistisches Ideal. Aber die Gegner fassen die Sündlosigkeit zu statisch und nicht als dynamischen, prozeßhaften Vorgang. Die christliche Vollkommenheit ist für sie mit der Taufe ein für allemal gegeben. Daraus kann niemand mehr herausfallen, und eine Entwicklung zur größeren Vollkommenheit hin macht ebensowenig Sinn. Das ist konsequent gedacht, aber nicht praktisch, nicht realistisch, und, wenn wir so wollen, nicht pastoral. So aber denkt der Briefautor, praktisch, realistisch, pastoral, und er nimmt das Moment des Geschichtlichen ernst. Er weiß, daß Christen eine Wegstrecke zurücklegen, auf der sich manches ereignen kann. Bei den Gegnern ist in dieser Hinsicht ein Defizit zu konstatieren, sowohl was die Geschichtlichkeit des Heilswerkes Jesu Christi angeht als auch in bezug auf die geschichtlichen Bedingungen christlichen Lebens. Man kann einwenden, daß sich die Auseinandersetzung in Haarspaltereien erschöpft, wenn beide Parteien wichtige Thesen im Wortlaut unterschreiben konnten. Ganz gewiß fällt es dem Briefautor selbst nicht immer leicht, die Unterschiede, die er verspürt und für wichtig hält, scharf herauszuarbeiten. Das hängt mit der gemeinsamen Traditionsbasis zusammen. Verf. und Gegner kommen vom Johannesevangelium und von der johanneischen Theologie her. Darüber hinaus bleibt einzuräumen, daß Präzision in der Gedankenführung und im Ausdruck beim Briefautor manchmal zu wünschen übrig lassen. Das einförmige Sprachmaterial und der thetisch-apodiktische Stil überdecken nicht selten argumentative Schwächen und Lücken. Wenn alle Lösungsversuche nicht befriedigen, muß man den Widerspruch in seiner Widersprüchlichkeit stehen lassen 'und ihn so deuten: Auch christliches Leben ist nicht widerspruchsfrei und spannungsfrei. In diesem Widerspruch spiegelt sich nichts anderes als die Widersprüchlichkeit christlichen Seins. Wirkungs- Das Ringen um das Verständnis von lJoh 3,6-9 ist in der Theologiegeschichte nie geschichte ganz zur Ruhe gekommen, wie oben schon am Beispiel Augustins spürbar wurde473 • Die Väter des Ostens haben eine mehr »mystische« Lösung angestrebt. Maximus Confessor (7. Jh.) beginnt seine Erklärung von 3,9 mit der Auskunft, man müsse zwei Arten der Zeugung aus Gott voneinander abheben. Der ersten Stufe ordnet er die Gnade und den Glauben zu, aber die innere Assimilation des Pneuma hat noch nicht zur Transformierung des Willens geführt, die Neigung zur Sünde bleibt bestehen. Bestimmend für die zweite Stufe ist überlegene Erkenntnis (b"t(yvOOOU;), Hand in Hand damit eine Umformung des Intellekts und des Willens durch den Geist, die sündiges Tun fortan ausgeschlossen erscheinen läßt. Die Vergöttlichung des Menschen ist damit erreicht474 • Exegetisch gesehen wird dabei die Sündlosigkeit interpretiert von der 473 Die einschlägigen Passagen aus Tertullian, Pud 19,10-28, wurden schon zu 1,8-10 ausgewertet (s.o.). Zur Auslegungsgeschichte Zahn· 30-43. Hinweise auf perfektionistische Strömungen in der Neuzeit ebd. 34f; GaugIer 173f.
Quaestiones ad Thalassium 6 (280C281B PG 90); vgl. Cramer, Catenae 124-127; dazu la Potterie· 197f. 474
l]oh 3,6-9: Wirkungsgeschichte; 3,lOa-c: Erklärung
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Gottähnlichkeit in 3,2 her, bei gleichzeitiger Zurücknahme des dort noch gewahrten eschatologischen Vorbehalts. Im Westen sah Hieronymus sich in zwei Konfliktsituationen zur Auseinandersetzung mit der Stelle gezwungen. 393 n.Chr. verfaßt er seine Schrift gegen Jovinian, der den Satz aufgestellt hatte, Getaufte könnten vom Teufel nicht mehr verführt werden, und das mit 1Joh 3,9 bzw. 5,18 begründete. In fortan bewährter Manier hält Hieronymus dem 1Joh 1,8 - 2,2 entgegen, ohne die innere Spannung wirklich aufzulösen475 • Nicht wesentlich anders verfährt er 415 n.Chr. mit Pelagius476 , der zuvor in kühner Symbolsprache Röm 6,7 mit 1Joh 3,9 kombiniert hatte: »Ein Toter sündigt nämlich überhaupt nicht. So auch: ... [folgt Zitat 1Joh 3,9]. Denn wer ans Kreuz geheftet ist, wo alle Glieder vom Schmerz in Beschlag genommen sind, kann kaum mehr sündigen.«477 Ein weiteres Mal hat das Konzil von Trient lehrsatzmäßig die Meinung zurückgewiesen, der einmal Gerechtfertigte könne nicht wieder sündigen (DS 1573: Si quis hominem seme! iustificatum dixerit amplius peccare non pos-
se ... an. s.). V. 10 setzt die scharfe Polemik fort. Die ungemein harte Titulierung »Kinder Erklärung
des Teufels« hat der Briefautor aus der gleichen Evangelienstelle heraus ent- 10a-c wickelt, die bereits für V. 8 einschlägig war, nämlich aus Joh 8,44, wo Jesus den Juden, die ihm nach dem Leben trachten, vorwirft: Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt die Begierden eures Vaters tun. Dieser Vorwurf wird auf innergemeindliche Konflikte übertragen. Der Verf. entwirft ein förmliches Gegenmodell: Gott als Vater und die Christen als Gotteskinder - der Teufel als Vater und die Sezessionisten als Teufelskinder. Ganz durchgeführt wird diese Antithetik nicht, und das wohl nicht zufällig, sondern aus wohlüberlegter Absicht heraus. Es fehlt ein Gegenstück zu »von Gott gezeugt«. Daß Sünder vom Teufel gezeugt seien, so weit treibt der Autor seine Analogie nicht voran. Man wird das - mit den meisten Erklärern seit Augustinus478 - so verstehen: Etwas Neues hervorbringen kann der Teufel nicht. Er hat keine schöpferische, kreative Kraft. Seine Kräfte wirken vielmehr destruktiv. Des Teufels Kreaturen sind nichts Originelles, sondern Bestandteil der alten, zerfallenden Welt. Damit soll zugleich eine Schranke gegen eine reine Prädestinationslehre aufgerichtet werden. Es darf trotz des dualistischen und hochmythologischen Sprachgewandes nicht der Eindruck entstehen, als seien Menschen in ihrem Wesen so vom Teufel bestimmt, daß sie zum Sündigen gezwungen wären. Die Sünde bleibt ihre eigene Tat. Deshalb versucht der Verf. ansatzweise, das Phänomen des Teuflischen in der Geschichte an be-
Adv Jov 2,1-2 (28ID-284D PL 23). 412 n.Chr. antipelagianisch rezipiert von Augustinus, De peccatorum meritis et remissione 3,13 (140,1-25 CSEL 60). 476 Adv Pel 1,13 (505A-D PL 23). In einer Schrift, die sich die Aufhellung von Widersprüchen in der Bibel zum Ziel gesetzt hat, stützt sich im 7. Jh. Julian von Toledo, Antikeimenon 2,80.82 (703B/C; 704NB PL 96), 475
für 1Joh 3,9 voll und ganz auf Augustinus und Hieronymus. 477 Pelagius, In Rom 6,7 (1139 PLS 1). 478 238: »Er ist vom Teufel- ihr wißt, was das heißt: Durch Nachahmen des Teufels ist er das. Denn niemanden hat der Teufel gemacht, niemand gezeugt, niemand geschaffen.«
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Gotteskinder - Teufelskinder (3,7-10)
stimmte menschliche Handlungen zu knüpfen (so erneut in 10bc und deutlicher in V. 12). Wirkungs- Die feinen Nuancen des Textes, die im Verzicht auf die Sprachfigur »vom Teufel gegeschichte zeugt« liegen, wurden nicht immer respektiert. Der Polykarpbrief tituliert in einer von 1Joh abhängigen Passage jeden Irrlehrer als »Erstgeborenen (JtQW.OLOXOC;) des Satans«479. In seiner langen Exegese zu Joh 8,44 zieht Origenes ausführlich 1Joh 3,810 heran und formuliert dabei mehrfach, wer eine Sünde begehe, sei »aus dem Teufel gezeugt (YEyEvr].m)«480. Dennoch findet Origenes zu sehr klaren Auskünften, die einem prädestinianischen Verständnis zuwiderlaufen. Der Umkehrschluß: »Wer aus dem Teufel gezeugt ist, tut die Gerechtigkeit nicht«, darf keinesfalls gezogen werden (115); niemand ist Kind des Teufels aufgrund seiner natürlichen Konstitution; wer ein Kind des Teufels war, kann wieder zu einem Kind Gottes werden (106). Das hält Origenes energisch gegen den gnostischen Johannesexegeten Herakleon, der das Kindschaftsverhältnis substanzhaft verstand (211), aufrecht: Die Kinder des Teufels »sind ihm ähnlich geworden durch das Tun seiner Werke und nicht wegen einer Substanz und einer natürlichen Konstitution, unabhängig von ihren Werken« (219). 10d Im ersten Hauptteil des lJoh folgten auf den Abschnitt über das Halten der Gebote in 2,3-6 die Ausführungen über das Liebesgebot in 2,7-11. Das Halten der Gebote zielt auf das Liebesgebot und erfüllt sich in ihm. Genauso verhält es sich hier. Das Tun der Gerechtigkeit, das von 2,29 an über 3,7 und 3,10 das Ganze strukturiert und zusammenbindet, läuft auf die Praxis des Liebesgebotes zu, was 10d andeutet und der nächste Abschnitt 3,11-24 in positiver und negativer Hinsicht abhandelt. Zusammen- Teufelskindschaft der Sünder und Sündlosigkeit der Gotteskinder - mit dieser Kernaussage von 3,7-10 stellt der Verf. zwei nicht unproblematische Thefassung sen in den Raum, die einer Einbettung in den Gesamtrahmen seines theologischen Denkens dringend bedürfen. Für die Teufelskindschaft erscheint wichtig, daß sie anders als die Gotteskindschaft nicht durch - metaphorisch gesprochen - Zeugung zustande kommt, sondern durch ein Tun der Betroffenen. In einer Verkehrung der normalen Verhältnisse adoptieren sie, die künftigen Kinder, durch ihr Handeln, mit dem sie sich in den universalen Schuldzusammenhang eingliedern, ihren Vater. Die Freiheit, auch anders verfahren und aus der Verflechtung der Sünde heraustreten zu können, stellt in sich bereits ein großes Geschenk dar, das Gottes schöpferischem, »zeugendem« Eingreifen in seinem Sohn verdankt wird. In diesem Sinne gibt es die Sündlosigkeit der Glaubenden, aber nur als offene Möglichkeit von Gott her. Die Hilfen für den Umgang mit faktischen Sünden, die Kap. 1-2 an die Hand gibt, werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Der polemische Duktus des Ab479 Polyk 7,1; den Ausdruck »Söhne des Teufels (ÖUißOAO<;)« gebraucht AuthLog NHC VV3 33,26. 480 Comm in Joh 78.176.255. Anders ebd.
119-122, wo Origenes gerade den Unterschied zwischen »aus dem Teufel sein« und »aus Gott gezeugt« für die Sachfrage auswertet.
1Joh 3,7-10: Zusammenfassung; 3,11-24: Gliederung
201
schnitts mag in manchem ungebührlich hart erscheinen, aber es wäre andererseits auch bedenklich, wenn das Destruktive als solches weder erkannt noch beim Namen genannt wird. In welchem Sprachspiel das geschieht, will je neu und sorgsam bedacht werden. Die hochmythische Sprache des Briefes verfügt zweifellos über ein gewisses Erklärungspotential, eignet sich aber wegen der gleichfalls inhärenten Gefahren nicht für eine unbesehene Imitation.
3
Einübung des Liebesgebots (3,11-24)
Über die Abgrenzung von 3,11-24 als eigener Abschnitt besteht weithin Einigkeit. Sehr viel schwieriger gestaltet sich die Unterteilung des Textstücks, das mehr locker gefügte Materialien enthält. Typische Übergangsverse sind V. 13 und v. 18. Besonders für v. 18 schwankt die Zuordnung hin und her. Wohl mehrheitlich wird V. 18 als Abschluß zum Vorstehenden gezogen481 , teils läßt man aber auch das Folgende mit V. 18 beginnen482. Können wir Textsignale eruieren, die eine genauere Bestimmung ermöglichen? Das einleitende »Denn dies ist die Botschaft ... daß wir einander lieben« von V 11 Gliederung kehrt in V 2} wieder: »Und dies ist sein Gebot, daß wir ... einander lieben.« Kräftige Akzente setzen in V 13 die Anrede »Brüder« mit dem Imperativ »wundert euch nicht« und in V 18 die Anrede »Kindlein« mit der Aufforderung »wir wollen lieben«. Folgt man diesen Beobachtungen, erhält man V 11-12, V 13-17, V 18-22 und V 2324 als kleine Einheiten. V 11-12 und V 23-24 legen sich als Inklusio um die beiden etwa gleich langen mittleren Perikopen483 . Sollte nicht auch »daran haben wir erkannt« in 16a bzw. »daran werden wir erkennen« in 19a und die Anrede »Geliebte« in 21a in die Gliederung eingeholt werden? Aber in 19a bezieht sich tv 'tomq> wohl nicht auf das Folgende, sondern auf das Voranstehende und fällt damit als Gliederungsmerkmal aus484. Bei V 16 könnte man einen Einschnitt machen, muß es aber nicht unbedingt tun, da sich von Tod und Leben (~wf)) in V 14 über den Menschenmörder und das ewige Leben (~wf)) in V IS bis zum irdischen Leben (tjrUxf)) in V 16 und dem Lebensunterhalt (ßLo~) in V 17 eine geschlossene 'Linie durch den Text zieht. Die Anrede »Geliebte« zeigt in 2,7 und 4,1.7.11 Absätze an, steht in 3,2 aber innerhalb einer Perikope. Da anders als in V 13 und V 18 die Anrede in V 21 nicht durch einen Imperativ unterstützt wird, hat sie hier nicht das gleiche Gewicht. Vom Inhalt her stellen der Freispruch des Herzens in V 21 und der Urteilsspruch des Herzens in V 20 zwei Tafeln eines Diptychons dar, die man besser nicht auseinanderreißt. Ob man V 13-17 und V 18-22 textintern noch einmal untergliedern soll in aal V 13-1S, bb) V 16-17 und aal V 18-20, bb) V 21-22, ist eine Ermessensfrage. Hier wurde darauf verzichtet. Wir gliedern 3,1-24 also in V. 11-12 (das Liebesgebot mit einem Kontrastbeispiel), V. 13-17 (die Praxis der Liebe, bei der es um Tod und Leben geht), V. 481 482 483
Vgl. nur Feuillet, Etude 318f. Weiss 102; Bonnard 79. Vgl. Brown 467f.
484 In 2,3 und 4,17 markiert f:v 'tOlrtW in unserer Gliederung Absätze, in 2,5; 3,10.24; 4,2.10.13; 5,2 nicht.
202
Die Mitte der Botschaft (3,11-12)
18-22 (das unruhige und das beruhigte Herz) und v. 23-24 (Summierung des Liebesgebotes). Die Erwähnung des Glaubensvollzugs in 23b und der Gabe des Geistes in 24e präludieren Leitmotive des letzten Hauptteils.
Die Mitte der Botschaft (3,11-12)
a
Literatur: Bauer, l.B., 11 misfatto di Caino nel giudizio di S. Giovanni, RivBib 2 (1954) 325-328; Dahl, NA, Der Erstgeborene Satans und der Vater des Teufels (Polyk. 7,1 und Joh 8,44), in: Apophoreta (FS E. Haenchen), 1964 (BZNW 30), 70-84; Klauck,
H.l., Brudermord und Bruderliebe. Ethische Paradigmen in 1Joh 3,11-17, in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg 1989,151-169; Kruijf, r.c. de, »Nicht wie Kain (der) vom Bösen war ... « (1 Joh. 3,12), Bijdr. 41 (1980) 47-63; Pearsan, BA, Cain and the Cainites, in: ders., Gnosticism, Judaism, and Egyptian Christianity, Minneapolis 1990 (Studies in Antiquity and Christianity), 95-107. 11a
b c 12a
b c
d e
Denn dies ist die Botschaft4 85 , die ihr gehört habt von Anfang an: daß wir einander lieben. Nicht so wie Kain (, der) aus dem Bösen war und seinen Bruder abschlachtete. Und wegen was hat er ihn abgeschlachtet? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.
Analyse Das begründende ö"tLin 11a hat die Zuspitzung des Tuns der Gerechtigkeit aus 3,7-10 auf die Geschwisterliebe in IOd im Blick. Ansonsten ist V. 11 als Einleitungsvers bewußt parallel gestaltet zu dem Themasatz in 1,5: 1,5
3,11
Und dies ist die Botschaft, die wir gehört haben
Denn dies ist die Botschaft, die ihr gehört habt (Aor.)
von ihm
von Anfang an:
und euch verkündigen: Gott ist Licht . .. I
daß wir einander lieben.
Die augenscheinlichen Parallelen wie auch die Unterschiede werden bei der Erklärung auf ihren Sinn hin zu befragen sein (s.u.). Das Beispiel Kains in V. 12 fungiert als negatives Exempel für die Ausgangsthese. Der mit o'Ö xa{}ro~ eingeleitete Satz in 12ab wirkt unvollständig, was absichtlich als Stilmittel eingesetzt sein kann486 . Eine ähnliche Konstruktion begegnet in Joh 6,58. Die im NT singuläre Voranstellung der uneigentlichen Präposition XaQLV in der Frage von
Statt der joh. Sondervokabel u'('{EAia (nur noch in 1,5) lesen K C P al das im NT häufigere bta'('{EAia (vgl. 2,25).
485
Vgl. Haas, Handbook 87: »The use of an unconnected sentence is to express better the unexpected horror of the case.« 486
l]oh 3,11-12: Analyse, Erklärung
203
12c entspricht hellenistischem Usus, der sich in der LXX schon abzuzeichnen beginnt487 •
Das Liebesgebot wird in V. 11 nicht als Gebot (so V. 23) eingeführt, sondern Erklärung als frohe Botschaft. Ihm kommt ein ähnlicher Rang zu wie dem Themasatz 11 »Gott ist Licht« in 1,5. Ohne diesen zweiten Teil wäre die Botschaft von Gott nicht vollständig. Gleichzeitig erscheint es sachgerecht, daß der zweite Teil an zweiter Stelle steht, denn das Liebesgebot folgt aus dem christologisch vermittelten Gottesbild und findet in ihm seine theologische Begründung. Mit der Wir-Form in 1,5 hatte sich der Briefautor noch einmal in die Schar jener ersten Zeugen aus dem Briefprolog eingereiht, die sich ihrem Selbstverständnis nach über den Lieblingsjünger auf den irdischen Jesus zurückführen. Sie müßten konsequenterweise auch vom Liebesgebot sagen: Wir haben es gehört von ihm, dem irdischen Jesus selbst. In 3,11 spricht der Autor aber von der Vermittlung des Liebesgebotes in der christlichen Unterweisung, die in der Verlängerung des »wir verkündigen euch« aus l,5c steht. Seine Adressaten haben das Liebesgebot in der Taufkatechese gleich zu Beginn ihres Weges als Glaubende vernommen (&n;' UQxii; hier in 11b also eindeutig im »kirchengeschichtlichen« Sinn gebraucht). Verpflichtend ist es selbstverständlich für alle in gleicher Weise. Da kann es keine Aufspaltung in »wir« und »ihr« mehr geben, sondern nur noch: Wir sollen einander lieben. Warum überhaupt an dieser Stelle noch einmal die feierliche Einleitung? Das hat folgenden Grund: Direkt zitiert worden ist das Liebesgebot bisher noch nicht. Um nichts anderes ging es zwar auch in 2,7-10, aber erst jetzt folgt das Gebot in vollem Wortlaut, der sich an denjenigen des Evangeliums anlehnt, denn dort heißt es in den einschlägigen Jesusworten immer: einander lieben (Joh 13,34; 15,12.17). Das dürfte der entscheidende Grund dafür sein, warum der Briefautor hier und in 3,23; 4,7.11.12 »einander lieben« schreibt, während er sonst des öfteren sagen kann: den Bruder lieben (2,10; 3,10.14; 4,20.21), auch dies offenbar ein geprägter Terminus, zwar nicht aus der Jesusüberlieferung, wohl aber aus der Gemeindetradition. Vielleicht rückt »einander lieben« ein ekklesiologisches Anliegen ein wenig stärker in den Vordergrund. Es zieht die horizontalen Linien energischer aus ~nd unterstreicht den Gemeinschaftsgedanken, die Koinonia aus 1,3.7. Das Gegenbild entwirft anhand eines atl. Exempels V. 12. Kain wird uns vor- 12 gestellt als Urbild und Symbolfigur des Bruderhasses, der sich steigert bis zum Brudermord. Kain war aus dem Bösen (3t0Vl1QO; als Person verstanden), sagt 12a. Das bedeutet im Blick auf das Vorstehende: Er war aus dem Teufel (8b), er ist ein Teufelskind (10a). An ihm sieht man, was es eigentlich heißt, daß der Teufel von Anfang an sündigt (8c), d.h. von Anfang an in den Taten des Hasses sein Wirken entfaltet und in entmythisierter Sprache nichts andeVgL Blass-Debrunner-Rehkopf § 216 Anm. 2; Mayser II12, 535f; de Kruijf' 48-51.
487
204
Die Mitte der Botschaft (3,11-12)
res darstellt als die Verdichtung solchen Hasses zu einer transpersonalen Macht. Kain und Die Erzählung von Kain und Abel in Gen 4,1-16 gibt manche Fragen auf488 . Sie weist Abel in Nullstellen in der psychologischen Begründung und einige schon im Wortlaut sehr Gen 4,1-16 schwer zu verstehende Verse auf (s.u. Anm. 492), bei denen die spätere Rezeption und Interpretation einsetzte. In der ursprünglichen Erzähleinheit überrascht vor allem, daß kein Grund genannt wird für die Bevorzugung Abels und die Hintansetzung Kains. Eben dies ist - mit Claus Westermann - als die eigentliche Pointe anzusehen. In den ersten Genesiskapiteln skizziert der Jahwist drei Grundmäglichkeiten menschlicher Gemeinschaft: (1) Mann und Frau, (2) Eltern und Kinder sowie (3) das Nebeneinander von Geschwistern, vertreten durch das Brüderpaar Kain und Abel. Brüder sind »natürliche Rivalen; im Brudersein wurzelt Rivalität, Konkurrenz, Streit, Feindschaft«489. Das Paradigma des ersten Brüderpaares gewinnt so eine archetypische Tiefendimension, handelt es doch in grundsätzlicher Weise »vom Sein der Menschen als Brüder, vom Nebeneinander Gleichberechtigter. Hier treten die schweren, die Gemeinschaft gefährdenden Konflikte auf, wenn der eine mehr hat als der andere, wenn dem einen alles gelingt, dem anderen alles mißlingt. Es tritt Ungleichheit ein, wo Gleichheit sein sollte. Eben dies stellt die Erzählung dar«490. Eine billige Lösung ist nicht zur Hand. »Der Erzähler will gerade sagen, daß in so entstehender Ungleichheit etwas Unerklärbares liegt ... Und dieses, will der Erzähler klarmachen, ist eines der entscheidenden Konfliktmotive, wo immer es Brüder gibt«.491
Kain und Abel in jüdischer Tradition
Wenn man das Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern vor diesem Hintergrund liest, erscheint es auf einmal in ein überraschendes neues Licht getaucht. Es berührt die Fundamente menschlichen Zusammenlebens. Es soll einen grundlegenden Defekt überwinden helfen, der sich, sei es mehr in der Person, sei es mehr in der Gesellschaftsform begründet, im Nebeneinander von Menschen immer wieder zerstörerisch auswirkt und es nicht zu einem echten Miteinander kommen läßt. Wenn man Bruder in diesem allgemeinsten Sinn faßt und an die archetypische Konstellation von Gen 4 zurückbindet, verliert das Gebot der Geschwisterliebe alles Partikularistische und Enge. Doch haben wir damit den Autor des 1Joh sicher etwas überinterpretiert. Er geht nämlich von einer anderen Lesart der Genesiserzählung aus, die sich während ihrer langen Nachgeschichte im Judentum herausgebildet hat. Einsetzend u.a. bei dem schwierigen V. 7492 las man eine andere Grundkonzep-
488 Zum folgenden C. Westermann, Genesis 1, 31983 (BK 111), 381-435. 489 Ebd. 390. 490 Ebd. 404. 491 Ebd. 405. 492 In der Einheitsübersetzung: »Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblikken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!«
Westermann, a.a.O. 410, meint dazu, der Text sei »in seiner jetzigen Gestalt nicht intakt«, der Vers gehöre nicht zum alten Bestand und eine überzeugende Deutung sei bis heute nicht gelungen. Die LXX scheint den Vers auf die richtige Verteilung der Opferanteile hin auszulegen. Kain hat sich, so eine andere Auswertung, in freier Wahl dem lauernden Sündendämon gebeugt, vgl. Bauer".
205
l]oh 3,12: Kain und Abel
tion in die Erzählung hinein. Kain hatte sich schon vor dem Opfer von Gott abgewendet und sich zur Gesetzlosigkeit verführen lassen493 . Auch an seinem Opfer stimmte etwas nicht. Er wollte Gott das ihm Zustehende vorenthalten, er opferte in falscher Gesinnung494. Von Abel berichtet Gen 4 nichts Näheres, vor allem sagt Gen 4 nicht, daß Abel gerecht war. Das aber erschließt die spätere Auslegung aus dem Gegenüber Abels zu dem bösen Kain. Der gerechte Abel, als solcher lebt er in der jüdischen Frömmigkeit weiter, und als solcher hat er auch Eingang gefunden ins NT495. Da 1Joh 3,12 mit der Herkunft Kains aus dem Bösen beginnt, ist man versucht, eine weitere exegetische Tradition heranzuziehen, derzufolge der Satan als Schlange mit Eva im Paradies geschlechtlich verkehrte. Daß Kain dieser Verbindung entstammte, scheint zwar ein naheliegender Schluß zu sein, doch sprechen ihn anders als die Gnosis (dazu s.u.) weder die einschlägigen rabbinischen Zeugnisse496 direkt aus noch Paulus, der in 2Kor 11,3.14 Kenntnis solcher Spekulationen verrät497. Für 1Joh 3,12 bleibt dieses Material irrelevant, weil der Verf. ELvm EX nicht derart physisch versteht, vor der Vorstellung einer Zeugung aus dem Teufel eher zurückschreckt und in 12d eine andere, weniger mythologische Begründung für die Wesensverwandtschaft Kains mit dem Bösen liefert498 . Zur Verarbeitung der Tradition durch den Briefautor im einzelnen: »ab- Kain und schlachten« (mp~ELv) in 12bc wirkt drastischer als der Grundtext in Gen 4, es Abel in hat den »Nebenbegriff einer unmenschlichen, naturwidrigen ... Grausam- 1Joh 3,12 keit«499. Es fällt auf, daß in 12c eigens die Frage nach dem Grund gestellt wird. Das hat hauptsächlich den Zweck, das Nachschieben der Antwort in 12de zu ermöglichen und ihr Gewicht zu unterstreichen. Aus dem Bösen sein ist zwar eine Wesensbestimmung, aber nicht im Sinne einer unveränderlichen Festlegung. Kains Werke waren böse, und dies schon, das ist der damit verbundene Gedanke, vor dem Brudermord. Sein und Tun greifen ineinander. Durch sein Handeln hat sich Kain hineinbegeben in ein Zeitkontinuum, in dem das Böse zur alles beherrschenden Macht wird. Das Weitere ergibt sich daraus nicht Josephus, Ant 1,53; Philo, Post 9f; Apk Abr 24,5. Allgemein noch TestBenj 7,5 mit dem Aufruf zur Liebe anstelle des Bruderhasses in 8,1. 494 Philo, Sacr 52: Kain opfert nicht sofort, sondern erst »nach einiger Zeit« (Gen 4,3), und er opfert nur »Früchte des Feldes« (ebd.), nicht Erstlingsfrüchte. Etwas weiter ab liegt Det 47f: Kain tötet im Grunde sich selbst, weil er aus seiner Seele die Tugend, verkörpert durch Abel, tilgt. Zwar ist die Tugend nicht umzubringen; Abellebt weiter bei Gott und erhebt seine mahnende Stimme (Gen 4,10). Aber auch von Kain weiß die Genesis kein sterbliches Ende zu berichten, weil »die Unvernunft ein unsterbliches Übel ist« (178).
493
Neben 1Joh 3,12e noch Mt 23,35; Hebr 11,4; vgl. Lk 11,51; Hebr 12,24. 496 bSchab 146a; bJeb 103b; bAZ 22b. 497 Am deutlichsten auf christlicher Seite Protev 13,1. 498 Aufschlußreich ist dennoch, wie solche Überlegungen teils im Ansatz abgeblockt wurden, z.B. 1851 bei Mayer 134f: »Die Rabbinen haben von einer physischen Teufelszeugung Kains gefabelt. Es ist eine undankbare Mühe, die Literatur der vom Geiste Gottes verlassenen Synagoge zur Erklärung der göttlichen Urkunde herbei zu ziehen.« 499 Rothe 110. Das Wort im NT nur noch 8mal in der Offb. 495
206
Die Mitte der Botschaft (3,11-12)
zwingend, aber doch konsequent. Weil Kain Böses tat und böse war, konnte er den Anblick des Gerechten nicht ertragen. Er empfand ihn als eine ständige Mahnung und Anklage, die er aus dem Weg schaffen mußte (vgl. Weish 2,1220). Mit anderen Worten hat das Evangelium diesen Sachverhalt so ausgedrückt: »Denn jeder, der das Böse tut, haßt das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden« (Joh 3,20; vgl. 7,7). Auch im Falle Jesu steigert sich dieser Haß bis zu seiner Tötung. Wirkungs- Der Umgang mit der Gestalt Kains in der Gnosis könnte zum Teil wenigstens in Zugeschichte stimmung oder Widerspruch von johanneischen Texten mitbestimmt sein, er bewegt sich in jedem Fall in vergleichbaren traditionsgeschichtlichen Bahnen. In großer terminologischer Nähe zu Joh steht EvPhil42: »Zuerst entstand der Ehebruch, danach der Mord. Und er (Kain) wurde aus dem Ehebruch gezeugt; denn er war der Sohn der Schlange. Deshalb wurde er Menschentöter wie auch sein Vater und er tötete seinen Bruder ... « Das klingt fast nach einer Kombination von Joh 8,44 mit 1Joh 3,12, angereichert um den Mythos vom ehebrecherischen Verhältnis Evas mit der Schlange. Im Apokryphon des Johannes sind Kain und Abel Söhne von Jaldabaoth, dem Demiurgen, und der Schlange50o . Andere gnostische Texte notieren keine Besonderheiten hinsichtlich der Herkunft Kains 501 und lassen ihn lediglich vom Demiurgen zu seiner Tat verführt werden 502. Die Wertung Kains fällt dabei negativ aus, wie im Evphil und wie dort, wo Kain als Modell der Choiker und Hyliker dient 503 . Das war aber nicht das letzte Wort der Gnostiker zu Kain. Irenäus weiß von einer Gruppe, die Kain als ihren Heros verehrte, daneben auch Esau, die Rotte Korach, die Sodomiter und Judas 504 • Die gnostische Sekte der Kainiten wird auch sonst verschiedentlich erwähnt505 . Die in dieser Selbstbezeichnung implizierte Umwertung aller Werte ist Ergebnis einer »Protestexegese«, die zur großkirchlichen Orthodoxie eine subversive Gegenwelt entwirft506 . Aus chronologischen Gründen hat die Annahme, der Autor des 1Joh polemisiere in 3,12 verdeckt gegen die gnostischen Kainiten oder ihre Vorläufer, aber wenig Sinnso7. Er stellt wohl im Kontext seines Schreibens - wie Jud 11, wo in einem Weheruf über die Irrlehrer gesagt wird: »Den Weg des Kain haben sie beschritten« - die Figur des Kain in den Dienst seiner Ketzerpolemik.
500 AJ BG 8502/2 62,8-63,2; ähnlich Epiphanius, Haer 40,5.1. 501 VgI. HA NHC II/4 91,11-30. 502 VgI. ExpVal NHC XI/2 38,24-27 (mit ÖuißOAoC; in Z. 13.33); Irenäus, Haer I 30,9; ActThom 32. 503 Clemens Alex., Exc Theod 54,lf; Irenäus, Haer I 7,5. 504 Haer I 31,lf. VgI. Hippolyt, Ref V 16,9. 505 Ps.-Tertullian, Adv Haer 2,5: Et ipsi enim magnificant Cain; Epiphanius, Haer XXXIX 2,1; Origenes, Cels 3,13. Nach Pearson* verdankt sie sich allerdings der Einbildungskraft der Väter.
Dazu Jonas, Gnosis (s.o. S. 40 Anm. 110) 220: Es ist »die pneumatische Bewertung Kains, die wie ein Blitz in jeden unbefangenen Kenner der biblischen Erzählung fahren muß«. Ein weniger problemgeladenes Beispiel für ein Stück Wirkungs geschichte bei Lucifer von Cagliari (4. Jh.), De Athanasio 2,15 (103,60-62 CChr.SL 8): »Denn wo der glorreiche Apostel den Vergleich mit Kain und Abel einführt, da scheinst du (Kaiser Konstantius) mir Kain zu sein, Athanasius aber AbeI.« 507 Zusammenhänge vermutet Plummer 82. Zum folgenden Grayston 111. 506
1Joh 3,11-12: Zusammenfassung; 3,13-17: Übersetzung
207
Vermutlich waren Attacken solchen Zuschnitts für die Angegriffenen auf Dauer Anlaß, sich provokativ mit ihrem Negativsymbol zu identifizieren. Das biblische Exempel in V. 12 ist zwar im 1Joh die einzige ausdrückliche Be- Zusammenzugnahme auf das AT, gewinnt dafür aber einen erheblichen strukturellen fassung Stellenwert. Innerhalb der kleinen Einheit 3,11-12 bildet V. 12 die düstere Kontrastfolie, von der sich die erste ausdrückliche Zitation des Liebesgebotes in V. 11 um so strahlender abhebt. Im größeren Argumentationsgefälle zielten V. 8 und V. 10 schon auf V. 12 ab: Kain liefert Anschauungsmaterial dafür, was Teufelskindschaft heißt. Der Einzugsbereich von V. 12 wiederum erstreckt sich wenigstens bis V. 15508 , wo der eigentümliche Ausdruck »Menschenmörder« aus Joh 8,44 an Kain erinnert und den gesamten Text als aktualisierende Adaption von Joh 8,44 ausweist509• Die Konfrontierung mit dem Grundtext in Gen 4 läßt es hermeneutisch statthaft erscheinen, über die unmittelbare Intention des Autors hinaus die archetypische Dimension dieses zeitlosen Konflikts herauszuarbeiten: Auch wo Menschen sich als Geschwister verstehen, brechen mörderische Konflikte auf, die nur in der Kraft der christologisch und theologisch fundierten Geschwisterliebe überwunden werden können.
b Einsatz des Lebens (3,13-17) Literatur: Ghiberti, G., »Chi non ama rimane nella morte« (1 Gv 3,14b), in: Morte e risurrezione in prospettiva deI Regno (Atti della XVII Sessione ... organizzata dal Segretariato Attivita Ecumeniche ...), Turin 1981, 183-198; Ggara, F., »Scimus quoniam translati sumus demorte ad vitam!« ..., VD 18 (1938) 161-167; Sisti,A.,Lacarita dei figli di Dio (1 Giov. 3,10-18), BeG 9 (1967) 77-87; Thyen, H., »... denn wir lieben die Briider« (1 Joh 3,14), in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen 1976, 527-542 (thematisch übergreifend).
Wundert510 euch nicht, Brüder, wenn euch die Welt haßt. Wir wissen, daß wir hinübergegangen sind aus dem Tod in das Leben, weil wir die Brüder5 11 lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tode.
13a b 14a
b c
d e
508 Zu weitreichend aber Lohmeyer, Aufbau 242f, 'der von 2,28 bis 3,24 durchgehend Anspielungen auf Kain und Abel entdeckt. 509 Für Dahl" 77-79 handelt auch Joh 8,44 im korrigierten ursprünglichen Text von
Kain. 510
Recht gut bezeugt ist auch die LA mit
einleitendem XUt, die den Anschluß an das Vorige verstärkt. Der Mehrheitstext erweitert die folgende Anrede zu »meine Brüder« (vgl. Jak 2,1). 511 K lJI u.a.lesen »unsere Brüder«. In 14d ergänzt der Mehrheitstext: »Wer den Bruder (andere Hss.: seinen Bruder) nicht liebt«.
208
15a b c d e 16a b c d 17a b c d
Einsatz des Lebens (3,13-17)
Jeder, der seinen Broder haßt, ist ein Menschenmörder, und ihr wißt: Kein Menschenmörder hat ewiges Leben, {das) in ihm bleibt512 • Daran haben wir die Liebe erkannt, daß jener für uns sein Leben eingesetzt hat. Auch wir sind verpflichtet, für die Brüder das Leben einzusetzen. Wer nun aber den weltlichen Lebensunterhalt hat und seinen Broder Not leiden sieht und sein Inneres vor ihm verschließt.wie bleibt513 in ihm die Liebe Gottes?
Analyse In V. 13 und nur dort wählt der Autor anstelle von »Kindlein« oder »Geliebte« die in der ntl. Briefliteratur ansonsten gebräuchliche Anrede »Brüder«. Sie paßt ohne Frage vorzüglich in den Kontext514, auf mehrfache Weise. In 12be wurde Abel nicht mit Namen, aber als »sein Bruder« vorgestellt. »Bruder« bzw. »Brüder« ist Leitwort der folgenden Verse (14c, 15a, 16d, 17b). In Ba macht der Autor auf der kommunikativen Ebene seinen Adressaten klar, daß sie selbst betroffen sind. Vor allem in 14c wirkt »die Brüder« ohne weiteren Zusatz wie eine technische Bezeichnung der johanneischen Christen (vgl. »die Freunde« in 3Joh 15). Um die Gestalt des Bruders herum ordnen sich Gegensatzpaare an: Gemeinde (die angeredeten »Brüder«) und Welt in 13ab, auf der Handlungsebene »lieben« (14c) und »nicht lieben« (14d) bzw. hassen (15a), der Menschenmörder in 15bd und der Einsatz des eigenen Lebens in 16bd. Die beiden Reihen lassen sich reduzieren auf die Basisopposition Tod vs. Leben, die in 14b direkt ausgesprochen ist (vgl.14e, 15d). Der Lebensbegriff erscheint ausdifferenziert in ewiges Leben (~o)"f)), irdisches Leben ('IjroXTJ 16bd) und Lebensunterhalt (ßf.o~ 17a). Die Linien werden so ineinander verschlungen, daß der Verzicht auf ßf.o~ und 'IjroXTJ um der ~(J)TJ willen gefordert sein kann und ein Unterlassen solcher Lebenshingabe den Tod bedeutet. Erklärung Die Erzählung von Kain und Abel war in V. 12 so transparent gestaltet wor13 den, daß sie von selbst den Durchblick frei gibt auf das Verhältnis von Welt und Gemeinde. In der Nachfolge Abels, des Gerechten, stehen die Glaubenden, die sich um Gerechtigkeit bemühen. Damit provozieren sie die Welt zu haßerfüllten Reaktionen. Der Kosmos - hier in der negativen Sicht von 2,1517 - findet sein adäquates Vorbild in Kain, dem Brudermörder. Eingeholt wird mit dieser Konstellation, was Jesus in den Abschiedsreden seinen Jün-
512
Wohlenberg, Glossen 747f, willlJfvou-
oav zu 16a ziehen (wohl: »Als in diesem, d.h.
Christus, bleibend haben wir die Liebe daran erkannt«), dazu Brooke 94: »ingenious rather than convincing«.
513 Für das Futur flEVEL optiert J.B. Bauer, II&c; in der griechischen Bibel, NT 2 (1957) 81-91, hier 85f. 514 Vgl. Erdmann, Argumentum 119: allocu-
tio ... unica reique, de qua loquituT, aptissima.
1Joh 3,13-14: Erklärung
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gern angekündigt hat: »Wenn die Welt euch haßt, so erkennt, daß sie mich vor euch gehaßt hat. Wenn ihr aus der welt wäret, würde die Welt das ihrige lieben. Weil ihr aber nicht aus der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, deshalb haßt euch die Welt« (Joh 15,18-19). Die drastische Sprache: »abschlachten« in V. 12, »hassen« in V. 13 und »Menschenmörder« in V. 15 zwingt zu der Überlegung, welche konkreten Erfahrungen der Gemeinde darin eingekleidet sind. Denkt der Briefautor an blutige Christenverfolgungen, etwa an die in den letzten Regierungsjahren Domitians 515 ? Oder ist die Sprache trotz ihrer Härte symbolisch zu verstehen 516 , so daß der Haß der Welt sich momentan in erster Linie im Verhalten der Dissidenten, die der Briefautor in 4,5 dem Kosmos zuordnet, realisiert? Aber letzteres scheint doch den Informationsgehalt dieser teils sehr detaillierten Aussagen (vgl. auch Joh 16,2) über Gebühr zu spiritualisieren. Auch wenn eine genaue zeitgeschichtliche Verortung schwerfällt, muß man damit rechnen, daß sich die Gemeinde phasenweise massiven Repressalien ausgesetzt sah, die unter bestimmten lokalen Bedingungen (vgl. Offb 2,13) lebensbedrohende tormen annehmen konnten. Das Glaubenswissen, das der Verf. nach 14a mit den Adressaten teilt und auf 14ab das sie sich angesichts des bedrückenden Hasses seitens der Außenwelt zurückziehen, beruht auf der existentiellen Aneignung des Jesuswortes aus Joh 5,24: »Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben, und in ein Gericht kommt er nicht, sondern er ist hinübergegangen (IlflUßtß'I1'KEV) aus dem Tod in das Leben.« Das Verb IlflUßUlVW bedeutete eigentlich: von einem Ort an einen anderen gehen (Mt 12,9), übersiedeln. Wer sich zur Gemeinde der »Brüder« (14c) rechnen darf, hat eine Ortsverände- 14c rung hinter sich gebracht, aus dem Raum des Todes in den Raum des Lebens, Tod dabei verstanden als Verfallensein an die unheilvolle Sphäre der Welt, Leben als unverlierbares Heilsgut. Partiell vergleichbar ist mit dieser Metaphorisierung von Tod und Leben Philo, Fug Tod und 55: »Einige Lebende sind schon gestorben und Gestorbene leben. Denn die Schlechten Leben sind, auch wenn sie bis ins höchste Greisenalter leben, Tote, weil sie des Tugendlebens beraubt sind. Die Guten hingegen leben auch nach vollzogener Trennung von der Gemeinschaft mit dem Körper für immer, des Loses der Unsterblichkeit teilhaftig«; vgl. ebd. 58: Tugend ist Leben, Schlechtigkeit ist Tod; mit räumlichen Vorstellungen verbunden 78: »Ist nicht die Flucht zum Seienden ewiges Leben, das Weglaufen von ihm fort der Tod?« Der Unterschied besteht in der dualistisch gefärbten Anthropologie und in der moralisierenden Ausrichtung.
Vgl. Büchsel 55; Schnackenburg 196; doch läßt sich entgegen dem allgemeinen Eindruck eine organisierte Christenverfolgung unter Domitian, auch wenn man sie auf 515
Kleinasien beschränkt, historisch im Grunde kaum belegen. 516 Vgl. Segovia, Love Relationships 53.
210
,
Einsatz des Lebens (3,13-17)
In Joh 5,24 war der Glaube die entscheidende Wendemarke, die im Rahmen der präsentischen Eschatologie des Evangeliums innerweltlich und innerzeitlich den Übergang in eine unzerstörbare neue Lebensfülle ermöglicht. Im 1Joh ist es die Liebe zu den Brüdern und Schwestern. Man kann der EvangeliensteIle den Sinn unterlegen, die Glaubensentscheidung sei so einmalig, daß sie, einmal getroffen, für immer im Heil und im Leben hält, nicht mehr revidierbar und verlierbar ist. Demgegenüber sagt der Briefautor, daß der Glaube den Lebensvollzug tragen muß, über eine längere Zeit- und Wegstrecke hinweg. Der Name für Glauben, realisiert im täglichen Lebensvollzug auf Dauer hin, lautet Liebe. Der Wechsel vom Tod zum Leben steht im Perfekt, das Lieben der Brüder im 14de Präsens. Ebenfalls im Präsens gehalten ist das Gegenbild in 14de, das Bleiben im Tod als Pendant zum Fehlen der Liebe. In der Kommentarliteratur entbrennt an der Stelle der Streit darüber, ob die Liebe Realgrund oder Erkenntnisgrund für den Lebensgewinn sei, ob sich anders gesagt 14c auf 14b bezieht (unsere Praxis der Liebe als Bedingung des Übergangs ins Leben) oder auf14a (aufgrund unserer Bruderliebe wissen wir um unseren neuen Status, der uns unabhängig davon geschenkt wurde). Ganz abgesehen von der Frage, wieweit die Kategorien Real- und Erkenntnisgrund überhaupt tragen, hängt die Antwort von der Verhältnisbestimmung von Glaube und Liebe ab, eine Aufgabe, vor die uns die folgenden Perikopen immer entschiedener stellen. Wer gerade um der Liebe willen an der Eigenständigkeit und an der Vorordnung des Glaubens festhält, kann die Praxis der geschwisterlichen Liebe nicht einfach als notwendige und hinreichende Vorbedingung für das Hinübergehen ins Leben ansehen, wohl aber als einen Vorschein dieses neuen Lebens, der in die Gemeindewirklichkeit hineinstrahlt. Dem Wechsel vom Tod ins Leben entspricht notwendig die Einweisung in eine neue Praxis des Miteinander, die von der gegenseitigen Liebe geprägt ist. Liebe ereignet sich in der Beziehung. Leben heißt in Beziehung stehen, und Beziehungslosigkeit ist gleichbedeutend mit dem Tod. 15ab In der Tiefenstruktur des Textes (s. die Analyse) ist Nichtlieben identisch mit Hassen und mit Töten. Daß Haßgefühle oft heimliche Mordgelüste nach sich ziehen und manchmal auch die mörderische Tat (vgl. Dtn 19,11), ist eine psychologische Binsenweisheit, die auch der Antike nicht verborgen blieb. Test Gad 4,6 verdichtet sie zu dem theologischen Satz: »Wie die Liebe auch die Toten lebendig machen will und die dem Tode Verfallenen zurückrufen will, so will der Haß die Liebenden töten und die, die in einer Kleinigkeit sündigten, nicht leben lassen.« Auch die erste Antithese der Bergpredigt baut darauf auf: Schon das Zürnen gegenüber dem Bruder fällt unter das Tötungsverbot des 15bd Dekalogs (Mt 5,21-22)517. »Menschenmörder«518 in 15bd ist aus Joh 8,44 ent517 Vgl. Smith 186 zu V. 15: "An echo of the teaching of Jesus.« 518 Klassisch Euripides, Iph Tain- 389; sonst
sehr selten, vgl. Liddell-Scott 141; häufiger bei den Vätern, aber im Anschluß an Joh, s. PGL 140.
1Joh 3,15-16: Erklärung
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nommen, wo es Attribut des Teufels war. Illustriert hat das zuvor schon V. 12 am Beispiel Kains. Für das Wissen der Adressaten, das 15c anspricht, braucht 15c' man nicht auf Rechtsgrundsätze, die wie Gen 9,6 für Mord die Todesstrafe aussetzen, zu rekurrieren. Was in 15de dazu gesagt wird, stützt sich nämlich 15de wieder auf Glaubenstraditionen, die im Johannesevangelium niedergelegt sind. Ein wenig irritieren mag 15de in einem verbreiteten übersetzungstyp: »Daß kein Menschenmörder ewiges Leben als bleibendes in sich hat«519 (zur Konstruktion vgl. Joh 5,38). Hatte er es wenigstens vorläufig und zeitweilig, um es dann wieder zu verlieren? Das wäre johanneisch gesprochen ein Widerspruch in sich. Es soll nur ein doppelter Kontrast zum Glaubenden und Liebenden hergestellt werden. Er hat, wie Joh 5,24 festhält, ewiges Leben, und dieses Leben bleibt in ihm bzw. er bleibt im Leben. Der Hassende hat kein ewiges Leben, er hat keine »Bleibe« und hat auch nichts, was bleibt, es sei denn, wenn wir auf 14e blicken, die schreckliche Verfallenheit an den Tod. »Haß tötet, Liebe läßt sich für uns töten«520, damit ist der Zusammenhang 16a von V. 15 und V. 16 präzise benannt. Mit Bedacht formuliert der Verf. in der Vergangenheitsform: »wir haben erkannt«, und er gebraucht »Liebe« absolut, ohne Attribute und Zusätze. Er faßt die Liebe in ihrem Wesen in den Blick521, und das kann nur gelingen, wenn man sich dafür an der liebenden Lebenshingabe Jesu orientiert, daran die Wesensmerkmale gewinnt und so den Grund für die christliche Liebespraxis legt. Jesus (ExELVO; in 16b) gab sein Leben »für 16b uns«. In traditionsgeschichtlicher Sicht lehnt sich dieser Satz an das urchristliche Formelgut an, wo das soteriologische U:rtEQ breit belegt ist. Es geht unter systematischem Aspekt um die Proexistenz Jesu, um das Sein für andere, das ihn in seinem Wesen prägt und ausmacht. Eine besondere Nähe besteht zu den Dahingabeformeln der Briefliteratur522, mit einem Unterschied. 16b verwendet nicht (:rt(lQo)öLÖ6vaL, »dahingeben«, sondern tLofrEvaL, wörtlich »ablegen« (so Joh 13,4 vom Obergewand Jesu) oder »einsetzen«, »aufs Spiel setzen«. Das ist dem Briefautor vorgegeben durch das Evangelium, das in den parallelen Ausführungen immer 'tLofrEVaL gebraucht523 . An all diesen Stellen lautet auch wie in V. 16 der griech. Begriff, den wir mit »Leben« übersetzen, nicht ~wiJ, sondern 'ljrUXTJ (vgl. Mk 10,45). Die johanneische Sprache zeigt damit an, daß unmittelbar zunächst physisches Leben tangiert ist, noch nicht Leben als Heilsgut, obwohl physisches Leben als Gesamtbestimmung nicht ausreicht. Vom atl. Sprachgebrauch her (vgl. Gen 2,7 LXX) meint '\jJUXTJ die Lebendigkeit, die Lebenskraft, die Lebensenergie. Die Lebenshingabe Jesu ist Vorbild und Maßstab für die Liebe zu den Brüdern 16cd und Schwestern, diese Schlußfolgerung zieht 16cd mit Hilfe des christolo519 So z.B. Schneider 157. Zu Problemen mit der Auswertung ebd. 158. 520 Windisch 125. 521 Bengel 1013: amoTis naturam. 522 Röm 4,25; 8,32; Gall,4; 2,20.
523 Joh 10,11.15.17.18; 13,37.38; 15,13; vgl. C. Maurer, ThWNT VIII 155f, zur überlagerung des griechisch empfundenen »sein leben riskieren« durch die Dahingabeterminologie.
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Einsatz des Lebens (3,13-17) \
gisch bestimmten oqJEIAoIJEV (vgl. Joh 13,14; s.o. zu 1Joh 2,6). Lebenshingabe wäre auch für die christliche Liebe höchstes Ziel. Sie kann, wo es die Situation erzwingt, buchstäblich das Leben kosten524. Diese Bereitschaft ist in dem Satz »wir lieben die Brüder«, soll er nicht irrelevant oder gar verlogen werden, bereits mitgesetzt. Aber wir haben soeben zu 'lJJuxiJ gesagt, es bedeute auch die Lebensenergie. Auch der energische Einsatz und die restlose Mobilisierung aller physischen und psychischen Kräfte im Dienst des Liebesgebots löst schon den Auftrag des Herrn Goh 13,14) ein, an seiner Lebenshingabe die eigene Glaubensexistenz auszurichten. 17ab Es ist deshalb nicht unbedingt die »billigere« Lösung525, sondern lediglich eine situationsangepaßtere, im Einzelfall die eigenen Ressourcen restlos auszuschöpfen, um notleidenden Brüdern und Schwestern zu helfen. v. 17 beleuchtet einen solchen konkreten Einzelfall von der negativen Seite her. Das Leben in der Welt erfordert Mittel zum Leben und Überleben, zum Lebensunterhalt: Geld, Besitz, Nahrung, Kleidung (im Text durch ßLo~ eingefangen). Daß einige offenkundig über solche Mittel verfügten, wissen wir seit 2,16, wo der Verf. mit l] ~OVELa to'Ü ßLoU das Zur-Schau-Stellen der eigenen Mittel als weltkonformes Verhalten anprangerte. Es wird nun der Fall gesetzt, daß einer von den Bessergestellten eine akute Notlage zwar sehr bewußt registriert (ttEOOQELV 17b), aber ungerührt und mitleidlos darüber hinweggeht (die 17c cmMJ.rxva, die er nach 17c verschließt, sind wörtlich genommen die Eingeweide oder Innereien, die in der Antike als Sitz von Emotionen und Affekten angesehen werden, hier namentlich als Ursprungsort des Mitleids526). Ihn trifft die geballte Kritik der rhetorischen Schlußfrage, auf die es nur die Antwort »auf keinen Fall« geben kann. Grundsätzlich ist die Mahnung zur Solidarität und zur Hinwendung zu den Armen fest in der biblischen Tradition verankert, vgl. nur Dtn 15,7-11: »Du sollst nicht hartherzig sein und deine Hand vor deinem armen Bruder nicht verschließen, sondern willig sollst du deine Hand für ihn auftun und ihm gerne leihen, soviel er nur bedarf ...«, oder für das Urchristentum Jak 2,15f: »Wenn ein Bruder oder eine Schwester unbekleidet sind und an der täglichen Nahrung Mangel leiden und jemand von euch sagt zu ihnen: Geht hin in Frieden; kleidet euch warm und eßt euch satt - ihr gebt ihnen aber nicht das Notwendige für den Leib, wozu soll das gut sein?« Der Vorwurf mangelnden Einsatzes für die Bedürftigen wird auf dieser Folie zu einem probaten Mittel für die Diskreditierung von Gegnern, vgl. Ignatius über die Vertreter abwei-
524 Zumindest formal vergleichbar ist Seneca, Ep 9,10: »Warum .erwerbe ich einen Freund? Damit ich jemand habe, für den ich sterben kann.« 525 Dodd 86 registriert einen Abstieg von der »sublimity« (V. 16) zur »banality« (V. 17). Überzogen Houlden 100: »from the martyr to the monk«. 526 Wir haben noch eine ähnliche Sprachfi-
gur, wenn wir davon reden, daß uns das Elend anderer Menschen förmlich »an die Nieren« geht. Von den jüdischen Schriften sind die TestXII besonders ergiebig, vgl. H. Köster, ThWNT VII 55lf, und als Beispiel TestSeb 7,1 - 8,3 (allerdings nur in einer Handschriftengruppe und möglicherweise christlichen Ursprungs). .
l]oh 3,17cd: Erklärung; 3,13-17: Wirkungsgeschichte
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chender Lehrmeinungen (EtEQoöo1;oirvta~): »Sie kümmern sich nicht um die Liebespflicht, nicht um eine Witwe, nicht um ein Waisenkind ... nicht um einen Hungernden oder Dürstenden« (Sm 6,2).
In dieser Richtung können wir für 1Joh, wenn wir 2,16 und 3,17 zusammennehmen, noch einen Rückschluß auf ein konkretes Konfliktfeld wagen527. Möglicherweise haben wir einflußreiche und begüterte Leute vor allem unter den Gegnern zu suchen. Sie waren vorher in materieller Hinsicht für die Gemeinde sehr wichtig. Sie haben die Versammlungsräume bereitgestellt, für Verpflegung gesorgt, auch sonst in mancherlei Hinsicht helfen können. Das ist mit dem Schisma auf einen Schlag vorbei. Die Restgemeinde um den Briefautor sieht sich mit ungeahnten Problemen konfrontiert. Sie fühlt sich allein gelassen und verraten. Das Schisma hatte nicht nur eine theologische Dimension, es hatte auch gravierende soziale Folgen, was zum scharfen Tonfall der Polemik nicht wenig beigetragen hat. Zu »die Liebe Gottes« in der Schlußfrage 17d wollen wir nicht erneut all jene 17d Stimmen Revue passieren lassen, die entweder für »unsere Liebe zu Gott« oder für »Gottes Liebe zu uns«, gelegentlich auch für Zwischenlösungen optieren (s. zu 2,5.15). '»Liebe zu Gott« kann schwerlich gemeint sein, der Wortlaut selbst und der ganze Gedankengang sprechen dagegen. Wer sich der Liebe zu den Schwestern und Brüdern in der beschriebenen Form verweigert, fällt aus dem Strom der Liebe heraus, der von Gott ausgeht und in Jesus Christus die Menschen erreicht. Er blockiert für sich und andere die Wirksamkeit der Liebe Gottes, von deren Wirklichkeit 16ab handelte. Die Perikope hat ihre Wirkung in zwei naheliegenden Bereichen entfaltet. V. 16 dient Wirkungsder Mahnung zur Martyriumsbereitschaft und V. 17 der Aufforderung zum Almo- geschichte sengeben. 1 Tertullian beweist u.a. aus V. 16, daß ein Christ dazu verpflichtet ist, das Martyrium auf sich zu nehmen528• Am deutlichsten und kompromißlosesten tut er es in der Abhandlung De Fuga, wohl aus seiner montanistischen Zeit, wo er auch die Flucht vor der Verfolgung als unerlaubt hinstellt und damit diesen und andere Schrifttexte überfordert529• In Nordafrika scheint die ganze Perikope zeitweilig in der Liturgie der Märtyrerfeste gelesen worden zu sein. Augustinus zitiert V. 16 des öfteren in Predigten, die er zu diesem Anlaß konzipiert hat530• 2 Im Kommentar zu 1Joh findet Augustinus a~s Anlaß von V. 17 bewegende Worte: »Dein Bruder hungert, er ist in Not. Vielleicht ",artet er angstvoll gespannt, von einem Gläubiger in die Enge getrieben. Er hat nichts, du hast Besitz: Er ist doch dein Bruder ... Hab doch Erbarmen, wenn du die Güter der Welt besitzt. Vielleicht sagst Vgl. Brown 475. Scorp 12,4. 529 Fug 9,3; 12,7. 530 Einzelbelege bei Dideberg, Augustin 9197. Außerdem noch Origenes, Exhortatio ad martyrium 41 (38,21-28 GCS 2), und die Ak527 528
ten der Lugdunensischen Märtyrer bei Eusebius, Hist Ecd V 1,10: 'tilv Eumoü iteivm 'ljnJXf)v. Vgl. noch die Anekdote bei Clemens Alex., Quis Div Salv 42,13, wo der greise Apostel Johannes schließlich zu dem Räuber sagt: »Für dich will ich mein Leben geben.«
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Das Urteil des Herzens (3,18-22)
du: Was geht mich das an? Ich soll mein Geld geben, damit der da keine Unannehmlichkeiten erleidet? Wenn es das ist, was dein Herz dir sagt, bleibt die Liebe des Vaters nicht in dir.«531 Noch Thomas von Aquin beantwortet die Frage: »Ist Almosen geben ein Akt der Gottesliebe?« bejahend mit Rekurs auf lJoh 3,17532.
Mit kräftigen Strichen hat der Verf. eine scharfe Trennungslinie gezogen. Auf der einen Seite die Liebe, absolut gesehen (16a), die Liebe Gottes (17d) mit ihrem geschichtlichen Kristallisationspunkt in der Lebenshingabe Jesu (16b), und als Antwort unsere Liebe zu den Brüdern und Schwestern (14c.16d). Auf der anderen Seite der Haß (13b.15a) und die verweigerte Hilfe (17). Diesseits der Linie das Leben, jenseits der Tod. Wer die Linie in der falschen Richtung überschreitet, für den wird sie zur Todeslinie (14e.15d). Die Glaubenden fiden Sicherheit in ihrem Wissen darum, daß sie den umgekehrten Schritt ins Leben schon getan haben (15d). Vergleichsweise bescheiden wirkt die einzige echte Konkretisierung des Liebesgebotes, die in V. 17 dazu noch an einem negativen Beispiel durchgeführt wird. Brisanz gewinnt sie aber von der Dynamik des sozialen Konfliktes her, den das Schisma in der Gemeinde freigesetzt hat.
Das Urteil des Herzens (3,18-22)
c
Literatur: Court, I.M., Blessed Assurance?, JThS 33 (1982) 508-517; Mian, F., Due note alla prima Epistola di Giovanni, BeO 30 (1988) 35-37; Pratscher, w., Gott ist grösser als unser Herz. Zur Interpretation von 1. Joh. 3,19f., ThZ 32 (1976) 272-281; Rebstock, B., »Gott ist größer als unser Herz« (1 Jo 3,20), BenM 18 (1936) 321-333; Richardson, CC, The Exegesis of 1 John 3.19-20 - An Ecumenical Misunderstanding?, in: Disciplina nostra (FS R.F. Evans), Philadelphia 1979 (Patristic Monograph Series 6), 3152.190-198; Skrinjar, A., »Maior est Deus corde nostro« (1 loh 3,20), VD 20 (1940) 340-350; Spicq, C, La Justification du Charitable (1 Jo 3,19-21), Bib. 40 (1959) 915927; Uttendoerfer, F., Ein Kennzeichen dafür, daß wir aus der Wahrheit sind. Versuch einer Auslegung des Abschnittes 1. Joh. 3,18-24, NKZ 11 (1900) 985-1002; Visschers, L., een nieuwe weg voor de mens! uit de eerste brief van Johannes, Schrift (Nijmegen) 57 (1978) 100-106; Wendt, H.H., Zum ersten Johannesbrief, ZNW 22 (1923) 57-79, hier 57-66. ISa
b 19a
b c
Kinder, laßt uns nicht mit Wort noch mit der Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit! Daran werden wir erkennen533 , daß wir aus der Wahrheit sind, und vor ihm werden wir unser Herz (damit) beschwichtigen,
531 Augustinus 268. Vgl. Cyprian, De opere et eleemosynis 16 (65,320-324 CChr.SL 3A). 532 S. th. lI-lI q. 32, a. 1. 533 Der Mehrheitstext hat: }) Und (xat) daran
erkennen wir« (Präs., eine Angleichung an den bevorzugten joh. Sprachgebrauch). Das xat (auch in K u.a.) verdeutlicht den Rückbezug von 19a auf V. 18.
215
l]oh 3,18-22: Übersetzung, Analyse
20a
b c
21a b 22a
b c
d
daß, wenn uns das Herz verurteilt534 , daß535 Gott größer ist als unser Herz und alles erkennt. Geliebte, wenn das Herz nicht vemrteilt536 , haben wir Freimut gegenüber Gott, und was immer wir bitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das Wohlgefällige vor ihm tun.
1 Zum Aufbau: Der Aufbau des Textstücks ist von einem antithetischen Parallelismus geprägt. Gegenüber stehen sich die Konditionalsätze in 20a und 21a: das Herz, das verurteilt, und das Herz, das nicht verurteilt. Das sind die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, die erörtert werden. Ferner korrespondieren miteinander »vor ihm werden wir unser Herz beschwichtigen« in 19c und »haben wir Freimut gegenüber Gott« in 21b. Auch V. 18 enthält in sich eine Antithese: Wort und Zunge - Tat und Wahrheit. Der Tataspekt kehrt in dem synonymen Parallelismus von 22cd wieder. V. 18 und V. 19 sind durch den Begriff »Wahrheit« miteinander verzahnt. Auch das spricht dafür, Ev'toirtq>in 19a auf V. 18 zu beziehen. Weder 19c, wo mit xafein neuer Satz beginnt, noch die o'tL-Sätze in V. 20, die durch dieses xaL von 19a getrennt sind, bieten sich von Grammatik und Inhalt her als Erkenntniskriterium an 537. Stilistisch ist ein Wortspiel mit YLVWO'XELV, »erkennen«, in 19a/20c und xa'taYLvwO'XELV, »etwas erkennen wider jemanden«, davon abgeleitet »verurteilen«, »richten«, in 20a/21a zu vermerken. 2 Konjekturen und Quellentheorien: Die unleugbaren Schwierigkeiten bei der übersetzung und Erklärung von V. 19-20 haben zur Annahme einer Textverderbnis geführt, der nur durch Konjekturen beizukommen sei. So ändert man das zweite O'tL in 20b zu E1:L (»noch«)538 oder fügt vor 20b ein oLöallEv (»wir wissen«) ein539. Oder man vermutet in V. 19_20540 ein Quellenstück, das vom Briefautor mit einer dem ursprünglichen Sinn zuwiderlaufenden homiletischen Exegese versehen worden sei 541 . Auf beiden Wegen ist eine überzeugende Lösung nicht gelungen. 3 Zur Syntax von V 20: Von der Grammatik her besteht das Hauptproblern in der Auflösung des doppelten O'tL in 20ab, das mit den anderen Fällen von zweifachem O'tL im 1Joh, wo das erste O'tL mit »daß« zu übersetzen ist und das zweite mit »weil« (evtl. mit Ausnahme von 4,13), nicht auf einer Stufe steht. In 3,14bc und 4,13bc folgen die 534 Wendt* 61 ist einer der wenigen, der übersetzt: »wenn unser Herz verurteilt«, tiJ.UÖV also nicht als Objekt zu XU1:UYLVWO'K!l, sondern als Possessivum zu xUQÖ[u zieht. 535 Der Alexandrinus und wenige andere Zeugen lassen das zweite Ö'n in V. 20 aus ein Versuch, das syntaktische Problem (s. die Analyse) zu lösen. 536 übers. wurde der Kurztext des Vaticanus. In den anderen Hss. kommt es zu Erweiterungen: »wenn unser Herz uns nicht verurteilt« etc. (Metzger, Commentary 713, zählt elf Varianten auf).
537 Einen Vorverweis auf 19c vertritt am entschiedensten Uttendoerfer* 990-994, auf V. 20 Bonsirven 174; dagegen Pratscher* 275f. 538 So nach H. Stephanus u.a. Wolf 165. 539 Bultmann 62. 540 Bzw. in V. 20-21, vgl. Nauck, Tradition 78-83, der hier Schlußstrophen der älteren Antithesenreihe entdeckt. 541 Vgl. Bultmann, Analyse 115f; weitergeführt von H.W. Beyer, ThLZ 54 (1929) 612f, und Preisker 167 (bei Windisch 3).
216
Das Urteil des Herzens (3,18-22)
beiden ö'tL-Sätze unmittelbar aufeinander, ohne dazwischengeschalteten Konditionalsatz, und 3,2e beginnt zwar mit Ö'tL euv, aber in 3,2f wird zunächst dieser erste, durch euv unterbrochene ö'tL-Satz zu Ende geführt, ehe sich in 3,2g der zweite, kausale ö'tL-Satz anschließt. Außerdem ist in diesen Beispielen das doppelte Ö'tL abhängig von »wir wissen« bzw. »wir erkennen«, nicht wie hier von 3tEI.oOJ.LEV, wie immer man das übersetzen will (s. die Erklärung). Es stehen im wesentlichen zwei Lösungsvorschläge zur Auswahl: 3.1 Wir lesen in 20a nicht Ö'tL euv , sondern ö 'tL euv, d.h. nicht die Konjunktion »daß« oder »weil«, sondern das Neutrum des unbestimmten Relativpronomens »was immer«, mit euv in der Bedeutung eines einfachen ä,v, was im Koinegriechisch möglich scheint542. Das wiederum als Akkusativ der Beziehung genommen führt zu der übersetzung: »Wir werden unser Herz beruhigen in bezug auf all das, wessen das Herz uns anklagt, weil Gott größer ist als unser Herz und alles 543 erkennt.« Im Johannesevangelium findet sich verschiedentlich ö 'tL {ly544, in IJoh zwei Verse weiter in 3,22a in ähnlicher Bedeutung allerdings nur ö euv. 3.2 Das zweite Ö'tL nimmt lediglich das erste Ö'tL über den eingeschalteten Konditionalsatz hinweg auf54 5, was etwas leichter möglich ist, wenn man es bei der Wiedergabe mit »daß« beläßt und nicht für ein zweifaches »weil« plädiert. Zwar wäre das zweite Ö'tL im Grunde dann überflüssig, was einige Handschriften auch so empfunden haben (s. Anm. 535). Aber Ö'tL kann aus stilistischen Gründen und um der Betonung willen auch ein zweites Mal gesetzt werden. Daß dies in 3,2ef nicht geschah, ist kein Gegenargument, weil dort (a) der Konditionalsatz noch kürzer ausfällt (er besteht nur aus dem Verb <pavEQorl!ii) und (b) in 3,2g ein kausales Ö'tL folgt; dreimal Ö'tL kurz hintereinander wäre zuviel gewesen. Ungriechisch kann man die Wiederholung des Ö'tL nicht nennen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Xenophon nach einer etwas längeren konditionalen Einschaltung mit einem resumptiven Ö'tL fortfährt: »Seuthes sandte einige der Gefangenen in die Berge und ließ sagen, daß (Ö'tL), wenn sie nicht herabsteigen, ihre Dörfer wieder besiedeln und gehorchen würden, daß (Ö'tL) er ihre Dörfer und das Getreide verbrennen werde und sie vor Hunger zugrundegingen.«546 Beide Erklärungen sind möglich, aber die erste mit ö 'tL Mv als Akkusativ der Beziehung wirkt doch weiter hergeholt und unnötig kompliziert, und sie zerstört die strukturelle Antithetik von 20a und 21a. Mit einem resumptiven Ö'tL an zweiter Stelle kommen wir eigentlich aus. Der grundlegende Dissens im Gesamtverständnis der Stelle wird davon insoweit tangiert, als die erste Lösung nur mit der übersetzung von 3tEI.oOJ.LEV als »beruhigen«, »beschwichtigen« zusammengeht, während bei der zweiten Lösung diesbezüglich noch keine Vorentscheidung gefallen ist.
Erklärung Mit einer direkten Hinwendung zu den Adressaten setzt V. 18 der lieblosen 18 Haltung aus V. 17 einen Appell zur tatkräftigen Liebe entgegen. Das pro542 Vgl. im NT (bei schwankender handschriftlicher Grundlage) Mk 6,23; 1Kor 16,2; Kol 3,17; daneben Apg 3,23; Gal5,10; Ö'tL äv hat Lk 10,35. Zum folgenden u.a. Bruce 97f; Spicq" 916f. 543 Vgl. Westcott 117: ö 'tL M.v »balance the >all things< which follows«. 544 Joh 2,5 (mit v.l. ö 'tL eav); 14,13; 15,16.
So Belser 90f; Balz 186. Xenophon, An VII 4,5; vgl. An V 6,19: Zu einigen Kaufleuten »sagten sie, daß (Ö'tL), wenn sie nicht dem Heere Sold verschafften, um Lebensmittel für die Ausfahrt zu besorgen, daß (Ö'tL) Gefahr bestehe, eine solche Heeresmacht verbleibe im Hellespont«. 545
546
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l]oh 3,18-19c: Erklärung
grammatische Wort und die konkrete Tat dürfen nicht auseinanderfallen, sondern müssen in Einklang miteinander stehen. Das sieht nach einer allgemeinen weisheitlichen Maxime aus, wie sie im Erfahrungsschatz der Völker und in der ethischen Reflexion allenthalben anzutreffen ist547 . Aber dem gefüllten johanneischen Wahrheitsbegriff wird es wohl nicht gerecht, wenn man OA'I1-frELC:;X in 18b nur adverbiell als »wirklich«, »wahrhaftig« im Sinn der reinen Faktizität versteht. Vielleicht läßt sich der Gedankengang besser so wiedergeben548 : Wir wollen nicht ein reines Lippenbekenntnis für unsere Liebe ablegen mit bloßen Worten, sondern wir wollen der Liebe in entsprechenden Taten zu ihrer Wahrheit verhelfen. Wir haben so die Möglichkeit, in der geschenkten Wahrheit unseren eigenen Standort zu beziehen. Wenn das gelingt, gilt für uns: Wir sind »aus der Wahrheit« (vgl. Joh 18,37). Als Erken- 19ab nungszeichen dafür dient das Kriterium der Liebestat. Das Futur »wir werden erkennen« in 19a ist mit der Aufforderung »laßt uns lieben« von 18a zusammenzusehen. Wenn das eine realisiert wird, tritt das andere ein. Damit ist ein Gespür geschaffen für die Notwendigkeit der Praxis der Liebe bis in einfache alltägliche Begegnungen und Vollzüge hinein. Gerade diese Sensibilisierung macht aber um so schmerzlicher das Ungenügen, das Zurückbleiben vor diesem Anspruch bewußt. Führt ein solches Perfektionsstreben nicht zur hoffnungslosen Überforderung des Menschen? Mit dem Gefühl des Überfordertseins stellen sich sehr rasch auch ernsthafte Zweifel ein, ob die ganze Konstruktion überhaupt trägt. Was nützt ein Kriterium, wenn es nicht anwendbar ist? Will der Verfasser so weit gehen, das Kriterium auch umzukehren und bei jedem Versagen dem Betreffenden das Sein aus der Wahrheit rundweg abzusprechen? Auf solche Fragen will v. 19c-21 eine Antwort geben. Ehe wir uns mit den alternativen Deutungen auseinandersetzen, tragen wir 19c noch einige Einzelbeobachtungen zusammen. »Vor ihm«, d.h. vor Gott, gewinnt in eschatologischen Zusammenhängen einen forensischen Unterton. Wir stehen vor seinem Gerichtshof und müssen uns verantworten. Eine eschatologische Klammer ist durch 2,28 - 3,3 gesetzt, unter Einschluß der Gerichtsmetaphorik (in 28d). Aber in 3,19-21 wird der Vorgang des Gerichts vom Zeitpunkt des Endes abgelöst und in die Gegenwart verlagert. Auf die Gegenwart, nicht auf das Eschaton ist auch das Futur :rtEL00I-lEV ausgerichtet. Für :rtEL-frELV gehen wir von der Grundbedeutung aus: »jemand von etwas überzeugen«; »ihn für etwas gewinnen« oder »zu etwas überreden«. Die Sonderbedeutung »beruhigen, beschwichtigen« läßt sich kaum belegen549 , sie kann 547 Seit Wettstein TI 718 wird verwiesen auf Theognis 979: »Mir sei ein Mann nicht mit der Zunge (yA.OOOan) nur Freund, sondern auch mit der Tat (EQYtp)«, daneben auf Test Gad 6,1: »Liebt einander EV EQYtp xai A6ytp und in Gesinnung der Seele«; vgl. Philo, Post 86f; Jak 1,22. 548 Ausführlich dazu la Potterie, Verite
622-624.663-673. Passow IIIl, 783 notiert sie zwar als eine Möglichkeit; vgl. auch Spicq, Notes III 534545, hier 543. Aber an den meisten Stellen, die dafür genannt werden (z.B. Xenophon, An III 1,26; Hellenica I 7,7; 2Makk 4,45; Mt 28,14), kommt man mit »überreden« aus. 549
218
Das Urteil des Herzens (3,18-22)
sich aber kontextuell einstellen, auf folgende Weise: jemanden, der ärgerlich und zornig ist, zum Ruhigbleiben überreden; oder jemanden, der ängstlich und verstört reagiert, davon überzeugen, daß kein Grund zu einer überzogenen Furchtsamkeit besteht. Das Herz, das in den drei Versen viermal Erwähnung findet, ist eine anthropologische Instanz, wo moralische Entscheidungen fallen und Wertungen getroffen werden. Es nimmt gut biblisch Funktionen wahr, die in der späteren christlichen Tradition dem Gewissen anvertraut werden, umfaßt aber als Zentrum des Fühlens und Wollens mehr Aspekte als der Gewissensbegriff; es integriert Momente der cmJ..6:'rtya aus V. 20 17 und der O'\JVELörja~ bei Paulus550. Vom Urteil des Herzens spricht mit den gleichen Worten TestGad 5,3: »Der Gerechte und Demütige scheut sich, Unrecht zu tun, nicht weil er von einem anderen angeklagt wird (xmaYLvOJO'XoIlEVOC;), sondern vom eigenen Herzen.« Daß Gott größer ist als das Herz und alles erkennt, versteht sich als Rezeption des atl. Motivs von der überlegenen Herzenserkenntnis, die Gott, dem Richter, allein zukommt und ihn besonders auszeichnet (2ehr 28,9). Er kann ins Herz der Menschen blicken, er kennt ihre verborgenen Pläne, oft besser als sie selbst. Das NT überträgt die Kardiognosie Gottes (Apg 1,24) auf Jesus (Mk 2,8) oder auf die urchristliche Prophetie (lKor 14,25). Zu 21a sei nur der Makarismus aus Sir 14,2 zitiert: »Selig der Mann, den die eigene Seele nicht verurteilt (xa'tEyvOJ).« In dieser hellenistisch beeinflußten Weisheitsschrift übt nicht das Herz, sondern die Seele Aufgaben des späteren Gewissens aus. 19-21 Wir kommen zu den beiden konkurrierenden und miteinander nicht zu vereinbarenden Interpretationsansätzen. Spricht der Text von Gottes Strenge oder von Gottes Erbarmen, spricht er vom richtenden und strafenden Gott oder vom liebenden und vergebenden Gott? Gottes 1 Gottes Strenge. Forensische Begrifflichkeit ist in unserem Text enthalten Strenge (»vor ihm«, »verurteilen«, die Herzenserkenntnis Gottes), darauf baut dieser Deutungstyp auf. Die Einordnung in den Kontext verläuft so: Vor Gott werden wir unser Herz überzeugen von der Wichtigkeit von Taten der Liebe, wie sie V. 18 forderte. Wir müssen bedenken, wenn unser Herz uns schon verurteilt, weil wir Taten der Liebe unterlassen haben, wie stehen wir dann erst vor Gott da. Vor dem größeren Gott kann nichts verborgen bleiben. Er wird aufgrund seiner Allwissenheit erst recht alle Sünden, auch die verborgenen, ans Licht ziehen und bestrafen. Nur wenn wir ein ruhiges Gewissen haben, be-
Zum Verhältnis von xaQöia und O'IJVbei Paulus vgl. H,J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus. Eine neutestamentlich-exegetische Untersuchung zum >Gewissensbegriff<, 1983 (WUNT 11/10), 107112.318f. Nicht überzeugend, trotz der Rück550
Eiör)O~
bindung an Dtn 15,7-10, der alternative Lösungsversuch bei Hoskyns 666; Court* 512515: xaQöia sei nur Ursprungsort eines »gemeinen Gedankens«, der Überlegung nämlich, auf den von 3,16-18 geforderten Totaleinsatz doch lieber verzichten zu wollen.
l]oh 3,19-21: Gottes Strenge - Gottes Erbarmen
219
steht überhaupt die Aussicht, daß wir Gottes forschendem Blick standhalten können und seinem strafenden Urteilsspruch entgehen. 2 Gottes Erbarmen. Ganz gegenläufig setzt das andere Verständnis an, das Gottes im Text Gottes erbarmende Liebe thematisiert findet. Aus der Sensibilisie- Erbarmen rung für das Liebesgebot entstehen, wie oben schon ausgeführt, Zweifel an seiner Praktizierbarkeit. Ein waches, besorgtes Herz findet keine Ruhe mehr. Ihm wird die tröstliche Auskunft gegeben: Wir dürfen unser Herz beruhigen, auch beim Gefühl des Versagens vor dem Anspruch des Liebesgebotes 551 . Zwar müssen wir uns dafür verantworten vor Gott, der uns dieses Gebot gegeben hat (V. 23). Gott bleibt der allwissende Richter, daran wird nicht gerüttelt. Insofern ist er immer der Größere. Aber gerade als Geber des Gebotes legt Gott an die Menschen, die sich dem Gebot unterstellen, den Maßstab seiner eigenen Liebe an. Gott wird ihnen mit Erbarmen begegnen, mit Vergebungsbereitschaft, ja mehr noch mit Zuvorkommen. Er kommt dem Urteilsspruch eines brennenden Herzens mit seinem Freispruch zuvor. Das Motiv der Herzenserkenntnis, das sich besser in die erste Interpretationslinie einpaßt, findet dabei folgendermaßen seine Erklärung: Gott kennt zwar die Verfehlungen, aber er kann sie kraft des Durchblicks, den er allein besitzt, richtig einordnen. Er sieht auch die habituelle Grundeinstellung, das grundsätzliche Ja, das der Mensch im Inneren gesprochen hat. Oder um das noch ein Stück weiter voranzutreiben: Gott kennt auch unsere vorbewußten Motivationen und Handlungsimpulse, die uns selbst oft nicht in ihrer ganzen Tragweite zugänglich sind. Er kennt und sieht die Zwänge, die uns von außen bedrängen. Er allein vermag es, dem komplizierten Geflecht unserer Persönlichkeit im Netz ihrer sozialen Beziehungen wirklich gerecht zu werden. Und darin gründet unsere Hoffnung auf Rechtfertigung und Vergebung. Die Auslegungs- und Wirkungs geschichte der Stelle gibt im Widerstreit der beiden Wirkungsgegensätzlichen Interpretationen einige meist nicht hinreichend gewürdigte herme- geschichte neutische Fragen auf. 1 Die Deutung auf Gott als strengen Richter ist, soweit wir das überschauen, in der alten Kirche und im Mittelalter nahezu die einzige gewesen. Die Kommentare setzen sie fraglos voraus und problematisieren sie nicht einmal 552. In der Reformationszeit hat sich Calvin zu ihrem energischen Anwalt gemacht. Wer ein schlechtes Gewissen hat und von seinem eigenen Gefühl verdammt wird, der kann um so weniger Gottes Strafurteil entgehen 553. Sie bleibt in Geltung bei katholischen Autoren der Gegenre-
551 Anders Weiss 105: Das Verklagen habe nichts mit einem Mangel an Liebe zu tun, V. 19-20 gelte nur unter der Voraussetzung, daß wir das Liebesgebot erfüllen; dagegen Pratscher* 277. Aufschlußreich wie immer die Vorsichtsmaßnahme bei Belser 9lf: Der Briefautor denkt nur an bereute, gebeichtete
und gesühnte Sünden, deren Nachwehen aber im Gewissen noch zu verspüren sind. 552 VgL Cramer, Catenae 128; Dionysius bar Salibi 125; Martin von Leon 275 (mit der Glossa ordinaria). 553 Calvin 342.
220
Das Urteil des Herzens (3,18-22)
formation S54 , aber auch bei nichtkatholischen Theologen bis weit ins 19. Jahrhundert S55, dies zunehmend in bewußtem Widerspruch zu der anderen, »neuen« ErklärungS56 . Im 20. Jahrhundert verliert sie rapide an Boden und findet derzeit nur noch wenig Anhängers57. 2 Die Ursprünge des zweiten Auslegungstyps sind nur schwer aufzuhellen. Spuren führen in die Kommentarliteratur des Spätmittelalters558 . Martin Luther scheint ihn nicht als erster entdeckt, aber doch selbständig entwickelt und ihm vor allen Dingen zum Durchbruch verholfen zu haben. Der Verdacht legt sich nahe, daß Luther seine eigene Situation in den Text hineinprojiziert hat, und das bestätigt sich, wenn man seine Auslegung im Wortlaut nachliest. Luther konstruiert dort vor unverkennbar biographischem Hintergrund den Fall, daß ein Priester schon zwei Jahre keine Messe mehr gelesen oder ein Mönch das Kloster verlassen habe. Anfechtung und Gewissensqual sind groß. Da wird das Wort aus dem 1Joh zum großen Trost: egregium dictum et dulcissima promissio559 • In Einzelpunkten hat diese Exegese Modifikationen erfahren. So bemerkt Luther, 20c (Gott erkennt alles) bleibe ihm dunkel, es müsse in seiner Auslegung eher »er kann alles« oder »er macht alles« heißen 560. Hier hilft man sich weiter, indem man eine Querverbindung zu Joh 21,17 herstellt: Dreimal fragt der auferstandene Herr den Petrus nach seiner Liebe; beim dritten Mal bricht Petrus in Tränen aus und sagt: »Herr, du weißt alles, du weißt auch, daß ich dich liebe.«561 Aufs Ganze gesehen hat sich Luthers Gesamtverständnis der schwierigen Stelle - »die sonnigere, evangelischere Deutung Luthers«562 - in der Folgezeit rasch durchgesetzt, nicht nur unter Exegeten. Auch Kierkegaard definiert in einer Predigt über 1Joh 3,20: »Gottes Größe ist sein Vergeben, sein Erbarmen«563 und fährt fort: »Sieh, die Sprache wird gleichsam zersprengt und zerbirst, um Gottes erbarmende Größe zu bezeichnen; der Gedanke suchte vergebens nach einem Vergleich, da fand er endlich, was menschlich gesprochen ein Vergleich nicht ist, eines reuigen Herzens Zerknirschung - noch größer ist Gottes Erbarmen.«564 Über alle Konfessionsgrenzen hinweg stimmt dem heute die überwiegende Mehrzahl der Ausleger zu. Die nachweisbare lebensgeschichtliche Verankerung der Deutung Luthers muß nicht schon ein Einwand gegen ihre Richtigkeit sein. Vielleicht bedarf es solcher Extremsituationen, um dem kongenialen Verstehen eines problemgeladenen Textes der Schrift zum Durchbruch zu verhelfen. Daß diese Deutung so spät erst aufkam, provo-
554
Salmeron 273; Calmet 659; Brentano
319. 555 Socinus 248f; Semler 236; Neander 182f; Findlay 302f. 556 Ebrard 291 ironisiert die Gegenposition: »... man müßte denn etwa annehmen wollen, daß Gott vermöge seiner Allwissenheit noch etliche besonders glänzende Seiten an uns, die uns in unserer Bescheidenheit verborgen geblieben wären, entdeckte, und uns um dieser latenten Vortrefflichkeiten willen die vorhandene Schuld vergäbe!« 557 Unter den neueren Autoren wieder Grayston 115. . 558 A Lapide 582 nennt als Vorläufer einen Thomas Anglicus (identisch mit Nicolaus de Gorran 392?, s. Richardson* 36-39), vgl. zur
Auslegungsgeschichte Wohlenberg, Glossen 640-645; Richardson* (mit exzellentem Material, aber problematischer Gesamtkonstruktion). 559 Luther 717f. 560 717: Hoc verbum est apud me obscurum. 561 Vgl. Büchsel 59; Rebstock* 327-329. 562 Baumgarten 208. Zustimmend referiert Luthers Ausführungen z.B. auch de Boor 99f. Zur Verbreitung auch Visschers*; J. Mouroux, L' experience chretienne dans la premiere epitre de saint Jean, VS 78 (1984) 381-412, hier 392f. 563 S. Kierkegaard, Christliche Reden 1848, Düsseldorf 1959 (Gesammelte Werke 20), 313 (im Orig. gesperrt). 564 Ebd. 315.
l]oh 3,19-21: Wirkungsgeschichte; 3,21-22b: Erklärung
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ziert, wenn sie zutrifft, auch die andere Frage, ob das Evangelium nicht zeitweilig zu gesetzlich verstanden wurde und ob nicht die Furcht vor dem richtenden Gott das Glaubensbewußtsein zu sehr beherrschte. Andererseits besteht auch in der neuzeitlichen Rezeption an einem Punkt die Gefahr einer Engführung, insoweit jetzt der in seinem Gewissen gequälte und gepeinigte Mensch als der Prototyp für den Glaubenden schlechthin genommen wird. Ständige Selbstzerknirschung entspricht sicher nicht dem Bild, das sich der Briefautor in 3,19-21 von der Glaubensexistenz macht.
Das Urteil darüber, welcher der beiden Auslegungstypen zutrifft, sollte vom Erklärung Text her fallen, und hier tendiert die Gesamtkonstellation doch entschieden auf die zweite Interpretation hin, vertreten von Luther und Kierkegaard (und den meisten Exegeten unserer Tage). Das Verurteilen des Herzens und seine Beruhigung unter Hinweis auf den größeren Gott läuft parallel mit den faktischen Tatsünden von Christen und den Weisen ihrer Vergebung in Kap. 1-2. Sie war in 1,9 an das Bekenntnis gebunden. In 2,1-2 wurde sie verankert im Sühnetod Jesu Christi und in seiner himmlischen Fürbitte. Das wird über die erste Ebene des Bekennens und die zweite Ebene der bleibenden Wirksamkeit des Sterbens Jesu auf eine dritte Ebene gehoben: Dies alles entspringt dem Handeln Gottes. Seine Größe hat er uns in Jesus Christus bleibend zugewendet. Darin gründet jene Zuversicht, die von 1,9 an über 2,1-2 bis zu 3,20 in immer weitere Horizonte hineingestellt wird und die in Kap. 4 mit dem Wort vom Gott, der Liebe ist, ihren tiefsten Sinngrund erreicht. Damit soll die Gerichtsthematik aus 3,20 nicht einfach eliminiert werden. In die Allwissenheit des richtenden Gottes wird gerade dieses Phänomen integriert, daß das Herz zu Recht anklagt, Gott in seiner vergebenden Liebe aber nicht dem Strafantrag der Anklage folgt, sondern, um im Bild zu bleiben, dem Plädoyer seines Sohnes (2,1). Das trägt in das Gottesbild schon jene Innovation hinein, die später in 4,8.16 der Satz »Gott ist Liebe« auszudrücken versucht. Das positive Urteil des Herzens in V. 21 resultiert aus dem Wissen um die 21a Vergebungsbereitschaft und um die geschehene Liebe Gottes. Ohne den Blick auf einen gnädigen und vergebenden Gott würde es vermessen erscheinen. So aber schenkt es Freimut (1taQQ'Yjo(a) vor Gott. Freimut war in 2,28 ein Cha- 21b rakteristikum der Gotteskinder bei der Parusie Christi565 . Freimut, Zuversicht und Freudigkeit bestimmen aber auch schon das gegenwärtige Gottesverhältnis der Glaubenden, denen ihr neues eschatologisches Sein als Geschöpfe Gottes zur Gewißheit geworden ist. Der Freimut äußert sich im freien Wort, im vertrauensvollen Gebet, das an seiner Erhörung nicht zwei- 22ab felt 566 . Eine ungemein optimistische Einstellung zur Gebetserhörung ist fe565 S. o. in Anm. 398 die Lit. und die Stellen aus Philo. 566 Originell, aber etwas waghalsig ist die Verbindung, die W. Rebell, Alles ist möglich dem, der glaubt. Glaubensvollmacht im frü-
hen Christentum, München 1989, 92f, zwischen der fehlenden Anklage des Herzens und der Gebetserhörung herstellt: Nur wer seine innere Kontrollinstanz nicht gegen sich hat, kann sinnvoll beten.
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Das Urteil des Herzens (3,18-22)
ster Bestandteil der synoptischen Jesustradition567; sie wird auf Jesus selbst zurückgehen. Auf ihre johanneische Variante stoßen wir an mehreren Stellen in den Abschiedsreden568 . Was dort im Futur als Verheißung in Aussicht gestellt wurde (z.B. 16,26: »An jenem Tage werdet ihr in meinem Namen bitten«), empfindet 1Joh als erlebte Realität. An der Bedingungslosigkeit, mit der 3,22 die Erhörungsgewißheit ausformuliert, wird 5,14-15 eine Korrektur anbringen, die aber in 3,22 noch nicht einzutragen ist. Auf die richtige Spur 22cd führt uns die doppelgliedrige Schlußzeile 22cd mit dem synonymen Parallelismus: Gottes Gebote halten und das ihm Wohlgefällige tun569. Dem Rufvon V. 18 nach tatkräftiger Liebe ist damit entsprochen. Gibt also der Kausalsatz 22cd die Bedingung an, die erfüllt werden muß, damit Bitten bei Gott Gehör finden? Über die Maßen befremdlich wäre das nicht, schon das Hiobbuch kennt eine analoge Verhältnisbestimmung57o. Doch ist zu berücksichtigen, daß »das Wohlgefällige« (clQEO"ta) im Johannesevangelium einmal vorkommt, in 8,29: »Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er hat mich nicht allein gelassen, weil ich immer das ihm Wohlgefällige tue.« Zuvor in 8,28 hieß es, daß Jesus nichts von sich aus tut, sondern nur das, was ihn der Vater lehrte. Jesus steht im Evangelium immer und überall in vollem Einklang mit dem Wollen des Vaters. Deshalb kann er nichts erbitten, was dem Willen des Vaters zuwiderlaufen würde. Die Erhörung der Bitten, die aus dieser vollkommenen übereinstimmung erwachsen, ist damit vorprogrammiert. Das gilt es auf die Christen zu übertragen. Sie werden nach dem Vorbild Jesu (vgl. 2,6 u.ö.) ihr Wollen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung bringen. Wo das gelingt, liegt auf der Hand, daß alle Bitten immer nur das wiedergeben, was Gott will, und somit ihrer Erhörung sicher sind. Etwas überspitzt ausgedrückt ist das Halten der Gebote mit dem Inhalt des Bittgebetes nahezu identisch. Die Gebote halten bedeutet ja nichts anderes als versuchen, den Willen Gottes, artikuliert im Liebesgebot, zum Zentrum der eigenen Existenz zu machen. Was man unter dieser Voraussetzung sinnvollerweise noch erbitten kann, das ist vor allem dies, daß jenes Einschwingen in Gottes Willen immer besser gelingen möge. Und diese Bitte hat am meisten Aussicht auf Gehör.
Mk 11,24 par Mt 21,22; Mt 7,7-11 par Lk 11,9-13; Mt 18,19. 568 Joh 14,13-14; 15,7.16; 16,23-24.26. 569 Ein »katholischer« Differenzierungsversuch bei a Lapide 583; Mayer 149: Das Wohlgefällige sind die consilia evangelica, die im Unterschied zu den allgemein verbindlichen praecepta nur von Ordensleuten befolgt zu werden brauchen. 570 Hi 22,23-27: »Wenn du dich zum Allmächtigen bekehrst in Demut, das Unrecht 567
fernhältst deinem Zelte ..., dann wirst du dich am Allmächtigen freuen und dein Angesicht zu Gott erheben. Du wirst ihn bitten, und er wird dich erhören«; vgl. das negative Pendant in 27,8-10. Bedingungen sind fiir die Gebetserhörung auch mitgesetzt in Herrn mand 9,4-8; sim VI 3,6; 2Clem 15,3. Eingehend zur Sachfrage, aber mit einem eher unjohanneischen Lösungsangebot Augustinus 284-296.
l]oh 3,18-22: Zusammenfassung; 3,23-24: Analyse
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Die Einweisung in die Praxis der Liebe ist die Klammer, die sich um die Aus- Zusammenführungen über das Urteil des Herzens legt. Am Maßstab der Liebe wird Gott fassung uns messen, an diesem Maßstab messen wir uns selbst in unserem Herzen. Zu Recht sind wir besorgt, wenn wir unser Zurückbleiben hinter diesem Anspruch konstatieren müssen. Aber unsere Besorgnis soll uns nicht in unserem Glauben und Handeln blockieren, uns nicht aufreiben. Sie wird aufgefangen durch das Vertrauen auf den größeren Gott, der uns auch als der allwissende Richter seine Liebe nicht entzieht. Das ruhige Herz ist ein Geschenk, das den eschatologischen Status der Sündenfreiheit und des ungehinderten Verkehrs mit Gott in einer bedrängten Gegenwart schon aufleuchten läßt. Ernstfall des neuen Seins ist ein Beten, das den Beter in die Bewegung göttlicher Liebe hineinstellt.
d
Das eine Gebot (3,23-24)
Literatur: Mußner, F., Eine neutestamentliche Kurzformel für das Christentum, TThZ 79 (1970) 49-52; Wahlde, Commandments 50-54 u.ö. 23a
b c
d 24a
b c
d e
Und dies ist sein Gebot, daß wir glauben dem Namen seines Sohnes Jesus Christus und einander lieben, so wie er uns ein Gebot gegeben hat. Und wer seine Gebote hält, bleibt in ihm und er in ihm. Und daran erkennen wir, daß er in uns bleibt, aus dem Geist, den er uns gegeben hat.
1 Die Einleitung in 23a und das Liebesgebot in 23c bilden das Gegenstück zu llac: Analyse »Denn dies ist die Botschaft ... daß wir einander lieben.« Gebot in 23a (dazu die 1nklusio in 23d) statt Botschaft in lla ist herübergeholt aus 22c, einem Versteil, der in 24a fast wörtlich wiederkehrt. Neben der summierenden Funktion als Schlußstück des Vorstehenden hat V. 23-24 auch die Aufgabe, zum letzten Hauptteil überzuleiten. Zum ersten Mal im 1Joh taucht in 23b :TnmE1JfLV auf, in 24e Jtvrulla. Die Hauptbestandteile von V. 24 haben eine Parallele in 4,13: 3,24 c Und daran erkennen wir, d daß er in uns bleibt, e aus dem Geist, den er uns gegeben hat.
4,13 a Und daran erkennen wir, b daß wir in ihm bleiben und er in uns, c daß er uns von seinem Geist gegeben hat.
2 Wieder einmal stehen wir vor dem Dauerproblem der Pronomina. Wenn wir von V. 21-22 herkommen, kann sich »Dies ist sein Gebot« in 23a nur auf Gott beziehen
224
Das eine Gebot (3,23-24)
(auch wenn in Joh 15,12 Jesus sagt: »Dies ist mein Gebot«). Das bestätigt 23b durch die Erwähnung »seines Sohnes Jesus Christus«. Soll man für 23d, wie verschiedentlich vorgeschlagen, einen abrupten Subjektwechsel ansetzen und in Einklang mit den Abschiedsreden Ooh 13,34) Jesus als Geber des Gebotes auftreten lassen571 ? Man würde im Griechischen dann eher erwarten: »So wie jener (tKELVO~) uns ein Gebot gegeben hat.« Manchmal wird bei einer christologischen Deutung von 23d der ganze Vers 24 in christologischer Perspektive gelesen: Thema sei das Halten der Gebote Jesu, die Immanenz des Glaubenden mit Christus, der erhöhte Herr als Geber des Geistes (vgl. Joh 16,7; 20,22)572. Mehrheitlich aber lenken die Ausleger für V. 24 wieder auf Gott als Subjekt zurück, was sich für die Immanenzformel wegen 1Joh 4,15-16 unbedingt empfiehlt und für die Gabe des Geistes mit Joh 14,16 übereinstimmt. Dann aber fragt sich, ob wir 23d überhaupt aus dieser einheitlichen Sicht herausnehmen sollen oder ob es nicht besser ist, für die ganze Perikope durchgehend von Gott als Subjekt auszugehen573 •
Erklärung Die Vielzahl der Gebote, die zu halten sind (22c), läßt sich auf eines reduzie23 ren574. Dieses eine Gebot wiederum, das Gott uns gegeben hat, wird als Doppelgebot ausformuliert: dem Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben. Das Verb »glauben« konstruiert 1Joh sonst, wenn es sich auf Christus richtet, mit »an« (E~)575 oder mit »daß« (ÖtL)576, mit d; gerade auch in dem aus dem Evangelium bekannten Syntagma »glauben an den Namen«577. Der Dativ »dem Namen«578 in 23b, der evtl. schon von 4,1 mitbeeinflußt ist (»glaubt nicht jedem Geist« im Dativ), kann in der Sache nichts wesentlich anderes meinen. Daß hier das personale Moment des Vertrauens und Zutrauens, des sich diesem Jesus Anvertrauens stärker als sonst hervortreten würde, ist nicht ersichtlich. Wahrscheinlich ahmt der Dativ eine der Konstruktionsmäglichkeiten von »glauben« im Hebräischen nach, wo das Objekt mit:::l (= E~) oder mit, (= Dativ) angeschlossen werden kann579. Der Name vertritt wie im AT Person und Wesen des Namensträgers (s. zu 2,12). Im Evangelium war der Aufruf zum Glauben an Jesus als Christus und Gottessohn nach außen gerichtet, an die Welt und an die Juden (vor allem im ersten Teil Joh 1-12). Das Liebesgebot ergeht erst in den Abschiedsreden an die Jünger, an jene wenigen also, die dem Ruf zum Glauben gefolgt sind. 1Joh engt diesen Blickwinkel auf eine innergemeindliche Situation hin ein, die von der Glaubensspaltung gekennzeichnet ist. Deshalb rückt beides nebeneinander, zugeschnitten auf die Gemeindemitglieder selbst, als das eine Doppelgebot, 571 572
573
Chaine 194; Sehnaekenburg 208. Sander 222; fragend Heise, Bleiben 159. Mit Brown 464; Malatesta, Interiority
273f. Nach Wahlde", der den Plural »Gebote« im 1Joh konsequent als Dual interpretiert, kennt die joh. Tradition zwei Gebote: »dem Namen glauben«, was äquivalent sei mit »sein Wort halten«, und »einander lieben«; m.E. verdient dennoch die Bezeichnung 574
»Doppelgebot« den Vorzug. 1Joh 5,10ae; vgl. Joh 2,11; 3,36 u.ö. 576 1Joh 5,1.5; vgl. Joh 8,24; 11,27 u.ö. 577 1Joh 5,13d: "tOÜ; :rtL01:EUoUOLV etC;"to Ovof.Ul "tO'Ü ui.o'Ü "to'Ü "ro'Ü. Vgl. Joh 1,12; 2,23; 3,18. 578 Ein Dativ, aber mit Gott als Objekt von :rtL01:EUELV, in 1Joh 5,10e; vgl. Joh 5,24. 579 Vgl. Schnackenburg 207. 575
l/oh 3,23-24: Erklärung, Zusammenfassung
225
Glaube an Christus und Liebe zu den Brüdern und Schwestern. Die Vorordnung des Glaubens in 23b vor der Liebe in 23c rekapituliert auf engstem Raum das Verhältnis der Themasätze in 1,5 und 3,11, wo der Kern der Botschaft zum einen als christologisch vermittelte Aussage über Gott und zum andern als das Gebot der gegenseitigen Liebe definiert wurde. So sehr Glaube und Liebe auch aufeinander bezogen sind, so sehr hält 1Joh andererseits durch dieses Arrangement an ihrer Unterscheidbarkeit fest. Der Glaube ist nicht einfach als Liebe darstellbar, er realisiert sich mit anderen Worten nicht erst in der geschwisterlichen Liebe, sondern hat seine eigene Wirklichkeit. Es ist für die Liebe selbst wichtig, daß sie auf dem Glauben aufruht und aus dem Glauben folgt. Der Glaube erst sagt mir, daß ich geliebt bin von Gott und deshalb lieben kann. Das Halten der Gebote Gottes, deren Konzentrat uns soeben mit dem Dop- 24ab pelgebot vorgestellt wurde, steht in unmittelbarer Wechselwirkung zu der engen Gottesgemeinschaft, die dem Glauben und der Liebe verheißen ist. Sie wird in 24b zum ersten Mal im 1Joh als reziproke Immanenzaussage gefaßt. Der Glaubende und Liebende findet bei Gott seine Bleibe (!JEvELV), und Gott findet bei ihm eine Bleibe, oder, mit den Worten der alten Ausleger, »laß Gott dein Haus sein, und sei du Gottes Haus«58o. Gott gab uns ein Gebot, Gott gab uns auch den Geist. Göttliche Wunderkraft ist 24c-e als Gabe der Endzeit ausgegossen über die Gemeinde der Glaubenden. Aus der Gabe des Geistes, die jedem einzelnen bei der Taufe zuteil wird, erkennen wir die bleibende Anwesenheit Gottes. Das wirft die Frage nach der Erfahrbarkeit des Geistes auf. Wo wirkt er und wie begegnet er uns? Die bunte Vielfalt der Geistesgaben, die von den paulinischen Charismentafeln reflektiert wird, hat im johanneischen Denk- und Erfahrungshorizont keinen Platz. Eine Wirkweise des Geistes war das Chrisma in 2,27, das in uns bleibt und lehrt, eine andere war der Same Gottes in 3,9, der bleibend den neuen Schaffensakt Gottes gegenwärtig hält. Im folgenden treten weitere Aspekte hinzu, in 4,2-3 das Bekennen, in 4,13 vom Kontext her das Lieben, in 5,6-8 das Bezeugen. Es sind weithin Tätigkeitsmerkmale, die auch mit der Gestalt des Parakleten in den Abschiedsreden verbunden sind. Da 4,2-3 am nächsten steht und 3,23 vom Glauben handelt, liegt in 3,24 der Schwerpunkt der Geistwirksamkeit und der Geisterfahrung möglicherweise schon auf dem Bekenntnis, oder etwas allgemeiner: Der Geist ist in 3,24 die göttliche Kraft, die uns ermöglicht, das Doppelgebot des Glaubens und der Liebe nachzubuchstabieren und zu halten. Das unteilbare Doppelgebot des Glaubens und der Liebe setzt den Schluß- Zusammen· punkt unter den zweiten Hauptteil, der schon in 2,22-23 die Bekenntnisfrage fassung ansprach, im Mittelstück das Tun der Gerechtigkeit als Unterscheidungs580 Beda 310 (zu 3,24), aus Augustinus 376 (zu 4,16-17).
226
Glaube und Liebe auf dem Prüfstand (4,1 - 5,12)
merkmal namhaft machte und schließlich zunehmend die Verwirklichung der Liebe in den Mittelpunkt rückte. Zugleich sind damit die Themenworte für den dritten und letzten Hauptteil gefallen. Die Vorordnung des Glaubens vor der Liebe erweist sich um der Liebe willen als notwendig, weil wir die liebe nur empfangen und weitergeben, nicht aber selbst herstellen können. Wo Liebe gelingt, da entsteht enge Gemeinschaft mit Gott, der selbst, wie wir im folgenden erfahren werden, Liebe ist, da öffnet sich der scheinbar geschlossene Horizont unserer Gegenwart auf die neue Wirklichkeit hin, die der eschatologische Ausblick in 2,28 - 3,3 in Worte faßte.
III
Glaube und Liebe auf dem Prüfstand (4,1 - 5,12)
Der letzte Hauptteil, der mit 4,1 beginnt581 , nimmt aus dem Schluß von Kap. 3 das Doppelgebot des Glaubens an Christus und der Liebe zu den Brüdern und Schwestern (3,23) auf und führt es in seinen einzelnen Bestandteilen weiter aus, vor allem im Blick auf die Bewährung von Glaube und Liebe im Lebensvollzug. DieUnterscheidung der Geister in 4,1-6 hat es mehr mit dem Glauben zu tun. Ab 4,7 schiebt sich die Liebe in den Vordergrund. Beide Themen sind erneut eng miteinander verwoben in 5,1-5, und gegen Ende des Abschnitts hin dominiert deutlich der Glaube, dessen Behandlung von 5,6 an mit dem neuen Gedanken des Zeugnisses angereichert wird. Als weitere Größe, die zur thematischen Kohärenz entscheidend beiträgt, tritt der Geistbegriff hinzu, der in 3,24 eingeführt wurde und nun in verschiedenen Relationen wiederkehrt: als Geist Gottes in 4,2, als Gabe Gottes in 4,13, als Geist der Wahrheit in 4,6 und 5,6e, als der, der Zeugnis ablegt, in 5,6d und 5,8.
1
Wo sich die Geister scheiden (4,1-6)
Literatur: Cigoiia, I.R.F. de la, EI discemimiento de espiritus en la primera carta de San Juan, Manresa (Madrid) 46 (1974) 123-130; le Fort, Structures 40-47; Pujana, I., EI Espiritu Santo en la primera carta de San Juan, Estudios Trinitarios (Salamanca) 8 (1974) 329-373; Tomoi, K., The Plan ofthe First Epistle ofJohn, EI 52 (1940/41) 117119.
Die erste Perikope in 4,1_6 582 führt zwei Testanordnungen zur Prüfung der Geister vor, das christologische Bekenntnis in 4,1-3 und die Aufnahme bzw.
581 Die Mehrzahl der Gliederungsversuche, die mit drei Hauptteilen arbeiten, lassen den 3. Teil erst bei 4,7 einsetzen (z.B. Häring, Schwertschlager, Law, Malatesta); für einen Neuansatz bei 4,1 u.a. Schnackenburg 216; Balz 160.
582 Tomoi· will 4,1-6 aus strukturellen Gründen herausnehmen und zwischen 4,21 und 5,1 einfügen, was sich schwerlich empfiehlt.
l]oh 4,1-3: Übersetzung, Analyse
227
Ablehnung der Botschaft in 4,4-6. Formal wird die thematische Untergliederung durch die Anredeformen »Geliebte« in 4,1 und »Kindlein« in 4,4 akzentuiert. Das Stück weist auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit 2,18-27 auf. Das Bekenntnis spielt hier wie dort eine zentrale Rolle (vgl. 4,2-3 mit 2,22-23), der Antichrist kommt vor (vgl. 4,3 mit 2,18.22), Begriffe wie Wahrheit und Täuschung werden wiederholt (vgl. 4,6 mit 2,21.26), ebenso das e;EQXEm'tm (4,1; 2,19). Eine weitere Überlegung legt sich nahe: Das, was 2,1827 mit dem rätselhaften Begriff des Chrisma umschreibt, nennt 4,1-6 unmißverständlich Pneuma, wobei Chrisma nur den Glaubenden eignet, es Pneuma jedoch in doppelter Ausführung zu geben scheint, und das ist das theologische Hauptproblem, vor das sich der Verf. gestellt sieht.
Die Christologie als Testfall (4,1-3)
a
Literatur: Ehrman, BD., 1 John 4,3 and the Orthodox Corruption of Scripture, ZNW 79 (1988) 221-243; Goltz, E. von der, Eine textkritische Arbeit des zehnten bezw. sechsten Jahrhunderts, 1899 (TU 17/4),48-50; Minear, P.S., The Idea ofIncarnation in First John, Interp. 24 (1970) 291-302.
1a
b c
d 2a
b c 3a
b c
d e
f
Geliebte, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind, weil viele Pseudopropheten hinausgegangen sind in die Welt. Daran erkennt ihr583 den Geist Gottes: Jeder Geist, der Jesus Christus (als) im Fleisch gekommen584 beist aus Gott. [kennt, Und jeder Geist, der Jesus nicht58S bekennt586 , ist nicht aus Gott. Und dies ist das 587 des Antichristen, (in Bezug au~ was ihr gehört habt, daß es kommt, und jetzt ist es schon in der Welt.
Der Mehrheitstext hat YLVWOXetaL, »wird erkannt«; K* liest YLVWOXOj.l.€V, »wir erkennen« (Angleichung an 3,24c oder 4,6f?). Das bevorzugte YLVWOXetE könnte auch als Imperativ übersetzt werden (Weiss 112), wird aber meist wohl zu Recht als Indikativ aufgefaßt. 584 Statt des schwierigen Partizipiums bietet B den Infinitiv. 585 Zur Negation I-äi vgl. Bl-Debr-Rehkopf § 428 Anm. 4: In konditionalen Relativsätzen 583
mit Indikativ klassisch üblich. Problematisiert von A. Rahlfs, Mitteilungen 9, ThLZ 40 (1915) 525. 586 Zur LA AUEL S.U. die Behandlung im Rahmen der Wirkungsgeschichte sowie Ehrman*. Weitere Ergänzungen wie XQL
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Die Christologie als Testfall (4,1-3)
Analyse I Das Leitwort des Textstücks ist Pneuma (5mal). Nicht nur der Plural in Ib, sondern auch die Qualifizierung von Pneuma durch nuvtf, näv in la.2b.3a läßt erkennen, daß es eine Mehrzahl von Pneumata gibt, die sich um zwei gegensätzliche Pole gruppieren, um Gott (2a) und den Antichrist (3c). Diese Basisopposition wird aufgenommen und weitergeführt durch »bekennen« (2b) vs. »nicht bekennen« (3a) und als Folge »aus Gott sein« (2c) und »nicht aus Gott sein« (3b). Was eingangs in Ic noch als zweifelnde Frage formuliert war (»ob sie aus Gott sind«), wird in Gewißheit überführt. Die näheren Erläuterungen zum Stichwort »Antichrist« in 3def decken sich z.T. wörtlich mit 2,18. Im unmittelbaren Kontext ist das EQXEO'frm des Antichristen in 3e mit dem ESEQXEO'frm der Pseudopropheten in Id zu vergleichen (auch »in der Welt« 3f mit »in der Welt« Id). 2 Strittig ist die Auflösung der Partizipialkonstruktion in 2b. Soll man verstehen: »Jesus als Christus im Fleisch gekommen«588, was bei der Umsetzung in einen direkten Bekenntnissatz ergeben würde: Jesus ist der im Fleisch gekommene Christus? Ein tüV vor Christus (artikellos als Prädikativum in Joh 9,22) und/oder vor dem Attribut wäre dann besser. Außerdem gebraucht IJoh in 3,23b u.ö. »Jesus Christus« als formelhaften Doppelnamen. Das Gewicht, das bei dieser Übersetzung der Messiastitel gewinnt, wird dem eigentlichen Inhalt der christologischen Kontroverse nicht gerecht. Ein anderer Vorschlag lautet, »Jesus Christus im Fleisch gekommen« geschlossen als komplexes Objekt zu »bekennen« anzusehen589, vergleichbar mit 2,23c: »Wer den Sohn bekennt«. Eine Umsetzung in einen direkten Bekenntnissatz wäre nicht möglich. Aber bei einer rein attributiven Stellung von »im Fleisch gekommen« wirkt der Verzicht auf einen Artikel vor dem Attribut doch hart. Am einfachsten erscheint es, »bekennen« mit doppeltem Akkusativ zu konstruieren: »Jesus Christus als im Fleisch gekommen«59o, in direkter Rede: »Jesus Christus ist im Fleisch gekommen«591. Bei einem ött-Satz dieses Inhalts hätte der Verf. wohl zu einer periphrastischen Konstruktion greifen müssen, die er durch die Wahl des Partizipiums vermeidet. Erklärung In der Aufforderung »glaubt nicht jedem Geist« in la hat »glauben«, obwohl la mit dem Dativ konstruiert, nicht den abgeschwächten Sinn von »vertraut nicht« (in freierer Wiedergabe: »legt ihnen gegenüber keine falsche Zutraulichkeit an den Tag«). Gerade von 3,23b her, wo ebenfalls mit dem Dativ das Gebot formuliert wird, »dem Namen seines Sohnes Jesus Christus« zu glauben, ist auch für 4,1 der theologische gefüllte Glaubensbegriff in Anschlag zu bringen. Es steht der Glaube als existentielle Grundentscheidung und als Heilsgut auf dem Spiel. Ihc Was sind das aber für Geister, von denen Ib im Plural spricht? Wir wollen dazu die Unterscheidung zwischen einem theologischen, einem dämonologischen und einem anthropologischen Geistbegriff einführen. Stott 159. Smalley 222. 590 Vgl. Schnackenburg 220f. 591 Daß damit ein theologischer Anachronismus begangen würde, durch Übertragung des Jesusnamens, der erst dem Inkarnierten 5BB
5B9
zukommt, auf den Präexistenten (Findlay 317; Brown 493), ist ein übersubtiler Einwand. Gegen Minear* muß man daran festhalten, daß »im Fleisch gekommen« es mit dem irdischen Jesus zu tun hat und nicht mit der Immanenz Christi im Glaubenden.
l]oh 4,1: Geistbegriff
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(a) Der theologische Geistbegriff versteht den Geist im Anschluß etwa an 3,24e als endzeitliche Gabe Gottes, als Mitteilung seiner Kraft an die Glaubenden. In unserem Text liegt dieses Geistverständnis eindeutig in 2a vor: »Daran erkennt ihr den Geist Gottes«. Daß wir damit allein nicht auskommen, liegt auf der Hand. Es gibt nach V. 1 ja eine Vielzahl von Geistern, und nicht allen darf man Glauben schenken. Manche von ihnen stehen zum Geist Gottes in Opposition, haben somit notwendigerweise einen anderen Ursprung. Hier wäre zu untersuchen, wie weit wir mit einem (b) dämonologischen Geistbegriff kommen. Er rechnet mit einer Vielzahl von bösen Geistern, die vom Menschen Besitz ergreifen können 592. Als Beleg für diese antike WeItsicht genügen die Exorzismuserzählungen der synoptischen Wundertradition, die aber im Johannesevangelium auffälligerweise völlig fehlen. Charakteristisch für die johanneische Theologie ist eine Zuspitzung des dämonologischen Geistbegriffs auf den einen bösen Geist, der sich als Widersacher des Gottesgeistes profiliert. Dieses Phänomen ist in unserem Text in 3c gegeben. Der Geist, der Jesus nicht bekennt und deshalb nicht aus Gott ist, wird näher definiert als zum Antichristen gehörend. Das Pneuma des Antichristen ist Stellvertreter seiner selbst, Medium seines Wirkens. Hinter dem Antichristen wiederum steht im 1Joh, nahezu mit ihm identisch, der Teufel (3,8.10), oder, wie er im Evangelium heißt, der »Fürst dieser Welt« (Joh 16,11). Beim (c) anthropologisch ausgerichteten Geistbegriff wird Geist als eine charakteristische Eigenschaft des Menschen gesehen, in der seine Schöpferkraft, seine Reflexionskraft, seine Überlegenheit und Würde gründet. Zugleich ist dieser Geist etwas Zerbrechliches und Verletzliches, das in Verwirrung geraten kann (wir sprechen nach wie vor von »Geisteskrankheiten«)593. Warum hier überhaupt der anthropologische Geistbegriff (vgl. Röm 8,16) in Betracht zu ziehen ist, hängt mit der Aussage von 2b und 3a zusammen. Wer bekennt eigentlich, der Geist (transzendent ge faßt) im Menschen? Gewiß auch dies, aber aussprechen müssen Menschen das Bekenntnis, unter Beteiligung ihres eigenen Selbst und - hoffentlich - ihres Geistes. Neubekehrte legen bei der Taufe vor der Gemeinde das Bekenntnis ab, und es kann, so scheint es in 1Joh der Fall zu sein, später in Phasen der Verunsicherung als Orientierungszeichen erneut eingefordert werden. Daß Komponenten von allen drei Ebenen in 4,1-3 enthalten sind, macht die Interpretation des Geistbegriffs so schwierig. Die Geister, die auf ihren Ursprung hin geprüft werden sollen, sind, so können wir zusammenfassend sa-
Für 1Joh 4,1 z.B. in Anspruch genommen von Culpepper 78. Vgl. 1Tim 4,1: »Der Geist aber sagt ausdrücklich: In späteren Zeiten werden manche vom Glauben abfallen, indem sie sich irreführenden Geistern und den Lehren der Dämonen zuwenden.« 593 Eine rein anthropologische Auslegung 592
von 4,1 bei a Lapide 586f: Der Melancholiker soll die Impulse der Traurigkeit und Ängstlichkeit kritisch prüfen, der Choleriker die Regungen des Zorns; jeder soll sich vor Gott darüber Rechenschaft geben, was die prägenden Motive seines Handelns sind.
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Die Christologie als Testfall (4,1-3)
gen, Individuationen des Geistes Gottes oder des Widersachers, wie sie sich jeweils in einzelnen Menschen als inspirierende Kraft auswirken. Davon beseelt und motiviert werden verschiedene Menschengruppen, johanneisch ausgedrückt Gotteskinder und Teufelskinder (lJoh 3,10). Die Frage ist, wie man beide auseinanderhält. 1d Weitere Dringlichkeit gewinnt der Prüfungsauftrag durch den Kausalsatz in 1d, der vom Auftreten der vielen Pseudopropheten handelt. Daß es viele sind, kann wohl nur als Rückverweis auf die vielen Antichristen in 2,18d verstanden werden. Mit anderen Worten: In den Pseudopropheten ist der Antichrist am Werk. Auch mit ihnen nimmt der Verf. wenn nicht ausschließlich, so doch in erster Linie seine theologischen Gegner ins Visier. Wahrscheinlich haben sie selbst einen prophetischen Anspruch erhoben und mit einer besonderen Geistbegabung ihre Autorität legitimiert. Beweise dafür mögen u.a. besonders geisterfüllte Reden und Sprachäußerungen gewesen sein. Zeichen und Wunder, die sonst Propheten und Pseudopropheten begleiten, treten in der johanneischen Gemeinde ganz in den Hintergrund. Die Kategorie des Prophetischen wird auf das Lehren, auf das Wort konzentriert. Geisterfüllte prophetische Verkünder, so wären die Wortführer der Gegner am ehesten zu charakterisieren. Das trifft mutatis mutandis allerdings auch für den Briefautor und die anderen Mitglieder der johanneischen Schule zu. Sicher leistet die Konstatierung der Existenz vieler Pseudopropheten auch einen Beitrag zur allgemeinen Beschreibung der gegenwärtigen Weltlage594 . Aber die implizite Bezugnahme auf die Gegner im Verein mit den weiteren strukturellen und thematischen Parallelen zwischen 4,1-6 und 2,18-27 macht es wohl auch erforderlich, das Hinausgehen der Pseudopropheten in die Welt des näheren zusammenzusehen mit 2,19a: »Aus unserer Mitte sind sie ausgegangen«. Nach dem Verlassen der Gemeinde bleibt den Gegnern nur die Welt als ihr angestammter Ort, dem sie von ihrem Ursprung her angehören und in den sie sich wieder begeben. Damit ist zugleich gesagt, daß Kosmos hier wie in 4,3.5 stärker negativ gewichtet erscheint, als der sich konstituierende widergöttliche Raum des Unglaubens. Darüber hinaus mag man fragen, ob das Hinausgehen auch etwas zu tun hat mit einer Stelle wie Joh 16,28: »Ich bin vom Vater ausgegangen und bin in die Welt gekommen«. Das Auftreten von Pseudopropheten wäre dann eine böse Karikatur des Auftretens Jesu und, in Verlängerung davon, seiner echten Jünger, die zwar in die Welt gesandt sind, aber nicht zu ihr gehören (Joh 17,14.18)595.
594 Vgl. Haas, Handbook 102: »... this world is full of (many) false prophets«. 595 So Brown 491; fragend Gaugier 200 (mit Verweis auf Offb 20,8); zu realistisch Rothe 131: »... daß diese falschen Propheten aus der überirdischen dämonischen Geisterwelt auf die Erde herabgesendet worden sind«. Ge-
gen die Einbeziehung von 2,19 z.B. Huther 206; Plummer 95; weitere Deutungen des Hinausgehens bei Belser 97 (geographischer Wechsel der Sezessionisten von Palästina nach Kleinasien); Ebrard 304 (zu »hinausgehen« muß man sich »aus ihren Häusern« hinzudenken).
l]oh 4,1: Unterscheidung der Geister
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Der Terminus »Pseudopropheten«, der innerhalb der johanneischen Literatur nur an Unterscheidieser Stelle vorkommt, und die Aufforderung zur Unterscheidung der Geister haben dung der einen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund. Den Ausgangspunkt bil- Geister det das AT, das eine Kausalbeziehung zwischen Geist und Prophetie kennt. Der Geist Gottes wirkt in den Propheten und inspiriert sie zu ihrer Tätigkeit (vgl. nur 1Sam 19,20.23; Ez 2,2). Aber oft genug steht Prophet gegen Prophet, wahre Prophetie gegen falsche Prophetie. Es gibt Propheten, aus deren Mund ein Lügengeist spricht, der das Volk täuscht und ins Unglück führt (lKön 22,22f). Von solchen Propheten heißt es im Jeremiabuch: »Das Gesicht des eigenen Herzens verkünden sie, nicht den Auftrag des Herrn ... Ich habe sie nicht gesandt, und doch laufen sie ... In meinem Namen weissagen sie Lüge« (Jer 23,16.21.25)596. Kriterien für den Umgang mit dieser schwierigen Materie sucht z.B. Dtn 13,2-6 zu entwickeln: Ein Prophet mag sich mit machtvollen Zeichen und Wundern legitimieren. Wenn er aber das Volk auffordert, anderen Göttern zu folgen, ist er ungeachtet aller Geisterweise als falscher Prophet entlarvt und soll dafür mit dem Tode bestraft werden (vgl. Dtn 18,20). Als Kriterium dient der Inhalt der »prophetischen« Weisung. Mit dem Wiederaufleben der Prophetie im Urchristentum (vgl. Apg 2,17f mit dem Zitat aus Joel3,1f) stellen sich rasch die gleichen Probleme ein. Prophetische Inspiration und Autorität werden für gegensätzliche Standpunkte in Anspruch genommen. Eine Unterscheidung der Geister tut not. Meist sieht man die entsprechende Thematik schon in 1Kor 12,10 angelegt, wo man ein eigenes Charisma der »Unterscheidung der Geister« erkennen will. Abgesehen von der Frage, ob dort wie in 1Kor 14,29 nicht eher eine geistgewirkte Auslegung und Deutung prophetischer Offenbarungsworte angezielt ist597, bleibt zu berücksichtigen, daß diese Geistäußerungen (so ist der Plural nV€Uflum auch in 1Kor 14,32 aufzulösen) bei Paulus zu den Charismen gehören und nicht auf einen Lügengeist zurückgeführt werden. Näher an 1Joh 4,1-3 rückt 1Kor 12,3 heran, wo Paulus das Bekenntnis zum Kyrios Jesus als geistgewirkt einstuft und damit die Verfluchung Jesu kontrastiert. Zu ihr kann es kommen, wenn man sich wieder von jenen geistigen Kräften gefangennehmen läßt, die in den ekstatischen heidnischen Kulten wirkten (lKor 12,2). Wir haben hier als inhaltliches Kriterium das Bekenntnis und dazu die Andeutung einer fremden inspirierenden Kraft, allerdings nicht die ausgeprägt dualistische Sicht von 1Joh. Dieser Vorbehalt besteht auch für 1Thess 5,19-22, wo wir in V. 21 den gleichen Imperativ ÖOXLfl~€'t€598 wie in 1Joh 4,1 finden, aber mit einem über die Prophetie hinausreichenden nuV'tu als Objekt. Die ausführlichsten Regeln zum Umgang mit der Prophetie entwickeln die Didache und der Hirt des Hermas. Zwar verbietet Did 11,7 ausdrücklich, die Geistrede eines Propheten zu prüfen (n€LQu~ELv) oder zu beurteilen (ÖLUXQLVELV), nimmt seine Lebenspraxis aber im nächsten Satz davon aus: »Nicht jeder, der im Geist redet, ist (schon) ein Prophet, sondern (er ist es) nur, wenn er die Lebensführung des Herrn sich angeeignet hat. An der Lebensweise erkennt ihr den echten Propheten« (11,8)599. Es wer-
596
Vgl. noch Jes 28,7; Ez 13,2-16; Mich 3,
5-7. 597 Vgl. G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Voraussetzungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief, 1975 (BWANT 104), 122148.
598 Zu ÖOXLf.Ul~ElV (u.a. für das Prüfen von Edelmetallen im Feuer verwendet, s. Sir 2,5 u.ö.) vgl. Spicq, Notes m 157-165. 599 Vgl. Niederwimmer, Did 219: »Derwahre Prophet steht also in der Kontinuität mit der Lebenspraxis Jesu - des irdischen Jesus!«
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den weitere Einzelkriterien an die Hand gegeben: Wer für sich eine Mahlzeit herrichten läßt, ist ein Pseudoprophet (11,9), ebenso, wer nicht selbst tut, was er lehrt (11,10), und wer für sich selbst Geld verlangt (11,12). Ganz ähnlich Herrn mand 11,716: An ihrem unterschiedlichen Lebenswandel werden der Prophet, der den göttlichen Geist hat (11,7-8), und der falsche Prophet600 (11,12) erkannt. »An ihren Früchten sollt ihr sie (nämlich die Pseudopropheten) erkennen« (Mt 7,16), dieses Kriterium. des Verhaltens und Tuns wird im urchristlichen Schrifttum am häufigsten als Instrument zur Unterscheidung der Geister verwendet. Pseudo- Den Ausdruck 'IjlE\JÖ03tQo(pirt''1~ selbst kennen neben der LXX, die ihn 10mal verwenprophet det, auch Philo, SpecLeg 4,51 (gegen das Orakelwesen gerichtet), und Josephus. Letzterer bezeichnet damit jene Gestalten, die mit der Botschaft vom nahen und endzeitlichen Handeln Gottes das Volk in Verwirrung stürzen (Bell 2,261; 6,285). Auch im NT601 sind jene Belege am wichtigsten, die den Pseudopropheten als endzeitliche Größe einführen. Das ist in Mk 13,22 par Mt 24,24 (vgl. 24,11) der Fall: Neben den Pseudochristussen werden sich auch Pseudopropheten erheben und mit Zeichen und Wundern die Auserwählten zu verführen suchen. In der Offb gehört zur widergöttlichen Trias des Endgeschehens auch der Falschprophet (16,13; 19,20; 20,10). Mit dem zuletzt Gesagten ist der Anschluß an den Vorstellungskomplex um den Antichristen erreicht, in den 1Joh die Pseudopropheten einordnet (wie Did 16,3f). Die Scheidelinie verläuft zwischen Christus und Antichrist, und es kann keine Frage sein, auf welcher Seite die Falschpropheten stehen. Das Kriterium der Tat, im urchristlichen Schrifttum das beliebteste, weil einfachste und praktikabelste Unterscheidungsmerkmal zwischen Prophetie und Pseudoprophetie, ist dem Autor des 1Joh keineswegs fremd. Sein Insistieren auf der Liebe zu den Brüdern und Schwestern und seine Polemik gegen fehlende Hilfeleistung (3,17) geht in diese Richtung. Hier aber steigert er die Kriterienfrage ins Grundsätzliche und koppelt sie wie Dtn 13,2-6 mit zentralen inhaltlichen Aussagen. 2 Der Geist Gottes (2a) spricht sich im Bekenntnis zu Jesus Christus aus. Die Gemeinde kann deshalb sicher sein: Wo immer das korrekte christologische Bekenntnis laut wird (2b), wirkt Gott aktiv als inspirierende Kraft. Menschen, die dieses Bekenntnis nachbuchstabieren, verdanken Gott den Ursprung ihres gläubigen Seins (2c). Das Bekenntnis kann als Richtschnur dienen, weil es der Gemeinde vorausliegt. Und dies wiederum verhält sich deshalb so, weil sich im Bekenntnis nichts anderes verdichtet als Gottes zuvorkommendes Handeln in Jesus Christus. Insofern ist das Bekenntnis dem Zugriff des Menschen entzogen und kann als letzte Autorität angerufen werden. 600 In Herrn mand 11,3 wird von ihm gesagt, daß ihn manchmal »der Teufel erfüllt mit seinem Geist«, interessanterweise gerade dann, wenn er Wahres redet und so einen Gerechten in die Irre führt.
Vgl. den jüdischen Magier Bar Jesus, der Apg 13,6 so genannt wird, und die Falschpropheten neben den Falschlehrern in 2Petr 2,1.
601
233
l]oh 4,2: Das Bekenntnis
Im Bekenntnissatz heißt es: »im Fleisch gekommen«602, nicht: »ins Fleisch gekommen«. Während »ins Fleisch gekommen« mehr auf den Augenblick der Menschwerdung ausgerichtet wäre, hat »im Fleisch gekommen« modalen oder instrumentalen Sinn. Fleisch ist die Art und Weise des Gekommenseins und des Daseins Jesu Christi. Vom Kommen im Fleisch spricht der Briefautor sicher nicht ohne einen Seitenblick auf den Kernsatz des Evangelienprologs Joh 1,14: »Und das Wort ist Fleisch geworden«, auch wenn er etwas anders akzentuiert. Jesus sagt im Evangelium öfter von sich: »Ich bin nicht aus mir selbst gekommen, sondern jener hat mich gesandt« (8,42), »Ich bin als Licht in die Welt gekommen« (12,46)603. Das Kommen Jesu vom Himmel her und, damit korrespondierend, seine Heimkehr zum Vater könnte man als zeitweiliges Gastspiel eines Geistwesens mißverstehen. Dem hält das Bekenntnis entgegen: Das Fleisch gehört gerade als Gegenpol des Geistes (Joh 6,63) und als Inbegriff des Irdischen, Vergänglichen zum Wesen Jesu Christi. Im Menschen Jesus von Nazaret kommt Gott zur Welt, und nirgends sonst. Damit steht der Bekenntnissatz in der Linie des Briefprologs 1Joh 1,1-4, der das Sehen, Hören und Betasten des Irdischen als unverzichtbare Basis der johanneischen Traditionsbildung herausstellte. Ein weiteres Wort über das Gekommensein Jesu wird in 1Joh 5,6 folgen: Er ist gekommen durch Wasser und Blut. Halten wir hier schon fest, daß ein Kommen im Fleisch die unabdingbare Voraussetzung darstellt für den Tod am Kreuz. Darin findet das rettende Gekommensein Jesu im Fleisch sogar seinen Ziel- und Höhepunkt, weil durch Jesu Blut Sühne geschaffen wurde für die Sünden der Welt (lJoh 1,7; 2,2). Doch fällt das Beharren auf dem Bekenntnis als letzter Bastion in der Theorie leichter als in der Praxis, denn in der Praxis bedarf auch das Bekenntnis der Auslegung und der Erläuterung, u.u. sogar der Fortschreibung. Wir kennen aus anderen Stellen die kürzeren Bekenntnisse zu Jesus als Christus (2,22) und zu Jesus als Gottessohn (4,15). Sie gehören zum ältesten Glaubensgut, zu dem, was die Adressaten von Anfang an gehört haben, was sie wissen. Im Vergleich dazu handelt es sich bei dem Satz »Jesus Christus ist im Fleisch gekommen« um eine Erweiterung und Neubildung. Der Briefautor hat allein oder mit anderen Mitgliedern der johanneischen Schule die überlieferten Kurzbekenntnisse weiterentwickelt, um den Herausforderungen der neuen Situation Rechnung zu tragen. Auch die Worte des Bekenntnisses sind nicht immer eindeutig bzw. sie werden nicht immer im gleichen Sinn verstanden. Der Verf. will verdeutlichen, daß Sätze wie »Jesus ist der Christus« oder »Jesus ist der Sohn Gottes« nur dann richtig aufgefaßt werden, wenn man ihnen diesen Sinn beilegt: Das Kommen des Gottessohnes und Messias geschah im Fleisch, in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazaret.
602 Vgl. »im Fleisch erschienen« lTirn 3,16; ferner IgnSrn 5,2: !''rl 0ItOA.oyOOv umov oUQxocp6Qov.
Vgl. Joh 3,2.19; 7,28; 11,27; 16,28; 18,37.
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Die Christologie als Testfall (4,1-3)
In diesem Prozeß können wir also die Entstehung einer Glaubensregel mitverfolgen. Möglicherweise haben wir uns das ganz praktisch vorzustellen: Mitglieder der Restgemeinde oder Besucher, die eintrafen und über deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lager Unklarheit herrschte (vgl. 2Joh 10), wurden aufgefordert, in der Gemeindeversammlung öffentlich das neu formulierte Bekenntnis auszusprechen. Es diente als Ausweis der Zugehörigkeit, als Orientierungsmarke und als geeignetes Instrument für die Prüfung, wes Geistes Kind jemand war, auf welche Seite er sich geschlagen hatte, als sich die Geister zu scheiden begannen. 3ab In verkürzter Form, wie es dem Stil des Verf. entspricht (vgl. die Wiederaufnahme des Bekenntnisses zu Jesus als Christus aus 2,22c durch bloßes 'tOV ULOV in 2,23a), skizziert V. 3 die Gegenposition, zunächst durch einfache Negation des in V. 2 Gesagten: nicht bekennen 3a statt bekennen 2b, »nicht aus Gott sein« 3b statt »aus Gott sein« 2d. Beim Nichtbekennen dreht es sich aber nicht einfach um eine Verweigerung jedes Bekenntnisses. Auch die Gegner haben sicher ihr Christusbekenntnis aus gemeinsamem Erbe weitergepflegt. Der Briefautor prangert ihre Weigerung an, die in 2b präzisierte Sinngebung, in seiner Sicht zwingendes Ergebnis der johanneischen Tradition, mit dem Bekenntnis zu verbinden. Der isolierte Jesusname dient in 3a als Zusammenfassung für »Jesus Christus als im Fleisch gekommen«. Der Streit zwischen dem Autor und seinen Gegnern betrifft die soteriologische Relevanz des irdischen Jesus. 3c-f In 3c lenkt der Autor zur traditionellen Antichristerwartung aus 2,18 zurück, die er aber aktualisiert. Den Antichristen denkt er mehr als Kollektiv denn als Person, deshalb kann er in 3f die bekannte Lehre vom Kommen des Antichristen umbiegen in eine Aussage über seine Anwesenheit in der Welt. Die gegenwärtigen Irrlehrer und Pseudopropheten verkörpern für ihn den Antichristen. Sie werden dazu in die Lage versetzt durch die Kraft des widergöttlichen Geistes, der sie erfüllt. Ihr Wirkungsort ist die glaubensfeindliche Welt. An alldem läßt sich der Anbruch der letzten Stunde (2,18) im Hier und Jetzt ablesen. In 3f summieren die Zeitpartikel »jetzt« und »schon« (vgl. 2,8) diese Deutung der Gegenwart durch den Autor. Wirkungs- Eine Frage, die normalerweise bei der Textkritik abgehandelt wird, wollen wir im geschichte Rahmen der Wirkungsgeschichte von lJoh 4,2-3 besprechen, weil die zu diskutierenden Väterzeugnisse unabhängig von der textkritischen Entscheidung bereits Beispiele für die Rezeption der Verse sind und weil die teils favorisierte Variante »der Jesus auflöst« m.E. auf eine situationsabhängige Interpretation des ursprünglichen Wortlauts von 4,3 zurückgeht. Zunächst zum Befund: Alle griechischen Handschriften und alle übersetzungen außer der lateinischen lesen in 4,3a: »Und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt«. Die Kernaussage von 4,2 wird in verkürzter und negierter Form wiederholt (vgl. zur Stilistik lJoh 5,12: 0 fXWV - 0 Iltl fXWV, und zur Äquivalenz von »nichtbekennen« und »leugnen« lJoh 2,22-23). In dieser Form paraphrasiert den Satz auch der Polykarpbrief als ältester Zeuge für seine christliche Nachgeschichte: »Denn jeder, der nicht bekennt, daß Jesus Christus im Fleische gekommen ist, ist ein Anti-
IJoh 4,1-3: Wirkungsgeschichte
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christ« (Polyk 7,1). Die Möglichkeit einer Kontamination von 1Joh 4,2-3 mit 2Joh 7, die auch für andere Väterzeugnisse im Auge zu behalten ist604, im Verein mit gelegentlich geäußerten Zweifeln an der Kenntnis des 1Joh durch Polykarp erschweren es, diese Stelle vorbehaltlos als schlagenden Beweis für !Li) O!J.OAOYEL als älteste Lesart in 1Joh 4,3 zu werten. Mit »nicht bekennen« konkurriert als Variante: »Und jeder Geist, der Jesus auf/öst«, im Lat. solvit, daneben auch destruitund dividit, im Griech. AUEL. Nahezu einhellig liest die altlateinische Überlieferung solvit, das von der Vulgata übernommen und deswegen auch von der älteren katholischen Exegese verteidigt wurde 60s. Die Väterzeugnisse setzen früh, nämlich bei Tertullian 606 , ein. Dabei verhält es sich aber so, daß neben solvit u.ä. 607 auch die Lesart mit non confitetur oder nega&OB beibehalten wird und diese verschiedenen Formen sogar bei ein und demselben Autor nebeneinander Verwendung finden, so bei Tertullian selbst609, bei Augustinus 610 und bei Priscillian611 • Das alles als Verwechslung mit 2Joh 7 zu erklären dürfte kaum möglich sein. Für AUEL als Lesart im Griech. stehen nur indirekte Zeugnisse zur Verfügung. Beginnen wir mit der Minuskelhandschrift 1739 (10. Jh.) vom Berge Athos, die zu 1Joh 4,3 folgende Randglosse enthält: »Der Jesus auflöst (AUEL). So Irenäus in dem dritten Buch gegen die Häresien und Origenes deutlich in dem achten Buch seiner Auslegungen zum Römerbrief und Klemens der Stromateus in dem Buch über das Pascha.«612 Leider besitzen wir in allen drei Fällen nicht die Originale der genannten Väterschriften, haben aber Hinweise, die es in ihrer kumulativen Kraft als sicher erscheinen lassen, daß es die Lesart AUEL im Griech. gab. Die lat. Übers. von Irenäus, Haer III 16,8, liest solvit. Für Origenes können wir den Matthäuskommentar zur Hilfe nehmen. Zu Mt 25,14 zitiert die lat. Version des Kommentars 1Joh 4,3 mit der Lesart solvi&13; in.den griech. Resten heißt es bei der Erklärung von Mt 20,25-28: »Ich löse nicht Jesus von Christus«614, aber das kann bestenfalls als Reminiszenz, nicht als Zitat angesehen werden. Statt des nicht erhaltenen Traktats über das Paschafest können wir für Clemens von Alexandrien die lat. Kurzfassung seines Johannesbriefkommentars vergleichen, wo in der Auslegung zu 2Joh 7 zu lesen steht: »damit niemand Jesus Christus
Vgl. Loewenich, Johannes-Verständnis 23. 605 Z.B. a Lapide 588; Mayer 156f (mit der Behauptung, MEt finde sich »in der vatikanischen und alexandrinischen Handschrift«); anders aber Belser, Textkritik 174-177. 606 Marc V 16,4: solventes Jesum; vgl. auch De jejunio 1,3 (1257,23 CChr.SL 2): Jesum Christum solvant (aber nicht als Zitat kenntlich). 607 Solvit: Fulgentius, Ep 17,17 (575,442f CChr.SL 91A); Didymus 64; Scottus anonymus 42; dissolvit: Cassiodor 1372B; destruit: Lucifer von Cagliari, De non parcendo in Deum deliquentibus 24 (242,20 CChr.SL 8). 608 Negat bzw. negant: Cyprian, Testimonia 2,8 (40,14f CChr.SL 3); Ambrosius, Expositio secundum Lucam 4,10 (109,137f CChr.5L 14); Arnobius, Conflictus cum Serapione 2,10 (285A PL 53); Hieronymus, Comm in Mt praef (3,44f CChr.5L 77); non confitetur: Am-
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brosius, ebd. 7,20 (254,1240f); Fulgentius, Ad Trasamundum I 5,2 (102,214f CChr.SL 91). Vgl. das Material bei Thiele, VL 2611, 329-333. 609 Er hat negat in De carne Christi 24,3 (916,14-16 CChr.5L 2) und negarent in Praescr Haer 33,11. 610 Augustinus wechselt zwischen negat und solvit hin und her (306.308); einmal zitiert er gar: Omnis qui solvit Jesum Christum et negat eum in carne venisse (316). Darauf baut er seine antidonatistische Erklärung auf, die das solvere als Auflösen der Einheit der Kirche versteht, vgl. Dideberg, Augustin 130. 611 Tract 1,37 (31,3 CSEL 18): solvit; 2,252 (42,5): non confitetur; 3,67 (51,28): negat. 612 Vgl. von der Goltz* 48. 613 Comm in Mt ser 65 (152,28f GCS 38). 614 Comm in Mt 16,8 (500,31f GCS 40): ou Mw tüv 'ITJoOÜV a:n:ü tOV XQLOtoii.
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Die Christologie als Testfall (4,1-3)
aufteile (dividat), sondern glaube, daß Jesus Christus 'als einer im Fleische gekommen ist«615. Einen weiteren indirekten Beleg für )':6EL im Griech. gibt Sokrates (5. Jh.) in seiner Kirchengeschichte an die Hand, wenn er polemisch gegen Nestorius bemerkt: »Er wUßte überdies auch nicht, daß in dem Katholischen Brief des Johannes in den alten Abschriften geschrieben stand, daß jeder Geist, der Jesus auflöst ()':6EL), nicht von (Wt6) Gott ist. Denn diesen Gedanken haben aus den alten Abschriften jene entfernt, die von dem Menschen des Heilsplans Oesus Christus) die Gottheit abtrennen wollen. Deswegen haben auch die alten übersetzer eben dies bemerkt, wie hier einige den Brief verfälschten, weil sie den Menschen von dem Gott lösen (AUEW) wollten.«616 Es geht aus dem Gesagten nicht eindeutig hervor, ob Sokrates selbst noch solche alten Handschriften mit )':6EL gesehen haben will oder ob er nur einen Rückschluß unternimmt von dem Zeugnis der alten lat. übersetzung aus617. Beda nimmt das auf und entwickelt es weiter zu der These, Irrlehrer hätten den ganzen Satz »Jeder Geist, der Jesus auflöst, ist nicht aus Gott« aus ihrem Exemplar gestrichen618, eine irreführende Behauptung, die aber im Mittelalter mehrfach nachgesprochen wird619. Erklärungsbedürftig bleibt für diese Autoren im übrigen auch die Lesart mit ÄUEL bzw. solvere. Sokrates versteht es dahingehend, daß in der Person Jesu Christi Menschheit und Gottheit voneinander getrennt werden sollten. Die Glossa schlägt verschiedene Deutungen vor: Gottheit und Menschheit in Jesus unterscheiden, die Glieder der Kirche von Gott abtrennen, die Worte Gottes schlecht auslegen und sich durch ein übles Leben von Gott lossagen62o. Hier geht die dogmatische Auslegung zuletzt ins Paränetische über. Meist werden im Umkreis des Zitats aus 1Joh 4,2-3 diverse christologische Häresien beim Namen genannt, die des Marcion, des Arius, des Nestorius und andere mehr. Die Ausleger des 20. Jahrhunderts optieren spätestens seit der Entdeckung des Scholions im Athosmanuskript durch von der Goltz" mit Vorliebe für ÄUEL als ursprünglichen Text. Es sei die schwierigere Lesart, und sie verdiene auch aus inneren Gründen den Vorzug621 • Zu den inneren Gründen zählt u.a. die idiomatische Verwendung von AUELV bei Johannes, vgl. Joh 2,19: »zerstört (ÄUOa'tE) diesen Tempel«; 5,18; 7,23; 10,35; 1Joh 3,8: »damit er die Werke des Teufels zerstöre (Äron)«. Aber der Unterschied liegt auf der Hand: An allen Stellen wird ÄUELV mit einem unbelebten Objekt konstruiert. Was ÄUEL 'tOv 1l]ooirv heißen soll, bedarf noch einmal einer gesonderten Erklärung. Wenn man nicht gerade Piper folgen will, der auf eine Verfluchung Jesu in Anlehnung an 1Kor 12,3 hin ausle~22, begnügt man sich mit Auskünften wie: Das Heilswerk Jesu Christi werde zerstört, seiner Geltung beraubt und zunichte gemacht623 • 615 Clemens Alex. 215; zu De Pascha s. die Fragmente 216-218 GCS 17,2 (mit der Randglosse des Athosmanuskripts). 616 Sokrates, Hist Eccl 7,32 (80/812A PG 67). Die lat. Übers. hat separat (811A). 617 Vgl. Westcott 163f. 618 Beda 311: hunc quoque versiculum ... ex
hac epistola eraserint. Vgl. Fulbert von Chartres, Ep 5 (197C PL 141); Hinkrnar von Reims, Opusc 18 (351D PL 126); Martin von Leon 279B. 620 Glossa 701B; Nicolaus de Gorran 392. 621 So mit Nachdruck Hamack, Textkritik 556-561; die Kommentare bis hin zu Schnak619
kenburg, Bultmann, Brown und Wengst (nach Büchsel63 »leidet es keinen Zweifel«, daß AUEt zu lesen sei). Dagegen u.a. Brooke 111-114; Westcott 165 (MEt zu bevorzugen »is to suspend alliaws of textual criticism«); de Jonge 185-187; Strecker 213; Vouga 3.63; Ehrman". Zur Negation flTJ, die manchmal gegen die LA mit OfJ.OAoyEL ins Spiel gebracht wird, s.o. Anm. 585. 622 Vgl. Piper, I John 443f: »curse, whereby it is believed that Jesus will be deprived of his supernatural power«. 623 Vgl. Gaugler 205.
IJoh 4,1-3: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
237
Niemand hat den Mut, für 1Joh schon zu reklamieren, was der Fassung mit AVEt erst wirklichen Sinn verleiht, sie nämlich zu lesen als Reaktion auf eine doketisch-gnostische Auflösung der einen Person Jesu Christi in den Menschen Jesus und das Geistwesen Christus. Die Behauptung, daß AVEt sich inhaltlich besser in den Kontext des 1Joh einpasse, ist jedenfalls mit großem Fragezeichen zu versehen. Neigt sich nach allem die Waage doch zugunsten von flT] OflOAOYEL als ältestem Text, muß noch überlegt werden, wie es zu seiner teilweisen Verdrängung durch AVEt bzw. solvit kam624. Dazu ist erneut von der Verwendung des Zitats im Kontext christologischer Kontroversen auszugehen. Irenäus beginnt den einschlägigen Paragraphen (Haer III 16,8) mit der Feststellung, daß »alle außerhalb der Heilsordnung stehen, die als Gnostiker zwischen Jesus und Christus einen Unterschied machen«; ihre Lehre »zerlegt den Sohn Gottes in mehrere Stücke«. Daran anschließend zitiert er 2Joh 7-8 (mit non confitentur) und 1Joh 4,1d-3c (mit solvit, am Schluß verkürzt). Daß sich solvit in die antihäretische Stoßrichtung der Eingangsworte vorzüglich einfügt, bedarf kaum der Begründung. Aus einem ähnlichen Anliegen heraus dürfte die Variante im 2. Jh. überhaupt erst entstanden sein, evtl. in Anlehnung an den etwas anders gelagerten Gebrauch von AVELV bei Johannes (s.o.). Diese Linie läßt sich weiterverfolgen bis zu Leo dem Großen. In seinem berühmten Tomus ad Flavianum, in dem er sich 449 an den Patriarchen von Konstantinopel wendet mit einer Klarstellung der Zweinaturenlehre in Auseinandersetzung mit Eutyches, zitiert er unseren Vers mit der Lesart solvit (in der griech. Wiedergabe ÖLULQOÜV) und setzt erläuternd hinzu: »Was bedeutet, Jesus auflösen, wenn nicht, die menschliche Natur von ihm trennen und das Geheimnis, durch das allein wir gerettet sind, mit schamlosen Phantasien entleeren? ... Die Leugnung der Wirklichkeit des Fleisches bei Christus ist gleichbedeutend mit der Leugnung seines körperlichen Leidens.«625 Das Schreiben Leos hat bekanntlich zur Ausformulierung des christologischen Dogmas von Chalcedon wesentlich beigetragen (vgl. DS 300). Es wird beim 5. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel erneut verlesen und zustimmend zur Kenntnis genommen 626 . In dieser Richtung hat die textkritisch sekundäre Lesart eine dogmengeschichtlich weitreichende Wirkkraft entfaltet.
Die Interpretationsgeschichte, die wir soeben in einem kleinen Ausschnitt Zusammenbetrachtet haben, beruht auf einem sachgemäßen Verständnis des Textes, fassung auch wenn sie vom Wortlaut abweicht. Sie schreibt jene Präzisierung des anfänglichen Bekenntnisses, zu der sich schon der Briefautor gezwungen sah, in Konfliktsituationen fort. Handfeste Kriterien zur Unterscheidung der Geister hat man im Urchristentum meist auf dem Boden der Orthopraxie gesucht. Ohne im Briefganzen davon völlig abzusehen, legt der Verf. in 4,1-3 alles Gewicht auf die rechte Lehre. Orthodoxie und Orthopraxie stehen in einem unaufhebbaren Wechselverhältnis. Wo ihre Einheit zerbricht, da beginnen sich die Geister nach außen hin sichtbar zu scheiden. Für die Einheit von Bekennt624 Der umgekehrte Vorgang wäre auch nicht so leicht erklärbar, wie oft getan wird, vgl. Wurm, Irrlehrer 61f. 625 Leo der Große, Ep 28,5 (773C-776A PL 54), auch (mit besserem Text) in den Konzils-
akten, vgl. ACO 1II2,1, 24-33. Die Wiedergabe qui solvit Jesum auch in Ep 75(33),1 (ACO II14, 33,23). 626 Vgl. ACO IV/I, 167-172.
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Erfolg und Mißerfolg als Testfall (4,4-6)
nis und Lebensführung gibt es auch noch einen tieferen Grund, denn das Bekenntnis gilt dem im Fleisch Gekommenen. Die irdische Wirklichkeit des Erlösers, sein Menschsein und seine Fleischesgestalt, werden ganz und gar ernst genommen. Das pneumatisch inspirierte Bekenntnis wird so »geerdet«. Dem, der es nachspricht, ist ein enthusiastisches Überspringen der eigenen Lebensbedingungen nicht mehr gestattet.
b Erfolg und Mißerfolg als Testfall (4,4-6) Literatur: La Potterie, Verite 281-310. 4a
b c 5a
b c 6a
b c
d e
f
Ihr seid aus Gott, Kinder, und ihr habt sie besiegt, weil der in euch größer ist als der in der Welt. Sie sind aus der Welt. Deshalb reden sie aus der Welt, und die Welt hört (auf) sie. Wir sind aus Gott. Wer Gott erkennt, hört (auf) uns. Wer nicht aus Gott ist, hört nicht (auf) uns. Daraus erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist der [Täuschung.
Anaylse Das strukturierende Element des Textstücks bilden die drei Personalpronomina »ihr« 4a, »sie« 5a und »wir« 6a, verbunden mit einer Form von EtvUL und mit der Herkunfts- oder Ursprungsangabe »aus Gott« in 4a.6a vs. »aus der Welt« in 5a. In allen drei Versen treten Erläuterungen und Begründungen hinzu, die mit den Begriffen »Gott« und »Welt« (je 4mal), mit Immanenzaussagen (4c) und Ursprungsaussagen (6d) arbeiten. Der Schlußsatz in 6f greift mit dem singulären »daraus erkennen wir« über 2a bis auf 3,24ce zurück. Er rundet das Gesamtthema der Unterscheidung der Geister ab und reduziert es mit der Gegenüberstellung von »Geist der Wahrheit« und »Geist der Täuschung« auf den Kern der Sache. Erklärung In V. 4-6 wird eine zweite Testanordnung für die Unterscheidung der Geister und für die Selbstvergewisserung darüber, auf welche Seite man gehört, entworfen. Sie basiert auf der unterschiedlichen Rezeption der Botschaft, die für johanneische Christen ihre Mitte in dem Bekenntnis von 4,2 findet, so daß die beiden Prüfverfahren innerlich zusammengehören. 4 Weil die Adressaten, denen sich der Verf. wieder mit der Anrede »Kinder« (zuletzt in 3,18) zuwendet, ihr christologisches Taufbekenntnis im Sinn von 4,2 verstehen, dürfen sie sicher sein, daß sie sich im Wirkungsfeld des göttlichen Geistes befinden und ihren neuen Ursprung bei Gott gefunden haben. In
l/oh 4,4-5: Erklärung
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2,13d.14h hatte der Autor den »jungen Männern« schon zugerufen: »Ihr habt den Bösen besiegt«. Der Sieg bestand dort, wie sich aus dem Kontext ergab, in der Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern, die stärker ist als der Haß und die den Haß verdrängt. Hier in 4,4b scheint die Siegesmeldung mehr vom gelungenen Festhalten am Glaubensbekenntnis her verursacht, wie es 5,4 deutlicher noch sagen wird. Aber Glaube und Liebe sind ja in dem Doppelgebot von 3,23 einander zugeordnet. In Joh 16,33 sagt Jesus, gleichfalls im Perfekt: »Ich habe die Welt besiegt«. Zur Welt gehören für 1Joh die Pseudopropheten von 4,ld. Der Sieg der angeredeten Gläubigen über sie besteht faktisch darin, daß es der Restgemeinde gelingt, die Gefährdung ihres Glaubens durch die gegnerische Christologie zu überwinden und in der Krise standzuhalten. In 2,14g wurde die Siegesnachricht eingeleitet mit der Feststellung der Immanenz des Wortes Gottes in den Glaubenden, während in 4,4c der schlichte Hinweis auf »der in euch« als Begründung genügt. Der Artikel steht im Maskulinum. Vom Geist (Pneuma als Neutrum) schwenkt der Blick wieder hinüber zu Gott als Geber des Geistes627 • Er war auch in 3,20b der »Größere«, auf ihn bezogen sich die Immanenzaussagen in 3,24bd. Sein unterlegener Gegenpart, »der in der Welt«, müßte entsprechend der Urheber der Wirkkraft des Antichristen aus 4,3c sein. Hinter der Symbolfigur des Antichristen verbirgt sich, wie wir schon wissen, als »Drahtzieher« der Teufel, der personal gedachte Böse in den parallelen Versen 2,13d.14h, der Fürst dieser Welt, wie ihn das Evangelium verschiedentlich nennt. Fragen kann man, warum es nicht »der in ihnen« heißt, sondern »der in der Welt«. Ist das nur eine sprachliche Variation? Oder deutet es nicht doch eine Grenze an, die der Autor lieber nicht überschreiten möchte, in dem Sinn, daß er es vermeidet, von einer Immanenz des Teufels im Individuum zu reden, die der Immanenz Gottes im Glaubenden vergleichbar wäre628 ? In jedem Fall hat der Widersacher Gottes in der Welt sein Wirkungsfeld, und es liegt an den Menschen, ob sie sich seiner Führung unterstellen oder nicht. Einen in seiner Bedeutung nicht so leicht nachzuvollziehenden Wechsel von 5 »in der Welt« zu »aus der Welt« hatten wir bereits in 2,16a und 2,16d. In 4,4c und 4,5a liegen die Dinge etwas klarer. Wer sich dem unterwirft, der in einer gegen Gott verschlossenen Welt die Herrschaft ausübt, verdient sich die Herkunfts- und Wesensbezeichnung »aus der Welt«. Mit ähnlichen Worten polemisiert der johanneische Jesus gegen die ungläubigen Juden: »Ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt« Ooh 8,23). Diese Weiterverwendung von judenfeindlichen Äußerungen des Evangeliums in der eigenen Gegner-
627 So die meisten Erklärer. Eine einheitliche Deutung auf den Geist versuchen auch an dieser Stelle durchzuhalten Bruce 106; Brown 498 (vergleicht Joh 14,17).
628 So Schnackenburg 224; aufgenommen u.a. von Schunack 76f; ablehnend Smalley 227.
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Erfolg und Mißerfolg als Testfall (4,4-6)
polemik treffen wir beim Briefautor hier nicht zum ersten Mal an. Für das Folgende stützt er sich vermutlich auch auf}oh 3,31: »Wer aus der Erde ist, ist aus der Erde und redet aus der Erde«, d.h., er spricht auf irdische, weltliche Weise. Die Wesensbezeichnung »aus der Welt« wirkt sich bis in die Sprache hinein aus und prägt sie. Eine solche Sprache erweist sich als weltkonform. Sie bedeutet keine Herausforderung mehr für die Menschen, sie provoziert nicht, sie gibt keinen Anstoß. Deshalb hört die Welt denen, die so sprechen, gerne zu, weil sie darin bewußt oder unbewußt ihre eigene Stimme wiedererkennt. Die Erfahrungsbasis für das vernichtende Urteil von V. 5 ist in der Tatsache zu suchen, daß die Dissidenten mehr Erfolg nach außen hin hatten. Sie konnten sich besser in ihrer Umwelt einrichten, sie vermochten es, Aufmerksamkeit zu erwecken und vielleicht auch Neuzugänge zu gewinnen. Kein Wunder, spottet der Verf., sie werfen ja auch die Substanz der christlichen Botschaft über Bord und muten den Hörern nichts mehr zu. So muten sie ihren Adressaten nicht mehr zu, in einem Menschen Gott zu erkennen und im Kreuzestod seine Erlösungstat. 6a-e Die Welt, die auf das Echo ihrer eigenen Stimme lauscht, bleibt in sich selbst gefangen. Aufgebrochen wird ihr geschlossener Horizont nur durch die Christusbotschaft, wie sie eingegangen ist in die johanneische Verkündigung. Auch im Hören auf dieses Wort scheiden sich die Geister. Wiederum verarbeitet der Verf. Stellen aus der Evangelientradition: »Wer aus Gott ist, hört auf die Worte Gottes. Deshalb hört ihr nicht, weil ihr nicht aus Gott seid« (so Jesus zu den Juden in Joh 8,47); »die Schafe hören auf seine Stimme ..., weil sie seine Stimme kennen« (10,3-4). In der Reaktion auf die nachösterliche Verkündigung der Gemeinde kristallisiert sich wie in der Reaktion auf die Verkündigung Jesu heraus, welche Lebensentscheidung, die ihn weiterhin in seinem Sein bestimmen wird, jemand gefällt hat. Erkenntnis Gottes, auch in 1Joh 2,4 als hohes Ideal reklamiert, bringt 6bc in engste Wechselwirkung mit dem Vollzug des Hörens, ohne das Kausalverhältnis genauer zu präzisieren. Es verhält sich wohl so, daß über das Hören auf die Christusbotschaft der Weg zur Gotteserkenntnis gebahnt wird. Wer aber einmal zu dieser Erkenntnis gelangt ist, wird keiner anderen Botschaft mehr sein Ohr leihen. Wir-Form Es tauchen in V. 6 etwas überraschend Wir-Formen auf. Zwar wechselt der Autor öfter auf engstem Raum zwischen »ihr« und »wir« (2,19-20.24-25.28; 3,13-15), doch sind diese Stellen, wo er im Kontext verschiedentlich auch selbst in der Ich-Form redet (2,21.26), mit dem pointierten Nebeneinander von »ihr«, »sie« und »wir« in 4,4-6 nicht völlig verrechenbar. Daran bricht in der Forschung die Kontroverse auf, ob wir es hier mit einem kommunikativen Wir zu tun haben, durch das sich der Verf. mit seinen Lesern zusammenschließt, oder ob sich die Wir-Form exklusiv auf die Traditionsträger und Zeugen aus dem Briefprolog bezieht, in deren Namen der Verf. jetzt wieder
lJoh 4,6: Wir-Fonn, Wirkungsgeschichte
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redetl'29. Ein kommunikatives Wir müssen wir sicher für 6f in Anschlag bringen: »Daraus erkennen wir« geht unzweifelhaft auf die Gesamtheit der Gemeinde. Aber damit ist das Wir in 6a-e noch nicht eindeutig festgelegt, denn solche abrupten Wechsel der Referenz von Pronomina kommen im 1Joh auch andernorts vor (s. zu 2,28-29). Es spielt auch schon mit herein, wie man sich in 4,14 (»Wir haben gesehen und bezeugen ... «) entscheidet. Wer dort einen plötzlichen Durchblick auf das Wir der Traditionsträger anerkennt, wird eher geneigt sein, dies auch hier in 6a-e zu tun. Eine eindeutige Antwort zu finden, fällt nicht so leicht. Ein kommunikatives Wir würde sich in den Gesamtduktus etwa so einordnen: Der Verf. will den augenscheinlichen Erfolg der Gegner und den beklemmenden Mißerfolg der Restgemeinde erklären. Er deutet die Ablehnung durch die Außenwelt als Zeichen für die Auserwählung der eigenen Kleingruppe durch Gott - eine beliebte Form der Konfliktbewältigung, die aber ihre Gefahren hat und zur Sektenmentalität tendiert. Wenn wir mit dem Wir der Traditionsträger arbeiten, bleibt der Vorbehalt von 2,27 in Kraft. Der Autor reklamiert für seine Gruppe nicht doch noch auf einem Umweg hierarchisch strukturierte Weisungsbefugnis. Beim zustimmenden Hören geht es vielmehr darum, die spezifische Form der johanneischen Theologie zu akzeptieren, wie sie vom Verf. und seiner Schule immer schon vertreten wurde und jetzt neu ausformuliert wird. Nicht disziplinarische Weisungen sollen legitimiert werden, sondern das prophetische Wort, das von Gottes Geist inspiriert die Traditionen des Anfangs weiterhin zu Gehör bringt. Die Mahnung in V. 6, auf die Traditionsträger zu hören, hat ein funktionales Äquivalent im Bestreben des Briefprologs, Gemeinschaft zwischen den Adressaten und der Zeugengruppe herzustellen. Es werden kräftige thematische Klammern sichtbar, die das erweiterte Bekenntnis in V. 2 und die Wir-Form in V. 6 an 1,1-4 zurückbinden. Daher verdient für 6a-e die Annahme eines exklusiven Wir den Vorzug. Das »Wir« in V. 6, verstanden als ein »Wir« der Träger hierarchischer Autorität630 , Wirkungswurde in der kath. Exegese auf die Frage zurückprojiziert, die sich aus V. 1 ergibt: geschichte Wem ist der Auftrag, die Geister zu prüfen, anvertraut? Die klassische Antwort, wie sie Lorinus im 17. Jahrhundert gibt, lautet: Unum oportet in Ecclesia summum 1udicem questionum, de fide, moribusque. Is est sine dubio Pontifex Romanus6 31• Einfachen Gläubigen das Recht zur Prüfung der Geister zuzugestehen würde die Hierarchie ruinieren632• Für sie beschränkt sich das Kriterium, an dem sie erkennen können, daß sie Eine Auswahl von Stimmen: Bultmann 69 deutet auf die Gemeinde; Braune 104; Chaine 199f; Houlden 110 denken an die autorisierten Zeugen; eine weitere Differenzierung führt Schneider 164 ein: Das Wir meint , nicht nur die Augenzeugen und Erstverkiinder aus 1,1-4, sondern »alle, die im Dienst der Verkiindigung stehen«, aber nicht die Gemeinde insgesamt; eher vermittelnd Ruck629
stuhl 61; Dodd 100: »the Church as a whoIe, speaking through its responsible teaehers, who embody the authentie apostolic tradition«. 630 De Ambroggi 258: »S. Giovanni paria in norne della gerarehia ecclesiastiea edel suo magistero«. 631 Lorinus 98. 632 So wörtlich Bonsirven 189.
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Erfolg und Mißerfolg als Testfall (4,4-6)
sich im Besitz des rechten Geistes befinden, auf die Gefügigkeit gegenüber dem kirchlichen Lehramt633 . Die prot. Exegese nimmt das teils kritisch auf, so etwa Baumgarten, der zu V. 6 ausführt, wir bekämen es »hier spürbar mit dem nahezu fertigen Begriff der katholischen Kirche zu tun«, und in einem bestimmten Umgang mit diesen Worten »die Quelle aller geistlichen, hierarchischen Überhebung« erkennt634 . Andere Autoren gelangen aufgrund der zutreffenderen Deutung der Unterscheidung der Geister als Auftrag an alle zu einer grundsätzlichen Absage an den Leitungsanspruch des römischen Papstes635. Auch diese Positionen gehen über die Aussage des Textes hinaus. Zwar ist das Prüfen der Geister Sache aller Adressaten, einzeln und als Gesamtgemeinde. Aber es erstreckt sich nicht auf das Bekenntnis selbst, das vom Autor und seiner Schule gerade für den Zweck der Prüfung umgestaltet wurde. Die Traditions- und Bekenntnisbildung steht in Interaktion mit dem inspirierten Prüfen und Werten, geht aber nicht einfach darin auf. Erklärung Den Schlußpunkt nicht nur unter V. 5-6, sondern unter den Gesamtkomplex 6f 4,1-6 mit den beiden Unterscheidungskriterien, die doch nur einen Sachverhalt auf verschiedene Weise entfalten, setzt 6f (s. die Analyse). Der Eindruck einer Vielzahl von Geistern, dämonischen und göttlichen, hat sich abgeklärt. Die Geistphänomene ordnen sich hinsichtlich ihres Ursprungs zwei gegensätzlichen Lagern zu, die im Geist der Wahrheit und im Geist der Täuschung ihre obersten Repräsentanten haben. »Geist der Wahrheit« ist in den Abschiedsreden ein Synonym für den Parakleten, den der Vater den Jüngern sendet als Stellvertreter für Jesus, der zum Vater zurückgeht (Joh 14,16-17). Die theologische Komponente des Geistbegriffs in 1Joh 4,1-6 werden wir somit auf die Gestalt des Parakleten im Evangelium zurückführen, dessen Aufgabe im Lehren, in der Weitergabe und in der Auslegung der Jesustradition besteht, aber daneben auch im Scheiden und Richten (Joh 16,11). Den Begriff »Paraklet« kann der Briefautor verständlicherweise nicht wieder verwenden, da er ihn in 2,1 für Jesus als himmlischen Fürsprecher reserviert hatte. Statt dessen nennt er den Geist in seiner belehrenden Funktion Chrisma (2,20.27) und in seiner unterscheidenden Funktion Pneuma. Die zwei Der Zusammenprall von Geist und Gegengeist, Geist der Wahrheit und Geist der Geister Täuschung, in 1Joh hat eine vielbeachtete Parallele in der Sektenregel aus Qumran636 . Es heißt dort in der langen Katechese von 1QS 3,13 - 4,26: »Und er [Gott] schuf den Menschen ... und bestimmte ihm zwei Geister, darin zu wandeln ... Das sind die Geister der Wahrheit und des Frevels. An der Quelle des Lichtes ist der Ursprung der Wahrheit, aber aus der Quelle der Finsternis kommt der Ursprung des Frevels. In der Hand des Fürsten des Lichtes liegt die Herrschaft über alle Söhne der
Ebd. 196; Lallemant 240. Baumgarten 21lf. 635 Ebrard 304: »zieht ... der päpstlichen Anmaßung ... allen Boden unter den Füßen weg«; Plummer 94: »cuts at the root of such pretensions as the Infallibility of the Pope«. 633 634
Bes. scharfe Kritik an der verfaßten Kirche übt Semler 250, der das Recht zur selbständigen Prüfung der Geister als ius sanctissimum bezeichnet. 636 Vgl. Braun, Qumran I 297-300.
IJoh 4,6f Die zwei Geister, Wirkungsgeschichte
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Gerechtigkeit, auf den Wegen des Lichtes wandeln sie. Aber in der Hand des Engels der Finsternis liegt alle Herrschaft über die Söhne des Frevels, und auf den Wegen der Finsternis wandeln sie« (3,17-21). Im weiteren Verlauf werden in einem Tugend-und Lasterkatalog menschliche Verhaltensweisen den beiden Geistengeln zugeordnet. Alle Menschen müssen sich nach 4,15 für eines der beiden Lager entscheiden. Der Dualismus, der sich hier abzeichnet, wird noch aufgefangen durch die einleitende, mehrfach wiederholte Aussage, daß beide Geister aus Gottes Hand hervorgehen. Die Herrschaft des jeweiligen Geistes dokumentiert sich im Lebenswandel von Menschen. Der verdeckte ontologische Ansatz erfährt dadurch eine Wendung ins Ethische. Das verhält sich ähnlich in den TestXII, wo wir die zwei Geister wieder antreffen, unverkennbar z.B. in TestJud 20,1-3: »Erkennt nun, meine Kinder, daß zwei Geister sich mit dem Menschen abgeben, derjenige der Wahrheit und derjenige der Täuschung (JtAUVY]C;)637. Und in der Mitte ist derjenige der Einsicht des Verstandes, sich zu wenden, wohin immer er will. Und das die Wahrheit Betreffende und das die Täuschung Betreffende ist eingeschrieben auf die Brust des Menschen.« Hier dient anscheinend der mittlere Geist dazu, dem Menschen einen Entscheidungsspielraum offenzuhalten und einem prädestinianischen Dualismus zu wehren.
In diesem Bereich liegen sicher die traditionsgeschichtlichen Wurzeln für die Zuspitzung der Geistthematik auf den Kontrast von Geist der Wahrheit und Geist der Täuschung hin. Dualistische Denkmodelle bieten scheinbar verlokkende Antworten an auf Fragen, die aus schmerzlichen Erfahrungen aufbrechen. Doch gelingt es immer wieder und immer noch, Sicherheitsvorkehrungen einzubauen, die ein Abgleiten in den metaphysischen Dualismus der Gnosis verhindern. Das ändert sich im Evangelium Veritatis (NHC 1/3). Dort tritt der Irrtum, die Plane, Wirkungsals hypostasierte Größe in Erscheinung (17,14f), als Widerpart des Vaters der Wahr- geschichte heit (16,33) und seiner unveränderbaren Wahrheit (17,25-27)638. In der unteren Welt, wo die Plane die Herrschaft ausübt, wird sie aktiv gegen die Wahrheit, die in Jesus Christus Gestalt annimmt (18,16.23f). Die Wahrheit ist der Mund des Vaters und, so heißt es in einem kühnen Bild, seine Zunge ist der heilige Geist, den jeder, der mit der Wahrheit in Verbindung steht, empfängt (26,33 - 27,4). Wir werden uns damit im Bannkreis der valentinianischen Johannesexegese bewegen. Zum »Geist des Irrtums« findet sich keine wörtliche Parallele. Erwähnung verdient evtl. der »Widersachergeist«, den die bösen Mächte den Menschen einsenken (AJ BG 8502/2 55,8). Die Unterscheidung der Geister erfordert die Fähigkeit, den Geist der Wahr- Zusammenheit und den Geist der Täuschung als die großen inspirierenden Mächte zu er- fassung kennen und auseinanderzuhalten. Nur so kann der eigene Standort gefunden 637 »Geist der Täuschung« auch in TestRub 3,2; TestSim 3,1; TestJud 14,8; TestSeb 9,8 u.ö.; als Nachklang noch Herrn mand VI 2,1: »Zwei Engel sind bei dem Menschen, der Engel der Gerechtigkeit und der Engel der Bosheit«.
638 Der Kontrast von Wahrheit und Gerechtigkeit auch in TractTrip NHC 1/5 109,37f; Eug NHC III/3 77,8f; ApcPt NHC VII/3 77,24-26.
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Das Hohelied der Liebe (4,7-21)
werden im Prozeß der Scheidung zwischen einer Welt, die sich gegen Gott verschließt und sich der Führung des Geistes der Täuschung überläßt, und einer Gemeinde, die dem Wort der anfänglichen Verkündigung und seinen Trägern treu bleibt und so dem Wirken des Geistes der Wahrheit Raum gibt. Auch die Traditionsträger müssen schmerzlich erleben, daß ihr Wort auf Ablehnung stößt. Der Briefautor als einer der ihren führt den äußeren Erfolg der anderen auf deren weltkonformes Reden zurück, den nur scheinbaren eigenen Mißerfolg damit implizit auf ein bekenntniskonformes Reden. Gott als der Stärkere schenkt die Glaubenskraft, die den Sieg über die Propagandisten der Gegenseite davonträgt.
2
Das Hohelied der Liebe (4,7-21)
Der nächste größere Sinnabschnitt im letzten Hauptteil reicht von 4,7 bis 4,21. Den Titel »Das Hohelied der Liebe« sind wir für lKor 13 zu reservieren gewohnt. Aber auch im Kanon des AT gibt es eine Schrift, die das »Hohelied« genannt wird und eine Sammlung von Liebesliedern enthält. Wenn wir die Konzentrierung auf das Thema der Liebe in IJoh 4,7-21, die schon rein statistisch zu Buche schlägt639 , in Betracht ziehen, erscheint es sinnvoll, die Überschrift aus dem AT und der Paulusexegese zu entlehnen und auf unseren Text zu übertragen. Im Aufriß des IJoh kommt der Verf. nach 2,7-11 und 3,11-17 (dazu noch das Doppelgebot in 3,23) nun zum dritten Mal auf die Liebe zu sprechen. Jeder dieser Anläufe fällt umfangreicher aus als der vorhergehende. Weite Teile bestehen aus Wiederholungen. Alles Frühere wird substantiell integriert. Daneben setzt jeder neue Anlauf auch eigene Akzente, deswegen der wachsende Umfang, mit dem eine zunehmende Tiefe und Weite des Denkens Hand in Hand geht. Die Zielaussage des Ganzen wird in 4,8c in einem Nebensatz präludiert und in 4,16d thetisch als Hauptsatz ins Zentrum gerückt: »Gott ist Liebe«. Ein Teil der Ausleger vermißt einen Zusammenhang zwischen 4,1-6 und 4,721 64 Er stellt sich aber zwanglos ein, wenn man die Funktion von 3,23-24 als Überleitung zum letzten Hauptteil beachtet. Das Doppelgebot des Glaubens und der Liebe bedarf in seinen beiden Bestandteilen der Ausführung. Das geschieht für den Glauben in 4,1-6, für die Liebe in 4,7-21, für beide zusammen noch einmal in 5,1-5. Außerdem kommt 4,13c wieder auf das Pneuma zu sprechen und 4,15ab auf das Bekenntnis (sowie 4,16ab vermutlich auf das
°.
639 12mal das Substantiv »Liebe«, 15mal das Verb »lieben«, dazu zweimal die Anrede »Geliebte«. Zu den außerchristlichen Belegen und zur Bedeutung von ayCmrj auch in Abgrenzung zu O'toQYii (familiäre Liebe), EQWC; (erotische Liebe) und
I 15-30; O. Wischmeyer, Vorkommen und Bedeutung von Agape in der außerchristlichen Antike, ZNW 69 (1978) 212-238. 640 Pointiert Bonsirven 198: »I! est impossible de decouvrir aucune transition ni aucun lien«.
1]oh 4,7-21: Gliederung
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Zeugen-Wir), woraus sich auch eine direkte Verbindung zwischen den bei den Abschnitten ergibt. Eine verwirrende Fülle konkurrierender Vorschläge ist wieder hinsichtlich der Ab- Gliederung grenzung der kleinen Einheiten zu beobachten641 . Die Anredeformen in 7a und 11a geben nur eine erste Hilfestellung. Evtl. läßt sich auch tv 'toirtc:p in Ba und 17a als Gliederungssignal verwenden, obwohl wir ein tv 'toirtc:p auch in 9a und 10a finden und vor allem für 17a nicht feststeht, ob sich EV 'toirtc:p auf das Voranstehende oder auf das Folgende bezieht. Bei V. 13 und V. 17 liegen denn auch die eigentlichen Schwierigkeiten. V. 13 ist ein typischer Übergangsvers, wie 3,24cde, wo die gleichen Bausteine bereits Verwendung fanden:
3,24cde: Und daran erkennen wir, daß er in uns bleibt, aus dem Geist, den er uns gab.
4,13: Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, weil er uns aus seinem Geist gegeben hat.
Man könnte deshalb versucht sein, 4,13 als Abschluß zur vorstehenden Einheit zu ziehen, in Analogie zu 3,24642 • Aber wegen des doppelten ö'tL-Satzes dürfte tv 'toirtc:p doch auf das Folgende weisen, was einen Einschnitt vor V. 13 sinnvoller erscheinen läßt. V. 16 wird vielfach so unterteilt, daß mit »Gott ist Liebe« in 16d bereits die nächste Einheit beginnt643 , was sich zumal dann zu empfehlen scheint, wenn EV 'tOirtc:p 17a ein rückwärtsweisendes Moment enthält. Maßgebend für die hier vertretene Zuordnung ist die Tatsache, daß die reziproken Immanenzformeln in 13b und 16fg eine Inklusio um die Einheit V. 13-16 bilden (falls man V. 13 lieber zu V. 11-12 zieht, wäre dieses Argument dahingehend abzuwandeln, daß die Immanenzaussagen von V. 13 und V. 16 je eine kleine Einheit abschließen). In V. 19 legt es die inhaltliche Verwandtschaft mit V. 11 nahe, hier den Beginn einer letzten kleinen Einheit zu sehen. Im folgenden wurde versucht, durch die Gestaltung der Zwischentitel bestimmte thematische Aspekte der Liebe herauszuarbeiten, die in den zugeordneten Textstücken an erster Stelle reflektiert werden: der Ursprung der Liebe (4,7-10), die Antwort der Liebe (4,11-12), die Erfahrung der Liebe (4,13-16), die Zukunft der Liebe (4,17-18), die Praxis der Liebe (4,19-21).
a
Der Ursprung der Liebe (4,7-10)
Literatur: Boutry, A., Quiconque aime est ne de Dieu (1 Jean 4,7), BVC 81 (1968) 6670; Canning, R, The Unity of Love for God and Neighbour, Aug(L) 37 (1987) 38-121; Char/ier, c., L'amour en esprit (I Jean 4,7-13), BVC 10 (1955) 57-72; Chmiel, Lumiere 156-212; Dideberg, D., Esprit Saint et charite: L'exegese augustinienne de 1 Jn 4,8 et 641 Ausführliche Übersicht bei Brown 543546; s. auch D.M. Scholer, 1 John 4:7-21, RExp 87 (1990) 309-314, hier 31Of. 642 So Malatesta, Epistles 36f; Thüsing 140; Bonnard 95.
643 Etwa Schneider 168; Williams 49f. Mit Einschnitt zwischen V. 16 und V. 17 dagegen Ross 205; Michl 239f.
246
Der Ursprung der Liebe (4,7-10)
16, NRTh 97 (1975) 97-109.229-250; longe, M. de, To Love as God Loves (I John 4,7), in: ders., Jesus: Inspiring and Disturbing Presence, Nashville 1974, 110-127; Schweizer, E., Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der »Sendungsformel« Gal 4,4f. Röm 8,3f. Joh 3,16f. I Joh 4,9, ZNW 57 (1966) 199-210. S. auch die Lit. zu 4,13-16. 7a
b c d e Ba
b c 9a
b c lOa
b c d
Geliebte, laßt uns einander lieben, weil die Liebe aus Gott ist, und jeder, der liebt64 4, ist aus Gott gezeugt und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt645 , weil Gott Liebe ist. Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe646 , nicht daß wir Gott geliebt haben647 , sondern daß er uns liebte und seinen Sohn sandte als Sühne für unsere Sünden.
Analyse Trotz oder gerade wegen ihrer Eintönigkeit gewinnt die Sprache des Textes nachgerade rhythmisch-poetische Qualitäten. In 7a sind die Anrede 'Ayrotr]1:oL und die Aufforderung ayam:i)J.lEV schon lautlich aufeinander abgestimmt; a/J,:f]Ao'UC; setzt die Alliteration des Anfangsvokals fort; ayfutr] in 7b.8c und ayrotwv in 7c.Ba sorgen für eine erstaunliche klangliche Redundanz in den ersten beiden Versen. In sich chiastisch verschränkt rahmen 7b und Bc eine Antithese, die aus den parallel geführten Sätzen in 7ce und in 8ab besteht648 • Auch V. 9 und V. 10 weisen ein paralleles Grundgerüst auf. Sie enthalten im Vordersatz iN 'tomcp und ayfutr], im Nachsatz folgt eine Sendungsformel 9b/10d mit unterschiedlicher Ziel- und Zweckangabe. In 10bc wird ein antithetisches Satzpaar eingeschaltet, das um das Verb »lieben« herum den Gegensatz TJI.,wiC;/T)!.uiC; vs. amoc;l-frEov aufbaut, Das einleitende iN 'tomcp bezieht sich in 9a und 10a auf das, was folgt. Der Wechsel zwischen Perfekt (9b) und Aorist (IOd) innerhalb der Sendungsformel verbleibt im Bereich stilistischer Variation ohne semantische Valenz.
Erklärung Die Aufforderung, einander zu lieben, gleicht bis in den Wortlaut hinein dem 7 Gebot der gegenseitigen Liebe in 3,11 und seiner Wiederholung in 3,23. WarA ergänzt 'tov {}EOV. Statt des Aorists liest A ein Präsens (wie 7e), K' 'I'~ haben das Perfekt. 646 K liest »die Liebe Gottes«. 647 Perfekt mit B pc, gegen die überwältigende Mehrzahl der Zeugen, die den Aorist haben. 644 645
Buhmann, Analyse 117, rechnet 7cde und 8abc zur Vorlage (mit Vorbehalten); im Komm. (70) reduziert er das auf 7cd und 8ab; »als Sühne für unsere Sünden« in IOd beurteilt er als redaktionellen Zusatz (Redaktion 393). O'Neill, Puzzle 50, beläßt V. 7-8 bei der Grundschrift und nimmt V. 9-11 heraus.
648
l]oh 4,7-8: Erklärung
247
um es in 3,23 »sein [Gottes] Gebot« heißen konnte, wird jetzt näher erklärt. Liebe hat ihren Ursprung bei Gott und ist in ihrem Wesen von diesem Ursprung geprägt. Wenn man 4,4 hinzunimmt, wo zuletzt von den Adressaten gesagt wurde, daß sie aus Gott sind, kann man das Folgende fast nach Art eines Syllogismus daraus ableiten: Die Adressaten verdanken Gott ihre neue Herkunft als Glaubende; die Liebe ist auf Gott als Ursprungs ort zurückzuführen; folglich müssen Glaubende zugleich Liebende sein. Die innere Verschränkung der verschiedenen Topoi, die sich nur schwer begrifflich einholen läßt, wird auch daraus ersichtlich, daß sich in 7de wieder bekannte Versatzstücke anschließen, nämlich Zeugung aus Gott (vgl. 2,29; 3,9) und Gotteserkenntnis (vgl. 4,6). Die Zeugung aus Gott wird in der Vergangenheitsform ausgesagt. Sie liegt, das soll dadurch festgehalten werden, der Praxis der Liebe im eigenen Leben sachlich und zeitlich voraus. Das Üben der Liebe dient als Erkennungszeichen, das Vergewisserung über die eigene Herkunft ermöglicht. Vom Erkennen Gottes wird in 7e in der Präsensform gesprochen, weil Gotteserkenntnis als dauerndes Merkmal der Gemeinschaft zwischen dem Liebenden und dem Gott der Liebe in Geltung bleibt. Erkennen Gottes ist das Korrelat zum Geliebtwerden durch Gott. In 2,4-5 hatte die Gotteserkenntnis das Halten der Gebote Gottes zur Bedingung, doch deutete dort die Vielzahl der Gebote bereits auf das eine Liebesgebot hin. In der Gegenthese in V. 8 8 heißt es in der Vergangenheitsform, daß der Nichtliebende Gott nicht erkannt hat. Der Erkenntnisakt ist noch nicht zustandegekommen oder bereits gescheitert, wie aus der fehlenden Liebe ersichtlich. Im abschließenden Begründungssatz fällt erstmals das bedeutungsschwere Wort, daß Gott Liebe ist. Im unmittelbaren Satzduktus hat es zunächst mit der Erkenntnisproblematik zu tun. Erkennen bedeutet immer auch, dem Erkenntnisgegenstand gerecht werden, vor allem dann, wenn der Erkenntnisvorgang sich in personalen Koordinaten vollzieht. Bei einem Gegenüber, das in seinem Wesen von der Liebe bestimmt ist, muß ein Erkennen, das sich nicht auf die Wirklichkeit dieser Liebe einläßt, notwendigerweise mißlingen. Die Liebe hat auf seiten des erkennenden Subjekts eine erkenntnisleitende Funktion. Im engeren Kontext von V. 7-8 nimmt der definitionsmäßig klingende Satz »weil Gott Liebe ist« die andere Begründung aus 7b »weil die Liebe aus Gott ist« auf. Beides gilt zugleich: »Gott ist Liebe« und »Die Liebe ist aus Gott«, wie in Kap. 1 die beiden Aussagen »Gott ist Licht« (1,5d) und »Er ist im Licht« (1,7b) gleichermaßen zutrafen. Diese Variationsmöglichkeiten warnen davor, die Sätze des Typs »Gott ist ... « zu sehr zu überlasten. Als Hauptsatz kehrt die Zentralthese »Gott ist Liebe« in 4,16d wieder (Weiteres s. dort). In 7c und 8a wird »lieben« absolut gebraucht, ohne Objekt. Von »laßt uns einander lieben« in 7a her wäre man vielleicht geneigt, stillschweigend auch hier »seine Brüder und Schwestern« zu ergänzen und generell auf die geschwisterliche Liebe zu deuten, die geübt oder verweigert wird649. Aber in 4,19a fällt b49
So Sander 234; Bultmann 70.
248
Der Ursprung der Liebe (4,7-10)
das schon etwas schwerer. Es geht vor allem da nicht, wo Liebe als Substantiv absolut verwendet wird, ohne Qualifizierung durch ein Attribut, wie in 10a. In den Kommentaren entbrennt bei jedem nicht eindeutig bestimmten Vorkommen von Liebe oder lieben ein ermüdender Streit darüber, welche Form der Liebe gemeint sei: unsere Liebe zu den Brüdern und Schwestern, unsere Liebe zu Gott oder Gottes Liebe zu uns. Alle drei Formen begegnen mehr oder weniger explizit schon in unserem kurzen Textstück und erst recht im weiteren Verlauf des Abschnitts 4,7-21, unsere geschwisterliche Liebe in 7a (vgl. llb.12b.20e.21c), unsere Liebe zu Gott indirekt in der Negation von lOb (unzweideutiger in 21b, vgl. 20b), Gottes Liebe zu uns in 10c (vgl. lla.19b). Aber der absolute Gebrauch hebt sich davon noch einmal ab und ist trotz bestimmter Akzente, die mitschwingen, nicht auf eine dieser Formen zu reduzieren. Die absoluten Aussagen lassen einen umfassenden Raum der Liebe aufscheinen, der durch Gottes Wesen und Handeln geschaffen wird, die Glaubenden in sich birgt und sie zum Verweilen einlädt. Die ungeschützte, weil absolute Formulierung »jeder, der liebt« in 7c hat auch zu der Überlegung Anlaß gegeben, ob dadurch jeder echten menschlichen Liebe ohne Rücksicht auf Bekenntnis und Glauben göttlicher Ursprung zugesichert werde. Ist »im Sinne des Verfassers« auch eine »von der religiösen Wurzel abgelöste, etwa auf unbewußtem Christentum selbstloser Gesinnung beruhende Menschenliebe der Gotteskindschaft würdig«650? Im Sinne des Verf.liegt das sicherlich nicht. Man kann V. 7 exegetisch nicht derart gewaltsam aus dem Gesamtgefüge herausbrechen, in dem nicht nur die Liebe, sondern auch das Bekenntnis und der Glaube ihren unverrückbaren Platz haben und wo der Glaube, wie wir schon sagten, sich nicht in der Praxis der Liebe erschöpft, sondern der menschlichen Liebe um ihrer selbst willen vorgeordnet wird. Die Verse 9 und 10 tragen sofort Voraussetzungen nach, ohne die V. 7 für den Briefautor in der Luft hängen würde. Eine andere Frage ist es, inwieweit man in einem systematischen Versuch über lJoh hinausgehend allgemein menschliche Liebeserfahrungen, die mehr sind als bloßer Gefühlsüberschwang, mit der Bestimmung des Wesens Gottes als Liebe vermitteln darf. Wir werden zu V. 16 partiell darauf zurückkommen. Wirkungs- Augustinus hat den Satz »Gott ist Liebe« in seinem Gesamtwerk ca. 60mal zitiert und geschichte interpretiert6 51 , im Anschluß an 1Joh 4,8 bzw. 4,16, im Kontext von 1Joh 4J-21 oder auch losgelöst davon. Die Schwerpunkte seiner Deutung haben sich gewandelt, je nach den Herausforderungen, mit denen er sich konfrontiert sah, z.B. in der donatistischen und in der pelagianischen Kontroverse. Wir greifen nur ein Interpretationsmodell heraus, das für die Trinitätslehre von Bedeutung wurde und das sich von der frühen Schrift De fide et symbolo (eine Predigt des jungen Priesters vor den afrikanischen Bischöfen) über den Kommentar zu 1Joh bis in die späten Bücher von De trini650 So Baumgarten 213, der das aber verneint; vgl. jedoch Plummer 100: »If a Socrates or a Marcus Aureliusloves his fellow-men, it
is by the grace of God that he does 50«; diskutiert bei Marshall 211f. 651 Vgl. Dideberg* 99.
249
l]oh 4,7-8: Wirkungsgeschichte; 4,9a: Erklärung
tate verfolgen läßt. Es geht um die Gleichsetzung der Liebe mit dem Heiligen Geist als göttliche Person, die Augustinus aus 1Joh 4,7-8 im Verein mit 4,13 und weiteren Stellen gewinnt. Augustinus selbst scheint, auch wenn er auf namenlose Vorgänger hinweist652 , der erste gewesen zu sein, der diesen Schritt entschlossen tat. Gestützt auf die Beobachtung, daß es in 4,7 heißt: »Die Liebe ist aus Gott«, in 4,8 hingegen: »Gott ist Liebe«, man folglich auch sagen kann: Liebe ist Gott von Gott, nimmt seine Argumentation folgende Form an: »Also gibt es nicht mehr als drei: einen, der den liebt, der aus ihm ist; einen, der den liebt, aus dem er ist, und die Liebe selbst«653. Das ist zwar verwandt, aber nicht schlechthin identisch mit der anderen, noch berühmteren Triade, die besagt, daß es bei der Liebe immer ein Beziehungsgeflecht von drei Größen gibt. Dazu gehören der Liebende, das, was geliebt wird, und die Liebe selbst (amans et quod amatur et amor)654. Die letzte Trias dient Augustinus vor allem dazu, auf dem Umweg über den Zwischengedanken, daß der, der liebt, immer auch die Liebe selbst liebt, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zu begründen655• Entgegen seiner früheren Stellungnahme, in der er auf die Reihenfolge von Subjekt und Prädikatsnomen Wert legte 656 , zeigt sich Augustinus später auch zu einer - im Lat. aufgrund der fehlenden Artikel leichter als im Griech. möglichen - Vertauschung bereit. Man kann auch sagen, dilectio oder caritas Deus es&57, vorausgesetzt, es steht fest, daß mit der Liebe der heilige Geist oder die Liebe als Gabe Gottes gemeint ist658 •
Aus 9a entnehmen wir zunächst eine eindeutige Bestimmung des umstritte- Erklärung nen Syntagmas »Liebe Gottes«. Hier kann nur di~ Liebe Gottes zu uns ge- 9a meint sein, die Gott zum handelnden Subjekt hat. Von dieser festen Basis aus werden kontroverse Stellen wie 2,Sb, 2,lSc oder auch gleich anschließend 4,12d zu erklären sein. Geschichtlich augenscheinlich und erfahrbar geworden ist Gottes Liebe in Jesus Christus (vgl. l,2a)659. Die Zielangabe »in (tv) uns« gehört nicht attributiv als Näherbestimmung zu »Liebe Gottes«, so daß mit »Gottes Liebes zu uns« zu übersetzen wäre (dann sollte besser ein f) vor EV f)f1LV wiederholt werden; außerdem wäre Eie; f)f1ae; in dem Fall die richtigere Wendung gewesen)660, sondern ist zur Verbform zu ziehen. Aber auch dann fragt sich, was »erschienen in uns« bedeuten soll. Die Präposition EV könnte einfach einen Dativ vertreten (»für uns«), oder sie könnte ähnlich wie in Joh 9,3 zu verstehen sein, wo von dem Blindgeborenen gesagt wird, daß »die
De fide et syrnbolo 19 (23,8 CSEL 41): ausi sunt tarnen. quidam ... 653 De trinitate 6,7 (236,30-32 CChr.SL 50). Eine Verwandtschaft mit der Umschreibung des Gottesbegriffes bei Plotin, Enneaden VI 8,15: »Ferner ist er selbst das Liebeerweckende (EQUOftWV) und das Liebesverlangen (EQW\";), er ist Liebe (EQW\";) zu sich selbst«, läßt sich schwerlich leugnen, vgl. aber zu Plotin die Bemerkung bei R. Beutler / W. Theiler, Plotins Schriften. Bd. 4, 1967 (phB 241b), 386: »Die christliche, sich nach unten verströmende Caritas steht fern.« 654 De trinitate 8,14 (290,4). 652
Vgl. dazu Canning* 77-92. De fide et syrnbolo 19 (25, 9fj. 657 Obwohl das selten in dieser Schärfe zu lesen steht, sondern sich meist durch eine Abstraktion der Begriffe aus dem Satzgefüge, in das sie eingebettet sind, ergibt; vgl. etwa De trinitate 15,6 (465,67fj: et per caritatem quae in scripturis sanctis deus dicta est. 658 Vgl. (mit Belegen) Dideberg* 232f; Canning* 95-104. 659 Vgl. Dodd 110: »His activityis loving activity ... definite, concrete and recognizable on the historical plane«. 660 Anders Balz 19lf; Bonnard 92. 655 656
250
Der Ursprung der Liebe (4,7-10)
Werke Gottes an (tv) ihm offenbar werden« sollten661 . Für 4,16c kommen wir damit aus (»die Liebe, die Gott für [tv] uns hat«), aber es ist nicht gesagt, daß 9a unbedingt so gedeutet werden muß wie 16c662. Da es in V. 9-12 mehrere Verbindungslinien zu Joh 1,14.18 gibt, dürfte die einfachste Lösung die sein, das tv in Anlehnung an Joh 1,14 zu verstehen: Die fleischgewordene Liebe hat »unter (tv) uns«, in unserer Mitte Wohnung genommen663 . Das lenkt sicher im weiteren Verlauf auf die Immanenzaussagen über das Bleiben Gottes in uns hin (12c.13b), das ein Geschehen im Raum der Liebe ist, ohne daß aber das Ev fJ!J.LV schon für 9a die gleiche strikte Deutung forderte 664. 9b In 9b benutzt der Verf. die erste von drei Sendungsformeln (die beiden anderen finden sich in 10d und in 14c). Es sind auf engstem Raum die einzigen im ganzen Brief. Dieser Formeltyp665 stammt aus der urchristlichen Tradition (vgl. Gal4,4f; Röm 8,3f, mit anschließendem Lva-Satz). Vorbilder kann man im AT und im Judentum ausmachen. Gott sendet Propheten, er sendet Boten, er sendet Engel (Tob 12,20), er sendet auch die präexistente Weisheit vom Himmel herab (Weish 9,10). In der urchristlichen überlieferung sind die Sendungsformeln mit der Entfaltung der Präexistenzchristologie korreliert. Das Gesandtsein Jesu zählt zu den stereotypen Sprachmustern im Johannesevangelium, taucht aber meist im Munde Jesu als Selbstaussage auf. Daß der Briefautor nicht mehr Jesus selbst sprechen läßt, sondern über ihn und über Gott redet, ist wohl der Grund dafür, warum er das Sendungsvokabular wieder etwas zurücknimmt. Zum massiven Einsatz der Sendungschristologie gerade in diesem Textabschnitt hat ihn die Charakterisierung der Sendung des Sohnes als Liebestat Gottes in Joh 3,16-17 motiviert: »Denn so hat Gott die Welt geliebt, daß er,den einzigen Sohn gab ... Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde«. Die tragenden Begriffe aus Joh 3,16-17 kehren in IJoh 4,911 fast alle wieder. So wird Jesus in 9c wie in Joh 3,16 »einziger Sohn« genannt. !J.OVOYEvfJ~ Das Attribut !JOVoyEVl')c;, in Weish 7,22 für die Sophia gebraucht, trägt im NT nur das
johanneische Schrifttum an Jesus heran, neben den genannten beiden Stellen noch in Joh 1,14.18 und 3,18. Lukas verwendet !JOVoyEVl')c; verschiedentlich für das einzige Kind irdischer Eltern (Lk 7,12; 8,42; 9,38). Attraktiv erscheint auf den ersten Blick der Vorschlag, mit »einzigerzeugt« zu übersetzen666 , -YEVl'JC; also mit der Zeugung der Glaubenden aus Gott, soebtn in 7d erwähnt, zusammenzubringen. Der Vorrang des einen Gottessohnes vor den vielen Gotteskindern bliebe durch IJOVO-, »allein«, hinreichend gewahrt. Aber das hat seine philologischen Schwierigkeiten, weil -YEVIlC; nicht unmittelbar von YEVVä
664 Als direkte Immanenzaussage interpretieren das Ev til-tLV Charlier· 64f; Brown 516.553. 665 Zum Folgenden Schweizer·, 666 Bauer-Aland WB 1067; Mayer 164 (»alleingezeugt«); fragend Haas, Handbook lOB-
l]oh 4,9b-10: Erklärung
251
heißt667 . Die LXX gibt hebr. ,'n', »einzig«, teils mit !WvoyEVft~ wieder (Ri 11,34; vgl. Hebr 11,17), teils mit &.ywt'l']'t6~, »geliebt« (so für Isaak in Gen 22,2.12.16). Die Synoptiker wiederum kennen &.ywt'l']'t6~ als Attribut des Gottessohnes (Mk 1,11; 9,7). !WvoyEVft~ daher »einzig von Art«
Auch wenn man die. verschlungenen Wege über Isaaktypologie und Übersetzungsvarianten nicht mitgehen will, muß man dennoch zugestehen, daß die Erwähnung des einzigen Sohnes den Gedanken an die besondere Liebe nahelegt, die Gott als Vater für diesen Sohn empfindet. Die Liebe Gottes hat nicht nur eine den Menschen zugewandte Außenseite, sondern auch eine Innenseite. Die Liebe als Bestimmung von Sein und Wesen Gottes gewinnt an Tiefe. In Einklang mit Joh 3,17 gibt lJoh4,9b die Welt als Ziel der Sendung des Soh- 9c nes an. Die Zweckangabe in 9c aber lautet nur noch: »damit wir durch ihn leben«. ~tlow!U'v (im Brief nur hier) gehört als Verbform zu ~wf!. Leben als Heilsgut, in Jesus Christus personal erschienen (vgl. l,2a), steht aber nur den Glaubenden zu. Hier sieht sich also die Gemeinde im Gegenüber zur Welt. Das bedeutet nun nicht, daß die Menschenwelt in der Sendungsformel von vornherein nur als Ort der Gottesferne und des Widerstands abgeschrieben würde, sondern: Gott liebt die Welt (Joh 3,16) und rettet sie. Aber nur in der Gemeinde der Glaubenden kommt seine Liebe an ihr Ziel. Nur dort schafft sie, wie es ihrem Wesen und ihrer Intention entspricht, neues Leben. Die Aussage von 10a ist bewußt offen gehalten: Liebe wurde erfahrbar, die 10 Möglichkeit zum Lieben wurde geschenkt, die Dynamik der Liebe wurde in Bewegung gesetzt, nicht durch eine Vorleistung unsererseits, sondern durch das zuvorkommende Handeln Gottes668. Die Aoriste in 10cd deuten auf das historisch verifizierbare, einmalige Christusereignis hin. Haftpunkt der Sendungsformeln war anfangs sicher die Inkarnation, aber das johanneische Denken begnügt sich damit nicht. Wenn 10d die Sendung mit der Sühne für unsere Sünden zusammenbringt - eine Vorgabe, die für die Verheißung des neuen Lebens in 9c anscheinend unverzichtbar ist -, wird die Sendung ausgedehnt auf die gesamte Strecke der Wirksamkeit des irdischen Jesus, denn Sühne der Sünden geschah am Ende, durch den Tod am Kreuz. Die Sühnekonzeption hat der Autor aus 2,2 herübergeholt, wo zu ihrer Verwurzelung im atl. Opferkult das Nötige gesagt wurde. Es fehlt die Fortsetzung aus 2,2c: 667 So JA Fitzmyer, EWNT 11 1081-83, der nur die kontextuelle Nuance »einziggeboren« zugesteht und »einziggezeugt« der Dogmengeschichte zuweist; Hieronymus habe unicus in Joh 1,14.18; 1Joh 4,9 zu unigenitus abgeändert, um die Texte einer arianischen Auslegung zu entziehen. Zu unicum im Syrnbolon vgl. DS 13-15.17 u.ö.; zu unigenitum DS 25.27; daß im Griech. anfangs ein Unterschied gemacht wurde, ist ersichtlich aus der Formel (ulOv) YE'VVI]{tEVta €'K {tEO'Ü :rta'teo~ IIDvoyEVij, s. DS 44 (Epiphanius).48.125 (Ni-
caea). Weitschweifende Spekulationen zu den unterschiedlichen Etymologien bei Paulus 214-216. Ausführlicher zum Ganzen P. Hofrichter, Eingeboren oder Einzig? Zur Übersetzung und Bedeutung des christologischen Titels I-tOVOYEvt')~, in: Uni trinoque domino (FS K Berg), Thaur/Tirol 1989, 195211. 668 Vgl. üdSal 3,3: »Denn nicht verstünde ich den Herrn zu lieben, wenn er mich nicht liebte.«
252
Die Antwort der Liebe (4,11-12)
Sühne auch für die Sünden der ganzen Welt. Programmatisch dürfte diese Auslassung nicht gemeint sein, zumal der Kosmosbegriff im Umfeld in 9b und 14c auftaucht. Zusammen- Die geschwisterliche Liebe, zu der die Adressaten eingangs der Perikope auffassung gerufen werden, ist nicht Forderung, sondern Geschenk. Sie fließt aus der Liebe heraus, die Gott uns erweist, weil es so und nicht anders seinem Wesen entspricht. Diese Liebe bestimmt das innere Verhältnis zwischen dem Vater und dem einzigen Sohn. Aus dieser Liebe erwächst die Sendung des Sohnes in die Welt. Das Zur-Welt-Kommen Gottes in Jesus Christus ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. An der Stelle will Gottes Liebe die Menschen ergreifen und mitreißen, will sie verwandeln zu einem neuen Sein.
b Die Antwort der Liebe (4,11-12) Literatur: Horst, P.W. van der, A Wordplay in 1 Joh 4,12?, ZNW 63 (1972) 280-282; Moore, W.E., 1 John iv. 12a, ET 65 (1953/54) 29f; Shutt, R.].H., 1 John iv. 12a, ET 64 (1952/53) 239f; Spicq, c., Notes d'exegese johannique: La charite est amour manifeste, RB 65 (1958) 358-370. 11a
b 12a
b c
d
Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. Niemand hat Gott je geschaut. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.
Analyse Die kontextgemäße Anrede mit »Geliebte« stellt die letzte Anredeform dieser Art im ganzen Schreiben (mit Ausnahme von »Kinder« in 5,21) dar. Anklänge an das leitmotivisch eingesetzte Gebot der gegenseitigen Liebe enthalten llb und 12b. Mit dem Schauen Gottes in 12a (vgL 14a.20g) und seinem Bleiben in uns in 12c (vgl. 13b.14c. 16fh) werden weitere übergreifende Konzepte eingeführt. Indizien für die Verarbeitung einer Vorlage sind nicht erkennbar669 . Auch die Vermutung, die Erwähnung der Gottesschau gehöre eigentlich zu V. 20 und sei nur aus Versehen nach hier geraten670 , hat nicht viel für sich. Erklärung »Werm Gott uns so geliebt hat« in 11a setzt die in V. 9 begonnene Meditation 11 über Joh 3,16 (»so sehr hat Gott die Welt geliebt ...«) fort. Es folgt aber anders als in Joh 3,16 kein wO'tE-Satz671 • Deshalb ist es keineswegs sicher, daß OÜto)~ 669 Bultmann 73 Anm. 5 zieht die diesbezügliche Überlegung von ders., Analyse 117, zurück. 670 Vgl. Shutt*; Houlden 114; dagegen Moore*. 671 Büchsel70 bringt als Vergleichsstelle Jo-
sephus, Ant 8,173, bei: "Preisen möchte man wohl Gott, der dieses Land und seine Bewohner so sehr (OÜ1:(J)~) geliebt hat, daß er (WOLE) dich zum König machte« (konstruiert wie Joh 3,16).
l]oh 4,11-12c: Erklärung
253
auch hier gedeutet werden muß als »so sehr«, »so überschwenglich«, »dermaßen exzessiv«. Es kann ebensogut und eher noch meinen: »auf solche Art und Weise«, »mittels dieser Liebeserweise«672. Dann steckt in dem unscheinbaren »so« die Sendung Jesu aus V. 9-10, sein Erdenwandel und sein Tod, den der Glaube als liebende Dahingabe des einzigen Sohnes durch Gott versteht. Als Umkehrschluß würde man eigentlich erwarten: Also müssen auch wir Gott lieben, um solche Liebe zu erwidern. Aber die Antwort der Liebe sieht etwas anders aus. Gottes Liebe erschöpft sich nicht im Gegenüber von Vater und Sohn, sondern strömt sich aus und verschenkt sich an Welt und Mensch. Wer in dieses Kraftfeld der Liebe hineingerät, bekommt auch diesen Bewegungsimpuls mit auf den Weg: hin zu den anderen, hin zu den Schwestern und Brüdern. Auf theo-Iogischer Ebene, aber nicht ohne Bindung an das Christusgeschehen, wird also ein Schlußverfahren durchgespielt, das in 1Joh 3,16 schon einmal auf christologischer Ebene ablief. Weil Christus für uns sein Leben hingegeben hat, so hieß es dort, müssen auch wir unser Leben einsetzen, nicht unmittelbar für ihn, sondern für die Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft der Glaubenden (vgl. Joh 13,14; 1Joh 2,6). V. 12 gibt eine erste, in V. 20 erneut aufgegriffene Antwort auf die Frage, war- 12a-c um unsere Gegenliebe sich nicht unmittelbar auf Gott richtet, sondern den »Umweg« über die Brüder und Schwestern nimmt - sofern man angesichts der einheitlichen Gesamtbewegung der Liebe überhaupt von einem »Umweg«, selbst in Anführungszeichen, sprechen mag. Außerdem hat V. 12 im Kontext und in Rückbindung an Joh 1,18 die Funktion, die Notwendigkeit der christologischen Vermittlung für die Erfahrung der intentionalen Liebe Gottes und für die menschliche Antwort der Liebe zu untermauern. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß gut atl.-jüdisch673 aller Erfahrung nach eine direkte Gottesschau674 auf Erden nicht zustande kommt. Die Gottesschau hatte 1Joh 3,2 für den Vollendungszustand reserviert, als eine der wenigen Heilsverheißungen, die in der Gegenwart noch nicht verwirklicht sind. Erst bei der Parusie, wenn offenbar wird, was wir als Gotteskinder endgültig sein werden, können wir Gott schauen, so wie er ist. In den neuen Kontext übertragen hieße das: Erst dann werden wir auch der reinen Liebe ansichtig werden. Wir hatten bei der Auslegung von 3,2 bereits auf eine Aussagenreihe im Johannesevangelium hingewiesen, die in 1,18 am Ende des Prologs beginnt: Niemand hat Gott je gesehen, nur der einzige Sohn hat Kunde ge672 Genau entgegengesetzt die Argumentation von Spicq* 367-369: Nicht »de cette fa~on-Ia«, sondern »d' une manit~re si excessive«; anders Düsterdieck II 298f. 673 Vgl. Ex 33,20; Dtn 4,12; Philo, Post 168:· »Es ist ja unmöglich, daß der seiende Gott von einem Geschöpf überhaupt wahrgenommen wird«; Josephus, Bell 7,346. Weitere Belege und Lit. s. S. 182 mit Anm. 418 674 Ein Wortspiel mit ~E6C; und ~Eäa{tUL, als
Versuch einer Etymologie von ~E6c; vorchristlich belegt, vermutet van der Horst*. Der Wechsel zwischen ~Eäa{tUL in V. 12 und oQäv in V. 20 und an den anderen einschlägigen Stellen hat anders als in 1,lcd keinen bedeutungstragenden Charakter. Wahrscheinlich wurde ~Eäa{tUL hier im Blick auf V. 14a gewählt; dort konnte aus inneren Gründen keine andere Verbform stehen, wie die Erklärung zeigen wird.
254
Die Antwort der Liebe (4,11-12)
bracht (vgl. 5,37; 6,46)675. Dem Evangelisten lag vor allem daran, mit dieser These die Exklusivität des offenbarenden Wirkens Jesu abzusichern, evtl. in Konkurrenz zu jüdischen Lehrmeinungen, denen zufolge wenigstens Mose und Elija einer unmittelbaren Gottesschau gewürdigt wurden. Nur Jesus kann aus eigener Anschauung von Gott reden. Der Brief geht anders mit dem Topos um. Er artikuliert damit eine Absage an alle Versuche, Gott direkter, unmittelbarer sehen zu wollen, sei es an Jesus Christus, sei es an den Brüdern und Schwestern vorbei. Daß dies ein Wunsch seiner Gegner war oder ihrer Überzeugung entsprach, liegt nach allem im Bereich des Möglichen. Der Verf. verweist demgegenüber auf Jesus Christus, der Gottes menschgewordene Liebe verkörpert (vgl. Joh 14,9), und auf die Gemeinschaft der Gotteskinder. Die Immanenzaussage in 12c gewinnt in diesem Fall eine unverkennbar ekklesiologische Färbung. Eine solche Gemeinde und nur sie kann des Bleibens Gottes in ihrer Mitte gewiß sein. 12d Zu 12d wiederholt sich in der Forschung die endlose Diskussion, ob »seine Liebe« unsere Liebe zu Gott bezeichnen will oder Gottes Liebe zu uns 676 • Ersteres erscheint gerade hier kaum möglich. Das Problem, das sich bei dem viel zwangloseren Verständnis als Gottes Liebe zu uns einstellt, hat uns schon zu 2,5b einige Schwierigkeiten bereitet: Wie kann von Gottes eigener Liebe gesagt werden, daß sie zur Vollendung findet? Trägt das nicht einen Prozeßcharakter in den Gottesbegriff hinein, der seine Einheitlichkeit gefährdet? Wir sagten schon zu 2,5, daß Gottes Liebe in ihrer Ausrichtung auf uns hin ihre Vollendung findet in der Lebenshingabe seines Sohnes und daß sie bei den Glaubenden an ihr Ziel gelangt, wenn sie sich in diese Bewegung hineinnehmen lassen bis zum Einsatz ihres eigenen Lebens für die anderen. Zusammen- Die beiden Verse sind eingeschaltet zwischen den Abschnitt über den Ursprung der Liebe in 4,7-10 und den thematisch verwandten Abschnitt über fassung die Erfahrung der Liebe in 4,13-16. Im Gesamtgefüge des Hohenliedes der Liebe stehen sie in besonderer Nähe zu den Ausführungen über die Praxis der Liebe in 4,19-21. Die Bewegung der Liebe, die von Gott ausgehend uns ergreift, verlangt eine Antwort, und diese Antwort muß in der Praxis gegeben werden. Nur wo Glaubende in Gemeinschaft geschwisterliche Liebe üben, findet Gottes Liebe eine dauernde Bleibe, gewinnt sie jene Vollendung, für die eine Antwort des Menschen unverzichtbar ist.
675 Zum religionsgeschichtlichen Umfeld vgI. R. Buhmann, Untersuchungen zum Johannesevangelium B, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testa-
ments, Tübingen 1967, 174-197; Strecker 238f; zum joh. Befund Theobald, Fleischwerdung 362-371. 676 Dokumentiert von Brown 521.
255
1Joh 4,13-16: Übersetzung, Analyse
Die Erfahrung der Liebe (4,13-16)
c
Literatur: Coetzee, /.c., The Holy Spirit in 1 John, Neot 13 (1979) 43-67, hier 55-61; Dalbesio, A., Alcuni aspetti esperienziali della m~TI~ edelI' ArAllH in 1Gv, Laur. 29 (1988) 3-34; Feuillet, A., »Dieu est amour«, EeV 81 (1971) 537-548; Greenlee, /.H., A Misinterpreted Nomen Sacrum in p9, HThR 51 (1958) 187; lüngel, E., Gott ist Liebe. Zur Unterscheidung von Glaube und Liebe, in: Festschrift für Ernst Fuchs, Tübingen 1973, 193-202; Malatesta, E., Ti]v ay6.mJv Ev (sie) EXEL Ö i}Eo~ EV T]!lLV: A Note on 1 John 4:16a, in: The New Testament Age (FS B. Reicke), Macon 1984, Bd. 2, 301311; Schütz, E., Die Vorgeschichte der johanneischen Formel: Ö i}Eo~ ayanT] E
13a
b c i4a b c
iSa b c i6a b c
d e f g
Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns aus seinem Geist gegeben hat. Und wir - wir haben geschaut und bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat als Retter der Welt. Wer bekennt, daß Jesus677 der Sohn Gottes ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott678 • Und wir - wir haben erkannt und haben geglaubt679 die Liebe, die Gott680 zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.
1 Bei der vorgeschlagenen Abgrenzung (s.o.) weist der Abschnitt drei Immanenz- Analyse formeln auf, am Anfang in 13b, in der Mitte in 15c und am Schluß in 16efg681 . Sie haben die Besonderheit, daß sie in allen drei Fällen reziprok gestaltet und mit dem Verb !!EvELV gebildet sind. Eine Steigerung ist zu erkennen, insofern IAiVELV am Ende in 16efg gleich dreimal vorkommt. Von dem so erreichten Achtergewicht wird auch die These »Gott ist Liebe« in 16d erfaßt. An traditionellem Gut bietet 14c eine Sendungsformel (vgl. 9b.10d) und 15b einen Bekenntnissatz (vgl. 2b). Als weiterer auffälliger Zug wäre noch die Parallelität von 14ab und 16ab zu vermerken: Jeweils ein emphati677 B ergänzt "Christus«, wohl in Angleichung an 4,2. 678 p9 liest ö {}EOC; (oder umoc;) fv um0
EO'tLV.
Die Perfektform wird von A in das Präsens umgewandelt. 680 Nach Greenlee* ist für p9 hier XQLO'tOC; als Lesart zu rekonstruieren. 679
Bultmann, Analyse 118, rechnet 16efg zur Quelle, kommt im Komm. darauf aber nicht zurück; O'Neill, Puzzle 50f, will in 13c16c die Hand des Glossators erkennen; ein ähnlicher Verdacht für 13a-16c schon bei Loisy 566. 681
256
Die Erfahrung der Liebe (4,13-16)
sches »und wir« als Einleitung, dann je zwei Verbformen, mit einer Ausnahme im Perfekt. Ob das Rückschlüsse auf die Abgrenzung der Wir-Gruppe(n) zuläßt, werden wir bei der Auslegung vordringlich fragen müssen. 2 V. 13 ist, für sich betrachtet, eine fast wörtliche Wiederholung von 3,24cde. Abgesehen vom semantisch wenig signifikanten Tempuswechsel (ÖEöWXEV 13c statt eöwxEV 24e) gibt es zwei Unterschiede: Die Immanenzformel ist in 3,24d nicht reziprok aufgebaut (wohl aber unmittelbar zuvor in 24b), und in 24c heißt es zwar auch »aus dem Geist«, was dort aber von »wir erkennen« abhängig ist, nicht wie in 13c von ÖEÖWXEV. Die stereotype Einleitung »daran erkennen wir« muß auf das bezogen werden, was folgt: Wir erkennen unsere Immanenz mit Gott (erster Ö1:L-Satz als Inhalt des Erkennens) an der Gabe des Geistes (zweiter Ö1:L-Satz als Kriterium des Erkennens).
Erklärung Das Bleiben Gottes in unserer Mitte war soeben in 12bc zu unserer Praxis der 13 gegenseitigen Liebe in Relation gesetzt worden. V. 13 baut den Immanenzgedanken weiter aus durch die Hinzufügung des Pendants, unseres Bleibens in Gott, gibt ihm damit zugleich eine mehr individuelle Wendung, die in V. 15 und 16 vorherrscht. Der partitive Genitiv »aus seinem Geist« gewinnt Profil durch einen Vergleich mit Joh 3,34: Seinem Gesandten, der sein Wort spricht, gibt Gott den Geist ohne Maß. Christus allein ist der Geistträger schlechthin. Es ist damit nicht gesagt, daß die Glaubenden nur einen genau zugemessenen Bruchteil vom Geist erhalten682 oder daß im Anschluß an die paulinische Charismenlehre an die vielen verschiedenen Geistesgaben zu denken wäre683 • Aber der Geist bleibt Gottes Geist und geht zur Gänze nur auf Christus über. Was Gott aus diesem Geist allen Glaubenden gibt, beruht dennoch auf wesenhafter Selbstmitteilung und Selbsterschließung (nicht zuletzt, weil er selbst Geist ist, vgl. Joh 4,24). Da auch die Liebe zum Wesen Gottes gehört und im Kontext bevorzugt von ihr gesprochen wird, drängt sich eine Assoziation zu Röm 5,5 förmlich auf: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den heiligen Geist, den er uns gab«. Man muß dann aber auch den Nachsatz Röm 5,6 mithören: Christus starb für uns gottlose Sünder. Nicht umsonst folgen in 1Joh 4,14-15 Formeln aus dem urchristlichen Glaubensgut, die Gottes Liebestat im Christusereignis festmachen. Im Sinn der Abschiedsreden des Evangeliums verlängert der Geist die Sendung Jesu, die als der Liebeserweis Gottes schlechthin einmalig und unwiederholbar bleibt, in die Gegenwart des Glaubens hinein. Der Geist erscheint somit in V. 13 trotz des Kontextes nicht exklusiv als Träger göttlicher Liebe, sondern in der Linie des Doppelgebotes von 3,23 ebenso sehr und mehr noch als Träger des Glaubens 684, der allein den Zugang zu der göttlichen Lebens- und Liebeswirklichkeit eröffnet. Von der Erfahrung der Liebe Gottes in Jesus, seinem
Vgl. den Einwand von Baumgarten 214: »entweder ganz oder gar nicht, nie aber stückweise«. 682
683
Letzteres bei Estius 732 (de varietate cha-
rismatum); Chaine 205. 684
306.
Vgl. vor allem la Potterie, Verite 297-
l]oh 4,13-14b.16ab: Erklärung
257
Sohn, vom Zeugnis dafür und vom gläubigen Bekennen handeln die folgenden Verse. »Wir haben geschaut und bezeugen« in 14ab schlägt eine Tonart an, die uns 14ab aus dem Briefprolog noch im Ohr klingt. »Was wir geschaut haben« (1,1d), sagten dort die Traditionsträger von sich, das »bezeugen wir« (1,2c). Aus dem Evangelium tritt der Satz über den Lieblingsjünger in 19,35 hinzu: »Der das gesehen hat, hat Zeugnis darüber abgelegt«. Verwendet 1Joh 4,14 also die gleiche exklusive Wir-Form, die der Briefprolog für die Augenzeugen und Mitglieder der johanneischen Schule reservierte und die sich evtl. auch in 4,6 für einen kurzen Moment wieder in den Vordergrund geschoben hatte (s.o.)? Gegen eine Einschränkung auf das Wir der Augenzeugen kann man einwenden, daß der Briefprolog zwischen »sehen« und »schauen« einen Unterschied machte. Nur das Sehen bezieht sich auf die historische Faktizität, die für sich genommen noch nicht viel besagt. Das Schauen verweist auf die vertiefte Einsicht, zu der nur der gläubige Blick der Jünger vordringt. Hier in 14a steht nun »schauen«, nicht »sehen«. Beibehalten wird aus dem Briefprolog ansonsten nur noch das eher zeitlose Bezeugen. Die massiven Aussagen über das Hören mit eigenen Ohren und über das Betasten mit den eigenen Händen fehlen. Als Objekt unmittelbar des Bezeugens, indirekt auch des Schauens dient in 14c ein Stück aus dem urchristlichen Formelschatz. Jeder Glaubende könnte diese rückblickende Zusammenfassung des christologischen Heilsereignisses nachsprechen, was selbstverständlich auch für das Bekenntnis in V. 15 gilt. Wir kommen damit zu V. 16ab, wo von der Wir-Gruppe nur noch festgestellt 16ab wird, daß sie erkannt und geglaubt hat. Das verträgt, sollte man meinen, keine Eingrenzung mehr, hier muß das Wir kommunikativ gebraucht sein und die ganze Gemeinde einschließen. Aber selbst dabei ist Vorsicht am Platz. Die Perfektform fällt auf, und in Joh 6,69 sagt Petrus im Namen der Jünger: »Und wir haben geglaubt und haben erkannt«. Folgende Erklärungsmodelle werden vertreten: (a) Das Wir bezieht sich in V. 14 und Wir-Form in V. 16 mexklusiv auf den johanneischen Zeugenkreis bzw. auf die Apostel685; (b) das Wir ist in V. 14 und in V. 16 kommunikativ zu verstehen und gilt von der Gesamtheit der johanneischen Christen686; (c) das Wir meint in V. 14 die Augenzeugen und Traditionsträger aus dem Briefprolog, in V. 16 hingegen unterschiedslos alle Glaubenden687• Die zuletzt genannte Lösung verdient den Vorzug. Der Wechsel von einem kommunikativen Wir der Gesamtgemeinde in V. 13 zum exklusiven Wir der Schule in V. 14 und wieder zurück zum kommunikativen Wir in V. 16 erscheint sicher hart, aber angesichts der stilistischen Eigentümlichkeiten des 1}oh nicht unmöglich. Zwi685 De Ambroggi 263; Rothe 149.15lf; Wolf 213.215. 686 Bruce 111; Brown 522f; Marshall 220f. An ein »editorial >we<<< in V. 14 denkt (als Möglichkeit) Smith 192.
687 Bisping 353; Düsterdieck II 311-313; Schnackenburg 242.244; Wengst 187.190.
258
Die Erfahrung der Liebe (4,13-16)
sehen V. 13 und V. 14 genügt das herausgehobene )tUL f) fl.€i:I; als Textsignal für den Referentenwechsel, und zwischen V. 14 und V. 16 wird der Wechsel durch V. 15 inhaltlich hinreichend vorbereitet und begründet.
Als Interpretationsfolie bietet sich die Thomasperikope Joh 20,24-29 an688 . Hier begegnet uns jemand, der nicht gesehen hat, diese Möglichkeit exzeptionellerweise noch einmal eingeräumt bekommt, sich am Schluß aber sagen lassen muß: »Selig, die nicht sehen und zum Glauben kamen« (V. 29). Solche Fragen bleiben virulent: Haben die ersten Zeugen den späteren Christen nicht Entscheidendes voraus? Bedeutet dies nicht eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Nachgeborenen? Der Briefprolog mit seiner Differenzierung zwischen Traditionsträgern und Gemeinde provoziert geradezu solche Einwände. V. 14-16 gibt darauf implizit eine Antwort. In V. 14 sprechen noch einmal die Traditionsträger, aber das eigentlich Historische wird bewußt zurückgeschraubt. Wichtig ist schon für die ersten Zeugen nicht das Sehen, sondern das Schauen mit den Augen des Glaubens, wichtig ist das andauernde Bezeugen. Eingegangen sind alle wichtigen Daten in die urchristliche Glaubenstradition, deshalb die Sendungsformel in 14c. Die Adressaten haben keinerlei Nachteile, wenn sie sich nur in dieses Kontinuum hineinstellen, und das tun sie, wenn sie das Bekenntnis von V. 15 aussprechen (auch Thomas blieb in 20,28 zuletzt nur das Bekennen). Mit dem zweiten Wir-Satz in V. 16 rücken die Adressaten in der Sache auf eine Stufe mit den Traditionsträgern. Das Schauen und Bezeugen wird transformiert ins Erkennen und Glauben. Briefprolog und V. 14-16 ergänzen sich also. Im Prolog hat der Autor die historische Rückbindung der Jesustradition in ihrem Kernbestand abgesichert und festgeschrieben, was notwendig wurde angesichts der Herausforderungen durch die Gefahr einer geschichtslosen Theologie, der die Gegner mehr und mehr zuneigten. Hier nun nimmt der Verf. auf einer anderen theologischen Ebene eine ihm ebenso notwendig scheinende Relativierung vor. Historische Rückbindung ist unentbehrlich, aber sie ist nicht alles. Historische Fakten bleiben tot, wenn sie nicht gläubig gedeutet werden. Der Zugang zu Jesus im Glauben aber ist auch den Nachgeborenen möglich. Das stimmt im übrigen auch, und das ist eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit, mit der Position des Verf. in der Amtsfrage überein (s. zu 2,27). Das historische Prä wird nicht überführt in ein strukturelles Prä. Was die Traditionsträger im Briefprolog den anderen Glaubenden voraus haben, legitimiert nicht ihren Führungsanspruch in der Gemeinde. Es soll nur einen Dienst leisten bei der Absicherung des Bekenntnisses, das die ganze Gemeinde spricht. Lenken wir nach dieser Bestimmung der Stoßrichtung der Perikope insgesamt zur Besprechung von einigen wichtigen Einzelbeobachtungen zurück. 14a Innerhalb des Hohenliedes der Liebe steht »wir haben geschaut« in 14a in einem Kontrast zu »niemand hat Gott je geschaut« in 12a. Geschaut werden 688
Vgl. den Hinweis bei Brooke 122.
259
l]oh 4,14c: Soter
kann nur das, was an Gott anschaulich geworden ist. Anschaulich wurde die Liebe Gottes in Jesus Christus. Das Schauen in V. 14 berücksichtigt den Vorbehalt von V. 12. Geschaut wird Jesus Christus, und es ist eine Sache des Glaubens, in ihm die Selbsterschließung Gottes wahrzunehmen. Die Sendungsformel in 14c, die dritte nach 9b und 10d, verwendet den eher seltenen 14c christologischen Hoheitstitel »Retter (am·tfu~) der Welt«. Die zugehörige Verbform findet sich im Evangelium in Joh 3,16-17, einer Stelle also, die schon in V. 9-10 als Grundlage diente: »damit die Welt gerettet werde (ao:rltfJ) durch ihn«. Die LXX verwendet aU)'t'llQ ohne besondere terminologische Verfestigung als Gottes- amulQ prädikat689, ebenso Philo, der aber zum Psychologisieren neigt (vgL All 3,27: Gott als Retter der Seele; ebenso Conf 93: »Welcher Vernünftige würde nicht ... zu Gott, dem einzigen Retter, schreien, er möge ... Lösegeld und Kaufpreis für die Rettung der Seele entrichten? «). Als Messiasbezeichnung wird awtilQ, soweit wir wissen, nicht gebraucht. Der breite Verwendungsbereich von awtilQ im Griech. zeigt sich bei Cicero, der an einer bekannten Stelle seiner Verwunderung darüber Ausdruck gibt, daß man awtilQ im Lat. gar nicht mit einem Wort wiedergeben könne, und schließlich definiert, awtilQ sei jemand, der Heil schafft (qui salutem dedit, vgL In Verrem II 2,154). Den Titel awtilQ bekommen im Hinblick auf ihre rettende und helfende Tätigkeit beigelegt690: Zeus als höchster Gott 691, die Dioskuren 692, der Heilgott Asklepius 693, die ägyptischen Gottheiten Isis und Osiris 694. Von der Diadochenzeit an findet awtilQ zunehmend Eingang in den Herrscherkult und schließlich in den römischen Kaiserkult. Schon Julius Caesar wird inschriftlich als 'KOlVOV 'tov Ö.vfrQWJtlo1.J j3lo1.J awTijQu (SIG3 760) gerühmt. Ähnlich heißt es von Augustus auf der Inschrift von Priene (OGIS 458), er sei ein Retter, weil er den Frieden brachte. Nero gilt als awTijQu ... Tijc; OLX.01.Jf.lEvrJC; (OGIS 668), und von Kaiser Hadrian (117-138 n.Chr.) schließlich wird gesagt, er sei »Retter der Welt«695. Im NT taucht awtilQ als christologischer Hoheitstitel nur zögernd auf. Nach der frühen Verwendung durch Paulus in Phil3,20 bieten die Mehrzahl der Belege dafür - und für awtilQ als Gottesprädikat696 - die späten Pastoralbriefe und die lukanischen Schriften697. Eine gewisse Vorliebe für awtilQ als Christustitel entwickelt die valentinianische Gnosis698 . In den Nag-Hammadi-Schriften fällt die Verwendungsdichte unterschiedlich aus. Eine ausgesprochene Konzentration weist z.B. der Tractatus Tripartitus auf699. VgL G. Fohrer, ThWNT VII 1013. Zum folgenden vgL W. Foerster, ThWNT VII 1004-1012; Spicq, Notes m636641. Aus der Lit. nur Deißrnann LO 311f; Bousset, Kyrios (s.o. Anm. 421) 240-246; H. Linssen, eEOL LQ1HP. Entwicklung und Verbreitung einer liturgischen Formelgruppe, JLW 8 (1928) 1-75, bes. 50-65; F.J. Dölger, Der Heiland, AuC 6 (1950) 241-272, bes. 257-263. 691 Xenophon, An I 8,16. 692 Horn Hyrnn 33,6. 693 Aelius Aristides, Or 52,4: aw'ri)Q '{mv ö'Awv. 689
690
Arternidor, Oneirocr 2,39. VgL Linssen (s. Anrn. 690) 70f; W. Weber, Untersuchungen zur Geschichte des Kaisers Hadrianus, Leipzig 1907, 225.229. 696 Z.B. Lk 1,47; 1Tirn 1,1; 2,3. 697 VgL beispielhalber Lk 2,11; Apg 5,31; Tit 1,4; 2,13; dazu noch 2Petr 1,11 u.ö. 698 VgL Irenäus, Haer I 1,3; 2,6. 699 In TractTrip NHC V5 87,7 neben einer Reihe von weiteren Hoheitstiteln, unter denen "Sohn« sich als der Führende herausstellt, dann sehr dicht (11mal) in 113,11 116,28. 694
695
260
Die Erfahrung der Liebe (4,13-16)
An einer einzigen, dafür aber sehr signifikanten Stelle kommt OO)'tTIQ mit der im NT sonst fehlenden Näherbestimmung taU x6oJA.ou auch im Johannesevangelium vor. Dort sagen die Samariter am Schluß der Erzählung von Jesus und der Samaritanerin: »Wir selbst haben gehört und wir wissen, daß dieser wahrhaftig der Retter der Welt ist« (Joh 4,42). Eine direkte Bezugnahme auf den Herrscher- bzw. Kaiserkult und eine polemische Absetzung davon wird im johanneischen Schrifttum an beiden Stellen noch nicht vorliegen. Aber daß gerade den nichtjüdischen Samaritanern das Bekenntnis zu Jesus als »Retter der Welt« in den Mund gelegt wird, verrät doch Absicht. Die mögliche Rezeption von christologischen Hoheitstiteln und ihr Verständnishorizont außerhalb des Judentums werden ein Stück weit bereits mitbedacht. Der Kosmos rückt dabei wiederum als Ziel der Rettungsaktion Gottes ins Blickfeld. 15 Die Antwort auf das Zeugnis der ersten Zeugen, das in die Glaubenstraditionen eingegangen ist, gibt das Taufbekenntnis. 15b bietet es in der für die johanneische Gemeinde wohl geläufigeren, in 5,5 wiederkehrenden Fassung »Jesus ist der Sohn Gottes« (statt »der Christus« wie in 2,22; 5,1). Der Sohnestitel ergibt sich zwanglos von den drei Sendungsformeln in V. 9, V. 10 und V. 14 her, die ihn ebenfalls enthalten. Daß dieses Bekenntnis im Kontext die Aufgabe hat, den Unterschied zwischen Traditionsträgern und »einfachen« Gläubigen in der Sache einzuebnen, wurde oben schon herausgearbeitet. Ebenso wie dem Halten der Gebote in 3,24 und dem Empfang des Gottesgeistes in 4,13 gilt auch dem Festhalten am Taufbekenntnis die Verheißung des Bleibens, die in 15c wie in den beiden genannten Versen reziprok gehalten ist. Sie markiert einen weiteren Schritt in der Klimax auf 16efg hin. 16ab Das Gegründetsein im rechten christologischen Bekenntnis gibt der angeredeten Gemeinde die Gewißheit, die der Verf. in 16ab für sie zum Ausdruck bringt mittels der perfektischen Aussage »wir haben erkannt und haben geglaubt«. Ganz ähnlich leitet Joh 6,69 das Bekenntnis des Petrus ein: »wir haben geglaubt und erkannt«. Das Perfekt ist gesetzt, weil das Vergangene die Gegenwart und Zukunft derer, die so reden, bleibend bestimmt. Eine tiefgründige Theorie über ein anfängliches Erkennen, das zum Glauben führt, der wiederum tieferes Erkennen zur Folge hat, ist aus der unterschiedlichen Abfolge von Glauben und Erkennen in 1Joh 4,16 und Joh 6,69 schwerlich abzuleiten700, da »für Johannes erkennen und glauben nur zwei Seiten eines Aktes sind«701. Etwas überraschend erscheint hier die Liebe als Akkusativobjekt zu glauben. Das hängt mit dem komplexen Doppelcharakter des Ausdrucks zusammen, der es ermöglicht, Liebe zugleich als Objekt von erkennen anzusehen wie in 1Joh 3,16 702. Außerdem konkretisiert sich die Liebe in dem, was sonst in den ötL-Sätzen (Joh 6,69) steht oder auf die Präposition E~ folgt (lJoh
700 701
Anders Chaine 206. GaugIer 239.
702
Vgl. la Potterie, Verite 302f.
Ijoh 4,16cd: Erklärung
261
5,10), sie konkretisiert sich in Jesus Christus, dem Gottessohn, an den wir glauben. Gott hat diese Liebe »in uns« (so wörtlich im Griechischen: Ev TJILLV). Die 16c Grammatik des Koinegriechisch erlaubt es, EV gelegentlich im Sinne von E~ aufzufassen703 und zu übersetzen: »an uns«, »zu uns«. In Joh 13,35 lesen wir: »Wenn ihr Liebe habt Ev aMftÄ.o~«, was nur bedeuten kann: Liebe haben zueinander. Dennoch wird Ev TJILLV in 16c vielfach im Sinn der johanneischen Immanenz verstanden. Gemeint sei die Liebe, die Gott in unserem Inneren weckt, die fortan im Glaubenden bleibt und in ihm wirkt 704. Von Gottes Weilen Ev TJILLV war in 12c und 13c die Rede, obwohl dort, vor allem im ersten Fall, eine mehr ekklesiologische Ausrichtung auf das Verweilen Gottes inmitten seines gläubigen Volkes mitschwingt. Die eindeutigen Immanenzsätze in 15c und 16fg stehen im Singular. Der Versuch, sie kontextuell auf das Verständnis von 16c einwirken zu lassen, liegt verführerisch nahe. Aber zwingend ist er trotz allem nicht. In Rückbindung an das Zeugnis der Traditionsträger, an die Glaubenstraditionen und an das Bekenntnis von V. 14-15 steht in 16abc noch die Liebe im Vordergrund, die von außen auf uns zutritt und uns begegnet. Daß ihre Interiorisierung, ihre Verinnerlichung und existentielle Aneignung, ein Hauptthema des ganzen Abschnitts ist, soll damit nicht bestritten werden. Im Zentrum der Ausführungen über die Liebe steht die in 4,8 in einen Neben- 16d satz eingebettete, jetzt als Hauptsatz wiederkehrende Feststellung »Gott ist Liebe«. Sie ähnelt zwei anderen thetisch oder definitorisch klingenden Sätzen bei Johannes, nämlich »Gott ist Licht« in 1Joh 1,5 und »Gott ist Geist« in Joh 4,24. Drei Gemeinsamkeiten dieser drei Sätze, die etwas Wesentliches aussagen über Gottes Wirklichkeit, ohne sie erschöpfend zu definieren, seien festgehalten: 1 Alle drei Sätze haben eine christologische Voraussetzung. Wir wissen, daß Gott Liebe ist, weil wir es an der Sendung seines Sohnes ablesen können. Wir wissen, daß Gott Licht ist, weil Jesus als Licht in die Welt gekommen ist (aufschlußreich dafür die Verschiebung von der christologischen lichtmetaphorik des Evangeliums zu der theologischen des Briefes). Bei der Geistaussage liegt das nicht ganz so klar zutage. Aber im Johannesevangelium verhält es sich so, daß der Geist erst freigesetzt werden kann, als Jesus fortgeht und weil Jesus fortgeht. Ohne Jesu Weggang in den Tod gäbe es nicht die Erfahrung des Geistes, der Geist Gottes ist. 2 Alle drei Sätze motivieren einen Handlungsimpuls, der seinerseits ekklesiologisch verortet ist. Beginnen wir diesmal von vorne, bei der vermutlich äl-
Vgl. Bl-Debr-Rehkopf § 205/218. Vgl. vor allem Malatesta· (mit einer Auflistung der Forschungslage); ein energischer früher Vertreter der Immanenzdeutung 703
704
ist Candlish 407: Gottes Liebe »becomes a moving principle and power from within ... it finds access to the innermost recesses of our moral and spiritual being«.
262
Die Erfahrung der Liebe (4,13-16)
testen Stelle. »Gott ist Geist« wird im gleichen Vers noch überführt in die Forderung: Also ist es notwendig, ihn zu verehren in Geist und Wahrheit, was im Raum der Gemeinde geschieht, die vom Geist erfüllt ist und aus Gottes Wahrheit lebt. »Gott ist Licht« wird aufgenommen durch den Imperativ: Also müssen wir im Licht wandeln, um Gemeinschaft miteinander zu haben (1Joh 1,7). »Gott ist Liebe« zielt im Textgefälle auf das Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in der Gemeinschaft der Glaubenden. 3 In allen drei Sätzen sind Subjekt und Prädikat unumkehrbar, sie dürfen nicht vertauscht werden. Das steht rein grammatisch aufgrund des Artikelgebrauchs außer Frage: Gott (ö ßEOt; mit Artikel) ist Subjekt; Geist, Licht und Liebe (ohne Artikel) gehören zum Prädikat. Bei einer Umkehrung könnte das Göttliche z.B. gleichgesetzt werden mit dem menschlichen Geist, der in seltenen Sternstunden zu überragenden Leistungen von inspirierter und schöpferischer Kraft fähig ist. Es könnte der Gedanke aufkommen, das Licht als Gottheit anzusehen und zu verehren, was, wie schon zu 1,5 ausgeführt, alles andere als eine künstliche Konstruktion ist. Es bestünde schließlich bei der . Erhebung der Liebe zum Subjekt die Gefahr, daß, so Bultmann, »ein Wissen um das Wesen Gottes abgeleitet würde« aus einer »allgemeine(n) menschliche(n) Möglichkeit<<705 unter Verzicht auf ein Offenbarungsgeschehen (bzw. im Verein mit einer radikalen Uminterpretation des Offenbarungsbegriffs). Wirkungs- Nun hat kein Geringerer als Karl Barth behauptet, selbstverständlich dürfe man den geschichte Satz auch umkehren und sagen: »die Liebe ist Gott« (so wörtlich KD IV/2, 858). Das geht aber auch nach Barth nur unter der Voraussetzung, daß von vornherein »die beiden Begriffe denselben Inhalt« (ebd.) haben, nur so ist die Umkehrung gegen Mißverständnisse geschützt. Die Absicherung führt Barth, von seinem dialektischen Ansatz her nur konsequent, so durch, daß er die christliche Liebe grundsätzlich von der menschlichen Liebe trennt, sie hat »mit keiner von den Gestalten dieser anderen, auch nicht mit den höchsten und reinsten unter ihnen« (ebd. 834), etwas zu tun. Dagegen wäre zu fragen, ob nicht ohne ein Vorverständnis auf seiten des Menschen, ohne ein intuitives Wissen darum, was Liebe eigentlich sei, auch ein Satz wie »Gott ist Liebe« ungehört im Leeren verhallt. Von Gott als Liebe sprechen wir ein Stück weit immer in Analogie zu den Erfahrungen, die Menschen mit der Liebe machen. Die theologische Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, daß eine hilfreiche Analogie nicht unter der Hand umkippt in Identität. Der daraus entstehende Satz »die Liebe ist Gott« würde in diesem analogen Denkrahmen in der Tat besagen, daß mehr nicht erforderlich ist, als daß sich unter Menschen Liebe ereignet, und daß wir einer Verdichtung dieser Erfahrungen den Namen Gott beigelegt haben706 • Es mag vielleicht so scheinen, als würden wir hier nur Spiegelfechtereien mit theoretischen Möglichkeiten und Befürchtungen durchführen. Dem ist nicht so. Auch Ludwig Feuerbach, der einige der schärfsten Waffen im Arsenal des theoretischen Atheismus der Neuzeit geschmiedet hat, geht in seinem Werk »Das Wesen des Chri-
705
Bulnnann 71.
706
Hans Weder bemerkt dazu (in einer
Randglosse im Manuskript): »Was brauchte es denn mehr??«
1Joh 4,13-16: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
263
stentums« (1841) davon aus: »Gott ist die Liebe. Dieser Satz ist der höchste des Christentums«707. Diesen Zentralsatz, in den er unter der Hand den Artikel vor Liebe eingeschmuggelt hatl° 8, interpretiert er aber so, daß Liebe als Subjekt erscheint und Gott als Prädikat, »denn Gott ist nichts anderes als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit<<709. Die Menschen haben ihre eigenen Erfahrungen mit der Liebe in den Himmel projiziert und sich den Gott, dem sie die Liebe als Attribut beilegen, selbst geschaffen. Diesen Vorgang gilt es im Interesse des Menschen wieder rückgängig zu machen, was nicht unmöglich erscheint, ist doch »die Liebe eine höhere Macht als die Macht der Gottheit. Die Liebe überwindet Gott«710. Zwischen Glaube und Liebe tut sich eine unüberwindliche Kluft auf, weil der Glaube an einen anderen Gott den Menschen mit sich selbst entzweit, die Liebe hingegen ihn erkennen läßt, daß er in der Verehrung Gottes immer nur sein eigenes, wahrhaft menschliches Wesen verehrt hatll l . Deshalb fordert Feuerbach, Gott und den Glauben zu opfern, um die Liebe als menschliche Möglichkeit zu retten.
Menschliche Liebe, so sagten wir, bildet den Erfahrungshorizont, der eine Zusammenanaloge Sprachbewegung ermöglicht, aber das ist nicht dasselbe wie die Hy- fassung postasierung und Selbstvergöttlichung der Liebe bei Feuerbach. Die innere Relation von Glaube und Liebe, die IJoh herstellt und die vom Menschen aus betrachtet sogar eine Vorordnung des Glaubens und ein Angewiesensein der Liebe auf den Glauben einschließt, kann christlich gesehen nicht überspielt werden. Daß Gott nicht nur Liebe hat und Liebe übt, sondern selbst Liebe ist, weiß nur der Glaube, und er weiß es aus der Geschichte des Gottessohnes Jesus Christus 712 • Präzise und treffend hat Gerhard Ebeling die Sache auf den theologischen Punkt gebracht: »Erst recht wäre eine Umkehrung des Satzgefälles abwegig, als würde im griechischen Sinne das allgemeine Phänomen Liebe als göttlich prädiziert. Nicht die Divinität menschlicher Liebe wird behauptet, sondern die Humanität göttlicher Liebe. Der Satz, daß Gott Liebe ist, bringt zum Ausdruck, daß die Menschwerdung Gottes dem Gottsein Gottes entspricht und ihm keineswegs etwa widerspricht.«713 Daraus folgt dann in der Tat auch, daß der Satz »Gott ist Liebe« letztlich ein trinitarischer
707 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Berlin 1956, 400. 708 Zum Artikelgebrauch vgL aus der Wirkungsgeschichte noch Meister Eckhart, der in der Predigt Nr. 63 zu unserem Text für die Übersetzung »Gott ist Liebe« (ohne Artikel) optiert und damit weiterarbeitet, dies aber in der Predigt Nr. 65 zum gleichen Vers nicht durchhält, s. Meister Eckharts Predigten, hrsg. J. Quint, Stuttgart 1976 (Die deutschen und lateinischen Werke. Bd. 3), 74.95. Zu Augustinus s.o. S. 249 .. 709 L. Feuerbach, a.a.O. 376. 710 Ebd. 108. 711 VgL ebd. 376-408; dazu Jüngel*; ausführlicher ders., Gott als Geheimnis der Welt.
Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 21977, 430-470; Jüngel hält allerdings mit Barth, wenn auch differenzierter als dieser argumentierend, an der Umkehrbarkeit des Satzes »Gott ist Liebe« fest (452f). VgL zur Diskussion S. Greiner, Gott ist Liebe. Ein Beitrag zum Gespräch mit Eberhard Jüngel, ThGl80 (1990) 131-151; E. Paulus, Liebe - das Geheimnis der Welt. Formale und materiale Aspekte der Theologie Eberhard Jüngels, Würzburg 1990 (Bonner dogmatische Studien 7). 712 Jüngel* 200f. 713 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. 2, Tübingen 21982, 111.
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Exkurs 2: Die Sprache der Immanenz im ljoh
Satz ist und einer trinitarischen Explikation bedarf71 4 , insofern er nicht nur die Liebe zwischen Vatergott und einzigem Sohn miteinschließt, sondern auch den Geist als Medium der bleibenden Vergegenwärtigung von Gottes Liebe als Sein und Tat. Erklärung »Bleibt in meiner Liebe«, so fordert der johanneische Jesus in 15,9 seine Jün16e-g ger auf, und er bindet dieses Bleiben an das Halten der Gebote (15,10) wie 1Joh 3,24. Daraus kann man schon erschließen, daß ein Bleiben in der Liebe sicher nicht an der Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern vorbeiläuft, aber Liebe absolut verwendet meint hier wie auch sonst in 1Joh 4 mehr als das. Der Glaubende und Liebende verweilt in einem Raum, der von der Selbsterschließung Gottes bestimmt ist. Den Schluß von V. 16 hat der Autor bewußt als Höhepunkt der Immanenzthematik im 1Joh angelegt. Man erkennt es an dem dreimaligen ~ELv. Man sieht es auch daran, daß ~ELV f::v im Rest des Briefes nicht mehr vorkommt und auch ahdere einschlägige Aussagen zurücktreten. Das sei uns Anlaß, einige Beobachtungen zu dieser auffallenden Redeweise zusammenzutragen.
Exkurs 2: Die Sprache der Immanenz im l]oh Literatur: R. Borig, Der wahre Weinstock. Untersuchungen zu Jo 15,1-10, 1967 (StANT 16),199-236; Heise, Bleiben; Malatesta, Interiority (mit Lit.); Mealand, D.L., The Language of Mystical Union in the Johannine Writings, DR 95 (1977) 19-34; Schnackenburg 105-110; Timm, H., Geist der Liebe. Die Ursprungsgeschichte der religiösen Anthropotheologie (Johannismus), Gütersloh 1978, 137-144. 1 Nicht von ungefähr haben wir eine nähere Parallele zu 1Joh 4,16 in Joh 15,9-10 ausgemacht, d.h. in den johanneischen Abschiedsreden. Dort steht innerhalb des Evangeliums die überwiegende Zahl aller Immanenzaussagen. Außerhalb der Abschiedsreden finden sich nur vergleichsweise wenige Belege. In den Abschiedsreden verdichten sie sich noch einmal in der Weinstockrede von Kap. 15 und im hohepriesterlichen Gebet von Kap. 17. Die Abschiedsreden sind auch der Textkomplex, wo im Evangelium das Liebesgebot eingeführt und erläutert wird. Man kann schon von da aus vermuten, daß eine Affinität zwischen Liebesthematik und Immanenzsprache besteht, was vom Brief bestätigt wird. Mehr noch als im Evangelium entwickelt sich im Brief die Sprache der Immanenz, zentriert um die unscheinbare Präposition tv, zu einer strukturierenden und einheitsstiftenden Denkfigur. Aufgrund des verbleibenden, wenn auch schwachen Restbestands an bildhaften Momenten kann man sie als
714 JüngeI· 196. Auch G.W.F. Heget Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd. 2, Stuttgart 1928 (Sämtliche Werke 16), 227f, deutet »Gott ist die Liebe« als »ewige
Idee«, von »der christlichen Religion ausgesprochen als das, was die heilige Dreieinigkeit heißt«.
Das Sprachfeld der Liebe
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Leitmetapher (»presiding metaphor«) und Bildmatrix (»master image«) des Briefganzen einstufen715. 2 Für die sprachliche Realisierung stehen drei Modelle zur Verfügung: dVaL €v (sein in), !AfvELV €v (bleiben in), und einfaches €v (in). Oft geschieht der Gebrauch von dVaL €v und JA.EveLV €v oder auch bloßem €v völlig unterschiedslos. Wenn man !AfvEW €v mit einem besonderen Akzent versehen will, wie wir es an früherer Stelle (zu 2,6) schon einmal versucht haben, dann so: Stärker zum Tragen kommt in !AfvELV der Aspekt des Andauernden, der zeitlichen Erstreckung, des Beharrungsvermögens. Im Vergleich zum Evangelium bevorzugt der Briefautor »bleiben in«, weil er das Sein als gefährdet erkennt und deshalb das Bleiben anmahnt. Außerdem ist die darin enthaltene Raumsymbolik charakteristisch »für das Sprachfeld der Liebe«; sie verheißt »endloses Verweilen und zum Stillstand Kommen nach der Unrast des Unterwegsseins. Man läßt sich nieder, kehrt ein, findet Ruhe in der Geborgenheit heimatlichhäuslichen Wohnens«716 (vgl. Joh 14,2.23; s.u.). 3 Das Besondere, um nicht zu sagen Unnachahmliche der johanneischen Immanenzaussagen in Evangelium wie Brief ist ihre Reziprozität. Bekannt eindrückliche Sätze wie »ihr in mir und ich in euch« Goh 14,20) oder an unserer Stelle »der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« verdanken sich dieser Eigenheit der johanneischen Sprache, die beiden möglichen Sichtweisen der Immanenz ebenso paradox wie kühn miteinander zu kombinieren. »Du bist min, ich bin dln« (anonym, 12. Jh.) - ein Seitenblick auf dieses Stück Liebeslyrik und weitere Beispiele der Gattung erscheint nicht unangebracht117, bekräftigt er doch erneut die Zusammengehörigkeit von Immanenz in ihren verschiedenen Formen und Liebe, zu deren Verständnis auch im 1Joh ein analoges menschliches Erfahrungsfeld gebraucht wird (s. die Erklärung zu 4,16d). 4 Zur motiv- und traditionsgeschichtlichen Einordnung der Immanenzsprache wollen wir die beiden Bestandteile der reziproken Formeln zunächst je für sich betrachten und mit der zweiten Hälfte, dem Bleiben Gottes im Menschen, beginnen. Die Vorstellung einer Einwohnung göttlicher Kräfte kennen wir auch aus anderen Bereichen. Daß Gott inmitten seines Volkes seine Wohnung nimmt, im Bundeszelt oder im Tempel, ist ein geläufiges Theologumenon im AT718, auf dem Joh 1,14 aufbaut. Philo, der unter hellenistischem Einfluß die atl. Vorgaben umformt, gelangt zu Formulierungen wie: »... >der Herr aber ist in uns< (Num 14,9), woraus hervorgeht, daß in denen, bei welchen das Seelenleben in Ehren gehalten wird, der göttliche Logos wohnt und wandelt«719 oder: »Stadt Gottes nennt er ... die Seele des Weisen, von der es heißt, daß Gott in ihr umherwandle wie in einer Stadt«720. Dem pantheistischmonistischen Denken der Stoa fiel es nicht schwer, vom Sein der Gottheit im Inneren des Menschen zu sprechen: »Nahe ist dir der Gott, mit dir ist er, in dir ist er (intus est). So sage ich dir, Lucilius: Ein heiliger Geist wohnt in uns (intra nos)«721. Daß eine allgemeine Konzeption von der Einwohnung Gottes in der johanneischen Tradition bekannt war, ergibt sich aus Joh 14,23: »... wir werden kommen und Wohnung bei ihm
715 Vgl. Jones, Analysis 441: »A presiding metaphor is the master image that dominates a work and penetrates the lesser imagistic groupings.« 716 Timm.114. 717 Timm· 139f.
718 Z.B. Ex 25,8; Num 35,34; Sach 8,3; von der Weisheit Sir 24,8. 719 Post 122; vgl. Mealand· 24f.27f. 720 Som 2,248 (mit Zit. aus Lev 26,12). 721 Seneca, Ep 41,lf; vgl. Epictet, Diss I 14,14: »Gott ist in euch«.
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Exkurs 2: Die Sprache der Immanenz im IJoh
nehmen« (im Griech. f.10Vt'j, die »Bleibe«, ein Substantiv von der Wurzel flEvELvf22. Im IJoh tendiert in diese Richtung das Vorhandensein oder Fehlen göttlicher Attribute wie Wahrheit (1,8), Wort (1,10), Chrisma (2,27), Same (3,9) und nicht zuletzt Liebe (3,17) im Menschen. 5 Der andere Bestandteil der reziproken Immanenzformeln hingegen ist zu vergleichen mit Stellen, wo es um das Verweilen des Menschen in einem bestimmten Bereich geht, z.B. im Licht (2,10), in der Finsternis (2,11), im Bereich des Todes (3,14) und im Raum der Liebe (4,16). Diese Aussagenreihe und ihre mögliche Steigerung bis zu einem Sein oder Bleiben in Gott ist an sich nicht so problematisch, sie könnte sich auch mehr von selbst einstellen. Bei Johannes bleibt die Frage, inwieweit sie schon bewußt als Umkehrung der ersten Aussagenreihe von der Einwohnung göttlicher Kräfte im Menschen her konzipiert wurde. 6 Das eigentliche Charakteristische der johanneischen Immanenz aber ist die reziproke Weiterführung. Mit der Suche nach Vorbildern und Analogien dafür tut sich die Forschung mit gutem Grunde recht schwer. Am nächsten heran reichen im AT die Bundesformel und im NT das paulinische €v XQLO"t
722 Als Ansatz für das joh. I-lEvELV gewertet bei Schnackenburg 107; skeptischer dazu Borig* 207. 723 Sie behandelt in Relation zu 1Joh ausführlich Malatesta, Interiority 42-77. 724 Ex 29,45f; Lev 26,1lf; vor allem Ez 37,26-28: »... ein ewiger Bund mit ihnen soll es sein, und ich werde mein Heiligtum in ihrer Mitte bestehen lassen für immer ... und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein ... wenn mein Heiligtum in ihrer Mitte
sein wird in Ewigkeit«; aufgenommen in Offb 21,3. 725 Dies zu Kennedy, Covenant-Conception; Boismard, »Je ferai«; Malatesta, Interiority; A. Edanad, The New-Covenant Perspective of I John. An exegetical and theological study of I John and its vision of Christian existence as the realization of the eschatological covenant, Diss. Rom 1976, vgl. DAI-C 38 (1977) 546. 726 Vgl. zum folgenden Borig* 208f.
Analogien, theologischer Ansatz
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ausmachte. Das ist die Immanenz von Jesus, dem Sohn, und Gott, dem Vater. Sie hat, wie an Joh 14,10-11 abzulesen ist, die Intention, die Einheit im Wirken von Gott und Jesus möglichst bündig auszusagen. In dem, was Jesus sagt und tut, wirkt Gott. Jesus redet und handelt nur im Auftrag und im Namen Gottes. Dieses Ineinander - Gott handelt in Jesus, Jesus handelt im Namen Gottes - ist so untrennbar und eng, daß sich zu seiner Beschreibung die Sprachfigur herauskristallisierte: Jesus in Gott und Gott in Jesus. Im Evangelium begegnet sie aufgrund des quasi-biographischen Rahmens in der ersten Person als Jesuswort. Der Sohn hat seinen Willen in vollkommene Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters gebracht, so daß ihre Willenszentren zur Deckung kommen, ohne deshalb aufzuhören, selbständige Willenszentren einer Person zu sein (die spätere trinitarische Sprache wird versuchen, das, was die johanneische Formel leisten will, so zu fassen: Einheit im Wesen, Verschiedenheit der Personen). Im Brief fehlt diese Immanenz von Vater und Sohn. Offenbar war die hohe Christologie, die sich darin artikuliert, nicht umstritten. Sie bildet eine gemeinsame Plattform und braucht deshalb nicht eigens ins Bewußtsein gerufen zu werden. 9 Die reziproke Immanenz von Vater und Sohn dient in einem weiteren Schritt als Modell für das Christusverhältnis und Gottesverhältnis der Glaubenden. So kommt es zu den reziproken Aussagen, bezogen auf die Christen, in ihren beiden Ausprägungen: die Jünger in Christus und Christus in den Jüngern, die Glaubenden in Gott und Gott in den Glaubenden. Die christologische Vermittlung bleibt selbstverständliche Voraussetzung, auch für die Immanenz der Glaubenden mit Gott. In zwei Fällen finden wir die doppelte Immanenz gleichzeitig ausgesagt, in 1Joh 2,24: »Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, dann werdet auch ihr im Sohn und im Vater bleiben« und - verkürzt - in Joh 17,21: »Damit auch sie in uns seien«. An beiden Stellen fehlt die reziproke Umkehrung (sie erhält man aber, wenn man 14,23 hinzuaddiert). Diese doppelte Immanenz wird man christologisch auflösen müssen. Durch das Bleiben oder Sein in Jesus Christus finden wir Zugang auch zum Bleiben oder Sein in Gott. Einen anderen oder direkteren Zugangsweg ohne Vermittlungsinstanz gibt es nicht. 10 Eine Grenze bleibt dabei gewahrt. Die Vater-Sohn-Immanenz steigert Joh 10,30 bis zu der Aussage: »Ich und der Vater sind eins«. Das kann von Christen so nicht gesagt werden. Joh 17,22 ist so zu verstehen: Sie, die Glaubenden, sollen eins sein untereinander, so wie wir, Jesus und der Vater, untereinander eins sind. Hier dient die durch Immanenz bewirkte Einheit von Vater und Sohn als Modell für die Einheit der Christen 727 . Mit anderen Worten: Die Immanenz zwischen Vater und Sohn bleibt etwas Exklusives. Immanenz der Glaubenden mit Christus und Gott heißt nicht, daß sie unmittelbar in die Immanenz von Vater und Sohn hineingenommen werden. Sie stehen in Gemeinschaft mit Christus und durch Christus in Gemeinschaft mit Gott. Aber es bleibt dabei die Unterscheidung von Gott und Mensch gewahrt, die sonst aufgehoben wäre. Weil dem so ist, ist auf seiten des Menschen als Vorbedingung für das Hineinkommen in die Immanenz der Glaube gefordert. Für das Verharren in der Immanenz erweist sich die Liebe als unverzichtbar. 11 Das reziproke Ineinander von Personen bleibt letztlich etwas Unanschauliches, das muß man im Rückblick festhalten. Mit räumlichen Vorstellungen oder Kategorien kann es nicht erfaßt werden. Man kann lediglich einige Hilfskonstruktionen ent-
727
Vgl. Borig* 219.
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Die Zukunft der Liebe (4,17-18)
wickeln, die ein Stück weit tragen. Wir haben es versucht mit Hilfe der Konzepte »Einwohnung Gottes im Menschen« und »Verweilen des Menschen in einem göttlichen Bereich«. Aber das johanneische Denken wirft diese Krücken sehr rasch wieder weg und entwickelt die reziproken Immanenzformeln von oben her, als streng theologische Aussage über die Wirkeinheit von Jesus und Gott, die wiederum das Modell abgibt für die Immanenz der Glaubenden und Liebenden mit dem Sohn und dem Vater. 12 Sowohl metaphorische als auch theologische Sprache, die sich oft nicht so sehr voneinander unterscheiden, haben die Eigenart, daß man das in ihnen Ausgedrückte eben nicht genausogut auch anders sagen könnte. Die Inhalte verlieren, wenn man sie übersetzen und erklären muß. Deshalb fällt es auch schwer, das, was johanneische Immanenz besagt, in andere Sprachformen zu übertragen. Sehr weit werden wir, wie so manches Mal, über die Worte der Texte selbst nicht hinauskommen 728 • Wir hatten oben beim ersten Auftauchen von Elvm Ev als vorläufige Begriffsbestimmung vorgeschlagen: Die johanneische Immanenzformeln ermöglichen es, engste personale Gemeinschaft auszusagen und dabei doch gleichzeitig einem mystischen Verschwimmen der Persongrenzen zu wehren. Das war bereits gesagt im Blick auf die trinitarischen Definitionen, zu denen uns die johanneische Immanenz als Wirkeinheit von Vater und Sohn zuletzt zwingt.
d Die Zukunft der Liebe (4,17-18) Literatur: Althaus, P., Liebe und Heilsgewißheit bei Martin Luther.1. Joh. 4,17a in der Auslegung Luthers, in: Festgabe Joseph Lortz. I: Reformation - Schicksal und Auftrag, Baden-Baden 1958, 69-84; Harrison, E.F., A Key to the Understanding of First John, BS 111 (1954) 39-46; Romaniuk, K., »Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.« Eine Auslegung von 1 Jo 4,17-18, BiLe 5 (1964) 80-84.
i7a
b c
d i8a
b c
d
Darin ist die Liebe729 bei uns vollendet worden, daß wir Freimut haben am Tag des Gerichts730 , weil, so wie jener ist, auch wir sind in dieser Wele 31 • Furcht ist nicht in der Liebe, vielmehr treibt die vollkommene Liebe die Furcht aus, weil die Furcht (mit) Strafe (zu tun) hat; der Sich-Fürchtende aber ist nicht vollendet worden in der [Liebe.
728 Timm~ 138: »Irgendwie wird da eine alles überbietende Integrationsidee vor Augen gerückt. Man fühlt sich zur intuitiven Einstimmung aufgeforden und gewinnt doch nur minimale Aufklärung über das Warum und Wieso.« 729 Einige wenige Zeugen, darunter ein Teil der Vulgataüberlieferung, präzisieren »die Liebe Gottes« bzw. »seine Liebe«.
730 Eine Gruppe von Minuskeln, darunter 2138, ergänzt »gegenüber dem Menschgewordenen«. 731 Die Minuskel 2138 (s. die vorige Anm.) liest mit wenigen anderen: »So wie jener in der Welt war, fleckenlos und rein, so werden auch wir sein« (to6~Ct auch in K), s. die Erklärung.
l]oh 4,17-18: Analyse; 4,17ab: Erklärung
269
Die Einheit wird gerahmt von zwei ähnlich lautenden Sätzen in 17a und 18d. In 17a Analyse ist die Liebe selbst Subjekt, in 18d der Mensch, den diese Liebe nicht erreicht hat. Zum Wortfeld der Liebe, dem auch »Freimut« in 17b zuzuordnen ist, tritt in Opposition das Wortfeld der Furcht mit den verwandten Begriffen »Strafe« in 18c und »Gericht« in 17b. »Liebe« wird wieder absolut gebraucht, was es nach dem bisher Gesagten überflüssig macht, erneut auf die ermüdende Kontroverse darüber, ob Gottes Liebe zu uns oder unsere Liebe zu Gott oder die geschwisterliche Liebe gemeint sei, einzugehen. Wir sind hineingestellt in jene Bewegung der Liebe, die von Gott ausgeht. Damit ist zugleich gesagt, da~f.tclt' tlf1Ö>V in 17a nicht zum Subjekt »Liebe« gehört (was nur bei einer Wiederholung des Artikels tl zwingend wäre), sondern zum Verb und soviel wie »bei uns« bedeutet732 • Wir lassen wie in 13a den neuen Abschnitt mit Ev 1:omep in 17a beginnen. Das wäre selbst dann möglich, wenn (a) EV 1:omep in erster Linie V. 16 aufnehmen sollte 733: Die Vollendung der Liebe besteht in der Immanenz, und daraus resultiert der Freimut am Gerichtstag (konsekutives Lva in 17b). Wenn (b) erst der Ö1:L-Satz in 17cd den Inhalt des tv 1:omep angeben sollte (die Vollendung der Liebe ergibt sich daraus, daß wir so sind in dieser Welt, wie jener ist), läßt sich der Lva-Satz in 17b kaum mehr unterbringen 734 • Bleibt noch (c) die hier favorisierte Alternative, tv 1:omep in dem Lva-Satz von 17b expliziert zu sehen: Freimut am Gerichtstag bedeutet Vollendung der Liebe 735 . Epexegetisches Lva findet sich in 3,1.23; 5,3, allerdings mit aÜt'r] als Einleitung, aber Joh 15,8 hat auch Ev 1:omep ... Lva. Wie 2,28, wo uns als Frucht des Bleibens Freimut bei der Parusie Jesu Christi in Erklärung Aussicht gestellt wurde, stützt sich V. 17 zunächst auf ältere Gemeindetradi- 17ab tionen. Mit der Erwartung des Gerichtstags nimmt 17b verbreitete eschatologische Erwartungen auf, die sich angefangen bei der atl. Prophetie (»Tag des Herrn«) über die Apokalyptik bis ins Urchristentum verfolgen lassen736 . Wie die Parusie Christi steht der göttliche Gerichtstag am Schluß der letzten Stunde von 2,18 und be endet sie. Die letzte Stunde dauert, wenn man so will, länger als der letzte Tag. Das ist nicht so paradox, wie es sich anhört. Die letzte Stunde umfaßt eine ganze Spanne Weltzeit unmittelbar vor dem Eintreten des Endes, der Tag des Gerichts fällt mit den Endereignissen selbst zusammen. Nun spricht 17a von der Vollendung der Liebe im Perfekt, während der Gerichtstag von 17b noch in der Zukunft liegt. Man sollte das nicht dahingehend abschwächen, daß wir jetzt schon Freimut hätten im Blick auf den Gerichtstag, sich aber erst bei dieser Gelegenheit herausstellen werde, ob diese Zuversicht zu Recht besteht und unsere Liebe zur Vollendung kam. Die zeitliche Spannung trägt vielmehr die eigentliche Pointe der Aussage. Aufgrund der vollendeten Liebe Gottes, die wir in Jesus Christus erfahren haben, ist uns
732 Anders Romaniuk* 81: meint dasselbe wie Ev tlf.tLV V. 16; Belser 109: meint »unsere gegenseitige Bruderliebe«; Brown 525f: »mit uns zusammen« im Sinne unserer Mitwirkung. 733 So Haupt, Brief 234; Strecker 247.
734 735
Vgl. Westcott 157. Mit Haas, Handbook 11lf; Gaugier
24lf. Vgl. PsSal 15,12; 4Esr 7,113: dies enim iudicii; Jub 24,30: »Am Tag des Zornes des Gerichtes«; 2Petr 2,9; Barn 19,10.
736
270
Die Zukunft der Liebe (4,17-18)
jetzt schon die feste Gewißheit geschenkt, daß wir ihm am Gerichtstag mit Freimut begegnen dürfen. In die futurische Perspektive, die das verwendete Begriffsmaterial prägt, ist so etwas hinübergerettet von der präsentischen Eschatologie des Evangeliums, wo sich das Endgericht in der Gegenwart des Glaubens bereits vollzieht und vollzogen hat (Joh 3,18-19; 5,24-25). 17cd Für die jetzige Gewißheit künftigen eschatologischen Freimuts infolge vollendeter Liebe gibt 17cd eine weitere, christologische Begründung: Wir sind wie jener (EXEivo~), das bezieht sich wie in 2,6d u.ö. auf Christus, zumal uns ein Ähnlichsein mit Gott nach 3,2 erst für das Eschaton verheißen ist. In 2,6 verlief die Argumentation mit Hilfe von xa{}w~ und xaL so: Wie Christus auf Erden gewandelt ist, muß jeder wandeln, der behauptet, in Gott zu bleiben. Der dort formulierte Appell fehlt aber in 17cd. Offenbar geht es hier anders als in 2,6 nicht um den vorbildhaften Wandel des Irdischen. Die Grammatik ist beim Wort zu nehmen: Em:LV darf nicht unter der Hand in ~v und Ea!-iEv nicht in EaO!!E'fra umgewandelt 737, »in der Welt«, das nur zu »auch wir« gehört, nicht zu EXEivo~ gezogen werden. Sonst käme heraus, was einige Handschriften sogar lesen: Wie Jesus war, als er in der Welt weilte, so sind jetzt auch wir, so liebend oder so gehorsam oder so sündlos 738 oder so gerecht (vgl. 3,7) oder so rein (vgl. 3,3). Gemeint ist jedoch, daß wir jetzt in der Welt an der zeitenthobenen Seinsweise des Erhöhten partizipieren. Der innere Vergleichspunkt wird die Liebesgemeinschaft sein, die den Erhöhten ständig mit dem Vater verbindet und die das Vorbild abgibt für unsere Immanenz mit Gott (vgl. Joh 17,21-23; s. Exkurs 2)739. Die liebende Gottesgemeinschaft ist der Realgrund dafür, daß wir »in dieser Welt«, in der wir uns vielfachen Gefährdungen und Anfeindungen ausgesetzt sehen, der künftigen Begegnung mit Gott freudig entgegengehen dürfen. 18ab Wie für die Liebesthematik in lJoh 4 überhaupt, reicht auch für die Entgegensetzung von Furcht und Liebe in 18a ein rein psychologischer Bewertungsmaßstab, der auf bestimmten Ebenen der Erfahrung - nicht auf allenzutreffen mag740 , nicht aus. Selbst allgemeine Erwägungen über das Verhältnis von Gottesfurcht und Gottesliebe, wie sie Philo anstelle41 , greifen noch zu kurz. Die Furcht in 18a beinhaltet nämlich die Angst vor dem künftigen Gericht mit seinen schrecklichen Begleitumständen und die Angst vor einem verdammenden Urteilsspruch des Richters. Sie paßt sich in die eher düstere
737 VgL PS.-Oecumenius 669B: »er ist« und »wir sind« wurde xm;&. &vtLXQOV(uv für »er war« und »wir werden sein« gesetzt. Zur Textlage s.o. Anm. 731. 738 VgL Harrison* 44. 739 Diese auch in neueren Kommentaren favorisierte Auslegung hat schon Rothe 154 vollständig durchgeführt. Ein Panorama an Lösungsvorschlägen bei Ebrard 334. 740 VgL Seneca, Ep 47,18: »Wer verehrt
wird, wird auch geliebt: Nicht kann sich Liebe mit Furcht mischen.« 741 VgL Philo, SpecLeg 1,299f: »Gott fordert von dir ... , daß du ihn liebst als deinen Wohltäter oder doch zumindest fürchtest als deinen Herrn und Gebieter«; Imm 69:_»Denen, die das Sein ... dem Gottesbegriff entsprechend nur an sich selbst verehren, ist das Lieben am angemessensten, den anderen aber das Fürchten«.
1]oh 4,18: Erklärung
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Folie der Gerichtsgemälde in der prophetischen und apokalyptischen Literatur ein (z.B. Jes 2,19: »Gehet hinein in Felsenhöhlen und in Erdlöcher aus Angst vor dem Schrecken des Herrn und vor seiner Majestät, wenn er sich erhebt«). Für solche Furcht besteht angesichts der überwältigenden Liebestat Gottes, die im Kreuzestod seines Sohnes ihre Vollendung fand, für Glaubende kein Anlaß mehr, vorausgesetzt, sie haben den Gott, der Liebe ist, johanneisch gesprochen, wirklich erkannt. Dann wird die Furcht »hinausgeworfen«, ein kräftiges Wort, das vielleicht gleichfalls aus der Gerichtsszenerie entlehnt ist742 . Die verkürzte Aussage von 18c (wörtlich: »weil die Furcht Strafe hat«) könnte 18cd man so verstehen: Die Furcht trägt ihre Züchtigung schon in sich selbst; die Tatsache, daß jemand Angst hat, ist bereits Strafe genug743 . Aber es wird doch in erster Linie die Furcht vor der Bestrafung beim künftigen Gericht im Blick sein. Das ergibt sich aus der Wortgeschichte von x6AaOL~ die sich an einer Stelle mit einer Bedeutungsebene in V. 17-18 überschneidet. Zwar kennt die LXX einen uneschatologischen Gebrauch von xOAuau; für innerwelt- X6AaOL~ liehe Strafen unterschiedlicher Art744 , ebenso Philo, der das Wort SOmal verwendet und dabei den heilsamen Effekt der Bestrafung bei sittlich unvollkommenen Menschen in den Vordergrund rückt, z.B. in Agric 40: Hirten müssen »die Furcht aufrufen als Zuchtmeister für die der Vernunft Unzugänglichen und beständige Strafen ansetzen«, je nach Vergehen »mäßige« und »äußerst schwere ... , denn was als das schlimmste Übel erscheinen mag, die Strafe (xoAuau;), ist die größte Wohltat für die Toren«745. Aber die TestXII kennen schon die Vorstellung einer »ewigen Strafe«, die mit dem Endgericht beginne46 . Davon handelt auch der einzige weitere ntl. Beleg: »Sie werden eingehen in die ewige Strafe«747. Nur diese Bedeutung paßt in unserem Text zu der Erwähnung des endzeitlichen Gerichtstags in 17b.
In gewisser Weise wird in der Furcht von V. 18 tatsächlich die Strafe antizipiert, darin konvergieren die verschiedenen Deutungsvorschläge. Furcht impliziert einen Mangel an vollendeter Liebe (18d). In nichts anderem aber besteht die Strafe beim Endgericht: verbannt zu werden aus der Nähe Gottes, nicht teilhaben zu dürfen an seinem Wesen, das reine, vollkommene Liebe ist. Die Strafe ist die auf Dauer festgeschriebene Abwesenheit der Liebe.
Vgl. das exßaMELV, das in Mt 8,12; 22,13; 25,30 die zu Bestrafenden trifft (mit Brown 530). 743 Bultmann 78. Dazu bringt Wettstein II 720 als Parallele Xenophon, Cyropaidia m 1,23f, bei, wo ausgeführt wird, daß Furcht vor einer zu erwartenden Strafe schlimmer ist als die Strafe und ihre Folgen selbst; vgl. auch Philo, SpecLeg 4,6: »Denn die Strafen (xoA.6.OEL;) flößen Furcht ein«. 742
744 2Makk 4,38: Todesstrafe; 4Makk 8,9: Folterungen; Weish 19,4: Vernichtung der Ägypter. 745 Übers. I. Heinemann, Werke IV 120; vgl. u.a. noch Conf 171. 746 TestRub 5,5; TestLev 4,1; TestGad 7,5. 747 Mt 25,46; vgl. Herrn sim IX 18,1.
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Die Zukunft der Liebe (4,17-18)
Wirkungs- Eine Umdeutung gegen den Text nimmt Tertullian vor, wenn er die Furcht als unangeschichte gemessene Angst vor dem Martyrium interpretiert, dem sich Christen, die man an diesem Akt als unvollkommene erkennt, durch die Flucht zu entziehen suchen 74B. Dem läßt sich ein neuzeitlicher Versuch an die Seite stellen, beide Verse als Aufruf zur Furchtlosigkeit und zum Freimut vor dem Richterstuhl der Heiden zu verstehen 749 • Wichtiger aber ist eine andere Beobachtung. Immer wieder sehen sich Ausleger dazu bewogen, auch der Furcht zu ihrem Recht zu verhelfen und sie als notwendiges Korrektiv zu V. 18 einzuführen. Dazu dienen Schriftstellen wie Dtn 6,13: »Den Herrn, deinen Gott, sollst du fürchten«; Spr 1,7: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis«, und mit Vorliebe Ps 19,10: »Die Furcht des Herrn ist rein und bleibt ewig«7so. Auf sehr unterschiedlichem Reflexionsniveau halten sich eine Reihe von Unterscheidungen durch: Vertrieben wird nur die knechtische Furcht, die in sich einen hohen pädagogischen Wert haben kann; sie wird auch nur von der vollkommenen Liebe vertrieben, zu der längst nicht alle gelangen; und die vollkommene Liebe ist durchaus weiterhin vereinbar mit einer kindlichen, reinen Furches1 . Interessanterweise kommt auch Oskar Pfister in seinem Hauptwerk »Das Christentum und die Angst«, dem frühen Versuch einer Begegnung von Theologie und Psychoanalyse, zu einem partiell ähnlichen Ergebnis 752 • Diese »zur höchsten Bewunderung hinreißenden Worte« (18) aus 1Joh 4,18 fungieren bei ihm geradezu als Themasatz: »Damit ist peinigender Angst der Riegel zum Tor des christlichen Glaubens für alle Zeiten verschlossen« (448), zulässig bleibt nur die Ehrfurcht, die »der Bewunderung göttlicher Größe und Heiligkeit« (449), aber nicht der Angst entstammt. Bei Pfister steht aberanders als in der Auslegungs- und Frömmigkeitsgeschichte, wo man gelegentliche Zweifel nicht unterdrücken kann - außer Frage, daß die christliche Botschaft nicht neue Ängste wecken, sondern vorhandene Lebensangst bearbeiten und überwinden will. Das sei als Problemanzeige für die Gegenwart festgehalten. Niemand wird ein ehrfurchtsloses Christentum wollen, aber 1Joh 4,18 gibt doch wohl die Möglichkeit an die Hand, ein angstfreies Christentum zu verkünden, anstatt sich über die pädagogische Zweckmäßigkeit der Angst und ihren wohldosierten Einsatz auszulassen. Auch bei diesem knappen Durchblick können wir nicht an einem Aper~u vorbei, das Bengel in seiner unnachahmlichen aphoristischen Art geprägt hat. Er unterscheidet vier Einstellungsweisen, von denen wohl nur die letzte vor den Augen des Verf. von 1Joh als christliche Haltung Gnade gefunden hätte: ohne Furcht und ohne Liebe; mit Furcht, aber ohne Liebe; mit Furcht und mit Liebe; ohne Furcht, aber mit Liebe 753.
Zusammen- Echte Gotteskinder leben ohne Furcht. Für sie bedeutet der Gerichtstag nicht fassung Strafgericht, sondern, wenn wir an 3,2 zurückdenken, das Ähnlich-Werden mit Gott und die direkte Gottesschau. Diese Querverbindung herzustellen 748 De fuga 9,3; 14,2 (1146,23-30; 1155,1620 CChr.SL 2); Scorpiace 12,4.5.11 (1092,271094,15). 749 H.C. Ballenstedt, Philo und Johannes oder neue philosophisch-kritische Untersuchung des Logos beyrn Johannes nach dem Philo, nebst einer Erklärung und Uebersetzung des ersten Briefes Johannes aus der geweiheten Sprache der Hierophanten, Braunschweig 1802, 168.180f.
750 Auch Augustinus bringt diesen Psalmvers mit 1Joh 4,18 zusammen, vgl. die Einzelnachweise bei Dideberg, Augustin 190-20l. 751 Auf dieser Linie bewegen sich z.B. Cramer, Catenae 135-137 (aus Maximus Confessor); Salmeron 297; Estius 735f; Vrede 171. 752 Die folgenden Seitenzahlen im Text aus O. Pfister, Das Christentum und die Angst (1944), Olten 21975. 753 Bengel 1016.
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1]oh 4,19-21: Übersetzung, Analyse
erscheint legitim, weil die vorhandene Christus ähnlichkeit als Basis für die verheißene Gottähnlichkeit in 17cd angesprochen wird. Das Gericht Gottes bleibt zwar der letzte Horizont unserer Verantwortlichkeit und unseres Handeins. Es ist unserem Zugriff entzogen. Die Zukunft der vollendeten Liebe aber besteht darin, daß die von Gott Geliebten - das und nichts anderes sind wir - mit Gelassenheit und Vertrauen diesem Horizont entgegenwandem können.
Die Praxis der Liebe (4,19-21)
e 19a
b 20a
b c d e f g h 21a
b c
Wir lieben754, weil er755 uns als erster56 geliebt hat. Wenn einer sagt: »Ich liebe Gott« und seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat Gott, den er nicht gesehen hat, kann er nicht lieben757 • Und dieses Gebot haben wir von ihm758 , daß der, der Gott liebt, auch seinen Bruder liebe.
1 7mal kommt »lieben« vor, dazu als Gegenstück in 20c »hassen«, was soviel wie Analyse »nicht lieben« bedeutet. Objekt zu »lieben« sind in V. 20-21 wechselweise Gott und der Bruder. Aus diesen Bausteinen werden drei teils antithetische, teils parallele Satzpaare gebildet: Gott lieben und den Bruder hassen in 20bc; den Bruder nicht lieben und Gott nicht lieben in 20e-h (mit der zusätzlichen Opposition von »gesehen haben« vs. »nicht gesehen haben«) und schließlich, als Auflösung sozusagen, Gott lieben und den Bruder lieben in 21bc. 2 In 19a fragt sich, ob &ywtö.JIJEV nicht besser als Aufforderung zu fassen sei, was auch die LA mit oirv in A zu vertreten scheint: »Laßt uns also lieben«, »wir wollen folglich lieben«. Aber es ist in 19a ein betontes f]J1E~ vorangestellt, was in Analogie zu anderen Sätzen mit dieser Einleitung und vom Sprachempfinden her besser zum Indikativ paßt 759 •
754 K u.a. ergänzen 'tov {}EOV, 'P Byz amov, vgl. Metzger, Commentary 714. 755 A lat setzen 6 {}EO~ statt amo~ als Subj. ein. 756 1tQÖ>1:0~ wird verschiedentlich abgewandelt in das adverbiale :7tQÖ>1:0V, »zuerst« bzw. »früher«. 757 Der Mehrheitstext hat hier mit A die
rhetorische Frage: »wie (:7t(ii~) kann er Gott lieben«; Übersicht bei Aland, Text und Textwert IIl, 157f. 758 Statt »von ihm« liest A - in der Sache richtig - »von Gott«. 759 So auch Brooke 125; anders Law, Tests 402.
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Die Praxis der Liebe (4,19-21)
3 In V. 20 kehrt der Autor zu den Slogans zurück, die er in Kap. 1-2 in zwei Dreierreihen geboten hatte. Die Einleitung »wenn einer sagt« hält die Mitte zwischen »wenn wir sagen« in der ersten Gruppe von 1,6-10 und dem partizipialen »wer sagt« in der zweiten Gruppe von 2,4-9. Die Folgerung »er ist ein Lügner« in 4,20d hat eine wörtliche Parallele in 2,4d, dem ersten Durchgang der zweiten Gruppe, wo es um Gotteserkenntnis und Halten der Gebote ging. Am nächsten aber steht das erste Schlagwort und seine Behandlung in 1,6: »Wenn wir sagen: >Wir haben Gemeinschaft mit ihm< und doch in der Finsternis wandeln, lügen wir und tun die Wahrheit nicht«, wobei das Wandeln in der Finsternis und die Einhaltung der Gebote innerlich verwandt sind und auf Verstöße gegen das Liebesgebot hin konvergieren, die auch in 4,20 zur Debatte stehen.
Erklärung Auf die Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern innerhalb der Ge19 meinde ist das ganze Schreiben ausgerichtet. Konsequenterweise mündet auch das Hohelied der Liebe in eine Mahnung zur Praxis der Liebe ein. Allerdings fehlt in 19a zunächst ein Objekt zu »lieben«, dies wohl mit Absicht. Man wird also nicht wie manche Handschriften (s. Anm. 754) einfach »Gott« ergänzen, obwohl das innerhalb von V. 19 eine schöne Korrelation ergäbe: Wir lieben Gott, weil er uns zuerst geliebt hat. Ebensowenig wird man, was von V. 20 her und bei einer Deutung von ayrutwfA.Ev als Aufforderung (s. die Analyse) näher läge, dieses Lieben ausschließlich auf die geschwisterliche Liebe ausgerichtet sehen760. Vielmehr soll eingangs in V. 19 gesagt werden, daß es in unserer Mitte, in unserer Gemeinde Liebe gibt, weil die Liebe selbst dort eine Bleibe gefunden hat. In der Verlängerung der Sendungsformeln von V. 9-10 stellt 19b heraus, daß dieses Lieben unsere eigenen Möglichkeiten übersteigen würde, wenn nicht Gott die Initiative ergriffen hätte und mit seiner Liebe auf uns zugekommen wäre. Aus den Sendungsaussagen wissen wir, daß diese zuvorkommende Liebe Gottes auch einen Namen trägt: Jesus Christus. 20a-d Die gegnerischen Schlagworte in Kap. 1-2 brachten meist johanneische Ideale zum Ausdruck, die der Verf. bei richtigem Verständnis durchaus zu teilen bereit war: Gottesgemeinschaft, Gotteserkenntnis, Sündlosigkeit. Unhaltbar werden sie erst im Munde derer, die sie zum Programm erheben, sie aber durch ihre Lebensweise Lügen strafen. Genauso verhält es sich hier. Die Liebe zu Gott wird vom Verf. nicht etwa als Selbstüberhebung des Menschen abgelehnt. Dem würde u.a. V. 21b widersprechen. Es behält also die »Liebe zu Gott im Unterschied zur Bruderliebe einen eigenständigen Sinn«761, aber dieser Sinn geht restlos verloren, wo Liebe zu Gott mit Worten behauptet und Liebe zu den Brüdern und Schwestern im Verhalten negiert wird. Wo das ge-
760 Im Unterschied zu Wengst 197: Der Autor denkt »selbstverständlich an unsere Liebe untereinander«.
761
Schunack 86.
1Joh 4,20-21: Erklärung
275
schieht, herrscht die Lüge als radikaler Gegenpol zur Person gewordenen Wahrheit Gottes. Die Unvereinbarkeit von Gottesliebe und Bruderhaß untermauert V. 20 im 20e-h weiteren Verlauf mit Hilfe des Motivs von der Gottesschau bzw. von der Unmöglichkeit einer direkten Gottesschau zu Lebzeiten. Diesen Gedanken hatte der Verf. in 4,12 schon eingeführt und in 3,2 vorbereitet. Er stützt sich dafür, wie dort bereits gezeigt, auf entsprechende Traditionen im Evangelium (Joh 1,18 u.ö.). Das Spezifische des Briefes ist die Übertragung eines Theologumenons, das im Evangelium im Dienst der Exklusivität der christologischen Offenbarung steht, auf die Liebe zu den Brüdern und Schwestern. Direkte Gottesschau gibt es zwar nicht, daran wird nicht gerüttelt. Gott ist aber dennoch anschaulich geworden, zunächst in Jesus Christus und sodann in den Brüdern und Schwestern, die ein Anrecht auf unsere Liebe haben. Daraus ergibt sich auch die Folgerung, die 20e-h zieht. Der Kreislauf der Liebe kann nicht an den sichtbaren Brüdern und Schwestern vorbeigelenkt und direkt an den unsichtbaren Gott zurückgekoppelt werden. Liebe nur zwischen dem glaubenden Individuum und dem unsichtbaren Gott käme einem fatalen Kurzschluß gleich. Man könnte versucht sein, den zweiten Teil von V. 20 als einen Schluß vom Leichteren auf das Schwerere zu interpretieren: »Wer das Leichtere nicht vermag, den Bruder, den man sieht, zu lieben, vermag das Schwerere, den unsichtbaren Gott zu lieben, erst recht nicht«762. Aber es heißt im Text nicht, wie sonst bei solchen Schlußverfahren öfter der Fall, »um wieviel mehr« oder »um wieviel weniger«. Es liegt bei der von uns bevorzugten Lesart nicht einmal eine Frageform vor, die eher als steigernder Schluß gelesen werden könnte. Die Logik dieser vermeintlich einleuchtenden Folgerung kann sehr leicht auf den Kopf gestellt werden. Bei der Gottesliebe besteht die Gefahr, daß sie ein reines Postulat bleibt, das die Lebenswirklichkeit eines Menschen kaum irgendwo tangiert. Den Mitmenschen können wir uns nicht so einfach entziehen, und hier kommt es oft genug vor, daß sie nichts Liebenswertes an sich zu tragen scheinen, jede »Liebenswürdigkeit« vermissen lassen. Konkrete Liebe zu üben fällt dann außerordentlich schwer. Genau dabei aber behaftet der Text seine Adressaten. Es werden also, kurz gesagt, keine Qualitätsabstufungen zwischen Bruderliebe und Gottesliebe vom Verf. vorgenommen. Der Begriff »Gebot« ist im Hohenlied der Liebe bisher noch nicht gefallen, 21 aber aus 2,7-8 (das alte und neue Gebot) und aus 3,23 (das Doppelgebot des Glaubens und der Liebe) bekannt. Das Gebot stammt »von ihm«, das bedeutet wie in 3,23 »von Gott«763. Ob das Gebot in 21c in eine Aufforderung mün-
762 So Windisch 131; ähnlich Braune 112. Vgl. Philo, Decal120: »Unmöglich aber ist es, daß die Ehrfurcht haben vor dem Unsichtbaren, die denen die Ehrfurcht versagen, die
sichtbar und ihnen nahe sind« (gemeint sind die Eltern als »sichtbare Götter«). 763 So die meisten Erklärer; auf Christus deuten Williams 52; Hauck 142.
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Die Praxis der Liebe (4,19-21)
det oder ob einfach eine lapidare Feststellung getroffen wird, läßt sich mit letzter Sicherheit nicht entscheiden. Jedenfalls bieten die letzten beiden Zeilen ein neues Doppelgebot, das zweite nach 3,23. Die innere Verschränkung von Gottesliebe und Geschwisterliebe berührt sich mit dem synoptischen Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29-31 parr). Es war offenbar auch in der johanneischen Tradition bekannt. Während es 3,23 durch die Umsetzung in das Doppelgebot des Glaubens und der Liebe völlig in johanneisches Denken transformiert, läßt 4,21 noch unmittelbarer den Rezeptionsvorgang erkennen. Erhebliche Unterschiede zu den Synoptikern sind aber auch für 4,21 zu konstatieren. Es fehlen die Abstufungen: das erste und größte Gebot; das zweite, diesem gleich. Es fehlen die näheren Begründungen und Ausführungsbestimmungen: aus ganzem Herzen, wie dich selbst. In extremer Kürze spielt 1Joh auf das Doppelgebot eigentlich nur an. Wirkungs- Mit V. 20 könnte ein Agraphon zusammenhängen, das Clemens Alex. in der Form zigeschichte tiert: »Du hast deinen Bruder gesehen, du hast deinen Gott gesehen«764. Der Brieftext wäre dann sekundär in ein mit höherer Autorität versehenes Jesuswort umgesetzt worden. - Augustinus ringt bereits mit der Frage, warum IJoh so intensiv die Bruderliebe anempfiehlt, von der Feindesliebe aber völlig schweigt. Er findet einen eleganten Ausweg: Wir sollen Feinde zu Brüdern machen und für Christus gewinnen, das ist die höchste Liebe, die wir ihnen schenken können, und darin fallen Feindesliebe und Bruderliebe in eins 765 . - Als weitere Momentaufuahme aus der Wirkungsgeschichte verdient noch eine Predigt von Sören Kierkegaard zu IJoh 4,20 Erwähnung. Der dänische Religionsphilosoph zieht darin gegen »alle eingebildeten und überspannten Vorstellungen von einer Traumwelt« der Liebe zu Feld und fordert, den konkret vorfindlichen Menschen »mit seinen Schwachheiten und Fehlern und Unvollkommenheiten« liebenswert zu finden 766 . Zusammen- Die Zuspitzung auf die Praxis der Liebe ist der dominierende Zug in diesem fassung letzten Abschnitt. Man kann es schon daran sehen, daß das Substantiv »liebe« nicht mehr begegnet, nur noch das Tätigkeitswort »lieben«. Aber das zum Schluß in polemischer Kontroverse formulierte Gebot der geschwisterlichen Liebe gewinnt seine Stoßrichtung und Dynamik aus dem, was vorausging: daß Gott Liebe ist, daß wir seiner Liebe in Jesus Christus ansichtig wurden, daß wir unsere Heimat im Raum der Liebe gefunden haben. Die Berührungen mit dem synoptischen Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, die wir für 21 vermutet haben, und die schon von Augustinus empfundene Lücke hinsichtlich der Feindesliebe sollen uns Anlaß sein, dem Verhältnis von Bruder-, Nächsten- und Feindesliebe nachzugehen.
v.
764 Clemens Alex., Strom I 19,94; II 15,71; auch Tertullian, Orat 26 (mit dominum); s. A. Resch, Agrapha. Aussercanonische Schriftfragmente, 21906, Repr. 1974 (TU 15/3-4), 182.
Augustinus 344.346.360.362. S. Kierkegaard, Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden, Düsseldorf 1966 (Gesammelte Werke 19), 170-192 (Zitate 174.178). 765 766
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Grenzen des Liebesgebots ?
Exkurs 3: Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern a
Grenzen des Liebesgebots?
Literatur: Bouttier, M., La notion de freres chez saint Jean, RHPhR 44 (1964) 179-190; Coppens, J., 'Agape et 'Agapän dans les Lettres johanniques, EThL 45 (1969) 125-127; Lattke, M., Einheit im Wort. Die spezifische Bedeutung von &.Y
767 Vgl. die Inschrift einer Kultgenossenschaft auf Delos aus dem 2. Jh. v.ehr. bei F. Sokolowski, Lois sacrees de cites grecques. Supplement, Paris 1962 (Ecole fran~aise d'Athenes. Travaux et memoires ... 9), Nr.
57, Z. 7f (mit Lit.); weiteres bei Schelke~; s. auch G.H.R. Horsley (Hrsg.), New Documents lllustrating Early ehristianity 1 (1981) 59f; 2 (1982) 49f; 5 (1989) 73, 768 1QS 6,10.22; Josephus, Bell 2,122.
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Exkurs 3: Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern
gen in den Jesusworten Mk 3,35 parr und Mk 10,30 parr, zum andern das Gebet zu Gott als Vater in Mt 6,9 par. 3 Die theologischen Voraussetzungen für das Bruder- und Schwestersein aller Glaubenden gibt bei Johannes ihre gemeinsame Gotteskindschaft ab, die durch den Glauben (Joh 1,12-13) als Geschenk des Geistes (Joh 3,5) zustande kommt. Als Kinder eines Vaters (vgl. Joh 20,17: »Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater«) sind sie untereinander Geschwister. Anders etwa als die Stoa, die von der göttlichen Herkunft aller Menschen und von einem universalen geschwisterlichen Band zwischen ihnen allen sprach, erkennt das johanneische Schrifttum echte Gotteskindschaft nur denen zu, die an Christus glauben. 4 Um im Anschluß daran die entscheidende Frage gleich auf den Punkt zu bringen: Das johanneische Schrifttum spricht beharrlich immer nur von der Liebe untereinander und von der Liebe zu den Brüdern, erläutert das lediglich an einer Stelle einmal als Liebe zu den Freunden (Joh 15,13: »Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde«). Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Liebe erst einmal programmatisch im Raum der Gemeinde zu realisieren ist. Anders augenscheinlich die synoptischen Jesustraditionen, wo das Liebesgebot als Forderung der Liebe zum Nächsten und zum Feind erscheint. Hier Bruder- und Freundesliebe, dort Nächsten- und Feindesliebe. Hat etwa die johanneische Tradition die ursprüngliche Weite des jesuanischen Liebesgebotes verraten 769 ? Hat die johanneische Gemeinde eine Mentalität entwickelt, die man nur noch als sektiererisch einstufen kann: Die Grenzen der Liebe decken sich mit den Grenzen der Gemeinde? Vertritt 1Joh eine verengte Konventikelethik7 7o, die nur für den engen Raum einer marginalisierten und gettoisierten Gemeinde konzipiert ist? In mehreren Gedankengängen seien Elemente zu einer differenzierteren Beantwortung dieser Fragen zusammengestellt. 5 Man muß vorsichtig damit sein, das synoptische Liebesgebot zu rasch als universelle Menschenliebe zu formalisieren. Dabei würde ihm ein Stück seiner unentbehrlichen Konkretheit genommen. Beim Begriff des Nächsten liegt ein partikularistisches Verständnis schon vom Wortlaut her nahe. Der Nächste ist jemand, der mir zumindest räumlich nahesteht, mit dem ich in Kontakt trete. Einer Engführung des Nächstenbegriffs auf Angehörige der gleichen Sippe oder des gleichen Volkes hin wird durch die korrelierende Forderung der Liebe zum Feind vorgebaut. Aber wenn wir 769 Vgl. E. Stauffer, Die Botschaft Jesu damals und heute, 1959 (DTb 333), 47: »... der Geist der qumranischen Ordensregel ... hat den Geist Jesu von Nazareth aus den Mauern der johanneischen Schule vertrieben«. 770 Das Wort »partikularistische Konventikelethik« fällt bei W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, 1982 (GNT 4),300; sehr pointiert Rese" 57: »Das Gebot der Bruderliebe hat zu einer bestimmten Zeit, in einem begrenzten Raum und in genau zu bezeichnenden Gemeinden das Gebot der Nächstenliebe nicht nur eingeschränkt, sondern schlicht ausser Kraft gesetzt ... Unter dem Markenzeichen der Bruderliebe sah man nur noch auf die eigene, konventikelhafte Gemeinschaft
... Die Welt wurde zur teuflischen Gegenmacht, christliches Handeln auf den Binnenraum der Gemeinden der gleichgesinnten Brüder begrenzt und christliche Theologie zur Esoterik des eingeweihten Zirkels«; kaum weniger scharf W. Marxsen, »Christliche« und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 263: »Da ist dann festzustellen, daß die Bruderliebe der johanneischen Schule mit einer Lieblosigkeit erkauft wird, die innerhalb der neutestamentlichen Schriften beispielslos ist.« Deutlich anders wiederum S. Schulz, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987 (Zürcher Grundrisse zur Bibel), 524-527; Strecker" 6lf; Schnackenburg".
Bruderliebe und Feindesliebe
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uns dazu die einschlägigen Texte ansehen, bemerken wir auch dort ein Höchstmaß an Konkretheit. Gemeint ist der Feind, mit dem ich unmittelbar zu tun bekomme, der mich ins Gesicht schlägt, der mich zum Frondienst zwingt, der mit mir vor Gericht prozessieren will, der mir mit seiner Bettelei lästig fällt (Mt 5,39-42). Auch die narrative Überwindung einer zu engen Sicht des Nächsten in Lk 10,29-37 kommt nicht ohne die konkrete Kategorie der Begegnung aus. 6 Wenn man den Bruderkonflikt in 1Joh 3,12 modellhaft versteht, scheint eine Ausweitung des johanneischen Liebesgebotes möglich. Die Liebe ist auch und gerade im Nebeneinander von Geschwistern nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, der Bruderkonflikt dürfte eine Art Archetyp menschlicher Feindschaft sein. In Anbetracht dessen kann die Geschwisterliebe ein Paradigma werden (dazu auch 1Joh 5,1) für den' Umgang, den Menschen miteinander pflegen sollten. Die geschwisterliche Liebe zeigt, wie Konkurrenzdenken, Neid und andere Grundkonflikte generell überwunden werden können (ein anderes analoges Beispiel aus dem AT wären Josef und seine Brüder; es wird in den TestXII als Beispiel für die Verwirklichung des Liebesgebotes gewählt, weil in diesem Paradigma Bruderliebe, Nächstenliebe und Feindesliebe ein Stück weit zusammentreffen771 ). 7 Eine Einschätzung der johanneischen Bruderliebe als rein esoterisch und konventikelhaft geht in der Forschung meist Hand in Hand mit einer ausschließlich negativen Bestimmung des johanneischen Weltbegriffs, der auf ein völlig gebrochenes Weltverhältnis festgelegt wird 772 . Das ist allen entgegenstehenden Behauptungen zum Trotz eine einseitige Sicht der Dinge. Programmatische Aussagen wie Joh 3,16 oder 1Joh 2,2 werden dabei regelmäßig heruntergespielt. Der Kosmosbegriff bleibt bei aller dualistischen Einfärbung dialektisch angelegt. Die positiven Aspekte sind zahlreicher, als manche Darstellungen vermuten lassen. 8 Ohne alles damit erklären und entschuldigen zu wollen, gilt es doch, der johanneischen Gemeinde in ihrer besonderen Situation Gerechtigkeit widerfahren zu lassen 773 . Es ist ein Stück soziologischer Gesetzmäßigkeit, daß sich neue Kleingruppen, die sich dem Druck einer feindlichen Umwelt ausgesetzt sehen, nach innen konzentrieren. Aufbau und Pflege des Binnenverhältnisses erhalten in der Werteskala hohe Priorität. Die johanneische Restgemeinde war mit solchem Druck konfrontiert. Zu den repressiven Maßnahmen von seiten »weltlicher« Autoritäten, die das Johannesevangelium erahnen läßt, tritt im 1Joh als weiteres Trauma das innerjohanneische Schisma mit seinen weitreichenden sozialen Folgen hinzu. Soziale Fürsorge und Hilfe in Notlagen hingen in der Antike fast gänzlich vom Netzwerk der persönlichen Beziehungen ab. Christen konnte es zustoßen, daß sie durch ihren Übertritt zur Gemeinde aus allen sozialen Sicherungssystemen herausfielen. Hier war im Notfall die Gemeinde gefordert, d.h. ganz konkret: Ein Christ, der über materielle und finanzielle Möglichkeiten verfügte, sah sich gezwungen, der eigenen Familie Geld zu entziehen und es für Menschen, die ihm vorher fremd gewesen waren, zur Verfügung zu stellen. Das heißt zwar nicht Nächsten- oder Feindesliebe, sondern Liebe zu den Brüdern und Schwestern, kann aber im Einzelfall genauso weh tun. Es müssen alte Loyalitäten 771 Vgl. TestRub 6,9; TestSim 4,4.6-7; Test Seb 8,5; TestJos 17,2.5. Zur Bruderliebe, wörtlich verstanden, und zu ihrer Verwurzelung in der antiken Familienethik s.u. zu 5,1. 772 Als Beispiel vgl. nur Rese* 58: Die »Ursache der ganzen Fehlentwicklung hin zum
weltfernen Konventikel« ist »die total negative Sicht der Welt«; mit ihr »wird Gottes Schöpferanspruch auf diese Welt aufgegeben«. 773 Gute Beobachtungen dazu bei Perkins 27f.
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Exkurs 3: Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern
über Bord geworfen werden, um den Anforderungen innerhalb der Gemeinde nachkommen zu können. Ein Appell zu einem solchen Verhalten, zu dem sich die Gegner des Briefautors anscheinend nicht länger verpflichtet fühlten, findet sich in 1Joh 3,17. Wir können auch Paulus vergleichen, der in Ga16,10 dazu aufruft, allen Menschen Gutes zu tun, »am meisten aber den Hausgenossen des Glaubens«. Das besagt nicht Einschränkung der Liebespflicht, sondern deren Intensivierung und Konkretisierung. Wo soll man damit beginnen, wenn nicht zu Hause? 9 Selbstverständlich hatte die johanneische Gemeinde aufgrund ihrer marginalisierten Lage erhebliche Probleme mit ihrem Außenverhältnis. Die Beziehungen zur Umwelt waren gestört, die Versuchung zur Abkapselung und zur Gettobildung hat sicher bestanden. Die »Weltfeindlichkeit« von 2,15-17 und die unversöhnliche Haltung den Gegnern gegenüber sind deutliche Warnsignale. Dazu würde es passen, wenn die mehr unreflektierte, aus sozialen Zwängen erwachsende Einschränkung des Liebesgebotes auf die Gemeinde zu einem förmlichen Programm erhoben würde. Wie weit das in der Praxis ging, wissen wir nicht. In der Theorie zumindest ist dies nicht geschehen, hier haben wir immer noch erhebliche Gegengewichte. Wir wissen auch nicht, wie sich die johanneische Restgemeinde weiterentwickelt hätte, wenn sie allein geblieben wäre. Es ist durchaus möglich, daß dann jenes selbstgenügsame, nach außen abgeschottete Konventikel entstanden wäre, das manche Erklärer schon im 1Joh anzutreffen meinen. Vor diesem letzten Schritt ist die johanneische Gemeinde aber bewahrt geblieben durch ihren - von den Umständen erzwungenen - Anschluß an die großkirchlichen Gemeinden mit petrinisch-synoptischer Orientierung, wie sie sich im Nachtragskapitel Joh 21 spiegelt. Die johanneischen Christen übernahmen großkirchliche Strukturen, konnten dafür im Gegenzug aber ihr eigenes theologisches Erbe einbringen. 10 Unter diesen Voraussetzungen scheint es historisch und hermeneutisch nicht illegitim, die johanneische Geschwisterliebe von diesem Moment der erfolgten Integration an mit der synoptischen Nächsten- und Feindesliebe zusammenzusehen. Im gleichen Augenblick erledigen sich weithin die Probleme, die wir mit der isolierten Geschwisterliebe zugestandenermaßen haben. Als Positivum darf festgehalten werden: Das johanneische Schrifttum spricht von der Liebe mit einer sonst kaum erreichten Tiefe und Intensität. Es ruft wenigstens punktuell (lJoh 3,17) dazu auf, Liebe nicht zu einem Abstraktum verkümmern zu lassen, sondern konkret zu bleiben. Es insistiert darauf, daß die christliche Gemeinde der primäre Ort für die Praxis christlicher Liebe ist. Von der Gemeinde kann sie und muß sie in die Welt hinaus ausstrahlen. Aber eine im Inneren lieblose Gemeinde kann der Welt, das versteht sich von selbst, kein Zeugnis der Liebe geben. Die Gefahrenmomente der johanneischen Geschwisterliebe brauchen in diesem Gesamtbild keineswegs unterdrückt zu werden, sondern dienen weiterhin als hilfreiche Warnung, die Orientierung auf die Gemeinde hin nicht absolut zu setzen und den Weltauftrag der Gemeinde nicht zu vergessen. Hier bieten die Traditionen der Nächstenliebe und der Feindesliebe hinreichende und hilfreiche Korrekturen.
b Sektenmentalität? Literatur: Beutler, ]., Kirche als Sekte? - Zum Kirchenbild der johanneischen Abschiedsreden, ThAk 10 (1973) 42-57; Bogart, Perfectionism 136-141; Brown, R.E.,
Sekten mentalität?
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»Other Sheep not ofThis Fold<<: The Johannine Perspective on Christian Diversity in the Late First Century, JBL 97 (1978) 5-22; Holmberg, B., Sociology and the New Testament. An Appraisal, Minneapolis 1990, 77-117; Johnson, Antitheses 260-302; Meeks, W.A., The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, JBL 91 (1972) 44-72; Rebell, w., Gemeinde als Gegenwelt. Zur soziologischen und didaktischen Funktion des Johannesevangeliums, 1987 (BbETh 20), 112-123; Segovia, F.F., The Love and Hatred of Jesus in Johannine Sectarianism, CBQ 43 (1981) 258-272; ders., Love Relationships 204-213; Seland, T., Jesus as a Faction Leader. On the Exit of the Category >sect<, in: Context (FS P.J. Borgen), Trondheim 1987 (Relieff 24), 197-211. 1 Mit den Erwägungen über die Grenzen des Liebesgebotes sind wir indirekt auch auf eine andere Frage eingegangen, die in der Exegese des 1Joh derzeit diskutiert wird: War die Gemeinschaft der Gotteskinder, wie sich die johanneische Gemeinde selbst verstand 774 , in Wirklichkeit eine Sekte? Es ist fast zu einer Modeerscheinung geworden, das Urchristentum insgesamt als sektiererische Bewegung anzusehen 775, den johanneischen Kreis wegen seines besonders ausgeprägten Sektencharakters gesondert herauszuheben776 und innerjohanneisch der im 1Joh erreichten Spätphase der Gemeindegeschichte eine erneute Intensivierung der Sektenmentalität zu attestieren 777• Wie bei allen Modewellen scheint auch in diesem Fall Skepsis am Platz. 2 Ausführlich hat sich des Themas Johnson* angenommen, der auch in größerem Umfang die soziologische Literatur verarbeitet. Er stellt zwölf Charakteristika für eine Sekte zusammen, die er der Reihe nach in den Johannesbriefen wiederfindet: 1. dualistic view of reality; 2. rejection of the world; 3. claim to special truth or doctrine; 4. exclusivism, an elect community of the »worthy«; 5. voluntary membership on the basis of special religious experience or knowledge; 6. totalism, domination of the lives of members; 7. equalitarian yet authoritarian organization; 8. intimate fellowship; 9. strict morality, perfectionism; 10. socio-economic deprivation; 11. emphasis on eschatology; 12. tendency toward schism 77B • An der Basis von alldem entdeckt er zwei Prinzipien, Ausbildung einer Ideologie nach innen hin und Trennung von der Welt nach außen hin 779 . An diesen und ähnliche Entwürfe ist die doppelte Frage zu richten, inwieweit sich die Kategorie der Sekte überhaupt als Beschreibungskriterium eignet und ob der Umgang mit den exegetischen Daten stimmt. 3 Was seine Herkunft angeht, ist der Begriff der Sekte eng dem Gegenüber zu den verfaßten Kirchen verhaftet. Ob es schon gelungen ist, ein von christlichen Einflüssen völlig freies, rein phänomenologisch angelegtes Konzept einer Sekte zu erarbeiten, muß bezweifelt werden 780. Ebenso erscheint es sehr schwierig, einen wertfreien Gebrauch des Terminus Sekte zu etablieren. Es steht im Gegenteil zu befürchten, daß die
774 Vgl. H. Klein, Die Gemeinschaft der Gotteskinder. Zur Ekklesiologie der johanneischen Schriften, in: Kirchengemeinschaft - Anspruch und Wirklichkeit (FS G. Kretschmar), Stuttgart 1986, 59-67. 775 Vgl. das kritische Referat bei Holmberg*. 776 Meeks*; Rebell*; abwehrend Beutler*; Brown* (der aber die Definition der Sekte zu einseitig auf das Verhältnis zu anderen Gemeinden festlegt).
777 Segovia*, Love Relationships 212: »more exclusivistic, more sectarian than ... the author of the Gospel«; anders Bogart*, der im 1Joh einen Schritt weg von der noch extremeren sektiererischen Haltung des Johannesevangeliums erkennt. 77B Johnson* 269f. 779 Johnson* 262f. 780 Vgl. Holmberg* 109f.
282
Zeugnis für den Glauben (5,1-12)
offensichtliche Attraktivität der Arbeit mit der Sektentypologie von dem Verfremdungseffekt, um nicht zu sagen von dem Schock, den sie ausübt, herrührt. Die ersten christlichen Gruppen sahen sicher völlig anders aus als unsere heutigen Kirchen. Wenn nur das gesagt werden soll, verdient es volle Zustimmung. Aber kann man die Rückprojektion neuzeitlicher Kirchenbilder auf das Urchristentum dadurch überwinden, daß man das weithin neuzeitlich geprägte Sektenphänomen zurückprojiziert? Besser wäre es doch wohl, nach Kategorien zu suchen, die der antiken Mittelmeerwelt angemessener sind 781. 4. Die exegetischen Entscheidungen, die in die Klassifizierung der johanneischen Gemeinde als Sekte eingehen, wurden oben schon beleuchtet. Das Weltverhältnis der johanneischen Christen ist nicht so völlig gebrochen, ihr Exklusivitätsbewußtsein und ihre Abschottung nach außen nicht so total, wie es die Sektenthese voraussetzt. Manches aus dem Katalog bei Johnson* wie Wahrheitsanspruch, Gemeinschaftsgefühl und ein nicht völlig spannungsfreies Weltverhältnis gehört doch wohl zu den Grundbedingungen christlichen Glaubenslebens. Anderes signalisiert Gefahrenmomente, die auch die verfaßten Kirchen immer wieder bedrohen. Daß dies und inwieweit dies auch die Gemeinde des 1Joh betrifft, haben wir deutlich herausgestellt (s.o. unter 9 und 10). Über die Notwendigkeit, zur Kennzeichnung solcher bedenklicher Tendenzen und Trends die Sektendiskussion mit ihrem ganzen Begriffsapparat zu bemühen, kann man geteilter Meinung sein. Der zusätzliche Erkenntnisgewinn erscheint eher gering. Wichtiger als der Streit um die Etiketten ist sowieso die Behandlung der Sachfragen.
3 Zeugnis für den Glauben (5,1-12) Wir kommen zum dritten und letzten Abschnitt im dritten Hauptteil, den wir von 4,1 bis 5,12 angesetzt und mit der Überschrift »Glaube und Liebe auf dem Prüfstand« versehen hatten. Im Zentrum stand das Hohelied der Liebe in 4,7-21. Ein Echo davon enthält noch 5,ld-3, wo ein letztes Mal die verschiedenen Relationen entfaltet werden, in denen die Liebe steht. Aber das wird eingerahmt von Aussagen über den Glauben (in 1a, in 4d und in V. 5). Eng mit der Glaubensthematik verbunden ist der eigentliche Schwerpunkt von 5,1-12, den das Wortfeld von »Bezeugen« und »Zeugnis« markiert. Stilistisch fällt die Häufung von thetischen Sätzen (»jeder, der glaubt« in la; »wer nicht glaubt« in 10c etc.) und von Definitionssätzen (»und dies ist der Sieg« in 4c; »und dies ist das Zeugnis« in 11a u.ö.) auf. Ersteres erinnert an die antithetischen Satzpaare aus Kap. 3, letzteres an frühere Einleitungsformeln wie »denn dies ist die Botschaft« in 3,11 (vgl. 1,5; 3,23). Bei der Abgrenzung von kleineren Einheiten besteht die Schwierigkeit, daß v. 5 und v. 9 als Übergangsverse zum Vorstehenden oder zum Nachfolgenden gezogen werden können. Wir lassen die erste Perikope bis 5,5 reichen, weil sich so durch lab und 5cd eine Inklusio ergibt. 5,9 ziehen wir zu 5,10-12, weil ll-aQ't'UQLa (3mal in V. 9; 2mal in V. 10; Imal in V. 11) und später ~wi] Ge 781
Vgl. Seland* (mit Lit.).
l/oh 5,1-5: Übersetzung, Analyse
283
v.
2mal in V. 11 und 12) die Verse zusammenbinden. Als Mittelstück bleibt 5,6-8: Wasser, Blut und Geist als die drei Zeugen 782 .
Der Sieg des Glaubens (5,1-5)
a
Literatur: Kittler, K, Erweis der Bruderliebe an der Bruderliebe?! Versuch der Auslegung eines »fast unverständlichen« Satzes im 1. Johannesbrief, KuD 16 (1970) 223228; Klauck, H.]., Brotherly Love in Plutarch and in 4 Maccabees, in: Greeks, Romans, and Christians (FS Al Malherbe), Philadelphia 1990, 144-156. 1a
b c
d e f
g 2a
b c d 3a
b c 4a
b c d 5a
b c d
Jeder, der glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott gezeugt. Und jeder, der den liebt, der erzeugt hat, liebt [auch783) den, der aus ihm gezeugt worden ist. Daran erkennen wir, daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn immer wir Gott lieben und seine Gebote tun784 • Denn dies ist die Liebe Gottes, daß wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer, weil alles, was aus Gott gezeugt worden ist, die Welt besiegt. Und dies ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser785 Glaube. Wer [aber786) ist es, der die Welt besiegt, wenn nicht der, der glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?
Die Einheit rahmen in 1b und 5d zwei Bekenntnisse zu Jesus als Christus und Gottes- Analyse sohn, die anders als in 4,2.15 nicht mit »bekennen«, sondern mit »glauben« eingeleitet werden. Wenn wir uns für die weitere Analyse an den zusammengehörigen Wort782 Mit 5,1-5 als Einheit arbeiten Lewis 112 und Moody 101, die dann aber 5,6-13 als eine Perikope zusammenfassen. 5,9-12 trennen Schnackenburg 263 und Brown 599 als eigenes Textstück ab. 5,6-8 wird selten als Einheit zusammengenommen, vgl. aber Calmes 89; Ross 212. 783 xaL wird u.a. geboten von K A und dem Mehrheitstext, ausgelassen von B.
784 »... seine Gebote halten ("tlleWJ.I.EV)« lesen K K L P Byz, eine Angleichung an den üblichen Sprachgebrauch. 785 Für die LA »euer Glaube« ausführliche Materialdarbietung bei Aland, Text und Textwert 1/1, 159. 786 öt in K und (mit Umstellung) in B, fehlt im Mehrheitstext.
284
Der Sieg des Glaubens (5,1-5)
gruppen orientieren, fallen vier Substantive auf, denen jeweils mehrere Verben zugeordnet sind: »Kinder Gottes« in 2b, dazugehörig »gezeugt (aus Gott)« in 1ceg und 4a; »Liebe Gottes« in 3a, dazu »lieben« in 1df und 2b; »Sieg« in 4c, dazu »die Welt besiegen« in 4bd und Sb; »Glaube« in 4d (der einzige Beleg für das Substantiv im johanneischen Schrifttum, abgesehen von der üffb), dazu »glauben« in 1a und Sc. Noch nicht erfaßt ist damit das Thema des Haltens der Gebote Gottes in 2d und 3bc. Man sieht auf einen Blick, wie (1) Glaube und Liebe als beherrschende Anliegen des Großabschnitts noch einmal miteinander verschränkt werden, dies aber so, daß der Glaube nun die Führung übernimmt, wie (2) zugleich darüber hinaus mit der Zeugung aus Gott und dem Halten der Gebote Leitbegriffe aus Kap. 2-3 wieder zum Vorschein kommen und wie schließlich (3) das Wortfeld des Sieges einen neuen Akzent hereinbringt. An bekannten sprachlich-stilistischen Mitteln finden Verwendung: die partizipialen Satzanfänge mit:rtiif; ö in lad (vgl. 3,4a etc.) bzw. :rtäv.o in 4a 787 , mit »dies ist« eingeleitete Definitionssätze in 3a und 4c sowie ein typischer Kennzeichensatz in 2a, wo sich f:v mmq> nicht zurückbezieht auf V. 1788 , sondern nach vorne auf den ö.uv-Satz in 2c 789 , der hier den sonst üblichen Nebensatz mit EUV vertritt. In Analogie zu 2,3 gibt also der ö"tL-Satz in 2b den Inhalt des Erkennens und der ömv-Satz in 2cd den Erkenntnisgrund an (2d kann sicher nicht als eigenständiger Hauptsatz aufgefaßt werden, sondern gehört koordiniert zum Nebensatz).
Erklärung V. 1 beginnt im Stil der antithetischen Sätze aus Kap. 3, doch ist diesmal nur lab die positive Seite weiter ausgeführt. Das negative Gegenstück stand sozusagen schon in 2,22_23 79 Dort fand sich in negierter Form auch schon der Bekenntnissatz »Jesus ist der Christus« (2,22c), den 1b zitiert. V. 5 wird dem den anderen Satztyp an die Stelle stellen: »Jesus ist der Sohn Gottes« (vgl. 2,23c; 4,15b). Das sind die beiden Formen des christologischen Grundbekenntnisses in der johanneischen Gemeinde, die eine vermutlich etwas älter, die andere wohl etwas aktueller, aber beide doch im Prinzip gleichwertig, so daß man sie auch zu einer Aussage zusammenfügen kann, wie es im Evangelium in 20,31 geschieht: »... damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes«. Daß es jetzt in der Einleitung »glauben« heißt statt »bekennen« (2,23c; 4,15a), deutet einen Gedankenfortschritt an. Beim Bekennen werden diese Sätze laut ausgesprochen, und das ist notwendig und gut so, aber Voraussetzung dafür bleibt, daß alle, die in der Öffentlichkeit der Gemeinde so sprechen, sich diese Sätze auch innerlich angeeignet haben als fundamentales Glaubensgue 91 • Das öffentliche Bekennen verliert dadurch nicht an Gewicht, gewinnt 1c aber an Tiefe. Das Sein der Glaubenden aus Gott, eingefangen in die Zeugungsmetaphorik, wurde zuvor am Tun der Gerechtigkeit (2,29), an der Sündlosigkeit (3,9) und an der Praxis der Liebe (4,7) abgelesen. Hier nun steht
°.
787 Bultrnann 80 (vgl. ders., Analyse 119) versucht, aus V. 1 und V. 4 eine Vorlage zu rekonstruieren, die etwa gelautet habe: »Jeder, der seinen Bruder liebt, ist aus Gott gezeugt, und alles, was aus Gott gezeugt wurde, besiegt die Welt.«
So Weiss 136; Dodd 125. Mit Bonnard 103; Erdmann, Argumenturn 185; Vellanickal, Sonship 328f. 790 Vgl. Schunack 90. 791 Vgl. Haupt, Brief 243f. 788 789
IJoh 5,lc-g: Erklärung
285
es in engster Korrelation zum Glaubensakt, wie im Evangelienprolog in Joh 1,12f: »... ihnen gab er die Vollmacht, Kinder Gottes zu werden, denen, die glauben an seinen Namen, die ... aus Gott gezeugt sind.« Das Sein aus Gott verwirklicht sich im Ineinander von bekennendem Glauben und liebendem Tun, so ja auch die Intention des Doppelgebotes aus 3,23, das die ganze Gedankenführung innerlich bestimmt. Die Erwähnung der Zeugung der Glaubenden aus Gott gibt in der zweiten 1d-g Vershälfte Anlaß zu einem Wortspiel, das inhaltlich von einer neuen Seite her die Korrespondenz von Liebe zu Gott und Liebe zu den Brüdern und Schwestern beleuchtet: Wer den liebt, der gezeugt hat - das ist Gott -, der liebt auch den, der aus Gott gezeugt worden ist - das sind die Mitglaubenden, die Brüder und Schwestern in der Gemeinde. Daß die Deutung von »der aus ihm gezeugt worden ist« auf Jesus Christus als Gottessohn 792 nicht aufgeht, stellt schon der parallele Vers 2b unter Beweis, der das in Hg Gesagte mit anderen, einfacheren Worten als Liebe zu den Kindern Gottes umschreibt (zur Abfolge von »aus Gott gezeugt« und »Kinder Gottes« vgl. 2,29 mit 3,1-2; 3,9 mit 3,10). Die komplizierte Ausdrucksweise in V. 1 dürfte damit zusammenhängen, daß der Autor hier eine profane Sentenz aus dem Erfahrungsbereich der Familie verwendet 793. Im Verein mit dem Brudermord aus 3,12, wo mit Kain und Abel ein echtes Brüderpaar das Paradigma für Geschwisterliebe abgab, verweist uns diese Maxime auf eine der übertragenen Verwendung (s. Exkurs 3) vorausliegende Verwurzelung der Bruderliebe, wörtlich verstanden, im antiken Familienethos. Im jüdischen Schrifttum bietet 4Makk 13,19 - 14,1 eine schöne Behandlung der Bru- Bruderliebe derliebe im wörtlichen Sinn, wenn auch mit eigener Zielsetzung. Die Benutzung von - wörtlich einschlägigen hellenistischen Traktaten läßt sich für 4 Makk im einzelnen nachweisen 794 • Von den wenigen überlieferten Abhandlungen 795 verdient Plutarchs Schrift De fra terno amorel 96 gesonderte Erwähnung. Am nächsten reichen an die Sentenz in 1Joh seine Bemerkungen heran: »Welche Handlung, welcher Dankeserweis und welche Gesinnung von Kindern könnte den Eltern größere Freude machen als feste Neigung und Freundschaft zu einem Bruder?« (Frat Am 4 [480A]); »Tüchtige und fromme Kinder werden nicht nur einander um so mehr lieben um ihrer Eltern willen, sondern werden auch ihre Eltern um so mehr lieben um der anderen (Geschwister) willen ... Was also die Eltern angeht, ist die Bruderliebe von der Art, daß einen Bruder zu lieben zugleich auch einen Beweis abgibt für die Liebe zu Mutter und Vater« (6 [480E/ F]). Die Metaphorisierung ist bei Plutarch angezeigt, wenn er die Möglichkeit erörtert, daß »jemand einen Gefährten (ttULQOV) bei Freundschaftsbezeigungen und in Briefen [I] >Bruder< nennt, mit seinem wirklichen Bruder aber nicht einmal denselben 792 Vertreten vor allem von Augustinus 412; diskutiert, aber nicht befürwortet bei Estius 740. 793 Neil Alexander 115: »almost a proverb. It applies to any family.« 794 Vgl. Klauek*. 795 Aristoteles, Eth Nie VIII 12,3-6 (1161b-
1162a); Xenophon, Cyrop VIII 7,14-16; Mem 11 3,4; Hierokles, bei Stobäus IV 27,20. 796 Moralia 478A-492D; dazu HD. Betz, in: ders. (Hrsg.), Plutareh's Ethieal Writings and Early Christian Literature, 1978 (SCHNT 4), 231-263; Klauek*.
286
Der Sieg des Glaubens (5,1-5)
Weg gemeinsam machen will« (3 [479D]). Aufschlußreich ist ferner, daß Plutarch Topoi aus der Freundschaftsethik in die familiäre Bruderethik überträgt und umgekehrt 797. Für die Bruderliebe gelten die Gesetze der Freundesliebe, sind doch »die meisten Freundschaften nichts als Schatten, Nachahmungen und Abbildungen jener ersten Freundschaft, welche die Natur den Kindern gegenüber den Eltern und Brüdern gegenüber Brüdern einpflanzte« (3 [479C/D]). Hier zeichnen sich die Bahnen ab, auf welchen familiäres Bruderethos und das Ethos der Freundesliebe einander angenähert und zur Deutung der geschwisterlichen Liebe unter den Glaubenden in der johanneischen Gemeinde eingesetzt werden konnten. 2 V. 2 hat der Auslegung immer schon erhebliche Widerstände entgegengesetzt. Das Problem besteht näherhin darin, daß hier auf einmal die Liebe zu Gott das Erkenntniskriterium für die Praxis der Liebe zu den Brüdern und Schwestern abgeben soll, während 4,20 eher das umgekehrte Verhältnis voraussetzt und 2,3 zwar nicht für die Liebe zu Gott, aber doch für das Erkennen Gottes als Erkenntniskriterium das Halten seiner Gebote, die in der Geschwisterliebe gipfeln, angibt. Wurden hier Erkenntnisgrund und Erkenntnisobjekt einfach vertauscht, aus Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit sogar79B ? Der Wunsch, den naheliegenden Verdacht eines Zirkelschlusses zu vermeiden, hat bis zu Eingriffen in den Wortlaut des Textes geführt, die mit kleineren Umstellungen den Sinn herausbekommen: Daran erkennen wir, daß wir Gott lieben, wenn wir seine Kinder lieben799 , also in etwa das Gegenteil dessen, was im Text steht. Andere Ausleger interpretieren von V. 1 her: Aus der dort niedergelegten allgemeinen Regel und ihrer konkreten Anwendung wissen wir, daß wir die Kinder Gottes lieben müssen, wenn immer wir Gott lie-
benBoo . Wenn wir an dem rein sprachlich näherliegenden Verständnis festhalten, demzufolge tatsächlich 2b das angibt, was man erkennt, nämlich die Geschwisterliebe, und 2cd das, woran man es erkennt, nämlich an der Gottesliebe und am Halten der Gebote (dazu in Kürze mehr), wäre zunächst zu fragen, was an einem Zirkelschluß so schrecklich sein soll. Könnte es nicht sein, daß Bultmanns zögernde Überlegung den Kern der Sache trifft: »Dann wäre gleichsam ein Kreis gebildet, der von einem bloßen Zuschauer aus nicht verständlich ist, sondern nur von dem, der als Liebender-Geliebter innerhalb des Kreises steht«B01? Ganz gewiß kann man damit keinem Menschen etwas be797 Vgl. bes. Frat Am 20 (490E); dazu Betz, a.a.O.260. 79B Vgl. die pointierte, aber auch überzogene Kritik bei Baumgarten 216, der sich über die »geistreich spielende Manier des Verfassers« beklagt, weil dieser »das logische Verhältnis zweier Größen« einfach umdreht und nun an der »doch verborgenen, unkontrollierbaren Gottesliebe« die »sonst immer wegen ihrer Erfahrbarkeit gepriesene Bruderliebe« ablesen wolle.
799 Referiert bei Düsterdieck II 335f; Holtzmann 354. BOO SO Marshall 227f, mit dem entlarvenden Eingeständnis: »So John is saying what we would expect hirn to say"; Auseinandersetzung mit dem Auslegungstyp, der von V. 1 ausgeht, bei Kohler 165f. BOI Buhmann 81; vgl. Moody 103: »Love is a perfect circle that runs both ways.«
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l]oh 5,2-3b: Erklärung
weisen, Außenstehenden so wenig wie Gegnern, aber Beweisen ist ja auch nicht das Ziel dieser eigentümlichen Glaubenslogik, die bei ihren Adressaten Insiderkenntnisse der johanneischen Theologie voraussetzt und sie in einer Stunde äußerer Anfechtung der inneren Sicherheit ihres Glaubensstandes vergewissern will. Wir brauchen uns aber damit gar nicht zu begnügen, denn der Text führt selbst einen Schritt weiter, wenn er unser auf Gott gerichtetes Lieben im nächsten Satz als ein Tun, d.h. als konkrete Ausführung von Gottes Geboten präzisiert. Die Gebote in ihrer Vielzahl konvergieren auf das eine Gebot der geschwisterlichen Liebe hin, das dem gesamten Verhalten der Glaubenden seinen Stempel aufdrückt. Auch dabei mag man nach wie vor eine Tautologie verspüren: Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern (2b) erkennt man an der Realisierung des Gebotes der Liebe zu den Brüdern und Schwestern (2d). Zum einen gilt analog das oben zum Verdacht des Zirkelschlusses Gesagte: So schrecklich wären Zirkelschlüsse und Tautologien innerhalb einer Beschreibung des Glaubensvollzuges nicht. Die sprachlichen Ausdrucksmittel stoßen an eine Grenze. Zum anderen gewinnt die Geschwisterliebe, die in 2b und 2d von zwei Seiten her angegangen wird, eben doch eine besondere Note dadurch, daß der mittlere Satz in 2c unsere Liehe zu Gott als Erkenntnisgrund namhaft macht. Erklärt wird damit, woher überhaupt unsere Liebe zu den Brüdern und Schwestern ihre Ermöglichung und ihre Impulse empfängt, warum sie z.B. im Ernstfall auch die Form der Lebenshingabe für die anderen in Angleichung an die Lebenshingabe Jesu (3,16) annehmen kann B02• Eine doppelte Einschränkung wird im Text, wie in der Auslegungsliteratur verschiedentlich vermerkt, in der Tat gesetzt: Subjekt der Liebe zu den Brüdern und Schwestern sind nur solche, die selbst Gott lieben und, wenn wir V. 1 hinzunehmen, sich zu Jesus Christus bekennen, mit anderen Worten Christen, und Objekt ihrer Liebe sind nur Kinder Gottes, d.h. Mitglieder der gleichen Heilsgemeinde. Man braucht das nicht polemisch auszuwerten als Kritik an einer rein natürlichen, humanitären Menscheniiebe Bo3, deren Wert und Unwert hier überhaupt nicht zur Debatte steht. Dann erscheint eher schon ein Seitenblick auf die Sezessionisten angebracht Bo4 . Die Abgrenzungsbestrebungen ihnen gegenüber haben mit dazu beigetragen, daß die zirkuläre Bewegung der Liebe im geschlossenen Raum einer Gemeinde abläuft (zur Frage, inwieweit das programmatisch zu verstehen ist oder nicht, s. Exkurs 3).
In V. 3 werden wir »die Liebe Gottes« als »unsere Liebe zu Gott« deuten. Das 3ab ist im Kontext durch 4,20b, durch 5,1de und vor allem durch 5,2c (»wenn immer wir Gott lieben«) angezeigt, und es ist nach den ausführlichen Erörterungen über die zuvorkommende Liebe Gottes (vgl. 4,10) auch nicht mehr mißverständlich. Die Liebe, die Gott zum Urheber und Ursprung hat, bleibt der 802 Vgl. Thüsing 164. In einer Randglosse zum Manuskript bemerkt Hans Weder: »Gerade die Bruderliebe ist ja - als Werk - zweideutig.«
Vgl. z.B. Hauck 143: »etwas ganz anderes als bloße weltliche Humanität«. 804 Ausschließlich von der Gegnerpolemik her interpretiert Brown 538. 566f. 803
288
Der Sieg des Glaubens (5,1-5)
umfassende Horizont, der unser Lieben in seiner doppelten und zugleich einheitlichen Ausrichtung auf Gott und auf die Brüder und Schwestern hin einschließt. Was in 2cd schon gesagt war, erfährt eine neue, sprachlich variierte, begründende Anreicherung. Die Liebe Gottes selbst gelangt an ihr Ziel, wo sein Wort gehalten wird (2,5) und wo man die Geschwister liebt (4,12). Unsere Liebe zu Gott gelingt nicht an seinen Geboten vorbei. Sie wiederum behaften uns bei unserer Lebenswirklichkeit, wo sie zur Realisierung im Umgang mit den Brüdern und Schwestern drängen. Der Autor überträgt auf die Liebe zu Gott, was der Evangelist im Spiegel der Jüngerbelehrung über die Liebe zu Jesus sagte: »Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten« (14,15; vgl. 14,21.23). Eingebettet wird diese Erwartung oder Forderung in 15,10 in die vorgängige Liebe, die Jesus den Seinen erweist und die ein Abbild der Liebe des Vatergottes ist: »Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.« 3c Daß es leicht fällt, Gottes Gebote zu halten, daß es sogar Freude macht, dies zu tun, lehrt auch das Judentum im Anschluß an Dtn 30,11: »Denn dieses Gesetz, das ich dir heute gebe, ist für dich nicht zu schwer und nicht zu fern.« Philo kommentiert das mit den Worten: »Gott fordert von dir, 0 Seele ... nichts Lästiges, Verwickeltes oder schwer Ausführbares, sondern etwas durchaus Einfaches und Leichtes«Bos. Die Überlegung, daß die Gebote in sich betrachtet anspruchsvoll und schwierig sind und lediglich unter bestimmten Bedingungen problemlos eingelöst werden könnenBo6 , zielt an der Intention 4ab des IJoh vorbei. Der Autor trägt selbst in 4ab eine Begründung nach (das auf Personen bezogene Neutrum Singular »alles, was« dient wie in Joh 6,37.39; 17,2.7.24 und wie im Briefprolog IJoh 1,1 der Verallgemeinerung der AussageB07): Die im Glauben angeeignete Herkunft aus Gott schenkt die Kraft, die Welt zu überwinden - Kosmos hier wieder verstanden als jene Macht, die in die Entscheidung zwingt, die sich als feindliche Größe durch Ablehnung der Weisungen Gottes erst etabliert und mit der ihr eingezeichneten Grundstruktur der Begierde (2,16) zur ernsthaften Gefährdung wird, aber, so unsere Stelle, nicht mehr für Glaubende und Liebende. Ein Wort aus den AbschiedsSpecLeg 1,299. Ein Judentum, das ständig unter der drückenden Last unerfüllbarer Gesetze stöhnt, ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ein Zerrbild christlicher Theologie, die nicht mehr die authentische Stimme des Judentums vernimmt, vgl. L. Baeck, Das Wesen des Judentums, Darmstadt 71966,297: »Eine solche Bürde ist im Judentum wohl äußerst selten empfunden worden, unvergleichlich weniger jedenfalls, als in manchen christlichen Bekenntnissen die Last ihres eigenen Gesetzes, des Dogmas. Die Geschichte des Judentums legt vielmehr gerade davon Zeugnis ab, wie alle diese Satzungen 805
ein Element der Lebensfreude waren ... nur immer die das nicht besaßen noch kannten, die Außenstehenden, haben so viel von der ,Last des Gesetzes( gesprochen.« Wie sich hier Stellen wie Mt 11,30 und Mt 23,4, die immer wieder herangezogen werden, einordnen, bedürfte einer differenzierten Bewertung. 806 Bei Brooke 130; Smalley 269. 807 Vgl. BI-Debr-Rehkopf § 138,1. Anders Hering, AramlÜsmes 120. Bei a Lapide 608 findet sich eine Deutung des Neutrums von Gal 3,28 aus: Bei dieser geistigen Zeugung gibt es unter den Neugeborenen keine Geschlechtsunterschiede mehr.
IJoh 5,1-4b: Wirkungsgeschichte; 5,4c-5: Erklärung
289
reden drängt sich zum Vergleich auf: »Seid getrost, ich habe die Welt besiegt« (Joh 16,33). Die überwundene Welt mit ihren irreführenden Sinnangeboten sollte sich folglich nicht mehr als Hinderungsgrund in den Weg stellen, wo es um die Einholung der zum Gebot gewordenen Liebe in die eigene Lebensführung geht. Die Stelle hat eine Rolle gespielt in der Debatte um die Gnadenlehre und in der Aus- Wirkungseinandersetzung zwischen den Konfessionen. Der pelagianischen Theologie, die es, geschichte vereinfacht gesagt, dem Menschen zutraut, die Gebote Gottes aus eigener Kraft zu halten, mußte der Wortlaut von V. 3 entgegenkommen. Augustinus sagt deshalb in seinen antipelagianischen Schriften: »Daran, daß die göttlichen Gebote nicht schwer sind, erinnert die Schrift aus keinem anderen Grund als aus dem: Die Seele, die sie als schwer empfindet, soll verstehen, daß sie noch nicht die Kräfte empfangen hat, dank derer die Gebote des Herrn so erscheinen, wie sie uns (hier) vorgestellt werden, und sie soll unter Seufzen des Willens beten, daß ihr die Gabe der Leichtigkeit geschenkt wird.«BoB In gleicher Intention schränkt Hieronymus ein: »nicht schwer« gelte nur im Vergleich zu der drückenden Vielzahl der Gebote des jüdischen Gesetzes B09 . Später werden weitere Gründe angefügt, so etwa derjenige, leicht seien die Gebote zu erfüllen wegen der in Aussicht gestellten überreichen Belohnung im Himmel81o. Das Rechtfertigungsdekret des Trienter Konzils zitiert nebeneinander Augustinus und 1Joh 5,3, um die Formulierung zu belegen: »Keiner darf das verwegene, von den Vätern mit dem Bann belegte Wort gebrauchen: Die Erfüllung der Gebote Gottes sei für den gerechtfertigten Menschen unmöglich« (DS 1536; vgl. 1569). Spätere protestantische Autoren sprechen hier von einem »katholische(n) Mißverständnis« und wollen den Satz »in seiner wirklichen Übereinstimmung« mit Röm 7,14-24 (reformatorisch verstanden) erläutern Bll, was auch seine Probleme hatB12. Davon, daß die Glaubenden über den Bösen (2,13-14) und über die Gegner, Erklärung die das Prinzip »Welt« vertreten (4,4), gesiegt haben, sprachen bereits frühere 4cd Stellen. 4cd komprimiert das in einen Definitionssatz mit den bei den eher seltenen Substantiven »Sieg«813 und »Glaube« (Hapax bei Johannes), der im johanneischen Kontext nicht so triumphalistisch gemeint ist, wie er bei isolierter Verwendung oft klingt, denn der Sieg über die Welt konkretisiert sich in der Absage an ihre Begierden (2,16), in der überwindung des tödlichen Hasses (2,10), im unmittelbaren Kontext vor allem auch im Leben aus der Liebe (2b), im Tun der Gebote (2d) und im Festhalten am Taufbekenntnis zu Jesus als Christus und Gottessohn. Die Sprache des Sieges in V. 4-5 ruft die Vorstellung vom endzeitlichen 5 808 Augustinus, De perfectione iustitiae hominis 10,21 (21,15-20 CSEL 42). Ähnlich ders., De natura et gratia 69,83 (297,24-27 CSEL 60). 809 Hieronymus, Pelag 2,5: levia enim certum est dixisse Evangelii mandata ad comparationem superstitionis Judaicae. 810 So Gregor d.Gr., In librum I Regum 5,31
(439,845-848 CChr.5L 144). Beide Begründungen neben anderen auch bei Dionysius Cartus. 49f. 811 Düsterdieck I 338. 812 Vgl. die mühevolle Exegese bei Calvin 362. 813 VLXT] im NT nur hier, vgl. vi:xo~ in 1Kor 15,54f.57.
290
Der Sieg des Glaubens (5,1-5)
Kampfesgeschehen (s. ZU 2,13) herauf. Mit Gottes Hilfe werden die Söhne des Lichtes den Sieg davontragen über die Söhne der Finsternis (lQM 3,9; 14,4f u.ö.). Aber die apokalyptische Komponente ist im 1Joh ganz in den Hintergrund getreten. Erinnert fühlt man sich am ehesten noch an die Überwindersprüche in der Offb: »Wer siegt, dem werde ich geben, sich mit mir auf meinen Thron zu setzen, wie auch ich gesiegt habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron« (Offb 3,21; vgl. 2,7.11.17.26; 3,5.12). Siegen hat hier aber, anders als in 1Joh, kein direktes Objekt, und der implizite Appell geht auf das Standhalten in der Bedrängnis bis hin zum Martyrium. Der vergangene Sieg wird in Offb 3,21 Christus zuerkannt. Vom bereits vollzogenen Sieg der Christen (vgl. 15,2) spricht der Verf. der Offb nur »in visionärer Vorwegnahme ihrer Vollendung«814. In 1Joh 5,4-5 wirft der Tempuswechsel Fragen auf. Neben dem Präsens in 4b und 5b steht in 4d mit vlxijaaaa ein Partizip Aorist ist, das wohl im Sinn relativer Vorzeitigkeit zur Zeitstufe des Hauptverbs aufzulösen ist815 . Gemeint sein könnte, (a) daß der Sieg derjenige ist, den Jesus Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung errungen hat Uoh 16,33) und an dem wir durch unseren Glauben teilhaben816 , oder (b) daß Christen bereits in der Vergangenheit gesiegt haben und zwar bei der Übernahme des Taufbekenntnisses, so daß es jetzt vor allem gilt, diesen Sieg zu verteidigen, mit anderen Worten am Bekenntnis festzuhalten, schließlich, (c) daß der Sieg in der Überwindung der irrigen Christologie der Gegner besteht, ein Gedanke, der sich von 4,4 her nahelegt, aber dem programmatischen und generellen Ton von 5,4-5 doch nicht hinreichend gerecht wird. Zu strenge Alternativen wird man zwischen den verschiedenen Möglichkeiten nicht aufzubauen brauchen, da die unterschiedlichen Momente über das christologische Bekenntnis in einem inneren Zusammenhang stehen. Die rhetorische Frage in V. 5 schließt den Kreis. Sie nimmt aus V. 4 den Sieg über die Welt auf, setzt den Siegenden (0 VlXWV) mit dem Glaubenden (6 JtlatEUWV) gleich, lenkt damit zurück auf 1a und läßt wie dort eine Bekenntnisformel folgen. Der siegreiche Glaube hat einen fest umrissenen Inhalt, den am besten der führende christologische Titel im 1Joh, nämlich Gottessohn, zum Ausdruck bringt, immer vorausgesetzt, man versteht ihn in dem Sinn, den der Verf. ihm beilegt. Auskünfte darüber gab er in 4,14-15, ebenso in 4,2, auch wenn er dort von Jesus Christus spricht, nicht von Jesus als Sohn, aber die Unterschiede zwischen den beiden Würdenamen, die 5,1-5 einrahmen, sind für ihn nur gradueller, nicht prinzipieller Art. Weitere Auskünfte läßt er in V. 6-8 folgen, leider in einer sehr verkürzten und chiffrierten Weise, die gerade diese drei Verse zu den schwierigsten im ganzen Schreiben macht.
814 U.B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, 1984 (OTK 19), 94. Vgl. zum Verhältnis der Siegesthematik in der Offb und in Joh/1Joh bes. Taeger, Johannesapokalypse 208-210.
815
Ausführliche Diskussion bei Brown
570f. 816
Gaugier 256f, mit Asmussen 126.
1Joh 5,4c-5: Wirkungsgeschichte; 5,1-5: Zusammenfassung
291
John Henry Newman hat lJoh 5,4-5 als Themasatz einer sehr zivilisations- und zeit- Wirkungskritisch gestimmten Predigt gewählt, in der er vor allem vor der Gefahr warnt, als geschichte Glaubender wieder von der Welt überwältigt zu werden; weil sie sich mit ihren Systemen, die ebensoviele »Stimmen des Irrtums« verkörpern, »unserer Einbildungskraft aufdrängt«. Christen müssen der Lasterhaftigkeit und dem Unglauben der Welt entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Das bedeutet zugleich, daß sie nur überwinden werden, indem sie leiden817• Es ist erstaunlich, wie dieser Abschnitt, der zur Hauptsache mit bekanntem ZusammenMaterial arbeitet, doch zur Vertiefung der Gedankenführung beiträgt. Die fassung theologisch so wichtige Sprache der Geschwisterliebe wird an ihren familiären Herkunftsort zurückgebunden und im gleichen Moment auch schon wieder transparent auf das ekklesiologische Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde hin: der eine Vater und die vielen Kinder, die untereinander Geschwister sind. In der Verlängerung dieses Bildfeldes gelingt es dem Autor, in kühner, um nicht zu sagen paradoxer Weise die Liebe zum Vater als Erkenntniskriterium für die Liebe zu den Geschwistern zu gewinnen. Ihre feste Form gefunden hat die gegenseitige Liebe in den Geboten, deren Einhaltung nicht als Last, sondern als Gnade empfunden wird. Vor dem Verschwimmen in bloßes Gefühl bleibt die Liebe bewahrt durch den christologisch gefüllten Glauben, auf dem sie ruht, der sie umfängt und sie bei ihrem Ursprungsort behaftet. Die Zuversicht des Glaubens verschafft sich Ausdruck in der Sprache des Siegens, die den schmerzlichen Konflikt zwischen dem Glauben und der Welt als Gegenmacht nicht etwa verharmlost oder überspielt, sondern zum unbeirrten Durchstehen dieses Konflikts in all seiner Schärfe aufruft.
b
Die drei Zeugen (5,6-8)
Literatur: Alamo, M. dei, Los »Tres Testificantes« de la primera Epistola de San Juan, V. 7, CuBi 4 (1947) 11-14; Boer, M.e. de, Jesus the Baptizer: 1 John 5:5-8 and the Gospel of John, JBL 107 (1988) 87-106 (Kurzfassung in: GThT 89 [1989]131-139); Braun, F.M., L' eau et l'Esprit, RThom 49 (1949) 5-30; Brooks, 0.5., The Johannine Eucharist. Another Interpretation, JBL 82 (1963) 293-300; Calmet, A, Le temoignage de l' eau, du sang, de l'Esprit. I Jean 5,6.8, BVC 53 (1963) 35-36; Denney,]., He that Came by Water and Blood, Exp. VIV5 (1907) 416-428; Grech, P., Fede e sacramenti in Giov 19,34 e 1 Giov 5,6-12, in: Fede e sacramenti negli scritti Giovannei, hrsg. PR Tragan, 1985 (StAns 90),149-163; Greift A, Die drei Zeugen in 1 Joh 5,7f., ThQ 114 (1933) 465-480; Keppler, P.w., Geist, Wasser und Blut. Zur Erklärung' von 1. Joh 5,6-13 (ev. Joh.19,34), ThQ68 (1886) 3-25; Klöpper,A, 1. Joh. 5,6-12, ZWTh43 (1900) 378-400; Manson, T. w., Entry into Membership of the Early Church, JThS 48 (1947) 25-33; Meehan, T.M., John 19:32-35 and I John 5:6-8. A Study in the History of Interpreta-
817 J.H. Newrnan, Zur Philosophie und Theologie des Glaubens. Oxforder Universi-
tätspredigten, Mainz 1964 (Ausgewählte Werke 6), 95-106 (Zit. 95f).
292
Die drei Zeugen (5,6-8)
tion, Diss. Drew University 1985 (vgl. DissAb 26 [1986) 3753-A); Miguens, M., Tres testigos: Espiritu, agua, sangre, SBFLA 22 (1972) 74-94; Richter, G., Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu aoh 19,34b), in: ders., Studien zum Johannesevangelium, 1977 (BU 13), 120-142 (= MThZ 21 [1970)1-21); Spriggs, D.G., Meaning of >Water< in Joh 3,5, ET 85 (1973/74) 149-150; Trites, A.A., The New Testament Concept ofWitness, 1977 (MSSNTS 31), 126f; Venetz, H.]., »Durch Wasser und Blut gekommen«. Exegetische Überlegungen zu 1 Joh 5,6, in: Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie (FS E. Schweizer), Göttingen 1983, 345-361; Winterbotham, R., The Spirit and the Water, and the Blood, Exp. VIIV2 (1911) 62-71; Witherington III, B., The Waters of Birth: John 3.5 and 1 John 5.68, NTS 35 (1989) 155-160.
6a b c
cl e
f g
7a b Ba b
Dieser ist es, der kam durch Wasser und Blut8l8 : Jesus Christus nicht im Wasser allein, sondern im Wasser und im Blut8l9 • Und der Geist ist es, der bezeugt, weil der Geist die Wahrheit ist820 • Denn drei sind es, die bezeugen82l : der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind auf das eine hin (ausgerichtet).
Analyse Formal und inhaltlich gesehen werden die Bekenntnissätze aus 5,1.5 in 6ab zusammengeführt in den Doppelnamen »Jesus Christus«, wobei die Satzeinleitung mit »Dieser ist es« an Akklamationen und Prädikationen wie »Du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt« aoh 11,27) und »Dieser ist wahrhaftig der Retter der Welt« aoh 4,42) erinnert. Auch die johanneischen Ich-bin-Worte liegen nicht fern. Der ganze folgende Abschnitt ist sodann gekennzeichnet durch die Dreizahl822 . In 8a findet sich die Trias von Geist, Wasser und Blut, in 7a und 8b ausdrücklich 'tQ€iC; genannt (nicht 'tQla, was vom grammatischen Genus aller drei Vokabeln her näherläge). 3mal kommt darüber hinaus »Geist« insgesamt vor, 3mal Blut, 4mal allerdings aufgrund der Korrektur in 6c Wasser. Zweimal wird in partizipialer Konstruktion die bezeugende Tätigkeit herausgestellt, in 6f für den Geist und in 7b für alle drei Grö-
So die bevorzugte Lesart nach B K qt und dem Mehrheitstext. Andere Hss. haben unter dem Einfluß vonJoh 3,5 »durch Wasser und Geist« (945 z.B.) oder »durch Wasser und Blut und Geist« (K A) u.ä., vgl. Metzger, Commentary 715f. 819 Hier wiederholen sich (neben einfachen Umstellungen und Auslassungen des Artikels) Z.T. die Varianten aus 6b, vgl. nur A 1739'. 820 Die Vulgata liest statt dessen: »Und der Geist ist es, der bezeugt, daß Christus die 818
Wahrheit ist«, vgl. Joh 14,6. Ebrard 357 will
6f als Objektsatz verstehen: Der Geist bezeugt, daß er selbst die Wahrheit ist; dagegen spricht u.a. die Wiederholung von 1:0 :n:vEÜ!J.CX. 821 Zum Comma Johanneum zwischen V. 7 und V. 8 s. Exkurs 4. 822 Bultmann 83f beläßt nur V. 6 beim Verf. und weist V. 7-8 der sakramental ausgerichteten kirchlichen Redaktion zu. O'Neill, Puzzle 54-60, sieht in 5,5-8 drei verschiedene Hände am Werk, von denen keine der vermeintlichen Grundschrift angehört.
293
l/oh 5,6-8: Analyse; 5,6a-d: Erklärung
ßen. Daß das Bezeugen mit Elvm und dem Partizip umschrieben wird, erklärt sich z.T. wenigstens als Fortführung des einleitenden oin:6~ Eunv 6 EA.{}WV. Die Konstruktion von 6cd mit ou ft6vov 6).),6. hat ihre nächste Parallele in 1Joh 2,2. Der Gebrauch der Präpositionen variiert: Öfa nur einmal vor Wasser und Blut ohne Artikel in 6b, Ev hingegen 3mal mit folgendem Artikel in 6cd. Eine Sinnverschiebung dürfte damit nicht verbunden sein823; öL6. und Ev sind instrumental (nicht lokal) zu verstehen (vgl. Hebr 9,12.25). Für d~ 1:0 Ev in Sb wird auch eine Auflösung aIs Prädikatsnomen vorgeschlagen 824 , so daß zu übersetzen wäre: »und die drei sind eins«, aber das erscheint sehr fraglich. Das E~ sollte eher die zielgerichtete Bewegung der bezeugenden Tätigkeit der drei ausdrücken, die auf einen Punkt hin konvergiert (vgl. E~ Ev - ohne Artikel - in Joh 11,52; 17,23).
Das übergeordnete Thema ist die Christologie. Jesus, der Christus und Gottessohn, von dieser zentralen Glaubensaussage handeln im Anschluß an 5,1-5 auch die folgenden Erörterungen über das vergangene Kommen und das gegenwärtige Bezeugen. Welche Näherbestimmungen werden den Kernsätzen des Bekenntnisses gerecht und welche nicht? Wie kann man die Christologie in legitimer Weise weiter entfalten, und wo zeichnen sich Fehlentwicklungen ab? In Bekenntnisstil umformuliert würde 6b lauten: »Jesus Christus kam durch Wasser und Blut.« Das lenkt sofort den Blick zurück auf 4,2, wo ein Bekenntnissatz des Typs verarbeitet war: »Jesus Christus ist im Fleisch gekommen.« Wasser und Blut haben offenbar etwas zu tun mit dem Kommen Jesu im Fleisch, mit seiner irdischen Existenz (»durch Wasser und Fleisch« hätte der Verf. nicht gut schreiben können, weil zum Wasser das Blut als Flüssigkeit besser paßt). Das EQXEattm faßt rückblickend den Weg Jesu zusammen82S . Gekommensein umspannt die ganze Strecke von Menschwerdung, Leben und Sterben Jesu Christi. Das ist als Geschehen abgeschlossen, es ist einmalig, aber deshalb nicht in der Vergangenheit versunken. Am richtigen Verständnis des Gekommenseins hängt der Ausweis der Identität des Jesus von Nazaret als Christus und Gottessohn. Schon für sich betrachtet enthält V. 6 eine implizite Korrektur: nicht im Wasser allein, sondern im Wasser und im Blut (6cd). Vorausgesetzt und zugleich zurückgewiesen wird dabei ein Satz von dem Typ: Jesus Christus kam (nur) durch Wasser oder im Wasser. Wieso aber sind - bei einem instrumentalen Verständnis von ÖUl und f:v (s. die Analyse) - Wasser und Blut Instrumente, Medien, Orte des Kommens Jesu als Christus und Gottessohn? Beginnen wir mit dem Wasser: Das Gekommensein Jesu im Wasser kann sich Einen Unterschied konstruiert Bonsirven 230: Oui »se rHererait ala manifestation historique«, tv »au sacrement qui demeure«; ähnlich Keppler* 19. 824 Vgl. BI-Debr-Rehkopf § 145,1 mit Anm. 2 (rekurrieren auf hebr. ':>; die Vulgata übersetzt: et tres unum sunt). 823
Vgl. T. Schramm, EWNT II 143. Im Johannesevangelium findet EQxeat}m 156mal Verwendung (deutlich öfter als in den anderen Evangelien), in den Briefen 8mal. Die Bedeutungsbreite ist naturgemäß groß; in unserem Sinn z.B. Joh 1,11; 3,2.31; 4,25; 5,43; 6,14 u.ö. 825
Erklärung 6a-d
6b
6cd
294
Die drei Zeugen (5,6-8)
eigentlich kaum auf etwas anderes beziehen als auf die Taufe Jesu826 . Sie wird im Johannesevangelium zwar nicht erzählt; eine Parallele zur Taufperikope in Mk 1,9-11 fehlt. Aber das Faktum der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer und eine Kenntnis der damit verbundenen theologischen Deutungen wird im 1. Kap. des Evangeliums eindeutig vorausgesetzt, am urunißverständlichsten in 1,32-34: »Und Johannes bezeugte, indem er sprach: Ich habe den Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommen sehen, und er blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, jener sprach zu mir: Auf wenn du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, dieser ist es, welcher mit heiligem Geiste tauft. Und ich habe gesehen und bezeuge: Dieser ist der Sohn Gottes.« Wasser, Geist, das Bezeugen und »dieser ist ... « kehren in 1Joh 5,6 wieder. Taufe Jesu Im Kontext von Joh 1 hat die Anspielung auf die Taufe einen klar umrissenen Sinn. Der Taufakt als solcher erscheint nicht mehr besonders wichtig. Was gebraucht wird, ist ein Erkennungszeichen, das es möglich macht, den Gottessohn von Ewigkeit her im Menschen Jesus wahrzunehmen. Ohne ein solches Erkennungszeichen gelingt es nicht, Jesus als fleischgewordenen Logos zu identifizieren. Dem Täufer hat Gott das Erkennungszeichen anvertraut. Deshalb ist er der erste Zeuge, der erste Glaubende, der erste Christ. Zeugnisgeben ist Sinn seiner Sendung (vgl. 1,7.15). Der Prolog des Evangeliums verknüpft das Zeugnis des Johannes mit der Präexistenzchristologie: Johannes kam, um Zeugnis abzulegen für das Licht, das bei der Schöpfung schon da war (1,7-9). Er sagt in 1,15 ausdrücklich: »Der nach mir kommt (d.h. Jesus), ist eher als ich gewesen, da er vor mir war« (man beachte auch die Einleitung dieses Selbstzitats mit oi'rto<; ~v). Bei der Taufe identifiziert Johannes der Täufer folglich Jesus von Nazaret als menschgewordenen Logos und als Gottessohn von Ewigkeit her. Darum allein geht es bei der Taufe, und dazu hat Gott dem Täufer das Zeichen an die Hand gegeben, das Herabkommen des Geistes in Gestalt einer Taube, das nach Joh 1 nur für den Täufer überhaupt sichtbar war. Im Rahmen der Präexistenzvorstellung ist das so zu verstehen, daß jetzt das Startsignal fällt für das öffentliche Wirken des Gottessohnes und für seinen Weg in den Tod. Auf diese besondere Beauftragung durch den Vater hat Jesus gewartet und hat er auch warten müssen. Der Geist ist das Medium, die Taube das äußere Zeichen für die Kommunikation zwischen Himmel und Erde, Vater und Sohn. Nun kann man Joh 1,32-34 - hypothetisch zunächst - auch ganz anders lesen, nämlich so: Erst bei der Taufe kommt der Geist auf Jesus von Nazaret herab. Erst von da an bleibt der Geist bei ihm. Vorher war Jesus nur ein Mensch, von Stunde an ist er mehr. Das verbliebe noch im Rahmen einer Adoptionschristologie: Annahme Jesu
826 So auch eine größere Zahl von Auslegern, vgl. nur die älteren Arbeiten von Denney" 417; Keppler· 7; Klöpper· 381f; Winterbotham· 64f; dagegen u.a. Thüsing 167-169, dessen Anliegen es ist, Wasser und Blut nicht als zwei verschiedene Heilsereignisse innerhalb des Lebens Jesu zu deuten, sondern als die eine Gabe Jesu in ihrer lebenspendenden
und entsühnenden Wirkung. Wir werden dem im weiteren Verlauf partiell Rechnung tragen, wenn wir das Wasser von der exklusiven Bindung an die Taufe Jesu ablösen (s.u.). Allsführlichere Darlegung der angesprochenen Position bei W. Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, 31979 (NTA XXIll-2), 165-174.
lJoh 5,6a-d: Taufe Jesu, Doketismus
295
durch Gott an Sohnes Statt. Es müßte, wenn man Joh 1 so lesen will, noch mit der Präexistenzaussage gekoppelt werden. Auch das bereitet keine sonderlichen Schwierigkeiten. Der Geist ist identisch mit dem himmlischen Christus und präexistenten Logos. Dieses Geistwesen steigt bei der Taufe auf Jesus von Nazaret herab, vereinigt sich mit ihm und macht aus ihm erst den Gottessohn. Das ist der Unterschied zur Adoptionschristologie, die mit dem Rechtsakt der Annahme als Sohn auskommt und die Geistverleihung funktional als Ausstattung mit göttlicher Kraft versteht.
Die zweite Lesart von Joh 1, die wir durchgeführt haben, nähert sich dem Doketismus (in weitestem Sinn) an: Ein himmlisches Geistwesen hat einen Leib als Aufenthaltsort gewählt und dafür Jesus von Nazaret hergenommen. Im Vergleich zu anderen Ausprägungen des strikten Doketismus braucht dabei noch nicht so sehr betont zu sein, daß es sich lediglich um einen Scheinleib handelt. Aber die These, die in lJoh 5,6 bekämpft wird: Jesus Christus ist im Wasser gekommen, erklärt sich verhältnismäßig leicht als Resultat einer solchen Lektüre von Joh 1. Die Gegner des Briefautors hätten somit aus den gemeinsamen christologischen Überlieferungen eigenwillige Schlüsse gezogen, die in der Tendenz auf die Trennungschristologie eines Kerinth hin verlaufen (s. § 8 der Einleitung). Zu dessen voll ausgebildeter Lehre gehört als weiterer Eckpfeiler die Leidensunfähigkeit dieses Geistwesens, das den Menschen Jesus von Nazaret deshalb kurz vor dem Leiden und Sterben wieder verlassen hat. Hier wird man sicher noch zurückhaltender sein müssen und nicht behaupten wollen, die Gegner hätten eine solche Position schon dezidiert vertreten. Aber das Menschsein Jesu, seine fleischlich-irdische Existenz und sein Tod am Kreuz, verloren in ihrer Sicht doch entscheidend an Relevanz. Das läßt sich auch auf umgekehrtem Weg untermauern, von der theologischen Anthropologie der Gegner aus, die sie auf dieser Grundlage errichten: Die Geistbegabung Jesu bei der Taufe ist das soteriologische Modell schlechthin auch für die Glaubenden. Bei der Taufe wird ihnen der Geist ins Herz gesenkt. Ihre irdische Existenz verwandelt sich in eine neue, pneumatische Existenz, die den Bedingungen der Weltlichkeit nicht länger unterworfen ist. Von dem Moment an sind sie vollkommen und fehlerlos. Sie sündigen nicht mehr (lJoh 1,10), sie haben Gemeinschaft mit Gott (1,6), sie bedürfen nicht mehr der Vergebung. Für sie büßen die Lebenshingabe Christi und sein sühnendes Sterben ihre soteriologische Bedeutung zunehmend ein. Der letzte Schritt wäre, den Kreuzestod einfach abzutrennen vom Weg des himmlischen Erlösers. Er braucht bloß in der Welt zu erscheinen, um die Seinen zu sich zu rufen. Wie weit die Gegner auf diesem Weg schon vorangekommen waren, bleibt in der Schwebe. Die Gegenstrategie des Briefautors versteht sich von dieser Frontstellung her ein Stück weit von selbst: nicht im Wasser allein, sondern auch im Blut. Wir können dem an die Seite stellen: nicht im Geist allein, sondern auch im Fleisch ~4,2). Oder wenn wir an das Johannesevangelium zurückdenken, auf dessen Grundlage der Kampf ausgefochten wird: nicht nur Sohn Gottes, auf dem der Geist ruht (Joh 1,32-34), sondern auch Lamm Gottes, das durch sein
Doketismus (Kerinth)
Gegenstrategie
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Die drei Zeugen (5,6-8)
Sterben die Sünden der Welt hinwegnimmt (1,29). Aus dem Brief wäre schließlich noch besonders relevant 1Joh 1,7 (sein Blut reinigt uns von jeglicher Sünde) und 2,2 (er ist Sühnopfer für die Sünden der Welt). Man kann nicht vom Gekommensein Jesu als Heilsereignis reden, ohne seinen Tod mitzubedenken, den die Chiffre »Blut«, die in biblischer Sprache ganz allgemein den gewaltsamen Tod signalisieren kann, anzeigt. »Gekommen durch Wasser und Blut« in 6b, verstärkt noch durch die Stilfigur der correctio in 6cd, stellt also den energischen Versuch dar, die Geschichtlichkeit des Christusereignisses in ihrer soteriologischen Bedeutsamkeit als Fundament christlichen Glaubens gegen eine akute Gefährdung eben dieser Basis abzusichern. Warum aber, so wird man weiterfragen müssen, läßt der Verf. den Begriff »Wasser« so ohne weiteres stehen, auch in der Kombination mit »Blut«, wenn man die Bemerkungen über die Taufe Jesu in Joh 1, auf die das Wasser anspielt, derart mißverstehen konnte? Ist diese Gefahr wirklich schon gebannt? Sollte nicht sehr viel klarer gegen ein Mißverstehen der Taufperikope Stellung bezogen werden? Der Verf. und seine Gegner arbeiten von der gleichen Textbasis aus, mit der gleichen theologischen Tradition im Rücken, das wäre - nicht zum ersten Mal - grundsätzlich festzustellen. Außerdem bleibt noch offen, ob nicht der Verf. stillschweigend weitere Korrekturen an der Wertung der Tauferzählung im Sinn der gegnerischen Christologie anbringt. Das kann auf zwei Weisen geschehen, die sich nicht auszuschließen brauchen: durch Neubestimmung der Funktion des Geistes (das geschieht in 6efg) und durch Neubestimmung der Funktion des Wassers, das von seiner Koppelung an die Taufe abgelöst und mit dem Tod Jesu verbunden wird. Joh 19,34 Wasser, sollte man meinen, steht doch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Taufe und hat mit dem Sterben Jesu nichts zu tun. Wie soll dieses Kunststück gelingen? Wer das Johannesevangelium kennt, muß sich fast notwendig an Joh 19,34 erinnert fühlen: »Und einer der Soldaten öffnete seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus.« Man kann bei der Interpretation von lJoh 5,6 nicht an Joh 19,34 vorbeigehen827, es sei denn, man stellt das Abhängigkeitsverhältnis auf den Kopf und erklärt 19,34 als Einschub, der 1Joh 5,6 voraussetzt, eine Position, die hier nicht geteilt wird. Die abweichende Reihenfolge Blut und Wasser im Evangelium, Wasser und Blut im Brief spricht nicht für eine Unabhängigkeit der beiden Stellen voneinander. Sie resultiert vielmehr aus Kontext und Aussageziel. Das Bluten einer Wunde bedingt in Joh 19,34 die Voranstellung des Blutes, die Korrektur der These vom Gekommensein Jesu im Wasser in 1Joh die Voranstellung des Wassers. Leider ist auch Joh 19,34 in der Deutung sehr umstritten828• Da im Rahmen der antiken Physiologie ein Hervortreten von Blut und Wasser aus einer Todeswunde 827 Gegen jede Bezugnahme auf Joh 19,34 sprechen sich aus: Smith 195; Wendt, Johannesbriefe 83f; Miguens· 74f; Wengst 208; anders Haupt, Brief 259f; Grech·; Richter·; deI Alamo· 12; Braun· 15-22. 828 Vgl. Schnackenburg, Joh m 334-345;
aus der Lit. ferner H,J. Venetz, Zeuge des Erhöhten. Ein exegetischer Beitrag zu Joh 19,31-37, FZPhTh 23 (1976) 81-111; W. Ameling, Evangelium Johannis 19,35: ein aretalogisches Motiv, ZPE 60 (1985) 25-34.
1loh 5,6a-d: loh 19,34, Sakramente?
297
wahrscheinlich realistisch erscheint, dürfte das erste Ziel des Verses eine Unterstreichung der Realität des Todes Jesu sein. Aber wie so oft im Johannesevangelium legt sich darüber eine zweite symbolische Aussageebene. Das vergossene Blut dient als Zeichen für die liebende Lebenshingabe Jesu, soll darüber hinaus wohl auch die Vorstellung des sühnenden Opfers hervorrufen (s. zu 1Joh 2,2)829. Das Wasser gewinnt seine symbolischen Konnotationen aus Joh 4,14 und Joh 7,37-39. Das Gespräch zwischen Jesus und der samaritanischen Frau in Joh 4 dreht sich in seinem ersten Teil um lebendiges Wasser als Bild für das Heil, das Jesus verkörpert und personal vermittelt. Die Ströme lebendigen Wassers, die nach 7,38 aus Jesu Innerem herausfließen werden (Futur!), um das Verlangen nach Leben, Erlösung und Heil zu erfüllen, deutet der Verfasserkommentar in 7,39 als Austeilung des Geistes an die Glaubenden, aber erst von der Verherrlichung Jesu, d.h. von seinem Kreuzestod an. Das Wasser, das aus der Seitenwunde herausfließt, löst diese Heilsverheißungen ein. Es symbolisiert als bleibenden Effekt der sühnenden Lebenshingabe Jesu die ständige, geistgewirkte Gegenwart des Heils für alle Glaubenden. Nicht nur das Blut allein, sondern auch der Doppelausdruck Wasser und Blut können an das Sterben Jesu gebunden werden. Auch die Heilsverheißung, die sich mit dem Wasser verbindet (vgl. Joh 3,5), gewinnt ihren tragenden Grund erst vom Sterben Jesu her. Sühnendes Blut und lebenspendendes Wasser fließen aus der geöffneten Seite Jesu hervor. Im Vergleich dazu verblaßt, was von der Taufe Jesu mit Wasser gesagt wurde, die allein auch nicht als Vorbild für die christliche Taufe genügt. Der Verf. spielt mit anderen Worten Joh 19,34 gegen Joh 1,32-34 aus und überwindet so fatale Konsequenzen, die aus einer isolierten Betrachtung der zuletzt genannten Stelle gewonnen werden konnten. Einer letzten Überlegung können wir nicht ausweichen. Inwieweit kommen Sakramente? hier bereits die Sakramente Taufe und Eucharistie zum Vorschein830 ? Beide Stellen widersetzen sich kurz gesagt einer Engführung auf die beiden Hauptsakramente hin. In Joh 19,34 stimmt die Reihenfolge nicht, und es scheint mehr als fraglich, ob Blut einfach als Kürzel für die Eucharistie dienen kann. In 1Joh 5,6 stört die Vergangenheitsform, und der Gedanke an die Sakramente legt sich vom ganzen Argumentationsgefälle her keineswegs nahe. Es empfiehlt sich eine zurückhaltende Gesamtinterpretation. Wasser und Blut sind 829 Plummer 113 macht als einer von wenigen auf das Nebeneinander von Wasser und Blut in atl. Reinigungsritualen aufmerksam: »So soll er das Haus entsündigen mit dem Blute des Vogels und dem Quellwasser« (Lev 14,52; vgl. 14,5f). 830 Vgl. zur Fragestellung H. Klos, Die Sakramente im Johannesevangelium. Vorkommen und Bedeutung von Taufe, Eucharistie und Buße im vierten Evangelium, 1970 (SBS 46), 74-81. Eine sakramentale Auslegung vertreten für 1Joh 5,6 dezidiert Asmussen 126-128; Brooks" 296; auch Baumgartner
218, der aus diesem Anlaß grundsätzliche, aber so nicht haltbare Kritik an den Sakramenten übt: »Wichtig ist das Verständnis dieser Texte aber, weil mit durch sie das heidnische Mysterienwesen in unser schlichtes Evangelium eingedrungen und damit so tief verschmolzen ist, daß auch die Reformation die Herausläuterung der einfach ernsten Wahrheit nicht vollbringen konnte.« Strekker 272f deutet 6ab rein christologisch, 6cd wegen des Wechsels von ölit zu Ev (s.o. Anm. 823) sakramental.
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Die drei Zeugen (5,6-8)
unterschiedlich akzentuierte Verdichtungen des einen Heilsereignisses, das sich im Leben und Sterben Jesu Christi vollzog, besonders im Hinblick auf seine lebenspendende und vergebungschenkende Wirkung. Damit sind Ansatzpunkte gegeben für die Fundierung einer Sakramentenlehre, ohne daß diese unmittelbar im Text angesprochen wäre. Die johanneische Gemeinde hat sicher die Taufe praktiziert und nach Ausweis des eucharistischen Redestücks in Joh 6,51-58 auch das Herrenmahl gefeiert, aber es fällt auf, wie wenig die Texte direkt davon sprechen. Ihr Hauptziel ist auch da, wo es um die Sakramente geht, die glaubensmäßige Vertiefung und die theologische Begründung. 6e-g Christus ist der Gekommene (6ab), der Geist ist der Bezeugende (6e~, und er tritt in dieser Eigenschaft an die Seite von Wasser und Blut. In Joh 1,32-34 sieht der Täufer den Geist auf Jesus hinabsteigen und bei ihm bleiben. Einmal vorausgesetzt, das wäre wirklich so gelesen worden, als sei erst in dem Moment durch Vereinigung mit dem herabsteigenden himmlischen Geistwesen der Gottessohn zur Welt gekommen, hätte die Aussage über den Geist 6ef ähnlich dem OU lloVOV in 6c auch eine negativ abgrenzende Aufgabe. Der Geist wird nur insofern tätig, als er das notwendige Zeichen gibt. Er bezeugt nur, er erzeugt nicht und begründet nicht erst das Sein Jesu als Sohn Gottes831 . Das muß so sein, weil er, so 6g, die Wahrheit vertritt und deshalb nicht gegen die Grunddaten der christologischen Offenbarung und ihre Wahrheit verstoßen wird. Wir werden aber bei dieser negativen Bestimmung nicht stehenbleiben. Wieder verweisen uns die verschiedenen Termini und die Relation, in der sie stehen, auf zwei Schlüsselstellen des Evangeliums. Daß der Geist die Wahrheit ist, bedeutet in der Sache nichts anderes als die Bezeichnung des Parakleten als Geist der Wahrheit in den Abschiedsreden. Paraklet Einschlägig sind hier in erster Linie Joh 15,26 und 16,13. Der Geistparaklet wird dem gläubigen Verstehen die Wahrheit, die sich im Jesusgeschehen inkarniert hat, immer tiefer erschließen. Sein Zeugnis läßt Vergangenes in einem neuen Licht erscheinen. Erst der vom Geist geleitete Blick, der im nachhinein betrachtend auf dem Jesusgeschehen ruht, vermag darin die Selbsterschließung Gottes als offenbarte Wahrheit zu erkennen. Die bezeugende Tätigkeit des Geistes richtet sich aber auch nach außen hin auf die Welt. Im Prozeß gegen sie (16,8) übernimmt der Geist die Rolle des Anklägers und des Rechtsbeistands der Glaubenden832. Wo wird ein solches Zeugnis laut? Auf 15,26 (die künftige bezeugende Tätigkeit des Geistes der Wahrheit) folgt im Evangelium in 15,27: »Auch ihr werdet bezeugen, weil ihr von Anfang an mit mir seid.« Im Anschluß an das Hinausströmen von Blut und Wasser aus der geöffneten Seite Jesu in Joh 19,34 (vgl. auch das übergeben des Geistes in 19,30) heißt es in 19,35: »Und der gesehen hat, hat Zeugnis davon abgelegt, Vgl. Haupt, Brief 264. Bei Plutarch, Is et Os 54 (373B), wird ein Prozeß gewonnen, weil »Hermes, das ist der 831
832
Logos, der Zeugnis ablegt«, als Rechtsbeistand wirkt.
IJoh 5,6e-g: Der Geist der Wahrheit als Zeuge
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und sein Zeugnis ist wahr.« 19,35 spricht vom Lieblingsjünger. Er ist der Zeuge, der wahres Zeugnis ablegt, weil ihm die Heilsbedeutung des Sterbens Jesu als erstem einsichtig war. Das geistgeleitete Zeugnis des Lieblingsjüngers aber ist eingegangen in die Jesustraditionen der johanneischen Gemeinde.
An die Jesusüberlieferung und das recht verstandene Evangelium verweist der Briefautor mit der Notiz über den Geist der Wahrheit als Zeugen der Jesusereignisse seine Adressaten. Aufs Briefganze gesehen wird hier wieder mehr das Traditionsprinzip aus dem Briefprolog angesprochen. Das Zeugnis des Geistes begegnet den Glaubenden in Gestalt der Überlieferung und ihrer Interpretation. Das können wir durch eine weitere Konfrontierung noch absichern. Auch für das Chrisma, das nach 2,27 in den Glaubenden bleibt und sie belehrt, hatten wir auf den Parakleten zurückgegriffen, die Aufgabe des Geistes dabei aber als die eines inneren Lehrers in den Herzen der Glaubenden bestimmt. Hier in 5,6 nun begegnet der Geist der Wahrheit als Zeuge für etwas Vergangenes, das dem Menschen von außen entgegentritt und gläubig angenommen werden will. Beides widerspricht sich in keiner Weise, sondern entspricht genau dem Zusammenspiel von Traditionsprinzip in 1,1-4 und gleichzeitiger Zurückhaltung in der Amtsfrage in 2,20.27. Es ist ein und derselbe Geist, der als Lehrer im Herzen der Glaubenden wirkt und der zugleich die Jesustraditionen bewahrt und erschließt. Deswegen ist ein gläubiges Verstehen möglich, das zu einer vollkommenen Übereinstimmung zwischen traditionellem Glaubensgut und innerem Glaubenssinn führt. Die drei Größen aus V. 6, Wasser, Blut und Geist, werden in V. 7-8 zu einer 7-8 Trias zusammengefaßt, diesmal mit dem Geist an erster Stelle. Die Tätigkeit des Bezeugens, in V. 6 für den Geist reserviert, wird nun von den dreien gemeinsam ausgeübt. Ein Anstoß dafür, so zu reden, dürfte aus dem jüdischen Zeugenrecht gekommen sein. Der Grundtext findet sich in Dtn 19,15: »Nur auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin soll eine Sache gültig sein« (vgl. auch Dtn 17,6). Der Briefautor zeigt sonst zwar nicht sonderlich viel Interesse am AT und am jüdischen Recht, aber er kennt das Johannesevangelium, wo Jesus bereits den gleichen Grundsatz bemüht833 : »Und in unserem Gesetz steht geschrieben, daß das Zeugnis von zwei Männern wahr ist. Ich bin es, der Zeugnis ablegt über mich, und es legt Zeugnis über mich ab der Vater, der mich gesandt hat« (Joh 8,17-18). Das wären zwei Zeugen, Jesus und der Vater, womit allerdings das Rechtsinstitut unterlaufen wird, da derjenige, der die Beweispflicht trägt, strenggenommen nicht selbst Zeuge sein kann.
Vgl. im NT außerdem Mt 18,16; 2Kor 13,1; Hebr 10,28; dazu H. van Vliet, No Single Testimony. A Study on the Adoption of the Law of Deut. 19:15 par. into the New Tes833
tament, Utrecht 1958, hier 89. S. noch Kysar 109, der eine Adaption von Joh 5,31-40 vermutet.
300
Die drei Zeugen (5,6-8)
Zwei Zeugen stellen das Minimum dar, drei Zeugen sind besser. Der Brief ruft drei Zeugen auf und schreibt deshalb auch oL 1:Q€~ statt 1:0 1:QLU, weil der Gedanke an den personalen Charakter des Zeugnisgebens leitend ist, der auch auf unpersönliche Größen übertragen werden kann834 . Übereinstimmend bezeugen sie, daß Jesus als Mensch doch der Gottessohn ist (darum geht es auch in Joh 8) und daß im Sterben Jesu die Heilsbedeutung der Menschwerdung Gottes zur Vollendung kommt. Daß dieses Zeugnis niemanden überzeugen kann, der keine Glaubensbereitschaft mitbringt, steht auf einem anderen Blatt. Das verhält sich im Johannesevangelium durchweg so, und es wird uns im Zusammenhang mit der folgenden Perikope 1Joh 5,912 weiter beschäftigen. Das Christu~ereignis trägt eine Evidenz in sich selbst, die dem Glauben unmittelbar einleuchtet. Das besagt auch die Präsensform: Geist, Wasser und Blut bezeugen hier und jetzt. Wo immer davon erzählt wird, wie die Lanze des Soldaten die Seite Jesu öffnet und Blut und Wasser herabfließen, erschließt sich unter der Leitung des Geistes die tiefe innere Wahrheit dieses Geschehens. lnitiations- Eine Reihe von Autoren, die für V. 6 eine sakramentale Deutung ablehnen, akzeptieritus? ren sie für V. 7-8, unter anderem wegen der Präsensform in 7b. Den geschlossensten Versuch hat Nauck vorgelegtB35. Er postuliert für die johanneische Gemeinde einen Aufuahmeritus mit drei Bestandteilen: Olsalbung, Taufe und Taufeucharistie, in die- . ser Reihenfolge. Die präbaptismale Salbung mit 01 sei Träger der Geistmitteilung, dafür stehe in V. 8 der Geist. Es folge das Wasser als Hinweis auf die Taufe und das Blut als Kürzel für die Eucharistie. Konsequenterweise wertet Nauck auch das Chrisma in 2,20.27 als Beleg für eine präbaptismale Salbung, was uns bei der Besprechung dieser Stelle als unzutreffend erschien. Die Salbung als Geistbegabung vollzieht sich im 1Joh äußerlich mit dem Wasser der Taufe. Eine dreistufige Initiation mit Salbung, Taufe und Eucharistie hat es gegeben, vor allem im syrischen Christentum von der Mitte des 2. Jahrhunderts an. Sie wird in ActThom 152 zweimal zusammengefaßt als »Salböl, Wasser und Brot« (vgl. ActThom 121). Der Bezug auf die Sakramente ist aber vom Wortlaut her sehr viel deutlicher zu erkennen als bei der Trias Geist, Wasser und Blut im 1Joh. Zu den Qumrananalogien - Geistverleihung in 1QS 3,7, Tauchbad in 1QS 3,9, Gemeinschaftsmahl in 1QS 6,2-5 (von Nauck auch in 1QS 3,11f eingetragen) - ist zu bemerken, daß sich dort eine echte Trias nicht findet 836 . In /osefundAseneth schwankt die Abfolge von Salböl, Lebensbrot und SegensbecherB37, ein Äquivalent zur postulierten Dreistufigkeit von Geistbegabung, Taufbad und heiligem Mahl liegt nicht vor. Besondere Bedeutung wird TestLev 8,4fbeigemessen, wo die visionäre Investitur des Levi als Hoherpriester damit beginnt: »Und der erste salbte mich mit heiligem 01 und gab mir einen Stab. Und der zweite wusch mich mit reinem Wasser und speiste mich mit Brot und Wein, dem Allerheiligsten, und kleidete mich in ein heiliges und herrliches Gewand.« Falls keine christliche Interpolation vorliegt, die das Brown 581. Zum folgenden Nauck, Tradition 147182; vorauf ging ihm Manson" 26-31. 836 Vgl. Braun, Qurnran I 30lf. 834 835
837 Vgl.JosAs 8,5.9; 15,5; 16,16; 19,5; 21,21; dazu nur C. Burchard, JSHRZ ll/4, 604-608 und die Anm. zu den Stellen.
l]oh 5,7-8: Sakramentale Deutung?
301
syrische Initiationsritual wiedergibt838, wären wir damit auf eine jüdische Wurzel des christlichen Brauchs gestoßen, aber der Abstand zu Geist, Wasser und Blut in IJoh bleibt unverändert groß. Die These von Nauck hat sich trotz des beeindruckenden Aufwandes an Gelehrsamkeit, mit dem sie vorgetragen wurde, nicht durchzusetzen vermochtB 39• Zuviel steht einer glatten Identifizierung im Wege.
Eine andere, einfachere Form einer sakramentalen Deutung sieht so aus: Wasser und Blut beziehen sich in V. 8 und nur dort auf Taufe und Eucharistie. Eine Olsalbung als Sakrament der Geistbegabung anzunehmen erübrigt sich. Der Geist findet eingangs Erwähnung als das innere Prinzip, das in den beiden Sakramenten wirkt840• Dagegen spricht zwar, daß in V. 8 die drei Begriffe gleichgeordnet nebeneinanderstehen und man eine solche innere Differenzierung nicht ohne weiteres zu erkennen vermag. Für Wasser und Blut wird anders als für den Geist auch eine weitreichende Bedeutungsverschiebung im Vergleich zu V. 6 in Kauf genommen841 • Auf engstem Raum bezeichnen sie zuerst die vergangenen Heilsereignisse und sodann die gegenwärtigen sakramentalen Riten. Ganz unmöglich scheint ein sakramentales Verständnis in der zuletzt referierten zurückhaltenderen Form dennoch nicht. Es ergibt sich zwar nicht unbedingt aus dem Text, wohl aber aus dem situativen Kontext: Die Taufe ist im 1Joh allenthalben vorausgesetzt, Joh 6,51 reflektiert das Brotwort der Abendmahlsüberlieferung, das eucharistische Redestück in Joh 6 (mit der Betonung auch des Blutes) steht in zeitlicher und sachlicher Nähe zum 1Joh. In jedem Fall gilt, was oben schon zu V. 6 und zu Joh 19,34 ausgeführt wurde: Die Sakramente, die in der Gemeinde praktiziert werden, ruhen auf dem Heilsgeschehen auf, das Wasser und Blut als Begriffspaar plastisch hervortreten läßt und dessen tieferen Sinn der Geist als Träger der Wahrheit erschließt. Als vorrangig bewertet das johanneische Denken diese theologische Fundierung, die auf die Einübung des Glaubens im Prozeß der Aneignung und Auslegung der Jesusüberlieferung in der Gemeinde abzielt. Bewußt wurde im Vorstehenden versucht, eine plausibel scheinende Interpretationslinie durchzuziehen, ohne zu viele Seitenblicke auf andere Deutungen, die es in Hülle und Fülle gibt. An Beispielen aus der neueren Forschung möge folgendes genügen: Richter meint, da nach antiker Auffassung Menschen aus Blut und Wasser bestehen, Götter und Himmelswesen aber nur Wasser in den Adern haben, wolle die Stelle eine doketische Behauptung widerlegen, die besagt, Christus habe nur einen aus Wasser bestehenden Scheinleib besessen842• Bornkamm verspürt in der Betonung des Blutes
838 So T.W. Manson, Miscellanea Apocalyptica ill. Test. XII Patr.: Levi viii, JThS 48 (1947) 59-61; dagegen Nauck, Tradition 171173. 839 Zustimmend äußert sich la Potterie, Verite 319f. 840 Schnackenburg 26lf; auch Dodd 131: »a threefold testimony: the living voice of
prophecy, and the two evangelical sacraments«; Houlden 128f; Denney· 423; dagegen Marshall 237f. 841 Herausgestellt bei Venetz· 348. 842 Richter· 128-134; zur Auseinandersetzung Wengst, Häresie 19f. Auch Spriggs·150 bezieht das Wasser auf die Geburt Jesu, ebenso in anderer Weise Witherington·.
302
Die drei Zeugen (5,6-8)
eine Polemik gegen gnostische Eucharistiefeiern nur mit Wasser (in der Regel allerdings mit Wasser und Brot, was Bornkamm unberücksichtigt läßt)843. Im 19. Jahrhundert gab es zeitweilig eine Tendenz, das Wasser nicht auf die Taufe Jesu, sondern auf die von Jesus eingesetzte christliche Taufe und seine eigene Tauftätigkeit (]oh 3,22) zu deuten 844.
Wirkungs- Wir nähern uns damit verschiedenen Erklärungstypen, die nur noch unter wirkungsgeschichte geschichtlichem Aspekt unser Interesse beanspruchen, für den Umgang mit dem schwierigen Text aber sehr instruktiv sind845. Aus der altkirchlichen und mittelalterlichen Auslegung hat sich teils ein martyrologisches Verständnis des Blutes bis in neuzeitliche Entwürfe hinübergerettet 846 . Es steht im Rahmen des größer angelegten Versuches, die Trias aus V. 8 metonymisch mit bestimmten Personen und Personengruppen zu verbinden, z.B. den Geist mit den Propheten, das Wasser mit dem Täufer oder den Getauften, das Blut mit dem Märtyrer oder dem Apostel847. Daneben werden Wasser und Blut auf verschiedene Weise über Taufe und Kreuzestod hinaus auf Stationen der Vita Jesu ausgeweitet: Schon beim Kommen Jesu in die Welt haben die von Herodes ermordeten Kinder von Betlehem ihr Blut und deren Mütter bittere Tränen (= Wasser) vergossen 848; Blut und Tränen sind bei der Beschneidung Jesu geflossen, ebenso im Garten von Gethsemani (Lk 22,44; Hebr 5,7) und bei der GeißelungB49. Durch das Blut als Zeichen seiner Lebenshingabe am Kreuz unterscheidet sich Jesus positiv von Mose, der nur im Nilwasser »kam«, wie seine Kindheitsgeschichte und die Etymologie seines Namens verraten850. In der Väterexegese gibt es durchaus nichtsakramentale und nichttrinitarische Interpretationen. Clemens von Alexandrien erklärt den Geist als Leben, das Wasser als Erneuerung und Glauben, das Blut als Erkenntnis851 . Origenes geht bei der Allegorese des Reinigungsopfers aus Lev 14,5 darauf ein. Er betont die entsündigende Kraft von Wasser, Blut und Geist und vergleicht letzteren mit dem Lebenshauch des geschlachteten Huhns aus Lev 14 852. Für die sakramentale Auswertung in der Zusammenschau von 1Joh 5,6 und Joh 19,34 hat Tertullian die Wege gebahnt853 . Aber auch das Bestreben, möglichst alle triadischen Formeln im NT als Beleg für die Trinitätslehre zu gewinnen, konnte an unseren Versen nicht vorübergehen. In der Durchführung verfährt man so, daß man entweder den Geist aufgrund von Joh 4,24 auf Gott deutet, das Wasser im Rückgriff auf}oh 7,38f auf den Geist und das Blut im Anschluß an Joh
843 G. Bornkamm, Zum Verständnis des Gottesdienstes. B. Das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze I, 51966 (BEvTh 16), 123132, hier 128f; in ähnlicher Richtung schon GreiW 473f. 844 Düsterdieck II 377f; Sander 262; Maßl 133. So jetzt wieder in ausführlicher Argumentation de Boer~. 845 Manche Kuriositäten bei Huther 242f; ausführliches Repertoire bei Meehan~. 846 Winterbotham* 67; Miguens~ 88. 847 Bengel 1021; Greiff~ 477f.
848 Barker 75; Bernhard von Clairvaux (s.u. Anm.850). 849 Nicolaus de Gorran 394; Salmeron 306; Glossa 702D. 850 Bernhard von Clairvaux, In octava Paschae sermo 1,4f (294B PL 183); Dionysius Cartus.51. 851 Clemens Alex. 214; vgl. auch die rein christologische Interpretation bei Dionysius Bar Salibi 126. 852 Origenes, Horn in Lev 8,10; s.o. Anm. 829. 853 Tertullian, Bapt 16,lf.
l]oh 5,6-8: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
303
19,34 auf den Sohn854 . Oder man entscheidet sich, was vom Wortlaut her sicher näherliegt, für das Verständnis von Pneuma als Geist, bezieht auf Umwegen das Wasser auf Gott (weil das Wasser Ursprung aller Dinge ist und Gott sich in Jer 2,13 selbst als »Quell lebendigen Wassers« bezeichnet) und behält für das Blut die christologische Lesart bei855. Mit der nicht ganz stimmigen Reihenfolge muß man sich in beiden Fällen arrangieren. Aus frühen trinitarischen Deutungen von 1Joh 5,7-8 ist vermutlich das Comma Johanneum (s. Exkurs 4) erwachsen, das seinerseits bei den späteren Autoren im Westen diesem Auslegungstyp wesentlichen Auftrieb gab.
Die symbolgeladenen wenigen Verse verfolgen das Ziel, das vergangene ZusammenChristusgeschehen in die Gegenwart des Glaubens hinein zu transformieren. fassung Das Vergangene in seiner bleibenden Bedeutsamkeit verstehen heißt zugleich die Christologie richtig konzipieren, nämlich so, daß die ganze Wirksamkeit Jesu als erlösendes und rettendes Handeln Gottes in seinem menschgewordenen Sohn begriffen wird. Die evangeliaren Jesusüberlieferungen werden in die beiden Kürzel von Wasser und Blut hinein verdichtet, deren unerschöpflicher Sinn im nachästerlichen Prozeß der Rezeption und Aneignung der Jesusstoffe von der johanneischen Schule zunehmend erschlossen wird. Sie weiß sich dabei der Führung des Geistparakleten verpflichtet, dessen Kommen in ihrer Sicht die wichtigste Verheißung und Gabe des in den Tod gehenden Herrn darstellt. So klingt auch in der Gegenwart in der Christusverkündigung ein dreistimmiger Chor von Zeugen auf, in dem die drei Stimmen nicht etwa in wirren Dissonanzen gegeneinander laufen, sondern einen einzigen harmonischen Akkord bilden. Der Geist gibt als Stimmführer die Tonart an. Alles hängt für die Glaubenden davon ab, daß dieses Zeugnis Resonanz findet in ihrem eigenen geisterfüllten Inneren und daß sie mit ihrem Christusbekenntnis, ihrem Christusglauben und ihrem christlichen Leben in der gleichen Tonlage Antwort geben.
Exkurs 4: Das Comma Johanneum Literatur: Abbot, E., 1. John V. 7 and Luther' s German Bible, in: ders., The Authorship of the Fourth Gospel and Other Critical Essays, Boston 1888, 458-463; Alamo, M. deI, EI »Comma Joaneo«, EstB 2 (1943) 75-105; Ayuso Marazuela, T., Nuevo estudio sobre el »Comma Ioanneum«, Bib. 28 (1947) 83-112.216-235; 29 (1948) 52-76; Baumstark, A, Ein syrisches Citat des »Comma Johanneum«, OrChr 2 (1902) 438-441; Bludau, A, Der Beginn der Controverse über die Aechtheit des Comma Joanneum (1 Joh. 5,7.8) im 16. Jahrhundert, Kath. 82/II (1902) 25-51.151-175; ders., Das Comma Jo-
854 Augustinus, Contra Maximinum 1122,3 (795 PL 42); Facundus, Pro defensione I 3,914 (12,46-14,96 CChr.SL 90A). Eine trinitarisehe Auslegung allgemeinerer Art von 1Joh 5,8 auch bei Potamius von Lissabon, Epistula
de substantia 3.10.19 (203.206.209 PLS 1). Eueherius, Instruetionum libri I (138, 3-8 CSEL 31); Scottus anonymus 44; aLapide 612. 855
304
Exkurs 4: Das Comma Johanneum
hanneum (I Joh. 5 § 7), in den orientalischen Uebersetzungen und Bibeldrucken, OrChr 3 (1903a) 126-147; ders., Das Comma loanneum (I 105,7) im 16. Jahrhundert, BZ 1 (1903b) 280-302.378-407; ders., Das Comma loanneum (1 10 5,7) in den Schriften der Antitrinitarier und Socinianer des 16. und 17. Jahrhunderts, BZ 2 (1904a) 275-300; ders., Richard Simon und das Comma fohanneum (1 Joh. 5,7), Kath. 84/1 (1904b) 29-42.114-122; ders., Das Comma Johanneum bei den Griechen, BZ 13 (1915) 26-50; ders., Das Comma Ioanneum (1. Joh. 5,7) in dem Glaubensbekenntnis von Karthago vom Jahre 484, ThGl11 (1919a) 9-15; ders., Der hl. Augustinus und 1. Joh. 5,7.8, ThGL 11 (1919b) 379-386; ders., Das »Comma Johanneum« bei Tertullian und Cyprian, ThQ 101 (1920) 1-28; ders., Der Prolog des Pseudo-Hieronymus zu den katholischen Briefen, BZ 15 (1921) 15-34.125-138; ders., The »Comma Johanneum« in the Writings of English Critics of the Eighteenth Century, IThQ 17 (1922) 128139.201-218; ders., Das Comma Johanneum 1 Joh. 5,7 bei Eucherius und Cassiodor, ThGl19 (1927) 149-156, vgl. 418; Borger, R., Das Comma Johanneum in der Peschitta, NT 29 (1987) 280-284; Calmet, A., Dissertationes in Vetus et Novum Testamentum. Bd. 3, Würzburg 1789, 497-513 (zu 1 Joh 5,7); Fickermann, N., St. Augustinus gegen das >Comma Johanneum, BZ 22 (1934) 350-358; Fischer, B., Der Bibeltext in den pseudo-augustinischen »Solutiones diversarum quaestionum ab haereticis obiectarum« im Codex Paris B. N. Lat. 12217, Bib. 23 (1942) 139-164.241-267, hier 263f; Gregoire, R., n»comma ioanneum« interpretato da alcuni Padri latini, in: Sangue e antropologia nella letteratura cristiana, hrsg. F. Vattioni, Rom 1983 (Centro Studi Sanguis Christi 3), Bd. 2, 847-859; Harnack, Textkritik 572f; Heeren, A. van der, Responsa ... , CBrug 18 (1913) 17-25.202-207.282-286; fenkins, c., A Newly Discovered Reference to the >Heavenly Witnesses< (I John v.7,8) in a Manuscript of Bede, JThS 43 (1942) 42-45; fonge, H.f. de, Erasmus and the Comma Johanneum, EThL 56 (1980) 381-389; Koelling, Die Echtheit von 1 Joh. 5,7, Breslau 1893 (vgl. ThLBl15 [1894] 98); Künstle, K., Das Comma loanneum. Auf seine Herkunft untersucht, Freiburg 1905; Lemonnyer, A., Art. Comma Johannique, in: DBS II 67-73; Martin, j.P.P., Le verset des trois ternoins ceIestes 1Jean, V. 7 et la critique biblique contemporaine, RSE 55 (1887) 97-129.193-223; Posset, F., John Bugenhagen and the Comma Johanneum, Concordia Theological Quarterly 49 (1985) 245-251; Riggenbach, E., Das Comma lohanneum, 1938 (BFChTh 31/4); Riviere, J., Sur l'»authenticite« du verset des trois ternoins, RAp 46 (1928) 303-309; Thiele, Beobachtungen zum Comma lohanneum (I Joh 5,7f.), ZNW 50 (1959) 61-73; Wettstein 11 721-727.
w.,
w.,
7a
Denn drei sind es,
b die bezeugen [im Himmel:
8a
b
der Vater, der Logos und der heilige Geist, und diese drei sind eins. Und drei sind es, die bezeugen auf Erden]: der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind auf das eine hin [bzw. sind eins].
Eigentlich würde das Comma Johanneum, wenn wir nur auf seine handschriftliche Bezeugung blicken, wenig mehr als eine Fußnote verdienen, gäbe es nicht die eigentümliche Nach- und Wirkungsgeschichte des Textstücks, die bereits durch die Litera-
Interne Textkritik, Kontextbezug und Deutung
305
turangaben dokumentiert wird. Sie ist ein Lehrstück für den folgenreichen Streit um Authentizität und Autorität des biblischen Textes. Aus diesem Grund holen wir auch im folgenden etwas weiter aus und stellen den gesamten Sachverhalt im Zusammenhang dar.
a
Interne Textkritik
Den in der obigen Übersetzung zwischen V. 7 und V. 8 in eckigen Klammern stehenden Text bezeichnet man als Comma Johanneum (im folgenden CJ), wobei Comma soviel bedeutet wie Satz, Satzteil, Textstück CJ in freier Wiedergabe also das rätselhafte johanneische Satzstück meint. In den verhältnismäßig wenigen handschriftlichen Zeugen, die für das CJ überhaupt zur Verfügung stehen (dazu s. unter c) ist der Wortlaut nicht einmal einhellig überliefert. Am wichtigsten dürfte sein, daß die alte lat. Texttradition das CJ nicht zwischen V. 7 und V. 8, sondern erst im Anschluß an V. 8 bietet. Das könnte schon für sich betrachtet ein Hinweis darauf sein, daß sich das CJ aus einer interpretierenden Glosse zu 1Joh 5,7-8 entwickelt hat, die anfänglich einfach an den bestehenden Text angehängt wurde 856. Thiele rekonstruiert in seiner Ausgabe folgenden alten Text: »Drei sind es, die Zeugnis geben auf Erden, Geist (und) Wasser und Blut, und die (se) drei sind eins (bzw. auf eines hin) in Christus Jesus. Und drei sind es, die Zeugnis geben im Himmel, Vater (und) Wort (bzw. Sohn) und (Heiliger) Geist, und die drei sind eins«857. In die clementinische Vulgata ist. als Standardtext eine andere Fassung eingegangen, die sich von der soeben zitierten vor allem durch die umgekehrte Reihenfolge von CJ und V. 8 unterscheidet, daneben durch Weglassung von »in Christus Jesus«858, während sie das Attribut sanctus bei spiritus beibehält. Das anfängliche Schwanken zwischen filius 859 und verbum, zwischen tria und tres, zwischen in unum und unum wird zugunsten von verbum, tres und unum entschieden. Die griech. Textzeugen enthalten im wesentlichen die oben übersetzte, der clementinischen Vulgata entsprechende Version. Interne Abweichungen sind hinsichtlich des Gebrauchs des Artikels vor Vater, Logos und Geist und hinsichtlich der Kopula xa( zu verzeichnen. Innerhalb des CJ lesen die griech. Zeugen (mit Ausnahme von 629) durchweg EV dmv, am Schluß von V. 8 hingegen anders als die meisten Lateiner E~ 'to Ev ElOLV (629 und 61 lassen 8b ganz aus). Das erweckt bereits den Verdacht, daß die einschlägigen griech. Handschriften im CJ der lat. Vorlage folgen, ansonsten aber der griech. Texttradition verpflichtet bleiben, die am Schluß von V. 8 einhellig d~ 'to EV liest.
b
Kontextbezug und Deutung
Eine Erklärung des CJ im Kontext des 1Joh fällt gar nicht so leicht. Meist hat man im Verlauf der Auslegungsgeschichte nur reflexhaft die klare trinitarische Ausrichtung der Stelle wahrgenommen und dankbar ausgewertet, ohne sich um die KontextproVgl. Gregoire* 849. So die Leitzeile C (in Klammern die wesentlichen Abweichungen der Leitzeile K) bei Thiele, VL 26/1, 363-365. 856
857
858 Als die ältere Version bevorzugt von Künstle* 48. 859 Zur Bezeugung von filius vgl. auch Fischer* 264.
306
Exkurs 4: Das Comma /ohanneum
bleme860 sonderlich zu bemühen. Logos, absolut gebraucht, ist im Evangelienprolog Relationsbegriff zu {}E6~, nicht zu :nuTf)Q (dazu paßte besser 'Ul6~). »Heiliger Geist« kommt im 1 Joh sonst nicht vor, und die doppelte Verwendung von JtVEUf,lU in beiden Dreierreihen stört (zumal der Geistparaklet bei Johannes seine Tätigkeit nur auf Erden ausübt, im Unterschied zu Jesus, der es nach IJoh 2,1 im Himmel tut). Schwer einsichtig zu machen ist auch der Kontrast zwischen der bezeugenden Tätigkeit im Himmel und der bezeugenden Tätigkeit auf Erden, da es im Duktus von IJoh 5,6-8 um ein irdisches Zeugnis für Jesus geht. Man behilft sich meist mit der Erklärung, daß auch das himmlische Zeugnis zwar von oben her ergeht, aber auf Erden wahrgenommen wird, oder daß lediglich die himmlische Qualität der drei Zeugen ausgesagt werden soll. Das Zeugnis des Vaters besteht in der Himmelsstimme, die bei der Taufe und bei der Verklärung Jesu laut wird (vgL auch Joh 12,28). Das Zeugnis des Logos wird mit den Selbstaussagen Jesu im Evangelium verknüpft (z.B. Joh 10,38; 14,6). Das Zeugnis des Geistes zielt wiederum auf die Taufe Jesu, wo der Geist in Gestalt einer Taube vom Himmel herabsteigt, darüber hinaus auf das Pfingstereignis und auf das Zeugnis des Geistparakleten im Munde der Jünger (Joh 15,26-27)861. Daneben gibt es noch den Vorschlag, das himmlische Zeugnis so zu verstehen, daß den Seelen der Verstorbenen im Himmel der Gottmensch Jesus Christus vorgestellt werde 862. Leitend aber bleibt das trinitarische Verständnis, das die Einheit der drei göttlichen Personen in ihrem Wirken wiederfindet.
c
Bezeugung
Der neu esten Übersicht zufolge 863 kommen für den griech. Text neun Minuskeln in Betracht. Fünf davon bieten das CI im Text, nämlich die Codices 61 (Codex Monforti anus aus dem 16. Jh. im Trinity College in Dublin, überarbeitet nach der Vulgata; die Vorlage 326 aus dem 12. Jh. hat das CI nicht); 629 (14. Jh., griech.-Iat., Rom); 918 (16. Jh., Escorial); 2318 (18. Jh., Bukarest; weist Vulgataeinfluß auf); 2473 (17. Jh., Athen). Vier weitere Minuskeln haben das CI als Zusatz eines Korrektors oder als Marginaliesart: 88 (12. Jh., Neapel; Randglosse ca. 16./17. Jh.); 221 (10. Jh., Oxford, Randglosse unbestimmten Alters); 429 (14. Jh., Wolfenbüttel); 636 (15. Jh., Neapel). Das späte Datum in allen Fällen und der teils offen zutage tretende Bezug zur lat. Version lassen den Schluß zu, daß die lat. Textfassung rückübersetzt wurde und so in junge griech. Handschriften eingedrungen ist. Eine alte, den Anfängen der lat. überlieferung vorausliegende griech. Form des CI hat es vermutlich nie gegeben864 . Die Väter des Ostens kennen bis ins Mittelalter hinein das CI nicht. Anders wäre es auch nicht zu erklären, warum es in den trinitarischen Auseinandersetzungen der Alten Kirche
Zu ihnen vgl. Riggenbach* 8f; Plummer 168-170. 861 Vgl. das Referat bei de Ambroggi 270; Bonsirven 234; auffälligerweise trägt Eucherius, Instructionum libri I (138,8-19 CSEL 31), diese Deutung zu 1Joh 5,7-8 ohne das Cf vor. 862 Salmeron 309. 863 Aland, Text und Textwert V1, 163-166. 860
Vgl. wegen der vielen Detailinformationen immer noch Bludau* (1915). Unberücksichtigt bleibt der sog. Codex Ravianus (16. Jh., Berlin), zu dem Tischendorf II 337 bemerkt, er sei aus der gedruckten Complutensischen Polyglotte kopiert. 864 Sicher nicht, möchte man lieber sagen, aber diesem Konsens widerspricht Thiele* 73, freilich m.E. ohne durchschlagende Gründe.
Bezeugung, Ursprung und Ausbreitung
307
im Osten keine Rolle spielt. Das CJ fehlt in allen alten Übersetzungen865 mit Ausnahme der lateinischen. Der Schwerpunkt der Bezeugung des CJ liegt, wie sich schon bei der Besprechung der internen Textkritik abzeichnete, in der lat. überlieferung, die in Bibelhandschriften allerdings erst seit dem 7./8. Jh. für uns faßbar wird. Hier sieht die Situation so aus, daß die Altlateiner das CJ überwiegend bezeugen, die ursprüngliche Vulgatarevision es aber anscheinend bewußt ausgelassen hat im Vollzug einer Angleichung der altlateinischen Version an griech. Vorlagen 866 . In die jüngere Vulgataüberlieferung dringt das CJ wieder ein und gelangt auf diesem Weg in die maßgeblichen Druckausgaben der Neuzeit. An prominenten altlateinischen Zeugen für das CJ867 seien die Freisinger Fragmente (für die Kath. Briefe 7. Jh., Herkunft Nordafrika oder Spanien) und das Palimpsest von Leon (7. Jh., Spanien) genannt. Zu den Vulgatazeugen gehören u.a. eine karolingische Minuskel aus der Pariser Nationalbibliothek (Sigel L; Anfang 9. Jh., evtl. aus Südfrankreich), Codices in Verona (Sigel R; 7./8. IR.), St. Gallen (Sigel S; 8. Jh.) und London (Sigel U; 9. Jh., wie S in St. Gallen entstanden), der Codex Cavensis (9. Jh., Spanien). Es bleiben eine Reihe von lat. Handschriften übrig, die das CJ nicht enthalten, darunter zuverlässige Vertreter der Vulgata wie der Codex Sangermanensis (vor 820 in Saint-Germain-des-Pres geschrieben), der Codex Fuldensis (geschrieben 546/47 in Capua) und der Codex Iuvenianus in der Biblioteca Vallicelliana (9. Jh., Rom oder Latium). Geographisch gesehen verweist die frühe lat. Bezeugung des CJ nach Spanien, teils auch nach Nordafrika und Südgallien.
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Ursprung und Ausbreitung
Die früheste unstrittige Bezeugung des CJ in seiner lat. Fassung findet sich Jahrhunderte vor der Entstehung unserer ältesten lat. Bibelhandschriften im Liber apologeticus, dem spanischen Theologen Priscillian (ca. 380 n.Chr. zum Bischof von Avila geweiht) zugeschrieben, jedenfalls aus seinem Umkreis stammend868 • Die Textform hat bei Priscillian mit der Stellung des CJ nach V. 8, der Trias »Wasser, Fleisch und Blut« in 8a und der Beibehaltung von »in Christus Jesus« am Satzende einige Besonderheiten, die als Anzeichen für eine frühe Entwicklungs- und Reflexionsstufe zu werten sind. Priscillian vertrat in der Trinitätslehre wahrscheinlich einen modalistischen Standpunkt und hat, wenn das zutrifft, die Einheit der drei genannten Größen in Christus Jesus in diesem modalistischen Sinn verstanden, als strikte Einheit der göttlichen Person in ihren Erscheinungsformen. In der Forschung hat man verschiedentlich Priscillian als Urheber des CJ angesehen869. Angesichts der Tatsache, daß er 385/ 86 wegen Häresieverdacht verurteilt und hingerichtet wurde - zum Entsetzen auch 865 Zur syr. Übers. vgl. zuletzt die KlarsteIlungen von Borger*; ferner Bludau* (1903a); wohl irreführend Baumstark*. 866 Vgl. Thiele, VL 26/1, 84*-85*. 867 Das Folgende nach dem Apparat bei Thiele, VL 26/1, 364 (dort in der Einleitung auch nähere Angaben zu den Hss.); vgl. ferner Ayuso Marazuela*, bes. die tabellarische Übersicht 218. 868 Vgl. Priscillian, Tractatus 1,4 (6,5-9
CSEL 18): »Drei (tria) sind es, die Zeugnis geben auf Erden: Wasser, Fleisch (caro) und Blut, und diese drei sind auf eines hin; und drei (tria) sind es, die Zeugnis geben im Himmel: Vater, Wort und Geist, und diese drei (tria) sind eins in Christus Jesus.« Gelegentlich wird Priscillians Anhänger und Förderer Instantius (span. Bischon als Verf. genannt. 869 So Künstle* 50f; fragend Martin* 218.
308
Exkurs 4: Das Comma Johanneum
von großkirchlichen Kreisen -, müßte das als eine besondere Ironie der Theologiegeschichte gelten. Aber die These trifft, wie die weitere Diskussion gezeigt hat, so nicht ZU870. Das CJ ist älter als Priscillian. Wie alt, bleibt die Frage. Darüber, daß Tertullian zumindest noch nicht das CJ bezeugt, wenn er aus Anlaß einer trinitarischen Reflexion schreibt: »Die drei sind eins (unum), nicht einer (unus)«871, sollte noch Einverständnis zu erzielen sein. Strittiger wird die Beurteilung im Falle Cyprians, der um 251 den Satz formuliert: »Es spricht der Herr: Ich und der Vater sind eins Ooh 10,30). Und wiederum steht vom Vater und vom Sohn und vom Heiligen Geist geschrieben: und die drei sind eins«872. Während dies mehrheitlich zwar als Bezugnahme auf 1Joh 5,8, nicht aber als Beweis für eine Kenntnis des CJ gewertet wird, möchte Thiele, der das CJ zu den häufigeren erweiternden und interpretierenden Zusätzen in der lat. überlieferung der Kath. Briefe rechnet, Cyprian als frühen Zeugen in Anspruch nehmen 873. Daß Facundus von Hermiane Cyprian nur als Beispiel für die allegorisch-trinitarische Auslegung von 1Joh 5,7-8 zitiert874, nicht aber als Zeugen für das CJ, erklärt Thiele aus der Situation dieses Autors heraus. Die zweimalige Zitation von 1Joh 5,7-8 ohne das CJ in dem mit Cyprian gleichzeitigen nordafrikanischen Traktat De rebaptismateB75 führt er auf Anlehnung an eine griech. Textfassung zurück. Hier stellen sich doch Zweifel ein. Die Kenntnis des CJ durch Cyprian erscheint nicht gesichert. Bei Augustinus, dessen Kommentar zum 1Joh leider bei 5,3 abbricht, der aber auch in seinem sonstigen Werk das CJ nie anführt, stellt sich das Problem so dar: Kannte er das CJ überhaupt nichtB 76 , weil es nicht in seinem Bibeltext stand, oder hat er seine Herkunft angezweifelt und es bewußt nicht verwendet877? Für die zweite Lösung weist man u.a. auf eine Notiz in einer Handschrift aus dem 11. Jh. hin, die besagt, Hieronymus habe die Authentizität des CJ verteidigt, Augustinus hingegen habe vorgeschrieben, es aufgrund apostolischer Lehre und der Autorität des griechischen Textes auszulassen 878. Das Beweisstück wirkt einigermaßen dubios. Die Anrufung des Hieronymus bezieht sich auf einen ihm fälschlich zugeschriebenen Prolog zu den Kath. Briefen aus dem 5. Jh. 879, erhalten im Codex Fuldensis, einer lat. Bibelhandschrift ohne das CJ (s.o.). Der Prolog beklagt, daß lat. Bearbeiter des 1Joh nicht sorgfältig genug aus dem Griech. übersetzt und deshalb das CJ mutwillig ausgelassen haben. Im 5.16. Jh. nehmen die unbezweifelbaren Belege bei den lat. Vätern an Zahl zu. Eine Stellungnahme der kath. Bischöfe Nordafrikas in Auseinandersetzung mit den
I
Vgl. schon Riggenbach* 22f.41; Hatnack*. 871 Adversus Praxean 25,1 (1195,9 CChr.SL 2); vgl. noch Bapt 6,2; Pud 21,16; dazu Bludau* (1920) 1-11. 872 De unitate 6 (254,155-157 CChr.SL 3); vgl. ders., Ep 73,12 (787,5f CSEL 3(2). 873 Thiele* 68-70; die Gegenposition bei Bludau* (1920) 11-26. 874 S. o. Anm. 854. 875 Ps.-Cyprian, De rebaptismate 15 (87,3588,5 CSEL 3(3); 19 (92,6-9). Von den drei Zeugen Vater, Sohn und Geist spricht, ohne 1Joh 5,7-8 oder das CJ direkt zu erwähnen, 870
Ps.-Cyprian, Sermo de centesima (65 PLS 1), entstanden im 4. Jh. in Nordafrika. 876 Vgl. Bludau* (1919b). Zur trinitarischen Deutung von 1Joh 5,7-8 ohne Kenntnis des CJ bei Augustinus s.o. Anm. 854, bei Eucherius s.o. Anm. 855.861 und Bludau* (1927) 149-152. 877 So Thiele* 7lf. 878 Bei Fickermann* 350. Zitiert wird das CJ bei Ps.-Augustinus, Speculum 2 (314,7-11 CSEL 12), und Ps.-Augustinus, Solutiones 19 (164,2-4 CChr.SL 90), beide ca. 5. Jh., entstanden in Italien und Afrika. 879 Vgl. Bludau* (1921).
Ursprung und Ausbreitung, Neuzeitliche Rezeption
309
Arianern auf einer Synode in Karthago im Jahre 484 88°, verschiedene Arbeiten zur Trinitätslehre881 und der Kommentar des Cassiodor zum 1Joh882 seien beispielhalber angeführt. Bemerkenswert ist aber auch, daß andere lat. Autoren 1Joh 5,7-8 weiterhin ohne das CI zitieren. Dazu gehören Ambrosius883 und Leo der Große mit seinem Tomus ad Flavianum 884 • Daß sich der Ursprung des CJ vor Priscillian nicht eindeutig bestimmen läßt, steht in direkter Relation zu seinen Entstehungsbedingungen. Das CI hat sich, so viel können wir festhalten, aus einer trinitarischen Auslegung des Grundtextes von 1Joh 5,7-8 entwickelt, die in Nordafrika ca. im 3. Jh. in Form einer Glosse festgehalten wurde und in den Text eindrang. Wo der Umschlag von der exegetischen Erläuterung zur neuen Textform erfolgte, ist mit letzter Sicherheit nicht mehr festzustellen.
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Neuzeitliche Rezeption
Erstaunlicherweise fand das CI über die jüngere Vulgataüberlieferung auch Eingang in die Druckausgaben des griech. NT in der Neuzeit 885 . Die große Complutensische Polyglotte (1514 gedruckt, 1522 ausgeliefert) enthält es von Anfang an. Erasmus ließ es in den beiden ersten Auflagen seiner Edition (1516 und 1519) im griech. Grundtext wie in der lat. Übersetzung aus, nahm es aber von der dritten Ausgabe (1522) an in den Text auf. Die wissenschaftliche Legendenbildung will, daß Erasmus seinen Kritikern versprochen habe, er werde das CI berücksichtigen, wenn man ihm eine einzige griech. Handschrift zeige, die es enthielte. Daraufhin sei der Codex Monfortianus (s.o. unter c) eigens angefertigt worden, um Erasmus zu täuschen, und das habe Erasmus selbst geahnt 886 • Zweifel sind aber zumindest an dem vermeintlichen Versprechen des Erasmus und an seinem Verdacht angebracht887. Erasmus lag anscheinend daran, seiner neuen lat. Übersetzung zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre Chancen wollte er durch einen Streit um das eher periphere CI nicht gefährden. Die Reformatoren sprachen sich mehrheitlich gegen das CI aus. Luther brachte in seinem Kommentar einen kräftigen Seitenhieb gegen die Stelle an 888 und nahm sie nicht in seine deutsche Übersetzung des NT aufB 89 • Dennoch gelangte das CI schließlich über die Ausgaben von Stephanus, von Beza und von Elzevir in den Textus receptus und hatte fortan nicht nur die für die kath. Kirche besonders wichtige Autorität der gedruckten Vulgata im Rücken, sondern auch in der Gelehrtenwelt die Autorität des als gesichert angesehe880 Vgl. Victor von Vita, Historia persecutionis 2,82 (60,20-25 CSEL 7); Bludau' (1919a). 881 Ps.-Vigilius von Thapsus, De trinitate 1,50 (14,417-421 CChr.SL 9); 1,69 (19,570573); 10,60 (145,395-399); ders., Contra Varimadum 1,5 (20,14-21,18 CChr.SL 90); Fulgentius von Ruspe, De trinitate 4,1 (636,147f CChr.SL 91A); ders., Responsio contra Arianos 10,9 (93,883-885 CChr.sL 91); sehr viel später auch das 4. Laterankonzil in Auseinandersetzung mit der Trinitätslehre des Joachim von Fiore, vgl. DS 803. 882 Cassiodor 1373A. Bei Beda ist das CJ erst sekundär in die handschriftliche Überlie-
ferung seines Kommentars eingedrungen, dies zu Jenkins·. 883 Expositio Ev Luc 10,48 (359,477-479 CChr.SL 14) u.ö. 884 Ep 28,5 (31,20-24 ACO 11 2,1). 885 Bludau' (1902). 886 Vgl. Bludau' (1902) 172f; (1903b) 280. 887 Vgl. HJ de Jonge·. 888 780f: »durch den Eifer der alten Theologen gegen die Arianer ungeschickt eingefügt ... Ich könnte mich leicht darüber lustig machen, daß es keine ungeeignetere Beweisstelle für die Trinität gibt.« 889 Vgl. Abbot'; Bludau' (1903b) 379f.391393; Posset'.
310
Exkurs 4: Das Comma Johanneum
nen griech. Textes. Es gehört nicht zu den Ruhmesblättern der Kritik, daß es zeitweilig vor allem die antitrinitarisch eingestellten Socinianer waren, die sich gegen seine Echtheit aussprachenB90. Allerdings setzten sehr bald die Zweifel wieder auf breiter Front ein, diesmal betont unter historisch-kritischem Vorzeichen, so bei dem französischen Oratorianer Richard Simon (1638-1712), einem kath. Vorläufer, um nicht zu sagen Begründer der EinleitungswissenschaftB91. Daß sich eine erbitterte Diskussion gerade im englischen Sprachraum entwickelte B92, beleuchtet auch eine Stelle aus einer Satire von Jonathan Swift, die vermutlich auf das CJ abzielt und die Autoritätsfrage aus einem überraschenden Blickwinkel angehtB93 . Die Zahl der Verteidiger des CJB94 schmolz bis zum Ende des 19. Jh. zusehends dahin wie Schnee in der Sonne, auch unter den kath. Exegeten B95 . Man hatte zwar einige Schwierigkeiten mit dem Trienter Dekret, das die Vulgata in allen ihren Bestandteilen als kanonisch definierte B96 , konnte sich aber damit helfen, daß man entweder zwischen Authentizität und Autorität unterschied oder daß man mit mehr Recht feststellte, die alte Vulgata habe das CJ nicht enthalten und die Trienter Formulierung beziehe sich nicht auf einzelne Verse, sofern nicht ausdrücklich vermerkt, was beim CJ nicht der Fall warB97• Leider fühlte sich die römische Congregatio pro Inquisitione veranlaßt, in einer Erklärung vom 12. Januar 1897 die Frage, ob man an der Authentizität des CJ Zweifel äußern dürfe, negativ zu entscheiden898 . Die Wogen der Erregung schlugen vor allem in nichtkatholischen Kreisen hoch. Sie wurden durch offiziöse Verlautbarungen beschwichtigt, denen zufolge das Dekret die Fortsetzung der Diskussion innerhalb der Forschung nicht verbieten wolle 899. Eine vorsichtige Korrektur bedeutet auch die letzte Stellungnahme, unter dem Datum des 2. Juni 1927 verantwortet vom Heiligen Officium und in das im gleichen Jahr erscheinende Enchiridion Biblicum aufgenommen 90o. Darin heißt es, das Dekret habe nur den Übermut von Privatgelehrten zurechtrücken wollen, weil nicht ihnen ein solches Urteil zustünde, sondern nur der Kirche. Einen befriedigenden Abschluß der Debatte kann
Socinus 425f; Bludau* (1904a). Bludau* (1904b). 892 Bludau* (1922). 893 J. Swift, Einwände gegen die Abschaffung des Christentums, in: ders., Die menschliche Komödie. Schriften, Fragmente, Aphorismen, hrsg. M. Freund, 1957 (KTA 171), 136-150, hier 149: »Deshalb sehen die Freidenker das Christentum auch als ein Gebäude an, in dem alle Teile so aufeinander ruhen, daß der ganze Bau zusammenstürzen muß, wenn man auch nur einen einzigen Nagel herauszieht. Dem hat kürzlich ein Mann glücklich Ausdruck gegeben: er hörte, daß ein Text, den man gemeinhin zum Beweis der Dreieinigkeit anführte, in einem alten Manuskript ganz anders lautete. Er begriff den Wink sofort und kam durch eine Kette von Folgerungen rasch zu dem logischen Schluß: ,Aber wenn dem so ist, wie Sie sagen, so kann ich in aller Ruhe weiterhuren, saufen und dem Pastor Trotz bieten<.« 894 Darunter Calmet*; Bengel 1024 (wartet 890 891
auf neue Handschriftenfunde); Mayer 188197 (mit einer unglaublich gewundenen Argumentation, die nachzulesen sich lohnt); Lange 676-679; Koelling* (vgl. 5: »I. Joh. 5,7 ist das majestätische biblische Compendium für die kirchliche Trinitätslehre«). 895 Z.B. Brentano 327; Schnappinger 472f; Martin*. 896 OS 1504: libros ipsos integros cum omnibus suis partibus. 897 Ausführliche Darstellung bei van der Heeren* 202-207.282-286. 898 Text in ASS 29 (1896/97) 637. Dort wird der 12. Januar als Datum genannt, während in der Literatur in der Regel der 13. Januar auftaucht. Am 15. Januar wurde das Dekret nach der gleichen Quelle von Papst Leo XIII. bestätigt. 899 Vgl. u.a. RB 7 (1898) 149; Riviere*; Chaine 136. 900 EnchB 121; dazu RB 37 (1928) 277; Lemonnyer* 67f.
311
1Joh 5,9-12: Übersetzung
man das schwerlich nennen. Daß die Exegese weiterging und zu einem überkonfessionellen, kirchlich abgesegneten Konsens fand, beweist u.a. die Einheitsübersetzung, die das CJ als sekundären Zusatz in eine Fußnote verbannt 901 .
Das Zeugnis Gottes (5,9-12)
e
Literatur: Beutler, Martyria 276-281; Klauck, H.]., Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes. Die christologische Linienführung im ersten Johannesbrief, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 293-306; la Potterie, 1. de, La notion de temoignage dans Saint Jean, in: Sacra Pagina, hrsg. J. Coppens u.a., 1959 (BEThL 12/ 13), Bd. 2, 193-208.
Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer. e Denn dies ist das Zeugnis Gottes: daß902 er Zeugnis abgelegt hat über seinen Sohn 903 • d lOa Wer an den Sohn Gottes glaubt, b hat das Zeugnis904 in sich905 • eWer Gott906 nicht glaubt, d hat ihn zum Lügner gemacht, e weil er nicht an das Zeugnis geglaubt hat, f das Gott bezeugt hat über seinen Sohn. 11a Und dies ist das Zeugnis: b daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat, e und dieses Leben ist in seinem Sohn. 12a Wer den Sohn hat, b hat das Leben. e Wer den Sohn Gottes nicht hat, d hat das Leben nicht. 9a
b
901 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Das Neue Testament, Stuttgart 1979, 574 (irreführend allerdings die Feststellung, das CJ sei »bei vielen Textzeugen« eingefügt). 902 Der Mehrheitstext liest ijv, versteht 9d also als Relativsatz zu ~aewQ(u in 9c (vgl. 10f). Das soll die inhaltliche Schwierigkeit der Konstruktion mit ä"tL beseitigen. 903 Ein Teil der lat. Zeugen hat den Zusatz: »Den er gesandt hat als Retter auf die Erde. Und der Sohn legte Zeugnis ab auf Erden, indem er die Schriften erfüllte. Und wir legen Zeugnis ab, weil wir ihn gesehen haben, und wir verkündigen euch, damit auch ihr ebenso glaubt«; vgl. Thiele, VL 26/1, 366f. Das ist aus 1Joh 1,1-3; 4,14 und evtl. Joh 20,31 herausgesponnen.
A hat: »das Zeugnis Gottes«. Reflexives Ev Eum (Mehrheitstext; umw in ABkönnte zur Not auch als um aufgelöst werden, was aber unwahrscheinlich ist). Streng genommen würde das bedeuten »in ihm«, nämlich im Gottessohn aus 10a oder in Gott. Aber um läßt auch ein reflexives Verständnis zu. 906 So K B Byz u.a.; v.l. »dem Sohn« (A 81), »dem Sohne Gottes« (378 sa vg), »Jesus ChristuS« im Dativ (ps.-Augustinus, Speculum). Vgl. Metzger, Commentary 718: Angleichung an 10a. 904
905
312
Das Zeugnis Gottes (5,9-12)
Analyse Der Abschnitt erhält sein stilistisches Gepräge durch die beiden Definitionssätze in 9c/lla und die antithetischen Satzpaare in lOa-d und 12a_d907 • Bei den Definitionssätzen lautet die Einleitung im Kembestand: »dies ist das Zeugnis«. In einem ÖtL-Satz legen 9d/llb den Inhalt des Zeugnisses dar908. Die Antithese kommt in 12a-d (ExWV und J.tTJ ExWV im Vordersatz, ExEL und oöx ExEL im Nachsatz, Beibehaltung von VLOv und ~(Oi]v) sehr viel klarer heraus als in lOa-d, wo sie hauptsächlich getragen wird durch :JtL
907 Bultmann 84 weist V. 9 der kirchlichen Redaktion zu. V. 10 und V. 12 (Analyse 10f), später nur noch V. 12 (Bultmann 85) rechnet er zur Quelle. 908 Weiss 143f will das Ö1:L in 9d kausal verstehen, was auf eine Verstärkung von 9c hinausläuft, aber sehr hart wirkt. 909 Schlatter 107: »Wir sind fortwährend genötigt, uns auf den Bericht von Menschen
zu stützen und ihnen Glauben zu schenken. Wer jedermann als Lügner behandeln ... wollte, würde sich das Leben arm und zur Qual machen.« 910 Greiff. (s. die Lit. zu 5,6-8) 479. 911 Vgl. Westcott 185. 912 Zum folgenden Dodd 131fi Beutler· 279.
lJoh 5,9: Erklärung
313
ches Zeugnis wohl nicht abgewertet werden. Aber menschliches Zeugnis wird durch das Zeugnis Gottes überboten, der sich auch hier als der Größere und Überlegene erweist, wie in 3,20 gegenüber unserem unruhigen Herzen und in 4,4 gegenüber dem Ungeist, der in der Welt herrscht. Auch Joh 5,3140 ist im übrigen deutlich auf eine Steigerung hin angelegt: Das vorläufige Zeugnis des Täufers, das Zeugnis der Schriften (5,39) und das Zeugnis der Werke Jesu (5,36) finden ihren Höhepunkt im Zeugnis Gottes. Wenn wir bedenken, daß es bei der Neubestimmung des Wassers als Medium des Kommens Jesu Christi und als einer der drei Bezeugenden in V. 6-8 nicht zuletzt um das Zeugnis des Täufers aus Joh 1,32-34 ging, werden wir für 9a eine Querverbindung zu Joh 5,34 nicht von der Hand weisen können 913 . Dieses menschliche Zeugnis, das nur die Taufe betrifft, für sie aber gültig bleibt, muß qualitativ überboten werden, wenn ein gültiges Zeugnis für den Gottessohn zustande kommen soll. Da in 9a der Plural steht, wird sich dieser spezielle Fall zugleich einordnen in die allgemeine Erfahrung mit menschlichen Zeugnissen überhaupt. Sie sind nicht völlig wertlos, aber von sehr begrenztem Wert. Halten wir auch noch den Gedanken fest, daß in einer Gerichtsverhandlung Zeugenaussagen abgelegt werden für Sachverhalte, die sich in der Vergangenheit ereignet haben in Abwesenheit der meisten am Verfahren Beteiligten. In dieser Perspektive wird die Zeugnisthematik von selbst transparent für die besondere Situation und Aufgabe der nachösterlichen Christusverkündigung. Die nächste Schwierigkeit besteht in dem Nachsatzin 9cd, der bei der von 9cd uns gewählten Lesart und Übersetzung (s. Anm. 902.908) ausgesprochen tautologisch wirkt. Das zuvor in 9b eingeführte Zeugnis Gottes besteht in der Tatsache, daß Gott für seinen Sohn Zeugnis abgelegt hat (im Perfekt). Prinzipiell ist an das zu erinnern, was wir zum Verdacht der Tautologie in Verbindung mit 5,2 schon ausgeführt haben: Tautologien wären innerhalb einer Glaubenslogik, die sich gedanklich in Kreisbewegungen in die Tiefe bohrt, so schrecklich nicht. Außerdem wird es sich gerade im Vergleich mit dem Evangelium (s. auch Joh 8,18) so verhalten, daß der Autor an ein formal selbständiges und unterscheidbares Zeugnis Gottes denkt, dessen eigentlichen Inhalt aber sowenig wie das Evangelium nennt 914. Es würde ihm wohl auch schwer fallen, diesen Inhalt punktuell festzumachen. Am ehesten kann man dafür das gesamte Christusgeschehen anführen, das in seiner übersummativen Gestalteinheit eine Evidenz in sich trägt, die unmittelbar einleuchtet und das Handeln Gottes in Jesus Christus verspüren läßt. Diese Deutung macht die Folgerung unausweichlich, daß das besondere Zeugnis Gottes (im Perfekt) nicht einfach identisch ist mit dem Bezeugen der drei Zeugen aus V. 6-8 (im Präsens)915, sowenig wie es in Joh 5,39 ohne weiteres mit dem Zeugnis der
913 914 915
Vgl. Brown 586. Vgl. Schnackenburg 264f.270f. Als weithin identisch mit dem Zeugnis
der drei Zeugen sehen das Zeugnis Gottes an: la Potterie* 206; Houlden 132; Vrede 175f; Wengst 212.
314
Das Zeugnis Gottes (5,9-12)
Schrift (im Präsens) gleichgesetzt werden kann. Die Schrift und die Evangelienüberlieferung, die von Geist, Wasser und Blut erzählt, sind selbständige Zeugen für Jesus, zu denen als weitere, unüberbietbare und fundierende Größe Gottes eigenes Zeugnis tritt, so sehr andererseits gilt, daß auch die Schrift und die Jesusüberlieferung nichts anderes bezeugen als das Wirken Gottes in seinem Sohn. Die Aneignung der Glaubensüberlieferung durch das Taufbekenntnis bildet im Rahmen jeder individuellen Glaubensgeschichte die Klammer, die die formal unterscheidbaren Größen im Glaubensbewußtsein zusammenhält. 10ab Das Zeugnis für Jesus in seiner Vielgestaltigkeit und seiner darin verborgenen Einheitlichkeit verliert über dem zuletzt Gesagten nicht den mehr äußeren, objektiven Charakter, den der Briefautor ihm zubilligt. Das ist für V. 10 zu beachten, wo vorwiegend vom Glauben gesprochen wird, in einer sehr bestimmten Form916 , und vom Zeugnis, das der Glaubende in sich hat (10b)917. Die Ausleger fühlen sich teils versucht, Glaube und Zeugnis zu identifizieren: »das Ereignis des Glaubens ist das Zeugnis«918 oder das Zeugnis auf das innere Zeugnis, das Gott selbst bzw. der Geist in den Herzen der Glaubenden ablegt, zu reduzieren919 . Sicher wird in beiden Fällen etwas Richtiges gesehen. Der Glaubensakt besitzt eine Selbstevidenz; daß sich überhaupt Glaube an das Zeugnis ereignet, ist Bestätigung dafür, daß im Zeugnis Gott mit seiner wunderwirkenden Kraft tätig wird. Ein formaljuristisches Beweisverfahren im Sinne einer Kontrolle des Zeugnisses an der Sache selbst kann für das christologische Offenbarungsgeschehen nicht geführt werden, da es gerade für das johanneische Denken keinen direkten Zugang zu Gott gibt, vor allem keinen Zugang an Jesus Christus vorbei. Dennoch werden beide Versuche der komplexeren Sicht des Briefautors nicht ganz gerecht. Das Wirken des Geistes im Inneren der Glaubenden war in 1Joh 2,20-27 mit den Wortfeldern von »Gesalbtheit« und »Lehren« verknüpft, nicht mit »Geist« und »Zeugnis«. Das Zeugnisgeben behält vom Briefprolog 1,1-4 an das Moment des Äußeren, Vorgegebenen bei, das als Zumutung an den zum Glauben eingeladenen Menschen herantritt. Bezeugt wird ja zunächst ein vergangenes Geschehen, das nur durch das Bezeugen in Wort und Schrift präsent wird und erst unter dieser Voraussetzung Fragen nach seiner Glaubwürdigkeit und seiner Gegenwartsbedeutung aufwirft. Daß jemand das Zeugnis in sich hat (lOb), gilt da, wo die persönliche Aneignung und Verinnerlichung des Glaubensgutes gelungen ist. Die Immanenz des Zeugnisses gehört, auch wenn hier nicht ElvaL
916 :l'tL
918 Bultmann 86; differenzierter und treffender Schunack 97. 919 Bonsirven 236; Neil Alexander 122; Smalley 285f.
l]oh 5,10-12: Erklärung
315
oder IJEvELV, sondern E'X.ELV gebraucht wird (im Vorgriff auf V. 12?), zum größeren Vorstellungskreis der Immanenz von Wort, Wahrheit und Liebe in den Glaubenden (s. Exkurs 2). Die Gegenthese in 10cd ist nicht genau auf die Ausgangsthese in 10ab abge- 10cd stimmt, hat aber ein Pendant in Joh 3,33: »Wer sein Zeugnis annimmt, hat damit besiegelt, daß Gott wahrhaftig ist.« Sollte die Wahrheit Gottes, so könnte man aufgrund der beiden Stellen wie schon zu 1Joh 1,10 fragen, etwa abhängig sein von der Zustimmung oder Ablehnung des Menschen? Die Frage zu stellen heißt gleichzeitig schon, sie zu verneinen. Gottes Wahrheit, verkörpert in Jesus Christus und vertreten durch den Geist, ist Wahrheit und nicht Lüge, ganz unabhängig von der menschlichen Reaktion. Zum Lügner wird der Mensch selbst, der sich für Gottes Wahrheit verschließt (lJoh 2,4). Eine solche Verweigerung des Glaubens bedeutet für den Briefautor, Gott seiner klaren Selbstbekundung - durch 10ef in Erinnerung gehalten - entge- 10ef gen als Lügner hinzustellen, obwohl seine Wahrheit im dualistischen Gesamtrahmen johanneischer Theologie den Gegenpol zur Lüge markiert. Wer so handelt, bringt sich selbst in schärfsten Widerspruch zu Gott und schlägt sich auf die andere Seite. Mit dem »ewigen Leben« taucht in V. 11 ein weiterer Leitbegriff aus dem 11 Briefprolog auf. Dort war das ewige Leben Inhalt der Verkündigung der Traditionsträger (1,2). In 2,25 wird es in einem Definitionssatz als Verheißung eingeführt, hier in 11a nun als Zeugnis Gottes. Dadurch wird die inhaltliche Füllung des Zeugnisbegriffs weiter vorangetrieben als in 9cd. Beim ewigen Leben liegt für den Verf. auf der Hand, daß es eine christologisch vermittelte Gabe Gottes ist, die dem Menschen zugesprochen wird im Wort der Verkündigung und die er nur dankbar als Geschenk annehmen kann. Über die Dimensionen der Lebensthematik im 1Joh wurde zu 1,2 schon einiges ausgeführt. Weiterhin gilt: »Ewiges Leben als das sinnerfüllte Leben schlechthin entsteht ... nicht durch eine unendliche Erstreckung des Lebens dank bloßer Eliminierung des Todes«920. Nicht biologisches Leben soll ins Unendliche gesteigert werden. Vielmehr überwindet der Glaube und mit ihm die Liebe (3,14) jene Beziehungslosigkeit, jenes Aufhören aller Relationen, in dem menschliches Leben durch die Sünde bedingt sonst versinkt. Dazu gehört in vorderster linie die Relation zu Gott. Ein parallel gebauter Zweizeiler schließt diesen Abschnitt formvollendet ab. 12 Wie das Zeugnis in lOb kann auch die Gabe des Lebens verinnerlicht werden, aber nur im Glauben. Vom Haben des ewigen Lebens spricht auch Joh 3,16, allerdings nicht vom Haben des Sohnes. Dafür sind wir auf 1Joh 2,23 zurückgewiesen, wo das Bekennen des Sohnes das Haben des Vaters zur Folge hatte. 920
139.
Ebeling, Dogmatik (s.o. Anm. 713) II
316
Das Zeugnis Gottes (5,9-12)
Die Sprache des Habens, in 2,23 Umschreibung engster Gottesgemeinschaft, steht in 12ab als Intensivierung der Glaubensbegrifflichkeit im Dienst einer zugespitzten Heilsgewißheit, die, wie das Negativbeispiel in 12cd zeigt, die Möglichkeit des Heilsverlustes nicht überspielt. Nicht zufällig gebraucht 12c anders als 12a wieder den vollen Titel »Sohn Gottes«, der den refrainartigen Schluß der drei voranstehenden Verse aufnimmt. Dem Zeugnis Gottes kommt deswegen so hohes Gewicht zu, weil es das Zeugnis des Vaters über den einzigen Sohn (4,9) ist, und was könnte glaubwürdiger sein, wer sonst sollte vom Sohn sprechen, wenn nicht der Vatergott selbst. Wirkungs- In der Auslegung unserer Perikope im Verlauf der Theologiegeschichte sieht Karl geschichte Gerhard Steck »konfessionell bestimmte überlieferungen« am Werk; es würden sich darin »sowohl die innerevangelischen Unterschiede« zwischen Luther und Calvin wie auch »die Differenzen der römischen und der protestantischen Gewißheitsbegründung niederschlagen«921. Es geht dabei um das oben schon angesprochene Verhältnis von äußerem und innerem Zeugnis. Luther rückt in seinem Kommentar entschieden das äußere Zeugnis des Wortes und der Lehre in den Mittelpunkt. Scharf polemisiert er gegen »die Leichtfertigkeit der Schwärmer« (784), deren subjektive Einstellung zur Glaubenserfahrung er damit glossiert, sie würden wie »einst unter dem Papsttum den Erscheinungen teuflischer Geister« glauben (788). Interessanterweise lokalisiert er ihren Hauptirrtum in der Leugnung der Gegenwart Christi im Sakrament, die doch durch »eindeutige Worte« und »helle Schriftzeugnisse« (785) abgesichert sei. Er selbst bittet darum, daß Gott ihn »in dem reinen Wort bewahre« (ebd.), und er will nur »einfach dem Text glauben« (787f). Nach Calvin erklärt der Briefautor »das Zeugnis, das der Geist in unserem Herzen ablegt« (366), zum Zeugnis Gottes. Calvins Auslegung von 1Ioh 5,9-12 gerät damit ganz unter das Vorzeichen des testimonium internum spiritus sancti. Der Text sagt für ihn nicht, »daß Gott äußerlich spricht, sondern daß ein jeder von den Frommen in seinem Inneren Gott als den Urheber seines Glaubens verspürt« (367). Für die katholische Position wird verschiedentlich 922 auf die dogmatische Konstitution De fide des I. Vatikanums verwiesen, wo unser Text aber nicht zitiert wird, sondern höchstens den entfernteren Horizont bildet: Wir glauben »nicht, weil wir die innere Wahrheit der Dinge mit dem natürlichen Licht der Vernunft durchschauten, sondern auf die Autorität des offenbarenden Gottes selbst hin, der weder täuschen noch getäuscht werden kann« (DS 3008). Diskutiert wird daneben auch der exklusive Wahrheitsanspruch, den die Antithese in V. 12 pointiert zusammenfaßt. Calvin versteigt sich bis zu der Behauptung, jemand könne in allen anderen Lebensbereichen einem Engel gleichen, seine Heiligkeit sei aber teuflisch, solange er Christus nicht anerkennt, und führt als Beispiel Anhänger des Papsttums ins Feld, die sich mit der Maske der Heiligkeit (sanctimoniae laroa) tarnen (367). Nach mehreren Einwänden und Zwischenüberlegungen gesteht er aber schließlich zu, daß Gott über verborgene und wunderbare Weisen des Handelns verfüge. Wir sollten nicht darüber
921 KG. Steck, 1. Sonntag nach Epiphanias, in: ders., Predigtrneditationen. Aus vier Jahrzehnten für das Kirchenjahr ausgewählt, München 1983, 48-55, hier 52.
922 So von Steck, a.a.O. 50, und de Ambroggi 271.
l]oh 5,9-12: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
317
spekulieren, sondern uns an den geraden Weg zur Rettung halten, den er uns gewiesen hat (369)923.
Die letzten Verse im Hauptkorpus des 1Joh nehmen Themen aus den Ein- Zusammengangsversen in 1,1-4 auf und schließen so den Kreis. Die Verkündigung der fassung Zeugen aus dem Briefprolog, die das Wort des Lebens zum Inhalt hat und zur Gottesgemeinschaft führen will, ist aufgehoben im Zeugnis Gottes selbst, mit dem er Jesus als seinen Sohn bezeugt hat. Zugleich kommt dieses Zeugnis Gottes aber für die nachgeborenen Generationen nicht mehr anders zur Sprache als in den Überlieferungen der johanneischen Gemeinde und ihrer Vergegenwärtigung im verkündigenden Wort. Der Glaube bewältigt die geschichtliche Distanz zwischen gründendem Geschehen und aktueller Rezeption. Es ist kein blinder Glaube, da der zum Glauben Gerufene das Zeugnis des göttlichen Handeins in Jesus vor Augen hat und darauf schauen kann. Aber es ist auch kein erzwungener Glaube, denn angesichts des an innerweltlichen Verifikationsmöglichkeiten gemessen eher prekären Status der Zeugnisse bleibt er eine Zumutung und ein Wagnis. Der Briefautor geht im Ansatz das Verhältnis von Glaube und Geschichte an. Er tut es für eine Gemeinde, die er in ihrer längst getroffenen, aber neuerdings wieder gefährdeten Glaubensentscheidung bestärken will, indem er die Unausweichlichkeit einer Stellungnahme angesichts des herausfordernden Zeugnisses Gottes einschärft.
923 Von den neueren prot. Erklärern stuft Baumgartner 220 z.St. diesen Absolutheitsanspruch rundweg als zeitbedingt und unverbindlich ein. Steck, a.a.O. 53, hilft sich mit der Auskunft, der Text habe »keine universale
Religions- und Heilsbetrachtung im Sinn«; ihm komme es darauf an, christliche »Leser bei dem festzuhalten, was sie zum Glauben gebracht und zur Gemeinde gesammelt hat«.
C
Epilog Ewiges Leben (5,13-21)
Dem Prolog zu Beginn des Schreibens in 1,1-4 entspricht am Ende ein Epilog. Wie sich der Prolog am Evangelienprolog Joh 1,1-18 orientierte, so scheint sich der Epilog den Schlußabschnitt des Evangeliums zum Vorbild Z"U nehmen. IJoh 5,12 läuft weithin mit Joh 20,31, dem ursprünglichen Schlußvers des Evangeliums, parallel. IJoh 5,14-21 stellt strukturell gesehen, bei fehlender inhaltlicher Nähe, ein Äquivalent zum Nachtragskapitel Joh 21 dar, das redaktionell an das Werk des Evangelisten angefügt wurde. Diese Beobachtung zwingt zur Frage nach Herkunft und kompositorischer Bedeutung von IJoh 5,14-21. Was dazu in der Einleitung schon angedeutet wurde (s. § 4) und was im folgenden bei der Auslegung im einzelnen noch zu begründen ist, sei in Thesenform vorausgeschickt: Der eigentliche Schluß des IJoh liegt in 5,13 vor. 5,14-21 bildet einen Nachtrag oder ein Postskriptl, möglicherweise von späterer, zweiter Hand. 5,14-21 Die johanneische Diktion des Textstücks in 5,14-21 soll nicht bezweifelt werden. Neben Leitthemen aus dem ganzen Schreiben wie Gebetserhörung, Sündenproblematik und Glaubensgewißheit tauchen auch Stichworte aus V. 13 wieder auf (das Wissen aus 13b in 5,15a.18a.19a.20a; das Leben aus 13c in 5,16d.20f; der Gottessohn aus 13d in 5,20be 2). Das sind Gründe, die für eine einheitliche Verfasserschaft sprechen. Die eher lockere und nach V. 13 etwas überraschende Aneinanderreihung der verschiedenen Gedankengänge in V. 14-21 wäre dann aus dem Nachtragscharakter heraus zu erklären 3 . Aber bei näherem Hinsehen sind doch eine Reihe von Akzentverschiebungen auszumachen, die zu denken geben. Die ungezwungenere Lösung scheint sich mehr als einmal zu ergeben, wenn man auf angestrengt wirkende Harmonisierungen mit dem Haupttext verzichtet und mit einer veränderten Situation und mit einem anderen Autor rechnet4 (daß ein und derselbe Autor sein eigenes Schreiben zu einem späteren Zeitpunkt ergänzte, kann natürlich nicht apodiktisch ausgeschlossen werden, doch s. im folgenden). Eine konvergierende Überlegung ergibt sich von der Verwandtschaft mit dem Evan-
1 »Nachtrag« (für V. 14-17) u.a. bei Windisch 134; »postscript« (für V. 14-21) bei Dodd 134; »note additionelle« bei Feuillet, Etude 322. Zu den wenigen, die den Briefschluß erst mit 5,18-21 ansetzen, zählt Schwertschlager, lJoh 43. 2 Brown 631.
Dazu Mayer 204: »Der liebreiche, redselige Greis kann sich nicht so schnell von denen trennen, an die er schreibt.« 4 u.a. mit Bultmann, Redaktion 383-388; Wengst 216; dagegen z.B. Nauck, Tradition 133-146; Strecker 293; Vouga 78. 3
319
1]oh 5,13-21: Literarkritik; 5,13: Übersetzung, Analyse
gelienschluß her. Wenn wir davon ausgehen, daß sich diese Ähnlichkeit nicht reinem Zufall verdankt, wenn wir ferner daran festhalten, daß 1Joh später zu datieren ist als' das Evangelium in seiner Grundgestalt, wäre eine mögliche Erklärung die: Der Briefautor hat den Gesamttext bis hin zum Nachtrag so organisiert, weil er die Anlehnung an das Evangelium einschließlich Kap. 21 konsequent durchhalten wollte. Aber wir hatten uns bei früherer Gelegenheit schon gefragt, ob der Briefautor Joh 21 als zeitlich späteste Schicht der Evangelienschrift überhaupt kannte; jedenfalls teilt er den theologischen Standort dieses Kapitels nicht. So spricht mehr dafür, Briefnachtrag und Evangeliennachtrag entweder einem gemeinsamen Herausgeberkreis des johanneischen Schriftenkorpus zuzuweisen oder den Briefnachtrag auf einer zeitlich noch späteren Stufe in bewußter Nachahmung des jetzigen Evangelienschlusses entstanden zu sehen.
Briefschluß: Ewiges Leben (5,13)
1 13a b c
d
Dies habe ich euch geschrieben,' damit ihr wißt, daß ihr ewiges Leben habt, (euch als) denen, die glauben an den Namen des Sohnes Gottes5 •
1 Kontextbezug: 13cd nimmt Linien auf, die durch Kap. 5 verlaufen und sich in Analyse 5,10-12 bereits verdichten. So kommt »Leben« in V. 11-12 viermal vor, einmal mit dem Attribut »ewig«; vom »Sohn Gottes« war in 5,5.9.10.11.12 die Rede und vom »Glauben« in 5,1.5.10. Daraus darf man aber nicht den Schluß ziehen, mirta in 13a verweise auf 5,1-126 oder 5,6-127• Vielmehr betrifft »dies habe ich geschrieben« in 13a den ganzen Brief!!. Es besteht eine Verbindung zwischen 13a und der gleichlautenden Formel in 2,26a (mit der letzten Ich-Form vor 5,13). Von 2,26 aus läßt sich der Bogen weiter nach vorne schlagen über 2,13-14 und 2,1 bis zu »und dies schreiben wir« in 1,4. Damit ist eine Klammer um das Korpus des Schreibens gelegt. 2 Textvergleich: Da der Briefautor Joh 20,31 wohl in der jetzigen Textfassung vor Augen hat, gehen wir beim unerläßlichen Vergleich vom schlußvers des Evangeliums aus (zur inhaltlichen Auswertung s. die Erklärung).
1loh 5,13
loh 20,31 (a) Dieses aber wurde geschrieben, (b) damit ihr glaubt, (c) daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes,
Der Mehrheitstext liest V. 13 folgendermaßen: »Dies habe ich geschrieben euch, den Glaubenden an den Namen des Sohnes Gottes, damit ihr wißt, daß ihr ewiges Leben habt, und damit ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes«; hergestellt wird so ein direkter Anschluß von 'to~ :7tLOtEVOUO'LV (in A auf5
Dieses habe ich euch geschrieben damit ihr wißt,
daß (s.u.)
gelöst zu ol :7tLOtEVovte;) an UIlLV und eine noch engere Angleichung an Joh 20,31; vgl. ausführlich Aland, Text und Textwert 111, 166-176. 6 Brooke 142; Büchsel 85. 7 Huther 257; Bisping 370f. 8 ehaine 217; Westcott 188.
320
Briefschluß: Ewiges Leben (5,13)
(d)
und damit als solche, die glauben,
(e)
ihr Leben habt in seinem Namen.
(s.u.)
ihr ewiges Leben habt, - (euch als) denen, die glauben an den Namen des Sohnes Gottes.
Bekenntnissätze vom Typ »Jesus ist der Christus«, »Jesus ist der Gottessohn«, auf die Joh 20,31c anspielt, hatte der Briefautor in 5,1 und 5,5 im Wortlaut gebracht. Die sprachlich harte partizipiale Schlußwendung in IJoh 5,13d, wo sich der Dativ Plural 'WLe; nUYtEUOVOLV auf UflLV in 13a zurückbezieht, hat eine nahezu wörtliche Parallele im Johannesprolog (Joh 1,12d: 'WLc; nUYtEuovOLV El.c; 1:0 ÖVOIill au'Wü).
Erklärung Die unterschiedliche Ausrichtung von Evangelienschluß und Briefschluß, die 13ab trotz aller wörtlichen Parallelen besteht und die für die Auslegung von Bedeutung ist, können wir an den ersten beiden Zeilen ablesen: Joh 20,31a enthält ein unpersönliches Passiv (»wurde geschrieben«), in 1Joh 5,13a meldet sich der Schreiber in der Ich-Form zu Wort. Nach Joh 20,31b will das Evangelium seine Leser zum Glauben führen, wohl auch im Glauben bestärken und bewahren, während nach 1Joh 5,13b der Brief den Adressaten ein Wissen vermitteln oder besser vergegenwärtigen will. Deshalb wird das 1tlO'tcUELV aus Joh 20,31d zusammen mit dem Hoheitstitel Sohn Gottes aus 20,31c in 1Joh 5,13d umgestellt, unter Inkaufnahme einer grammatischen Härte. Die Zweckbestimmung lautet nicht mehr: Gewinn des Lebens durch Glauben, sondern: Wissen um den Besitz ewigen Lebens auf der Basis des vorhandenen Glaubens. Mehr noch als das Evangelium, das letztlich auch für Insider verfaßt wurde, aber genügend missionarisch ausgerichtete Traditionen in sich birgt, dient der Brief der Selbstvergewisserung einer Glaubensgemeinschaft. Er richtet sich an solche, die schon längst in der Koinonia von 1Joh 1,3 stehen, sich dies aber in einer Krisensituation neu sagen lassen sollen. Um dem Nachdruck zu verleihen, tritt der Briefautor als Einzelperson aus dem Kreis der Traditionsträger und Theologen von 1Joh 1,4 heraus und wirft das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale. Ihn leitet die Hoffnung, daß sich die Glaubensgrundlagen, die er bei seinen Lesern voraussetzt und, soweit erforderlich, mit ihnen zusammen wieder freilegt, als stark genug erweisen, um den neuen Erschütterungen zu trotzen. Nach der Bestimmung der Funktion des ganzen Schreibens in 13a treten in 13cd 13cd paradigmatische Achsen des Gesamttextes im Umriß hervor, darunter auch solche, die im Wortlaut nicht mehr direkt angesprochen werden. Die Verheißung ewigen Lebens (2,25), das Gott uns in seinem Sohn geschenkt hat (1,2; 5,11-12) und das in der Jesusverkündigung begegnet (1,1-2), hatte 3,1415 an die geschwisterliche Liebe gebunden, die ein Erkennungszeichen für den Lebensbesitz darstellt. Im Doppelgebot des Glaubens und der Liebe von 3,23 lautete die Glaubensforderung: »daß wir glauben dem Namen des Sohnes Jesus Christus«. Im Namen (vgl. noch zu 2,12) erschließt sich das Wesen, insbesondere in den Namen, die als Würdenamen in die Bekenntnisformeln eingegangen sind (vgl. 5,1.5). Die Führungsposition übernimmt im 1Joh der
321
1Joh 5,13cd: Erklärung; 5,13: Zusammenfassung
Sohn-Gottes-Titel, der nicht zufällig noch einmal in 13d steht, während der ihm zugeordnete Christustitel aus Joh 20,31c nicht mehr wiederholt wird. Da 13d wie ein Zitatfragment aus Joh 1,12 wirkt, ist schließlich noch zu überlegen, inwiefern dadurch auch die Zusicherung der Gotteskindschaft aus Joh 1,12 virtuell im Briefschluß präsent ist (vgl. aus dem Briefkorpus nur 3,1-2). Im Schlußvers finden wir in Kurzform alles wieder, was zu dem kommunika- Zusammentiven Vorgang, der sich im 1Joh vollzieht, hinzugehört: Ein Verfasser (»ich«), fassung seine Adressaten (»euch«), das Medium der Schriftlichkeit, die mehrfache Bezugnahme auf das Schreiben selbst und auf das vorausliegende Johannesevangelium, die Botschaft, die vermittelt werden soll, und darin versteckt ein Hinweis auf drohende Gefahren, die das Schreiben provoziert haben. Beachtung verdient vor allem das Bild, das der Briefautor von seinen Lesern entwirft und das ihm selbst bei der Niederschrift vorschwebte. Er respektiert sie als Wissende, als Glaubende und, so dürfen wir ergänzen, als Liebende. Das führt zu der wohltuenden Behutsamkeit im Umgang mit den Adressaten, die den Brief auszeichnet.
Postskript: Mit Freimut und Zuversicht (5,13-21)
2
Innerhalb des Nachtrags heben sich drei thematische Blöcke 9 und ein abschließender Appell voneinander ab: (a) V. 14-15 weist vier Derivate vom Stamm uh- auf. Es geht um das Gebet und die Gewißheit (zweimal o'(ÖUl-u:v) der Gebetserhörung (zweimal axouEL). (b) Zwar bleibt das Beten ein Thema auch in V. 16-17 (uhfloEL in 16c; EQo.nflan in 16h), aber mit der Wurzel Uf,LUQ"t- (sechsmal) und mit :rrQo~ {tavaLov (viermal) schiebt sich doch ein anderes Anliegen in den Vordergrund: die Sünde zum Tode. (c) Die W. 18-20 können wir aufgrund der gleichbleibenden Einleitung mit OU)Uf,LEV Ö"tL zu einer Einheit zusammenfassen. Sie entfalten Inhalte des Glaubenswissens. (d) Durch die Anredeform und den Imperativ erscheint v. 21 trotz seiner Kürze als Schlußmahnung noch einmal davon abgesetzt.
Gebetserhärung (5,14-15)
a
14a b
c d
Und dies ist die Zuversicht, die wir haben zu ihm, daß, wenn wir etwas bitten gemäß seinem Willen10, er uns hört.
9 O'Neill, Puzzle 60-63, unterscheidet drei Strophen, verbaut sich diese Einsicht aber wieder, wenn er neben V.14-15 und V.16-17 als dritte Einheit V. 18-19.21 stellt und V. 20 als Zutat ausscheidet.
10 A liest: »gemäß seinem Namen«, wohl unter dem Einfluß des Bittens in Jesu Namen in Joh 14,13-14; 15,16; 16,23-24.26; vgl. Smalley 292.
322
15a
b c
d e
f
Gebetserhärung (5,14-15)
Und wenn wir wissen, daß er uns hört, was immer wir bitten, wissen wir, daß wir die Bitten (als erfüllte) habenll , die wir erbeten haben von 12 ihm.
Analyse 14ab setzt im Stil eines typischen Definitionssatzes ein (so zuletzt 5,l1a; zur Näherbestimmung des Leitbegriffs durch einen Relativsatz mit flv vgl. 1,5; 3,11). Die Sachaussage wird im ersten (m-Satz in 14cd geboten. Obwohl »Sohn Gottes« in 5,13d das nächste Bezugswort wäre, dürfte sich »zu ihm« in 14b ebenso wie »von ihm« in 15f auf Gott beziehen. Grund dafür sind die Nähe zu 3,21b (»haben wir Freimut vor Gott«) und die Wendung »gemäß seinem Willen«, die eher an Gottes Willen denken läßt. Gott ist also auch Subjekt von »er hört« in 14d und 15b13. Eigentümlich redundant verläuft die Ausgestaltung des Hauptthemas: In 15bc kehren »wenn wir beten« und »daß er uns hört« aus 14cd in umgekehrter Reihenfolge wieder. »Wenn wir wissen« in 15a wird im Hauptsatz 15d durch »wissen wir« aufgenommen. Ein weiterer öTL-Satz in 15e spricht vom »Haben« der Bitten, die im abschließenden Relativsatz in 15f erneut als von Gott erbetene gekennzeichnet werden. Dem Wechsel zwischen der Medialform von »bitten« in 14c!15c und der Aktivform in 15f kommt semantisch keine Bedeutung zu 14. Erklärung Freimut und Zuversicht (JtUQQ'Y]o(a) dürfen Glaubende nicht erst bei der Par14 usie Christi (2,28) und beim Gericht (4,17) an den Tag legen. Zuversichtlicher Freimut bestimmt nach 3,21 schon ihr gegenwärtiges Sein vor Gott, auch angesichts eines anklagenden Herzens. Der forensische Rahmen wird in 5,14 ganz ausgeblendet, es dominiert die Zuversicht. Wie in 3,22 schließt sich daran die Gewißheit der Gebetserhärung an. Wir haben zu 3,22 schon die Verwurzelung dieses Theologumenons in der synoptischen Jesusüberlieferung herausgestellt, ebenso sein mehrfaches Vorkommen in den johanneischen Abschiedsreden. Auch dort wird die Zusage der Gebetserhärung aufvorsichtige Weise mit bestimmten Bedingungen und Einschränkungen versehen. Erhärungsgewisses Beten muß immer im Namen Jesu geschehen1s. Es erwächst aus der engen Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus, wie 15,7 mit Hilfe einer reziproken Immanenzformel ausführt. Die Willenszentren der beteiligten Personen werden gleichsam zur Deckung gebracht, so daß sich ein mißbräuchlicher Einsatz des Gebetes, bei dem der Beter die Übereinstimmung Nach Passow VI, 66 bedeutet UL-tTIIJ.
ThWNT I 193. »Von ihm« wie verschiedentlich erwogen zu 15e zu ziehen statt zu 15f empfiehlt sich nicht. 13 Anders Rothe 191f, der den ganzen Abschnitt auf Christus deutet. 14 Vgl. Bl-Debr-Rehkopf § 316 Anm. 3; ähnlich unterschiedslos auch der Sprachgebrauch in Joh 16,24.26; Jak 4,2f. 15 So 14,13.14; 15,16; 16,23.24.26.
l]oh 5,14-15: Erklärung
323
mit Gottes Willen nicht sucht16 , gar nicht erst einstellen kann. In IJoh 3,22 trat das erhörungsgewisse Beten in enge Wechselwirkung mit dem Halten der Gebote, so daß wir geradezu formulieren konnten, das Halten der Gebote sei mit dem Inhalt des Bittgebetes fast identisch. Die Bedingung für das erhörungsgewisse Beten, die in 5,14c durch »gemäß seinem Willen« unmißverständlich gesetzt wird, stellt insofern keinen völligen Fremdkörper dar17. Aber andererseits verhält es sich doch auch so, daß keine der früheren Aussagen diese Unmißverständlichkeit auch nur annähernd erreicht. Es bedarf dort immer noch einer Reflexion, soll die richtige Einordnung der Gebetserhörung gelingen. In 14c hingegen wird eine relativ einfache Lösung für eine existentiell bedrängende Frage direkt verbalisiert. Jede vorwurfsvolle Klage, daß doch erfahrungsgemäß so viele Bitten keine Erhörung finden, läßt sich damit abwehren, daß die betreffenden Bitten eben nicht nach Gottes Willen waren. Dabei dürfen wir nicht übersehen, daß diese Präzisierung schon in einer ganz bestimmten Absicht erfolgt. Sie soll das Problem der Fürbitte für Sünder in V. 16-17 klären helfen. Wenn es in 14d und 15b heißt, daß Gott »uns hört«, reicht das sicher über ein bloßes Anhören hinaus. Mit dem Hören ist soviel wie Erhören gemeint. Wieder können wir dafür auf das Johannesevangelium zurückgreifen, wo Jesus uns als Vorbild für erhörungsgewisses Beten entgegentritt18. Vor der Auferweckung des Lazarus wendet er sich an Gott mit den Worten: »Vater, ich danke dir, daß du mich hörtest.Ich weiß zwar, daß du mich allezeit hörst ... « Ooh 11,41-42). Auch Joh 9,31 ist - unter Absehen von der polemischen Situierung - zu vergleichen: »Wir wissen, daß Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, einen solchen hört er.« Auch V. 15, der mit den zitierten Evangelienversen die Betonung des sicheren 15 Wissens gemeinsam hat und der isoliert betrachtet überschwengliche Worte findet, ist unter dem Vorbehalt des Betens gemäß Gottes Willen zu lesen, zumal 15bc nur 14cd in umgekehrter Reihenfolge Revue passieren läßt (s. die Analyse), ohne »gemäß seinem Willen« zu wiederholen. Der Nachsatz in 15ef sagt nicht einfach dasselbe aus wie der Vordersatz in 15bc, vielmehr wird »zwischen dem Gehör-Finden bei Gott und dem Haben des Erbetenen logisch unterschieden«19. Nach der kühnen, nicht im statischen Sinn mißzuverstehenden Aussage, daß, wer den Sohn bekennt, auch den Vater hat, in 2,23, und daß, wer den Sohn hat, jetzt schon das Leben hat, in 5,12, kommt die Zusicherung »daß wir die Bitten (als erfüllte) haben« in 5,15e nicht mehr gänzlich unerwartet. Sie steigert aber die Gewißheit dieses Betens zu einem letzten Höhepunkt. Auf die Erhörung der Bitten durch Gott folgt die Gewährung des Erbetenen, fast wie eine Verifikation der tatsächlich geschehenen Erhö-
16
Vgl. das Bitten in übler Absicht (xuxwC;)
in Jak 4,3. 17 18
Dies ist Brown 609 zu konzedieren. Vgl. Schnackenburg 275.
19 Schunack 102; anders Bultrnann, Redaktion 384: »denn der Nachsatz besagt ja im Grunde das gleiche wie der Bedingungssatz.«
324
Die Sünde zum Tode (5,16-17)
rung. Ob die erfüllten Bitten vom Beter immer auf den ersten Blick als das Erbetene wiedererkannt werden, ist noch einmal eine Frage für sich. Hier gilt erneut, daß Gottes Wille als Vorzeichen vor der Klammer steht. Außerdem wird sich von V. 16 her die Bitte, die ihre Erfüllung in sich trägt, als Fürbitte für den sündigen Bruder, der nicht die Sünde zum Tod begangen hat, herausstellen. Zusammen- Die Gebetserhärung, von den Propheten für die Endzeit verheißen und von fassung Jesus als charismatische Glaubenserfahrung, die den Anbruch der Herrschaft Gottes begleitet, verkündet, hat das Denken der frühen Christenheit in Bewegung gehalten. Was die johanneische Gemeinde angeht, spricht die Dichte der Belege in ihrem Schrifttum für sich. 1Joh 5,14-15 bringt auf einfache Weise eine Verstehensbedingung zur Sprache, die in der Praxis schon längere Zeit dazu dienen mochte, die Spannung zwischen den bedingungslos klingenden Zusagen und der ernüchternden Gebetserfahrung zu überbrücken, aber bislang noch nicht so deutlich ausformuliert wurde: Das Bittgebet muß mit Gottes Willen in Einklang stehen. Aber das ist mehr ein Nebenergebnis, nicht die Hauptabsicht dieser Neufassung des alten Themas, denn »augenscheinlich sind v 14 und 15 nicht um ihrer selbst willen, sondern um v 16 und 17 willen geschrieben. Um die Leser zu etwas so ungeheuer Schwerem und Bedenklichem, wie die Fürbitte für den sündigenden Bruder ist, zu ermutigen, greift Joh auf die Gewißheit der Gebetserhärung in ihrer ganzen Unbedingtheit zurück«20.
b
Die Sünde zum Tode (5,16-17)
Literatur: Bauernfeind, 0., Die Fürbitte angesichts der »Sünde zum Tode«, in: Von der Antike zum Christentum (FS V. Schultze), Stettin 1931,43-54; Bujanda,]., EI »peccaturn ad mortem« interpretado por el Cardenal Toledo, ATG 3 (1940) 69-84; Cox, 5., The Sin Unto Death: 1 John v.16, Exp. 11/1 (1881) 416-431; Dammers, A.H., Hard Sayings - 11, Theol. 66 (1963) 370-372; Forkman, G., The Limits of the Religious Community. Expulsion from the Religious Community within the Qumran Sect, within Rabbinic Judaism, and within Primitive Christianity, 1972 (CBNT 5), 151155; Goldhahn-Müller, 1., Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der Zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh.bis Tertullian, 1989 (GTA 39),27-75; Herkenrath, I., Sünde zum Tode, in: Aus Theologie und Philosophie (FS F. Tillmann), Düsseldorf 1950,119-138; Klöpper, A., Zur Lehre von der Sünde im 1. Johannesbrief, Erläuterung von 5,16-fin., ZWTh 43 (1900) 585602; Miguens, M., Sin, Prayer, Life in 1 Jri 5:16, in: Studia Hierosolymitana. Ir. Studi esegetici (FS B. Bagatti), 1976 (SBF.CMa 23), 64-82; Poschmann, Paenitentia 71-81; Rahfeldt, D.G., »Sin unto Death«: A Theological Study of 1 John\5:16-17, Diss. phil., Marquette University 1987; Reynolds, s. M., The Sin Unto Death and Prayers for the Dead, RefR. 20 (1973) 130-139; Scholer, D.M., Sins Within and Sins Without: An In20
Büchse! 86.
325
1Joh 5,16-17: Übersetzung, Analyse
terpretation of 1 John 5:16-17, in: Current Issues in Biblical and Patristic Interpretation (FS M.C Tenney), Grand Rapids 1975, 230-246; Seeberg, R., Die Sünden und die Sündenvergebung nach dem ersten Brief des Johannes, in: Das Erbe Martin Luthers und die gegenwärtige theologische Forschung (FS L. Ihmeis), Leipzig 1928, 19-31; Sugden, E.H., Critical Note on 1 John v.16, Exp. Hf3 (1882) 158-160; Townsend,]., The Sin Unto Death, RestQ 6 (1962) 147-150; Trudinger, P., Concerning Sins, Mortal and Otherwise. A Note on 1 John 5,16-17, Bib. 52 (1971) 541-542. Weitere Lit. s. zu 1,6-10; 3,4-6.7-10. 16a
b c
d e
f g h 17a
b
Wenn jemand seinen Bruder sieht, wie er sündigt - eine Sünde nicht zum Tode -, soll er bitten, und er wird ihm Leben geben, denen21 , die nicht zum Tode sündigen. Es gibt Sünde zum Tode. Nicht über jene sage ich, daß er bitten soll. Jede Ungerechtigkeit ist Sünde, und es gibt Sünde nicht22 zum Tode.
1 Den Text beherrscht der Gegensatz von Sünde zum Tode und Sünde nicht zum Analyse Tode als Entfaltung des übergeordneten Begriffs der UÖLKl.a in 17a. Von vornherein will beachtet sein, daß von der Sünde zum Tode (nur in 16f) erheblich weniger die Rede ist als von der Sünde nicht zum Tode (in 16be.17b). Der Ton liegt auf der positiven Aussage: Lebenserhaltung (16d) trotz Sünde. 2 Die Verse 16-17 stehen im Zentrum einer Gedankenführung, die auf sie zugeschnitten erscheint. V. 18 nimmt ihr Thema auf mit der Feststellung, »daß jeder, der aus Gott gezeugt ist, nicht sündigt«. Zuvor hatten die Verse 14-15 vorbereitet, was V. 16 über das Bittgebet sagt. Zwar wird versucht, zwischen al"tELv in 16c und EQmäv in 16h einen Bedeutungsunterschied zu eruieren, bis hin zu dem Vorschlag, 16gh ganz von der Gebetsthematik abzutrennen und so zu deuten: »Auf jene (Sünde zum Tode) komme ich nicht zu sprechen, damit jemand fragt (d.h. eine endlose Diskussion darüber vom Zaune bricht)«23. Dagegen spricht aber neben dem Eigengewicht des Kontexts die Verwendung von EQw"täv für das Fürbittgebet Jesu im Evangelium 24. 3 Ein Problem für sich bildet 16d. Wer ist mit »er« und wer mit »ihm« gemeint? Soll man (a) deuten: Gott wird auf das Bittgebet hin dem Sünder Leben geben 25 ? Der Subjektwechsel von 16c zu 16d wäre außerordentlich hart, aber solche Gewaltsamkeiten 21 Einige Minuskeln und ein Teil der Vulgataüberlieferung ersetzen den Plural durch den zu 16d besser passenden Singular. 22 Die LA ohne die Negation in einigen Zeugen (darunter z.T. die Vulgata) macht aus 17b eine Wiederholung von 16f. Diskutiert schon bei Salmeron 316, der sich für Beibehaltung der Negation entscheidet; anders Harnack, Textkritik 565f. 23 So sinngemäß Trudinger*; vgL schon Sugden*.
24 Joh 14,16; 16,26; 17,9.15.20. Daraus will Düsterdieck II 417 folgern, daß EeW"täv nur »dem Gleichgestellten geziemt«, also Jesus vorbehalten bleibt; nur altELv, das Unterordnung voraussetzt, stehe den Betern zu. Aber ein Privileg des Gottessohnes aus dem Evangelium kann im 1Joh durchaus auf die Gotteskinder übertragen werden. 25 Sander 279; Balz 202; Scholer* 240. Nur selten wird Christus als Subjekt zu ÖOOOEL genannt, so aber Delebecque 39.
326
Die Sünde zum Tode (5,16-17)
sind dem johanneischen Idiom auch sonst nicht fremd. Daß letztlich nur Gott selbst Leben spenden kann, steht im lJoh außer Frage. Oder sollen wir (b) das Subjekt von 16c beibehalten: Der Beter wird dem sündigen Mitbruder Leben schenken26? Durch. sein Beten, dem die Erhöhung zugesichert ist, fließt Leben als göttliche Gabe auf den Sünder herab. Eine leichte Spannung zum sonstigen exklusiven johanneischen Sprachgebrauch könnte auch als Indiz für unterschiedliche Verfasserschaft gewertet werden. Die störende Pluralform von 16e, die sich auf airtep in 16d bezieht, muß in beiden Fällen als Verallgemeinerung des Einzelbeispiels aus 16a-d auf alle vergleichbaren Fälle erklärt werden. (c) Als letzte Möglichkeit beziehen wir airtep nicht auf den Sünder, sondern auf den Beter: Gott wird dem Beter Leben zur Verfügung stellen für diejenigen, die nicht zum Tode sündigen27• 16e wäre damit besser eingeordnet, aber der Bruch zwischen 16c und 16d fällt eher noch krasser aus. Den Vorzug verdient die mittlere Lösung: Der Beter vermittelt dem Sünder Leben. 4 Wir sind dafür gar nicht angewiesen auf die öfter herangezogene Stelle Jak 5,20: »Wer einen Sünder von seinem Irrweg zurückgebracht hat, wird seine (7) Seele vom Tode retten und eine Menge Sünden zudecken« (vgl. Spr 10,12). Es ist nicht klar, ob derjenige, der die Umkehr verursacht, das Leben des Irrenden rettet2 s oder im Sinne von Ez 3,18-21 sein eigenes Leben. Dennoch läßt sich der Querverweis fruchtbar machen für eine traditionsgeschichtliche Verortung unserer Stelle. Ihr Sprachmuster scheint nämlich urchristlichen Gemeinderegeln entlehnt zu sein29 • Der Jakobusbrief handelt unmittelbar zuvor in Jak 5,13-18 von der Heilung der Kranken durch Gebet der Gemeindeältesten und Salbung mit 01. Es wird zum Sündenbekenntnis aufgerufen (vgl. zu lJoh 1,9), Sündenvergebung in Aussicht gestellt und als Paradigma für das wirksame Fürbittgebet eines Gerechten Elija genannt. Ein Strafverfahren gegen Sünder, das buchstäblich tödlich enden kann und das sich in der Gemeindeversammlung vollzieht, kennen Apg 5,1-11 und lKor 5,1-5 (vgl. lKor 11,30). 1Tirn 5,20 schreibt eine Zurechtweisung der Sünder in Gegenwart aller vor. Fast wie lJoh 5,16 beginnt die Gemeinderegel in Mt 18,15: »Wenn aber dein Bruder sündigt«30, nur geht es dort mit einem genau abgestuften Disziplinarverfahren weiter, anders als im lJoh, wo sich nach außen hin von der Wahrnehmung der Sünde abgesehen nichts mehr tut, sondern alles Weitere in den Innenraum des Gebetes verlegt wird.
Erklärung Konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das Fürbittgebet für 16ab den Sünder. Der unbestimmte »Jemand«, der zum Beten aufgerufen wird, sieht, wie ein anderes Gemeindemitglied sündigt31, und er vermag diese Sünde offensichtlich auch hinsichtlich ihrer Qualität als eine solche einzustufen, die nicht zum Tode führt. Wir könnten daraufhin nach quantifizierbaren Sünden forschen, die man in diesem Sinn beobachten und werten kann, oder auch aufgrund der Näherbestimmung der Sünde als »nicht zum Tode«, was Barker 82; Haas, Handbook 127; Herkenrath" 134. 27 Paulus 257; Plummer 122. 28 So M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, 111964 (KEK 15), 307f; dort 299-310 auch zum folgenden; ferner Miguens" 77-81. 29 Vgl. Perkins 63-65; Goldhahn-Müller" 115-224. 26
Wengst 218. Zur figura etymologica (BI-Debr-Rehkopf § 153 Anm. 2) »eine Sünde sündigen« (statt »eine Sünde tun« in 1Joh 3,4.8.9) vgl. Ex 32,30 LXX; Lev 5,6 LXX; Ez 18,24 LXX. 30
31
1]oh 5,16: Erklärung
327
sich nur als Kontrastbildung zur »Sünde zum Tode« in 16f erklären läßt, eine Abstufung im Lebensbegriff vornehmen: Diese Sünde hat keinen echten Heilsverlust zur Folge; das Leben als Heilsgabe braucht nicht erneuert zu werden; es bedarf nur eines Aufrütteins erschlaffender Lebenskräfte 32 . Aber damit würden wir dem spannungsvollen Sündenverständnis des lJoh (einschließlich des Nachtrags) und der durchgehenden Sicht von Leben nicht gerecht. Die Tatsache, daß auch Christen sündigen, war im Korpus des Schreibens bereits in 1,8-10 und 2,1-2 ins Auge gefaßtworden. Auch dort sind Sünden nichts Harmloses. Immer droht der Sünder des Lebens verlustig zu gehen. Im Leben gehalten wird er nur durch die Vergebungsbereitschaft Gottes (1,9), durch Jesu sühnendes Sterben (2,2), durch sein Blut, das uns von jeglicher Sünde reinigt (1,7), durch seine himmlische Fürsprache beim Vater (2,1). Was können Menschen überhaupt tun? Nach 1,9 ihre Sünden bekennen, nach 5,16 ihrerseits für Sünder zu Gott beten. Die Aufforderung zum Fürbittgebet orientiert sich am Beispiel des himmli- 16c-e schen Parakleten Jesus Christus, der beim Vater für uns eintritt, wenn wir sündigen (2,1). Wir hatten dort schon die traditionsgeschichtliche Linie herausgearbeitet: Im AT und im Judentum bitten die Patriarchen33 , die Propheten, der Hohepriester, die Märtyrer der Makkabäerzeit (4Makk 6,28~ für das sündige Volk. Mit einer langen Beispielreihe, die von Abraham über Mose, Josua, Samuel, David, Salomo und Elija bis zu Hiskia reicht, belegt 4Esra 7,102-115 die These, daß in der gegenwärtigen Welt »Gerechte für Sünder« und »Starke für Schwache gebetet haben«, dies am Gerichtstag aber nicht mehr möglich sein wird. Zunehmend werden in der zwischentestamentlichen Literatur die Beter in den Himmel versetzt, oder es übernehmen Engel diese Aufgabe. lJoh 2,1 beruht auf einer christologischen Neuinterpretation der zuletzt genannten Traditionsstufe. lJoh 5,16 vollzieht die Entwicklung in umgekehrter Richtung wieder nach. Wie Jesus im Himmel können auch Menschen auf Erden für die Sünder Fürsprache einlegen. Das müssen wir noch an V. 14-15 zurückbinden. Solche Fürbitte für sündige Mitchristen, vorausgesetzt, es liegt keine Sünde zum Tode vor, gehört zu den Bitten, die dem Willen Gottes entsprechen. Ihnen ist Erhörung zugesichert. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung in 16d, daß der Beter (s. die Analyse) dem Sünder Leben gibt, daß mit anderen Worten das drohende Herausfallen des Sünders aus der Lebensgemeinschaft des Glaubens und der Liebe durch die Vergebung, die Gott aufgrund des Bittens gewährt, vermieden wird. Wir nähern uns damit der dornigen Frage nach der Sünde zum Tode, die wir 16f in verschiedenen Etappen angehen wollen. Beginnen wir mit der Terminologie. 32 Klöpper" 595: Durch »eine Intervention seiner Mitbrüder« kann »das zu schwinden drohende Leben des betreffenden Bruders zu voller Lebenskraft wieder erhöht werden«.
33 Vgl. noch Gen 20,7: »Er (Abraham) wird für dich (Abimelech) beten, so daß du am Leben bleibst«; TestRub 1,7; TestGad 5,9; ausführlich Schnackenburg 275f.
328
Die Sünde zum Tode (5,16-17)
Sünde zum Eine Sünde zum Tode ist zunächst ganz einfach eine Sünde, die im wörtlichen Sinn die Todesstrafe nach sich zieht, wenn man das Gesetz in seiner ganzen Strenge zur Tode Anwendung bringt34. Die gesetzlichen Partien des Pentateuch unterscheiden zwischen versehentlich begangenen Sünden35, die durch ein Sühnopfer Vergebung finden, und vorsätzlich begangenen Sünden, von denen Num 15,30f sagt: »Wenn aber ein einzelner vorsätzlich sich vergeht, sei es ein Einheimischer oder ein Fremder, der lästert den Herrn. Er soll aus seinem Volk ausgerottet werden, denn er hat das Wort des Herrn verachtet und sein Gesetz gebrochen. Ausgerottet muß er werden, seine Schuld lastet auf ihm.« Wer sich unbefugt dem heiligen Zelt nähert, hat nach Num 18,22 eine »todbringende Sünde« (LXX: ar.taQ1Lav (}ava't'Y)<poQov) auf sich geladen. Mit dem Gegensatz von versehentlicher Sünde und wissentlicher Sünde oder »Sünde mit erhobener Hand«, wie sie im Anschluß an Num 15,30 auch genannt wird (lQS 5,12), arbeitet die Sektenregel von Qumran in einem längeren Strafkodex, der je nach Schwere der Fälle die Bestrafung regelt 36 . Die atl. Ausrottung, physisch verstanden, ersetzt die Sektenregel durch den Gemeindeausschluß auf Dauer: »Und jeder Mann, der sich im Rat der Gemeinschaft volle zehn Jahre befindet, aber sein Geist wendet sich ab, so daß er abtrünnig wird von der Gemeinschaft und weggeht von den vielen, um in der Verstocktheit seines Herzens zu wandeln, er soll nicht mehr in den Rat der Gemeinschaft zurückkehren.«37 Neben der Unwissenheitssünde 38 und als Gegenstück zu ihr kommt in den TestXII und im Jubiläenbuch direkt die Sünde zum Tode vor, bestehend in Unzucht, verbotenem Blutgenuß und Glaubensabfall: »Hüte dich! Du sollst nicht auf ihrem Weg gehen und den Fuß in ihre Spuren setzen. Und du sollst keine Sünde zum Tode begehen vor dem höchsten Gott, und er wird sein Antlitz vor dir verbergen und dich zurückgeben in die Hand deiner Sünde und dich ausrotten von der Erde.«39 Philo kennt sowohl die Unterscheidung von wissentlichen und unwissentlichen Sünden (Op 128; Post 10f; Imm 128) als auch ein Sündigen, für das es keine Umkehrmöglichkeit mehr gibt (All 3,213; Det 149).
Es liegt auf der Hand, daß für 1Joh 5,16 der Gedanke an einen physischen Tod als Strafe für die Sünden fernzuhalten ist4o. Sicher bedeutet Tod immer Lebensverlust, aber wie Leben bei Johannes inhaltlich neu gefaßt und gefüllt wird, so auch Tod. Im Evangelium begegnet »zum Tode« nur einmal, im Lazaruswunder Joh 11,4: »Diese Krankheit ist nicht zum Tode.« Im Kontext der Erzählung verleiht dem 11,25-26, wo Jesus in Person den Glaubenden eine 34 Lev 18,29; 19,8; 20,27; 24,15f; Dtn 17,12; 22,23-26. Mit Miguens* 71 ist auch auf die an 1Joh 5,16 gemahnende Form solcher Rechtssätze zu achten, vgl. Dtn 22,28f LXX: fUV TL<; ... öwaEL ... 35 Lev 4,2.13.27; 5,2-4.15.17. 36 1QS 6,24 - 7,25; vgl. 8,21 - 9,2; dazu Braun, Qumran I 302-304, in teilweiser Korrektur zu Nauck, Tradition 142-146. 37 1QS 7,22-24; vgl. 9,1; ferner die »unvergebbare Sünde« in 2,14f und die Verweigerung des Erbarmens Abtrünnigen gegenüber in 10,20f. 38 TestJud 19,3; TestSeb 1,5; vgL TestGad
4,6: der Haß will die nicht am Leben lassen, »die in einer Kleinigkeit sündigten«; Jub 22,14; 41,25. 39 Jub 21,11 (Übers. nach K. Berger, JSHRZ IV3, 433); vgl. TestIss 7,1: a~aQ't[av EL<; MvatOV; Jub 15,34 (Glaubensabfall als unvergebbare Sünde); 26,34; 30,10; 33,10.13.18. Über Bill. III 779 hat außerdem bSota 48a in die Kommentarliteratur Eingang gefunden. 40 Anders Bruce 124f; in etwa auch Reynolds*, der die Stelle als Verbot des Fürbittgebets für die Sünden von Verstorbenen versteht.
IJoh 5,16f-h: Erklärung
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Lebensgabe vor Augen stellt, die den unvermeidlichen leiblichen Tod seiner Macht beraubt, symbolisches Profil, ganz im Sinn der anderen Stelle in 8,51: »Wer mein Wort hält, wird den Tod nicht schauen in Ewigkeit«. Der Front des Unglaubens begegnet Jesus in 8,21 mit der Drohung: »Ihr werdet in eurer Sünde sterben« (vgl. noch Offb 3,1f). Wenn wir im 1Joh nach Hilfen suchen, stoßen wir rasch auf 3,14-15: Schon jetzt sind wir vom Tod zum Leben hinübergeschritten, weil wir einander lieben; im Tode bleibt, wer nicht liebt; Leben bleibt nicht in dem, der seine Brüder und Schwestern haßt. Sünde bedeutet also Verstoß gegen die Liebe, sie wirkt sich zerstörerisch aus und richtet Verwüstungen an in jenem Raum der Liebe, der die Gemeinde in sich birgt. In diesem Umfeld müssen wir die Sünde zum Tode aus 16f einordnen. Im Wort schon wird der Bruch mit jener Lebens- und Liebesgemeinschaft auf Dauer festgeschrieben. Das trifft vom Korpus des 1Joh aus gesehen sicher auch die Dissidenten. Sie sind wieder in den Zustand des Unglaubens zurückgefallen, der im Evangelium als die Sünde der Welt ausgelegt wird Uoh 16,9; 15,22). Das heißt aber nicht, daß die Sünde zum Tode einfach den Nichtchristen zugeordnet werden kann41 . Die Haltung der Gegner resultiert aus der Bewegung des Abfalls, das ist der Unterschied, der die Qualifizierung »zum Tode« verdient. Wenn man zwischen Briefkorpus und Nachtrag eine zeitliche Differenz zugesteht, kann man die Verschärfung im Ton auch so verstehen, daß die Spaltung inzwischen als festzementiert empfunden wurde und neue Ereignisse die Rückbewegung der anderen Gruppe zur Welt, der sie angehört, über die Maßen deutlich gemacht haben (s. weiter zu V. 21). Ein Fürbittgebet kann der Verf. in einem solchen Fall nicht mehr empfehlen. 16gh In der Auslegungsgeschichte wurde dem vielfach die Schärfe genommen, indem man erklärte, es werde hier gar kein förmliches Verbot ausgesprochen42 • Nur gebieten wolle und könne der Autor ein so schwieriges Gebetsringen seinen Lesern nicht. Zumindest lasse er offen, ob nicht Gott selbst oder Jesus als Paraklet in diesen Extremfällen die Initiative ergreifen. Exegetisch gesehen spricht so ziemlich alles gegen Lösungen dieses und ähnlichen Typs43. Vom engeren Kontext her wäre ein solches Beten ein Gebet, das nicht dem Willen Gottes entspricht und sich auf die Erhörungsgewißheit aus V. 14-15 nicht berufen kann. Im Evangelium gibt Jesus in seinem Abschiedsgebet zu verstehen, daß er für die Welt nicht mehr bittet (17,19; mit EQOYtävwie 16h). Im AT muß sich der Prophet, zu dessen Aufgaben das Fürbittgebet gehört, von Gott sagen lassen: »Wenn selbst Mose und Samuel vor mich träten, mein Herz wür41 Gegen Stott 18lf, der die Sünder beider Klassen als Nichtchristen ansieht, und Scholer" 242. 42 Socinus 473; Brückner 407; Kohler 196; Cox" 417f. 43 Vgl. noch Bauemfeind" 50-52: normales Beten helfe nichts, gefordert werde ein besonders inspiriertes Gebet; Seeberg" 26-30: identifiziert die Sünde zum Tode mit den gro-
ben heidnischen Sünden, die Did 5,lf als »Weg des Todes« zusammenfaßt, und meint, in solchen Fällen sei ein privates Gebet nicht erlaubt, so lange der Sünder kein öffentliches Bekenntnis vor der Gemeinde abgelegt habe; Rahfeldt": Das verweigerte Bekenntnis einer offensichtlichen Sünde vor der Gemeinde macht die Sünde zum Tod aus.
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Die Sünde zum Tode (5,16-17)
de sich diesem Volk nicht zuwenden« (Jer 15,1); »Bete nicht um das Wohlergehen dieses Volkes« (Jer 14,11). Das gleiche Verbot steht in Jer 7,16 und 11,14, wo als Begründung der Götzendienst des Volkes genannt wird44 . Wenn man das auf unsere Situation überträgt, ergibt sich wieder, daß eine ebenso evidente wie hoffnungslose Abwendung vom Glauben als Inhalt der Sünde zum Tode zu konstatieren ist. Überblickt man die ganze Argumentation, kommt man auch kaum an dem Urteil vorbei, daß die Sünde zum Tode zugleich als unvergebbare Sünde gedacht wird, was an ihrem inneren Wesen liegen muß: Eine solche Verhärtung kann Gott nicht überwinden, so lange er die Freiheit des Menschen respektiert. Damit ergeben sich Querverbindungen zu zwei anderen urchristlichen Traditionsbereichen45 : (a) Als unvergebbare Sünde stuft eine synoptische Doppelüberlieferung in Mk 3,28f; Mt 12,31f; Lk 12,10 die Sünde wider den heiligen Geist ein (vgl. Did 11,7). Es bleibe dahingestellt, was immer dieses Wort mit seiner komplizierten Vorgeschichte für sich betrachtet besagen will (ganz allgemein wird man das Moment einer prinzipiellen Ablehnung der inspirierten nachösterlichen Verkündigung festhalten). Trotz des großen Abstandes ist nicht auszuschließen, daß der Verf. des Nachtrags es aus der Gemeindetradition kannte und in fortentwickelter Form verwendet hat. (b) Eine Sachparallele besteht zu den Ausführungen des Hebräerbriefs über die Unmöglichkeit einer zweiten Buße bei Glaubensabfall (Hebr 6,4-6; 10,26-31; 12,16~, die ein Pendant im Hirt des Hermas finden, wo als ganz besonderer Gnadenerweis eine einzige weitere Bußmöglichkeit nach der an sich einmaligen Taufbuße eingeräumt wird46 . Das zu erkennen ist nicht ganz unwichtig, weil dadurch doch der Eindruck einer völligen Isolation der Sünde zum Tode innerhalb der frühen Bußgeschichte etwas relativiert wird. 17 Die Sünde(n) der Menschen werden in V. 17 zusammenfassend als OOLXta, Ungerechtigkeit bezeichnet. 17a klingt ähnlich wie 3,4c: »die Sünde ist die Ungesetzlichkeit (&vo!lta)«, sagt aber etwas anderes aus. Nach 3,4 erfüllen Sünden, die begangen werden unter dem Deckmantel der programmatischen Sündlosigkeit, den Tatbestand der endzeitlichen Rebellion gegen Gott. Das nähert sich fast der Sünde zum Tode an. Die Ungerechtigkeit von 17a hingegen dient als ein Sammelbegriff, der alle Sünden, auch die nicht zum Tode, einschließt. Zu vergleichen ist 1,9d: Gott »reinigt uns von jeglicher Ungerechtigkeit (&OLxta)«, wo eine interne Differenzierung noch nicht angestrebt ist. Mitspielen mag der Gedanke an die soziale Dimension der Sünde: Sünde als 44 Vgl. noch lSam 2,25 LXX: »Wenn jemand gegen einen anderen eine Sünde begeht, wird man für ihn zum Herrn bitten. Wenn er aber gegen Gott sündigt, wer soll dann noch für ihn bitten?« (Eli zu seinen mißratenen Söhnen); dazu lSam 3,14; }es 22,14. 45 Ausführlich begründet schon 1713 bei
Lange 728-743; angezweifelt von Herkenrath* 134f; Scholer* 235f; Goldhahn-Müller* 41-45 (für Mk 3,28f). 46 Herrn mand IV 3,1-7; vis II 2,4f; sim VI 2,3; vgl. zu Hebr und Herrn Goldhahn-Müller* 75-114.240-288.
1Joh 5,17: Erklärung; 5,16-17: Wirkungsgeschichte
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Verstoß gegen eine Liebe, die sich in den gegenseitigen Beziehungen auch als Gerechtigkeit auswirkt. Die Sünde selbst (~J.UlQtIa) erweist sich als relationaler Begriff, der zur &vo!J.1a als ihrer extremen Steigerung und zur &ÖLXIa als Sammelbegriff in Beziehung gesetzt wird47 und sich zugleich im Spannungsfeld von »zum Tode« und »nicht zum Tode« bewegt. Insgesamt resümiert 5,17 die Hauptlinien von Kap. 1-2: Völlige Sündlosigkeit wäre eine lllusion, aber die VergebungsbereitlChaft Gottes und das Dazwischentreten Jesu können verhindern, daß Sünde in jedem Fall dem Tod zu neuer Macht verhilft. Das Wort von der Sünde zum Tode hat eine überaus reiche, in sich widersprüchliche WirkungsWirkungsgeschichte freigesetzt48• Einige Stationen seien angeführt: geschichte 1 Für Tertullian zielt die Sündenlehre des 1Joh von vornherein auf 5,16 ab und muß von dorther gelesen werden (Pud 19,27). Er scheint der erste gewesen zu sein49, der in seiner montanistischen Zeit die Sünde zum Tode als unvergebbare Sünde bezeichnete (Pud 2,15: »wo kein Raum für die Bitte, da ebensowenig für das Vergeben«). Im gleichen Atemzug spricht er von Todsünden (Pud 3,3; 19,28: delieta mortalia). Dazu rechnet er Mord, Götzendienst, Betrug, Verleugnung des Glaubens, Gotteslästerung, Ehebruch und Unzucht (pud 19,25). Sie erfüllen je für sich den Tatbestand der Sünde zum Tode. Für solche Sünden tritt selbst Christus nicht mehr fürbittend ein (Pud 19,27). Deshalb können sie, wenn ein Getaufter sie begeht, auf keinen Fall mehr vergeben werden, von kirchlichen Amtsträgern ganz gewiß nicht und wohl auch nicht von inspirierten Propheten und Märtyrern. 2 Ambrosius hat später den zuletzt erwähnten Lösungsweg eingeschlagen. Für ihn geht es in 1Joh 5,16 nicht nur um die Qualität der Sünde, sondern damit verbunden um die Person dessen, der Fürbitte leistet. Für durchschnittliche Sünden reichen durchschnittliche Christen als Bittsteller aus. Bei besonderen Sünden braucht es auch besondere Beter, z.B. Gerechteso • 3 Verhältnismäßig oft geht Origenes auf 1Joh 5,16 ein. Er entnimmt der Stelle die Unterscheidung zwischen Todsünden und anderen Sünden (Comm in Joh 19,84f), gesteht aber ein, daß eine Abgrenzung schwerfällt (Horn in :Ex 10,3). Er greift auf Sünden zurück, auf welche die Todesstrafe steht (Horn in Lev 11,2), führt die todbringende Sünde aus Num 18,22 ins Feld (Comm in Mt 13,30), ebenso die Sünden gegen Gott aus 1Sam 2,25 (Horn in Lev 4,5) und zieht einmal auch die Trias von Götzendienst, Ehebruch und Unzucht heran (Orat 28,10). Dazu bemerkt er, daß die Vergebung solcher Sünden aufgrund von 1Joh 5,16 über die priesterliche Gebetsvollmacht hinausgeht, will die Sünde zum Tode aber nicht zur unvergebbaren Sünde erklären. Selbst die schwersten Sünden können nachgelassen werden, aber nur einmal im Leben durch zeitweiligen Kirchenausschluß und öffentliche BußeS1• 4 Augustinus hat in seiner zeitlich frühesten Äußerung zu 1Joh 5,16 die Sünde zum Tode eher zögernd als bewußte Abwendung von der Taufgnade und als grundsätzli-
47 c'töLxta, dvoj1ta und aJ.WQtta nebeneinander in Ez 18,24 LXX. 48 Hinweise bei Westcott 211-214; Düsterdieck 11 423-430; Bujarula·. 49 Vgl. Poschmann· 335f; ausführlich Goldhahn-Müller· 353-378.
50 Ambrosius, De poenitentia I 10,44f (141,1-15 eSEL 73). 51 Vgl. Poschmann· 455-460. ,
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Die Sünde zum Tode (5,16-17)
chen Verstoß gegen das Liebesgebot aufgefaßt 52. Später erklärt er die Sünde zum Tode (ad mortem) als eine Sünde, die, etwa in der Form des Glaubensabfalls, bis zum Tode (usque ad mortem) unbeirrt durchgehalten wird und aus diesem Grunde keiner Vergebung teilhaftig werden kann53. In den Retractationes hat er beide Ansätze miteinander verbunden und hinzugefügt, daß man, so lange ein Mensch noch am Leben ist, nicht an ihm verzweifeln soll und selbstverständlich für ihn beten darf, ungeachtet der Schwere seiner Sünde54. 5 Damit ist die Bahn frei für die vorherrschende Interpretation der Sünde zum Tode im Verein mit der unvergebbaren Sünde wider den heiligen Geist. Ihr zeitliches Verständnis als eine Sünde, die bis zum Tode dauert, dringt durch die Lesart usque ad mortem sogar in die lat. Textüberlieferung ein 55• Die Folgen für die Sündenlehre und die Bußordnung sind beträchtlich. Gelasius 1. (492-496) zieht in seiner Schrift De anathematis vinculo den Schluß, daß es somit keine Sünde geben könne, für welche die Kirche nicht beten, welche sie nicht vergeben und von welcher sie nicht lossprechen könne (DS 349). Es liegt in der Natur der Sache, daß keine kirchliche Instanz in der Lage ist, über das Vorliegen einer Sünde zum Tode zu urteilen. Denn niemand weiß, ob eine Haltung, die von außen her wie die endgültige Ablehnung der gnadenhaften Zuwendung Gottes wirken mag, von dem Betreffenden auch wirklich bis zur letzten Stunde durchgehalten wird 56 . Das bedeutet, daß man zwar theoretisch an der Möglichkeit eines solchen Sich-Verschließens gegen Gott festhält, dies aber in der kirchlichen Praxis faktisch keine Rolle spielt. 6 Das Trienter Konzil hat im Rechtfertigungsdekret (DS 1577) und im Bußdekret (DS 1680) die Unterscheidung von Todsünden und läßlichen Sünden festgeschrieben, ohne auf 1Joh 5,16 zu rekurrieren. Die nichtkatholische Auslegung nimmt in der Folgezeit unsere Stelle regelmäßig zum Anlaß, gegen diese Lehre, die fälschlicherweise aus V. 16 entwickelt sei, zu polemisieren, teils mit heftigen Worten 57. Man darf aber nicht übersehen, daß die terminologische Nähe über einen erheblichen Abstand in der Sachfrage hinwegtäuscht 58 . Gerade von den Todsünden nach klassischer Auffassung wird ja nicht etwa gesagt, daß sie unvergebbar seien und daß man nicht für die, die sie begehen, beten dürfe. Ganz im Gegenteil, gerade an ihnen müssen sich die kirchlichen Bußforrnen bewähren. Angesichts dieses Sachverhalts erscheint es sinnvoll, auf die Bezeichnung»Todsünde« im herkömmlichen Sinn zu verzichten und sie, wenn man an der Notwendigkeit einer Wertung festhalten will, durch »schwere Sünde« zu ersetzen. 7 Manche Topoi halten sich in der Auslegung der Stelle mit erstaunlicher Konstanz 52 De sermone Domini in monte I 22,73 (81-83 CChr.SL 35). Vgl. Dideberg, Augustin 124-126. 53 De correptione et gratia 12,35 (350 BAug 24). 54 Retractationes I 19,7 (394 BAug 12). 55 Nachweise bei Thiele, VL 26/1, 372; s. z.B. Gregor der Große, Moralium libri 16,82 (847,5f CChr.SL 143A): peccatum namque ad mortem est peccatum usque ad mortem; vgl. auch die Formulierung bei Nicolaus de Lyra z.St.: zu beten sei pro omnibus peccatoribus adhuc viven ti bus. 56 Hier wäre ein Ansatz gegeben, die Sünde
zum Tode mit der Endentscheidungshypothese zu verbinden. Soweit ich sehe, gehen aber weder P. Glorieux, Endurcissement final et graces dernieres, NRTh 59 (1932) 865-892, noch L. Boros, Mysterium Mortis. Der Mensch in der letzten Entscheidung, Olten 71967, darauf ein. 57 Calvin 372; Luthardt 263f; Baumgarten 222; Candlish 519f; als Beispiel bes. Maurice 292-302. 58 Das wird bei katholischen Autoren deutlicher gesehen, s. etwa J. Stufler, Die Heiligkeit Gottes und der ewige Tod, Innsbruck 1903, 263f.
1]oh 5,16-17: Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung
333
durch. Dazu gehört z.B., daß man mit Vorliebe Judas Iskariot heranzieht als Modellfall für einen Menschen, der die Sünde zum Tode tatsächlich begangen habe 59 . Als interessanter Sonderfall sei noch die Polemik gegen die stoische Lehre von der Gleichrangigkeit aller Sünden vermerkt; sie sei durch die von lJoh 5,16 getroffene Unterscheidung als absurd erwiesen 6o.
Zu den Rätseln, die der lJoh aufgibt, gehört in vorderster Linie die Sünde Zusammenzum Tode aus V. 16. Dem Verf. war das Thema anscheinend so wichtig, daß fassung er im Grunde um seinetwillen den Briefnachtrag verfaßt. Schon im Briefkorpus ließen sich die Aussagereihen über Sündigkeit und Sündlosigkeit von Christen nicht restlos zum Ausgleich bringen. Manche Spannungen und Widersprüche, mit denen sich die Glaubensexistenz konfrontiert sieht, sind unter den Bedingungen der Zeitlichkeit nicht restlos zu beseitigen. Immer bedeutet Sünde Lebensverlust, droht sie in den Tod zu führen. Im Leben gehalten wird auch der Glaubende nur durch Gottes Gnade, sei es, daß sie wie in 2,1 auf Jesu Fürbittgebet hin, sei es, daß sie wie in 5,16 auf das erhörungsgewisse Fürbittgebet von Mitchristen hin geschenkt wird. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, daß der Verf. davon noch einmal eine Ausnahme macht, für die eben dies nicht gilt. Er muß an ein derart schwerwiegendes und evidentes Sich-Verschließen eines Menschen gegen Gottes Gnade denken, daß kein Raum mehr bleibt für eine weitere Intervention, ob dies nun historisch gesehen als Abfall vom Glauben, als endgültiger Bruch mit der Gemeinde oder wie auch immer zu konkretisieren ist. Kann eine kirchliche oder theologische Instanz überhaupt ein solches Urteil fällen? Hier spricht die Wirkungsgeschichte eine eindeutige und hilfreiche Sprache, insofern sie zeigt, daß dieses Urteil zumeist als Anmaßung empfunden wurde. Die Sünde zum Tode weist ins Geheimnis Gottes hinein und bleibt allein seinem Ratschluß anheimgestellt.
c
Glaubenswissen (5,18-20)
Literatur: Findlay, GG, St. John's Creed. 1 John v. 18-21, Exp. V/9 (1899) 81-96; Kilpatrick, GD., Two Johannine Idioms in the Johannine Epistles, JThS NS 12 (1961) 272f; Salvoni, F., »11 verace equesto: dio evita eterna« (1 Gv. 5,20), RBR 3 (1968) 5559; Segond, A., 1'" Epitre de Jean, chap. 5:18-20, RHPhR 45 (1965) 349-351.
iSa
b c
Wir wissen, daß jeder, der aus Gott gezeugt ist, nicht sündigt,
59 Cramer, Catenae 143; PS.-Oecumenius 681D; a Lapide 618; Asmussen 135 (nennt daneben die Petrusverleugnung als Beispiel für die Sünde nicht zum Tode); Scholer' 241.
60 Beda 326; Salmeron 317. Zur stoischen Lehre selbst vgl. J.M. Rist, Stoic Philosophy, Cambridge 1969, 81-96.
Glaubenswissen (5,18-20)
334
d e f 19a
b c 20a b c
d e
f
sondern der aus Gott gezeugt wurde61 bewahrt ihn62, und der Böse berührt ihn nicht. Wir wissen, daß wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen. Wir wissen aber, daß der Sohn Gottes gekommen ist63 , und er hat uns Einsicht gegeben, damit wir den Wahrhaftigen64 erkennen65 • Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und ewiges Leben.
Analyse 1 Bestimmend ist in den Versen 18-20 die dreifache Einleitung mit otöu!J.€V, gefolgt von einem ÖLt-Satz. Die Schlußzeilen 20ef heben sich noch einmal davon ab. »Wir wissen« ist als Satzeröffnung aus dem Briefkorpus bekannt (3,2d.14a) und kam zuletzt in 5,15ad vor. Eingeführt werden damit Sachaussagen, die grundlegehde Einsichten johanneischer Theologie aus dem Briefkorpus festhalten: Zeugung aus Gott, Sündlosigkeit, Konfrontation mit dem Bösen und mit der Welt, eLvm Ex, eLVaL Ev (20e), Gotteserkenntnis. Verschiedentlich ergibt sich eine Nähe zu Joh 17, dem Abschiedsgebet (s. die Erklärung). 2 Strittig ist die Übersetzung und Einordnung von 18de. Folgende Lösungen stehen zur Wahl: (a) Der aus Gott Gezeugte (d.h. der Glaubende) bewahrt sich selbs~6. Aber kann 't'I']QELV überhaupt so konstruiert werden, mit reflexivem Akkusativ (bei Johannes sonst nicht belegt) und ohne Attribut (wie Jak 1,27: »sich unbefleckt bewahren«; ebenso 2Kor 11,9; Hirn 5,22)? (b) Der aus Gott Gezeugte bewahrt Gow 7, indem er an Gott festhält. Ob 't'I']QELV diesen Sinn hergibt, ist zu bezweifeln. Offb 3,10 (vgl. 3,3) hat als Objekt »das Wort«, was einen Unterschied macht. Auch das Haben Gottes bzw. des Gottessohnes in 2,23 und 5,12 hilft nicht weiter. Außerdem erscheint es
61 Vier Minuskeln (nach Nestle-Aland 26 ), gefolgt u.a. von den Lateinern, lesen i) yEwrjOLC; (bzw. nativitas oder generatio): »sondern die Erzeugung aus Gott bewahrt ihn« ein Versuch, die Schwierigkeiten von 18d (s. die Analyse) im Handstreich zu beseitigen. Verteidigt wird die LA von Harnack, Textkritik 534-542; vgl. dagegen Belser, Textkritik 178-182; Vellanickal, Sonship 276f. 62 Mit Ku.a. liest der Mehrheitstext tumOv (»bewahrt sich selbst«); auch umov in A* B könnte evtl. als umov gelesen oder reflexiv verstanden werden, doch s. die Analyse. 63 Die Fortsetzung in einem Teil der lat. Überlieferung: »und Fleisch angenQmmen hat um unseretwillen und gelitten hat und auferstanden ist von den Toten; er nahm uns auf«, erklärt Harnack, Textkritik 571, als »Stück
aus einer alten Glaubensregel«, das in antignostischer Absicht hinzugefügt wurde. 64 A 1p und wenige Minuskeln ergänzen »Gott«; K* liest das Neutrum. Kilpatrick* schlägt vor: »Damit wir den wahrhaftigen Gott erkennen; und wir sind in dem wahrhaftigen Sohn Jesus Christus«. 65 Mit den neueren Textausgaben ist der Konjunktiv YLVWOXOJfLEV zu lesen. Der Indikativ in KA B* u.a. will die Gewißheit des Erkennens bekräftigen. 66 Verbreitet in der Väterzeit, vgl. die LA des Mehrheitstextes (s.o. Anm. 62); vertreten von Weiss 156; Braune 128: Damit »ist auf die sittliche Arbeit und Selbstanstrengung gewiesen«. 67 Lauck 530; Kysar 116.
1Joh 5,18-20: Analyse
335
nicht glücklich, airt6v in 18e auf Gott zu deuten und airtoü in 18f wieder auf den Glaubenden. (c) Der aus Gott Gezeugte (der Glaubende) - er (Gott) bewahrt ihn (den . Glaubenden)68. Dazu muß man eine dem Semitischen nachempfundene casuspendens-Konstruktion voraussetzen, wie sie in dieser Härte in Joh 17,2 gerade nicht vorliegt. Vom Sinn her wäre dagegen nichts einzuwenden, aber der großzügige Umgang mit der Syntax bereitet doch Unbehagen. (d) Der aus Gott Gezeugte, d.h. Christus, bewahrt ihn (den Glaubenden)69. Diese Erklärung weist eigentlich nur Vorteile auf. Der Wechsel vom Partizip Perfekt ö YEYE'VVI1!Jivo~ in 18b zum Partizip Aorist ö )'EWtlitELc; in 18d wird verständlich, wenn einmal der Glaubende, ein andermal der Gottessohn angesprochen ist Das Objekt in 18e und in 18f hat eine einheitliche Bezugsgröie. Der Gottessohn, der nach 3,8 gekommen ist, »um die Werke des Teufels zu zerstören«, tritt satzintern in Opposition zu dem Bösen in 18f. In Joh 17,12 sagt Jesus selbst: »Ich habe sie bewahrt (ttfJQOW) in deinem Namen.« Der Haupteinwand gegen diese Lösung lautet, daß »der aus Gott Gezeugte« als Titel für Christus im lJoh sonst mit Absicht, wie es scheint, vermieden wird 70 • Das ist richtig, aber es könnte ebensogut ein Indiz dafür sein, daß in V. 18 ein Späterer schreibt, der sich an die Sprachkonventionen des Briefkorpus nicht mehr in allem gebunden fühlt. Die singularische Variante zu Joh 1,13, die den Relativsatz »die ... aus Gott gezeugt wurden« auf Christus umdeutet, ist sicher nicht ursprünglich, weist aber ein hohes Alter auf und zeigt, wie die Entwicklung - unter Umständen auch innerjohanneisch - verlaufen konnte 71 • 3 Ähnlich kontrovers diskutiert wird zu 20f die Frage, ob sich o&to~ auf den wahrhaftigen Gott aus 20de bezieht72 oder auf den Sohn Jesus Christus aus 20e 73• Das kann so leicht gar nicht entschieden werden. Grammatisch wäre beides möglich. Die nächste Bezugsgröße für o{,,;o~ bildet sicher Jesus Christus am Schluß von 20e. Ein vergleichbarer übergang liegt 5,5-6 vor. Andererseits haben wir inzwischen unsere Erfahrungen mit dem unpräzisen Gebrauch der Pronomina im lJoh gemacht. Auch in 2,22d nimmt o{n;o~ nicht den unmittelbar vorausgehenden Christustitel auf, sondern den weiter entfernten Satzanfang. Inhaltlich scheint »der wahrhaftige Gott« besser auf Gott zu passen (vgl. Joh 17,3), obwohl sich dann fast eine Tautologie einstellt, wenn von dem Wahrhaftigen aus 20de noch einmal wiederholt wird: »Dieser ist der wahrhaftige Gott«. Für »ewiges Leben« hingegen wäre sicher Jesus Christus die geeignetere Bezugsgröße (vgl. nur 1,1-2)14, obwohl man dagegen wiederum einwen
68
l!ci.~
229.
WohJenberg, Glossen 23'*; Schlatter 112; Manhall 252; Strecker 305f. 70 Schnackenburg 281; !rown 620. 71 Weitere Anhaltspunkte dafür bieten Joh 18,37: »Dazu bin ich geboren (yEj'EWI]l.UU)«, und Ps 2,7 LXX: »Heute habe ich dich gezeugt (yeyt'VVrJxa)«; vgl. aueh Philo, Conf 63: der Logos at. ältester Sohn, als Ers1:8eborener, als
69
b YEv",lId~. 72 So u.a. W. Soltau, Der eigenartige dogmatische Standpunkt der }ohannisreden und
seine Erklärung. zwrh 52 (1910) 341-359, hier 349; Segond" 351; Salvoni·; Ross 225; GraY5too 147. 73 So wohl die Mehrzahl der neueren Ausleger, vgl. nur Rothe 202-206, der zu seiner Zeit noch eine Minderheitsposition vertrat und deshalb eine ausführliche Begründung bietet; Bultmann 92f. 74 Das hat Socinus 520f und Semler 349, die beide aus dogmatischen Gründen die Prädikation Jesu als wahrer Gott vermeiden wollten, dazu geführt, »wahrhaftiger Gott« auf den Vater und »ewiges Leben« auf den Sohn zu verteilen.
336
Glaubenswissen (5,18-20)
lich die ungezwungenere sein. Wir werden bei der Erklärung noch zu fragen haben, von welchen außertextlichen Interessen die gegensätzlichen Positionen mitgesteuert werden.
:rklärung Nachdem der Verf. seine Leser in V. 16-17 einen schaudernden Blick in den Abgrund der Sünde zum Tode hat werfen lassen, führt er sie in V. 18-20 wieder auf den festen Boden des gemeinsamen Glaubens zurück. Die kommunikative Wir-Form, die auch in V. 14-15 dominierte, im Zwischenstück V. 1617 aber fehlt, trägt das ihre dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Die 18a Aussagesätze, die mit »wir wissen« eingeleitet sind, weisen besondere Kostbarkeiten aus dem Glaubensschatz der johanneischen Überlieferung vor. Neben der Gebetserhörung aus V. 14-15 zählt dazu die Zeugung der Glauben18bc den aus Gott. Fast mit den gleichen Worte wie 3,9 zieht 18bc aus der Einsicht, daß Glaubende einen neuen Ursprung ihres Seins in Gott gefunden haben, die Folgerung: Sie sündigen fortan nicht mehr. Wieder ergibt sich, diesmal auf engstem Raum, ein harter Widerspruch, da V. 16 davon ausgeht, daß auch Christen Sünden begehen, zumindest solche, die nicht zum Tode führen. Entweder muß man das Verhältnis von V. 16 und V. 18 ähnlich bestimmen wie das von 1,8-10 und 3,6.9: Daß auch Glaubende sündigen, wird zwar illusionslos ins Auge gefaßt und pastoral bearbeitet, aber dieses durch das gottgeschenkte neue Sein eigentlich längst überwundene Fehlverhalten sollte auf keinen Fall zur Kennzeichnung gläubiger Existenz herangezogen werden. Ihre Würde und Freiheit besteht vielmehr darin, des Zwangs zum Sündigen enthoben zu sein. Oder man wählt einen weniger aufwendigen Weg und deutet so: Die Sünde, die Glaubende nicht mehr begehen werden, ist die Sünde zum Tode aus 5,16, für die es keine Fürbitte gibes. Wenn man bedenkt, wie sehr der ganze Kontext aufV.16 hingeordnet erscheint, gewinnt letztere Deutung an Überzeugungskraft. Wer diese Sünde des endgültigen Bruchs mit der Gemeinde begeht, hatte seinen Ursprung nie bei Gott. Die echten Gotteskinder (3,10) werden davor bewahrt bleiben. Daß sie völlig aus der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe herausfallen, brauchen sie nicht zu befürchten. 18de Im Evangelium hat Jesus verheißen, daß er den Seinen ewiges Leben gibt, daß sie auf ewig nicht verlorengehen und niemand sie seiner Hand entreißt (10,28). Er hat in seinem Rechenschaftsbericht festgehalten, daß er alle bewahrt hat, die Gott ihm gab (17,12), und darum gebetet, daß Gott sie weiterhin vor dem Bösen bewahren möge (17,15). In diese Gedankenwelt versetzt uns auch 18de. Christus, der Erhöhte, ist es, der die Glaubenden vor der Sünde zum Tode bewahrt (s. die Analyse). Mit Absicht verwendet 18b »aus Gott gezeugt« im Perfekt für die Glaubenden, 18d »aus Gott gezeugt« im Aorist für Christus, um so die innere Verwandtschaft der Gotteskinder mit dem Gottessohn und ihre (nur) ein Stück weit vergleichbare Relation zu Gott an50 Rothe 198; Wengst 221; 5chunack 104; dagegen Brown 619f.
75
l]oh 5,18d-19: Erklärung
337
zudeuten. Das Bewahrtbleiben erwächst aus dem Gemeinschaftsverhältnis zwischen den Kindern Gottes, dem Sohn Gottes und dem Vatergott. Als Gegenspieler Christi tritt der personal gedachte Böse auf den Plan (vgl. 18f 3,8), den die Glaubenden in ihrer jugendlichen Kraft nach 2,13d.14h bereits besiegt haben. Himmlischen Schutz vor der Macht des Bösen stellen die Gemeinderegel aus Qumran und die TestXII den Frommen in Aussicht: »Aber der Gott Israels und der Engel seiner Wahrheit hilft allen Söhnen des Lichtes« (lQS 3,240; Juda wußte aus einem Traum seines Vaters, »daß ein Engel der Kraft mir in allem folgte, so daß ich nicht unterliegen konnte«76. Im AT schon hat »anrühren« (äJt'tEattm) den Sinn von »schädigen«. So fordert Satan Gott auf, Hiobs Fleisch und Gebein »anzurühren«, d.h. ihn mit Krankheit zu schlagen77 • Dem Bösen gelingt der Zugriff8 auf Menschen da, wo es zur Sünde zum Tode kommt, aber über Glaubende hat er keine Macht, sowenig wie im Evangelium der Fürst dieser Welt Macht über Jesus hatte (14,30), wenn man akzeptiert, daß sich die Ohnmacht des Bösen im Kreuzesgeschehen erweist. Der kurze V. 19 nimmt mit dem ersten Aussagesatz in 19b auf 18b Bezug und 19 mit dem zweiten Aussagesatz in 19c auf 18f. Wie im Briefkorpus dient neben der Zeugung aus Gott (2,29; 3,9) das Sein aus Gott (3,10) zur Kennzeichnung der Glaubensexistenz. Der vergleichende Blick wird sich vor allem auf 4,6a richten: »Wir sind aus Gott«, zumal wenn man aus dem Kontext 4,4a: »Ihr seid aus Gott« und 4,7cd: »Jeder, der liebt, ist aus Gott gezeugt« mitheranzieht. Die Antithese dazu steht in 4,Sa: »Sie sind aus der Welt.« Auch auf 19b folgt mit 19c eine konträre Feststellung über die Welt. Von ihr heißt es, daß sie »in dem Bösen liegt«, und zwar in ihrer Gesamtheit. Von 18f her spricht vieles dafür, das maskulinisch aufzulösen. Es ist der Böse als Person angesprochen, nicht das Böse als Machtsphäre. Ein Neutrum wäre sicher glatter (vgl. unsere Redewendung, daß etwas »im argen liegt«), aber auch die personale Lesart läßt sich vertreten. Sie besagt, daß die Welt auf den Bösen baue 9, sich ihm unterworfen hat, unter seiner Macht steht80. Ein gewisser Widerspruch wird spürbar, wenn wir uns an 2,2 erinnern: Jesus hat Sühne geleistet für die Sünden der ganzen Welt. Daß es dort ÖAO~ 6 x6(Jl-lo~ heißt, hier hingegen 6 x6(Jl-lo~ ÖAO~, läßt sich schwerlich als bedeutungstragende Differenz auswerten 81 . Unüberwindlich ist diese Unausgeglichenheit, die evtl. wieder auf eine spätere Hand deuten könnte, nicht. In der spannungsvollen Weite des johan76 TestJud 3,10 (j.tf! &'\IIUcrf}UL f!E nur als v.l.); vgl. TestBenj 3,3f; 6,1: Schutz vor Beliar; TestDan 5,3-5; dazu Nauck, Tradition 140. 77 Hiob 2,5LXX; vgl. Gen 26,11; Ps 105(104),15; Sach 2,8 (LXX 2,12); PsSal13,6: »Denn furchtbar ist die Vernichtung des Sünders, aber nichts von alledem wird den Gerechten berühren.« 7B Interessante Überlegung bei Barker 85: »The metaphor is that of a wrestler being able
to hold his antagonist«, die sich aber leider nicht absichern läßt. 79 Liddell-Scott 934, s.v. V/3, zitiert SophokIes, Oed Co1247f: »auf euch bauen (XELj.td}U) wir Armen wie auf eine Gottheit.« BO Überzogen Belser 131: »die Welt liegt in den Armen oder im Schoße des Teufels und schlummert da sorglos.« Bi Versucht von Westcott 195; Law, Tests 410.
338
Glaubenswissen (5,18-20)
neischen Kosmosbegriffs haben beide Aspekte ihren Platz, die ganze Welt als Adressat des erlösenden HandeIns Gottes und die ganze Welt als Herr~ schaftsbereich des Bösen im Unterschied zur Gemeinde, die sich von dieser Welt geschieden weiß. 20ab In einem dritten und letzten Anlauf hebt V. 20 aus dem Grundbestand des Glaubenswissens, das in V. 18-19 streng theologisch ausgerichtet war (vermutlich mit Ausnahme von 18de), den christologischen Anteil heraus. Zum ersten Mal wird im Nachtrag in 20b ein Hoheitstitel verwendet, und es ist wie in V. 13 der Titel Gottessohn. Der Blick richtet sich zuerst zurück, auf das geschichtliche Kommen des Sohnes und auf die Folgen, die es für den Glauben hat, um dann auf einer der wichtigsten Folgen ruhen zu bleiben, nämlich auf der im Glauben ermöglichten bleibenden Lebensgemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Als Ausdrucksform dafür wählt 20e die wohlbekannte Sprache der Immanenz. Für das Kommen des Gottessohnes bevorzugt lJoh sonst <pavEQoUv, »erscheinen« (3,5.8; auch 1,2). 20b verwendet statt dessen YlXW, das in kultischsakraler Sprache das Kommen der Gottheit zu den Menschen bezeichnen kann82 und in der LXX teils für das endzeitliche Kommen Gottes gebraucht wird Ues 35,4: »Er selbst wird kommen und euch retten«). Den Anlaß für die Wahl von Ylxw gab wohl Joh 8,42: »denn ich bin von Gott ausgegangen und 20c gekommen (Ylxw)«. Die Vokabel ÖLClVOL
83
84 Jes 65,16; 1Esr 8,86; 3Makk 2,11; 6,18; ferner Phi1o, Gaj 366; leiern 43,6.
l]oh 5,20d-f Erklärung
339
men und das Erkennen tritt in 20c die Erkenntnisfähigkeit. Offenkundig nähert sich ÖIflVOlU hier dem Begriff der yv&m~, der Erkenntnis selbst, und man kann erneut fragen, ob das Hauptwort yv&m~ bewußt vermieden wurde 85 , weil eine Abgrenzung gegen bestimmte Erkenntnisformen notwendig schien. Daß Gotteserkenntnis mehr besagt als intellektuelles Wissen oder gar Ge- 20e heimwissen, ist dem Leser seit 2,3-5 bekannt. 20e nun überführt das Erkennen in einen unmittelbaren Lebenszusammenhang. Es kommt zur Ruhe in der Gemeinschaft der Immanenz86 . Unser Sein in dem Wahrhaftigen von 20e ist der Gegenpol zum Liegen der Welt in dem Bösen von 19c. Verstehensprobleme bereitet das unverbundene Nebeneinander von »in dem Wahrhaftigen« (d.h. in Gott) und »in seinem Sohn Jesus Christus«. Wir haben eine Spielart der doppelten Immanenz (vgl. Joh 17,21) vor uns, die so aufzulösen ist: Wir sind in Gott, indem wir in Christus sind87 . In die Gemeinschaft mit dem Vatergott führt uns die Gemeinschaft mit dem Sohn und Offenbarungsmittler Jesus Christus. Grammatisch nicht ganz so hart, aber in der Ausrichtung ähnlich sagte es, dort noch für die Traditionsträger reserviert, schon der Briefprolog: »Unsere Gemeinschaft ist Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1,3de). Der Sohn, der selbst Wahrheit und Leben ist, hat uns den Weg gebahnt zu dem wahren Gott (Joh 14,6). Mit einem Definitionssatz zieht 20f die Summe und steigert die christologi- 20f sche Reflexion zu einem einsamen Höhepunkt. Der Streit der Ausleger darüber, ob 20f von Gott oder von Christus spricht (s. die Analyse), dreht sich im Grunde um die Frage, ob sich die Prädikation Christi als »wahrhaftiger Gott« - die gleichfalls mitgesetzte Prädikation als »ewiges Leben« macht von 1,2d her keinerlei Schwierigkeiten - mit der johanneischen Theologie verträgt oder nicht. Die Antwort kann eigentlich nur lauten: Selbst eine solche Spitzenaussage liegt in der Fluchtlinie der Ausformulierung der Christologie in den johanneischen Schriften. Ansatzpunkte finden sich besonders in den Rahmenstücken des Evangeliums, im Prolog Joh 1,1, wo vom Logos gesagt wird, daß er selbst ttEoC;, d.h. von gleicher Wesensart wie der Vatergott ist (vgl. auch 1,18), und im Bekenntnis des Thomas: »Mein Herr und mein Gott« in 20,28. Das Schwanken der Erklärer nicht nur an dieser, sondern auch an früheren Stellen macht klar, daß sich Aussagen über Gott und über Christus im 1Joh nicht immer säuberlich voneinander scheiden lassen. Dies wiederum legt einen tiefer reichenden Sachverhalt frei: In Jesus Christus ist Gott selbst anwesend mit seiner Wahrheit und mit seinem Leben, und die göttlichen Prädikate, die auf}esus angewandt werden, dienen dazu, dieses Geschehen in seiner Wirklichkeit festzuhalten für alle Zeit.
Brown 624. Vgl. z.St. Malatesta, Interiority 321-323. 87 Nestle-Aland 26 hat im Apparat die Konjektur ÖVtE~ von Harnack, Textkritik 538f, 85 86
aufgenommen. Der Sinn wird dadurch korrekt bestimmt, auch wenn eine Textergänzung nicht erforderlich ist.
340
Schlußmahnung (5,21)
Wirkungs- Das Glaubensbekenntnis von Nicaea sagt von Christus: »Gott von Gott, Licht vom geschichte Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott« (DS 125). Die letzte der drei Aussagen dürfte wie schon die mittlere (s. zu lJoh 1,5) vom johanneischen Schrifttum inspiriert sein, näherhin von 1Joh 5,20. Eine christologische Deutung dieses Verses läßt sich bei den Vätern im Osten und Westen vom Zeitpunkt der arianischen Streitigkeiten an nachweisen. Er dient als ein Hauptbeleg für die Gottheit des Sohnes in den Predigten des Athanasius gegen die Arianer88 , in der an Kaiser Gratian gerichteten antiarianischen Schrift des Ambrosius 89 , in der Disputation des Augustinus mit dem arianischen Bischof Maximinus 90 und in anderen einschlägigen Traktaten 91 . Dennoch sollte die Beweiskraft der Stelle nicht überschätzt werden, auch abgesehen von der bleibenden sprachlichen Unsicherheit (s. die Analyse). Es könnte nämlich, wie neuere Autoren bemerken, leicht auch zuviel bewiesen werden, wenn die Identität derart betont wird, daß zuletzt die Individualität der Person des Sohnes gefährdet erscheint 92 . Zusammen- In drei Durchgängen entfalten die Verse 18-20 das fundamentale Glaubenswissen, das der Verf. mit seinen Lesern teilt. Am Anfang stehen in V. 18 die fassung Zeugung aus Gott, die Sündlosigkeit und das Bewahrtwerden durch den Gottessohn. Im kürzeren Zwischenstück folgt in V. 19 das Sein aus Gott. Daran schließt sich in V. 20 die Gotteserkenntnis an, zu der uns die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus den Zugang bahnt. Der Böse tritt als Widerpart nur in untergeordneter Rolle auf. Er hat die Welt zwar fest im Griff, vermag aber nicht, Hand an die Glaubenden zu legen. Sein aus Gott und Gotteserkenntnis finden ihren Flucht- und Ruhepunkt in der doppelten Immanenz mit dem Vater und dem Sohn von 20e. Die christologische Entwicklungslinie gelangt zu ihrem Gipfelpunkt, wenn die Akklamation des Thomas: »Mein Herr und mein Gott« aus Joh 20,28 nun in 20f in förmlichem Bekenntnisstil neugefaßt wird. Die wenigen Verse bieten am Ende von Brief und Nachtrag ein kleines Kompendium johanneischer Theologie, das alles, was unverzichtbar scheint, enthält.
c
Schlußmahnung (5,21)
Literatur: Edwards, M.]., Martyrdom and the First Epistle of John, NT 31 (1989) 164171; Hills, J., »Little children, keep yourselves from idols«: 1 John 5:21 Reconsidered, CBQ 51 (1989) 285-310; Ska, J.L, »Petits enfants, prenez garde aux idoles«. 1 Jn 5,21, BB Athanasius, Contra Arianos 4,26 (508C PG 26). B9 Arnbrosius, De fide I 17,117 (50,73f CSEL 78): Verum Iohannes filium dei et verum
deum dicit. Augustinus, Contra Maxirninum 1,5 (748 PL 42); TI 14,3 (772); 23,5 (800); Collatio cum Maximino 14 (721 ebd.); Contra sermonem Arianorum 1 (683 ebd.). 91 Faustinus, De fide contra Arianos 2,lH 90
= De trinitate 26f (325f CChr.5L 69); PS.-Vigilius, Contra Varimadum Arianum 1,25.34. 65f (37,8f; 45,13-16; 74,8f; 76,48 CChr.SL 90). 92 Düsterdieck TI 451: »Und so möchte am Ende die vermeintliche orthodoxe Auslegung als eine wahre Heterodoxie erscheinen«; Salvoni* 57: »una formulazione con sfumatura monarchiana«.
341
l]oh 5,21: übersetzung, Analyse, Erklärung
NRTh 101 (1979) 860-874; Stegemann, E., »Kindlein, hütet euch vor den Götterbildern!« Erwägungen zum Schluß des 1. Johannesbriefes, ThZ 41 (1985) 284-294; Suggit, ].N., I John 5:21: TEKNIA, IPYAAEATE BAYTA AIIO TON BIAQAON, JThS NS 36 (1985) 386-390; Taeger, Johannesapokalypse 195-199. 21
Kinder, hütet euch93 vor den Götzen!94
Die Anrede mit »Kinder« nimmt die übliche Form der Kontaktherstellung aus dem Analyse Briefkorpus auf (2,1.12.28; 3,7.18; 4,4), während c:puMOOELV (vgl. Joh 12,25.47; 17,12) im 1Joh nur an dieser Stelle begegnet. Im Unterschied zu 18e (»ihn bewahren«) steht hier ein Reflexivpronomen (»sich hüten«). Rückschlüsse von hier nach dort sind deshalb nicht zwingend. Eine Kontexteinbindung ist unmittelbar nicht zu erkennen, sie ergibt sich aber u.u. auf traditionsgeschichtlichem Wege, wenn wir 1Thess 1,9b zur Hilfe nehmen95: »... wie ihr euch hingewandt habtzu Gott weg von den Götzen (c'mO .Wv EtöwAroV), um dem lebendigen und wahren (aAT\ihv@ Gott zu dienen«. Die Gedankenverbindung wird demnach assoziativ zwischen dem wahren Gott in V. 20 (dreimal aATl'thv6C;) und den Götzen in V. 21 hergestellt. Sie ist in der jüdisch-hellenistischen Bekehrungsliteratur vorgeprägt: Aseneth, die »tote und stumme Götzen verehrt hat« und »von den Opfern der Götzen« aß aosAs 11,8f), will sich hinwenden zum Gott der Hebräer, der »wahrer Gott ist« aosAs 11,10). Unvermittelt taucht mit der Warnung vor den Götzen ein Thema auf, das im Erklärung voranstehenden Schreiben durch nichts vorbereitet zu sein scheint (auch das Wort EiöooAoV kommt bei Johannes sonst nicht mehr vor). Die Lösungsvorschläge96 kreisen um den Begriff »Götzen«. Vielfach wird versucht, ihm einen metaphorischen Sinn zu verleihen. Neuerdings mehren sich daneben wieder die Stimmen, die an der wörtlichen Bedeutung festhalten und damit eine bestimmte historische Einordnung verbinden. Abgeleitet von l&:iv, »sehen«, nimmt EiöooAOV, das zunächst »Bild«, »Abbild« EiöooAOV bedeutet, im klassischen Griechisch eine negative Färbung an97• Das Wort wird gebraucht, wo es einen Seinsverlust anzuzeigen gilt. Homer benutzt es, wenn er von den Schattenbildern der Abgeschiedenen in der Unterwelt spricht (Od 11,476). Bloßer Schein, Trugbild, Phantom, Gespenst - diese Bedeutungslinie übernimmt die LXX, wenn sie die heidnischen Götzen, die eine wesenlose Existenz führen und in leblosen Bildern verkörpert sind, als E'iöooAU klassifiziert. Alle anderen Belege im NT für das Grundwort EiöooAov (vgl. nur 1Kor 8,4; 10,19; 12,2) und davon abgeleitete Vokabeln wie Götzen93 fama ist im Genus an "tEXVLa angeglichen; !C 2 A u.a. ändern in Ea1J"tOiJ~ 94 Der Mehrheitstext schließt mit liturgischem Brauch entnommenem »Amen«. Teils wird hier erst als subscriptio der Titel geboten, vgl. Wettstein II 345; Thiele, VL 26/1, 381; s.o. Anm. 1 zu 1Joh 1,1-4. 95 Zum folgenden T. Holtz, Der erste Brief
an die Thessalonicher, 1986 (EKK 13), 54-61; Hills· 298-301 (vergleicht u.a. noch Dan 5,4; 6,27; Tob 14,6; Apg 14,15). 96 Brown 627f listet zehn auf, die aber z.T. kein eigenständiges Profil gewinnen. 97 Vgl. dazu neben den Lexika noch Suggit· 387f.
342
Schlußmahnung (5,21)
tempel (lKor 8,10), Götzendienst (Gal 5,20) und Götzenopferfleisch (Apg 15,29) basieren auf dieser Sprachkonvention und verstehen e'(öwA.OV wörtlich 98 . Eine metaphorische Bedeutung hat Nauck aus der frühjüdischen Literatur zu eruieren versucht. Sein erster Beleg, TestRub 4,5f, gehört keinesfalls hierher99: »Darum, meine Kinder, beachtet alles, was ich euch auftrage, und ihr werdet nicht sündigen. Denn ein Verderben der Seele ist die Unzucht. Sie trennt von Gott und führt zu den Götzen (ELÖWAa) hin.« Daß Unzucht und Götzendienst zusammengehen, weiß das AT sehr wohl, aber wenn überhaupt, dann dient Unzucht als Metapher für den Götzendienst, nicht umgekehrt. Etwas günstiger sieht es in den Qumranschriften aus. Ez 14,3f setzt den Fall, daß jemand »seine Götzen in sein Herz schließt und diesen Anstoß zur Verschuldung vor sich hinstellt«. Daraus macht die Gemeinderegel: »Verflucht sei der, der mit den Götzen seines Herzens übertritt, wenn er in diesen Bund eintritt und den Anstoß seiner Sünde vor sich hinstellt, um dadurch abtrünnig zu werden« (lQS 2,11f); er soll »ausgerottet werden aus der Mitte aller Söhne des Lichtes, weil er abtrünnig geworden ist von Gott durch seine Götzen und den Anstoß seiner Sünde« (lQS 2,16f)1oo. Hier kann man mit einigem Recht fragen, ob »die Götzen seines Herzens« als Bild für die falsche Gesinnung dienen, für mangelnden Umkehrwillen und den daraus resultierenden Abfall. In 4QFlor 1,17 werden die Götzen aus Ez 37,23 auf die Gegner der Gemeinde gedeutet: »Dies sind die Söhne Zadoqs und die Männer ihres Rates«. Es zeichnen sich Möglichkeiten einer übertragenen Verwendung ab, die aber im Kontext durch Zusätze, durch Deuteelemente o.ä. kenntlich sein muß.
Von da aus gelangt Nauck zu seiner These: »Die Schlußmahnung besagt nichts anderes als: Hütet euch vor der Sünde!«lOl Die Sünde schlechthin aber besteht im Abfall vom anfänglichen Glauben und in der Trennung von der Gemeinde. Das erlaubt es, so meint man, die Götzen aus V. 21 noch präziser mit den Sezessionisten zusammenzubringen 102. Ihr falsches Gottesbild, ihre falsche Christologie, ihre ethische Indifferenz, ihre Neigung zur Welt, kurz gesagt alles, was ihre Position ausmacht und den endgültigen Bruch provozierte, fasse der Briefautor am Schluß mit der Chiffre »Götzen« zusammen. Er warne seine Leser noch einmal ausdrücklich, den Gegnern Gehör zu schenken. Sonst bestehe die Gefahr, daß sie sich doch noch von deren selbstgemachten Götzen in die Irre führen lassen. Vergleichbar sei im Briefkorpus die Kennzeichnung der Gegner als Antichristen (2,18), als Teufelskinder (3,10) und als Falschpropheten (4,1). 98 Widersinnig Smalley 309: »the literal use of the term EtöWÄoV is in fact comparatively rare in the NT«. 99 Richtig Schnackenburg 292 Anm. 3. 100 Vgl. CD 20,9f; 1QH 4,18f; weniger eindeutig 1QS 4,5; 1QH 4,15. 101 Tradition 137. 102 Balz 204; Ska* 868f; Brown 629.641. Ei-
nen speziellen Seitenhieb gegen die doketische Christologie der Gegner (das irdische und leibliche Sein Jesu als bloßes Trugbild) erkennt Suggit* 389. Vom Lösungstyp her schon Bisping 378: »die selbstgemachten Vorstellungen und unwahren Gedankenbilder der damaligen gnostischen Irrlehrer«.
l]oh 5,21: Erklärung, Wirkungsgeschichte
343
Bedenken gegenüber dieser Interpretation lassen sich aber nicht unterdrükken. Solange ein Text keinen eindeutigen Fingerzeig dafür bietet, daß er metaphorisch gelesen sein will, empfiehlt sich ein wörtliches Verständnis103 , für das in unserem Fall auch traditionsgeschichtliche Erwägungen (s. die Analyse) sprechen. Daß »Götze« ohne jede weitere Angabe schon zur festen Metapher für Sünde, Abfall und Spaltung geworden sei, wird man auch angesichts der Qumranbelege nicht ernsthaft behaupten können, und eine ad hoc geschaffene Metaphorik sollte auch im johanneischen Schrifttum, das zugegebenermaßen zu einer symbolgeladenen Sprache neigt, besser vorbereitet sein. Die Auslegung bringt sich selbst in Zugzwang, wenn sie V. 21 um jeden Preis mit dem Briefkorpus harmonisieren will. Das geht nicht ohne Gewaltsamkeiten ab, und das Unbehagen darüber kommt dem Versuch entgegen, den Nachtrag 14-21 vom Brief abzulösen und in einer anderen Situation zu lokalisieren. V. 21 kann man dann ohne Schwierigkeiten wörtlich auffassen: Die johanneischen Christen sehen sich zunehmend Druck aus ihrer heidnischen Umwelt ausgesetzt. Die Gefahr, daß manche dem nachgeben, vor einem Götterbild opfern oder sich in anderer Weise am heidnischen Kult wieder beteiligen, ist nicht von der Hand zu weisen. Das wäre in den Augen des Verf. aber die Sünde zum Tode aus V. 16, der nicht wiedergutzumachende Rückfall in das Heidentum104. Einen Brückenschlag zur Gegnerfrage kann man in anderer Weise vornehmen. Nach der Offb, wo E'(OOOAOV in 9,20 ein weiteres Mal vorkommt und in den Lasterkatalogen Götzendiener aufgeführt werden (21,8; 22,15), gibt es in christlichen Gemeinden Gruppen, die sich zum Essen von Götzenopferfleisch befähigt fühlen (2,14.20). Daß christliche Gnostiker ohne Bedenken Opferfleisch verzehren, wissen wir aus späteren ZeugnissenlOS. Die Gegner aus dem Briefkorpus mit ihrer Nähe zur Welt (4,5) und ihren - in der Zwischenzeit verstärkten? - gnostischen Neigungen könnten zu denen gehören, die eine äußerliche Beteiligung am heidnischen Kult für ungefährlich halten. Für den Verf. von V. 14-21 bedeutet das aber potenzierten Abfall vom wahren Glauben. Davor warnt er seine Leser, aus diesem Grund aktualisiert er die Gegnerpolemik aus den vorangegangenen Kapiteln. Vermutlich ruft er auch ganz bewußt wieder Erinnerungen an den Anfang wach, an die Taufunterweisung, in der die Forderung nach Abkehr von den Götzen ihren Ort hatte.
v.
Da sich V. 21 in der Väterzeit dazu anbot, die notwendige Abgrenzung zum Heiden- Wirkungsturn einzuschärfen, nahm man die Stelle z.T. einfach wörtlich. Tertullian legt sie so geschichte aus: Johannes »spricht nicht von der Götzenverehrung, gleichsam ihrem Dienst, son103 Wörtlich verstehen V. 21 von den älteren Auslegern Ross 235 (z.T.); Windisch 136; Plummer 129 (verweist auf die Götterkulte in Ephesus, dem Abfassungsort des Schreibens und vergleicht Apg 19,23-41); Calmes 92; neuerdings auch Hills* (aber mit problematischer Gesamtkonstruktion).
104 Vgl. Wengst 225 (mit Rekurs auf Plinius, Ep X 96,5f); Schunack 106; Taeger*; mit weiter reichender Intention Stegemann* 288f und Edwards*. 105 Justin, Dial 35,1.6; Irenäus, Haer I 6,3; 28,2; Eusebius, Hist Eccl IV 7,7.
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Exkurs 5: Frühkatholizismus im lJoh?
dem von den Götzen, d.h. von ihrem Bild selbst«. Er will damit sagen, daß schon im Vorfeld des eigentlichen Götzendienstes alle Kontakte ängstlich zu meiden sind 106 . Aber daneben gibt es auch schon jene Erklärung, die von den Götzen eine Verbindungslinie zu den Antichristen und Falschpropheten im Briefkorpus zieht und falsche Ideen und Irrlehren darunter versteht: Haec ergo, quae ita depinguntur seu plantantur in mentibus falsae scientiae doctrina, non frustra quilibet idola vocatl° 7• In der Neuzeit wurde V. 21 in einen konfessionell bestimmten Streit um die Bilderverehrung hineingezogen10B, dies nun mit Sicherheit gegen Wortlaut und Intention des Textes.
Zusammen- Der IJoh lebt von starken, unversöhnlichen Gegensätzen. Auch der Schlußfassung appell führt erneut mitten in einen solchen Gegensatz hinein, wenn er dem Bekenntnis zum wahren Gott in V. 20 eine letzte paränetische Warnung vor den Götzen folgen läßt. Nicht als ob die Götzen eine echte Bedrohung oder Herausforderung des wahren Gottes darstellen würden. Ihr ontologischer Status ist, wie der Wortgebrauch seit Homer und Platon ausweist, durch Seinsverlust bestimmt. Aber sie bilden in der heidnischen Umwelt einen festen Bestandteil der sozialen Realität. Ihre Feste und Riten entfalten eine eigentümliche Faszination. Die Teilnahme daran gilt als Ausweis der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Hier liegt eine Gefahr, der Christen erliegen können, sei es unter schweren Pressionen, sei es durch Unterschätzung der tatsächlichen Bedeutung von äußeren Formen. Der etwas überraschende Schlußvers steht so doch in Einklang mit einem Hauptanliegen des Schreibens, das zu einer überzeugenden Darstellung des gottgeschenkten neuen Seins in den Lebensbedingungen der alten Welt verhelfen will.
Exkurs 5: FTÜhkatholizismus im l]oh? Literatur: Bartsch, C, »Frühkatholizismus« als Kategorie historisch-kritischer Theologie. Eine methodologische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Berlin 1980 (Studien zu jüdischem Volk und christlicher Gemeinde 3); Black II, CC, The Johannine Epistles and the Question of Early Catholicism, NT 28 (1986) 131-158; Böcker, T., Katholizismus und Konfessionalität. Der Frühkatholizismus und die Einheit der Kirche, 1989 (APPR NF 44); Fuller, R.H., Early Catholicism. An Anglican Reaction to a German Debate, in: Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie (FS E. Schweizer), Göttingen 1983, 34-41; Hahn, F., Das Pro-
Tertullian, De corona 10,8 (1055,46-49 CChr.SL 2); vgl. noch Augustinus, Ep 102,19; Ps.-Augustinus, Liber de divinis scripturis 44 (494,12f CSEL 12). 107 Didymus 83; vgl. Glossa 704D: custodite vos a doctrinis haereticorum; weiteres bei Ska* 872f. 108 Schon Calvin 376: Zu Unrecht beschränken die Katholiken den Vers auf heidnische Götterbilder; er gelte überall, wo Gott 106
»eine körperliche Gestalt« zugeschrieben wird und man »Statuen und Bilder zur Verehrung« errichtet; dann Braune 130: »so heute vom Marienkultus«; bes. heftig Candlish 570-572 (lesenswert); dagegen a Lapide 625f, der die philologische Grundlage dieser Deutung angreift: Sie arbeite mit dem offeneren Begriff imago anstelle des simulacrum der Vulgata.
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Problemstellung
blem des Frühkatholizismus / Frühkatholizismus als ökumenisches Problem, in: ders., Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch. Gesammelte Aufsätze 1, Göttingen 1986, 39-56/57-75 (= EvTh 38 [1978] 340-357/ Cath[M] 37 [1983]1735); Luz, u., Erwägungen zur Entstehung des »Frühkatholizismus«, ZNW 65 (1974) 88-111; Neufeid, K.H., »Frühkatholizismus« - Idee und Begriff, ZKTh 94 (1972) 1-28; deTs., Frühkatholizismus - Woher?, ZKTh 96 (1974) 353-384; deTs., Frühkatholizismus - systematisch, Gr. 62 (1981) 431-466; Schulz, S., Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus, Stuttgart 1976, 239-249; Schürmann, H, Auf der Suche nach dem »Evangelischkatholischen«. Zum Thema »Frühkatholizismus«, in: Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg 1981, 340-375; StreckeT 348-354. 1 Ein Kommentar in einem ökumenischen Gemeinschaftswerk kann am Stichwort Frühkatholizismus109 im Zusammenhang mit den ]ohannesbriefen nicht achtlos vorübergehen, obwohl es, das sei von vornherein nicht verhehlt, für das Verständnis der Texte in ihrer historischen Situation und auch in ihrer Nachwirkung wenig einträgt. Die Zuordnung der Spätphase des johanneischen Schrifttums zum Frühkatholizismus steht dazu noch in einem seltsamen, kaum wirklich wahrgenommenen Kontrast zu der Konstatierung extrem sektiererischer Tendenzen der johanneischen Gemeinde zur Zeit der Briefe (s. Exkurs 3b). Zwar gibt es dafür geographische Gründe: Die Sektentypologie wird vor allem in der amerikanischen Exegese verwendet, die ihr eine soziologische Füllung gibt; die theologisch belastete Kontroverse um den Frühkatholizismus erweist sich von der Außenperspektive betrachtet als eine »(mainly) German debate«l1O. Aber die Beobachtung mahnt auch erneut zu mehr Vorsicht bei der Rückprojektion unserer modernisierenden Terminologie auf das frühe Christentum. Eine frühkatholische Sekte erinnert in der Begriffsbildung fatal an ein hölzernes Eisen. 2 Daß wir, wenn wir uns auf dieses Thema einlassen, kein reines Scheingefecht führen, mögen die folgenden Äußerungen belegen: Für Haenchen gehört der l]oh »tatsächlich viel tiefer in den Frühkatholizismus hinein als die paulinischen Pastoralbriefe«, weil in 3,20-22 die guten Werke aufgerechnet würden gegen die Sündenll1 . An der gleichen Stelle setzt Braun ein, der zu »das ihm Wohlgefällige tun« in 3,22 fragt, ob hier nicht »ein für den Frühkatholizismus typischer, bezeichnenderweise in spätjüdischer Terminologie erfolgender Rückfall in spätjüdischen Nomismus vorliegt«112. Exzessiv wie das ganze Buch fällt die Stellungnahme von Schulz aus: Im l]oh und in der Evangelienredaktion vollzieht sich der »Katholisierungsprozeß der dualistischen Theologie des ursprünglichen ]ohannesevangeliums«; Erben sind die »Erlösungsaskese des Mönchtums« und die »Kleriker-Hierarchie der römisch-katholischen, orientalischen wie orthodoxen Konfessionskirchen«113. Als einer der Begründer der neueren Frühkatholizismusthese entdeckt Käsemann die fragliche Erscheinung nicht auf Seiten des Briefautors, den er der Gnosis zuschlägt, wohl aber auf Seiten seiner durch Diotrephes im 3]oh personifizierten Gegner114• 109 Umfassende Angaben zu Lit. und Forschungsstand bei Böcker*. 110 Fuller* 35. 111 Haenchen, Literatur 277. 112 Braun, Literar-Analyse 226; vgl. 215;
einschränkend der Schlußsatz 242. Schulz* 240.245. 114 Käsemann, Ketzer (s. S. 40, Anm. 111) 182.184.186f. 113
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Exkurs 5: FTÜhkatholizismus im lJoh?
3 Der Begriff des Frühkatholizismus scheint erst um 1910 von Ernst Troeltsch in die Debatte eingeführt worden zu sein. Er wollte damit möglichst wertfrei die unumgängliche Entwicklung der christlichen Anfänge zu einer sozialen Organisation benennen1l5. Damit verband sich aber rasch ein viel älteres kontroverstheologisches Sachanliegen, das es mit der Suche der Konfessionen nach ihrer eigenen Identität an den Ursprüngen zu tun hat. Als frühkatholisch werden - auch in den oben zitierten Stellungnahmen zum IJoh - »weithin Eigentümlichkeiten in Verkündigung und Leben der >frühen Kirche< ... bezeichnet, die in den Kirchen der Reformation als abwegig gelten«1l6. Das blieb vom protestantischen Schriftprinzip aus gesehen solange noch relativ harmlos, als man das Umkippen zum Frühkatholizismus ins 2. Jahrhundert verlegen und mit der Hellenisierung des Christentums (Harnack) oder mit der Institutionalisierung von Bischofsamt und Kirchenrecht (Sohm) zusammenbringen konnte. Das ändert sich in dem Moment, wo man frühkatholische Elemente im Neuen Testament entdeckt und sie immer weiter zurückverfolgt, bis sie schließlich selbst die Paulusbriefe zu ergreifen drohen. Vor dieser Folie wird das polemische Buch von Schulz" mit seinem Insistieren auf einer (zu) eng gefaßten paulinischen Rechtfertigungslehre als Mitte der Schrift verständlich. Es gleicht in manchem dem verzweifelten Umsichschlagen eines Ertrinkenden. Daß es dennoch nicht repräsentativ ist, zeigen andere protestantische Stimmen, die sich um eine Versachlichung der Diskussion und um die dringend fällige Begriffsklärung bemühen117• Auf katholischer Seite sollte man sich im übrigen davor hüten, aus dieser Lage einen billigen apologetischen Zugewinn herausschlagen zu wollen. Dazu ist die grundsätzliche Fragestellung, die tief in die Fundamente von Schrift-, Traditions- und Kanonsverständnis hineinreicht, zu ernst. Echte Fortschritte sind - mit Schürmann" - nur zu erzielen, wenn es gelingt, zu dem Evangelisch-Katholischen und Katholisch-Evangelischen vor allen Konfessionalismen durchzustoßen. 4 Wir müssen uns hier strikt auf IJoh beschränken. Aber auch dafür brauchen wir eine ungefähre Vorstellung dessen, was frühkatholisch sein soll, um es in einem weiteren Schritt mit dem Text zu konfrontieren. Black hat aus der Literatur eine auf die Johannesbriefe zugeschnittene Liste erstellt, die wir in adaptierter Form aufnehmen wollen1l8. Charakteristika des Frühkatholischen sind demnach: 1. autoritative Interpretation von Tradition auf Kosten des freien Wirkens des Geistes; 2. Sammlung apostolischer Literatur; 3. Prinzip der apostolischen Sukzession; 4. hierarchische statt charismatische Gemeindeorganisation, feste Ämter; damit zusammenhängend 5. Entwicklung des Monepiskopats und 6. Unterscheidung von Klerus und Laien; 7. statisch-objektive statt dynamisch-subjektive Definition des Glaubens, Orientierung an der Glaubensregel; 8. Gegensatz von Orthodoxie und Häresie, wobei die Häresie im wesentlichen mit der frühen Gnosis gleichzusetzen ist; 9. Betonung der Ethik mit Legalismus und Moralismus als Folge; 10. Streben nach Konsolidierung und Einheit der Kirche; 11. Sakramentalismus, Kirche als Heilsanstalt; 12. Zurücktreten der apokalyptischen Eschatologie und der Parusieerwartung. - Wenn man eine Zusammenfas-
Vgl. Neufeld" (1981) 438-444; zur Grundlegung in der Sache bei F.C. Baur, auf den wiederum E. Käsemann in seinen für die neuere Diskussion initiativen Beiträgen zurückgreift, vgl. Bartsch" 63-66 und passim. 116 Schürmann" 340. 115
117 Vgl. bes. Luz" und Hahn"; eine weit ausgreifende methodologische Reflexion bei Bartsch". 118 Black" 132 und die damit nicht ganz kongruente Durchführung 133-155.
Merkmale, Anwendung, Resultat
347
sung wagen will, könnte sie lauten: Institutionalisierung der Kirche mit allen Folgen für Amt, Tradition, Bekenntnis und Sakrament im Abwehrkampf gegen die Gnosis. 5 Strenggenommen sollten nun alle diese Punkte einer eingehenden exegetischen Prüfung anhand des 1Joh unterzogen werden. Am Ende eines umfangreichen Kommentars dürfen wir uns aber mit einigen globalen Hinweisen begnügen. Man erkennt ja sofort, daß die ganze Liste sich keinesfalls auf den 1Joh anwenden läßt und das Urteil von Fall zu Fall anders aussehen wird. 1. Eine Orientierung an der Tradition, an dem, was »von Anfang an« war, liegt im 1Joh vor, aber daß sie auf Kosten des Geistes geschieht, kann man schwerlich behaupten. 2. Schon das Wort »apostolisch« trifft das Selbstverständnis des johanneischen Kreises nicht, wird doch fut6m;oA.o~ lediglich in Joh 13,16 und dort aufreizend beiläufig verwendet. Das Interesse am Johannesevangelium erfüllt noch nicht den Tatbestand einer Sammlung apostolischer Schriften. 3. Einen modifizierten Sukzessionsgedanken kann man mit dieser Einschränkung an 1Joh 1,1-4 festmachen; die Sukzession geschieht im Kontinuum der johanneischen Schule. 4. Daß die Gemeindeverfassung des 1Joh hierarchisch gewesen sei, mit ausgebauten und theologisch qualifizierten Ämtern bis hin zum 5. Monepiskopat, muß rundweg ausgeschlossen werden. 6. Stellen wie 2,20.27 widersprechen jeder Aufteilung in Klerus und Laien. Ein Kernbestand dessen, was in allen Definitionen zum Frühkatholizismus gehört, entfällt damit. 7. Die Bekenntnisformeln tendieren auf eine Glaubensregel hin, aber wie will man entscheiden, ob der Glaube selbst schon seine Dynamik verloren hat? 8. Am nächsten an den Frühkatholizismus reicht sicher die polemische Grundausrichtung des Schreibens heran, das einen zur Gnosis hin offenen Alternativentwurf des Christlichen mit aller Kraft als häretische Fehlform bekämpft. 9. Die christliche Ethik ist dem Briefautor wichtig, aber er konzentriert sie in dem Gebot der geschwisterlichen Liebe. Im einzelnen kommt viel auf die Auslegung an. Wer 3,20-22 anders auslegt (s.o. im Kommentar) als Haenchen und Braun, wird darin keinen spätjüdisch-frühkatholischen Nomismus und Legalismus entdecken können. 10. Konsolidierung und Einheit der Restgemeinde lautet das Ziel im 1Joh; die Universalkirche liegt noch außerhalb des Horizontes. 11. Selbst wenn man die Wiederverwendung von Materialien aus der Taufkatechese zugesteht und 5,6-8 was umstritten ist - sakramental deutet, rücken die Sakramente deswegen noch nicht in den Mittelpunkt. Von Sakramentalismus kann hier keineswegs die Rede sein. 12. Die Eschatologie stellt uns vor den paradoxen Befund, daß 1Joh apokalyptische Züge samt der Parusieerwartung neu betont, sich gerade dadurch aber dem gemeinchristlichen Gesamtbild nähert. Hier bedarf offensichtlich schon die Ausgangsposition einer dringenden überprüfung. 6 Der Ertrag fällt so mager aus, daß man den 1Joh nicht einfach unter der Rubrik »frühkatholisch« ablegen kann. Nimmt man die inhärenten Probleme des immer noch nicht völlig geklärten Begriffs des Frühkatholizismus hinzu, wird man eher dazu neigen, auf seinen Gebrauch in Verbindung mit dem 1Joh zu verzichten. Das ökumenische Potential des Schreibens wird durch das irreführende Etikett nicht freigesetzt, sondern verstellt.
Ausblick
1
Zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte
Rein quantitativ gesehen ist der Stellenwert des 1Joh in der Kommentarliteratur von den Tagen der Alten Kirche bis in die frühe Neuzeit nicht gerade überwältigend1, auch wenn man bedenkt, daß längst nicht alles erhalten blieb. Aber dafür finden sich unter dem Vorhandenen ausgesprochene Höhepunkte. Einen davon stellen die Homilien dar, die Augustinus dem Schreiben Augustinus widmete. Mit sicherem Blick erkennt er als Hauptinhalt die Liebe: Locutus est multa, et prope omnia de Caritatil. Den historischen Kontext seiner Ausführungen bilden das donatistische Schisma und der Kampf um die kirchliche Einheit Es herrscht gewissermaßen eine Strukturanalogie zwischen der Situation des biblischen Textes und der Situation des Auslegers, die dem Auslegungsvorgang besondere Tiefe verleiht. Die Erklärung des 1Joh durch Martin Luther geht auf Vorlesungen zurück, Luther die er 1527 dreimal wöchentlich in Wittenberg hielt, in persönlich wie kirchenpolitisch äußerst bedrängter Lage: In Wittenberg war die Pest ausgebrochen, der die Ehefrau seines getreuen Gehilfen Rörer während des Vorlesungszyklus erlag. Luther litt an seiner schwersten Depression. Die Spaltung im protestantischen Lager ließ sich nicht mehr überbrücken. Der Sacco di Roma im gleichen Jahr weckte apokalyptische Ängste. Kein Wunder, daß Luther mit den Worten beginnt: »Satan ficht uns allenthalben an«3. Man kann förmlich miterleben, wie all diese Faktoren in die Beschäftigung mit dem Schrifttext hineinspielen, wie aber auch das Wort der Schrift als Trost und Hilfe erfahren wird4 . Zu einer grundsätzlichen Reflexion haben Luther die schwer zu vereinbarenden Aussagen des Briefes über Sünde und Sündlosigkeit gezwungen5. Zwar kann er zu 2,1 problemlos erklären, das Wunderbare bestehe gerade darin, daß ein und derselbe Mensch zugleich heilig sei und sündige6. Das berühmte,
1 Staab, Katenenkommentare 553, bemerkt zu den Katholischen Briefen allgemein: Sie hatten »in der alten Exegese das gleiche Schicksal wie so manches stille Blümlein, das verborgen im Grase blüht, während Rose und Lilie von allen bewundert werden«. 2 Augustinus 104.
Luther 599. Ebd. 600: consolatione plenissima Epistola. 5 Zum folgenden Posset, Christology 232243.282f. 6 Luther 635: quod idem homo sit sanctus et peccet. 3
4
350
Frühe Neuzeit
19. Jahrhundert
Gegenwart
Ausblick
an Röm 7 gewonnene simul iustus et peccatorwäre damit gewahrt. Aber 1Joh 3,9 macht Schwierigkeiten. Hier sagt Luther nun rundheraus, daß es keine Gleichzeitigkeit geben kann zwischen dem Sündigen und dem Gezeugtsein aus Gott: Non stant simul peccare et nasci ex deo? Christus in uns läßt für die Sünde keinen Platz, sie kann mit dem Glauben nicht koexistieren. Diese Sätze sind, so Luther, bisher »von uns vernachlässigt worden, wir haben sie nicht verstanden«8. Sollte der Johannesausleger das Rechtfertigungsgeschehen effektiver gedacht haben als der Pauluserklärer? Gewiß gebunden an Christus und den Glauben, aber doch so, daß der Gerechtfertigte dem Zugriff der Sünde wirksam entzogen und zu einem Leben in Heiligkeit befreit wird? Das kontroverse simul erscheint hier jedenfalls um einiges abgeschwächt. Auch die frühe Neuzeit hält interessante, leider weithin unerforschte Perspektiven bereit. Wer weiß in der Regel schon, daß Fausto Sozzini, das geistige Haupt der Socinianer im 16./17. Jahrhundert, seine antitrinitarische Theologie nicht zuletzt in einem Kommentar zum 1Joh darlegte 9 ? Gerade an 1Joh will er demonstrieren, daß der Lehre von der Göttlichkeit Christi das biblische Fundament fehle, während der Brief ansonsten seit den trinitarischen Streitigkeiten der Alten Kirche gerne für die orthodoxe Position in Anspruch genommen wird. Ähnlich schlägt in Semlers kommentierender Paraphrase, 1792 posthum veröffentlicht, der theologische Rationalismus durch1o. In zeitlichem Abstand wird das Verhältnis von Erkenntnis und Interesse in der Exegese sichtbar, das den Beteiligten - und das heißt auch uns - in der eigenen Gegenwart meist verborgen bleibt. Im 19. und 20. Jahrhundert steigt die Zahl der Kommentare zum 1Joh sprunghaft anl l . Die historisch-kritische Exegese des Briefes hat darin offenbar die ihr gemäße Form gefunden. Aber die Wirkung des 1Joh reicht weit über den damit abgesteckten engen Zirkel hinaus. Der Satz »Gott ist (die) Liebe« aus dem 1Joh wurde zum Markenzeichen der johanneischen Theologie schlechthin. Von der johanneischen Liebesreligion zeigte sich der deutsche Idealismus zutiefst fasziniert 12• Sie schien einen willkommenen Gegenentwurf zu bieten zum dogmatischen Kirchenchristentum. Wir haben die religionskritischen Folgerungen, die Feuerbach daraus zog, kurz angesprochen (s. zu 4,16). Der Grundfehler besteht darin, daß die Liebesthematik von ihrer im 1Joh gegebenen Einbettung in Glaubenssätze losgelöst wird. In der Gegenwart ist es vor allem Eberhard Jüngel, der in eindrucksvoller Weise die Theologie zu entwickeln sucht als konsequente Auslegung des Satzes »Gott ist (die) Liebe«, unter betonter Wahrung des Unterschieds von
7 8
Ebd. 707. Ebd. 706: Illae locutiones sunt nobis neglec-
tae, non intelleximus. 9 S. im Lit.-Verz. unter Socinus; vgl. oben u.a. S. 310; 335, Anm. 74.
Vgl. u.a. S. 36, Anm. 90; 158, Anm. 331; 242, Anm. 635; 335, Anm. 74. 11 S. im Lit.-Verz. unter 2. 12 Vgl. Timm, Geist der Liebe (s. die Lit. zu Exkurs 2). 10
l]oh im Gottesdienst
351
Glaube und Liebe 13• Die hauptsächliche Rückfrage an ihn wäre wohl die, ob er den analogen Charakter der Aussage, die m.E. nicht einfach umgekehrt werden kann und in der Übersetzung besser ohne Artikel bleibt, hinreichend berücksichtigt.
2
lJoh im Gottesdienst
Der eigentliche Ort für die Lektüre des 1Joh ist nicht die Studierstube des Gelehrten, auch nicht der Hörsaal der akademischen Unterrichtsstätte, sondern die gottesdienstliche Feier der christlichen Gemeinde und, davon abgeleitet, die persönliche Schriftlesung der Glaubenden. Was dabei geschieht, entzieht sich jeder Erfassung und Beschreibung mit statistischen Mitteln. Dennoch dürfte eine auf unsere Gegenwart bezogene Bestandsaufnahme (in Auswahl) nützlich sein. Wie und wo wird dieses Wort der Schrift im Gottesdienst laut? Die Leseordnung der katholischen Meßliturgie sieht im Lesejahr B sechs Perikopen Katholische aus 1Joh, nämlich 2,1-5; 3,1-2; 3,18-24; 4,7-10; 4,11-16 und 5,1-6 (eine unglückliche Liturgie Abgrenzung), als zweite Lesung für die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten vor. Der gesamte 1Joh wird jedes Jahr in der Weihnachtszeit vom 27. Dez. (Fest des Evangelisten Johannes) bis zum 12. Jan. gelesen. Das hat sicher mit der theologischen Bedeutung von Joh 1,14 (»und das Wort ist Fleisch geworden«) für den Weihnachtsfestkreis zu tun; 1Joh soll als Kommentar dazu dienen. Zu nennen sind ferner übers Jahr verteilt eine Reihe von Heiligengedenktagen, darunter sinnvollerweise das Fest des hl. Augustinus am 28. August mit 1Joh 4,7-16 als Lesung. Das Stundenbuch schließlich bringt dem Beter in der 6./7. Woche der Osterzeit (erste Jahresreihe von zweien) den ganzen 1Joh nahe. Im Lektionar der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands sind Evangelische Texte aus lJoh Epistellesung der Reihe 11 am 1. und 2. Sonntag nach dem Christfest Leseordnung (1,1-4; 5,11-13), an Jubilate (5,1-4) und am 1. und 13. Sonntag nach Trinitatis (4,16b21; 4,7-12). Eine ökumenische Gemeinsamkeit besteht darin, daß am Fest des Evangelisten Johannes gleichfalls 1,1-4 gelesen wird. Als Predigttexte kommen in der IV. Reihe noch 1,5 - 2,6; 2,21-25; 3,1-6 und in der VI. Reihe 2,(7-11.)12-17 vor, als Marginaltext 3,13-18; 3,19-24. Es fällt auch auf, was bei den Sonn- und Festtagslesungen katholischer- wie evangelischerseits fehlt: 2,18-20 z.B., 4,1-6 und 5,14-21. Will man dem Feiertagspublikum Antichristthematik und Sünde zum Tode ersparen?
In der Ostkirche steht»Johannes der Theologe« in besonderem Ansehen. Für sein Fest Ostkirche am 8. Mai dient auch im byzantinischen Ritus als Apostoloslesung 1Joh 1,1-7. Ansonsten wird 1Joh nur in der Werktagsordnung gelesen, und zwar geschlossen vom Donnerstag der 2. Woche der Vorfastenzeit bis einschließlich Donnerstag der folgenden Woche (mit Ausnahme von Samstag/Sonntag und evtl. anfallenden Festtagen)14. S. S. 263, mit Anm. 711. Freundlicher Hinweis meines Würzburger Kollegen Hans-Joachim Schulz (Ostkir13
14
chengeschichte und Ökumenische Theologie).
352
Ausblick
Es scheint fast, als erstrecke sich die Wertschätzung des Evangelisten nicht in gleichem Ausmaß auf den Briefautor.
Wie auf diesen und anderen Wegen der IJoh in das christliche Leben hinein ausstrahlt, hilfreiche Weisung zu seiner Gestaltung gibt und die Zuversicht des Glaubens stärkt, läßt sich, wie gesagt, nicht wirklich ermessen. Entscheidend ist, daß es geschieht, und daran brauchen wir nicht zu zweifeln.
3
Theologische Gesichtspunkte
Man hat die Theologie des IJoh zu erfassen versucht, indem man sie in das Raster der klassischen Stichworte Gotteslehre, Christologie, Pneumatologie, Ekklesiologie und Ethik einspannte 15 . Sicher hat IJoh zu all diesen Punkten Gewichtiges zu sagen. Besser scheint es dennoch, der inneren Struktur des Schreibens zu folgen und von da aus die theologischen Aussagen zu entwikkeIn. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in diesem Sinn Glaube und Liebe in ihrem spannungsvollen Zueinander als die theologische Mitte des IJoh ansieht16 . Ein Wort- und Bildfeld, das von der Liebe als Leitbegriffbestimmt wird, umschließt den ganzen Brief. Dem Themasatz, daß Gott Liebe ist, ordnen sich zu: die Zeugung aus Gott, die Gotteskindschaft, das Aus-Gott-Sein, das Ineinandersein (Immanenz als Sprache der Liebe), die Anrede Gottes als Vater, die Gemeinschaft mit Gott, auch die Erkenntnis Gottes, insofern ihr Inhalt in der Wahrnehmung der Liebe Gottes zu uns besteht, und die geschwisterliche Liebe zwischen den Glaubenden, die zusammen die Gemeinschaft der Gotteskinder bilden (womit bereits eine wesentliche ekklesiologische Konzeption benannt wäre 17). Ein kritisch-scheidendes Moment kommt mit dem Glauben ins Spiel. Der Glaube gibt Antwort auf die vorangehende Liebestat Gottes in Jesus Christus und ermöglicht so die Schaffung eines neuen Lebensraums, in dem Liebe alle Relationen beherrscht. Dem Schutz des Glaubens dienen das Bekenntnis und das Zeugnis, gestützt auf die Tradition und ihre geisterfüllte Interpretation. Der Geist, als Gabe Gottes zur Vergegenwärtigung seiner Liebe den Glaubenden ins Herz gesenkt, wirkt als innerer Lehrer, als Ausleger der Überlieferung, als Träger des Zeugnisses und als inspirierende Kraft des Bekennens. Das richtige Bekenntnis hilft seinerseits im Konfliktfall bei der Unterscheidung der Geister. 15 S. im Lit.-Verz. die Arbeiten von Bonsirven, Theologie; de Ambroggi, Teologia; Moody, Theology; ~krinjar, Theologia; Ward, Pattern. 16 Vgl. Eichholz, Glaube und Liebe; Thüsing, Glaube an die Liebe; Dalbesio, Aspetti (s.
die Lit. zu 4,13-16). Zur Inanspruchnahme der Bundestheologie als Schlüssel zum 1Joh s. Exkurs 2 (unter 6). 17 Vgl. Klein, Gemeinschaft (s. S. 281, Anm. 774).
Glaube und Liebe
353
Die Notwendigkeit solchen Unterscheidens führt uns zu einigen tiefreichenden Gegensätzen, die nie prinzipiell aufgelöst werden können, sondern im konkreten Fall immer neu auszuhalten sind. Die Liebe möchte grenzenlos sein, der Glaube muß Grenzen setzen, und er setzt sie da, wo Gottes Liebe nicht gläubig angenommen wird, sondern auf Widerstand stößt. Diese Spannung kann dynamisch wirken und kreative Kräfte freisetzen; sie kann aber auch zur Verhärtung und zum Abbruch des Beziehungen führen. Aufhebbar ist sie nicht, denn »zur Wahrheit gehören auch Negationen, und ein Bekenntnis schließt immer auch ein potentielles oder ausgesprochenes Nein zu dem ein, was Christus widerspricht«18. Betroffen ist davon zunächst das gebrochene Weltverhältnis, die WeItabwertung und Weltverneinung, die vielfach als typisch johanneisch angesehen wird. Dabei gilt es aber zu bedenken: Die Welt schreibt sich ihre negative Rolle selbst, sie wurde ihr nicht von Gott aufgezwungen. Der Welt als Schöpfung Gottes gilt das Heilsangebot Gottes, das er in Jesus Christus aufrechterhält. Die Welt als widergöttliche Gegenrnacht entsteht überall dort, wo überlegt und endgültig die Entscheidung gegen Christus fällt. Die christliche Gemeinde darf sich aber nicht in elitärem oder sektenhaftem Bewußtsein zurückziehen und die Welt sich selbst überlassen. Wo sie das tut und sich dafür auf johanneische Texte beruft, muß theologischer Widerspruch angemeldet werden. Allerdings sollen sich Christen, die vor der Welt und für die Welt das Zeugnis des Glaubens ablegen, keinen Illusionen hingeben und sich von feindlichen Reaktionen weder überraschen noch entmutigen lassen. Gefordert sind Realitätssinn und Gelassenheit. Einem Christentum, das allzu weltförmig zu werden droht, werden die Schattenseiten im johanneischen Weltbegriff eine heilsame Warnung sein19. Noch heikler wird diese Grenzziehung, wenn sie mitten durch die Gemeinde verläuft und innerchristlich scheidet zwischen Orthodoxie und Häresie. Auch das geschieht im lJoh, und es wird durchgeführt mit Hilfe eines höchst polemisch gefärbten Vokabulars: Antichristen, Pseudopropheten, Teufelskinder, Brudermörder, dazu als Handlungsfelder lügen, täuschen, im Finstern wandeln, in die Irre führen. Die unerhört harten Töne signalisieren Problemstellen, wo dieser theologische Entwurf an seine eigenen Grenzen stößt. Das Recht, ja der Zwang, um die Wahrheit zu ringen und das Falsche beim Namen zu nennen, bleibt davon unberührt. Der Stil, wie es geschieht, steht der Überprüfung offen. In der Sachfrage selbst kann uns die Kanonsabgrenzung der frühen Kirche, die sich für die Theologie des lJoh ausgesprochen U. Luz, in: C. Link / U. Luz / 1. Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft ... Einheit der Kirche als Prozeß im Neuen Testament und heute, Zürich 1988, 182. 19 Vgl. K. Haacker, Die Stiftung des Heils. Untersuchungen zur Struktur der johanneischen Theologie, 1972 (AzTh V47), 177: »Die 18
heutige Kirche muß sich von Johannes daran erinnern lassen, daß ihre Umwelt immer wieder zu dem werden kann, was außer >Gesellschaft< oder >Öffentlichkeit< unter anderem noch mit dem Begriff l(6a!W~ bezeichnet werden kann: das Kollektiv der Christusfeindschaft.«
354
Ausblick
hat, eine Hilfestellung geben, ohne uns jegliche Entscheidungskompeteriz aus der Hand zu nehmen. Wichtig für das eigene Urteil ist es zu wissen, was eigentlich auf dem Spiel steht. Das scheint in der Kontroverse, die sich im lJoh spiegelt, nichts weniger als die Bindung des Glaubens an das Vorgegebene gewesen zu sein: an die unüberholbare Gestalt Jesu von Nazaret in seinem Menschsein unter Einschluß des Kreuzestodes, an die geschichtlich kontingente Vermittlung dieses Ereignisses durch die Tradition, an die eigenen Lebensbedingungen und den eigenen Erfahrungshorizont, die den Ort für die Bewährung des Glaubens abgeben. So sehr das verteidigt werden muß, so sehr ist auch Trauer angebracht, daß es darüber zur Spaltung kam und zur Trennung von den Schwestern und Brüdern, die anderer Meinung waren. Der lJoh nimmt viel von dem vorweg, was sich im Verlauf der späteren Kirchengeschichte immer wieder vollzog. Nicht ohne Grund haben Ausleger wie Augustinus und Luther (s.o.) darin ihre eigenen Schwierigkeiten mit Kircheneinheit und Kirchenspaltung wiedergefunden. Auch im Rückblick ist noch einmal herauszustellen, daß der lJoh im Unterschied zu anderen frühchristlichen Entwicklungslinien trotz dieser Widrigkeiten das Heil nicht im Rückzug auf eine festzementierte Amtsstruktur sucht. Nicht amtliche Autorität garantiert den richtigen Christusglauben, sondern das Wirken des Geistes als innerer Lehrer in den Herzen aller Glaubenden. Darin besteht die Einheit und die Gemeinschaft der Gotteskinder. Von diesem mutigen Beharren auf einer theologisch faszinierenden, in der Realisierung nicht ganz einfach zu handhabenden Position wäre für heutige Verhältnisse manches zu lernen. Dann würde sich Kirche nicht so einseitig von der Hierarchie her definieren, wie das trotz aller beschwichtigenden Gesten faktisch oft und in Krisenzeiten sogar verstärkt geschieht. Die eigentliche theologische Größe des lJoh macht aber das Nachsinnen über das Geheimnis der göttlichen Liebe aus, zumal diese Reflexion nie ins Abstrakte entschwebt. Ganz im Gegenteil, vom Briefprolog an begleitet uns ein Ernstnehmen der Lebenswirklichkeit, ein Streben nach Bodenhaftung. Dem Christusgeschehen eignet in seiner Leibhaftigkeit etwas Handfestes, und genauso handfest muß die göttliche Liebe im täglichen Umgang miteinander aufscheinen. Es ist nicht zu weit hergeholt und nicht zu kühn, wenn man in dieser Theologie eine inkarnatorische Grundkomponente entdeckt, die auf christliche Formen der Weltbewältigung drängt. Für alle Gefahren wie Weltverneinung, Gettobildung und Einschränkung der Liebe auf den Binnenraum der Gemeinde, die dem Denken des lJoh gleichfalls inhärent sind, stellt der Brief aus sich heraus die nötigen Korrektive bereit.
Register
Stellenregister (in Auswahl)
1. Altes Testament Gen
4,1-16
191f.203208. 285
JosAs
11,8-10 16,16
341 157
Jub
l,24f 21,11
180 328
4Makk
6,28f 17,21f
107. 327 107
14,5 16,15f 16,30
297829• 302 107f 91
Num
15,30f
328
Dtn
13,1-6 13,13f 19,15
149. 153. 168. 231f 153 299
Hi
22,23-27
222
3. Qumran
Ez
37,26-28
266 724
lQS
Jes
40,30f
135
2Makk
15,13f
103
2,11-17 3,7f 3,13 - 4,26 3,24f 7,22-24 8,1-3
89. 342 92. 300 87f. 242f 337 328 8942
Tob
12,15-20
39. 250 lQH
14,12-26
114
Sir
14,2 23,4-6
218 139
CD
4,15-18
139
5,8 18,21
141 . 103
4. Philo und Josephus
Lev
Weish
TestLev 8,4f TestJud 3,10 20,1-3 TestGad 4,6 5,3
Philo, Agric Fug
2. A~~hen und Pseudepigrap en 4Esra
7,102-115
327
Her Imm Praem
300f 337 243 210 218
40 55 117 5-7 69 163
271 209 188441 174 741 95
358
Stellen register (in Auswahl)
2,18f VitMos 2,134
82 109115 270 741 . 288 141 104
8,173
252 671
1,75 Sorn Spec Leg 1,97 1,299f
Josephus, Ant
5. Griechisch-römische Literatur
6. Neues Testament Mk
3,28f 8,38 13,22
330 174f 150. 168. 232
Joh
1,1-18
31. 56-60. 64. 74f. 80. 123. 294. 318 57. 133. 142. 176. 181. 278. 285. 320f. 335 61. 65f. 74f. 233. 250. 265. 351 182. 253f. 275 161 9lf. 109. 187. 296 157. 294-297. 313 60-62.66 109. 179. 250253. 259. 279. 315 83. 89f. 125187 . 206 142. 240 193 84. 256. 26lf. 302 260. 292 209-211 312f 168f 257. 260 297. 302 299 222 59. 88f. 139. 161. 191f. 199f. 206f.210 323 88. 127 65. 148. 328f 83. 88. 127 94. 161 83. 124. 233 93. 119. 21lf
1,12f
Dio Chrys., Or
12,60
62 37
1,14
Epictet, Diss
II 4,2-5 II 8,17 II 16,44
7484 163 180416
1,18 1,20 1,29
Ps.-Heraklit, All Horn 59,9
104 90
1,32-34
Lucian, Hist Conscr 29
61
2,11 3,16f
Plotin, Enneaden VI 8,15
249 653
Plutarch, Fab Max 18,3 15 et Os 1 (351E) 54 (373B) Frat Am 3f.6 (479C-480F) Suav Viv Epic 14 (1096C)
107106 65 47 298 832 285f 139
Theognis 979
216 547
Theophrast, Char 23,1-9
140
Xenophon, An VII 4,5
216
Cicero, In Verrem 11 2,154
259
Seneca,Ep
212 524 23 265 142
9,10 33,6f 41,lf Brev Vit 1,1
Tacitus, Agric 45,1
3,19-21
75
3,31 4,14 4,24 4,42 5,24 5,31-40 6,45 6,69 7,37-39 8,17f 8,28f 8,44
9,31 11,9f 11,24f 12,35 12,42f 12,46 13,14f
359
Stellenregister (in Auswahl)
13,34f
101. 113. 12lf. 203. 261 14,6 65. 90. 162 14,9 83. 182 14,23 265f 15,9f 264. 288 15,18f 209f 17,3 166.338 17,2lf 71. 267 19,34 91. 296f. 299303 19,35 68. 74. 257. 299 20,23 93-96.133 20,24-29 61-63. 110. 258. 339f 20,31 31. 284. 318-321 21,17 220
Did
11,7-12 16,3f
23lf 151 292 . 187. 232
EpAp
2
63
IgnSrn 3,2 5,2 6,2
PassFelicPerp 1,5 69 Polyk
3,25 5,5f
91. 108 117.256
1Kor
12,2f.10
231
2Kor
1,2lf
157
Gal
2,9
19
lThess 1,9
338. 341
2Thess 2,1-12
150. 152 306 . 174. 186
Jak
2,15f 5,20
212 326
2Petr
1,16-18
76
Offb
3,21 12,7-9 12,10f
290 150. 168 103
°.
7,1
17. 149 28 200. 234f
8. Nag Hammadi, Gnosis Corp Herrn
Rörn
62 38. 233 602 38. 212
5,2 10,9
63 114135
Manch. Psalrn-Book 268
114135
AJ BG 8502/2 55,8
243
EpJac NHC 1/2 11Af.12f
105f
EV NHC V3 30,27-32
63
TractTrip NHC V5 87,7
259
EvPhil NHC II/3 61,5-10 (§ 42) 61,29-31 (§ 44) 67,27-30 (§ 68) 74,12-15 (§ 95) 77,15-17 (§ 110)
206 182 159 159 94
ExAnNHCIV6 133,34 - 134,33
194
HA NHC II/4 96,35 - 97,3
159
OgdEnn NHC VI/6 62,33 - 63,14
197
PrecHerrn NHC VI/7 64,18f
114136
7. Frühchristliche Schriften ActJoh 93 94
63f 84
ConstAp VII 22,2f 158
360
Stellenregister (in Auswahl)
ParSern NHC VII/l 1,24-26
82 17
2LogSeth NHC VII/2 55,18 - 56,20 59,22-26
38 155
ApePt NHC VII/3 81,15 - 82,2
38
Zostr NHC VIII/l 132,3f 82 16 PreeVal NHC XI/2A 40,30-34
114135
Sachregister
Abschiedsreden 44. 47. 73. 104. 222. 242. 256. 264. 298. 322 AJnt 72. 132. 160. 166. 168-170. 24lf. 258. 347. 354 Anfang (ÖQ"x'1i) 59f. 64f. 121. 133f. 165. 19lf. 203 Anredeformen - Brüder 120166• 207f. 277 - Geliebte 121. 244639• 246. 252f - Kinder 10lf. 131-133. 147. 173. 180. 189443• 238. 341 Antichrist 146. 149-153. 155f. 161. 174. 186f. 191. 228-230. 232. 234. 239 Aramaismen 21. 5819 Augenzeugenschaft 59. 61. 68f. 7577. 257 Auslegungs- und Wirkungsgeschichte (ausgewählte Positionen) - AJnbrosius 76. 309. 331. 340 - Athanasius 340 - Augustinus 19. 95. 105. 128. 136. 140. 143. 169f. 184. 199. 213f. 248f. 276. 289. 33lf. 340. 349 - Beda 15. 71. 7383• 236 - Bellarmin, R. 9666 • 169 - Bloch, E. 184 - Caesar von Arles 119 - Calvin, J. 106. 109f. 115f. 153. 316.344108 - Clemens von Alexandrien 63. 115. 302 - Cyprian von Karthago 71. 99. 128. 308 - Cyrill von Jerusalem 158 - Deutinger, M. 177 - Dionysius von Alexandrien 76. 77 - Feuerbach, L. 262f
-
-
Gelasius I. 332 Gregor der Große 170. 289. 33255 Gregor von Nazianz 110 Gregor von Nyssa 106 Hegel, G. W. F. 264 714 Hieronymus 77. 199. 255667 Hilarius von Poitiers 164 Ignatius von Loyola 170 Irenäus von Lyon 17f. 75f. 235. 237 Johannes von Schoenhoven 143f Jüngel, E. 263f. 350f Kierkegaard, S. 220. 276 Konzilien Ephesus 6751 Karthago 6751 . 99 Konstantinopel 237 Nicaea 87f. 340 Trient 96. 116. 199. 289. 310. 332 Vaticanum I 316 Vaticanum n 170 Leo der Große 237. 309 Luther, M. 546• 128. 153. 220. 316. 349f Maximus Confessor 198f Meister Eckhart 263 708 Newman, J. H. 291 Nietzsche, F. 6648 • 144. 15lf Novatian /S4 Origenes 67. 84. 106. 136241 • 183f. 200. 302. 331 Paulinus von Nola 76 Pelagius 99. 199. 289 Pfister, 0. 272 priscillian 307f Swift, J. 310
362 - Tertullian 98. 158. 163f. 213. 331. 343f - Thomas von Aquin 143. 214 - Vigilius von Thapsus 67 Bekenntnis, bekennen 94f. 160-165. 169. 174f. 228. 232-234. 237-239. 242. 258. 260. 283f. 290. 293. 340. 353 Briefform 30-33. 72. 74. 78. 131. 136. 319 Bund, Bundesformel 87. 95. 114. 122. 163. 168 378. 180. 265f Canon Muratori 18f. 77 Chrisma (Salbung, Gesalbtheit) 156. 160. 167-170. 194. 22M. 246. 299f Comma Johanneum 303-311 Dahingabeformel 108. 211 Doketismus 37-39.41. 64. 237. 295. 301. 342102 Dreizahl 25. 27f. 86. 139. 143. 150. 292. 299f Ephesus 45. 48f. 69f. 349103 EtöroAoV 39. 341-344 Epistola ad Parthos 15f Erkenntnis, erkennen 111. 113-116. 118. 188. 240. 247. 260. 284. 286. 338f Freimut (:Jt
Sachregister
Gericht, richten 172-175. 177.217221. 269-273 Glaube (und Liebe) 210. 224-226. 228. 239. 244. 248. 256. 263. 284. 289-291. 314f. 317. 320. 352. 354 Gnosis 39f. 42. 49. 63f. 82f. 94. 10388• 114-116. 142. 155. 158f. 175. 182. 197. 206. 343 Gottähnlichkeit 178f. 181-185. 199. 270.272f Gotteskindschaft 178-181. 184f. 199f. 278. 321 Gottesschau 178f. 182-185. 188. 253f. 258f. 275 Haustafel
132. 136f
Immanenz 70. 118. 126. 135. 138. 142. 163. 165. 225. 239. 245. 250. 254-256. 260E 264-268. 270. 314E 338f johanneische Schule 45f. 68. 74-78. 102. 230. 233. 257 Johannesevangelium 43-48. 7M. 121. 123. 128. 131. 148. 162 Johannes der Täufer 3588• 42. 57. 68. 73. 187. 294. 313 Judas 154f. 161 352• 206. 333 Katholische Briefe 14f. 18f. 30 Kerinth 19. 3588• 36f. 39. 295 Koinonia, Gemeinschaft 49. 57f. 70f. 73. 75. 78. 87f. 90f. 93. 96. 105. 111. 127. 320 Lasterkatalog 35. 137. 141. 243 Leben (~c.oft etc.) 64-66. 141. 165f. 201. 208-212. 214. 251. 315. 320. 32M. 336 Licht-finsternis-Metaphorik 16. 7985. 87-90. 99f. 123-129. 138. 140. 242f.26lf Liebe Gottes, Gott als Liebe 116f. 129. 138. 142. 177. 179. 213. 221. 226. 244. 247-256. 261-264. 269271
Sachregister
Liebesgebot, Liebe zu den Brüdern und Schwestern 26. 28. 66. 93. lllf. 115. 119-123. 125f. 128f. 135. 200204. 210-214. 217-219. 223-226. 244-249. 252-254. 273-280. 285-288 Liebesgebot, synoptisch 126. 276. 278-280 Lieblingsjünger 41. 68. 77. 121172. 257. 299 Martyrium 68f. 213. 272. 302 Mysteriensprache, -kulte 76. 91 49 . 114. 117152 . 175f. 182. 297830 Paraklet 68. 77. 80. 102-106. 108. 157. 159. 166. 168f. 225. 242. 298f. 327 Parusie 66. 172-174. 177. 179. 269 Polymorphie 37f. 63 Propheten, Falschpropheten 77. 149f. 157. 230-232. 234 Pseudepigraphie 45. 76 Quellentheorien 22-24. 56. 87. 101. 124. 129. 171f. 215. 255 681 Qumran 36. 45. 82. 87. 89. 92. 95. 114. 140. 149283. 186. 242f. 300. 328. 342 Redaktion 22f. 47. 56. 101. 292 822. 318f Rhetorische Analyse 23. 28f. 3584 . 131f Sakramente 6751• 71. 96. 158f. 297f. 300-302. 316 Schisma 32-34.49. 153-155. 213. 279. 353f
363 Sektentypologie 278. 281f Sendungsformel 108. 250f. 255-260. 274 Stunde, letzte 49. 142. 147-149. 234. 269 Sühne, Sühnopfer 91. 95. 104. 106110. 138. 183. 187. 25lf. 296f Sünde, Sündenvergebung, Sündlosigkeit 89. 91-100. 102. 10M. 108110. 133. 185-192. 195-201. 327. 336 Sünde zum Tode 195f. 324-333. 336 OWTI)Q 259f Taufe, Tauftraditionen 60. 87. 101. 121. 123. 133. 135. 157f. 161f. 176. 203. 229. 300. 302. 343 Taufe Jesu 40f. 59. 157. 294-297. 306 Trinität, trinitarisch 28. 249. 263f. 267f. 302f. 305-310. 340. 350 Wahrheit 89f. 98. 122. 160. 217. 298. 315 Wandeln 88. 90. 118f. 127f. 270 Welt, Kosmos 57. 109. 137f. 142145. 181. 208f. 230. 239f. 251. 260. 270. 279f. 282. 288f. 337f. 353 Wir-Form 45. 55. 57. 72-77. 80. 86. 88. 102. 113. 120168. 203. 240f. 257f. 336 Zeugnis, Bezeugung 57. 67-69. 78. 257. 282. 294. 298-300. 306. 311317 Zeugung aus Gott 172f. 175-177. 179f. 193-195. 199f. 247. 28M. 334336