LORENZ OBERLINNER . DIE PASTORALBRIEFE
HERDERS THEOLOGISCHER KOMMENTAR ZUM NEUEN TESTAMENT Begründet von Alfred Wikenhauser t fortgeführt von Anton Vögtle und Rudolf Schnackenburg Herausgegeben von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner
BAND XI/2
DIE PASTORALBRIEFE Erste Folge: Kommentar zum 1. Timotheusbrief
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
DIE PASTORALBRIEFE ERSTE FOLGE
KOMMENTAR ZUM ERSTEN TIMOTHEUSBRIEF Auslegung von Lorenz Oberlinner Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Freiburg i. Br.
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament I hegr. von Alfred Wikenhauser. Fortgef. von Anton Vögtle und Rudolf Schnakkenburg. Hrsg. von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner. - Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder. NE: Wikenhauser, Alfred [Begr.]; Vögtle, Anton [Hrsg.]; Gnilka, Joachim [Hrsg.] Bd. 11,2. Oberlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe. - 1994
Oherlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe: erster Timotheushrief I Auslegung von Lorenz Oberlinner. Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder, 1994 (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament; Bd. 11,2) ISBN 3-451-23224-3
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1994 Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1994 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 3-451-23224-3
INHALT
Vorwort . Literatur.
VII IX
Einführung
XXI
ERSTER TIMOTHEUSBRIEF 1. Die apostolische Zuschrift: 1,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kampf gegen die Irrlehrer und der Auftrag zur Bewahrung des rechten Glaubens: 1,3-20 . . . . . , . . . . . . . . . . . . .. a) Der Auftrag an Timotheus: Kampf gegen Falschlehrer 1,3-7. b) Die Bedeutung des Gesetzes im Lichte des Evangeliums 1,8-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Apostolat des Paulus: Zeichen der Erwählung Christi Jesu und des Retterwillens Gottes 1,12-17 .. . . . . . . . .. d) Mahnung an den Apostelschüler und Warnung vor Abfall 1,18-20. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. DieOrdnungderGemeinde:2,1-3,16 . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Mahnung zum Gebet der Christen für alle Menschen 2,1-7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Das rechte Verhalten von Mann und Frau im Gottesdienst 2,8-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Anforderungen an den Gemeindeleiter (Episkopenspiege1)3, 1-7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Die Anforderungen an die Diakone (Diakonenspiegel) 3,8-13 e) Die Kirche, Säule und Fundament der Wahrheit, und das ihr anvertraute Geheimnis des Glaubens 3, 14-16 . . . . . . 4. Die Auseinandersetzung mit den falschen Lehren: 4, 1-11 .. a) Asketische Forderungen und ihre Zurückweisung 4,1-5 . . b) Der Nutzen der Frömmigkeit 4, 6-11 . . . . . . . . . . . . 5. Anweisungen für das Gemeindeleben und für die Kitchenordnung:4,12-6,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mahnungen zu einem der Berufung entsprechenden Leben und zu treuer Verwaltung der übertragenen Aufgaben 4, 12-16 b) Der rechte Umgang mit verschiedenen Altersstufen 5, 1-2 . c) Der Stand der Witwen 5,3-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 8 22 34 50 62 64 82 109 131 150 171 172 187 200 201 215 219 V
Inhalt
d) Die Stellung der Presbyter 5, 17-22 . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenbemerkungen zum Verhältnis von gegenwärtigem Tun und künftiger Vergeltung 5,23-25 . . . . . . . . . . . . . f) Das rechte Verhalten der gläubigen Sklaven 6, 1-2 . . . . . . , 6. Mahnungen zur Verteidigung und Bewahrung des Glaubens: 6,3-21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Das Urteil über Irrlehrer und die Warnung vor Geldgier 6,3-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mahnung an Timotheus zu Ausdauer im Kampf für den Glauben6,1l-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , c) Vom rechten Gebrauch des Reichtums 6, 17-19. . . . . . . .. d) Abschließende Verpflichtung auf das Wächteramt für den rechten Glauben 6,20-21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
VI
248 260 263 269 271 285 302 308
VORWORT
Die Beschäftigung mit den Pastoralbriefen ruft bis heute zwiespältige Gefühle hervor. In jüngster Zeit ist zwar eine gewisse Entkrampfung in der Beurteilung des Stellenwertes dieser Texte im Zusammenhang des Corpus Paulinum und des Neuen Testaments insgesamt eingetreten. Aufgrund der weiterhin kontroversen Entscheidung in der Beurteilung der Verfasserschaft - Paulus oder ein unbekannter Christ aus nachpaulinischer Zeit werden diese Briefe aber weiterhin mit unterschiedlichen Voraussetzungen angegangen und entsprechend mit unterschiedlicher Zielsetzung ausgelegt. Die Frage nach Übereinstimmungen mit oder Differenz zur paulinisehen Theologie und die damit verknüpfte Bestimmung des theologischen Ranges dieser Briefe wird zu einem guten Teil in diese Vorentscheidungen mit hineingenommen. Die Pastoral briefe als Teil des neutestamentlichen Schrifttums haben jedoch viel von ihrem Negativimage verloren; dies ist auch ein Verdienst exegetischer Arbeiten, von denen die beiden großen deutschsprachigen Kommentare von Norbert Brox (zu den Pastoralbriefen) und Jürgen Roloff (zu 1 Timotheus) besondere Erwähnung verdienen. Auch die vorliegende Kommentierung verdankt diesen bei den Werken sehr viel, wie die Lektüre unschwer erkennen läßt. Die ursprüngliche Zielsetzung, die Pastoralbriefe in einem Band zu kommentieren, entsprechend der auch diese Auslegung leitenden Überzeugung, daß sie als ein einheitliches Briefcorpus verfaßt wurden und deshalb auch in dieser Gestalt zu lesen und zu interpretieren sind, hat sich aus mehreren Gründen nicht realisieren lassen. Um die Zusammengehörigkeit zu verdeutlichen, wurden die Exkurse (zu den Irrlehrern, zur Christologie und zum Verständnis von Gemeinde, Amt und Kirche) für den zweiten Teilband reserviert. Die Erstellung des Kommentars hat viele in Anspruch genommen. Meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe ich ganz herzlich zu danken für vielfältige Unterstützung bei den umfangreichen Vorarbeiten, insbesondere bei der Literaturbeschaffung, aber auch für kritische Mitarbeit bei der Erarbeitung der Kommentierung. Ich danke Frau Wiss. Ass. Carola Diebold-Scheuermann, A.d.L., Herrn Dr. theol. Gerd Häfner, Frau Dipl.Theol. Barbara Herrmann, Frau Dipl.-Theol. Petra Lorleberg und Frau stud. theol. Corinna Lienhart. Meinem verehrten Lehrer und väterlichen Freund, Herrn Prof. Dr. Anton Vögtle, bin ich zu großem Dank verpflichtet für seine kritische Sympathie und immer hilfreiche Beratung, womit er den Weg der Entstehung des Kommentars von Anfang an begleitet hat. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Frau Ingeborg Walter, die mit gewohnter großer Sorgfalt und unermüdlicher Energie das Manuskript erstellt hat. Freiburg, im Oktober 1994
Lorenz Oberlinner VII
TEXTE UND LITERATUR
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XIX
EINFÜHRUNG
Die bei M. Dibelius zu Beginn seines Kommentars zu den Past formulierte These, daß das Urteil darüber, "was die Past sind und sein wollen, im stärksten Maße von der Entscheidung der Autorfrage abhängig (ist)"!, hat heute genauso Gültigkeit wie damals. Damit aber kommt der anstehenden Entscheidung in der Frage nach dem Verfasser und damit zusammenhängend allen anderen Einleitungsfragen eine besqndere Bedeutung zu. Und in der Tat nimmt die Behandlung dieses Problemes in den Kommentaren einen sehr breiten Raum ein. Dabei ist allerdings eine Beobachtung zu machen, die auf den ersten Blick überrascht und die zur Behandlung der mit der Verfasserfrage zusammenhängenden Themen nicht gerade ermutigt. Es gibt gerade bei den Past einen breit gefächerten Bereich von Themen, die eine Abfassung dieser Briefe durch Paulus problematisch erscheinen lassen. Und in der Darstellung dieser Unterschiede zu den in ihrer Authentizität nicht umstrittenen Paulusbriefen besteht weitgehend Einigkeit zwischen Befürwortern der "Echtheit" der Past und deren Bestreitern. Die letztlich entscheidende Frage ist dabei allerdings, wie diese Probleme gewichtet und bewertet werden; entweder wird trotz der Unterschiede eine Abfassung der Past durch Paulus weiterhin als zumindest möglich postuliert und die Auslegung entsprechend aufPaulus hin oder von Paulus her gestaltet, oder aber man betrachtet die Authentizität aufgrund der Unterschiede als ausgeschlossen. Auf diesem Hintergrund erscheint die Erwartung unrealistisch, es ließe sich mit den im wesentlichen bekannten und je neu zur Sprache gebrachten Argumenten, die gegen die Abfassung der Past durch Paulus vorzubringen sind, in dieser Frage etwas bewegen. Dazu paßt auch das kritische Urteil von J. Roloff, daß für die Tatsache, daß der Streit um die Echtheit der Past über Holtzmann hinaus bis in die Gegenwart "mit unverminderter 'Heftigkeit" weitergeführt werde, "vor allem ideologische Gründe" verantwortlich zu machen sind 2. Die im folgenden durchzuführende Behandlung der sog. Einleitungsfragen und v. a. die Vorstellung der Probleme, die gegen Paulus als Verfasser der Past sprechen, haben deshalb vor allem zum Ziel, den der Auslegung zugrundeliegenden Standpunkt zu klären und zu begründen, daß die Past als pseudepigraphische Schriften zu betrachten sind. Auch wenn Vertreter der Authentizität mit dem Gewicht der Selbstvorstellung des Verfassers als "Apostel Paulus" auf ihrer Seite den Bestreitern die Möglichkeit ab1 M. DmELIUS, Past 21931, I. 2 J. ROLOFF, I Tim 24.
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Einführung
sprechen, eine Abfassung durch Paulus als "unmöglich" nachzuweisen3 , so lassen es m. E. die bislang gesammelten Einzelbeobachtungen gerechtfertigt erscheinen, den "pseudepigraphischen Charakter der Pastoral briefe" als Ergebnis der kritischen Forschung zur Voraussetzung der Interpretation zu machen 4 .
1. Der Begriff "Pastoralbriefe" Für die - das sei gleich als später noch zu begründende These vorangestellt - als Briefcorpus konzipierten und geschriebenen drei Briefe des Apostels Paulus an seine Mitarbeiter bzw. Nachfolger, zwei gerichtet an Timotheus und einer an Titus, hat sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts allmählich die Bezeichnung "Pastoralbriefe" eingebürgert. Nachdem D. N. Berdot zuerst für Tit die Bezeichnung "Epistula, quae Pastoralis est" gebraucht hatte (Exercitatio theol.-exeget. in epistolam St. Pauli ad Titum, Halle 1703, 3f) und P. Anton alle drei so bezeichnet hatte (Exegetische Abhandlungen der Pastoralbriefe Pauli an Timotheum und Titum, Halle 1753), erscheint die Bezeichnung "Pastoralbriefe" seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Einleitungswerken; so bei J. D. Michaelis, Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes, 31777; er spricht von den "sogenannten Pastorales"5.
Der Grund und die Berechtigung für diese Charakterisierung sind an zwei eigentlich gegenläufigen Beobachtungen festzumachen. Da ist zum einen die Adressatenbezeichnung. Im Rahmen der neutestamentlichen Briefliteratur und insbesondere im Corpus Paulinum nehmen die Past mit der Nennung von Einzelpersonen als Adressaten eine Sonderstellung ein. Mit Ausnahme des Phm und von 3 Joh sind die neutestamentlichen Briefe - seien es echte Briefe, wie v. a. die Paulusbriefe, oder seien es in Briefform gekleidete Abhandlungen, wie die sog. "katholischen" Briefe, - an Als repräsentativ kann die zusammenfassende Positionsbeschreibung bei D. GUTHRIE gelten, der die Diskussion der Argumente für und gegen paulinische Abfassung so abschließt: "In spite of the acknowledged differences between the pastorals and Paul's other epistles, the traditonai view that they are authentie writings of the apostle cannot be said to be impossible, and since there are greater problems attached to the alternative theories it is most reasonable to suppose that the early church was right in accepting them as such" (Introduction 646; vgI. 607-649). Mit ähnlicher Argumentation entscheiden sich für paulinische Abfassung T. D. LEA - H. P. GRJFFIN, Past 23-40; G. W. KNIGHT, Past 21-52. 4 VgI. J. ROLOFF, Pfeiler 230. So auch schon H. V. CAMPENHAUSEN, Polykarp 7; zustimmend zu v. Campenhausen auch E. LOHSE, Vermächtnis 266, der an dieser Beurteilung, daß "für alle weiteren Erörterungen die erwiesene Unechtheit der Pastoralbriefe nicht zum Ziel, sondern zur Voraussetzung zu machen (ist)", festhalten will, "obwohl auch heute gelegentlich Stimmen laut werden, die an der paulinischen Verfasserschaft festhalten wollen. Sie können jedoch gegen die Fülle zwingender Gegenargurnente schwerlich Gesichtspunkte beibringen, die eine erneute eingehende Prüfung erforderlich machen würden". 5 VgI. G. WOHLENBERG, Past 69 Anm.3, der darauf verweist, daß Michaelis "möglicherweise" auch Phm dazuzählt. Zur Geschichte der Bezeichnung "Pastoralbriefe" vgI. auch P. N. HARRISON, Problem 13-16. 3
XXII
Einführung
einen größeren Empfängerkreis gerichtefi. Es handelt sich dabei zumeist um eine in einer bestimmten Stadt ansässige Gemeinde oder auch um mehrere Gemeinden mit relativer Selbständigkeit, beispielsweise anzunehmen für Korinth (und so bei den meisten echten Paulinen).Eine Ausnahme bildet der Gal, der an mehrere Gemeinden adressiert ist, die sowohl durch topographische Nähe als auch durch gemeinsame Probleme miteinander verbunden waren. In der Bezeichnung als "Pastoralbriefe" wird eine weitere Besonderheit angedeutet. Adressaten im engeren Sinn sind die beiden auch aus anderen neutestamentlichen Texten bekannten missionarischen Mitarbeiter des Paulus. Dieses Bild von der engen persönlichen Beziehung zwischen dem Apostel und seinen Mitarbeitern erhält in den Briefen dem ersten Eindruck nach eine Bestätigung etwa in der persönlichen und "väterlichen" Anrede (1 Tim 1,2.18; 2 Tim 1,2; 2, 1; Tit 1,4), im Ausblick auf ein neues Zusammentreffen (1 Tim 3, 14; 4,13; 2 Tim 1,4; 4,9.13.21; Tit 3, 12) und in individuell gestalteten Bemerkungen (v gl. 1 Tim 4,12; 5,23; 2 Tim 1,5.6.15; 2,2.22; 3, lOf; 4,11.13.15; Tit 3, 13). Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Adressaten nicht in einer auf ihre Person ausgerichteten Tätigkeit angesprochen werden; sie haben vielmehr eine stellvertretende Funktion. Als Empfänger der Weisungen des Paulus stehen sie für die Personen, die in den christlichen Gemeinden bereits eine besondere Verantwortung für das Leben und für den Glauben dieser Gemeinden übernommen haben. In Timotheus und Titus werden im übergreifenden Sinn die Gemeindeleiter, die "Hirten" angesprochen, wie die Beschreibung der Stellung und des Aufgabenbereiches der beiden Apostelschüler wie auch der zum großen Teil allgemein gehaltene Charakter der von "Paulus" verfügten Anordnungen und Bestimmungen erkennen lassen. Es geht um Probleme der Ordnung der Gemeinden und um ihre Verwaltung (vgl. 1 Tim 3, 15; 5,17-22; 2 Tim 2,2; Tit 3, 1Of) und in Konsequenz davon um die Benennung der Anforderungen an die Leute in verantwortlichen Positionen (1 Tim 3, 1-7.8-13; Tit 1,5-9); um die Erinnerung an die Aufgaben der Bewahrung und der Weitergabe des Glaubens (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14; Tit 2, 1) und damit verbunden die Mahnung zu Wachsamkeit im Kampf gegen Irrlehrer (vgl. 1 Tim 1,3-7.9f; 1,18-20; 4,1-5; 6,3 bis 5.10; 6,20; 2 Tim 2,14.16-18; 3,1-9; 4, 3 f; Tit 1,10-16; 3,9); betont wird der Stellenwert des Urteils der nichtchristlichen Umwelt über das Erscheinungsbild der christlichen Gemeinde (v gl. 1 Tim 3,7; 5,14; 6,1; Tit 2, 5.8[?].9f; 3,1 f); und ein wichtiges Anliegen des Verfassers ist ganz offensichtlich, in der Bewertung der innergemeindlichen Stellung der Frauen einen restriktiven Kurs durchzusetzen (vgl. 1 Tim 2, 8-15; 5,3-16; 2 Tim 3,6 f). Alles dreht sich um die vielfältigen Aufgaben der Leitung und Verwaltung, der Verkündigung und der Belehrung der christlichen Gemeinden durch die Gemeindeleiter. Beim Phm ist zudem zu beachten, daß als Mitadressatin die Hausgemeinde genannt wird (vgl. J. ROLOFF. 1 Tim 20).
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Einführung
2. Zum literarischen Charakter der Past Wenn wir die genannten Anliegen und damit verbunden die Entstehungsverhältnisse in Betracht ziehen, dann stellt sich Frage, inwieweit mit der Bezeichnung "Briefe" der literarischen Besonderheit unserer Texte Rechnung getragen ist. Trotz wichtiger Gemeinsamkeiten mit den unbestritten echten Paulusbriefen weisen die Past Besonderheiten auf, die durch die skizzierte Zielsetzung einer doch recht weit ausholenden Beschreibung der Aufgaben eines Gemeindeleiters bedingt sind. Für die Past ist gerade nicht mehr die individuelle Zielsetzung bestimmend und charakteristisch, also der direkte Bezug zwischen den Adressaten und dem Briefschreiber, somit auch nicht mehr die Bindung an spezifische, von Gemeinde zu Gemeinde wechselnde und durch konkrete Situationen bedingte Probleme und Fragen. Die Past sind, bei aller selbstverständlich auch erkennbaren Einbindung in geschichtliche Prozesse und Zwänge, im Vergleich v.a. zu den echten Paulinenungleich stärker grundSätzlich ausgerichtet. Als Geltungsbereich kommt nicht mehr nur eine bestimmte Gemeinde in Frage. Dies zeigt sich in den angesprochenen Themen und in der Art und Weise von deren Behandlung. Im wesentlichen enthalten sie recht allgemein gehaltene und allgemeingültige Anweisungen und Mahnungen, die das Leben der christlichen Gemeinden grundsätzlich und dauerhaft betreffen. So wird in der Bezugnahme auf die leitenden Personen und ihre überragende Stellung in den Gemeinden und in der Darstellung von deren Pflichten und Aufgaben eine Ordnung vorgestellt, die von konkreten Gemeinden abstrahiert, ja sogar abstrahieren muß. Es geht um für Christen insgesamt verpflichtende Weisungen, die insbesondere darauf abzielen, daß die Gemeinden für die Auseinandersetzungen mit Irrlehrern gerüstet sind. Dazu dienen die Bestimmungen, die sich mit der Gemeindestruktur und -verwaltung beschäftigen. Deutlich erkennbar stehen die christlichen Gemeinden aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen vor der Aufgabe, sich nach außen und nach innen zu festigen. Aufgrund dieser Zielsetzung mit eher defensivem Charakter weisen die Past eine stärker normierende und direktive Note auf. Mit N. Brox7 darf man im Unterschied zum kerygmatisch-theologischen Akzent der authentischen Briefe des Paulus das kirchenrechtliche Moment als das sie bestimmende ansehen. Das zeigt sich in der Art und Weise der Darstellung von Aufgaben· der Verkündigung und der Verkündiger; es steht nicht mehr die Darlegung des Glaubens in inhaltlicher Sicht im Zentrum und auch nicht mehr eine inhaltliche Darstellung und Begründung des Evangeliums im Sinne einer Entfaltung der Christusbotschaft. Die "rechte Lehre" ist bereits als unveränderbare und feststehende Größe vorausgesetzt; es gilt, dieses Glaubensgut, hinter welchem die Autorität des Apostels Paulus steht, unverfälscht zu bewahren und gegen Irrlehrer zu verteidigen. 7 N. BROX, Past 10.
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Einführung
Diese Akzentverschiebung ist nun aber nicht bedingt durch besondere Launen oder Vorlieben unseres Autors, sondern durch die Situation, in denen die Gemeinden in dieser Zeit stehen. Sie sind gefährdet durch Differenzen in der Verkündigung des Evangeliums, die die Gemeinden zu spalten drohen bzw. schon gespalten haben. Und angesichts dieser Bedrohung sowohl der kirchlichen Einheit als auch der rechten Lehre erteilt der in der Autorität des Paulus auftretende Verfasser seine Anweisungen. Insbesondere soll die Stellung der in verantwortlicher und leitender Position stehenden und von den Gemeinden anerkannten Gemeindevorsteher gestärkt werden; denn ihre Autorität gilt als die beste Garantie für die Bewahrung des rechten Glaubens und damit auch für die Einheit der Gemeinden und der Kirche insgesamt. Auch hier ist auf die Akzentverlagerung von Paulus her aufmerksam zu machen. Für die Einheit der Gemeinde trägt nach Paulus diese selbst die Verantwortung (vgl. 1 Kor 1,10-17; 11,17-22); in den Past wird diese Verantwortung dem Gemeindeleiter übertragen. Konsequenterweise sind die bevorzugten Themen der Past solche, die sich der Bewahrung des recRten Glaubens und der Abwehr der die Gemeinden spaltenden Irrlehrer widmen, jedoch bezogen auf den Gemeindeleiter. Thematisch und literarisch gesehen stehen die Past folglich weniger den echten Paulusbriefen nahe, als vielmehr den Schreiben der sog. Apostolischen Väter, etwa dem Brief des Martyrerbischofs Ignatius von Antiochien, den er in Troas, auf dem Weg nach Rom, zu Beginn des zweiten Jahrhunderts an Polykarp von Smyrna schrieb. Auch in diesem Brief des Ignatius steht die Mahnung an den Gemeindevorsteher im Vordergrund. Die Gemeinde wird nicht mehr wie bei Paulus von unten, von den Gläubigen her bestimmt und auferbaut gesehen, sondern sie erhält ihre Bestimmung und ihren Charakter von oben her, von den verantwortlichen Inhabern von Ämtern und Funktionen in den Gemeinden, insbesondere vom "Episkopos" und von den "Presbyteroi". Diese sind die entscheidenden Instanzen; sie werden auf ihre Verantwortung für die Gemeinden, für deren Glauben, ihr Leben und für die Einheit der Kirche hin angesprochen und ermahnt. Über sie geht dann der Weg der Weisungen auch zu den Mitgliedern der Gemeinden. So spricht Ignatius den Polykarp gleich zu Anfang auf seine Stellung und Funktion folgendermaßen an: "Bei der Gnade, die du angezogen hast, ermahne ich dich, deinen Lauf zu beschleunigen und alle anzutreiben, damit sie gerettet werden. Werde deiner Stellung mit aller Sorgfalt, fleischlicher wie auch geistlicher, gerecht. Sorge für die Einigung, es gibt nichts Besseres als sie. Trage alle, wie auch dich der Herr (trägt). Ertrag alles in Liebe, wie du ja auch tust" (1,2)8. Der Brief des Ignatius und die Past haben sodann auch gemeinsam recht allgemein gehaltene Mahnungen an die Gemeindeleiter: Poll,3 ("Erbitte größere Einsicht als du hast") - vgl. 2 Tim 2,7 ("Der Herr wird dir in allem Einsicht geben"); Pol 2,3 ("Sei nüchtern als ein Kämpfer Gottes") - vgl. 2 Tim 4,5 ("Du aber sei nüchtern in allem")
8 Übersetzung nach A. LINDEMANN -H. PAULSEN, Die Apostolischen Väter 235f. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Ignatius-Text die soteriologische Begründung für die Ermahnung des Bischofs Polykarp:" ... damit sie gerettet werden" (iva crml;Olv'tCll). Vgl. auch 6,1: "Haltet euch zum Bischof, damit sich auch Gott zu euch hält •.. "
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Einführung
Die Past sind damit am besten zu charakterisieren als kirchen amtliche Lehr- und Mahnschreiben, gerichtet an die Vorsteher der Gemeinden, denen aufgrund ihres Leitungsamtes die Verantwortung und die Sorge für den Glauben und damit auch für das Heil der Gemeinden aufgetragen ist. Zu dieser Funktionsbestimmung paßt die Erklärung zur Entstehung der Past, daß sie abgefaßt worden sind als ein zusammengehöriges Briefcorpus. So formuliert P. Trummer die These: "Die Past sind nicht als einzelne pseudepigraphe Briefe entstanden und erst nachträglich gesammelt worden oder zusammengewachsen, sondern bereits ursprünglich als pseudepigraphes Corpus pastorale verlaßt, ediert und verbreitet worden'''). Dafür spricht ihre enge sprachliche Verwandtschaft sowie die Tatsache, daß jeweils die gleiche kirchengeschichtliche Situation bzw. Problematik vorausgesetzt ist. Aus dem Rahmen fällt nur 2 Tim, insofern dieser persönlicher gehalten und als eine Art Testament des vor seinem Martyrium stehenden Apostels Paulus konzipiert ist. Für die Klärung der Entstehungssituation ist eine weitere Beobachtung wichtig. Neben der Inanspruchnahme der Autorität des Völkerapostels durch seine Nennung als Absender sind auch inhaltliche Bezüge zu einigen Paulusbriefen festzustellen. Mit guten Gründen ist daraus die Hypothese abzuleiten, daß es in dieser Zeit des ausgehenden ersten Jahrhunderts bereits eine (noch nicht unbedingt als abgeschlossen und unveränderbar geltende) Sammlung von Paulusbriefen gab. Mit der Existenz einer derartigen Sammlung, die in der innergemeindlichen Unterweisung Verwendung fand, ergab sich für die Gemeinden ein neues Problem, das nicht gering eingeschätzt werden darf, das Problem der Paulus-Interpretation. Die in 2 Petr 3, 16 beklagte Uneinigkeit in der Auslegung der Paulusbriefe ist gewiß auch für die Gemeinden der Past vorauszusetzen. Im Zusammenhang dieser Diskussion ist die Entstehung der Past zu sehen. Sie sollen die Autorität der Paulus-Tradition untermauern; sie sollen gleichzeitig aber auch einen Schluß strich ziehen unter diese Überlieferung paulinischer Tradition. Und sie sollen zugleich ein für allemal festlegen, welche Personen als autorisierte Interpreten der Paulus-Tradition in Frage kommen: die in der kirchlich anerkannten Sukzession zu Paulus stehenden Gemeindeleiter. Der Apostel verabschiedet sich mit diesen Briefen von seinen Gemeinden (vgl. bes. 2 Tim) und überträgt gleichzeitig den führenden Personen in diesen Gemeinden die Aufgabe, das apostolische Erbe, das "Glaubensgut" (1tapa8i]lCTl), zu bewahren. Es ist geradezu programmatisch, daß die erzählerische Gestaltung der Ausgangssituation in 1 Tim und in Tit dieselbe ist: Der Apostel hat bei seinem Weggang von Ephesus (1 Tim) bzw. Kreta (Tit) je einen seiner beiden engsten Mitarbeiter dort zurückgelassen; und in beiden "Briefen" wird noch einmal bekräftigt, was deren Aufgabe ist, nämlich das begonnene Werk des Apostels weiter- bzw. zu Ende zu führen (vgl. 1 Tim 1,3; Tit 1,5). Auf der literarischen Ebene ha-
9 P. TRUMMER, Corpus Paulinum 125; zustimmend J. ROLOFF, 1 Tim 43-45.
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Einführung
ben wir hier den Übergang von der apostolischen zur nachapostolischen Zeit festgehalten. Die Dreizahl der "Briefe" sollte wohl die Bedeutung und das Gewicht dieses apostolischen Vermächtnisses unterstreichen.
3. Die Adressaten Schon mit der Einsicht in den grundsätzlichen und programmatischen Charakter der Schreiben ergibt sich, daß die bei den Adressaten Timotheus und Titus nicht zufällig gewählt sind. Konkretisieren läßt sich dieses Urteil durch einen Blick auf ihre im NT bezeugten Beziehungen zu Paulus und zu seinem Werk. Beide Briefempfänger haben wesentlichen Anteil an der paulinischen Missionstätigkeit, und so werden sie als Mitarbeiter des Apostels Paulus auch anderweitig im NT genannt. a) Timotheus Nach Darstellung von Apg 16,1-3 kam Paulus auf seiner sog. zweiten Missionsreise nach Lystra in Kleinasien; dort fand er einen Jünger namens Timotheus, der näher gekennzeichnet wird als "Sohn einer gläubig gewordenen Jüdin und eines Griechen". Dieser Timotheus war, folgt man der Schilderung der Apg, ein auch in den umliegenden christlichen Gemeinden bereits hochgeschätzter Mann. Ihn nahm nun Paulus auf deren Empfehlung für seine weitere missionarische Tätigkeit als Begleiter und Mitarbeiter mit. In Apg 16,3 ist allerdings die Notiz angefügt, daß Paulus den Timotheus beschneiden ließ "um der Juden willen", d. h. um bei den Juden, an die er sich in seiner Mission wenden wollte, keinen Anstoß zu erregen. Diese Bemerkung zur Beschneidung des Timotheus durch Paulus ist in ihrem historischen Wert mit Recht umstritten. Timotheus wäre ja in dieser Situation erst beschnitten worden, als er schon getaufter Christ war. Und gegen eine solche Praxis der nachträglichen Beschneidung von bereits Getauften verwahrt sich Paulus in Gal 5,1 ganz entschieden; dort setzt er sich sogar gegen Gerüchte zur Wehr, er selbst würde noch weiterhin die Beschneidung verkünden. Zudem gilt es zu bedenken, daß, wenn wir der Darstellung der Apg folgen, Paulus diese Beschneidung des Heidenchristen Timotheus im unmittelbaren Anschluß an das sog. Apostelkonzil, welches am besten auf das Ende der 40er Jahre zu datieren ist, vorgenommen hätte. Der Anlaß der Zusammenkunft in Jerusalem, unmittelbar vor dieser zweiten Missionsreise, war ja die strittige Frage, ob Heidenchristen auch auf das Gesetz verpflichtet werden müssen, ob sie sich also zusätzlich, d. h. als Ergänzung zum Glaubensbekenntnis zum sündentilgend~n Sterben Jesu und zur Taufe, auch noch der Beschneidung zu unterziehen haben. Gegen entsprechende Tendenzen in Jerusalern (dort vertreten von gesetzesstrengen Judenchristen und wohl vom Herrenbruder Jakobus mit Sympathie beurteilt) setzt Paulus das gesetzesfreie Evangelium, ohne jegliche Ein-
XXVII
Einführung schränkung, durch (Gal 2,6). Wenn nun Paulus selbst in der Praxis doch wieder die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit der Beschneidung akzeptiert bzw. gar praktiziert hätte - und sei es auch nur aus praktischen bzw. missionstaktischen Erwägungen -, dann würde er diese keineswegs unumstrittene und deshalb auch noch ungefestigte Position - es sei verwiesen auf den sog. Antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11-14), wo diese Problematik neu aufbricht - doch leichtfertig aufs Spiel setzen lO • Im weiteren Verlauf der Erzählungen über die Missionstätigkeit des Paulus wird zwar Timotheus in der Apg einige Male erwähnt (vgl. Apg 7, 14f; 18,5; 19,22); besonderes Interesse an ihm zeigt aber der Verfasser der Apg nicht. Das gilt auch für die Nennung des Timotheus als Begleiter des Paulus (zusammen mit sechs anderen) bei der Überbringung der Kollekte nach Jerusalem (20,4).
In jedem Fall wird dieser Timotheus einer der engsten und wichtigsten Mitarbeiter des Paulus. Dies zeigt sich darin, daß er zusammen mit Paulus als Mitabsender in einigen Briefen genannt wird (so in 1 Thess 1, 1; Phil 1,1; Phm 1; dem schließen sich auch deuteropaulinische Briefe an: 2 Thess 1,1; Kol 1,1). Am Schluß des Röm nennt ihn Paulus unter den Mitgrüßenden und bezeichnet ihn als "Mitarbeiter" (O"UVEPYO~). Die Hochschätzung des Timotheus durch Paulus belegt nachdrücklich Phil 2,19-23. Nach eigenen Angaben hat Paulus den Timotheus mit besonderen Aufgaben betraut. So schickt er ihn auf der zweiten Missionsreise von Athen nach Thessalonich, um die dortigen Christen zu stärken (1 Thess 3,2-5). Timotheus sollte also, im Auftrag des Paulus, die in der Gemeinde von Thessalonich nach dem wohl für die Gemeinde überraschenden Weggang des Paulus verbliebenen oder neu aufgebrochenen Probleme klären. Und dem Zeugnis des Briefes zufolge, den Paulus nach der Rückkehr des Timotheus von Korinth aus an die dortige Gemeinde schrieb, hat er seine Aufgabe gut ausgeführt (1 Thess 3,6). Für die Wirkungsgeschichte bedeutsam ist dabei, daß Paulus den Timotheus ausdrücklich als seinen Gesandten vorstellt und damit legitimiert; er ist Repräsentant des abwesen10 Von der eindeutigen Stellungnahme des Paolus im Gal her betrachtet erscheint es in dieser gegensätzlich beantworteten Stteitfrage wahrscheinlicher, daß der Apostel bei der Thematik der Beschneidung eine eindeutige Position bezogen hat, von der er auch aus pragmatischen Erwägungen nicht abweichen konnte. So urteilt m. E. überzeugend A. WEISER: "Die Nachricht über die Beschneidung des Timotheus durch Paolus bereitet große Schwierigkeiten. Paulus selbst setzte sich für die Beschneidungsfreiheit ein. Er hebt hervor, daß sein heidenchristlicher Begleiter Titus nicht beschnitten wurde (Gal 2,3). Die nachträgliche Beschneidung eines Juden- oder Heidenchristen schließt er ausdrücklich aus ... (I Kor 7,18 f). Mag es auch umstritten sein, ob nicht Paulus ... gelegentlich aus Rücksicht die Beschneidung zugelassen hätte, so muß es doch als ausgeschlossen geiten, daß er sie je an einem getauften Christen hätte vornehmen lassen; denn dies käme einer Mißachtung der Taufe gleich" (Die Apostelgeschichte, Bd 2, ÖTBK 5/2, Gütersloh - Würzburg 1985, 401 f). Anders urteilt R. PEsCH über den historischen Wert von Apg 16,3: ,,Daß Paulus den Timotheus zuvor beschnitt ..., wird häufig als unzutteffende Information angezweifelt, weil Paulus sich der Beschneidung von Heidenchristen durchweg widersetzt hat (vgl. exemplarisch den Fall des Titus Gal 2,3). Doch ist gegen solche Zweifel festzuhalten, daß Timotheus in jüdischen Augen kein Heide, sondern Jude war und daß Paulus ihn nur mit Rücksicht auf die Juden in jenen Gegenden ... beschnitt, nicht etwa, weil er dies für heilsnotwendig gehalten hätte" (Die Apostelgeschichte, Bd n, EKK V/2, NeukirchenlZürich 1986,97).
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den Apostels 11. Vor allem aber in den wechselvollen und z. T. belasteten Beziehungen des Apostels zur korinthischen Gemeinde spielt Timotheus als Beauftragter und Stellvertreter des Paulus eine ganz wichtige Rolle (v gl. 1 Kor 4,17; 16, 1Of; vgl. auch 2 Kor 1,19). Die Paulusbriefe zeigen den Timotheus als eine der herausragenden missionarischen Gestalten in der Begleitung des Paulus, und von daher ist er bestens als Empfänger von "Briefen" geeignet, in denen im Namen des "Apostels" dessen Vermächtnis an die formuliert und festgelegt werden soll, die in der Zeit nach ihm die Verantwortung in den und für die Gemeinden übernommen haben. Die in den Past angezeigte (literarische) Vorrangstellung des Timotheus als Adressat von Anordnungen des Apostels Paulus zu seinen Aufgaben als Hüter der apostolischen Glaubenstradition liegt somit auf einer Linie mit der historisch von Paulus selbst bezeugten Bedeutung. In den Past ist dieser Timotheus "der Paulus-Schüler schlechthin, der testamentarisch beglaubigte Sachwalter des Apostels"i2. b) Titus Weitaus spärlicher sind die Nachrichten über den anderen Adressaten, Titus. In der Apg wird er auffälligerweise überhaupt nicht erwähnt. Wir wissen aber einiges über ihn durch das Zeugnis des Paulus. Als Mitarbeiter des Apostels hatte Titus im Zusammenhang mit den Ereigflissen und Auseinandersetzungen in der Gemeinde von Korinth eine wichtige Funktion. So wurde er von Paulus mit dem sog. Tränenbrief nach Korinth geschickt, um dort die Autorität des Apostels nach dem "Zwischenfall", bei welchem dem Paulus durch ein Mitglied der Gemeinde von Korinth Unrecht zugefügt worden war, wieder zur Geltung zu bringen (2 Kor 2,4; der "Tränenbrief" ist wenigstens zumTeil erhalten in den Kap. 10-13). Aus Sorge um die Gemeinde von Korinth reiste Paulus von Ephesus aus dem Titus durch Makedonien entgegen, nachdem er ihn in Troas nicht angetroffen hatte (2 Kor 2, 12f). Beim Zusammentreffen bringt Titus gute Nachrichten aus Korinth (vgl. 2 Kor 7~ 6-15). Er wird anschließend von Paulus wieder nach Korinth gesandt, um die dort begonnene Kollekte für Jerusalem zu Ende zu führen (2 Kor 8,6-24). Paulus spricht in diesem Zusammenhang auch von Titus als von seinem "Mitarbeiter" (cruvEPYO<;) (8,23). Nach Darstellung des Paulus ist also auch Titus ein wichtiger Mitarbeiter in der Mission, der die Autorität des Apostels in den Gemeinden in Krisensituationen mit Kraft und mit Erfolg vertreten hat. Sodann wird Titus, ein Grieche von Geburt, von Paulus im Zusammen11 12
Vgl. auch H. MERKEL, Pas! 6. W.-H. ÜLLROG, Paulus 23.
XXIX
Einführung
hang seiner Darstellung des Apostelkonzils erwähnt. In der Auseinandersetzung mit judenchristlichen Missionaren, die nach seiner erfolgreichen Mission in Zentralkleinasien in die galatischen Gemeinden gekommen waren und von den Heidenchristen Beschneidung und Verpflichtung auf das Mosaische Gesetz forderten, betont Paulus in seinem Rückblick auf das Apostelkonzil, daß dieser Titus, der mit ihm und mit Barnabas zum Apostelkonzil nach J erusalem hinaufgezogen war, nicht gezwungen wurde, sich beschneiden zu lassen, daß v.a. die angesehenen "Säulen" in Jerusalem nicht die Beschneidung des Titus verlangt haben (GaI2, 1-3). Titus ist damit für Paulus gegenüber den galatischen Gemeinden und den in ihnen agierenden judenchristlichen Missionaren das lebendige Beispiel für die bedingungslose Anerkennung des gesetzesfreien Evangeliums und zugleich ein wichtiges "Gegenargument" gegen die judenchristlichen Missionare. Historisch gesehen läßt sich allerdings die Funktion des Titus im Rahmen des Apostelkonzils, auf welchem Paulus sich offenbar mit dem gesetzesfreien Evangelium hat durchsetzen können, nicht eindeutig klärenl3 . Er wird zwar im Gal von Paulus betont als sein Begleiter genannt, und es wird von ihm lediglich festgehalten, daß er, obwohl Grieche, sich nicht hat beschneiden lassen müssen (Gal 2,3). Ob aber Titus tatsächlich lediglich als Begleiter des Paulus zu sehen ist, und inwü~ weit eine Beschneidung überhaupt zur Debatte stand bzw. von einigen Jerusalemer Judenchristen oder gar von deren führenden Personen gefordert wurde, läßt sich nicht eindeutig sagen l4 .
Die beiden als Briefadressaten genannten Personen gehören also zum engsten Kreis um Paulus und sind insbesondere in den Regelungen der Beziehungen zur Gemeinde in Korinth für Paulus eine wichtige Stütze. Die von Paulus gezeigte "gleichwertige Hochschätzung des Titus" ist für U. Borse Anlaß für die Vermutung, es handle sich bei den "beiden" Gestalten nur um eine Person. Diese im Kommentar zu den Past nur kurz erwähnte Hypothese ist andernorts ausführlich vorgestellt und begründetl5 ; er formuliert in bezug aufTitus drei Fragen: (1) Warum erwähnt Paulus ihn nur im 2 Kor, und zwar sowohl im Briefteil A (1-9) als auch im Abschnitt B (10-13) und im Ga1 16 ? Da Titus dem Paulus offen-
13 Die Darstellung in Gal 2, die auf heidenchristlicher Seite ganz auf Paulus konzentriert erscheint, muß nicht in allem der geschichtlichen Situation entsprechen. Zusammen mit Paulus ist ganz gewiß Barnabas und möglicherweise Titus Beauftragter der Gemeinde von Antiochien. 14 W.-H. üLLROG, Paulus 34, formuliert deshalb zu zuversichtlich, wenn er dazu schreibt: ,,Erfolgreich widersetzte sich Paulus der Forderung, ihn zu beschneiden" (Paulus 34). 15 U. BORSE, 1. und 2. Tim 17; vgl. DERS., Timotheus und Titus, Abgesandte Pauli im Dienst des Evangeliums: Der Diakon. Wiederentdeckung und Erneuerung eines Dienstes (hrsg. v. J. G. Plöger und H. J. Weber) (Freiburg 1980) 27-43; DERS., Der Brief an die Galater (Regensburg 1984) 80-85. Im folgenden wird die zuletzt genannte Darstellung im Kommentar zum Gal zugrundegelegt. 16 Die Aufteilung des 2 Kor in zwei Teile bedeutet für Borse nicht, daß zwei selbständige Briefe des Paulus nach Korinth zugrundezulegen wären. Paulus hatte vielmehr s. E. einen Brief an die Korinther geschrieben, ihn aber noch nicht abgeschickt. Als nun "Titus" aus Korinth zu Paulus, der sich in Makedonien aufhielt, zurückkehrte und ihm unerfreuliche Nachrichten brachte, habe Paulus den wohl freundlichen Briefschluß gestrichen und stattdessen die im scharfen Ton gehaltenen Kapitel 10-13 angefügt. Aber auch in diesem Fall würde gelten, daß die Bedingungen für die Abfassung des 2 Kor nicht einheitlich waren.
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Einführung sichtlich sehr nahe stand (vgl. 2 Kor 2, 12f; 7,5 f; 8,23) und mit wichtigen Aufgaben betraut wurde (vgl. 8,6.16f; 12,18), "müßte man erwarten, daß er ihn auch in den zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen geschriebenen Briefen genannt hätte" (80). (2) Titus wurde von Paulus bei seiner zweiten Jerusalemreise mitgenommen (Gal 2, 1); er wird dann aber erst wieder genannt am Ende der dritten Missionsreise im Zusammenhang der Kollekte für Jerusaelm in Korinth (2 Kor 8), - nach der Chronologie von U. Borse nach 14 Jahren (hier ist zu berücksichtigen, daß Borse die zweite Jerusalernreise des Paulus zum sog. Apostelkonzil auf das Jahr 43 datiert). "Daß ... jemand mit Paulus reiste, dann für lange Jahre verschwindet und danach wieder auftaucht, als ob nichts geschehen, sei, will nicht recht in den Kopf' (81). (3) Warum schweigt die Apg über "eine so bedeutende Persönlichkeit" (81)? Die genannten Fragen bekommen nach Borse eine befriedigende Antwort, wenn der Name "Titus" nicht einen eigenen Begleiter des Paulus bezeichnet, sondern lediglich als anderer Name für Timotheus zu verstehen ist. Das heißt: Der seit der zweiten Missionsreise in der Begleitung des Paulus weilende Timotheus, der in der Apg durchwegs so genannt wird (Apg 16,1; 17, 14f; 18,5; 19,22) und auch in den paulinischen Briefen als Mitabsender fungiert, wird von Paulus selbst zwischendurch, nämlich in 2 Kor und Gal, als "Titus" vorgestellt. Die Begründung für diesen "vorübergehenden Gebrauch eines Deminutivs statt der normalen Namensform" findet Borse in der Bedrängnis und Not des Apostels bei seinem Mazedonienaufenthalt im Rahmen der dritten Missionsreise. "Daher läßt sich die Nennung seines wichtigen Gefährten Timotheus mit dem Umgangs namen Titus während dieser Zeit als Ausdruck der besonderen Hilfsbedürftigkeit des Apostels und als Hinweis auf die herzliche Verbundenheit mit ihm begreifen" (82). Zu dieser Hypothese von Borse seien nur zwei Gesichtspunkte genannt, die einer solchen Identifizierung entgegenstehen: (1) Der zuletzt genannte Grund für die kurzfristige Namensänderung von Timotheus zu Titus erscheint recht künstlich und konstruiert. Liest man etwa den Gal, dann ist angesichts des scharfen Tones und der Radikalität der Forderungen gegenüber den galatischen Gemeinden von einer besonders notvollen Situation des Apostels oder von seiner Hilfsbedürftigkeit kaum etwas zu spüren. Es ist zudem zu fragen, warum solch herzliche Verbundenheit sich nur mit dem Namen "Titus" ausdrücken ließ, wo Paulus doch an anderer Stelle Timotheus als "mein geliebtes und treues Kind im Herrn" bezeichnet (1 Kor 4, 17). (2) Das entscheidende Problem liegt bei der gegensätzlichen, ja unvereinbaren Bedeutung der Beschneidung im Blick auf die "bei den" Personen. Timotheus wird nach Apg 16,3 von Paulus beschnitten, wenn auch nur "aus Rücksicht auf die Juden, die in jenen Gegenden wohnten". Bei Titus betont Paulus dagegen, wie schon erwähnt, daß er sich nicht der Beschneidung zu unterziehen hatte (Gal 2,3). Der einfachste Weg wäre auch für Borse, daß er mit vielen Exegeten die Geschichtlichkeit der lukanischen Darstellung von der Beschneidung des Timotheus in Frage stellen würde. Da er dies jedoch nicht tun will, sondern mit der Historizität der Beschneidung des Timotheus rechnet, muß er mit einem "sowohl als auch" argumentieren: Paulus nehme im Gal zurückschauend Bezug auf die Situation des Jerusalemer Konzils, wo Titus noch unbeschnitten war; für Lk dagegen sei es wichtiger, daß der aus einer Mischehe stammende Timotheus die für ihn aus jüdischer Sicht bestehende Beschneidungspflicht auf sich genommen habe. Es erscheint aber doch recht problematisch, eine solche gegensätzliche Inan-
XXXI
Einführung spruchnahme ein und derselben Person in der christlichen Tradition vertreten zu wollen. Zudem muß man speziell zu Paulus sagen: Titus hat zweifellos paradigmatische Bedeutung für die Anerkennung des gesetzesfreien Evangeliums des Apostels. Warum macht er dies nicht dadurch deutlicher, daß er die damit gemeinte Person auch immer mit dem gleichen Namen belegt? Und: Wenn Paulus auf der zweiten Missionsreise den Titus/Timotheus hat beschneiden lassen, wie kann er im Gal im Rahmen der dritten Missionsreise mit diesem Titus, von dessen von Paulus vorgenommener Beschneidung ja ganz offensichtlich auch andere Personen im Umkreis des Apostels Bescheid wissen mußten (siehe Apg!), zugunsten seines gesetzesfreien Evangeliums argumentieren? Die Galater bzw. die judenchristlichen Missionare konnten dann Paulus mit seinen eigenen Waffen schlagen: Sie wollen nichts anderes, als was er selbst getan hat, nämlich um der Einheit der Gemeinden willen die Heidenchristen beschneiden. Historisch bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, die unterschiedliche Benennung einer Person durch ein und denselben Autor, nämlich Paulus, zu begründen. Der Verfasser der Past betrachtet in jedem Fall Timotheus und Titus als zwei voneinander zu unterscheidende Personen. Und das entspricht auch der geschichtlichen Lage.
Zusammenfassend ist zu den Adressaten der Past festzuhalten: Timotheus und Titus sind durch die neutestamentlichen Zeugnisse, die Paulusbriefe und die Apg, als wichtige Mitarbeiter der paulinischen Mission bezeugt. Sie sind von Paulus im Rahmen dieser seiner Mission mit schwierigen Aufgaben betraut worden, in denen es darum ging, in der Autorität des Apostels die Verkündigung des Evangeliums zu gewährleisten, in den Gemeinden aufgetretene Fragen zu klären und Streit zwischen dem Apostel und Kritikern und Gegnern zu schlichten. In der Hinordnung auf das missionarische Wirken des Paulus wird auch ihre Verkündigung legitimiert. Die in den Paulusbriefen bezeugte Stellung von Timotheus und Titus in der frühchristlichen Mission, bedingt durch die Nähe zu Paulus auf der einen Seite und die Aufgabe, den Apostel in seiner Abwesenheit in Gemeinden zu vertreten auf der anderen Seite 17, findet eine Fortsetzung in den Past. Timotheus und Titus agieren im Auftrag des Paulus und führen ein von ihm begonnenes Werk weiter (l Tim 1,3f; vgl. 1,18-20; Tit 1,5). Da ein zentrales Anliegen des Autors die Gewährleistung der Kontinuität zur paulinischen Glaubenstradition ist, d. h, die Bewahrung der 1tupu€h'l1C1l gegen Irrlehrer (l Tim 6,20; 2 Tim 1, 13f), können Timotheus und Titus als Empfänger entsprechender Weisungen des Paulus vorgestellt werden. In dieser Hinsicht dokumentieren die Past bereits ein Stück Wirkungsgeschichte der Paulusbriefe. In der Wahl der beiden Apostelschüler als Briefadressaten sollte die Kontinuität zur Paulustradition, die dem Verfasser bereits in der Form einer Sammlung von Paulusbriefen vorgegeben warl8 , verdeutlicht werden. 17 Zur Übernahme des Topos der "apostolischen Parusie" durch den Verfasser der Past vgl. W. STENGER, Tirnotheus 262-267. 18 Vgl. W. STENGER. Tirnotheus 261: ,,Man wird dem Verfasser der Pastoralbriefe eine intime Kenntois der echten Paulinen zuschreiben müssen."
XXXII
Einführung
Zugleich wird in der Art und Weise, wie die Aufgaben der beiden Mitarbeiter beschrieben werden, der Abstand zum historischen Paulus erkennbar. Ihr Wirken ist auf Dauer angelegt; ihre Aufgabe liegt demgemäß darin, den Willen des Paulus, wie er in den drei "Briefen" formuliert ist, in den Gemeinden umzusetzen. In den Briefen soll "die Gegenwärtigkeit des Apostels für die Gegenwart der Pastoralbriefe" vermittelt werden19• Darin zeigt sich auch eine Akzentverlagerung in der Relation Paulus - Evangelium. Etwas überspitzt könnte man sagen: Im Wirken des Paulus garantiert sein Evangelium, als das "Evangelium Gottes" ( Röm 1,1) bzw. das "Evangelium Christi" (GalI, 7), die Rechtmäßigkeit seines Aposteldienstes; weil er sich im Dienst der Verkündigung des einzig wahren Evangeliums stehend weiß (vgl. Gall,6t), deshalb weiß er sich auch als rechtmäßiger Apostel. Im literarischen Rahmen der Past dagegen garantiert die apostolische Autorität des Paulus und die Übereinstimmung mit seinem Wort und Auftrag die Wahrheit des Evangeliums, die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der "Lehre"; weil und insofern das Evangelium als auf den Apostel Paulus zurückgehende Verkündigung ausgewiesen ist, ist es das wahre Evangelium. Dies hat zur Folge, daß der Apostel in den Past weit stärker im Mittelpunkt steht, als dies in den echten Paulusbriefen der Fall ist.
4. Die Frage nach dem Verfasser a) Probleme einer pauWUschen Verfasserschaft Im Gegensatz zur Eindeutigkeit der in den Präskripten vorliegenden Nennung des Paulus als Absender und Verfasser dieser "Briefe" wird in der neueren Exegese in einem breiten Konsens die pseudepigraphische Abfassung der Past vertreten. Dafür können gewichtige Gründe geltend gemacht werden. Erste Bedenken formulieren Anfang des 19. Jahrhunderts J. E. C. Schmidt (Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament, 1804/5) und F. E. D. Schleiermacher (Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß, Berlin 1807) zur paulinischen Abfassung von 1 Tim. Nachdem J. G. Eichhorn (Einleitung in das Neue Testament III/l, Leipzig 1812) und F. Ch. Baur (Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart/Tübingen 1835) dieses Urteil der nichtpaulinischen Abfassung auf alle drei Briefe bezogen hatten, hat H. J. Holtzmann (Die Pastoralbriefe kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880) die Gründe gegen die Abfassung der Past zusammengestellt, so daß sich "die Einsicht in die Unmöglichkeit der paulinischen Abfassung der Past weitgehend durchgesetzt (hat)" 20.
19
W. STENGER, Timotheus 261. Vgl. auch U. SCHNELLE, Einleitung 386.
20 W. G. KÜMMEL, Einleitung 327; ähnlich
A. WlKENHAUSER-J.
SCHMID.
Einleitung 516.
XXXIII
Einführung
Die wesentlichen Einwände gegen die paulinische Abfassung derPast2 1 liegen in den Besonderheiten (1) der zugrunde gelegten geschichtlichen Bedingungen, (2) von Sprache und Stil, (3) des Auftretens von Irrlehrern, (4) der Struktur der Gemeinden, (5) der Theologie, etwa des Stellenwertes der Eschatologie. (1) N ach der Darstellung von 1 Tim 1,3 hat Paulus den Timotheus nicht lange Zeit vor Abfassung des Briefes in Ephesus zurückgelassen und ist selbst nach Makedonien gereist; der Apostel stellt auch seine Rückkehr nach Ephesus in Aussicht (3,14; 4, 13). Folgt man der Apg, dann hat Paulus gegen Ende des über zwei Jahre dauernden Aufenthalts in Ephesus (v gl. Apg 19,8.10) den Timotheus nach Makedonien vorausgeschickt (19,22) und ist erst später nachgereist (20, 1). Auch die Erwähnung als Begleiter des Paulus bei Abfassung von 2 Kor (1, 1) zeigt Timotheus zusammen mit Paulus entweder in Ephesus oder, wenn man den Vers zum sog. "Versöhnungsbrief' zählt, in Makedonien. Auch die Angabe Tit 1,5, Paulus habe den Titus auf Kreta zurückgelassen, damit dieser das begonnene Missionswerk weiterführe, ist in der aus den Paulusbriefen und aus der Apg bekannten missionarischen Wirksamkeit des Paulus nicht unterzubringen. Der Apg 27,7-13 erwähnte Aufenthalt bei der Überfahrt des gefangenen Paulus nach Rom paßt keinesfalls dazu; denn die Notiz Tit 1,5 setzt eine längere missionarische Wirksamkeit auf Kreta voraus. Noch schwieriger ist eine biographische Einordnung von 2 Tim. Im Unterschied zu 1 Tim und Tit, wo Paulus noch missionarisch tätig vorgestellt ist, befindet er sich jetzt im Gefängnis (2 Tim 1,8.16; 2,9) und rechnet mit dem baldigen Tod (4,6-8). Da Rom als Ort der Gefangenschaft vorausgesetzt ist (1, 160, ließe sich grundsätzlich Übereinstimmung mit Apg 28 annehmen22 • Doch die Bitte in 4,13, den in Troas zurückgelassenen Mantel und die Bücher mitzubringen, unterstellt, daß Paulus sich in der Zeit davor in Kleinasien aufgehalten hat. Da für Timotheus der Aufenthalt in Ephesus vorausgesetzt ist, und zwar aus denselben Gründen wie 1 Tim, gelten hier die gleichen Anfragen. Die genannten Probleme lassen es zumindest als schwierig erscheinen, die in den Past vorausgesetzten Ereignisse in die Biographie des Paulus einzuord21 Dazu sei verwiesen auf die z. T. sehr ausführlichen Darstellungen bei W. G. KÜMMEL, Einleitung 327-339; A. WlKENHAUSER - J. SCHMID, Einleitung 517-532; E. LOHSE, Entstehung 61-65; U. SCHNELLE. Einleitung 379--383. Vgl. auch N. BROX, Past 22-58; J. ROLOFF, I Tim 23-32; H. MERKEL, Pas! 5-16. 22 Das Argument, die in 2 Tim geschilderte Art der Gefangenschaft unterscheide sich "deutlich" von d~r in Apg erwähnten "custodia libera" (vgl. N. BROX, Past 29; A. WlKENHAUSER - 1. SCHMID, Einleitung 518), kann nicht dagegen angeführt werden, weil wir nicht wissen, wie Lk zu seiner Aussage von der zweijährigen milden Haft des Paulus, die ihm sogar die ungehinderte Verkündigung vom Reich Gottes erlaubte (Apg 28,300, gekommen ist.
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nen und sprechen gegen eine Abfassung der Past durch Paulus. Zu diesem Urteil paßt die Beobachtung, daß die auffallend vielen Personalnotizen in 2 Tim wie auch andere konkrete Angaben in den drei Briefen sich "nicht als historisch glaubhaft oder überhaupt nur möglich herausstellen" 23. Daneben gibt es aber bis heute Versuche, die Past in die Geschichte des Paulus einzubauen, entweder mit der Einordnung in den Rahmen der dritten Missionsreise24, oder mit einer Aufteilung: 1 Tim und Tit im Rahmen der dritten Missionsreise, 2 Tim in der (ersten) Gefangenschaft in Rom25 , oder schließlich auf der Grundlage der Annahme, Paulus sei aus der römischen Gefangenschaft (vgl. Apg 28) freigekommen, habe nach einer gewissen Zeit missionarischer Tätigkeit in Spanien26 noch einmal im östlichen Mittelmeerraum gewirkt, die in den Past genannten organisatorischen Maßnahmen angeordnet und gegen Ende seines Lebens die Past geschrieben27 • Letzteres kann nicht völlig ausgeschlossen werden; doch dann stehen immer noch gewichtige Gründe gegen paulinische Verfasserschaft. (2) In Sprache und Stil weisen die Past erhebliche Unterschiede zu den anerkannt authentischen Paulusbriefen auf. Auffällig ist das Fehlen der für die paulinische Theologie zentralen Begriffe wie etwa OtKUWOUV11 9EOU,EpyU v6Jlou, oap~, oWJlu, EAEU9Ep{U. Die für Paulus ebenfalls typische Formel "in Christus" wird zwar übernommen, allerdings im Unterschied zur Vielfalt der Benennung Jesu bei Paulus (von der umfangreichen Form EV Xpto't[ll '11100'0 't[ll KUp{Q.lllJlrov Röm 6,23; 1 Thess 1,1 u. ö., bis zur Kurzform EV KUp{Q.l Röm 16,2; Phil 3,1;
A. WIKENHAUSER-J. SCHMID. Einleitung 514; vgl. 512-514. Vgl. 1. A. T. ROBINSON, Wann entstand 76-94, mit folgender Datierung (93): I Tim - 55; Tit57; 2 Tim - 58; ähnlich B. REICKE, Chronologie 85-90 (1 Tim - Sommer 57; Tit - Frühling/Sommer 58; 2 Tim - 59 oder 60). 25 So 1. v AN BRUGGEN, Einordnung 59. 26 Als wichtigster Beleg für diese Spanienmission gilt im allgemeinen das Zeugnis I Clem.5,6f. Vgl. E. E. ELLIS, Traditions 251: "The mostimportant, and to my mind decisive, evidence is that of Clement of Rome ..." PR. VIELHAUER, Geschichte 222, macht gegen die Annahme einer Spanienmission des Paulus geltend, daß nicht festzustellen ist, worauf diese Aussage von I Clem gründet, "daß nicht einmal die Paulusakten ihren Helden nach Spanien kommen lassen und daß es in der ganzen altkirchlichen Literatur nicht eine einzige Legende über eine Wirksamkeit des Paulus in Spanien gibt"; die "Theorie von einer zweiten römischen Gefangenschaft" werde erst durch Euseb bezeugt (h. e. 22,2). 27 V gl. A. E. BROOKE, Problem 259-262. Diese Position wird ausführlich entfaltet bei C. SPICQ, Past 121-146, und (mit Nuancen) geteilt von W. RORDORF, Paulusakten 322. Dies ist auch Grundlage der Auslegung bei D. GUTHRIE, Introduction 622-624; T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 32-35; G. W. KNIGHT, Past 15-20. Mit dieser Datierung lassen sich nach Meinung von E. E. ELLIS, Tradition 252, auch die Probleme mit dem unpaulinischen Charakter der Past lösen: "A post-Acts 28 ministry of Paul provides the most probable and perhaps the only convincing historical occasion for his authoring of the Pastorals, and it also enables the historian to explain best the internal peculiarities of these letters, that is, their different terrninology, their variation of scene and theme and their evidence for a different and more influential amanuensis" (vgl. DERS., Pastoralbriefe 21Of). 23
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1 Thess 3,8 u. ö.) nur in der Form EV XptO"t{i'l '1T\00U gebraucht und (mit Ausnahme von 2 Tim 3, 12 ~f]v EUOEßro<; EV XptOt!1J ,1T\oou) ausschließlich abstrakten Nomina zugeordnet (vgl. 1 Tim 1, 14; 3, 13; 2 Tim 1, 1.9.13 u. ö. )28. Das Fehlen der mit der Rechtfertigungstheologie verknüpften Stichworte ist für sich gesehen noch kein ausreichender Grund, Paulus die Verfasserschaft abzusprechen; denn solches Fehlen könnte seinen Grund auch in der dem Brief zugrundeliegenden Gemeindesituation haben. Es ist aber eine zweite Beobachtung damit verknüpft. Es finden sich in den Past Begriffe und Wendungen, die bei Paulus sonst nicht vorkommen und die typisch sind für die hellenistische Literatur: die Verwendung des Titels OIDt1'Jp, für Gott (vgl. 1 Tim 1,1; Tit 1,3) und für Jesus Christus (vgl. Tit 2,13; 3,6); die Gottesprädikation /.uxKapto<; (1 Tim 1,11; 6,15) und der Hinweis auf die E1ttlPaVEtU Jesu Christi (vgl. 1 Tim 6,14; 2 Tim 4, 1.8). Es taucht die Bekräftigungsformel1ttoto<; 6 Myo<; neu auf (vgl. 1 Tim 3,1; 2 Tim 2,11; Tit 3,8; erweitert durch KUt 1tIXOT\<; cmoöoXf]<; a~to<; 1 Tim 1, 15; 4,9). Christliches Leben wird umschrieben mit Begriffen vom Wortstamm EUOEß-: "Frömmigkeit" (EuoeßEtU vgl. 1 Tim 2,2; 3,16; 4, 7f; 2 Tim 3,5; Tit 1,1), "fromm leben" (EUOEßö><; ~f]v 2 Tim 3,12; Tit 2,12; EUOEßEtV 1 Tim 5,4). Nur in den Past erhält Timotheus den Auftrag, das ihm von Paulus übergebene "Glaubensgut" (1tupueillCT\) zu bewahren (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14; vgl. 1,12). LitÖUOKUAiu wird zu einem "Zentralbegriff', wie die Häufigkeit der Verwendung (von 21 Belegen im NT 15 in den Past) zeigt 29. Auffällig ist die Akzentverschiebung bei Wörtern, die auch für Paulus zentrale theologische Bedeutung haben. Der für das paulinische Gemeindeverständnis wichtige Begriff der "Charismen", die die Vielfalt des Gemeindelebens und zugleich dessen Einheit kennzeichnen (vgl. Röm 12,6; 1 Kor 12, 4.9.28.30f), wird in den Past reserviert für die eine Gnadengabe, die der Amtsträger bei der Ordination empfängt (1 Tim 4, 14; 2 Tim 1,6). Der Begriff "Gewissen" erhält durch den qualifizierenden Zusatz "gut" bzw. "rein" (ouvEiÖT\ot<; ayueft 1 Tim 1,5.19; ouvEiÖT\ot<; KUeUpa 1 Tim 3,9; 2 Tim 1,3) eine umfassende Bedeutung und kann zusammen mit anderen Tugenden (wie Liebe) genannt werden. Auch 1t{on<; hat nicht mehr die für Paulus charakteristische, soteriologisch zentrale "Bedeutung der Annahme der Botschaft von Gottes Heilshandeln in Christus''.lO, sondern kann, etwa mit der Näherbestimmung als "ungeheuchelter Glaube" (1 Tim 1,5) zusammen mit anderen Tugenden ("Liebe, Heiligung und Besonnenheit" 1 Tim 2,15; "Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Liebe, Ausdauer
Vgl. dazu L. OBERLINNER, Epiphaneia 209f. U. SCHNELLE, Einleitung 381. Durch die philologische Verbindung von ötOOO1((lA,ÜX als Glaubenslehre (vgl. 1 Tim 1,10; 4,6; 6,1.3; 2 Tim4,3; Tit 1,9; 2, 1) mit ötöU<J1CaA.o<; wird auch die Autorität des Paulus als "derLehrer" (1 Tim 2,7; 2 Tim 1, 11) betont (vgl. G. LOHFINK, Theologie 99f; D. G. MEADE, Pseudonymity 126). 30 G. BARTH, EWNT 225. 28 29
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Einführung und Sanftmut" 6, 11) stehen, oder hat in der Gegenüberstellung zu den Irrlehren die Bedeutung von "Glaubenslehre" (1 Tim 1,19; 4,1.6; 6,21; 2 Tim 3,8; Tit 1,13). Aus dem bisweilen sehr ausführlich abgehandelten Bereich des statistischen Vergleichs zwischen dem Wortschatz der Past und dem der übrigen Paulusbriefe 31 ist die große Zahl von Hapaxlegomena bemerkenswert: 66 in 1 Tim, 60in2 Tim, 32 in Tit32 , wobeimitP. N. Harrisonzu ergänzen ist, daß ein Teil dieser Wärter in nichtchristlichen Texten nicht vor dem Ende des ersten Jahrhunderts n. ehr. belegt ist33 . Auch der Vergleich der "Sondergutvokabeln" der Past mit dem entsprechenden Befund in den anderen Paulusbriefen belegt die Sonderstellung der Past 34 . Mit der Feststellung von K. Beyer, daß das Verhältnis von Gräzismen und Semitismen in den Past und in den authentischen Paulusbriefen deutliche Unterschiede aufweist, "wobei besonders die Pastoralbriefe ganz und gar griechisch aussehen, wogegen bei den echten Paulinen noch semitischer Einfluß vorhanden zu sein scheint"35, ist auch eine deutliche Abweichung im Stil genannt36 . Diese Unterschiede in Sprache und Stil zwischen den Past und den anerkannten Paulinen sprechen deutlich gegen paulinische Verfasserschaft. Zieht man zur Erklärung die Abfassung der Past durch einen Sekretär heran, so bleiben (neben den übrigen inhaltlichen Unterschieden) die mit dem abweichendem Sprachgebrauch verbundenen theologischen Akzentverlagerungen zu erklären. "Praktisch ist in der Sekretärshypothese das Eingeständnis enthalten, daß die drei Briefe nicht von Paulus stammen. "37 (3) Die Warnung der Gemeinden vor dem Auftreten von Irrlehrern und die Belehrung des stellvertretend für Paulus in der Gemeinde tätigen Apostelschülers bilden ein zentrales Thema der Past. Die judenchristlich-gnostischen Tendenzen (vgl. 1 Tim 1,4; Tit 1,10.14 f; 2 Tim 2, 18), die als Gefahr für die Verkündigung der Wahrheit (vgl. 1 Tim 4,3; 6,5; 2 Tim 2,15.18.25; 3, 7f; 4,4; Tit 1, 14) und der "rechten" bzw. "gesunden Lehre" (l Tim 1,10; 4,6; 2 Tim 4, 3; Tit 1,9; 2,1) verurteilt, und deren Vertreter Vgl. dazu v.a. P. N. HARruSON, Problem; mit Ergänzungen DERS., Paulines, und präzisiert durch K. GRAYSTON - G. HERDAN, Authorship. Einen Überblick über die Ergebnisse gibt J. ROLOFF. I Tim 28-30. 32 Nach K. ALAND, Konkordanz 11 456f; vgl. auch U. SCHNELLE, Einleitung 381. Die Zahlen der Hapaxlegomena werden allerdings mcht immer gleich angegeben. 33 P. N. HARRISON, Paulines 22f. 34 V gl. R. MORGENTHALER, Statistik 38; mit 335 Sondergutvokabeln liegen die Past noch um 50 über dem mehr als doppelt so langen Röm. "Das ist nun freilich eine Zahl, die sehr kräftig für die Unechtheit der Pastoralbriefe spricht" (ebd. ). 35 K. BEYER, Semitische Syntax im Neuen Testament I/I (SUNT 1) (Göttingen 1962) 299; vgl. auch die statistischen Darstellungen 229-232 und 293-295. 36 Das Resultat von Beyer wird u. a. aufgegriffen bei W. G. KÜMMEL, Einleitung 328; A. WlKENHAUSER-J. SCHMJD, Einleitung 523f; 1. ROLOFF, I Tim 30. Vgl. auch K. J. NEUMANN, The Authenticity of the Pauline Epistles in the Light of Stylostatistical Analysis (SBLDS 120) (Atlanta 1990) der durch das Ergebms seiner Untersuchung den schon in anderen Studien festgestellten unpaulinisehen Stil der Past bestätigt sieht (213). 37 A. WlKENHAUSER-J. SCHMID, Einleitung 524. 31
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deshalb in den Past als "Häretiker" (Tit 3, 10) bekämpft werden, sind zwar für die Zeit des Paulus nicht völlig unvorstellbar3 8, insbesondere dann, wenn man, um die Authentizität zu retten, an die letzten Lebensjahre des Apostels denkt. Auch wenn in Anlehnung an apokalyptische Topoi das Auftreten von Irrlehren als eschatologisches Geschehen in Aussicht gestellt wird (vgl. 1 Tim 4,1 f; 2 Tim 3,1-5; 4, 3 f), so wird doch aus der Konfrontation des Apostelschülers mit diesem Phänomen deutlich, daß die Gemeinden der Past bereits davon betroffen sind (vgl. 1 Tim 1,3 f; Tit 1,10 f). Es handelt sich um eine Glaubensrichtung, die zum großen Teil als innerkirchliche Bewegung anzusehen ist und deren Kennzeichen eine Verknüpfung von gnostischen Spekulationen mit jüdischer Gesetzlichkeit ist. Im Vergleich zum Streit des Paulus mitjudenchristlichen Missionaren, die in den galatischen Gemeinden aufgetreten sind, liegt ein deutlich fortgeschrittenes Entwicklungsstadium vor. Dies zeigt sich u.a. darin, daß diese Bewegung in den Gemeinden schon erheblichen Einfluß gewonnen hat (vgl. 2 Tim 2,17; 3,6-9) und daß bereits disziplinarische Maßnahmen wegen des Abweichens vom' rechten Glauben durchgeführt worden sind (vgl. 1 Tim 1, 19f) bzw. der Apostelschüler zur Distanz zu "Häretikern" aufgefordert wird (Tit 3,9-11).
In der Art und Weise der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern hat der pastorale Paulus einen eigenen Stil entwickelt. Der in seiner Verantwortung für die Bewahrung des rechten Glaubens angesprochene Apostelschüler erhält kaum geistlich-theologisches Rüstzeug; es wird ihm sogar ausdrücklich untersagt, sich mit "gottlosem Geschwätz" zu befassen (2 Tim 2, 16; vgl. auch 2, 14). Im Unterschied zum paulinischen Vorgehen und auch noch im Unterschied zum deuteropaulinischen Kol erfolgt keine inhaltlich-theologische Auseinandersetzung, sondern es wird global und allgemein auf die überlieferte Lehre verwiesen und darauf, daß es diese zu bewahren und zu verteidigen gilt (1 Tim 6,20; 2 Tim 1, 13f). Der "rechte Glaube" ist als feststehende Größe vorausgesetzt. Kennzeichen der Irrlehrer ist, daß sie von der "Wahrheit" bzw. vom "Glauben" abgewichen sind (1 Tim 1,6; 6,21; 2 Tim 2,18). Dabei wird dieser Vorwurf des Abweicliens vom Glauben nur andeutungsweise skizziert (vgl. 1 Tim 1,4.7; 4,3; 2 Tim 2, 18; Tit 1,14). Als ein wichtiges Mittel zur Abwehr der Irrlehrer gilt dem Verfasser "eine festgefügte Kirchenordnung mit fähigen und gewissenhaften Gemeindeleitern"39. (4) Im Vergleich zu den Gemeinden, an die die authentischen Paulusbriefe gerichtet sind, hat die Gemeindeordnung der Past ein neues Stadium Vgl. W. G. KÜMMEL, Einleitung 334. Weil "die Gnosis wenigstens in ihrem Anfangsstadium mindestens so alt ist wie das Christentum", und weil deshalb "auch der geschichtliche Paulus schon gnostische Lehren zu bekämpfen hatte", ist nach A. WIKENHAUSER-J. SCHMID, Einleitung 528, aus dem Vorhandensein der Irrlehre kein Anhaltspunkt für die Datierung der Past zu gewinnen. Vgl. auch N. BROX, Past 32. 39 A. WIKENHAUSER-J. SCHMID, Einleitung 528. 38
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erreicht, welches v.a. gekenp.zeichnet ist durch das Hervortreten verschiedener Amtsträger. Es sind zum einen die 1tP€O"ßu't€POt (1 Tim 5,17-22; Tit 1,6), die als Presbyterkollegium bei der Einsetzung von Gemeindeleitern mitwirken (l Tim 4, 14). Daneben steht der €1t{O"lC01tO<; (l Tim 3, 1-7; Tit 1,6-9), als dessen Aufgabe beschrieben wird, daß er sich um die Kirche Gottes zu sorgen hat (1 Tim 3,5). Eine eindeutige Aufgabenbeschreibung und eine Abgrenzung der Kompetenzen fehlt bei ihm ebenso wie bei den Männern und Frauen, die als ÖtUKOVot in den Gemeinden tätig sind (1 Tim 3,8-13). Auf diesen Amtsträgern gründen Leben und Glauben der christlichen Gemeinden. Auch die Funktion der brieflichen Intervention durch "Paulus" hat sich gewandelt. Während der Paulus der authentischen Briefe seine Schreiben als Hilfe dazu versteht, daß die Gemeinden in ihrem Glauben gestärkt und gefestigt werden und so eigenverantwortlich ihr Leben dem Evangelium entsprechend ordnen, gilt das Wort des Pseudo-Paulus der Past ausschließlich seinen über die Gemeinde gestellten Schülern und Nachfolgern und mit ihnen denen, die wie sie (vgl. Tit 1,5; 2 Tim 2,2) eine verantwortliche Stellung in der Gemeinde einnehmen. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese gewandelte Sicht der Gemeinde in der zentralen Stelle 1 Tim 3, 14 bis 16, wo der abwesende Apostel seine briefliche Mitteilung an "Timotheus" so rechtfertigt: "damit du weißt, wie man sich im Hause Gottes verhalten muß ... " (3, 15). Die Einsetzung des Apostelschülers als Nachfolger des "Paulus" und die Miteinbeziehung der anderen Amtsträger in die ihnen übertragenen Aufgaben zeigen deutlich die Grundkonzeption des Sukzessionsgedankens. Dies ist m. E. der deutlichste Beleg für die Abfassung der Past in nachpaulinischer Zeit; denn die Autorität des Apostels, die hier zur Sprache gebracht wird, soll die Tätigkeit derer legitimieren, die bereits mit dem Anspruch auftreten, das Erbe des Paulus treu und zuverlässig zu bewahren und zu verwalten. Es ist das "Glaubensgut", das Paulus in seinem Wirken und in seinen Schriften hinterlassen hat. (5) Die theologische Bestimmung des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft ist in den Past im Vergleich zu Paulus sichtlich eine andere geworden. So ist die eschatologische Erwartung in den Hintergrund gerückt zugunsten der Betonung der Bewährung eines christlichen Lebens und der Bewahrung des Glaubens in der Gegenwart. In der Christologie wird zwar alte vorpaulinische Tradition aufgenommen, ebenso paulinisches Traditionsgut; entscheidend wird aber jetzt in der Christologie ein neuer Bezugsrahmen, der vor allem charakterisiert wird durch gegenüber Paulus neue Begriffe, v. a. durch das Stichwort "Epiphaneia" und den Titel "Sotär". Bei den aufgezählten Differenzpunkten mag im Einzelfall eine Abfassung der Past durch Paulus unter besonderen Bedingungen noch als möglich und denkbar erachtet werden. In der Summierung der Unterschiede jedoch vermitteln die Past einen Gesamteindruck, der weder zu den uns bekannten Situationen aus dem Leben des Paulus passen will, noch zu den XXXIX
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Bedingungen der Gemeinden seiner Zeit, noch auch zur Verkündigung des Evangeliums durch den Völkerapostel.
b) Versuche, die paulinische Verfasserschaft zu retten Die genannten Probleme, die einer Abfassung unserer drei Schreiben durch Paulus im Wege stehen, werden bis in die jüngste Zeit nicht durchgehend als schlechthin ausreichende Gegengründe anerkannt. Gegen die Bewertung der Past als Pseudepigrapha werden Einwände geltend gemacht; die Vorschläge, die Authentizität der Past trotz der genannten und nicht zu bestreitenden Unterschiede zu retten, lassen sich folgendermaßen gruppieren: (1) Die Abweichungen von den unbestritten echten Paulusbriefen werden erklärt mit Hilfe der Sekretärshypothese. J. Jeremias hat diese etwa in folgender Weise formuliert 40 : Aufgrund von vorhergehender mündlicher Anweisung und unter ständiger Beteiligung des Apostels seien die Past von einem Mitarbeiter des Paulus geschrieben worden. Im Unterschied zu den anderen Briefen habe der Schreiber hier allerdings größere Freiheit genossen. Auf diese Weise ist die paulinische Verfasserschaft in grundsätzlicher Hinsicht gerettet, und gleichzeitig finden die Abweichungen eine Erklärung. Die Abweichung von denjenigen Paulusbriefen, die unter Mitwirkung des Timotheus entstanden, seien damit zu erklären, daß jetzt ein neuer, hellenistisch gebildeter und in der jüdischen Schriftauslegung bewanderter Mitarbeiter behilflich war. "Das Entscheidende bleibt: auch hinter diesen Briefen steht als ihr Schöpfer die Gestalt des großen Heidenapostels." Nimmt man die entscheidende Bedingung ernst, daß nämlich Paulus zwar Initiator ist, mit der Abfassung der Schreiben, und das bedeutet letztlich auch mit der inhaltlichen Ausgestaltung nicht mehr befaßt ist, dann ist aber zu fragen, inwieweit der Ausdruck "Schöpfer" für Paulus noch angebracht ist.
(2) Ein anderer Weg, die Authentizität der Past wenigstens im Grundsätzlichen zu retten, ist die Fragmentenhypothese. In dieser Erklärungsrichtung wird vorausgesetzt, daß in den Past zumindest Bruchstücke echter Paulusbriefe aufgenommen und verarbeitet worden sind. Als solche Fragmente echter Paulusbriefe werden bevorzugt genannnt die persönlichen Notizen besonders aus 2 Tim (vgl. 2 Tim 4,9-15)41. Gegenüber dieser Annahme muß man jedoch die Frage stellen, warum der Redaktor der Past gerade auf solche, für sich genommen doch recht nebensächliche und nichtssagende Notizen zurückgegriffen haben sollte.
(3) Als eine dritte Variante sei die von P. Dornier42 vorgeschlagene Rekonstruktion der Entstehung der Past vorgestellt. 40 J. JEREMlAS, Past 10.
41 Solche "genuin paulinischen Elemente" hat P. N. stellt. 42 P. DORNIER, Past 11-25.
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HARRISON, Problem 87-135, zusammenge.~
Einführung Die Frage der Authentizität wird zwar auch in Verbindung mit den historischen Problemen (die Einbindung in Leben und missionarisches Wirken des Paulus; die in den Briefen bekämpften Irrlehren; die Gemeindeorganisation), mit der von Paulus abweichenden Theologie und schließlich dem Unterschied in Wortschatz und Stil problematisiert, und aus diesen Gründen gilt Dornier eine Abfassung durch Paulus selbst, zumindest in der vorliegenden Form, als ausgeschlossen, wobei die theologischen und sprachlichen Unterschiede sowie die unterschiedliche Gemeindesituation besonders gewichtet werden. Gegen eine Spätdatierung (Abfassung im zweiten Jahrhundert43 ), aber auch gegen die traditionelle Fragmentenhypothese (z. B. Harrison) und die Sekretärshypothese will Dornier eine zweistufige Entstehung favorisieren, die letztlich als eine Variante der Fragmentenhypothese angesehen werden kann. Paulus habe ursprünglich wirklich die drei Briefe geschrieben, zwei an Timotheus und einen an Titus, allerdings bedeutend kürzer, spontaner und stärker an seiner Theologie orientiert. Ein Schüler des Paulus habe dann in den Jahren 70 bis 80 in Rom diese drei Briefe des Apostels entsprechend den Erfordernissen der Gemeinden seiner Zeit überarbeitet und herausgegeben. Die entscheidende Frage, die sich bei dieser Hypothese stellt, ist, wo denn konkret die echten Paulusbriefe noch greifbar sind, da sie doch als authentische Schreiben nicht mehr vorhanden sind. Da die Vorlage von Paulus her zu einem bloß formal bedeutsamen Postulat degradiert wird und letztlich ohne jegliche inhaltliche Bedeutung bleibt, erscheint es doch sinnvoller, ganz darauf zu verzichten.
Gemeinsam ist all diesen Versuchen ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes und auch unterschiedlich artikuliertes apologetisches Interesse. Das Ziel ist es, die Authentizität der Past dadurch zu retten, daß man über die nicht zu leugnenden Unterschiede zu den echten Paulusbriefen hinweg am Apostel zumindest als Initiator und letztlich wenigstens grundsätzlich verantwortiicher Autorität festzuhalten versucht44. Gegenüber den zuletzt genannten Rekonstruktionsversuchen, die die Past biographisch irgendwie an Paulus als Verfasser anbinden wollen, ist die bestbegründete Lösung die, daß diese "Briefe" geschrieben worden sind von einem nicht näher zu bestimmenden Christen der zweiten oder wahrscheinlicher dritten christlichen Generation, allerdings in der Absicht, die Leser von der Abfassung durch Paulus zu überzeugen 45. Auf-
Vgl. H. v. CAMPENHAUSEN, Polykarp 12f; vgl. DERS., Amt 116-129, der einen Zusammenhang sieht zwischen der Mahnung an Timotheus, sich femzuhalten von den" avnS EO"W;" der f1ilschlich so genannten Erkenntnis" (I Tim 6,20), und dem Hauptwerk Markions mit demselben Titel ,AvnSEO"w; ("Widersprüche"). Für die daraus sich ergebende Datierung der Entstehung der Past in der Mitte des zweiten Jahrhunderts spricht s.E. auch die kirchliche Sitnation, die geprägt ist vom Kampf gegen gnostische Irrlehrer und von der schon weit fortgeschrittenen Entwicklung des Amtes und des Kirchenrechtes. Zur Kritik an dieser Spätdatierung und der Gleichsetzung des Verfasser der Past mit Polykarp von Smyma J. ROLOFF, I Tim 35 f. 44 Deutlich zeigt sich diese Fixierung auf die Autorität des Paulus in einer Bemerkung bei P. DORNIER, Past 25, zu seiner Hypothese: ,,lI ne s'agirait pas 111 de l'reuvre d'un ,faussaire' composant de toutes pieces un pastiche plus on moinsheureux, mais d'une nouvelle redaction d'ecrits authentiquement pauliniens." 45 Die Past sind nach A. LINDEMANN, Paulus 45, "im Unterschied zu den älteren Pseudopaulinen sehr bewußt als Pseudepigrapha konzipiert". So auch N. BROX, Verfasserangaben 19-24, und L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 7 (mit ausführlicher Darstellung 7-66). 43
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grund des besonderen Charakters der Past als Mahnschreiben an die Amtsund Funktionsträger in den Gemeinden ist damit zu rechnen, daß der Verfasser im Kreis dieser Gemeindeleiter zu suchen ist. Die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertretene These, der Verfasser der Past sei identisch mit dem Autor des lukanischen Doppelwerkes, wurde in jüngerer Zeit weiter entwickelt und begründet. A. Strobel will die Problematik der Verfasserfrage "in erster Linie philologisch" angehen. Er nennt zuerst die Begriffe, die dem lukanischen Schrifttum und den Past gemeinsam und sonst nicht mehr im NT zu finden sind, dann die bevorzugt in den Past und im lukanischen Doppelwerk stehenden, und schließlich grammatikalische Gemeinsamkeiten. Dazu kommen Übereinstimmungen in Wendungen, die z. T. geprägten Charakter haben, so etwa I Tim 1,15 (Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten - vgl. Lk 19,10) und I Tim 5,18 (würdig ist der Arbeiter seines Lohnes - vgl. Lk 10,7)46. Solche Übereinstimmungen sind jedoch nicht notwendigerweise als Zeichen direkter literarischer Abhängigkeit zu bewerten, sondern können erklärt werden aus der beiden Autoren. gemeinsamen Kenntnis der hellenistischen Popularphilosophie und Ethik einerseits und einer Prägung der in ihren Gemeinden lebendigen christlichen Tradition durch eben diese hellenistisch geprägte Umwelt andererseits. Ähnliches gilt für die ausführliche "Verteidigung" der Lukas-Hypothese bei S. G. Wilson47 , der zusätzlich zum Argument der Gemeinsamkeit in Sprache und Stil (5-11) u. a. auf Übereinstimmungen in der Eschatologie (12-19), in der Soteriologie (20-35), im Verhältnis zum Staat und zur weltlichen Obrigkeit (36-52), in der Vorstellung von Kirche und Amt (53-68) und in der Christologie (69-89) verweist. Die auffällige Nähe bei bestimmten Themen (etwa in der Eschatologie, bei den Aussagen zur Einstellung der Christen zur weltlichen Obrigkeit und bei den .ekklesiologischen Konzeptionen) ist zu erklären mit der zeitlichen und topographischen Nähe der Entstehung dieser Schriften48 .
Da die Abfassung als zusammengehöriges Briefcorpus anzunehmen ist, ist die Frage nach der Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Briefe kaum mehr zu klären und letztlich für die Interpretation belanglos. Allerdings ist deutlich zu erkennen, daß 2 Tim als eine Art testamentarischer Abschluß gestaltet ist und deshalb in der Intention des Verfassers auch den Abschluß des Briefcorpus darstellen soll. Denkbar wäre also, daß vom Autor her die Reihenfolge, in der diese Briefe gelesen werden sollen, lautet: Tit, 1 Tim, 2 Tim. c) Die Past als Pseudepigrapha Die Erklärung der Past als Deuteropaulinen ist zu verbinden mit der These, die sich im Verlauf der Auslegung bestätigen soll, daß mit dieser Annahme ihr Verstehen nicht erschwert, "sondern im Gegenteil erleichtert" wird 49 . 46 A. STROBEL, Schreiben 194-205. 47 S. G. WILSON, Luke. 48 Vgl. zur ausführlichen Kritik der Lukas-Hypothese N. BROX, Lukas; auch J. ROLOPF, I Tim 33 bis 35. 49 W. MARXSEN, Einleitung 207.
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Einführung Der pseudepigraphischen Verfasserschaft antiker Schriften liegen im wesentlichen zwei Momente moüvierend zugrunde: Es ist zum einen das gemeinantike Traditionsdenken, welches besagt, daß die Norm der Wahrheit bei den "Alten", in der früheren Zeit liegt. Es ist dementsprechend bei der Erstellung solcher Schriften das Anliegen leitend, bei neu auftauchenden Fragen im Bereich eines vom Glauben an das Handeln Gottes bestimmten Lebens Antworten und Weisungen durch den Rückgriff auf anerkannte Autoritäten der Vergangenheit zu geben. Zum anderen kann man in der Pseudepigraphie eine Art Personalisierung der Tradition sehen; im Wesen dieser Personalisierung von Tradition liegt es, daß die Wahrheit und die Unverfälschtheit einer Überlieferung garantiert gesehen werden in der Anbindung an eine Person aus der Geschichte, deren Autorität für einen bestimmten Bereich bzw. für bestimmte Personengruppen mit gemeinsamer (Glaubens-)Überzeugung unbestritten ist. Dies gilt grundsätzlich für alle neutestamentlichen Schriften, die als pseudepigraphisch anzusehen sind. Was speziell die paulinischen Pseudepigrapha betrifft, so sind zusätzlich zwei Gesichtspunkte zu beachten, die in anderen Fällen - es ist etwa zu denken an 1 und 2 Petr oder Jak - nicht in gleicher Weise gegeben sind: Einmal ist die geschichtliche Bedeutung des Paulus als Verkünder des Evangeliums für die Völker und das daraus entstandene "Bild" vom überragenden Heidenmissionar zu berücksichtigen. Dafür bietet die Apg ein eindrucksvolles Zeugnis. Darin liegt ein personales Element. Zum anderen ist die Bedeutung seiner Briefe, die schon bald nach der Beendigung seines Wirkens den Charakter eines bleibenden und verpflichtenden Vermächtnisses bekamen, in Betracht zu ziehen. Diese Briefe sind sehr schnell über den eingegrenzten Bereich der jeweiligen Gemeinden, an welche sie gerichtet waren, hinaus bekannt geworden. Sie wurden gesammelt und unter den Gemeinden ausgetauscht. Auf diese Weise entwickelte sich eine breite Anerkennung der paulinischen Verkündigung; es wuchs so etwas wie eine von Paulus her bestimmte theologische "Richtschnur", ein "Kanon" des Evangeliums. Man kann somit von einer zweifachen Wirkungs geschichte des Paulus sprechen, von der personal geprägten, die bestimmt ist vom Bild des Völkerapostels, und von der literarisch-theologisch geprägten, die vom Zeugnis der Briefe ausgeht. Die Bedeutung des Paulus zeigt sich im übrigen auch in dem Widerstand, den er hervorruft, also in einer kritischen Rezeption, die etwas global charakterisiert wird mit dem Schlagwort "Antipaulinismus" 50. Betrachten wir den Stellenwert der von Paulus an verschiedene Gemeinden gerichteten Briefe im Kontext seiner missionarischen Tätigkeit, so sind sie als Teil dieser Verkündigung des Evangeliums und damit als Zeichen seiner Verantwortung und seiner Sorge für die Gemeinden zu verstehen. Dies kommt auch zum Ausdruck in der Selbstbezeichnung als "Apo-
so Vgl. dazu G. LÜDEMANN, Paulus. XLIII
Einführung
stel"; sie hat programmatischen Charakter, weil sie die Legitimation seines Evangeliums, die allein von Gott her kommt, unterstreicht (vgl. 2 Kor 1,1: "Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes"). Damit verbindet sich ein besonderer Anspruch, der dann in den Krisensituationen der Auseinandersetzungen in Galatien und in Korinth, wo das von ihm verkündete Evangelium und damit auch die Legitimation des apostolischen Anspruchs des Paulus auf dem Spiel stehen, stärker in den Vordergrund rückt (vgl. Gal 1,1.10-12; 2 Kor 10-12). Es geht im Brief um die apostolische "Parusie", wie sie etwa Paulus in 1 Kor 5,3 formuliert: eyro IlEV yap, a1tow tP'l croollatt 1taprov ÖE t{i> 1tvEUllatt ... 51 Die Tatsache, daß er nicht in der Gemeinde ist und sein kann, zwingt den Apostel, zu einem anderen Mittel der Kontaktaufnahme zu greifen. Dies kann geschehen einmal durch einen Brief. Dies kann aber auch dadurch geschehen, daß ein vom Apostel beauftragter Mitarbeiter in der Gemeinde tätig wird. Hier ist die Miteinbeziehung von Timotheus und Titus in die Regelung der Beziehungen des Apostels zur Gemeinde von Korinth in Erinnerung zu rufen. Beachtet man, daß Paulus als Apostel eine besondere Vollmacht in Anspruch nimmt, daß er aber diese Vollmacht auch in anderer Art und Weise zur Geltung bringen konnte als durch seine unmittelbare Anwesenheit, nämlich durch einen Brief oder durch von ihm beauftragte Mitarbeiter, dann bedeutet auch die endgültige Abwesenheit des Apostels, bedingt durch seine Gefangennahme, die Haft, die Überbringung nach Rom und schließlich den Tod, zwar eine einschneidende Zäsur, doch im Grundsätzlichen hat Paulus selbst bereits Vorsorge getroffen dafür, daß sein Abtreten zu keiner Krise in der Verkündigung des Evangeliums führt. Die Männer und Frauen, die das missionarische Wirken des Paulus fortführen, sind weiterhin, wie ja auch schon früher, die Garanten der apostolischen "Parusie". Vergleichbares gilt für seine Briefe. Sie hatten bereits in der Situation ihrer Entstehung die Funktion, die Distanz zwischen dem Apostel und der Gemeinde zu überbrücken, ihn zu vertreten. Im Grunde genommen hat sich daran mit größerem zeitlichen Abstand nichts geändert. Allerdings erhalten sie jetzt, angesichts der endgültigen Abwesenheit des Paulus, für die Gemeinden einen neuen Stellenwert; sie bekommen den Charakter eines bleibenden Vermächtnisses. In den von Paulus zurückgelassenen Briefen und in deren Auslegung sowie in der Verkündigung, die sich an Paulus orientiert, ist der Apostel weiterhin in den Gemeinden gegenwärtig. Der neue Stellenwert der Briefe zeigt sich gleichzeitig darin, daß diese an EinzeIgerneinden gerichteten "Gelegenheitsschriften" ausgetauscht wurden. Nun handelte es sich dabei sicherlich zuerst einmal um ein Zeichen der Anerkennung des normativen Charakters des apostolischen Wortes, allerdings nicht verstanden im Sinne einer bloßen Konservierung. Es zeigen sich deutlich Ansätze zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit dem literarischen Vermächtnis des Apostels; es 51 Vgl. zu diesem Topos der Parusie des Apostels R. W. FuNK, Parousia; W. STENGER, Timotheus
257-259.
XLIV
Einführung werden redaktionelle Eingriffe vorgenommen, kürzere Briefe zu einer umfassenden, größeren Einheit zusammengestellt (vgl. 2 Kor; Phil) und auch Erweiterungen und Ergänzungen vorgenommen (v gl. etwa die "ökumenische" Ergänzung des Briefpräskripts in 1 Kor 1,2).
In der nachpaulinischen Zeit sind also zwei Tendenzen zu beobachten: Es zeigt sich zum einen das Anliegen, das Wort des Paulus zu erhalten und es als autoritatives Wort weiterzugegeben. Und es wird zum anderen als Aufgabe erkannt, das Wort des Paulus für die Kirche zu aktualisieren. Auf dieser Linie der Aktualisierung und Interpretation des "Paulus" liegen die paulinischen Pseudepigrapha, also auch die Past. Im Vergleich zu Eph und Kol haben wir in den Past ein weiter fortgeschrittenes Stadium vorliegen; die Past blicken nicht nur auf Paulus zurück, sondern sie schauen auch schon zurück auf die Schüler und "Nachfolger" des Paulus, so daß man mit gutem Recht von "Tritopaulinen" sprechen kann52 . Insgesamt gesehen geht es um das Erbe des Paulus, das nun, in einer neuen und veränderten kirchlichen Situation, im Geist, und das heißt zugleich im Namen und unter der Autorität des Apostels bewahrt und festgeschrieben werden soll. In diesem Dienst der Bewahrung der Tradition stehen zum einen die Past und zum anderen die über die Apostelschüler als Nachfolger legitimierten Gemeindeleiter5 3 • Dabei darf der Aspekt des Bewahrens (uAacrcrttv) nicht zu eng interpretiert werden. Wenn der Verfasser dazu auffordert, "das anvertraute Gut zu bewahren" (vgl. 1 Tim 6,20: 'tTJv 1tapaflT\1cllV uAa~ov, 2 Tim 1,14: 'tT]v KaAT]v 1tapa9T]K11v
uAa~ov), dann denkt er zuerst an die in den Paulusbriefen vorliegenden Glaubensinhalte. Doch ebenso sicher rechnet unser Autor damit, daß die von ihm vorgelegte Interpretation der paulinischen Überlieferung ebenfalls als verpflichtend anerkannt wird, also seine eigenen theologischen und ekklesiologischen Entwürfe, die durchaus Differenzen zum historischen Paulus aufweisen. Hier ist schon auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam zu machen: Für die Past ist "Kontinuität" der Verkündigung nicht gleichbedeutend mit "Identität"54.
Vgl. P. TRUMMER, Paulustradition 105. 228. Diese Bezeichnung übernimmt auch W. SCHENK, Briefe 3405. 53 Vgl. dazu D. G. MEADE, Pseudonyntity 137. 54 In diesem Sinne ist die Aussage von J. ZMDEWSKI, Pastoralbriefe 210, zu erweitern, wenn er "zusammenfassend" die Intention des Verfassers folgendermaßen umschreibt: "Es geht ihm wesentlich darum, die paulinische ltapaOil1cl1, die als ,gesunde Lehre' sowohl den dogmatischen Bestand orthodoxer Lehre als auch die rechte kirchliche Praxis wie ebenso die persönliche Lebensftihrung umfaßt, als ,zuverlässiges Wort' dem Amtsträger der Kirche stichwortartig in Erinnerung zu rufen, dantit er sie bewahre und an andere weitergebe." 52
XLV
Einführung
5. Ort und Zeit der Abfassung Die für pseudepigraphische Abfassung genannten Gründe können auch für die zeitliche Ansetzung ausgewertet werden, wobei jedoch diese Angaben nur einen gewissen Rahmen benennen können. Ein wichtiger Anhaltspunkt ist dabei die aus den Past erkennbare Situation der Gemeinde, sowohl in der inneren Ordnung als auch in der Auseinandersetzung mit Irilehrem. Für die Abfassungszeit scheint die aufgrund von sprachlichen und sachlichen Gründen gefundene und auf relativ breiter Basis akzeptierte Datierung am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert am überzeugendsten. Versuche einer genaueren Eingrenzung bleiben problematisch55 . Was den Abfassungsort bzw. das Entstehungsgebiet betrifft, so lassen sich ebenfalls nur Möglichkeiten anführen. Zu denken ist an einen Bereich, wo Paulus-Traditionen besonders lebendig waren und sich damit das Problem der Interpretation der paulinischen Überlieferung stellte. Das würde v. a. zutreffen für den kleinasiatischen Raum, in abgeschwächter Form auch für Griechenland56 . Man kann aber nicht so weit gehen, nur eine von Paulus selbst gegründete Gemeinde als Entstehungsort bzw. Adressatengemeinde zuzulasserr7 • Wenn die zeitliche Ansetzung auf ca. 100 n. Chr. zutrifft, dann ist auch in einer von Paulus gegründeten Gemeinde die "Präsenz" nur noch eine literarisch vermittelte und vermittelbare. Man wird zudem den Stellenwert und die hohe Einschätzung des in seinen Briefen vorliegenden Erbes nicht hoch genug veranschlagen können. Damit ist aber der engere Bereich der von Paulus gegründeten Gemeinden längst überschritten. Entscheidend für die Wirkungsgeschichte der Paulusbriefe ist die Rezeption der theologischen Grundzüge seines Evangeliums; und dafür bedarf es nicht der Gründung der Gemeinde durch Paulus. Eine mit dem missionarischen Wirken begründete Festlegung des Entstehungsortes bleibt ein zu vages Postulat. M. WOLTER, Pastoralbriefe 22-25, nennt als Abfassungszeitraum die Jabre zwischen 90 und 140, mit der größeren Wabrscheinlichkeit in der ersten Hälfte dieses Zeitraumes. 56 Die Parallelen zwischen I Kor und den Past sind für R. SCHWARZ Anlaß zur Überlegung, daß die Past nicht an Gemeinden Kleinasiens oder gar an die Gemeinde in Ephesus gerichtet waren, wogegen auch "die Unstimmigkeiten" in den Personalnotizen zwischen den echten Paulinen und Apg auf der einen Seite und den Past auf der anderen Seite sprächen, sondern daß sie an "die Gemeinde in Korinth oder eine andere mit ähnlicher Problemlage in einem späteren Stadium" gerichtet waren (Rez. zu Ph.H. Towner, The Goal ofOur Instruction, in: Bib. 72 [1991]132-137, hier 136). Für eine Identifizierung des Empfangerkreises mit der korinthischen Gemeinde können aber weder die Parallelen zwischen den Past und I Kor noch die Tatsache der Spannungen im Bereich der Personalnotizen in Anspruch genommen werden. Allerdings ist Schwarz zuzugestehen, daß allein mit dem Verweis auf die behandelten Themen und die innergemeindlichen Entwicklungen eine Eingrenzung auf den kleinasiatischen Bereich oder gar auf Ephesus nicht zu begründen ist. 57 Gegen M. WOLTERS, Pastoralbriefe 15, These, es sei auszugehen "von der sicheren und keinem Zweifel unterliegenden Voraussetzung, daß es sich bei der Gemeinde, in der der Verfasser der Pastoralbriefe lebt, um eine dezidiert paulinische Gemeinde handelt; d. h. es handelt sich um eine von Paulus selbst gegrüodete Gemeinde, deren Bestimmtheit durch Person und Theologie des Apostels über die Wirkungsgeschichte und die rein literarische Rezeption seiner Briefe hinausgeht". 55
XLVI
Einführung
6. Paulus und die Past, oder: Die Past im Urteil der Theologen Es ist in der Exegese bisweilen die Tendenz zu erkennen, die Past wegen der in ihnen ganz offensichtlich dominierenden formal-organisatorischen Ausrichtung und insbesondere aufgrund des Fehlens einer radikalen Ausrichtung auf die Mitte des Evangeliums, auf die Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu, im Vergleich mit Paulus theologisch zu kritisieren. In der Tat wirken diese drei Schreiben, betrachtet von der Höhe der paulinischen Theologie, bisweilen etwas bescheiden und ohne eigenes theologisches und christologisches Profil. Ihre Bedeutung, ihr Stellenwert wird dann einschränkend ebenfalls darin gesehen, daß sie ein allenfalls geschichtlich wichtiges Stadium auf dem Weg zum "Frühkatholizismus" repräsentieren. Besonders hart fällt etwa das Urteil von S. Schulz aus, der zwar die "Zeitgemäßheit der frühkatholischen Theologie" der Past anerkennt, in der Frage der "Sachgemäßheit dieser Theologie" jedoch anders urteilt: " ... die sachlichen Argumente der Pastoralbriefe sind, gerade weil sie als Wort des Paulus ausgegeben werden, auch daran zu messen, ob hier Identität oder Differenz gegenüber Paulus vorliegt". Als "sachkritischen" Einwand formuliert Schulz abschließend, "daß das paulinische Erbe nicht nur in eine neue Situation hinein übersetzt wurde, sondern eindeutig in frühkatholischem und das heißt in unpaulinischem Sinn umgebildet wurde,ö8. Nun ist es natürlich gerechtfertigt, nach der Übereinstimmung und nach der Differenz der Past zu den echten Paulusbriefen zu fragen; denn immerhin schreibt der Verfasser unter dem Namen und damit auch unter der Autorität des Apostels. Es ist aber gleich die Frage anzufügen, ob es sinnvoll sein kann, diese vergleichende Würdigung unter dem vorgefaßten Prinzip vorzunehmen, daß nur in der Übereinstimmung mit den echten Paulusbriefen der Wert und die Bedeutung dieser Deute58 S. SCHULZ, Mitte 108 f: "Auch die Pastoralbriefe sind pseudonyme Briefe, die ausdrücklich die Autorität des Apostels für ihre theologischen Thesen - die allerdings weithin dem Durchschnitt des kleinasiatischen Christentums zu Anfang des 2. Jahrhunderts entsprechen - in Anspruch nehmen. Das Niveau des Paulus ist nirgends erreicht ... Daß dieser anonyme Theologe gleich drei ,Paulus'Briefe an zwei Mitarbeiter in verschiedensten Kirchengebieten (Ephesus und Kreta) schrieb, läßtso der Wunsch des anonymen Verfassers - in aller Deutlichkeit erkennen, daß ,Paulus' für ganze Kirchengebiete und für alle Zeiten gültige, dauerhafte Anordnungen rechtlicher Art getroffen hat, ja sein Testament dem Timotheus hinterläßt. Der historische Paulus genügte nicht mehr; der unbekannte kirchliche Schriftsteller schuf den ganzen Paulus, das heißt den Apostel der Rechtgläubigkeit, der Kirchenverfassung, der apostolischen Lehrtradition und Sukzession, den unermüdlichen Vorkämpfer für Ordnung und Sitte im Sinne einer christlichen Bürgerlichkeit, und zwar als wirksames Kampfmittel gegen die gnostischen Ketzer. Die frühkatholische Großkirche hat mit ihrem Dank für' einen solchen Paulus nicht zurückgehalten, sondern diese frühkatholischen Erzeugnisse in die Sammlung der echten Paulusbriefe und damit in den von ihr geschaffenen Kanon aufgenommen ... An der Zeitgemäßheit der frühkatholischen Theologie dürfte - historisch geurteilt - wohl kein Zweifel bestehen. Völlig anders dagegen steht es um die Sachgemäßheit dieser Theologie; denn die sachlichen Argumente der Pastoralbriefe sind, gerade weil sie als Wort des Paulus ausgegeben werden, auch daran zu messen, ob hier Identität oder Differenz gegenüber Paulus vorliegt. Denn das alles dispensiert uns keineswegs von der sachkritischen Feststellung, zu der uns die Pastoralbriefe ausdrücklich ermächtigen, daß das paulinische Erbe nicht nur in eine neue Situation hinein übersetzt wurde, sondern eindeutig in frühkatholischem und das heißt in unpaulinischem Sinn umgebildet wurde."
XLVII
Einführung ropaulinen zu suchen sei. Gegenüber einer solchen Festlegung des Maßstabes ist festzuhalten: Der Stellenwert der Past kann nicht bestimmt werden anhand der Übereinstimmung mit Paulus; wichtiger und aussagekräftiger für eine sachgerechte Beurteilung sind vielmehr gerade die Unterschiede. Die Beurteilung hat dabei zu bedenken, daß der Verfasser der Past zumindest einen Teil der paulinischen Briefe und damit in jedem Fall Grundzüge der paulinischen Theologie kennt, und daß die Differenz Paulus gegenüber eine bewußt getroffene Entscheidung darstellt, die allerdings gerade für Paulus Stellung bezieht.
Schon die Tatsache, daß ein Christ der zweiten oder dritten christlichen Generation "Paulus-Briefe" schrieb, zeigt, daß es gar nicht um eine bloße Wiederholung des paulinischen Stoffes, seiner Theologie, Christologie und Soteriologie gehen konnte. Für die Abfassung dieser "Briefe" ist vielmehr Voraussetzung, daß der Verfasser Neues sagen und Bisheriges ergänzen wollte. Wenn wir Paulus zum Vergleich heranziehen, dann kann dies nur geschehen unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich die Situation von der Zeit des Paulus zu den Past entscheidend geändert hat. Der Begriff "Sachgemäßheit" kann folglich nicht mehr nur von Paulus her definiert werden. Der Autor ist der Meinung, daß es in manchen Bereichen nicht mehr ausreicht, sich auf die vorhandenen Weisungen des Apostels zu berufen oder sie zu wiederholen. H. Köster hat in einer kurzen Bewertung der Past beiden Gesichtspunkten Rechnung zu tragen versucht. Er gesteht dem Verfasser der Past einerseits zu, daß dieser "recht gut verstanden (hat), daß der eigentliche Prüfstein der apostolischen Vollmacht des Paulus sein Leiden ist, nicht aber der nachträglich seine Wirksamkeit verbrämende Glanz. Er weiß auch mit Paulus, daß das Feld, auf dem der christliche Glaube sich bewähren muß, die Kirche ist, die einer Welt unerbittlicher sozialer und politischer Notwendigkeit gegenübersteht, und daß man dem nicht durch die Flucht in theologische Spitzfindigkeiten und Spekulationen ausweichen darf. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, daß in den Pastoralbriefen ein Ausverkauf der paulinischen Theologie unter ungünstigen Bedingungen stattgefunden hat"59. Mit Köster läßt sich zwar als die zentrale Frage an unseren Autor die nach der "bleibende(n) Gültigkeit des paulinischen Erbes" benennen; nicht mehr so eindeutig zustimmen wird man aber, wenn er unmittelbar daran die Behauptung einer "dadurch notwendige(n) Neuinterpretation der paulinischen Theologie" anschließ 60 . Der Anspruch unseres Pseudo-Paulus wird darin zu wenig ernst genommen; er will mit eigenständiger Akzentuierung Weisungen für seine Zeit geben, die sich gerade nicht darin erschöpfen, inhaltlich auf Paulus zurückzuverweisen, und es erscheint als eine nicht gerechtfertigte Einschränkung, ihm einzig zuzugestehen, die paulinische Tradition zu interpretieren.
Sowohl die grundsätzliche Bewertung der Past als auch die exegetische Arbeit muß sich vor zwei Extremen hüten: Einmal vor einem apologetischen Eifer, der aufgrund der Aufnahme dieser Schriften in den Kanon 59 H. KÖSTER, Gnomai Diaphoroi: Ursprung und Wesen der Mannigfaltigkeit in der Geschichte des frühen Christentums: H. KÖSTER - J. M. ROBINSON, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Tübingen 1971) 107-146, hier 145. 60 Ebd. XLVIII
Einführung
und wegen der vom Verfasser in Anspruch genommenen apostolischen Autorität die Probleme übersehen will, die sich auf dem von den Past eingeschlagenen Weg einer Rechtfertigung und Verteidigung der Orthodoxie ergeben haben; oder anders formuliert: Es besteht die Gefahr, daß die Beschreibungen und Forderungen der Past v. a. in organisatorischen und kirchenrechtlichen Bereichen als ewig bindende und gültige Festschreibung bestimmter Strukturen verstanden werden, einfach auch mit dem Argument versehen, es stehe dahinter die Autorität des Paulus. Die Bedeutung der Wirkungsgeschichte zeigt sich dabei weniger in theologischen Überlegungen oder in exegetischer Würdigung, als vielmehr in der faktischen Übernahme und Festschreibung bestimmter Anweisungen, die die Ordnung des Gemeindelebens betreffen. Andererseits aber gilt es, sich vor einer ausschließlich vergleichenden Bewertung der Past zu hüten, die ihnen schon deshalb nicht gerecht werden kann, weil diese Fragestellung die Intention der "Briefe" ignoriert. Es ist eine Gefahr, die der genannten Bewertung, nämlich einer nicht weiter reflektierten Rezeption der Leben und Gestalt der Gemeinden betreffenden Anweisungen, entgegengesetzt ist, also eine vorschnelle Aburteilung allein aufgrund der Feststellung, daß sie den Erwartungen nicht genügen. Es gilt, einen Mittelweg zu finden in der Beurteilung der Past; die grundsätzlich positive Einschätzung kann natürlich einerseits nicht absehen von den bis dahin entwickelten und als verpflichtend anerkannten Formulierungen des Kerygmas; sie muß aber auch den Anspruch mitbedenken, vor welchen sich der Verfasser aufgrund neuer pastoraler und theologischer Anforderungen gestellt sah. Das Kriterium für die Bewertung der Past kann folglich nicht einseitig die geschichtliche Situation der Vergangenheit mit den dafür (u. a. von Paulus) formulierten Entscheidungen sein; es muß ein Urteil hinzukommen, welches sich auf die besondere und spezifische Lage der Gemeinden und der Kirche am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert stützt und welches folglich eine Antwort gibt auf die Frage, in welcher Weise die Past der Verkündigung des Evangeliums gerecht zu werden versucht haben. LITERATUR: H. BINDER, Die historische Situation der Pastoralbriefe: Geschichtswirklichkeit und Glaubensbewährung (Festsehr. F. Müller) (Stuttgart 1967) 70--83; M. C. DE BOER, Images ofPaul in the Post-Apostolic Period: CBQ 42 (1980) 359-380; N. BROX, Lukas als Verfasser der Pastoralbriefe?: JAC 13 (1970) 62-77; 1. V. BRUGGEN, Die geschichtliche Einordnung der Pastoralbriefe (WuppertaI1981); S. DOCKX, Essai de chronologie de la vie de S. Timothee: Chronologies neotestamentaires et Vie de l'eglise primitive. Recherehes exegetiques (Gembloux 1977) 167-187; E. E. ELLIS. Paul and His Recent Interpreters (Grand Rapids, 51979) 49-57; DERS., Die Pastoralbriefe und Paulus. Beobachtungen zu Jürgen Roloffs Kommentar über 1. Timotheus: TheolB 22 (1991) 208-212; P. FANNON, The Pastoral Epistles: IER 96 (1961) 266-275; A. FEUILLET, La doctrine des Epitres Pastorales et leurs affinites avec l'ceuvre lucanienne: RThom 78 (1978) 181-225; K. GRAYSTON G. HERDAN, The Authorship of the Pastorals in the Light of Statistical Linguistics: NTS 6 (1959) 1 bis 15; A. T. HANSON, The Domestication of Pau!. A Study in the Development of Early Christian Theology: BJRL 63 (1981) 402-418; M. A. G. HAYKIN, The Fading Vision? The Spirit and Freedom in the Pastoral Epistles: EvQ 57 (1985) 291-305; W. MICHAELIS, Pastoralbriefe und Wortstatistik: ZNW 28 (1929) 69-76; DERS., Pastoralbriefe und Gefangenschaftsbriefe (Gütersloh 1930); C. F. D. MOULE,The Problem of the Pastoral Epistles: BJRL 47 (1964/1965) 430-452; W. Ro-
XLIX
Einführung DORF, Nochmals: Paulusakten und Pastoralbriefe: Tradition und Interpretation in the New Testament (Festschr. E. E. Ellis) (Grand Rapidsrrübingen 1987) 3l9-325; W. SCHENK, Die Briefe an TimotheusI und Ir und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (l945-l985): ANRWII 25.4. (Berlin 1987) 3404-3438; G. SCHILLE, Das älteste Paulus-Bild. Beobachtungen zur lukanisehen und zur deuteropaulinischen Paulus-Darstellung (Berlin 1979) 69-79; J. SCHMID, Zeit und Ort der paulinischen Gefangenschaltsbriefe. Mit einem Anhang über die Datierung der Pastoralbriefe (Freiburg 1931); E. K. SIMPSON, The Authenticity and Authorship of the Pastoral Epistles: EvQ 12 (1940) 289-311; G. STRECKER, Paulus in nachpaulinischer Zeit: Kairos NF 12 (1970) 208 bis 216; A. STROBEL, Schreiben des Lukas? Zum sprachlichen Problem der Pastoralbriefe: NTS (1969) 191-210; K. WENGST, Der Apostel und die Tradition: ZThK 69 (1972) 145-162. Zur Pseudepigraphie: K. ALAND, Falsche Verfasserangaben? Zur Pseudonymität im frühchristlichen Schrifttum: ThRv 75 (1979) 1-10; DERS., Die Entstehung des Corpus Paulinum: Neutestamentliche Entwürfe (München 1979) 302-350; DERS., Noch einmal: Das Problem der Anonymität und Pseudonymität in der christlichen Literatur der ersten beiden Jahrhunderte: Pietas (Festsehr. B. Kötting) (Münster 1980) 121-139; H. R. BALZ, Anonymität und Pseudepigraphie im Urchristentum. Überlegungen zum literarischen und theologischen Problem der urchristlichen und gemeinantiken Pseudepigraphie: ZThK 66 (1969) 403-436; N. BROX, Methodenfragen der PseudepigraphieForschung: ThRv 75 (1979) 275-278; DERS. (Hrsg.), Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike (WdF 484) (Darmstadt 1977); DERS., Pseudo-Paulus und Pseudo-Ignatius. Einige Topoi altchristlicher Pseudepigraphie: VigChr 30 (1976) 181-188; K. M. FISCHER, Anmerkungen zur Pseudepigraphie im Neuen Testament: NTS 23 (1977) 76-81; F. LAUB. Falsche Verfasserangaben in neutestamentlichen Schriften: TThZ 89 (1980) 228-242; D. G. MEADE, Pseudonymity and Canon. An Investigation into the Relationship of Authorship and Authority in Jewish and Earliest Christian Tradition (Grand Rapids. 1987) 118-139; P. ROGERS, The pastoral Epistles as Deutero-Pauline: IThQ 45 (1978) 248-260: W. SPEYER, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum (HAW 1/2) (München 1971); J. ZMDEWSKI, Die Pastoral briefe als pseudepigraphische Schriften - Beschreibung, Erklärung, Bewertung: Das Neue Testament - Quelle christlicher Theologie und Glaubenspraxis. Aufsätze zum Neuen Testament und seiner Auslegung (Stuttgart 1986) 197-220.
L
Der erste Timotheusbrief
1. Die apostolische Zuschrift (1,1-2) Paulus, Apostel Christi Jesu gemäß dem Auftrag Gottes, unseres Retters, und Christi Jesu, unserer Hoffnung, 2 an Timotheus, das rechtmäßige Kind im Glauben: Gnade, Erbarmen und Friede von Gott (dem) Vater und von Jesus Christus, unserem Herrn.
1
I Das Schreiben beginnt in der typischen Art eines antiken Briefes mit der Nennung des Absenders und des Empfängers und mit einem Segenswunsch. Wir haben hier wie bei den authentischen Paulusbriefen das orientalische Formular vorliegen, in welchem der Gruß in einem eigenen Satz und abgehoben von der Anrede formuliert wird. Der Apostel Paulus hatte in seinen Briefen diese Brieferöffnungsformel verschiedentlich dazu genutzt, sein Anliegen bzw. bestimmte Themen, die im Brief selbst noch behandelt werden sollten, anklingen zu lassen (besonders deutlich in GaII, 1-5 und Röm 1, 1-7; aber auch 2 Kor 1, 1 f). Und der im Namen des Paulus auftretende Autor der Past hat sichtlich auch in dieser Beziehung etwas von seinem Vorbild gelernt. In erster Linie gilt die. Aufmerksamkeit, .gut paulinisch, dem Absender, also (Pseudo-)Paulus, und dann dem Adressaten, das ist (Pseudo-)Timotheus. Insgesamt gesehen orientiert sich der Verfasser ganz deutlich an der Präskriptform der bekannten Paulusbriefe, indem er vergleichbare Akzente setzt. "Paulus" stellt sich nicht nur vor als "Apostel Christi Jesu", sondern er gibt dem damit formulierten Rang und Anspruch auch eine theologische und christologische Begründung. Und auch der Adressat erhält eine knappe Charakterisierung, wobei gleich auffällt, daß dieser "Timotheus" in der im Präskript gebrauchten und folglich als recht bedeutsam einzuschätzenden Bestimmung im Verhältnis zu "Paulus" vorgestellt wird. Daß der Schreiber den "echten" Paulus nicht kopieren wollte, zeigt sich dann in den Titulierungen, die er für Gott und für Christus Jesus einfügt.
11 Paulus fungiert hier allein als Absender. In den von Paulus selbst abgefaßten Briefen ist dies nur noch im Röm der Fall (vgl. aber auch Eph 1, 1); sonst sind jeweils Mitarbeiter des Paulus als Mitabsender genannt, v. a. auch Timotheus (Phili, 1; Phm 1; 2 Kor 1,1; auch KoII, 1), Timotheus zu-
1 Tim 1,1-2
sammen mit Silvanus (l Thess 1,1 = 2 Thess 1,1) bzw. Sosthenes (1 Kor 1,1). Die in den Zuschriften der Past durchgehaltene Konzentration auf Paulus zeigt bereits die besondere und exklusive Bedeutung zum einen seiner Person und Autorität und zum anderen der Beziehung des Adressaten bzw. des über diesen anvisierten Gemeindeleiters zu ihm. Diese Konzentration auf Paulus ist ein Kennzeichen der Past insgesamt und hängt eng zusammen mit dem besonderen Interesse an der Person des Apostels Paulus. Die fingierte Se1bstvorstellung gibt dem folgenden Schreiben besonderes Ansehen und Gewicht. Mit der präzisierenden Selbstbezeichnung als "Apostel Christi Jesu" greift der Autor ein wesentliches Element des authentischen paulinischen Selbstverständnisses und Anspruches auf, welches sich auch niedergeschlagen hat in der seiner missionarischen Tätigkeit zuzurechnenden Korrespondenz mit seinen Gemeinden. Des Paulus Apostolat steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem von ihm verkündeten Evangelium (vgl. Röm I, I; Gal 1,15 f). Auch wenn diese Indienstnahme, die wesenhaft zum Apostelverständnis des Paulus gehört, hier (noch) nicht ausdrücklich ausgesprochen ist (vgl. aber 1,11; 2,7; 2 Tim 1,11), so zeigt doch die Kennzeichnung als Apostel "Christi Jesu" dasselbe an; als bevollmächtigter Apostel ist "Paulus" selbst "Beauftragter", "Gesandter''', ganz und gar abhängig von seinem Herrn, in dessen Auftrag und Vollmacht er handelt!.
Der Aposteltitel hat nicht nur legitimierende Funktion für den, der ihn für sich in Anspruch nimmt; er betrifft in besonderer Weise auch diejenigen, an die der Apostel' sich wendet. In den Anspruch des Apostels werden die angesprochenen Adressaten mit hineingenommen. Das ist in den echten Paulinen grundsätzlich (zur "Ausnahme" des Phm s.o. in der Einleitung Abschn. 1) die Gemeinde; und das ist hier exklusiv der Aposte1schüler, und erst auf dem Weg über ihn auch die Gemeinde. Die christliche Gemeinde ist also über die Vermittlung des Apostelschülers der Autorität des Apostels Paulus unterstellt. Zugleich wird auf diese Weise auch die apostolische Kontinuität der Verkündigung des Evangeliums unterstrichen. Wer das Wort des "Paulus" an "Timotheus" und des in seiner "Nachfolge" stehenden Gemeindevorstehers annimmt, der steht zugleich in der Tradition der apostolischen Verkündigung, des apostolischen Evangeliums. Mit der Betonung des Apostolats ist einerseits der Gedanke der Übereinstimmung mit der apostolischen Tradition verknüpft und andererseits der Gedanke der Einheit der Kirche in der Hinordnung auf und in der Unterordnung unter die apostolische Autorität. Der Apostolat des Paulus wird sodann in einer zweifachen Beauftragung näher charakterisiert: von Gott und von Christus Jesus her. Paulus ist Apostel Christi Jesu "gemäß (dem) Auftrag Gottes". Die Verwendung von KU" E1tt'tUyi]V, etwa anstatt eines Bux 8eA.i]).Lu'toC;; (vgl. I Kor I, 1; 2 Kor 1,1; aber auch Eph 1, I; Kol 1, I; und auch 2 Tim I, I; mit KU" E1muyi]v 1
2
Vgi. C.
SPICQ,
Past 314.
1 Tim 1,1-2
wieder Tit 1,3), gibt dem Apostolat des Paulus von Gott her eine eher normative und direktive Note. "Paulus" ist durch diesen Auftrag in den Dienst Gottes genommen worden, dem er sich nicht entziehen kann; und er stellt mit der Ableitung seines apostolischen Amtes von Gottes Auftrag auch den Adressaten bzw. die Adressaten seiner Botschaft unter diese übergeordnete, absolute Autorität, die keinen Widerspruch duldet. Die E1tt'tayfJ Gottes wirkt über den Apostel weiter in die Gemeinde hinein. Für die Verwendung von Ent'tayfJ in den Präskripten von I Tim und Tit ist aufschlußreich die Verwendung dieses Begriffes in außerbiblischen Texten, insbesondere im Zusammenhang der Bezeichnung von Erlassen von weltlichen Herrschern oder in Verbindung mit Weiheinschriften 2; das für die Past bedeutsame Profil, daß nämlich damit sach- und inhaltsbezogen ein konkreter Auftrag eingeführt werden soll 3, gewinnt der Begriff jedoch aus der Kontexteinbindung, indem der im "Auftrag Gottes und Christi Jesu" agierende Apostel seinerseits seinen Schülern, hier dem Timotheus, mit dem "Brief' eine Weisung weitergibt. Mit dem Stichwort E1tt'tayfJ stellt sich der Paulus der Past in eine ihn schon verpflichtende Traditionsreihe. Das Grundverständnis des Apostolats entspricht also dem des geschichtlichen Paulus, es wird aber vom Autor der Past aktuell weiterentwickelt. Eine Andeutung, in welche Richtung dieser "Auftrag" geht, gibt sowohl die soteriologische Definition Gottes als "Retter" als auch die Bezeichnung des Christus Jesus als "unsere Hoffnung". Der "Auftrag" des Paulus ist zugleich in Gott und in Christus Jesus begründet. Doch der Autor kann weder von Gott noch von Christus Jesus sprechen, ohne gleichzeitig das Bekenntnis mit einfließen zu lassen. Gott ist unser "Retter". l:ronlP ist eine in den Past recht geläufige Titulierung und wird sowohl für Gott (noch I Tim2,3; 4, 10; Tit 1,3; 2, 10; 3,4) als auch fürJesus Christus (2 Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6) gebraucht. Hier in der Zuschrift gibt der Hinweis auf den "Retter Gott" den Grund christlicher Heilszuversicht an; Gott selbst hat die Erlösung, unser Heil bewirkt. Die Verwirklichung dieses Retterseins Gottes aber geschieht in und durch Christus Jesus. Schon einleitend wird die für die Past charakteristische Bindung der Erlöser- und Heilbringerfunktion Jesu an den Heils- und Retterwillen Gottes betont (vgl. ausführlich 2,3-6). Mit der Bezeichnung Jesu Christi als "unsere Hoffnung" tritt als zusätzliche Bestimmung das Endheil, die Endvollendung in den Blick. Der von Gott ausgehende, dem Paulus übergebene und von ihm in diesem "Brief' erneut in die Tat umgesetzte "Auftrag", die E1tt'tayfJ, hat ein festes Fundament in der Vergangenheit und verweist in die Zukunft. Die Einbindung des Apostels in den Dienst derChristusverkündigung gibt diesem "Amt" - in dieser Bedeutung ist der "Apostel" in den Past bereits verstanden - neben dem genannten, eher statisch-normativen Autori2 Belege dafür bei C. SPICQ, Past 3l4f; J. ROLOFF, 1 Tim 54 Anm. 3. Eine ausführliche Darstellung insbesondere mit der Profilierung von KIl't' €lIl"tllyfJv im Vergleich zu öui 9EÄ:fU.1Il"toC; von 2 Tim 1,1 bei M. WOLTER, Pastoralbriefe 149-152. 3 Vgl. dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 150f.
3
1 Tim 1,1-2
tätsanspruch auch eine dynamische, in die Zukunft weisende Akzentuierung. Daß diese Hoffnung in Christus Jesus keine leere Hoffnung ist, dafür bürgt Gott, unser Retter. Beide Aussagen, die zu Gott als unserem Retter und die zu Christus Jesus als unserer Hoffnung, gehören somit eng zusammen und bedingen sich gegenseitig: Nur über Christus Jesus kann der Mensch, näherhin der Christ, Hoffnung haben auf sein von Gott kommendes Heil; diese Hoffnung aber gründet im Heils willen, mehr noch, im konkreten, geschichtlichen Heilshandeln Gottes; er hat sich bereits als der Retter erwiesen. Da Gott sich aber in Christus Jesus als unser Retter erwiesen hat, das Heil also schon angebrochen ist mit dem Kommen Jesu 4, wird in der Wendung "Christus unsere Hoffnung" nicht auf die Errettung als "ein zukünftiges Ereignis in Verbindung mit Christus Jesus" ausgeblickt 5 , sondern die eschatologische Ausrichtung christlicher Heilszuversicht betont; Paulus wird vorgestellt als der im Auftrag Gottes, "unseres Retters", agierende Verkünder einer Erlösungsbotschaft, deren zentraler Inhalt die in Christus Jesus begonnene Vollendung ist. "Hoffnung gibt es, weil Christus offenbar geworden ist." 6 Die hier und in den Past insgesamt bevorzugte Wortstellung "Christus Jesus" (Ausnahmen mit "Jesus Christus" nur 1 Tim 6,3.14; 2 Tim 2,8; Tit 3,6; auch Tit 1,1; 2, 13, in einigen Hss "verbessert" zu "Christus Jesus") ist als Übernahme einer schon breit (etwa auch bei Paulus) bezeugten Möglichkeit der Namensnennung zu erklären; dabei ist zwar das titulare Verständnis vorauszusetzen, es läßt sich aber nicht aus der Voranstellung von "Christus" als im Vergleich zu "lesus Christus" besonders betont nachweisen 7.
Ein Detail verdient noch Beachtung, nämlich die Kennzeichnung Gottes als " unser Retter" und von Christus Jesus als " unsere Hoffnung". Es ist damit zwar einerseits die Einbindung dieser soteriologischen Funktionen in den apostolischen Dienst und Anspruch des Paulus betont; andererseits wird in dieser Ausdrucksweise aber doch auch unterstrichen, daß im Verständnis der Past das apostolische Amt nur dann recht verwaltet und sachgerecht versehen wird, wenn auch der in der Legitimation des Apostels handelnde "Nachfolger" sein Tun eingebunden weiß in den Dienst der Vermitthing des in Jesus Christus offenbarten Heilswillens Gottes an die Menschen.
Vgl. J. JEREMIAS, Past 12. , So V. HASLER, Past 11. 6 K. M. WOSCHITZ, Elpis 606. Vgl. auch TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 63: "In lesus, God had begun a process of redemption which he would consummate at the last day. Christ has become our hope since we have made hirn the object of our trust and look with expectancy for his unveiling at the end of time." 7 Vgl. zu den unterschiedlichen Bezeichnungen und Wortstellungen M. KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels (FRLANT 151) (Göttingen 1991) 48-.Q9. Unter Zugrundelegung der Authentizität der Past erklärt G. W. KNIGHT, Past 60, die Voranstellung von "Christus" vor "Jesus" damit, daß hier für Paulus der Gedanke der Gemeinschaft und der Verbindung mit Christus im Vordergrund stehe. 4
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I Tim 1,1-2
2 Der fiktiv schreibende Paulus wendet sich an Timotheus, "das rechtmäßige Kind im Glauben". Mit der Anrede 'tE1CVOV und der Hinzufügung von yvTjO"tov (= echt, rechtmäßig) wird nicht bloß vordergründig ein persönliches, vertrautes Verhältnis des Paulus zu Timotheus ausgesprochen; es ist deshalb sicher zu wenig, hier nur eine besonders "herzliche Wendung" und die "persönliche Wärme" des Paulus ausgedrückt finden zu wollen 8. Man kann diese Anrede auch nicht damit erklären, Paulus habe den Timotheus zum Glauben geführt, und deshalb könne er hier diese vertraute Anredeform gebrauchen (bzw. genauer: sie könnte ihm deshalb in den Mund gelegt werden) 9; die These einer von Paulus bewirkten Bekehrung des Timotheus zum christlichen Glauben ist weder aus der Apg zu erschließen, noch läßt sie sich aus den Paulusbriefen ableiten 10. Das Adjektiv yvTjO"to~ in der Bedeutung "echt, rechtmäßig" umschreibt auch an unserer Stelle nicht das persönlich-private Verhältnis des Apostels zu seinem Schüler; dahinter steht vielmehr "die Absicht der Legitimation" der gegenwärtigen Funktion und Stellung des Apostelschülers und des auf ihn gründenden, verbindlichen kirchlichen Glaubens ll. Der Inhalt dieser Legitimation ist noch genauer bestimmt durch das EV niO"'tEt. Es geht um den rechten, den für die christliche Gemeinde verpflichtenden Glauben (zu EV niO"'tEt vgl. V 4). Die entscheidende Bewährung in der Nachfolge des Apostels, in der Weiterführung seines Dienstes und "Auftrages" (Em'taYT"!) ergibt sich aus der "Echtheit", der "Rechtmäßigkeit" des Glaubens 12. Wie der "Apostel" (Paulus) für sein "Kind" (Timotheus) das legitimierende Vorbild ist, so wird jetzt durch den "Brier' der im Glauben Bewährte, also Timotheus, Vorbild für die Gemeinden. Dabei ist zu beachten, daß Timotheus immer paradigmatische Bedeutung hat. Was also von Timotheus gesagt wird, das repräsentiert in den Gemeinden der Past - wohl vorrangig noch als Ideal - der Gemeindeleiter bzw. (noch) die Gruppe der Gemeirtdeleiter.
So etwa J.1EREMIAS, Past 12; ähnlich wollen auch M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 12, yvfJcrLO~ als "freundlich-höfliche Anrede" verstehen. Vgl. dagegen O. ROLLER, Formular 148: "Die Titulatur ist hochoffiziell, die Adresse nimmt vom Privatbrief ge· rade soviel auf, als der Amtsstil damals noch ertrug." Diese neben I Tim auch für Tit gültige Charakterisierung, die mit der Annahme des pseudepigraphischen Charakters der Past nicht wesentlich zu variieren ist, wird von Roller so begründet: "Die beiden Briefe sind eben nicht in erster Linie für die Empfanger bestimmt, sondern in noch höherem Maße auf die Gemeinden berechnet, an denen die beiden Empfänger als Vertreter des Apostels in höchst offiziellem Auftrage wirken sollten" (ebd.). , J.1EREMIAS, Past 12; N. BRox, Past 17.99. 10 Etwa mit I Kor 4,17: "Eben deswegen schickte ich Timotheus zu euch, mein geliebtes und teures Kind im Herrn. Er wird euch erinnern an meine Weisungen, wie ich sie als Diener Jesu Christi überall in allen Gemeinden gebe." Hier geht es darum, daß Timotheus als der von Paulus autorisierte Bote von der Gemeinde in Karinth akzeptiert wird. 11 Vgl. V. HASLER, Past 11. Verknüpft ist damit auch der Gedanke der "Überordnung des Paulus" über den von ihm als "legitim" anerkannten Nachfolger; vgl. H. MERKEL, Past 17. 12 Vgl. N. BRox, Past 99. 8
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1 Tim 1,1-2 Vielleicht darf man in der betonten Anrede an Timotheus als "rechtmäßiges Kind" des Paulus auch eine polemische Spitze sehen. Der Empfänger dieses Schreibens wird als vorn Apostel legitimiert anerkannt, während andere, die sich vielleicht auf paulinische Lehrsätze berufen, in keiner Weise dafür legitimiert sind 13. Daß Paulus nicht unumstritten war und auch von Irrlehrem in Anspruch genommen wurde, ersehen wir etwa aus dem späteren 2 Petr (3, 15 f). Die Frage nach der "rechten", nach der rechtmäßigen Paulus-Rezeption und -Interpretation würde dann schon hier anklingen.
Der Segenswunsch ist dreigliedrig. Paulus bevorzugt die zweigliedrige Form "Gnade und Friede" (so auch Tit 1,4). Die Erweiterung mit BA.eO~ meint hier nicht in erster Linie den zwischenmenschlichen Bereich, sondern ist wie xapt~ und Etp~Vl] theologisch fundiert; BAEO~ verweist auf das Erbarmen, das Gott als der "Retter" schenkt und welches durch Christus Jesus den Menschen zuteil geworden ist. Es ist das Erbarmen Gottes, auf welches "Paulus" dann in 1,16 auch die ihm geschenkte Offenbarung der "Langmut" (llaKp09ullta) des Christus Jesus zurückführt. Daß für die christliche Gemeinde Gnade, Erbarmen und Friede nur in dieser Verankerung, in Gott und in Christus Jesus, möglich sind, zeigt die angeschlossene Präzisierung und Konkretisierung des dreigliedrigen Segenswunsches. Gnade, Erbarmen und Friede kommen von Gott und können, so es sich um wirklich endgültige und bleibende Bestimmungen handeln soll, nur von Gott und dem "Mittler" seines Heilswillens (2, 5) kommen. Die Ergänzungen zu Gott (den "Vater") und zu Christus Jesus ("unseren Kyrios") sind zu sehen im Zusammenhang mit den schon in V 1 genannten Charakterisierungen. Das Vaters ein Gottes gründet in seinem Wirken als Retter; und das Bekenntnis zu Christus Jesus als "unsere Hoffnung" ist deshalb keine Illusion und keine billige Vertröstung auf eine bessere Zukunft, weil die christliche Gemeinde ihren Glauben verwurzelt weiß in der festen Überzeugung, daß Jesus als der "Herr", als "unser Kyrios", die Gegenwart seiner Kirche bestimmt. Gott als der "Vater" und Jesus Christus als der "Kyrios" stehen auch schon in den Präskripten der authentischen Paulusbriefe als die Garanten der vom Apostel den Gemeindemitgliedern zugesprochenen Segenswünsche 14. III
Die vom Verfasser gewählte Form des apostolischen Briefes ermöglicht es ihm, seine Anweisungen in die direkte Anrede an die Gemeindeleiter, hier repräsentiert durch Timotheus, zu kleiden. Die Grußzuschrift hält sich, formal gesehen, im wesentlichen an das paulinische Vorbild; zugleich werden aber auch schon neue Schwerpunkte gesetzt, die für das Gesamte der Past charakteristisch sind (etwa mit dem Titel crco't'i]p, dem Gebrauch von yvfjO'to~, sowie der Einfügung von BA.eO~). Und auch mit der begrifflichen Bestimmung der vom Apostel !3 14
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Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 30. Vgl. dazu K. BERGER, Apostelbrief 203f.
I Tim 1,1-2
ergehenden Weisung für "Timotheus" und damit für den Gemeindeleiter als von Gott verfügten Auftrags wird die Legitimation der -von der Gemeindeleitung ergehenden Anordnungen untermauert. In dieser Grußzuschrift sind neben dem ekklesiologischen Moment, welches siCh in der Bindung der christlichen Gemeinde, ihres Glaubens, an die Autorität der apostolischen, spezifisch paulinischen Tradition zeigt, in kaum zu über- bzw. unterbietender Kürze und Gedrängtheit die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens genannt: Es ist zum einen (1) der Glaube an Gott und seine Heilswilligkeit; Gottes Sein wird bestimmt in seiner ganz spezifisch soteriologischen Dimension; er ist "unser Retter" und ,,(unser) Vater", wobei die beiden Titulierungen Gottes sich gegenseitig bedingen, zugleich jedoch unterschiedliche Akzente setzen. Die Bezeichnung Gottes als O"OOTIlP blickt eher zurück auf die geschichtliche Einmaligkeit des Christusereignisses, durch welches Gott den Menschen seinen Heilswillen offenbart und mitgeteilt hat; sein "Vater-Sein" ist dann gewissermaßen die die Gegenwart der Christen bestimmende Konsequenz aus diesem geschichtlichen Handeln. Daneben steht (2) das christologische Bekenntnis: Christus Jesus ist der Kyrios, der das Leben seiner Gemeinde in der gegenwärtigen Zeit bestimmt; zu ihm betet sie, ihn bekennt sie als "unser Herr". In Christus Jesus ist der Gemeinde aber auch die Zuversicht gegeben, daß er das begonnene Heilswerk eschatologisch vollenden wird. Diese eschatologische Ausrichtung bringt der Autor zum Ausdruck in der Bezeichnung Jesu Christi als "unsere Hoffnung". Die Vergangenheit und die Zukunft sind in den Prädikationen Gottes und Jesu Christi mit angesprochen, die Betonung aber liegt auch in ihnen auf der Gegenwart; dies wird sich in allen drei "Briefen" immer wieder und umfassend bestätigen. Und schließlich betont (3) der Verfasser in diesen einleitenden Versen, gewissermaßen als die Quintessenz aus dem Gottesbekenntnis und dem Christusglauben, das soteriologische und ekklesiologische Moment: Gott ist " unser Retter" und ,,(unser) Vater" 15. Christus Jesus ist "unsere Hoffnung" und " unser Herr". Unterstrichen wird diese doch auffällige, bei der Bewertung des theologischen Anspruchs der Past allerdings häufig zu wenig beachtete Betonung des Seins und Wirkens Gottes und Jesu Christi "für uns", für die Menschen insgesamt l6 , noch durch den dreifachen Wunsch, der zugleich Zuspruch ist; von Gott und durch Christus Jesus ist den Glaubenden das Heil, die Rettung zugesagt. Nicht auf eigenes Können und Wollen gilt es zu vertrauen, sondern auf das Erbarmen Gottes. In dieser Zuschrift zeigt sich, genau betrachtet, eine doch erstaunliche 15 Das Personalpronomen l'J1.uj)v bei 1ta"tp6~ ist entsprechend dem textkritischen Befund - es fehlt in wichtigen Codices (It* A D* F G I) und Minuskeln (33.81. 104.365. 1175. 1739. 1881) - am ehesten als sekundäre Angleichung und nachträgliche Ergänzung zu beurteilen. 16 Dieses dreimalige "unser" im Briefeingang faßt nach W. BRANDT, Gut 17 f, "nicht nur Paulus und Timotheus zusammen, es faßt alle in sich, die sich zu Jesus als dem von Gott gesetzten gesalbten König bekennen".
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I Tim 1,3-20
Kontinuität zum paulinischen Evangelium, v.a. in der engen Verknüpfung von Theologie, Christologie und Soteriologie. Zugleich werden vom Autor bereits entscheidende Akzente gesetzt, die seine Verkündigung nicht nur als Bewahrung und Weitergabe des paulinischen Evangeliums zeigen, sondern auch als aktualisierende Interpretation der mit dem Namen des Paulus verknüpften Tradition erkennbar werden lassen. Mit dem Titel O"üm'lP wird in gleicher Weise Gott wie Jesus Christus in der soteriologischen Bedeutsamkeit eindeutig gemacht. Das Stichwort EAEO<; gibt dem Handeln Gottes im Blick auf den Menschen stärkere Eindringlichkeit. Beide Begriffe bleiben für die Theologie der Past bestimmend. LITERATUR: K. BERGER, Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe: ZNW 65 (1974) 190-231; F. VOUGA, Der Brief als Form der apostolischen Autorität: K. BERGER u. a., Studien und Texte zur Formgeschichte (TANZ 7) (Tübingen 199217-58.
2. Der Kampf gegen die Irrlehrer und der Auftrag zur Bewahrung des rechten Glaubens (1,3-20) Der erste größere Textabschnitt steht ganz im Zeichen des von "Paulus" an seinen ehemaligen Begleiter und Mitarbeiter in der Verkündigung des Evangeliums gerichteten Auftrags, sich in der Gemeinde von Ephesus um die Verteidigung des rechten Glaubens zu kümmern. Andeutungsweise wird auch die Position der "Falschlehrer" charakterisiert. Auf der Ebene der fiktiven Briefsituation wird eine Verbindung hergestellt zwischen der "damaligen", in der Vergangenheit liegenden Beauftragung durch den Apostel (V 3 Ku8ro<; nuplxuAEO"U) zur "jetzt", in diesem Schreiben wiederholten "Anweisung" (V 18 'tutn:TJv TI]V nupuYYEAtUV nupu'tteqlUt O"Ot). Dieser Zusammenhang wird verdeutlicht durch die sprachliche Parallelität in der Benennung der Aufgaben; in seinem "gebieterischen" Auftreten gegen die Falschlehrer (nupuyyEA.A.Etv V 3; vgl. auch V 5: nupuYYEAtU) entspricht der Apostelnachfolger dem ihm von "Paulus" übergebenen "Auftrag" (nupuYYEAtU V 18). Der auch in sich gewichtige Einschub der VV 12-17 hat von der Briefkomposition her gesehen insbesondere die Funktion, die hier vom Apostel in Anspruch genommene Autorität und die Verantwortung für das Evangelium (vgl. V 11) christologisch zu begründen und soteriologisch zu untermauern 1. a) Der Auftrag an Timotheus: Kampf gegen Falschlehrer (1,3-7)
Wie ich dich (schon) aufgefordert habe, in Ephesus zu bleiben, während ich (selbst) nach Makedonien reiste, damit du gewissen Leuten gebieten solltest, keine anderen Lehren zu verbreiten 4 und ihre Aufmerksamkeit
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I
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Vgl. dazu auch W. BRANDT, Gut 22; J. ROLOFF, I Tim 60f.
1 Tim 1,3-7
nicht zu richten auf erfundene Geschichten und endlose Geschlechtsregister, welche eher zu spitzfindigen Spekulationen führen als zur Heilserziehung Gottes (= der dem Willen Gottes entsprechenden Heilserziehung) im Glauben 2 • 5 Das Ziel der Unterweisung aber ist Liebe aus einem reinen Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben. 6 Davon sind einige abgeirrt und haben sich leerem Geschwätz zugewandt; 7 sie wollen Gesetzeslehrer sein, verstehen aber weder, was sie sprechen, noch, was sie als feste Behauptung aufstellen. I Der Verfasser geht nach dem einleitenden Gruß gleich zielstrebig auf das zentrale Thema seines Schreibens ein: die Gefährdung des Glaubens und der Gemeinden durch Irrlehrer und die damit sich ergebende Frage, wie dem zu begegnen ist. "Timotheus" wird daran erinnert, zu welchem Zweck und für welche Aufgabe ihn der Apostel in seine Nachfolge eingesetzt und in Ephesus zurückgelassen hat. Diese einstige Beauftragung mit der Funktion der Stellvertretung des Apostels wird als weiterhin aktuell in Erinnerung gerufen. Doch dadurch wird die im Rückblick dargestellte Beziehung zwischen dem Apostel und dem in seinem Auftrag agierenden Schüler und Nachfolger gleich wieder überschritten. Es ist ja die Absicht des Verfassers, die Bedingungen so zu schildern, daß sich sowohl die Gemeinden der Past in den geschilderten Problemen als auch deren verantwortliche Leiter in den Anweisungen, wie diesen zu begegnen ist, wiederfinden. Die Situation ist bestimmt vom Auftreten und vom Wirken von Irrlehrem; ihnen wird der Apostelschüler und Paulusnachfolger gegenübergestellt mit dem Auftrag, als Bewahrer der unverfälschten Lehre und des rechten Glaubens aufzutreten. In der Art und Weise der Beschreibung der Aufgabe des Timotheus nutzt der Autor die Möglichkeit, daß (Pseudo-)paulus mit der negativen Kennzeichnung des Bemühens und Lehrens von einigen Leuten gleich einen wichtigen Teil der polemischen Abwehr selbst leistet. Der abrupte Einsatz und das Fehlen des traditionellen Dankmotivs sind hier wie in Tit 1,5 ff, vergleichbar mit der auffälligen Einführung des Briefthemas in Gal 1,6 ff, bedingt durch das alles bestimmende Interesse, die Aufgabe des Apostelnachfolgers - im zeitlichen wie im rechtlichen Sinn - im Rahmen der Beauftragung zur Bewahrung und zur Verteidigung des rechten Glaubens festzuschreiben. In dieser Hinsicht hat der auf das Präskript folgende Textabschnitt, den man mit dem Proömium der echten Paulusbriefe und dessen Zielsetzung 2 Der Beginn mit Kaero~ leitet eigentlich einen Nebensatz ein; der Hauptsatz fehlt hier. Man könnte dieses Anakoluth vielleicht ergänzen mit "so schreibe ich dir auch jetzt" oder "so ordne ich auch jetzt an". In der hier gewählten Form der Einleitung mit KaeW~ wird die Identität des in der fiktiven Briefsituation der Vergangenheit angehörenden Auftrages an "Timotheus" mit dem jetzigen Schreiben verdeutlicht.
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1 Tim 1,3-20
der Charakterisierung der Beziehung zwischen Absender und Adressatenkreis vergleichen kann, die Funktion, den Empfänger des Briefes stärker in den Mittelpunkt zu rücken 3. Dazu paßt, daß jetzt bereits das angesprochen wird, was die Aufgabe des Timotheus in der Vergangenheit war und was nun als Auftrag des Apostels neu eingeschärft wird: die Weisung (napayyeAia). Mit dieser Beauftragung ist die Stellung des Apostelnachfolgers in der Gemeinde nach zwei Seiten hin festgelegt. Er hat zum einen die eher negativ zu charakterisierende Aufgabe, seine Weisungsbefugnis zur Abwehr von Irrlehrern geltend zu machen (V 3 iva napayyEiATI~ ... IlTJ); seine Weisungsbefugnis gilt aber auch, positiv formuliert, der Festigung des Glaubens der Gemeinde und der Gestaltung des Lebens aus diesem Glauben heraus (V 5: 'tEAO~ Tf)~ napayyeAia~). 11
3 Das Schreiben erhält durch die kurze Situationsangabe eine fiktive Einordnung in den Rahmen der paulinischen Missionsarbeit. Ephesus hat Paulusauf seiner zweiten Missionsreise nach Apg 18,19-21 nur kurz besucht und er hat in der dortigen Synagoge gepredigt. Die Stadt bildet dann auf der dritten Missionsreise ein Zentrum seines Wirkens (Apg 19,1-20). Die hier vorausgesetzte Situation - Paulus läßt den Timotheus in Ephesus zurück - ist aber weder mit den Reisenotizen des Paulus noch mit den Angaben der Apg in Einklang zu bringen. Unter Zugrundelegung des pseudepigraphischen Charakters der Past haben wir den Grund für die Wahl von Ephesus zwar nicht in der Absicht des Verfassers zu suchen, die Schilderung der Beziehungen zwischen den bei den Protagonisten an den geschichtlich gesicherten Daten der paulinischen Biographie (etwa im Anschluß an seine Briefe) oder an der Paulus-Tradition (etwa der Apg) auszurichten; andererseits ist Ephesus aber ganz sicher nicht zufällig gewählt. Die Nennung dieses bekannten und bedeutsamen Ortes der paulinischen Mission durch den Verfasser hat einmal den Grund, dem Wort des fiktiv sprechenden Paulus einen historisch konkreten Platz zuzuweisen, der den christlichen Gemeinden bekannt war als Wirkungsort des Paulus und der sich dadurch auch als zeitgeschichtlich geeignet anbot. Zugleich aber wird hier eine typische Situation beschrieben, die gerade nicht als für Ephesus spezifisch reklamiert wird 4, die vielmehr für alle Orte des paulinischen Wirkens Gültigkeit besitzt: Es geht um die Erfüllung des apostolischen Auftrages in der Nachfolge und in Fortsetzung des Wirkens des Paulus; und es geht zugleich um die Bewahrung der apostolischen Verkündigung, die jetzt aber nicht mehr von der ganzen Gemeinde garantiert werden kann, sondern die nun durch den im Namen und im Auftrag Vgl. auch bei J. ROLOFF, I Tim 60. Insofern erscheint die Feststellung, der Verfasser habe bei der Nennung des Ortes "zweifellos ... den Gemeindegründungsaufenthalt des Paulus in Ephesus im Auge" (J. ROLOFF, I Tim 62; ähnlich H. MERKEL, Past 18, mit Hinweis auf Apg 20, I ff), gerade vom Anliegen der Past her nicht abgesichert. 3
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I Tim 1,3-7
des Apostels wirkenden Mitarbeiter und seinen "Nachfolger" zu leisten ist. Hier wird'also ein Gesichtspunkt in den Mittelpunkt gerückt, dem schon in der Situation der missionarischen Tätigkeit des Paulus ein bedeutender Stellenwert zukam: der Einsatz seiner Mitarbeiter. Timotheus ist nach der zugrunde gelegten Situation zwar auf sich allein gestellt; er muß das Werk des Apostels selbständig fortsetzen. Doch er bleibt nicht ohne die weiter andauernde Weisung durch das auch jetzt noch ergehende apostolische Wort. Was der Mitarbeiter und Nachfolger des Apostels tut (woran er zugleich aber auch gemessen wird I), ist die Ausführung der Weisungen des Apostels. Es ist insbesondere hinzuweisen auf den einleitend in der "Aufforderung" (1tUPEKru..ecrU) geltend gemachten Anspruch des Apostels, dem sein Schüler und Nachfolger unterstellt ist.
Vielleicht darf in dem hier gezeichneten Bild vom "Weggehen" des Apostels und vom "Zurückbleiben" des Mitarbeiters auch schon eine grundsätzlichere Darstellung der Funktion der in den Gemeinden tätigen Amtsinhaber gesehen werden. Seit dem Abschied des Apostels (der mit seinem Tod dann endgültig wurde) lag es in ihrer Verantwortung und in ihrer Hand, für den rechten Glauben zu sorgen. In diese Richtung einer umfassend verstandenen Weisung, bezogen auf die nachpaulinische und d. h. insgesamt: nachapostolische Zeit, könnte auch das Anakoluth, eingeleitet mit KaOro<;, gedeutet werden. Die Tatsache, daß der Satz unvollendet ist, sollte nicht erklärt und damit letztlich abgewertet werden mit der "Unruhe des Schreibers", der hier einen Gedanken nicht zu Ende führen konnte S. Mit dem Anakoluth wird die zeitliche Distanz zwischen der - allerdings fiktiven - "damaligen" Situation und der Lage der Gemeinden "heute", also in der Zeit der Entstehung der Past, aufgehoben 6. Das einleitende "Wie" des Vergleichssatzes betont die unveränderte Gültigkeit des Schreibens und der darin enthaltenen Anweisungen. Man könnte also sinngemäß den "Wie"-Satz auch ergänzen durch "so gilt es auch heute noch immer". Die Beschreibung des Zweckes der von "Paulus" für notwendig erachteten Anwesenheit des Timotheus in Ephesus weist in dieselbe Richtung. Das, was dem Timotheus gesagt wird, ist keine spezifische, auf Ephesus zu beschränkende Aufgabe. Was als Auftrag des Apostels gegenüber einer einzelnen Person und bezogen auf einen konkreten Ort bzw. die dort lebende christliche Gemeinde gesagt ist, das gilt für alle, die eine vergleichbare Stellung wie die hier angedeutete des Timotheus in anderen , So noch J, JEREMIAS, Past 13; dieses Urteil ist letztlich eine Konsequenz der Argumentation mit der Authentizität, Die Beschreibung des Kuero~-Satzes als "Iässiges Satzgefüge, wie es im Reden oder im raschen Diktat vorkommt", durch G. HOLTZ, Past 33, geht ebenfalls an der Sache vorbei; 'Holtz vertritt die Sekretärshypothese, und diese seine Erklärung ist ein Zugeständnis an diese Hypothese, • Vgl. auch J, ROLoFFs, I Tim 62, Hinweis auf die "unbestimmte Offenheit der Situation", die "auf der sprachlichen Ebene durch den Anakoluth eine so vollkommene Entsprechung (findet), daß es schwer fällt, ihn lediglich als stilistische Unachtsamkeit des Verf. zu sehen",
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I Tim 1,3-20
Gemeinden einnehmen: Sie sollen die Irrlehrer zum Schweigen bringen 7. Es ist die Aufgabe des verantwortlichen Gemeindeleiters, daß er dem Treiben von Irrlehrern in der seiner Verantwortung unterstellten Gemeinde Einhalt gebietet. Im Vergleich mit Paulus, der sich auch schon mit Irrlehrern auseinanderzusetzen hatte, steht bereits das kirchenamtliche Moment einer von oben angeordneten Maßnahme im Vordergrund. Auch Paulus mußte schon vor Missionaren warnen, die "ein anderes Evangelium (E1:EPOV EuaYYEAtOv) verkünden" (Gall,6-9); und Paulus konnte dabei schon sagen: "Wer euch ein anderes Evangelium verkündet, als ihr angenommen habt, der sei verflucht" (Gali, 9). Aber der Apostel betrachtete es als seine Aufgabe als für das Evangelium verantwortlicher Missionar, sich mit den Argumenten seiner Gegner auseinanderzusetzen,' ihre theologische Position zurückzuweisen und als der christlichen Botschaft widersprechend zu belegen; und natürlich konnte er auch nicht darauf verzichten, seine eigene Position zu begründen und zu untermauern (vgl. Gal 3,1 - 5, 12). Jetzt aber, in den Past, findet im wesentlichen keine inhaltsbezogene Auseinandersetzung mehr statt. Der Verzicht auf eine inhaltsbezogene Auseinandersetzung bzw. gar den Versuch eines Dialogs hat sogar, wie in. 2 Tim offen ausgesprochen wird (2,14.23), programmatische Bedeutung. Die Beschränkung auf die Weisung, gegen die Irrlehrer einzuschreiten bzw. ihnen Widerstand zu leisten, ist Resultat der Überzeugung, daß es nicht nur den für den gehorsamen und auf seine Kirche (bzw. seine Gemeindeleitung) hörenden Gläubigen erkennbaren Bestand des "rechten Glaubens" gibt, sondern daß sich, parallel dazu, die Irrlehre als davon unterscheidbare Größe entwickelt hat. Die Anweisung des Paulus, die dem Timotheus erteilt wird, beruht auf der Vorstellung, daß man nicht nur trennen kann zwischen Ketzerei und Rechtgläubigkeit, sondern daß es geradezu die vorrangige Aufgabe des Gemeindeleiters ist, diesen Trennungsstrich ganz konsequent zu ziehen, ihn bewußtzumachen und die Gemeinden darauf hinzuweisen. Die Situation zwischen dem "Apostel" und den seinem Evangelium verpflichteten Gemeinden einerseits und den "Gegnern" des Paulus und seiner "Nachfolger" andererseits hat sich bereits verfestigt im Sinne des Gegensatzes von Orthodoxie und Häresie. Die Ketzer sind die, die eine andere als die von "Paulus" autorisierte Lehre verkünden, d. h. eine andere Lehre im Vergleich zu der, die die Nachfolger des Apostels, und das bedeutet zugleich auch: die kirchlichen Amtsträger in der Nachfolge des "Timotheus", vertreten. Die rechte Lehre hat schon einen festen Platz, den es zu verteidigen gilt 8. Es ist zu beachten, daß gerade nicht gesagt wird, Timotheus solle den Irrlehrern "mit der Autorität Christi entgegentreten" 9; der Vollmachtsanspruch des in der Gemeinde für den Glauben Verantwortlichen wird vielmehr als durch den 7 8 9
Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 30f. Vgl. J. ROLOFF, I Tim 63. So formuliert G. HOLTZ, Past 34.
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1 Tim 1,3-7
Apostel und seine Beauftragung autorisiert betrachtet. Letztlich gründet zwar auch die Autorität des Paulus auf Christus; doch dies wird hier gerade nicht thematisiert. Auch in dieser Beobachtung liegt wiederum ein Hinweis darauf, daß die Past ein bereits fortgeschrittenes Stadium gemeindlicher Entwicklung repräsentieren. Das in der Formulierung dieses Verses und in den Past insgesamt erkennbare Anliegen ist es, zu einer kirchenamtlichen und ansatzweise kirchenrechtlichen Klärung der Gemeindestrukturen beizutragen. Dem entspricht das Bedürfnis, die für die Gegenwart notwendigen Entscheidungen des Glaubens und des Lebens der christlichen Gemeinden durch den Rückbezug auf die anerkannte Autorität des Paulus zu legitimieren, sie also im "apostolischen" Auftrag durchzuführen 10. Ohne Zweifel liegen hier erste Ansätze für den Sukzessionsgedanken vor, verbunden allerdings mit dem Anliegen, auf diese Weise innergemeindlichen Gefahren einer theologischen Fehlentwicklung begegnen zu können.
4 Dieser Vers geht auf den Inhalt der "falschen Lehre" etwas genauer ein, allerdings immer noch mit recht allgemein gehaltenen Beschreibungen. Wir finden darin eigentlich eher eine Bestätigung für das schon erwähnte Prinzip, auf eine inhaltliche Darstellung der Irrlehren ebenso zu verzichten wie auf eine sachlich-theologisch begründete Gegenargumentation 11. Der Autor greift nur zwei Stichworte auf, die mit anderen Hinweisen in den Past ein ungefähres Bild der theologischen Positionen der Falschlehrer ergeben. Sie beschäftigen sich mit "Mythen" und "endlosen Geschlechtsregistern". Tit 1,14 spricht ebenfalls von "jüdischen Mythen" (looSa"iKoi J.L0eot); und Tit 3,9 warnt der Verfasser vor "törichten Auseinandersetzungen und Erörterungen über Geschlechtsregister, Zank und Streitigkeiten um das Gesetz". Die in den Past bekämpften Irrlehren haben somit in jedem Fall eine starkjudaistische bzw.judaisierende Komponente. Grundlage und Ausgangspunkt für die Entwicklung solcher theologischer Spekulationen und Lehren waren mit größter Wahrscheinlichkeit die Geschlechtsregister und Namensreihen des AT. Wie sich aus späteren gnostischen Systemen ersehen läßt, wurden in der Gnosis diese Geschlechtsregister zu Spekulationen über Archonten- und Äonenreihen ausgewertet. Die Art und Weise der theologischen Verarbeitung solcher Spekulationen wird andeutungsweise in Texten aus Qumran erkennbar; so wird der "Unterweiser" (oder: der "Weise") dazu aufgefordert, "alle 10 Zur Bedeutung der "apostolischen" Legitimation in nachapostolischer Zeit: L. OBERLINNER, Die Apostel und ihre Nachfolger. Nachfragen zu einer geläufigen Vorstellung: A. VÖGTLE - L. OBERLINNER, Anpassung oder Widerspruch. Von der apostolischen zur nachapostolischen Kirche (Freiburg 1992) 9-39, bes. 31-36. 11 An dieser Stelle sei nur als Zwischenbemerkung eingeschoben: Aus dieser Beobachtung schließen zu wollen, der Autor der Past sei "der Argumentation der Irrlehrer weder theologisch noch denkerisch wirklich gewachsen" gewesen (so G. HAUFE, Irrlehre 338), kann nur als Trugschluß bezeichnet werden; denn gerade dies, die Irrlehrer theologisch widerlegen zu wollen, ist aus verschiedenen Gründen - u. a. und besonders wegen der keineswegs eindeutigen Bestimmung dessen, was als Irr-Lehre abzulehnen ist - nicht die Absicht des Verfassers.
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I Tim 1,3-20
Söhne des Lichts" zu belehren über die "Generationenfolge aller Menschenkinder" in ihrer Eigenart (1 QS III, 13 f). Wegen der Zusammenstellung mit den "Geschlechtsregistern" wird bei den "Mythen" ebenfalls an Spekulationen über die Entstehung der Welt, die Schöpfung, zu denken sein. Derartige Spekulationen sind dann in den späteren gnostischen Systemen von besonderer Wichtigkeit. Insgesamt sind die recht global skizzierten und umfassend zurückgewiesenen Irrlehren schon als eine Art judaisierende Gnosis gekennzeichnet, ohne daß man aber bereits feste gnostische Systeme voraussetzen könnte 12. (Hinweise auf den gnostischen Charakter der Irrlehren werden noch an anderer Stelle begegnen.) Das Ergebnis solchen Tuns der Irrlehrer, dessen Ziel- und Sinnlosigkeit dadurch unterstrichen wird, daß die Geschlechtsregister als "endlos", d. h. ins Leere laufend, abgewertet werden 13, sind die i;K~T]TI]crw;, also "Spekulationen" oder "Grübeleien" 14. Dieser im NT nur hier gebrauchte undweder in der außerchristlichen hellenistischen Literatur noch bei den Apostolischen Vätern verwendete Begriff ist als Verstärkung von ~T]'tTjO"ln~ zu interpretieren und teilt dessen negative Sinngebung in den Past (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,23; Tit 3,9)15. Diesen dem rechten Glauben nicht entsprechenden "Grübeleien" wird die OiKovo~ia 8eoG gegenübergestellt. Die Falschlehre ist verirrtes menschliches Denken, das in sich geschlossen bleibt und welches zugleich die Gemeinschaft nicht auferbaut, sondern die Gläubigen entzweit. Für die, die in solches Denken verstrickt sind, gilt auch, daß sie nicht erkennen können, wozu Gott die Offenbarung geschenkt hat, nämlich zum Heil. Die Aufgabe der Christen und v.a. der Gemeindeleiter ist es aber, dieser Heilsordnung bzw. Heilserziehung, der OiKovo~ia, zu dienen. Die Wendung OiKovo~ia (Gottes) ist entweder zu
12 Vgl. dazu auch N. BROX, Past 102f; L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 122-126. E. SCHLARB, Lehre 86-93, sieht "die Stichworte Mythos und Genealogie" als für die Past zusammengehörig an und mit dem Begriff v61J.0~ zu einer Trias verbunden, die in einen umfassenderen Interpretationszusammenhang alttestamentlicher Traditionen (etwa die Schöpfungsgeschichten und Äußerungen über Ehe, Zeugung, Geschlechterfolge u.ä.) einzuordnen sei; auch nach Schlarb ist folglich die angesprochene theologische Richtung entscheidend geprägt von einer "an der Urgeschichte wie an bestimmten Forderungen des Gesetzes orientierte(n) Exegese", hat also ihre Wurzeln in jüdischer Tradition. Weil Gnosis erst in nachneutestamentlicher Zeit deutlich auszumachen ist, will sich G. W. KNIGHT, Past 74, mit der Auskunft zufriedengeben, "that the terms IJ.ÜeOt Kai YE· VEaAoylat are used in a Jewish setting, but it remains uncertain whether there is also some incipient Gnostic, or ,pseudo-Hellenic' influence". 13 Vgl. auch G. W. KNIGHT, Past 74. Zu 6.ntpaV'ro~ (neutestamentliches Hapaxlegomenon) c. SPICQ, Lexique 163. 14 So etwa die Übersetzung von i:K~1]n'jcrEt~ bei J. ROLOFF, I Tim 59, mit der Deutung als "esoterische Gedankenspielereien ohne verbindende Kraft" (64). 15 Vgl. dazu auch G. W. KNIGHT, Past 74. Die in einigen Hss bezeugte Textform ~1]n'jcrEt~ in I Tim 1,4 (u. a. in den Codices D F G 'P 0285 [wahrscheinlich], in den Mi· nuskeln 1739 und 1881, im sog. Mehrheitstext und bei Irenäus) ist "verbessernde" Angleichung an die auch für die Past geläufige Substantivform ~T]TT]crt~.
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übersetzen mit "Heilsplan" bzw. "Heilsordnung"; dann läge der Ton auf der Forderung, das durch die biblische Überlieferung bezeugte Handeln Gottes im Glauben anzunehmen und anzuerkennen. Oder aber OiKovol.tia 8wü ist wiederzugeben mit "Heilserziehung Gottes", "Heilserziehung im Glauben", d. h. als Auftrag zur Verwaltung des von Gott gewährten Heils durch die verantwortlichen Vorsteher 16. Aufgrund der Gegenüberstellung zu "Grübeleien" bzw. "Spekulationen" und wegen des angeschlossenen ev nicrtEt erscheint letztere Erklärung als die passendere 17. Es sind letztlich aber doch wohl beide Bedeutungen mit enthalten: Gottes Heilsplan und Heilsordnung, in einem mehr objektiven Sinne, also der im Zeugnis der Schrift offenbarte und die Menschen in ihrem Glauben verpflichtende Heilswille Gottes, wird einem menschlichen Bemühen gegenübergestellt, in welchem diese entscheidende Bindung außer acht gelassen ist; und zugleich wird die göttliche Heilserziehung angemahnt, also die im Glauben zu leistende Anerkennung dieser Gottesoffenbarung, wobei der Ton nicht so sehr auf der persönlich vollzogenen Entscheidung liegt als vielmehr auf der Anerkennung des von der Tradition (personal gedacht: vom Apostel her) autorisierten Glaubensgutes 18. Die Mahnung zielt auf die Übernahme des von Gott ausgehenden und in der Schrift bezeugten Heilswillens durch Glauben und im konkreten Glauben der Kirche. An dieser Stelle wird u. a. die hohe Einschätzung der alttestamentlichen Gottesoffenbarung durch den Verfasser der Past angedeutet.
Beim Stichwort OiKovol.1ia 8wü ist zu bedenken, was im Anschluß an die Bekenntnistitel für Gott und Christus Jesus im Präskript als Spezifikum der Theologie der Past angesprochen worden ist. Der Glaube an die alles bestimmende Gegenwart des Heilswillens Gottes steht im Zentrum der Theologie und prägt dann auch ganz entscheidend die Christologie. Bei der Ergänzung mit ev nLO""tEt handelt es sich zwar um eine formelhafte Wendung; durch die Hinzufügung dieser Bestimmung zum Stichwort OiKOVOI1La 8wü, welches gewissermaßen den Gegenpol zu den Verirrungen und Verwirrungen der Irrlehrer abgibt, macht der Autor aber deutlich, wie und wo dieser Heilswille Gottes zu finden ist: nur im Glauben der christlichen Gemeinden, die sich im Gehorsam gegenüber ihren Vorstehern der apostolischen Autorität unterstellt haben. In der Verbindung von OiKOVOI1La erhält auch nLO""tt(,; eine neue Akzen" tuierung. "Glaube" wird in einem festen, durch die biblische Offenbarung begründeten und durch die Tradition der Kirche autorisierten Ordnungsgefüge stehend gesehen. In der damit verknüpften Opposition zur "falschen Lehre" und zu allem, was mit der Irrlehre und deren Vertretern zu I6 Zu diesen beiden Deutungsvorschlägen und ihren Vertretern vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 65 f; Roloff entscheidet sich aber (im Anschluß an C. SPICQ. und A. SCHLATIER) für die Übersetzung "Vollmacht" bzw. "Verwalteramt", entsprechend der Rezeption des paulinischen Sprachgebrauchs (vgl. I Kor 9,17; 4,1) in der deuteropaulinischen Tradition von Kol 1,25. 17 Vgl. auch H. KUHLI, EWNT II 1222. I' Vgl. auch L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 133: "olKovoj.l.la in the Pastorals means both to have a plan and to execute it".
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tun hat, gewinnt das Stichwort niO",tt<; mehr und mehr den Charakter der Benennung einer Glaubenshaltung, also den Sinn von "Rechtgläubigkeit". 5 Mit V 5 setzt der Verfasser in einer gewissen Weise wieder neu ein. Als syntaktischer Beleg dafür ist der Anschluß mit oe zu werten. Auch in inhaltlicher Hinsicht ist dies zu veriftzieren. Gleich nach dem Präskript stand in den die thematische Erörterung eröffnenden VV 3.4 die Konfrontation zwischen dem Apostel bzw. dem von ihm autorisierten Vertreter Timotheus auf der einen Seite und den Abweichlern auf der anderen Seite im Vordergrund, mit anderen Worten: der Gegensatz zwischen obskuren Fabeln und dem der Heilserziehung entsprechenden Glauben. Jetzt aber richtet sich der Blick auf die Gemeinde. Die dem Timotheus übertragene "Weisung" hat neben der defensiven Zielsetzung auch und letztlich sogar noch bedeutsamer ein positives Ziel, eine positive Bestimmung. Was in V 3 als Anweisung des Apostels gegen die Irrlehrer formuliert worden war, das wird jetzt ergänzt dadurch, daß das "Ziel der Unterweisung", die im Auftrag des Apostels von Timotheus zu leisten ist, im Blick auf den "Glauben" deftniert wird. Der Begriff napaYYEAta nimmt also zwar das Verbum napayytAAEw von V 3 wieder auf; es erfolgt dann "aber" (oe!) eine Neuakzentuierung. Angesprochen ist weiterhin der im Auftrag und in der Autorität des Apostels agierende Gemeindeleiter. Seine Aufgabe wird beschrieben. Das Ziel jeglicher Unterweisung ist die Liebe. Diese Liebe zeigt auch den Abstand zu den Irrlehrern an, die mit ihren nutzlosen "Spekulationen" (tK~ll't1'JO"EtC;) Streit und Zwietracht in die .Gemeinden tragen 19. Die Liebe ist der Maßs-tab des rechten Glaubens und wird zugleich als Kennzeichen der rechtgläubigen Gemeinde beansprucht. Der Begriff "ayanll" ftndet sich in den Past zehnmal; schon die Häuftgkeit des Vorkommens verweist auf seine fundamentale Stellung in der Kennzeichnung christlichen Lebens. Hier liegt zwar auch eine Verbindung zu Paulus, in dessen Theologie die tätige christliche Liebe ebenfalls als zentrales Merkmal steht (vgl. Gal 5,6: "In Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist"). Allerdings ist bei allem Weiterwirken paulinischen Gedankengutes doch die unterschiedliche Akzentuierung in den Past unübersehbar 20 ; sie zeigt sich in der Explikation durch weitere Begriffe, die ebenfalls für Sprache und Verkündigungsanliegen der Past typisch sind. Voraussetzung für das Wirksamwerden der "Agape" ist, daß sie "aus einem reinen Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben" kommt. In dieser Trias sind Begriffe zusammengestellt, die das Ideal " Vgl. auch C. SPICQ, Past 323; N. BRox, Past 103. Den Unterschied zu Paulus macht J. ROLOFF, 1 Tim 66f, fest in der in den Past spürbaren "Tendenz, aya1l1] auf Kosten von 1t{(J~ zum zentralen Begriff der Heilsaneignung zu machen". 20
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des rechtgläubigen Christen im Gegenüber zu den Irrlehrern umschreiben. Aus der Häufigkeit vergleichbarer Begriffszusammenstellungen (l Tim 1,19; 2,15; 4, 12; 6, 11; 2 Tim 1,13; 2,22; 3,10; Tit 2,2) ist zu ersehen, daß für die Past in solchen Verhaltensweisen ein wesentliches Kriterium rechten Glaubens zu sehen ist. Bei den gewählten Begriffen sind Einflüsse aus verschiedenen Traditionsbereichen erkennbar, wobei insgesamt, insbesondere auch bei den attributiven Ergänzungen, der Einfluß der hellenistischen philosophischen Ethik zu überwiegen scheint. Die Bedeutung dieser Lebenshaltung liegt für die Past darin, daß diese sowohl ein Zeichen für die rechtmäßige Verkündigung als auch Zeugnis für den rechten Glauben ist. So können ni(J"'tt~ und uyan" an einigen Stellen beinahe als "austauschbare Synonyma" gesehen werden (vgl. u.a. 1,14; 2,15; 2 Tim 1,13; Tit 2,2) 21. Entsprechend dieser Gewichtung von uyun" dürfen auch die drei Näherbestimmungen nicht nur verstanden werden als Zeichen einer persönlichen Rechtschaffenheit; angesprochen werden darin vielmehr Eigenschaften und Haltungen, die die christliche Gemeinschaft tragen. Das "reine Herz" und das "gute Gewissen" sind nicht bloß Kennzeichen einer bestimmten Gesinnung, sondern in der tätigen Liebe sich äußernde Grundhaltungen. Mit der Hinzunahme des "ungeheuchelten Glaubens" ist sicher auch ein polemischer Zug verknüpft, wie v.a. die Präzisierung mit "ungeheuchelt" zeigt; denn den Gegnern wird gerade Heuchelei und Unredlichkeit vorgeworfen (vgl. 1 Tim 4, 1 f; dort ist die Rede von "betrügerischen Geistern" und "heuchlerischen Lügnern"). Mit dem "reinen Herzen" wird ein Motiv aus alttestamentlicher Tradition übernommen (vgl. Ps 51,12 "ein reines Herz erschaffe in mir, Gott, ... "), das bereits für sich allein stehend die völlige Hinordnung des Lebens auf den Willen Gottes zum Ausdruck bringt 22. Da auch mit der Bestimnmng des "guten Gewissens" der Gedanke der "neuen Existenz in Christus" ausgesprochen ist2 3 , erweist sich eine Abgrenzung der Begriffe als nicht möglich 24. In der Zusammenstellung des Begriffs "Glaube" mit den beiden Tugenden der Herzensreinheit und des guten Gewissens zeigt sich wiederum ein gegenüber Paulus weiterentwickeltes Verständnis von ni(J"n~. Bei Paulus steht ni(J"'tt~ im Mittelpunkt seiner Theologie und ist ein Zentralbegriff in Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 67. Vgl. PH. H. TowNER, Goal 159. 23 Vgl. H. v. LIPS, Glaube 64f mit Anm. 126. 24 Die Verwendung des Begriffs O"uvEiOTJO"t~ in den Past, in den meisten Fällen mit attributiver Ergänzung (O"uvEtOTJcrt~ aya9Tj 1,5.19; O"uvEiOTJcrt~ Ka9apa 3,9; 2 Tim 1,3; das Substantiv ohne Ergänzung 1 Tim 4,2; Tit 1, 15) und ausschließlich bezogen auf das Gewissen der Glaubenden, ist allein von Paulus her nicht zu erklären; während Einfluß der hellenistischen Umwelt kaum bestritten werden kann (vgl. dazu u. a. M. DIBELIUS H. CONZELMANN, Past 16f; H. V. LIPS, Glaube 61-64; zustimmend auch N. BRox, Past 103 f; R. SCHWARZ, Christentum 115 f; H. MERKEL, Past 19), ist auch mit der Möglichkeit einer Anknüpfung an die in der jüdischen Tradition - im Anschluß an das AT - bezeugte Vorstellung von der "Reinheit des Herzens" (vgl. TestNaph 3, 1 "EV Ka9aponrn Kapota~", TestSim 4,7 "EV ayaSti Kapotq.") zu rechnen (vgl. H.-J. ECKSTEIN, Syneidesis 305; J. ROLoFF, 1 Tim 67f). 21
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der Auseinandersetzung um die Frage nach der Rechtfertigung. mcrTL~ hat bei Paulus, deutlich gemacht durch die Antithetik zu den iipya v6~o\), zentral soteriologische Bedeutung (vgl. Röm 3,21 f). Hier in den Past wird ntcrTL~ eine christliche Tugend neben anderen; sie bezeichnet ein aus dem Glauben realisiertes Christentum bzw. gewinnt die Bedeutung von "Glaubenslehre". Bei Paulus begründet "Glaube" die christliche Existenz überhaupt; in den Past wird ntcnt~ zur "statischen Grundlage einer Theologie bleibender Gegenwart des Evangeliums"2s. Die neue Bedeutung im Vergleich zu Paulus zeigt sich etwa auch in der für diesen unmöglichen Zusammenstellung mit dem Adjektiv "ungeheuche1t" (so auch 2 Tim 1,5) 26. 6 Der Beschreibung christlichen Lebens wird polemisch in V 6 noch einmal das gegenübergestellt, was die vom Verfasser bekämpften Irrlehrer tun. Es ist wieder charakteristisch, daß die Abqualifizierung ihrer "Lehre" vollständig auf eine inhaltliche Bezugnahme und Auseinandersetzung verzichtet. Es geht einzig um den Kampf gegen sie 27. Ihr Bemühen hat eigentlich gar kein Anrecht auf die Bezeichnung "Lehre"; denn es handelt sich um "sinnloses, leeres Geschwätz". Mit dem Kompositum von ~(hato~ (leer, nichtig, eitel) wird das, was die 'ttvE~ sagen, als nicht nur inhaltlich unbedeutend beschrieben; es erwächst daraus auch keine Kraft für die Gestaltung christlichen Lebens. Gerade auch die völlige Nutzlosigkeit der Irrlehre herauszustellen, ist das Anliegen des Verfassers der Past. Seine "Briefe" sind insgesamt geprägt von der dominierenden Stellung der Paränese. Mit der Bezeichnung der Irrlehrer als solche, die vom rechten Weg abgewichen sind (äcnoXTJcraV'tE~), werden sie zugleich als (ehemalige) Christen vorgestellt. Der rechte Weg ist aus der polemischen Gegenüberstellung klar der, der in V 5 beschrieben ist:' der Weg der "Agape", der gekennzeichnet ist durch die drei Tugenden (ein reines Herz, ein gutes Gewissen, ungeheuchelter Glaube). Mit dem Bild vom Abirren "vom rechten Weg" und der Abwendung hin zu "leerem Geschwätz" ist vorausgesetzt, daß sich bereits eine einigermaßen feste Vorstellung von der "rechten Lehre" herausgebildet hat. Der "rechte Weg" ist die in und von der Kirche anerkannte "rechte Lehre". Irrlehre ist also nicht bloße Abweichung in einzelnen Worten und Aussagen, sondern sie ist Verlassen des einzig möglichen, zum Heil führenden Weges, wie er von der Glaubensgemeinschaft der Kirche vorgegeben ist. Die Past repräsentieren eine EntwicklungsO. MERK, Glaube 93. Die Differenz zu Paulus zeigt sich in dessen Gebrauch des Adjektivs aVU1t6KplTO~, nämlich in Verbindung mit aya1tT]; "ungeheuchelte Liebe" ist eines der Kennzeichen seines missionarischen Wirkens (2 Kor 6, 6) und wird von den Christen in Rom eingefordert als Zeichen ihres vom Geist geleiteten Lebens (Röm 12,9). 27 Nach M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 18, ist "die Art der Polemik" der Past im Unterschied zu Paulus darin zu sehen, daß sie es "fast ganz" vermeiden, "den Gegner zu schildern; sie wollen ihn lediglich bekämpfen, und zwar mit denselben Vorwürfen, weiche der Popularphilosoph seinem Gegner macht". 25
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stufe, in der Lehre und Heilsweg schon als miteinander identisch angesehen werden. Darum weist auch die von ihnen vertretene christliche Paränese einen stark normativen Charakter auf. Die VV 5 und 6 zeigen deutlich das Muster der Ketzerpolemik: Es wird auf den rechten Glauben verwiesen, und es werden einige zentrale und als wesentlich erachtete Grundzüge bzw. unverzichtbare Inhalte dieser Glaubenslehre und eines davon bestimmten Lebens angeführt. Da es dazu aber nach der festen Überzeugung des (Pseudo-)Paulus und aller, die sich der in den Past repräsentierten theologischen und kirchlichen Position anschließen, keine Alternative geben kann, deshalb können die, die nicht damit übereinstimmen, nur Ketzer, falsche Lehrer sein.
Auf die nicht weiter hinterfragbare und letztlich auch nicht auf eine inhaltliche Begründung angewiesene Vorstellung des rechten Glaubens kann somit nur noch die Alternative folgen: Annahme oder Ablehnung. Damit ist alles entschieden 28. Es ist dann nur konsequent, wenn der Autor die Irrlehrer charakterisiert als die, die vom "rechten Glauben" abgewichen sind. Diese Art und Weise der "Überführung" der Irrlehrer erklärt wiederum das Desinteresse der Past an einer inhaltlichen Darstellung ihrer Positionen. 7 Die AbqualifIZierung der Irrlehrer wird noch präzisiert durch die Gegenüberstellung von dem, was sie sein wollen, und dem, was sie nach Überzeugung des Autors in Wirklichkeit sind. Die Bezeichnung als vOI.wOtOaoKaÄ.ot ordnet sie wieder einer judaisierenden Richtung zu. Dieser Ausdruck ist kaum als Selbstbezeichnung des betroffenen Personenkreises zu erklären 29, sondern ist eine christlicherseits formulierte Präzisierung (vgl. noch Lk 5, 17; Apg 5,34), die nicht notwendigerweise negative Bedeutung hat 30. Für die Past aber gehört die Bezeichnung zum Repertoire der abwertenden Urteile über die Aktivitäten der "Falschlehrer" (V 3), die vom rechten Glaubensweg abgewichen sind (V 6). Zur inhaltlichen Konkretisierung können die Hinweise auf die Diskussion um den Rang von Gesetzesvorschriften im allgemeinen (vgl. Tit 1,14; 3,9) und die in 1 Tim 4,3 angedeuteten Forderungen einer strengeren Ausrichtung an alttestamentlichen Speise- und Reinheitsvorschriften herangezogen werden. Doch es ist noch nicht vorauszusetzen, daß die in den Past bekämpften Irrlehrer bereits als einheitliche und geschlossene Gruppe agierten. Vielleicht läßt sich dies aufgrund der verwendeten Begriffe noch präzisieren. Während die in V 4, im Verweis auf die Mythen und Geschlechtsregister, angedeuteten Irrlehren auf Spekulationen um die (gnostisch beeinflußte) Vgl. auch N. BROX, Past 100f: "Die rechte Lehre ist ... eindeutig und bedarf zur Sicherung oder Klllrung keineswegs eines Vergleichs mit der Häresie." 2' F. J. SCHIERSE, Past 32, spricht von einem "selbstgewählte(n) Titel"; J. ROLOFF, I Tim 71, hingegen schließt dies aus. '0 A. F. ZIMMERMANN, Lehrer 80, verweist darauf, daß 1i1.8a(JKaAo~ "eine recht al1gemeine Bezeichnung für Lehrer verschiedener Sparten" darstel1t, die einer Ergänzung bzw. Präzisierung bedarf, wie beispielsweise in der Wortverbindung Vo~o8l8a(JKaA.o~. 2B
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Auslegung der alttestamentlichen Überlieferung über die Schöpfung und die Genealogien der Vätergeschichten zielen dürften, attackiert die polemische Bezeichnung dieser Leute (V 6: 'ttvE~) als "Gesetzeslehrer" die ebenfalls von gnostischem Denken beeinflußte Forderung an die Christen zu strengerer Gesetzesobservanz. Der entscheidende Vorwurf gegen diese Gesetzesrigoristen lautet, daß sie bei ihrem Tun einer Einbildung erliegen; ihre Absichten (ef:AOV'tE~ dvut!) müssen schon deshalb scheitern, weil sie in Wirklichkeit gar nicht in der Lage sind, dieselben zu verfolgen. Der Autor spricht ihnen einfachhin die Fähigkeit ab, das überhaupt zu verstehen, was sie sagen und wovon sie überzeugt sind. Das Partizip ,.111 VOO{)V'tE~ unterstreicht die negative Qualifizierung von V 6 mit dem Begriff I1U'tUWAOyiu. Die Ketzerpolemik der Past ist, wie gleich in diesem einleitenden Abschnitt zu 1 Tim deutlich zu erkennen ist, gekennzeichnet von dem Verzicht auf sachliche Auseinandersetzung mit den Irrlehrern und auch auf den Versuch einer Widerlegung ihrer Verkündigung. Rechte und falsche Lehre werden einfach gegeneinandergestellt, ohne daß entweder die orthodoxe Position der Past inhaltlich entfaltet und begründet oder die Irrlehre im Detail vorgestellt und widerlegt würde. Die rechte Lehre braucht weder einen Vergleich mit der Häresie, noch muß sie sich gegenüber der Falschlehre erst bewähren. Als Kennzeichen der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern in den Past ist mit N. Brox festzuhalten, "daß zwischen Falschlehre und Erwiderung keine enge Entsprechung in Form sachlicher Widerlegung besteht, sondern daß es sich durchweg um Bestreitung der ,Anderslehre' unter Herausstellung der gesunden Lehre handelt" 31. Literarisch nicht ungeschickt begründet der Verfasser diese Vorgehensweise einer pauschalen Abqualifizierung der Falschlehre damit, daß er den Apostaten einfach die Fähigkeit abspricht, über ihre eigenen Aussagen Bescheid zu wissen. III
Gleich bei der ersten Gelegenheit, da der Autor der Past in 1 Tim auf das für ihn aktuell wohl wichtigste Thema zu sprechen kommt, den Kampf gegen Irrlehrer in den Gemeinden, klärt er die Fronten. Er stellt sich und die von ihm angesprochenen Gemeindeleiter, deren Autorität auf der Vollmacht und Beauftragung durch den Apostel Paulus gründet, als die Vertreter des wahren und rechten Glaubens vor. Damit verbunden ist der Anspruch, bezüglich dieses Glaubens Weisungen erteilen zu können. Wer von diesem, also vom apostolischen Glauben abweicht, gehört zu den Irrlehrern. Mit dem einleitenden Hinweis auf die Beauftragung durch den Apostel werden die in seiner Nachfolge stehenden Amtsträger als die Garanten der apostolischen Tradition ausgewiesen. Wer sich gegen die Gemeindeleiter stellt, stellt sich zugleich gegen Paulus und seine Verkündigung des Evangeliums. In der Form einer kompromißlosen Polemik wird 31
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N.
BROX,
Past 104.
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die Situation beschrieben. Es gibt nur eine Möglichkeit des rechten Glaubens und der rechten Lehre, nämlich die Annahme des in der kirchlichen Unterweisung vorgetragenen Evangeliums. Es ist noch einmal auf die in diesem Abschnitt vorgenommene Charakterisierung der Funktion des Timotheus zu schauen. Grob gesagt werden in den ihm zugesprochenen Funktionsbeschreibungen im wesentlichen die Aufgaben des Gemeindeleiters in zwei Richtungen festgeschrieben: Abwehr der Irrlehrer und Sorge für die Festigung des Glaubens der Gemeinden. Alles Weitere ist Spezifizierung und Erläuterung dieser Grundbestimmungen der Funktion des Gemeindeleiters in der Grenzsituation zwischen Orthodoxie und Häresie. Darin zeigt sich auch eine bedeutsame Verschiebung im Blick auf den historischen Paulus. Nicht mehr die nach außen missionarisch wirksame Verkündigung des Evangeliums steht im Vordergrund und wird als Auftrag weitergegeben, sondern die innergemeindliche Auseinandersetzung um Gestalt und Inhalt dieses Evangeliums steht an oberster Stelle.
Ein nicht nur für diesen Abschnitt, sondern für die Past insgesamt charakteristisches Stichwort ist der gegenüber einzelnen Gemeindemitgliedern erhobene Vorwurf des E1:EPOOtoUcrKUAELV. Obwohl dieses Wort neben diesem Beleg 1,3 nur noch in 6,3 vorkommt, bestimmt die damit angezielte Trennung in Häresie und Orthodoxie, in Gläubige und Irrlehrer, doch das gesamte Corpus der Past. Das Tun der Irrlehrer, ihr E'tEPOotoUcrKUAeLV, ist so etwas wie eine dunkle Folie, vor welcher das Licht des rechten Glaubens um so heller zum Strahlen kommen kann und muß. Dieser Begriff ist kennzeichnend für das von den Past bezeugte Selbstverständnis und den Anspruch christlicher Gemeinden bzw. von deren Repräsentanten in der "nachapostolischen" Zeit, wobei die Bestimmung "nachapostolisch" auch den Begriff des "Apostolischen" sowohl zeitlich als auch sachlich begründeP2. Innerkirchlich ist ein Stadium erreicht, in dem es möglich geworden ist, mit der Berufung auf die Norm des "rechten Glaubens" die damit nicht konformen theologischen Meinungen als "Falschlehren" auszugrenzen. Wir stehen in einer Situation mit für den weiteren Weg der Kirche wichtigen Entscheidungen: (1) "Glaube" erhält durch die Definition als "Rechtgläubigkeit" einen stärker statischen Charakter. (2) Das kirchenamtliche und rechtliche Moment tritt in den Vordergrund, die "Kirchenzucht" gewinnt an Einfluß. Solche Entwicklungen sind sicherlich nicht von einem Theologen wie dem Verfasser der Past verursacht; er ist gewissermaßen Kronzeuge für dieses Selbstverständnis christlicher Gemeinden bzw. ihrer Repräsentanten an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert. Immer stärker kommt jetzt zum Bewußtsein, in der "nachapostolischen" Zeit zu leben. Dieses Selbstverständnis und die damit gegebenen Legitimationspro32
Vgl. dazu L. OBERLINNER, Apostel (s. Anm. 10).
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bleme geben dem Kriterium des "Apostolischen" besonderes Gewicht, in den Past vor allem erkennbar in der Absolutheit der mit Paulus verknüpften "apostolischen Autorität". Und so werden die Einbindung in und die Anbindung der Gemeinde, ihres Glaubens und der verantwortlichen Leiter an die apostolische Autorität des Paulus und seine "Weisung" zum Maßstab des wahren Glaubens. LITERATUR: F. H. COLSON, ,Myths and Genealogies' - A Note on the Polemic ofthe Pastoral Epistles: JThS 19 (1918) 265-271; O. E. SOHN, Study on I Timothy 1,3-11: CTM 21 (1950) 419-428; B. T. VIVIANO, The Genres ofMatthew 1-2: Light from I Timothy I: 4: RB 97 (1990) 31-53; S. WESTERHOLM, The law and the just man' (I Tim 1,3-11): StTh 36 (1982) 79-95.
b) Die Bedeutung des Gesetzes im Lichte des Evangeliums (1,8-11)
Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist, wenn es einer dem Gesetz gemäß anwendet, 9 darum wissend, daß das Gesetz nichtfir einen Gerechten gegeben ist, sondernfir Gesetzlose und Widerspenstige,fir Gottlose und Sünder, fir Unheilige und Unreine, fir Vatermörder und Muttermörder, fir Mörder, 10 fir Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner, Meineidige, und was sonst noch der gesunden Lehre entgegensteht, n gemäß dem Evangelium der Herrlichkeit des seliggepriesenen Gottes, mit dem ich betraut worden bin. 8
I
Dieser Textabschnitt ist mit dem vorangehenden verbunden durch das Stichwort v6~o~. Nachdem dort den vom rechten Glauben Abgewichenen die Fähigkeit abgesprochen worden war, sich als Gesetzeslehrer zu betätigen, muß der Autor nun versuchen, seine Vorstellung von der Bedeutung des Gesetzes im Rahmen der dem (Tirnotheus als) Gemeindevorsteher übertragenen Aufgabe zu entwickeln. Allerdings geschieht dies nicht inhaltlich, vom Gesetz her, sondern erneut, entsprechend der einleitend vorgenommenen Aufteilung in zwei Gruppen von Gemeindemitgliedern (auch ehemaligen), mit denen der Briefempfänger es in seiner "Unterweisung" (vgl. VV 3.5) zu tun hat, in der eigentümlichen Art und Weise einer stark negativ und polemisch ausgerichteten Abgrenzung. Die schon eingangs unter Verwendung einiger mehr oder weniger informativer Begriffe vorgenommene Gegenüberstellung von Rechtgläubigkeit und Falschlehrer I wird weiter ausgeführt im Blick auf die Funktion des Gesetzes. Ein falscher Akzent wird von G. Holtz mit der Überschrift "Das Leben des Gegners unter dem Fluch des Gesetzes" für unseren Abschnitt eingetragen 2. Es geht ge1 Es ist eine Besonderheit der Durchführung der Irrlehrerpolemik, daß nicht einander gegenübergestellt werden Irrlehrer und Rechtgläubige oder Irrlehre und rechter Glaube, sondern Irrlehrer auf der einen Seite, der rechte und rechtmäßige Glaube auf der anderen Seite; vgl. bes. die folgenden W9.l0; außerdem 4,1-11; 6,3.5; Tit 1,10-16. 2 G. HOLTZ, Past 39.
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rade nicht darum, die Situation der bekämpften Irrlehrer aus dem Gesetz bzw. aufgrund eines bestimmten Verhaltens dem Gesetz gegenüber negativ zu bestimmen. Deshalb ist umgekehrt auch nicht zu unterstellen, daß die Bestimmung als Si.Kato<; (V 9) als aus dem Gesetz kommend vertreten wird 3. Das Gesetz hat in der unseren Autor bewegenden Frage nach dem rechten Glauben und dessen Sicherung gegen die Irrlehrer keine in sich stehende Bedeutsamkeit. Die Frage nach dem Gesetz ist letztlich eine Episode, eine Randfrage, eingebettet in die entscheidende Diskussion um das Gegenüber von "Irrlehre" (V 3 E-tEpOStSacrKaAEtv) und dem von Liebe und einem guten Gewissen getragenen Glauben (V 5) bzw. "der gesunden Lehre" (V 10 üytai.voucra StSacrKaAi.a).
11 8 Mit dem einleitenden "wir aber wissen" wird die Antithese zu den vermeintlichen "Gesetzeslehrern" (V 7) formuliert. Die im "Brier' wechselnde Personenbezeichnung vom "Ich" zum "Wir" kennen wir auch aus den Paulusbriefen (vgl. Röm 3, 19; 7, 14). Die für die Past eigentlich nicht typische Einordnung des fiktiv schreibenden Paulus in eine Gruppe stellt zugleich bewußt einen Kontrast her. "Paulus" spricht nicht nur für sich, sondern er spricht für und im Namen der gläubigen Kirche, also für die, die - im Gegensatz zu den "tlVEC; (V 3) - den wahren Glauben bewahrt haben. Das "wir aber" ist Ausdruck eines fordernden und zugleich abgrenzenden Selbstbewußtseins. Was folgt, wird dadurch als allgemein bekannter und akzeptierter Grundsatz vorausgesetzt. Die als dieses gemeinsame Wissen reklamierte Aussage wird mit der Feststellung formuliert, "daß das Gesetz gut ist" - eine Feststellung, die an Paulus erinnert (Röm 7, 12.16). Jedoch ist vom Verfasser nicht die für Paulus kennzeichnende und seine Theologie prägende Diskussion um den Stellenwert von Gesetz und Gesetzeswerken im Rahmen der Behandlung der Frage nach der Rechtfertigung des Menschen übernommen. Von der Auseinandersetzung um die Gültigkeit des Gesetzes, die für Paulus bestimmend war, ist in den Past bei dem Thema "Gesetz" nichts mehr zu bemerken. In dieser Verlagerung der mit dem Begriffv6llo<; verbundenen Vorstellungen und Probleme liegt gegenüber Paulus eine gewisse Parallelität zu dem bereits angesprochenen Wandel der Bedeutung des Begriffes llLcr1:t<; vor.
Warum aber betont der Verfasser so nachdrücklich, daß das Gesetz "gut" ist? Für das Verständnis ist durchaus ein Blick auf Paulus und seine Gesetzestheologie hilfreich. Es ist allerdings von vorneherein davon auszugehen, daß eine bloße Wiederholung bzw. eine konservierende Weitergabe des paulinischen Gesetzesverständnisses in den Past gar nicht zu erwarten ist; deshalb kann die Bedeutung und der Stellenwert von VOIJ.OC; nicht in der Linie der paulinischen Theologie gesucht werden. Gegenüber dem absoluten Gebrauch von V0J.10C; bei Paulus zeigt in unserem Vers der angeschlossene MN-Satz bereits eine Einschränkung in der positiven Bewertung des Gesetzes an 4.
3 4
G. HOLTZ, Past 39, formuliert: "Das Gesetz verurteilt sie zur Hölle." Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 19. Die Ausrichtung ist nach J. ROLOFF,
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Mit der Bindung von v6~0C;; an die Bedingung des vo~i~O)C;; x.pfjcr8at ist gleichzeitig gegenüber Paulus eine Verallgemeinerung von v6~0C;; gegeben. Das Gesetz ist, wie auch der Kontext zeigt, verstanden als allgemeingültiges Sittengesetz und als Lebensordnung; es ist für den zwischenmenschlichen Bereich grundsätzlich notwendig und deshalb gut. Das bedeutet aber auch, daß "Güte" und Qualität des Gesetzes aus einem entsprechenden Verhalten resultieren. Diese doppelte Tendenz der Einschränkung und der Ausweitung zugleich ist gegeben durch die Verknüpfung von Gesetz und dessen praktischem Gebrauch. Man kann hier auch erste Spuren einer allmählich sich entwickelnden Kontroverse um die grundsätzliche Frage nach dem Maß der Verpflichtung des Mosaischen Gesetzes für die Christen sehen. In späteren gnostischen Entwürfen, aber auch schon bei Markion kommt es zur Überzeugung, daß das Gesetz von einem bösen Demiurgen stammt, der mit dem guten und gnädigen Gott Jesu Christi nichts gemein habe. Es wäre also sowohl möglich, daß sich der Autor gegen eine Überschätzung des Gesetzes wendet - das ginge dann stärker in die Richtung der Abwehr judaisierender Tendenzen - , als auch, daß er sich gegen die Neigung zu einer überheblichen Abwertung des Gesetzes von seiten christlicher Enthusiasten (nicht unbedingt Libertinisten !) wendet - diese sind zu suchen im Umfeld einer gnostisch beeinflußten Theologie. Eine Entscheidung ist in der Intention unseres Autors jedoch nicht in einer Alternative "für" oder "gegen" das Gesetz zu suchen. Auch hier liegt, wie in manch anderen Bereichen, sein Bestreben darin, einen Mittelweg aufzuzeigen zwischen einer übersteigerten Betonung des Gesetzes mit entsprechenden Konsequenzen für die Lebensgestaltung und einer überheblichen Ignorierung desselben. Die Spannung ist spürbar, und sie bleibt letztlich ungelöst, da der mit "wir aber wissen" eingeleitete Satz auf die Feststellung Wert zu legen scheint, daß das Gesetz, für sich gesehen, "gut" ist, der angeschlossene tav-Satz dann aber den "rechten Gebrauch" als Maßstab angibt s. In jedem Fall ist der unüberbrückbare Abstand der Past etwa zu einer markionitischen Abwertung des Gesetzes und damit der biblischen Gottesoffenbarung des AT offenkundig. Für die spätere Gnosis wie auch für Markion ist eine solche Aussage, "das Gesetz ist gut", unmöglich. In den von den Past repräsentierten Gemeinden gibt es also kontroverse Positionen zum Stellenwert des Gesetzes für die Gläubigen. Wenn der Verfasser Aussagen über die Bedeutung des v6~oC;; macht, dann ist für die Klärung der Frage, wie v6~oC;; inhaltlich zu bestimmen ist, diese Diskussion mit zu bedenken. Insofern ist die häufig begegnende Erklärung, der Verfasser denke hier nicht an das Mosaische Gesetz, sondern "allgemein an sittliche Normen, die als Richtschnur für sittliches Verhalten nützlich
1 Tim 72, "latent apologetisch, insofern es um eine Richtigstellung und Bekräftigung der legitimen kirchlichen Lehre vom Gesetz geht". S J. ROLOFF, 1 Tim 73. Vgl. auch P. TRuMMER, Paulustradition 192.
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sind" 6, sicher nicht ausreichend; denn dabei findet die in den Gemeinden sich vollziehende Auseinandersetzung zu wenig Berücksichtigung. So ist trotz der Distanz zu Paulus und trotz der paränetischen Abzweckung des Hinweises auf das Gesetz nicht zu bezweifeln, daß der Verfasser mit v6~0~ vorrangig, allerdings nicht ausschließlich Bezug nimmt auf das Gebot Gottes, die biblische Offenbarung des Heilswillens Gottes 7. Auch für den Paulus der Past ergibt sich die Bedeutung und der verpflichtende Charakter des Gesetzes aus einer theologischen Begründung, nämlich aus seinem Stellenwert im Rahmen der Bewahrung und Festigung der 1ticr'[l~. Darin liegt seine bleibende Bedeutung. Für die schon genannte andere Erklärung der auf das Gesetz bezogenen Aussage, daß nämlich der Verfasser vor einer Überschätzung des Gesetzes warnen wollte, spricht einmal der Zusammenhang mit V 7; dort werden ja gerade die, die sich so intensiv mit dem Gesetz zu beschäftigen vorgeben, als Irrlehrer identifiziert. Und dafür spricht schließlich auch der folgende Vers. 9a Die eingeschränkte Gültigkeit des Gesetzes wird formuliert mit einem Satz, der ebenfalls an eine paulinische Aussage erinnert (vgl. Gal 5,23). Hier in V 9 klingt aber schon stärker ein in der stoischen Philosophie geläufiger Gedanke an. "Im goldenen Zeitalter war kein Gesetz erforderlich", so läßt sich eine verbreitete Grundstimmung wiedergeben 8. Das Gesetz ist nach Aussagen dieses Verses nicht für den Gerechten da, denn dieser hat seine Orientierung und seinen festen Halt im rechten Glauben '. Wie das Leben dieses Gerechten auszusehen hat, dies wurde bereits in V 5 gesagt. Der im rechten Glauben, und d. h. in der "gesunden Lehre" (V 10) lebende Christ braucht das Gesetz weder abzulehnen, noch muß er es fürchten; denn ihn trifft es nicht mehr im Sinne einer sein Leben ordnenden und so auf Gott und seinen Willen ausrichtenden Verpflichtung. Im Hintergrund der letztlich nur angedeuteten Diskussion um den Stellenwert des Gesetzes im Rahmen der anstehenden Entscheidung für den rechten Glauben steht die Frage nach dessen praktischer Bedeutung für das Leben und für den Glauben. Schon dies hat zur Konsequenz, daß der
6 H. MERKEL, Past 19; vgl. auch V. HASLER, Past 14: "das Zivil- und Moralgesetz des herrschenden Staates"; H. RÄIsANEN, Paul and the Law (WUNT 29) (Tübingen 1983) 31:"a general moral law, orthe law ofthe state"; G. KLEIN, TRE 13,72: "eine Empfehlung moralischer Positivität". 7 Vgl. auch O. KNOCH, Past 20. Mit umgekehrter Gewichtung dagegen J. ROLOFF, I Tim 73: " ... nicht primär die Tora Israels ... , sondern ganz allgemein die das menschliche Zusammenleben normierenden und schützenden Gebote und Ordnungen, innerhalb derer ihm das atl. Gesetz allenfalls als ein markanter Sonderfall gilt." 8 So mit Verweis auf Ovid, metam. I 89f; Tac., anno 3,26, M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 19. Vgl. auch Antiph. fragm. 288 6 J.Lllöi:v aötKliiv oüöEv6<; öEL-rat v6J.L0o, zit. bei W. LOCK, Past I I. , Vgl. N. BROX, Past 106.
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theologische Rahmen nicht mehr in der Auseinandersetzung um die pauliuische Rechtfertigungstheologie gesehen werden kann 10. Der Gedankengang erinnert, worauf die Kommentare 11 hisweilen hinweisen, an Röm 13,1-7, wo Paulus auf das Verhältnis des Christen zur staatlichen Gewalt zu sprechen kommt. Auch dort im Röm ist der Grundsatz formuliert, daß nicht der, der Gutes tut, sich vor der staatlichen Gewalt zu fürchten hat, sondern nur der, der Böses tut (vgl. bes. Röm 13,lf). Allerdings verläuft in der Formulierung der Past die Argumentation anders. Es wird nicht der, der sich an das Gesetz hält, aufgrund seines Gesetzesgehorsams als Vorbild hingestellt, sondern der im Glauben Feststehende und deshalb auch in der Liebe Bewährte (vgl. V 5) ist aufgrund dieser Glaubenstreue als "Gerechter" ausgewiesen und deshalb nicht auf Gesetzeserfüllung angewiesen 12. 9b.lO Die Notwendigkeit und die Berechtigung des Gesetzes als sittliche Norm wird in dem angeschlossenen Lasterkatalog plastisch untermauert. Es handelt sich sowohl bei der Form des Lasterkataloges 13 als auch bei dessen inhaltlicher Füllung um die Übernahme geprägter und traditioneller Vorgaben; der Autor formuliert dabei im wesentlichen nicht eigen~tän dig und damit auch nicht notwendigerweise in jedem Fall situationsbezogen. Was die Aufzählung der Laster in diesen bei den Versen betrifft, so fällt einmal auf, daß von den hier gebrauchten 14 Begriffen 10 in den anderen neutestamentlichen Lasterkatalogen (vgl. bes. Röm 1,29-31; Gal 5, 19f; I Tim 6,3-5; 2 Tim 3,2-5; Tit 3,3) nicht verwendet werden und daß gerade die massivsten Verfehlungen im zwischenmenschlichen Bereich (Vatermörder, Muttermörder, Mörder, Menschenräuber, Meineidige) im NT nur in dieser Aufzählung zu finden sind. Die Erklärung dafür ist beim Redaktor dieser Liste zu suchen, bei seinem Anliegen und in den ihm verfügbaren Vorlagen. Sein Ziel ist es, vor dem Treiben der Irrlehrer zu warnen; d. h. aber auch: Er will nicht die von ihm bekämpften und der Falschlehre bezichtigten Leute mit dem in dem Lasterkatalog vorgestellten Personenkreis einfach identifizieren! Dazu bedient er sich, wie auch bei den anderen Katalogen und in der gesamten sprachlichen Gestaltung zu beobachten ist, des ihm aus der hellenistischen Umwelt zugänglichen Begriffspotentials 14. Die Aufzählung der z. T. schwersten Verbrechen ist also nicht begründet zu sehen in einem besonderen moralischen Tiefstand der bekämpften Irrlehrer. Der La10 Gegen F. J. SCHIERSE, Past 34, der den Grundsatz, "für einen Gerechten gilt das Gesetz nicht", als Vereinfachung der paulinischen Rechtfertigungslehre deutet. 11 Vgl. M. DIBELIUS -H. CONZELMANN, Past 19; C. SPICQ, Past 332; F. J. SCHIERSE, Past
34. 12 "Für einen aus dem paulinischen Evangelium Lebenden und darum Gerechten bedarf es neben dem Evangelium keiner zusätzlichen Weisung oder Norm": H. MERKEL, Past 19. 13 Zu den Lasterkatalogen im allgemeinen und der Past im besonderen vgl. A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge, bes. 234ff; S. WIBBING, Tugend- und Lasterkataloge 88 ff. 14 Vgl. dazu S. WIBBING, Tugend- und Lasterkataloge 89-91.
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sterkatalog ist vielmehr (wie etwa auch der Tugendkatalog und die HaustafeI) eine geläufige Stilform der zeitgenössischen sittlichen Unterweisung. Die katalogartige Aufreihung von Lastern hat auch nicht im eigentlichen Sinn paränetische Zielsetzung; denn der Autor will seine Leser nicht darüber belehren, was sie zu meiden haben 15, sondern er will ihnen warnend vor Augen führen, welche Konsequenzen für sie ein Anschluß an die Falschlehrer haben kann bzw. muß 16. Die Lasterreihen wollen beeindrucken, und sie sollen gleichzeitig abschrecken; oder, wie es bei M. Dibelius - H. Conzelmann treffend heißt: "sie wollen wie Plakate wirken"17. Es wäre also in jedem Fall verkehrt, wollte man von dieser Aufzählung her auf einen ethischen Tiefstand der bekämpften Irrlehrer schließen. Der Lasterkatalog gehört als geläufiges Stilmittel zur Ketzerpolemik.
Was die Reihenfolge der Verfehlungen angeht, so läßt sich eine Orientierung am Dekalog feststellen 18. Beginnen wir in der Mitte. Mit dem Hinweis auf die "Vater- und Muttermörder" ist Bezug genommen auf die Verfehlung gegen das 4. Gebot. Es folgen die weiteren Gebote bis zum achten: Mörder (5. Gebot), Unzüchtige und Knabenschänder (6. Gebot), Menschenräuber (7. Gebot; hier also die erste Form des Vergehens gegen das "Eigentum", nämlich die Mißachtung der Würde und der Unantastbarkeit des einzelnen und seines freien Lebens), Lügner und Meineidige (8. Gebot). Vorangestellt werden den genannten Übertretem dieser der zweiten Mosaischen Tafel zugehörenden Gebote "Gottlose und Sünder, Unheilige und Unreine", wobei wir von den beiden ersten Charakterisierungen ("Gesetzlose" und "Widerspenstige") noch absehen. In diesen vier Bezeichnungen ist eine summarische Zusammenfassung der Übertretungen der drei Gebote der ersten Tafel des Dekalogs geboten. Daß diesen Begriffen bzw. Verfehlungen dann noch die Nennung der "Gesetzlosen und Ungehorsamen" vorangestellt wird, ist zu erklären aus der Situation derPast. "Gesetzlosigkeit" und "Ungehorsam" sind letztlich die Ursachen, aus welchen die anschließend genannten Verfehlungen gegen Gott und die Menschen sich ergeben. Die daran anschließend aufgezählten Laster sind Spezifizierungen dieser beiden Grundübel 19, nämlich der man-
Vgl. R. J. KARRIS, Background 554. Vgl. dazu N. J. McELENEN, Vice Lists 205: " ... the false teachers open the way to the vicious activity of the Law-Iess." 17 M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 19; vgl. auch N. BROX, Past 106. Zur Funktion dieses Lasterkatalogs, der zusammen mit dem in 2 Tim 3, 1-5 am "polemischsten" wirkt, schreibt L. A. BROWN, Ascetism 82: "In their polemical attack against those who did not live the ,religious life' (as defined by the author), the vice lists here appearto have served as a negative reinforcement of a prevailing set of ideas about social roles. The identity of those who adhered to sound doctrine and right practice would have been marked off in stark contrast to those who were described as lawless and unsubordinate, the former being those who maintained social order, the latter being those whose actions led to social chaos." 18 Vgl. dazu A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 16.236; S. WIBBING, Tugend- und Lasterkataloge 89. Vorsichtig zustimmend N. BROX, Past 106, und J. ROLOFF, I Tim 75; eher skeptisch ("das ist sehr gezwungen") H. MERKEL, Past 20. 19 Vgl. J. ROLOFF, I Tim 76: "Die ersten beiden Glieder haben allgemeinen und über15
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gelnden Bindung an das Gesetz und der mangelnden Unterordnung unter die Autoritäten in den Gemeinden. Mit der Nennung der ävoJ.Lm an erster Stelle wird die Anbindung an das Stichwort VOJ.Lo<; bewerkstelligt, und auf diese Weise auch die Einbindung des Lasterkatalogs in die Irrlehrerpolemik erreicht. In der Zusammenstellung der beiden einleitenden Begriffe "Gesetzlose und Ungehorsame" kommt nun aber auch das aktuelle Anliegen des Autors zur Geltung. Es geht ihm um die Stärkung der Autorität dessen, der in den Gemeinden "Weisungen" erteilen soll (so im Auftrag des "Paulus" an "Timotheus" als verantwortlichen Gemeindeleiter in V 3: tva napayyEiAU<;). Die fehlende Bereitschaft, sich dieser Autorität unterzuordnen, die den rechten Glauben bewahrt und garantiert, führt zwangsläufig zu "falscher Lehre" und damit zum umfassenden Glaubensabfall; und das heißt auch: in die ethisch-moralische Haltlosigkeit. Wie mit dem Gehorsam gegenüber der Unterweisung des Apostels und seines Nachfolgers die Liebe verbunden ist (V 5), so gehören zum Ungehorsam alle Arten von Sünden und Verfehlungen. Die Mahnung zu" Unterordnung" und zu "Gehorsam" als zentraler Tugend und zugleich als Zeichen des rechten Glaubens durchzieht die Past wie ein roter Faden. Abgeschlossen wird die Lasterreihe mit der allgemeinen und umfassenden Formel "was auch sonst immer" (Kai Et n E'tEPOV); auf diese Weise bietet sich dem Verfasser die Gelegenheit, die einzig mögliche Alternative zu den genannten Lastern und allem, was damit irgendwie zusammenhängt, anzufügen: "die gesunde Lehre". Schon aus der Abfolge wird klar, daß mit der "gesunden Lehre" eine Zusammenfassung dessen geboten werden soll, was die kirchentreue und glaubenstreue Gemeinschaft der Christen zu vertreten hat. (Daß die hier behauptete Zusammengehörigkeit von "Kirche" und "Glaube" aus der Aussageabsicht der Past gerechtfertigt ist, wird sich im weiteren Verlauf der Exegese noch bestätigen lassen.) In der Verwendung von uYLaivEtV im Zusammenhang mit der Lehre liegt ein für die Past typischer Sprachgebrauch vor. In der gleichen Zusammenstellung mit oLoacrKaAia finden wir das Wort uYLaivEtV wiederum in 2 Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1; ähnliche Formulierungen stehen sodann auch in 1 Tim 6,3 und 2 Tim 1,13 (uYLaivov'tE<; Mym), des weiteren in Tit 2,8 (Myo<; uYtT1<;) und schließlich Tit 1,13; 2,2 (uYLaivEtV EV Tii nicr'tEL). Da ganz offensichtlich mit diesem Ausdruck der Inhalt des rechten Glaubens umschrieben werden soll und umschrieben werden kann, steht in dieser Zusammensetzung das Attribut "gesund" als Bezeichnung für die Unverfälschtheit und Wahrheit des Glaubens. In der Wahl der Zusammensetzung von "Lehre" und "gesund" bzw. "gesund sein" wird ein Zweifaches zum Ausdruck gebracht: (1) Es ist zum einen eine praktische Komponente. Aus der Gegenübergreifenden Sinn; sie benennen noch niCht bestimmte Freveltaten, sondern die diese tragende grundsätzliche Haltung."
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stellung zu den Verfehlungen der verschiedensten Art wird im vorliegenden Fall die "Lehre" als dem Menschen und seinem sittlichen Handeln entsprechende Notwendigkeit vorgestellt; die "gesunde Lehre" ist dem Menschen in seiner natürlichen wie übernatürlichen Bestimmung angemessen und deshalb anzuerkennen als die das menschliche Verhalten umfassend ordnende Größe. Wer sich an sie hält, der ist auch moralisch "gesund", d. h., er ist frei von Lastern und Übeln; oder anders gesagt: der ist "gerecht" (vgl. V 9a). In dieser Deutung eignet dem Ausdruck "gesunde Lehre" eine stark ethisch-paränetische Sinnspitze; es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Lehre und dem Heil. Die Rettung - es sei erinnert an den Titel crro't1]p für Gott in I, I - kann nur geschehen in der Übernahme der Lehre von der Rettung der Menschen durch Gott in Christus Jesus (vgl. ebenfalls I, I: Christus Jesus, "unsere Hoffnung"). Wer mit den "gesunden Worten" nicht übereinstimmt, der ist nach I Tim 6,3.4 "krank von Streitereien und Wortgefechten". In dieser Hinordnung auf das Heil ist dem Begriff "gesunde Lehre" durchaus auch ein dynamischer Charakter eigen. Das Heil verweist auf eine zukünftige, eschatologisch bestimmte Erfüllung. (2) Zugleich aber und in wesentlich stärkerem Maße ist der Begriff "gesunde Lehre" schon statisch bestimmt; er ist beinahe zu einem Schlagwort in der innergemeindlichen Auseinandersetzung um den rechten Glauben geworden. Dies zeigt sich insbesondere in seiner konkreten Verwendung: a) im Rahmen der Ketzerpolemik (I Tim 1,10; 2 Tim 4,3: "Es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht· erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln"; auch I Tim 6,3); b) so dann im Gebrauch ün Zusammenhang der Mahnungen an die Funktionsträger in den Gemeinden (2 Tim I, 13 : "Halte dich an die gesunde Lehre, die du von mir gehört hast ... "); bzw. c) auch in der direkten Verknüpfung der bei den Ausrichtungen (etwa Tit 1,9, in der Forderung an das Verhalten des Vorstehers: "Es muß ein Mann sein, der sich an das wahre Wort der Lehre hält; dann kann er mit der gesunden Lehre die Gemeinde ermahnen und die Gegner widerlegen"). Der Begriff "Lehre" enthält ebenso wie die Bezeichnung "gesund" ein stark rationales, reflexives Element; es handelt sich um eine feste Größe, auf die man sich berufen kann und auf welche Christen verpflichtet werden können und müssen 20. Gleichzeitig aber - und das ist eine durchaus verständliche Konsequenz aus dem mit der Berufung auf die "gesunde Lehre" verbundenen Anspruch - ist kein Interesse an einer inhaltlichen Konkretisierung erkennbar. Eine Gleichsetzung mit der Paulus-Tradition bzw. eine Beschränkung auf diese läßt sich nicht belegen 21, ebensowenig eine Erweiterung um die
Die Erklärung von ilytf]~ in die Richtung von Vernunftgemäßheit wird von J. ROLOFF, I Tim 78, im Anschluß an hel1enistische Paral1elen betont. 2I In diese Richtung geht die Erklärung von L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 165 f, der 20
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in den Past vorgelegte Paulus-Interpretation. Die "gesunde Lehre" bildet das Kennzeichen der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern, und darum liegt alles darin beschlossen, was die für den rechten Glauben verantwortlichen Gemeindeleiter in Wort und Tat ihren Gemeinden vorleben und vorschreiben (vgl. V 5: n:UPUYYEAiu)22. Die Zielrichtung dessen, was mit "gesunde Lehre" umschrieben wird, geht einmal nach außen; diese Lehre ist Bollwerk gegen die Irrlehrer. Und sie ist zugleich nach innen gerichtet als die fordernde Botschaft an die Gemeindemitglieder. Der Verfasser der Past kennt (bzw. postuliert) also das wird hier wiederum deutlich - eine letztlich nicht mehr hinterfragbare, . absolut verpflichtende "Norm des Glaubens". II Abschließend zitiert der Autor eine liturgisch gefärbte Bekräftigungsformel; die liturgische Färbung zeigt sich am Begriff ö6~u und am Adjektiv liuKapw,,;. Die formelhafte Wendung "gemäß dem Evangelium" ordnet die gesunde Lehre umfassend auf den Apostel hin; zugleich wird die Abgrenzung gegen die Irrlehrer bestärkt. Die Richtschnur für den rechten Glauben gibt das Evangelium ab. Inhalt und Garant des Evangeliums ist Gott selbst; das Evangelium kündet von seinem Erlösungs- und Heilswillen. Dabei wird mit ö6~u die himmlische Erhabenheit Gottes, seine herrscherliehe Stellung über die Kirche unterstrichen. Aufgrund dieser Erhabenheit gebührt ihm auch der Lobpreis; liuKapw,,; meint deshalb nicht "die Glückseligkeit Gottes" 23, sondern die vom Menschen her schuldige Seligpreisung. Gott gebührt diese Seligpreisung, weil er unser Retter ist. In der von Gott gewirkten Offenbarung seines Heilswillens - oder anders formuliert: in der Verkündigung des Evangeliums - nimmt der Apostel eine bevorzugte Stellung ein. Wie noch an einigen anderen Stellen (z. B. I Tim 2,7; 2 Tim I, II ; 2,8; Tit 1,3) wird die Autorität des Apostels als von Gott eingesetzter und beauftragter Bote des Evangeliums ins Licht gerückt. Gott und Christus Jesus - dann Paulus - schließlich der von Paulus autorisierte und verpflichtete Leiter der Gemeinde: so lautet die Abfolge. III Die VV 8-11 sind geprägt von zwei Stichworten, die zugleich wie eine Klammer oder auch wie einander entgegengesetzte Pole den Text zusammenhalten: v6lio,,; und EuuyyeAwv. Das Gesetz erfährt zuerst (V 8) von seiten der mit "Paulus" verbundenen Gläubigen Hochschätzung und Anerkennung. Die Einschränkung von dessen positivem Stellenwert für die in der apostolischen Glaubenstradition stehenden Gemeinden begründet zu 1,9-11 - m. E. zu stark einschränkend - schreibt: "The sound teaching is whatever is Pauline, and anything opposed is vice." 22 So deutet auch N. BROX, Past 108, die "gesunde Lehre" als "die rechte, reine, durch häretische Fabeleien und Ansichten nicht verdorbene Predigt, Praxis und Ordnung der Kirche". 23 So aber N. BROX, Past 108.
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der Verfasser damit, daß die normierende und wegweisende Funktion ausschließlich für die festgehalten und betont werden muß, die "gesetzlos" leben und durch dieses ihr Verhalten das Abweichen von der "gesunden Lehre" dokumentieren. Leben und Glauben werden als eine Einheit gesehen; Gesetzlosigkeit (im Sinne des Abweichens von einem frommen Leben) wird gleichgesetzt mit Glaubensabfall, mit Widerspruch zur "gesunden Lehre". Dieser Zusammenhang ist auch anders herum zu formulieren: Wer von der "rechten Lehre", von der "gesunden Lehre" abweicht (VV 3.6.10), der zieht sich den Vorwurf zu, daß er "gesetzlos" lebt. Und dennoch gilt: es darf aus dieser Zuordnung keine im Gesetz selbst begründete Minderwertigkeit desselben gefolgert werden. Die Freiheit der der rechten Lehre verpflichteten Christen vom Gesetz ergibt sich aus der Zugehörigkeit zum und aus der Unterordnung unter das Evangelium. Allerdings geht es dabei nicht mehr um die für Paulus charakteristische und dessen Botschaft prägende Spannung von Gesetz und Evangelium im Kontext der Begründung der Freiheit der getauften Heiden von der Verpflichtung auf Beschneidung und Gesetz. Im Rahmen der hier in den Past geübten christlichen Verkündigung ist das Gesetz in der Form des Mosaischen Dekalogs selbstverständlich in das Evangelium integriert; die "gesunde Lehre" umfaßt als ethisch normierende Botschaft auch die sittlichen Forderungen. Hier sei noch einmal kurz eingegangen auf das Verhältnis von Paulus und den Past in bezug auf das "Gesetz". Wie in der Einzelauslegung schon erwähnt, klingt in V 8 paulinischer Sprachgebrauch an. Dazu schreibt U. Luz in einem Beitrag unter dem Titel "Rechtfertigung bei den Paulusschülern": "ein größeres Mißverständnis der paulinischen These von Röm 7, 12.16 ist kaum denkbar"24. Nun wäre dafür, daß man von "Mißverständnis" sprechen könnte, Voraussetzung, daß der Autor an dieser Stelle das Thema "Gesetz" im paulinischen Sinn wiedergeben bzw. auch neu formulieren wollte; und gerade das ist zweifelhaft, ja man muß sagen: ausgeschlossen. Die paulinische Rechtfertigungstheologie, in deren Zusammenhang die zentralen Aussagen zum Gesetz begegnen (vgl. Gal 2,16 ou otKaWO,IH äv8pro1t0~ E~ epyrov VO/lOO, bzw.: ... {va otKatro8öi/lEV EK 1ttcr,Ero~ Xptcr,oO Kai OUK E~ epyrov VO/lOO ... ), ist, zumindest in der Art und Weise der uns überlieferten brieflichen Fixierung, mitbedingt durch den Prozeß der Auseinandersetzung um den soteriologischen Stellenwert der mit dem Gesetz verbundenen Erfüllung des Willens Gottes, also um die Frage nach der Relevanz der otKaWO"IJVll EV VO/lC!> (bzw. E~ epyrov vO/loo) angesichts des Bekenntnisses zur otKawcruVll OUl1ttcr,Ero~ XptlJ'tOO (vgl. Phil 3,6.7-11). Während es bei Paulus um die grundsätzliche Frage nach der Heilsbedeutsamkeit des Gesetzes geht (vgl. bes. die polemischen Stellungnahmen im Gal), die er aufgrund seines Christusglaubens radikal verneinen muß, ist diese Frage in der Zeit der Past längst entschieden, insofern die Gemeinden im großen und ganzen heidenchristlich geprägt sind. Mit der Übernahme von paulinischen Formulierungen durch den Verfasser der Past ist nicht gleichzeitig die theologischanthropologische Ausrichtung mitübernommen. In den Past steht vielmehr das pragmatische Interesse" im Vordergrund. 24
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U. Luz, Rechtfertigung 376. Vgl. dazu P. TRuMMER, Paulustradition 173-193, sowie E.SCHLARB, Lehre 251-253,
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I Tim 1,3-20 Mit dem Stichwort EoayytAwv klingt die für die Past charakteristische, ausschließlich an Paulus orientierte Ekklesiologie an. Hinter dem durch die Art und Weise der Formulierung von V 11 deutlich geäußerten Anspruch der Exklusivität der Berufung auf Paulus und auf das von ihm verkündete Evangelium muß als historischer Hintergrund angenommen werden, daß es auch Missionare gab - hier in der Position von Irrlehrern vorgestellt -, die den Apostel und seine Theologie für sich in Anspruch genommen haben, nach Meinung der Gemeinden, die der Verfasser unseres Schreibens repräsentiert, aber zu Unrecht (vgl. auch 2 Petr 3,16). Es geht um die rechte, die rechtmäßige Paulus-Rezeption. Und ein ganz entscheidendes Thema ist dabei die Frage nach dem Gesetz. Markion ist für diese im Gefolge des Paulus neu aufgebrochene Frage und die Problematik anvisierter Lösungen das wohl eindringlichste Beispiel.
Der Abschnitt beginnt mit dem Plural: "wir wissen". Und er endet mit der betonten Herausstellung des eyro des Apostels. Die Gemeinschaft der Gläubigen, die in dem "wir" mit aufgenommen ist, muß sich nach Meinung des Verfassers auf das "Ich" des Apostels berufen können. Nur in der Identität mit dem dem Paulus anvertrauten Evangelium (bUcr'tEU8T]v) kann die Gemeinde wahren und echten Glauben haben und leben. Zugleich gibt das betont nachgestellte eyro des Apostels dem Verfasser die Möglichkeit, anschließend die erste Paulus-Anamnese einzuführen. Betrachten wir den größeren Abschnitt der VV 3-11 26 , so wird die vom Verfasser intendierte Alternative noch einmal deutlich. Einleitend war der in der Autorität des Paulus agierende Nachfolger in seiner Bestimmung vorgestellt worden: Er sollte das Wirken und Auftreten von Falschlehrern verhindern. Diese sehr formale Bestimmung bekam dann eine inhaltliche Begründung dadurch, daß zuerst Kennzeichen dieser Irrlehrer, nämlich Mythen und Genealogien, mit der Folge von nutzlosen Grübeleien, genannt wurden, dann das entscheidende Charakteristikum der kirchlichen Unterweisung, nämlich die Liebe. Nachdem die von der Glaubensnorm abweichenden Irrlehrer eine weitere Abwertung erfahren haben, indem ihr Tun mit den im Lasterkatalog aufgereihten Verfehlungen in Verbindung gebracht wurde, führt der Verfasser die für ihn wichtige Bezeichnung des dem apostolischen Auftrag entsprechenden Glaubens als "gesunde Lehre" ein. In Übereinstimmung mit dem Ausgangspunkt, nämlich der grundsätzlichen Betonung der Autorität des Apostels für den Apostelschüler und seine Aufgabe der Ermahnung, muß auch der "Gegenstand" seiner Fürsorge, die "gesunde Lehre", apostolisch autorisiert werden. Die "gesunde Lehre" steht in Übereinstimmung mit dem Evangelium des Apostels. Damit dem treffenden Urteil, daß in den Past bei der Verwendung von v6lJ.o~ "kein Anhalt an der paulinischen Gesetzesdebatte etwa des Römer- oder Galaterbriefes genommen wird: die Verhältnisbestimmung von v6IJ.o~, ouwwcroVlj/oIKawücr9m, llicr'tl~ und Epya wie bei Paulus findet keine Anwendung". 26 Unter der Überschrift "Die Erneuerung des Auftrags an Timotheus" behandelt J. RoLOFF, I Tim 59ff, den Abschnitt 1,3-11 als Einheit; ähnlich auch schon C. SPICQ, Past 320ff; P. DORNIER, Past 35ff; A. J. HULTGREN, Past 54ff, und wieder H. MERKEL, Past 18ff.
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durch ist eine starke Formalisierung des Begriffs eüaYYEALOv gegeben. Es entspricht zwar gut paulinischem Verständnis, daß der apostolische Dienst ganz wesentlich zu charakterisieren ist als Aussonderung und Bestimmung für die Verkündigung des Evangeliums (vgl. Gal 1,16; Röm 1,1), und es gehört auch zum pau1inischen Verständnis von eüaYYEALOv, daß im Eintreten für das Evangelium, im Festhalten an dem einen Evangelium, welches der Apostel verkündet, die eschatologische Zukunft des Menschen sich entscheidet (1 Kor 15,1 f; Röm 1,16). Hier in 1 Tim und in den Past insgesamt wird jedoch eüaYYEALOV 27 nicht mehr als Gegenstand der Verkündigung vorgestellt und damit auch nicht mehr in seiner unvergleichlichen Funktion als Aufruf zum Glauben; das "Evangelium" erscheint doch schon recht statisch und festgefügt, fast wie eine Größe aus der Vergangenheit, welche die Christen der "nachapostolischen" Zeit insbesondere vor die Aufgabe stellt, es zu verwalten und unverfälscht weiterzugeben. Es wird nicht mehr wie bei Paulus vorgestellt als "das Evangelium Christi" (vgl. Röm 15,19; 1 Kor 9, 12; 2 Kor 2,12; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1 Thess 3,2) bzw. als Evangelium von Gottes "Sohn" (vgl. Röm 1,9). Das Evangelium wird jetzt vielmehr definiert in der Relation zur Person und zur Autorität des Paulus. So läßt der Verfasser "seinen" Paulus betonen, daß es sich um das "Evangelium" handelt, "mit dem ich betraut worden bin" (V 11: Ö E1u<J'teü8T]v eyw) bzw. "für das ich eingesetzt worden bin ... " (Ei~ Ö hE8T]v eyw 2 Tim 1,11, in Verbindung mit einer gewichtigen soteriologischen Bekenntnisformel VV 9.10). Und damit ist auch als eine für die Past typische Wendung anzusehen die Autorisierung eines aus der Tradition übernommenen Bekenntnisses mit der Formel Ka'"[u '"[0 eüaYYEAloV Ilou (2 Tim 2,8). Auch dazu läßt sich zwar bei Paulus gleicher Sprachgebrauch nachweisen; doch von den beiden Belegen (Röm 2,16; 16,25) hat 1etzter:es nach ziemlich einmütiger Überzeugung als nachpaulinischer Einschub zu gelten, und auch 2, 16 wird u. a. wegen der "auffallende(n) Wendung Ka'"[u '"[0 eüaYYEAloV 1l0U" als Glosse erklärt 28 oder zumindest als "schwierig" eingestuft 29; zum anderen steht dieser einzelne Beleg bei Paulus ganz im Schatten der christologischen bzw. theologischen Konkretisierungen des Begriffes eüayyEALOv. Für die Past liegt die bleibende Bedeutung des Evangeliums darin begründet, daß es, als das Evangelium des Apostels Paulus, den verbindlichen Charakter der "gesunden Lehre" verbürgt 30. 27 Zur Bedeutung von Buayy€A.IOV in den Past J. ROLOFF, 1 Tim 79f. 28 Vgl. R. BULTMANN, Glossen im Römerbrief: E. DINKLER (Hrsg.), Exegetica (Tübingen 1967) 278-284, hier 282; G. BORNKAMM, Gesetz und Natur: Studien zu Antike und Urchristentum. Ges. Aufs. II (München 1959) 93-118, hier 116f. 29 Vgl. E. KÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a) (Tübingen 41980) 62f; D. ZELLER, Der Brief an die Römer (RNT) (Regensburg 1985) 70. 30 "Apostel und Evangelium sind aufs engste zusammengerückt - aber eben nicht, weil sich beide Größen der Offenbarung Jesu Christi verdanken, sondern weil solche Verbin· dung im Blick auf die Zukunft zum Maßstab der Orthodoxie wird": J. WANKE, Paulus 171; vgl. 170-173.
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I Tim 1,3-20
An die Stelle der Unmittelbarkeit der Begegnung mit dem Handeln Gottes in der Evangeliumsverkündigung bei Paulus tritt die stark formalisierte Verpflichtung der Christen auf das Evangelium, das nun, mit dem Apostel Paulus verknüpft, unüberbietbare Autorität genießt. LITERATUR: H. BALz, Biblische Aussagen zur Homosexualität: ZEE 31 (1987) 60-72; H. D. LANCE, The Bible and Homosexuality, in: ABQ 8 (1989) 140-151; P. v. D. OSTENSACKEN, Paulinisches Evangelium und Homosexualität: BThZ 3 (1986) 28-49; W. L. PETERSEN, Can AP:EENOKOITAI be translated by "Homosexuals"? (1 Cor. 6.9; I Tim. 1.10): VigChr 40 (1986) 187-191; G. STRECKER, Homosexualität in biblischer Sicht: KuD 28 (1982) 127-141; D. F. WRIGHT, Homosexuals or Prostitutes: The Meaning of AP:EENOKOITAI (1 Cor 6: 9; 1 Tim 1: 10): VigChr 38 (1984) 125-153.
c) Der Apostolat des Paulus: Zeichen der Erwählung Christi Jesu und des Retterwillens Gottes (1,12-17)
Dank sage ich dem, der mir Kraft gegeben hat, Christus Jesus, unserem Herrn, daß er michfor treu erachtet hat, indem er mich in Dienst genommen hat, 13 (mich), der ich vorher ein Lästerer, Verfolger und Frevler war. Aber ich habe Erbarmen gefunden 1, weil ich unwissend gehandelt hatte, im Unglauben; 14 doch 2 über alle Maßen reich erwiesen hat sich die Gnade unseres Herrn mit Glaube und Liebe in Christus Jesus. 15 Zuverlässig ist das Wort und voller Zustimmung wert: Christus Jesus kam in die Welt, Sünder zu retten; deren erster bin ich. 16 Aber dazu wurde mir Erbarmen zuteil, damit an mir als erstem Christus Jesus seine ganze Langmut kundtue, zum Urbildfor die, die zum Glauben an ihn kommen sollen, zu ewigem Leben. 17 Dem König der A"onen aber, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit bis in die Ä'onen der Äonen. Amen. 12
I
Der Abschnitt der VV 12-17 klingt wie eine Erklärung und tiefere Begründung von V 11. Das dort betont nachgestellte EYro wird aufgenommen, indem "Paulus" davon spricht, wie sich in seinem Leben die entscheidende Wende vollzogen hat bzw. wie und wozu Gott an ihm gehandelt hat. Ebenso ist die voranstehend genannte Bestimmung für das Evangelium (E7UO""tEUeT]V) wieder aufgegriffen mit den Stichworten 1tl0""t6<; (V 12) und 1tlO""tEUEtv (V 16)3. Im Vordergrund steht die Gestalt des Apostels. "Paulus" spricht aber nicht um seinetwillen von sich, sondern, wie V 11 schon deutlich gemacht hat, wegen der ihm übertragenen Stellung und Aufgabe als Bote des Evangeliums Gottes. Schon aus dieser Bestimmung ergibt I J. JEREMIAS übersetzt hier: "Aber Gott hat sich meiner erbarmt"; diese Übersetzung ist gerechtfertigt, insofern Gott als Subjekt des Erbarmens vorausgesetzt ist. Es handelt sich also in diesem Fall um ein theologisches Passiv. 2 Das oe markiert einen Gegensatz zu den beiden Begriffen ayvo(i)V und a1lLcn:ta.. 3 Vgl. G. HOLTz, Past 43.
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1 Tim 1,12-17
sich für unseren Text, daß der fiktiv redende Paulus ausführlich auf sich zu sprechen kommt als "Funktionsträger". Die Paulus-Anamnese hat den Sinn, grundsätzliche und für die Gegenwart der Past gültige Aussagen zu machen, die exemplarisch an der Person des Völkerapostels belegt und verdeutlicht werden sollen; sie ist auch eingebunden in das in der Mitte stehende christologische Bekenntnis vom heilwirksamen Kommen des Christus Jesus (V 15b). Diese Aussage betont zwar einerseits die universale, ja die "kosmische" Bedeutung dieses Heilsereignisses. Sie steht andererseits deutlich im Dienst der Darstellung der überragenden Bedeutung des Paulus; denn sie wird gerahmt von den Hinweisen auf das Erbarmen, das Paulus gefunden hat bei Gott (1']"-e1']8T)v: V 13 und V 16), und sie mündet ein in den exklusiven (eyw) Anspruch des Apostels (V 15c). Für die Paulusbriefe (mit Ausnahme des polemisch orientierten Gal) und auch die Deuteropaulinen (Eph, Kol und 2 Thess) ist charakteristisch, daß sie unmittelbar nach der Grußzuschrift eine Danksagung (eoxaPL<J'tw/eoxapt<J'tOi.l/.Lev) bzw. einen Lobpreis (eoA.oYT)'t6~) bringen; der Adressat ist dabei jeweils Gott, und es geht um den Glauben der Gemeinde. Für die Einordnung der Danksagung an unserer Stelle in 1 Tim ist die spezifische Einbindung des Glaubensrnotivs im Rahmen des " Briefes " mit zu berücksichtigen. Der Apostel tritt in der Situation der Gefährdung des rechten Glaubens durch Irrlehrer auf; er ist der entscheidende, von Gott und Jesus Christus in "Dienst" genommene Verwalter des Evangeliums und damit Garant der "gesunden Lehre" für die Gemeinden. Da der Glaube der Gemeinden an die Vermittlung durch den Apostel bzw. durch den von ihm eingesetzten und autorisierten Verwalter dieser apostolischen Aufgabe gebunden ist, kann die Gemeinde nur gemeinsam mit dem Apostel Jesus Christus Dank sagen und Gott lobpreisen. Obgleich der Abschnitt ganz wesentlich von der Person des Paulus und von seinem Geschick geprägt ist, ist doch diese Paulus-Anamnese in ihrer paränetischen Ausrichtung ekklesiologisch motiviert. 11 12 Als Grundhaltung des Paulus wird mit der Einleitung Xapw EXOl die des Dankens genannt. Schon mit dieser Einführung unterstellt "Paulus" sich selbst, seine Funktion und Tätigkeit, der über ihm stehenden, absoluten Autorität Gottes bzw. Jesu Christi. Mit dem Dankmotiv wird der Bogen geschlagen von der in V 11 angesprochenen und den Lesern - nicht notwendigerweise im Detail, wohl aber in den entscheidenden Phasen, aus der mündlichen Überlieferung oder auch aus den schon in einem größeren Kreis von Gemeinden verbreiteten Paulusbriefen - bekannten Berufung hinein in die Gegenwart der noch andauernden Weiterführung der Verkündigung des Apostels in der Zeit nach seinem Tod. Zum Dank sind folglich auch die aufgerufen, denen dieser Auftrag des Paulus galt und weiterhin gilt. Bei aller Betonung und Hervorhebung des Apostels, der sich im folgenden als "erster" (VV 15.16), als "Vorbild" bzw. "Urbild" vor-
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I Tim 1,3-20
stellt (V 16), darf nicht übersehen werden, worin diese seine Stellung letztlich begründet ist, nämlich in der Macht, in der Mva~w;; Christi Jesu. Es ist durchaus beachtenswert, daß nicht von der Mva~w;; des Paulus gesprochen wird, sondern vom machtvollen Handeln des Kyrios an ihm. Damit wird die Autorität des Paulus in keiner Weise geschmälert; man könnte sogar sagen, daß sie noch untermauert wird. Es ist aber für das Autoritätsverständnis der Past im Blick auf den Apostel - und damit kommt gleich wieder der Amtsinhaber ihrer Zeit in den Blick - bedeutsam, daß der Kyrios Christus Jesus als der machtvoll Handelnde vorgestellt ist und daß diese Konstellation nicht aufhebbar ist. Mit der Aoristform von EVOUval16ro wird darauf abgehoben, daß es sich in der Bevollmächtigung Pauli um ein einmaliges, vergangenes Geschehen handelt 4 • Nur an dieser Stelle lassen die Past den Paulus bei der Vorstellung seines apostolischen Auftrages die Bezeichnung oLaKov{a verwenden. Das könnte damit zusammenhängen, daß in diesem Kontext ganz massiv das Handeln Gottes bzw. Jesu Christi betont wird, während Paulus selbst als jemand erscheint, der sich ganz und gar von der Gnade Gottes her versteht (V 14). Mit oLaKov{a ist aber nicht bloß eine allgemeine Beauftragung gemeint, sondern es ist damit die spezielle Berufung zum Aposteldienst angesprochen s. Der Kyrios hat ihn dafür als mCH6r;; erachtet, als treu und zuverlässig; mOT6r;; hat also die doppelte Blickrichtung, einmal bezogen auf den Apostel Paulus selbst, seine Treue, sodann bezogen auf die, welche sich auf ihn verlassen, auf ihn bauen können. IILoT6r;; ist in unserem Zusammenhang mehr als eine bloße Floskel. Vom "glaubwürdigen" (moT6r;;) Apostel (VV 11.12) führt der Weg über das "glaubwürdige Wort" (moTOr;; A6yor;;: V 15) zum "glauben" (mon:u€w) aller (V 16). Ausgangspunkt ist die Zuverlässigkeit des Apostels, die wiederum autbaut auf der Mva~LLr;;, der Kraft Christi Jesu. 13 Das Ziel des Verses mit der Gegenüberstellung des auf Zerstörung zielenden Verhaltens des Paulus und des ihm widerfahrenen Erbarmens ist, den Gnadencharakter der Berufung zur Verkündigung des Evangeliums zu untermauern. Dies geschieht unter dem Einsatz des auch sonst, nicht nur für Paulus, im NT belegten Stilmittels, daß zwei Zeit- bzw. Lebensepochen einander gegenübergestellt werden. Dieses Schema der kontrastierenden Gegenüberstellung von "einst" und "jetzt" greift der Verfasser auf 6 • Der gegenwärtigen Situation seines christlichen Lebens
Vgl. dazu H. v. LIPS, Glaube 213-216. Zur Bedeutung von tvSuval!OOv vgl. auch M. WOLTER, Past-oralbriefe 29-38. s So u. a. J. ROLOFF, I Tim 92; C. SPICQ, Past 341. In einem umfassenderen Sinn der Indienstnahme des Paulus als Beispiel für andere (V 16) und für Timotheus (VV 18-20) deutet dagegen G. W. KNIGHT, Past 94f, die Wahl von SICtKOV(Ct. 6 S. dazu v. a. P. TAcHAu, Einst 88, der als ein "typisches Kennzeichen für das Schema" den "mit dem Wechsel von no'tE zu vOv verbundene(n) Wechsel vom Aktiv der Vergan4
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1 Tim 1,12-17
wird die vorchristliche Zeit gegenübergestellt, in der er nicht nur als außerhalb der Glaubensgemeinschaft stehend erscheint, sondern in einer Lage, die ihn in die Schar derer einreiht, die unmittelbar vorher (W 9.10) als Gegner der "gesunden Lehre" vorgestellt worden waren. Und dazu läßt der Autor "seinen" Paulus zu recht massiven und drastischen Worten greifen. Dem "traditionellen" Paulusbild entspricht am ehesten noch die Bezeichnung als "Verfolger" (OtOOK'tT)~); denn solche Verfolgertätigkeit des Paulus ist neben der Apg v. a. in den authentischen Briefen bezeugt (vgl. Gal 1,13; Phil 3,6; 1 Kor 15,9). Doch darüber hinaus läßt der Autor der Past den Apostel noch von sich sprechen als ßMO"
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I Tim 1,3-20 Zusammenhang mit der konkreten geschichtlichen Situation der Gemeinden der Zeit der Past und ihrer Gefährdung durch Leute, die heute so wie Paulus damals gegen Gott und seine Kirche agieren (wie etwa in der vorangehenden Gegenüberstellung von "Gottlosigkeit" und "gesunder Lehre" in VV 9 f dokumentiert ist), anzunehmen.
Auf diesem in dunkelsten Farben dargestellten Hintergrund der Vergangenheit des Paulus leuchtet dann das Erbarmen Gottes um so heller; die Bekehrung bzw. Indienstnahme ist ein um so erstaunlicheres Geschehen. Das Jetzt der apostolischen Existenz steht in großem Kontrast zum Damals. Erklärbar ist diese entscheidende Wende vom Widersacher (der Ausdruck "Sünder" scheint in dieser Situation sogar zu wenig) zum Boten des Evangeliums nur als Wirkung des Erbarmens Gottes. In dem T]AEf]81lv ist Gott als der Wirkende vorausgesetzt. Nun wird dieser Kontrast zwischen dem Einst und dem Jetzt durch den angeschlossenen ön-Satz dem ersten Eindruck nach wieder etwas aufgeweicht. Der Grund für das Erbarmen Gottes, für die Möglichkeit, daß Gott sich seiner erbarmen konnte, liegt, der im ön-Satz nachgetragenen Erklärung zufolge, darin, daß Paulus "in Unwissenheit" und "im Unglauben" gehandelt hat. Formulierungen mit ayvoew bzw. äyvma finden wir im NT einmal im Sinne des schuldhaften Nicht-Kennens, d. h. der bewußten Ablehnung (vgl. Röm 10,3). Daneben aber stehen Belege, indenen das Verhalten der Jerusalemer und insbesondere der Mitglieder des Synedriums Jesus gegenüber erklärt wird mit Unwissenheit, mit fehlender Erkenntnis (vgl. Apg 3,17; 13,27; 17,30) 10. Damit wird zwar deren Schuld nicht einfach geleugnet und auch ihr Tun nicht eigentlich entschuldigt; wohl aber liegen hier Ansätze für den Versuch, dem Verhalten der Beschuldigten den Charakter einer rational nicht nachvollziehbaren Entscheidung zu nehmen. M. E. ist die Erklärung für den etwas nachhinkenden ö'tt-Satz ebenfalls in dieser Richtung zu suchen. Es geht noch nicht um die Eröffnung einer "positive(n) Disposition für die Gnade" ". Wohl aber soll im Vergleich zu den drei Substantiva "Lästerer, Verfolger, Frevler" ein anderer Akzent gesetzt werden. Neben dem schon bei den Belegen aus der Apg erwogenen Gesichtspunkt, daß für den Leser damit eine Möglichkeit des Verständnisses zum IO S. G. WILSON gesteht zu, daß es in der Beschreibung der vorchristlichen Zeit des Paulus keine direkte Parallele in der Apg zu I Tim 1,13 gibt; in dem Motiv der "Unwissenheit" aber bestehe, bezogen auf die nachpaulinische Sichtweise der Bekehrung des Paulus und seines vorchristlichen Lebens, eine Übereinstimmung zwischen Apg und Past. Und dies ist u. a. Beleg für seine These, daß es sich beim Verfasser von Apg und Past um dieselbe Person handelt, nämlich um Lukas (Portrait 398 f. Ausführlich dazu DERS., Luke 107-124, zum "Portrait des Paulus"; spez. zu "Pauli Bekehrung" 107-11 0). 11 Nachdrücklich wendet sich J. ROLOFF, I Tim 93 f, gegen die Tendenz, in dem Hinweis auf "Unwissenheit" einen positiven Ansatz und die Andeutung mildernder Umstände sehen zu wollen. "Von daher erübrigen sich alle Erwägungen darüber, ob durch die Erwähnung der Unwissenheit die Schuld des Paulus verkleinert werden und ihm so in und trotz der N egativität seiner vorchristlichen Situation doch so etwas wie eine positive Disposition für die Gnade zugeschrieben werden solle."
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Verhalten des vorchristlichen Paulus eröffnet werd'en soll 12, ist der entscheidende Grund für diese Hinzufügung in der Besonderheit des Paulusbildes der Past zu sehen, das etwas eingehender betrachtet werden soll. Die Gegenüberstellung der beiden Lebensepochen entspricht im Grundsätzlichen dem Urteil des historischen Paulus ebenso wie das Wissen, daß seine Berufung aus reiner Gnade erfolgt ist. Das Damaskusereignis wird sodann auch von Paulus selbst nicht verstanden als ein nur ihn allein betreffendes Geschehen, also nicht nur als "Bekehrung", sondern zugleich und vor allem als In4ienstnahme für die Verkündigung des Evangeliums (vgl. I Kor 15,8-10; Gall, 13-16). Gerade am Zeugnis des Gal wird aber deutlich, daß der historische Paulus seine Vergangenheit ganz anders beurteilt, als dies in 1 Tim 1,13 geschieht. Der Eifer für die "Überlieferung der Väter" war für Paulus nie ein Irrweg; der historische Paulus würde sicher die an unserer Stelle gebrauchten Begriffe, die ihn in der Zeit vor seiner Christuserscheinung kennzeichnen, ablehnen, zumindest die Charakterisierungen als UßPlcr't1)C; und ßAUcr<jl1]j.10C;. Noch entschiedener würde er dann aber eine Aussage ablehnen, wie sie in V 13c begegnet. Der Eifer für die väterlichen Überlieferungen (Gali, 14) ist unmöglich mit "Unglaube" gleichzusetzen; und Paulus selbst erklärt sein Verhalten als gläubiger Jude gerade damit, daß er sich so intensiv mit jüdischem Glauben und Leben ('!ouöa"icrj.16c; in Gal 1,13.14 ist am besten so wiederzugeben) beschäftigt hat. Des weiteren betrachtet er seine Zugehörigkeit zum auserwählten Volk Israel als eine hohe Berufung, die auch nicht durch seinen Glauben an Christus Jesus aufgehoben ist 13. Und in Röm 9-11, wo es um das Problem Israel - Kirche geht, findet er eindeutige, rühmende Worte, um die Vorzüge des Volkes Israel auszudrücken (vgl. bes. Röm 9,3-5). Für den Paulus der authentischen Briefe ist also seine Bekehrung zu Christus eine Berufung, die von dem gottgegebenen Vorzug, ein Jude zu sein, zu der unvergleichbaren Gnadenstellung führt, in Christus Jesus zu sein 14. Das Paulusbild der Past ist auch eines der stärksten Argumente gegen eine paulinische Verfasserschaft. Dieses Paulusbild ist nicht biographisch, sondern typologisch ausgerichtet. Paulus wird zum Paradigma der Bekehrung in der nachapostolischen Zeit. Allerdings ist dies, das sei gleich hinzugefügt, nur ein Aspekt.
Von dieser Einsicht her sind noch einmal die unterschiedlichen Aussagen unseres Verses zur Vergangenheit des Paulus zu betrachten. Wenn man nicht zur Voraussetzung macht, daß die für den Paulus der Past gewählten Bestimmungen durchgängig ein und dieselbe Tendenz haben müssen, und wenn man auch noch neben dem formalen Unterschied eine 12 Insofern kann man mit F. J. SCHIERSE, Past 36, durchaus von Tendenzen einer "Rationalisierung des göttlichen Heilshandeins" sprechen. 1l Vgl. Phi13,4b-6; die Rede von den Vorzügen ist sicher nicht ironisch gemeint; und wenn Paulus in den folgenden VV 7-9 sagt, daß er alles als "Verlust" erkannt hat, dann stellt er damit die Stellung der "Erkenntnis Christi Jesu" heraus, die alles übertrifft. 14 Vgl. N. BROX, Past 110.
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durch die Stellung betonte Selbständigkeit der beiden Aussagen zu Paulus beachtet, dann kommt man nicht umhin, eine gewisse Spannung zwischen V 13a und V l3c zu konstatieren. In den ersten drei Substantiva - Lästerer, Verfolger, Frevler - wird im "Selbstzeugnis" ein Verhalten beschrieben, welches geprägt ist von aktiver Gegnerschaft gegen den Glauben an den Messias Jesus und die, die sich zu ihm bekennen. Im ö'tt-Satz in V l3c hingegen werden, und zwar ebenfalls als Selbstaussage des Paulus, Unwissenheit und Unglaube ins Feld geführt, wodurch die Radikalität der vorherigen Kennzeichnung doch wieder etwas zurückgenommen und relativiert wird. Man darf sich wohl nicht mit der Auskunft zufriedengeben, der Autor habe den Paulus in V l3c noch einmal dasselbe sagen lassen wollen wie zu Anfang des Verses. Während zuerst, in V 12b und V l3a, ein von Jesus Christus und seiner Kraft in Dienst gezwungener, ehemals aktiver Kämpfer gegen das Evangelium vorgestellt wird, zeigt uns V l3b.c einen erbarmungswürdigen - das heißt aber immer noch: auf das Erbarmen angewiesenen! - und deshalb auch durch Gottes Erbarmen aus Unwissenheit und Unglaube erlösten Sünder. Paulus wird hier dargestellt als "Urbild des bekehrten Sünders" 15. Insbesondere im Blick auf das anderslautende Zeugnis der Paulusbriefe, die dem Verfasser der Past nicht unbekannt gewesen sein können, ist zu fragen, warum er es nicht dabei beläßt, den Kontrast zwischen dem "Damals" des Christusverfolgers und dem "Jetzt" des im Dienst des Kyrios Jesus Christus stehenden Apostels zu formulieren, ohne V 13c. Der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, daß die Past inder Paulus-Anamnese eine doppelte Bedeutsamkeit des Apostels für die Gemeinden, die sich seiner Autorität unterstellen und diese zugleich für sich in Anspruch nehmen, zum Ausdruck bringen wollen 16. Zum einen soll seine außerordentliche Stellung als Apostel und damit als Garant des Glaubens herausgestellt werden; auf ihn können und müssen sich in Krisenzeiten, da Irrlehrer den Glauben gefährden, die Gemeinden mit ihren Leitern berufen. Diese exklusive Rückbindung an den Apostel Paulus führt dann allerdings notwendigerweise zur Frage, worauf denn "Glaubwürdigkeit" und "Zuverlässigkeit" gründen. Zum anderen soll der paradigmatische und somit typische Charakter seines Lebensweges aufgezeigt werden; Paulus ist Vorbild für alle Sünder, die durch die Gnade Gottes zum Heil kommen werden, er verkörpert die (andauernde) Zuverlässigkeit des göttlichen 1S J. WANKE, Paulus 176-181. Das "erbauliche" Interesse an der Schilderung der Lebenswende des Paulus als "Urbild für die Wende vom Unglauben zum Glauben" betont auch E. LOHSE, Vermächtnis 269-271. ,. Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 22f. Nach M. WOLTER, Paulus 60, ist das Motiv der "Unkenntnis" (liyvma), welches zusammen mit fA.Eo~ in den sprachlichen Zusammenhang von lIekehrungen gehöre, zu erklären aus der durch die Gottesfeindvorstellung bedingten Absicht, "das Ausbleiben der üblichen Vernichtung des Gottesfeindes verständlich zu machen". Diese Ableitung schließt aber noch nicht aus, daß darin auch eine für die Past wichtige und aktuell auf die Paulus-Interpretation bezogene Intention enthalten ist. .
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Gnaden- und Heilswillens. In dieser doppelten Ausrichtung und Funktion der Paulus-Anamnese - einmal als Rückgriff auf seine Geschichte unter einem paradigmatischen Aspekt und damit eine stärkere Inanspruchnahme in einem paränetischen Sinne, und zum anderen die Betonung der Einmaligkeit des Handeins Gottes an ihm in der Geschichte und die daraus resultierende normative Bedeutsamkeit des Apostels und der auf ihn gründenden Glaubenstradition -, in dieser zweifachen Ausrichtung könnte auch der Grund für die zwei zumindest unterschiedlichen Weisen der Qualifizierung seiner Vergangenheit liegen: (1) Paulus, der Lästerer, der Verfolger und Frevler; doch gerade er ist von Christus Jesus überwältigt, in Dienst genommen worden; er verdankt alles der Gnade Gottes. Diesen "Gnadencharakter der Bekehrung" betont noch einmal V 14 (der allerdings auch paradigmatisch orientiert ist). (2) Paulus, der (wie die Heiden) in der Dunkelheit des Unglaubens und der Unwissenheit lebte und dessen sich Gott erbarmte. Gerade als dieser Empfänger von Gottes Erbarmen wird er in V 16 zum Prototyp für alle, die zum Glauben kommen (vgl. in V 16 wiederum die Verbindung mit fAeetcr8at). (3) Die Vergangenheit des Paulus und die damit verknüpfte Wende der negativen Charakterisierungen ist einmal (in V l3a) geschichtlich-normativ orientiert, zum anderen (in V l3c) typologisch-paränetisch. Aufgrund dieser starken Betonung der Person des Paulus läßt sich in einer gewissen Analogie zur Jesusüberlieferung die Entwicklung so charakterisieren: Aus dem verkündigenden Apostel Paulus (also dem Paulus der authentischen Briefe) wird in den Past der verkündigte (heilige), exklusiv als Apostel bezeichnete und entsprechend dieser seiner heilsgeschichtlich qualifizierten Stellung die Rechtmäßigkeit des Glaubens überwachende Paulus 17.
An dieser Stelle wird wiederum die fundamentale Unterschiedlichkeit des Paulusbildes der echten Paulinen und der Past deutlich. Diese hat auch entscheidende Konsequenzen für die Bestimmung des Verhältnisses von Apostel - historisch und literarisch - und Gemeinde. Was in den authentischen Briefen noch als Aufgabe des Apostels und der Gemeinde vorgestellt war (einschlußweise bestimmter Funktionsträger : Propheten, Lehrer u. ä.), das wird jetzt in den Past der alleinigen Autorität des Apostels Paulus unterstellt. Allerdings ist dieser Unterschied nicht so zu akzentuieren, daß der historische Paulus den Blick seiner Leser über sich hinaus auf Christus lenke, während die Past beim Apostel stehenblieben 18. Gerade unsere Stelle zeigt, daß auch der Verfasser der 17 F. J. SCHIERSE, Past 36, beurteilt diesen Abschnitt mit Recht als "wertvolles Zeugnis frühchristlicher Heiligenverehrung" . "In Analogie zur Transformierung der vorösterli· chen Botschaft Jesu vom Gottesreich zum nachösterlichen Kerygma von Jesus als dem Christus wird hier ein Prozeß sichtbar, der aus dem Paulus praedicans den Paulus praedicatus werden läßt"; J. WANKE, Paulus 187. 18 Vgl. E. DASSMANN, Stachel 168.
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Past "seinen" Paulus nur so sprechen lassen kann, weil dessen gesamte Stellung und Funktion unverändert verankert gesehen wird im Heilsgeschehen, das von Gott ausgeht und über Jesus Christus führt. Das Bewußtsein des Paulus, "durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin" (1 Kor 15,10), gilt auch für den Paulus der Past, allerdings in geschichtlich bedingter Abänderung. 14 Der Verfasser läßt Paulus die Überfülle der Gnade betonen. Vielleicht war der ö'n-Satz von V 13c der Grund dafür, daß noch einmal mit allem Nachdruck der Gnadencharakter der Bekehrung und der Berufung des Paulus hervorgehoben werden sollte. An ihm hat sich nicht nur die Gnade Gottes erwiesen, insofern seine sündige Vergangenheit ausgelöscht worden ist; vielmehr ist das, was Paulus erfahren hat, die vollständige und bleibend gültige Hineinnahme in den von Gott in Jesus Christus eröffneten Bereich seiner Gnade l •• Dieser Gedanke der "überreichen" Gnade ist an dieser Stel~e nicht nur ausformuliert im Blick auf die exklusive Stellung des Paulus und die ihm zuteil gewordene Erwählung; darin ist vielmehr bereits vorausgeblickt auf die im folgenden ausgesprochene universale Gültigkeit der ihm als "Urbild" bereits geschenkten Gnade. Die Situation nach seiner Bekehrung - und im Unterschied zum authentischen Zeugnis des Paulus ist "Bekehrung" in den Past die treffende Bezeichnung für dieses Handeln Gottes an ihm - ist gekennzeichnet durch Glauben und Liebe in Christus Jesus. Mit den drei Begriffen XUpt~, xiCJ1:u;, ayux11 ist die Gesamtheit der christlichen Existenz umschrieben. Die betonte Voranstellung von XUpt~ ist darin begründet, daß so im Anschluß an den kurzen biographischen Exkurs das Handeln Gottes umschrieben werden kann. Andererseits ist mit M. Dibelius - H. Conzelmann die Form der Formulierung mit ~1:a nicht mit besonderen Erklärungen zu belasten; "gemeint ist, daß die Gnade aus Paulus einen Menschen machte, der xi0"1:t~ und ayux11 hatte". Christ-Sein, d. i. Glaube, ist - und darin ist Paulus nun doch auch wieder Vorbild und Beispiel - immer Gnade, immer Geschenk; dieser Glaube muß sich dann aber verwirklichen in der Liebe. Wenn man nach dem Stellenwert von Glaube und Liebe in der theologischen Konzeption der Past fragt, dann kann man durchaus zu dem Urteil kommen, daß sie zu "christlichen Eigenschaften" geworden sind 20. Und doch will der Verfasser auch ihren christologischen Charakter betont wissen. Wie die Gnade als von Gott kommendes Geschenk grundsätzlich unverfügbar ist, so sind es auch xiO"1:t~ und ayax11; es gibt sie nur als Ausdruck des rechten Glaubens, und das heißt: "in" und "durch" Christus Jesus. Das nachgestellte ev XptO"'tt'j'l '1110"00 ist eine typisch paulinische ,. »Über alles Maß des Begreiflichen hinaus reich geworden ist die Gnade ,unseres Herrn' in dem dem Verfolger Paulus widerfahrenen Erbarmen ... ; o1tepe1lM:6vIlCJev uno terstreicht die Paradoxie des Geschehens von GI I, 15 ... ": G. DELLING, ThWNT VI 265, 2. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 23. Vgl. H. MERKEL, Past 21: »Glaube und Liebe werden gewissermaßen als Begleiterscheinungen der Gnade genannt."
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Wendung; doch der Akzent hat sich in den Past stärker auf den Bereich der Paränese verlagert, vom Heilsindikativ hin auf den Imperativ 21 • 15 Die bisher ganz auf die Person des Paulus konzentrierte Rede von der Gnadenzuwendung Christi, die v. a. im Dienst der Begründung seines Apostolates stand, erfährt nun in V 15 eine inhaltliche Ausweitung, indem in der Form eines Bekenntnissatzes die universale Gültigkeit dieser Gnade ausgesprochen wird; doch dann leitet der Text gleich wieder über zu Paulus als dem bevorzugten Zeugen und Garanten dieser xaptC;. Im Mittelpunkt des V 15 steht jedoch das Wort vom "Sünder rettenden Kommen Christi Jesu". Der Verfasser nimmt hier eine ihm vorgegebene traditionelle Formel auf. In diesem Zitat zur Sendung Jesu und zu seiner Heilbringerfunktion ist eine fundamentale Aussage des christologischen Bekenntnisses aufgegriffen, ein "Grund-Satz christlichen Heilsglaubens" 22. Die Formulierung erinnert auf den ersten Blick an Lk 19, 10 (den Abschluß der Zachäusgeschichte: i'jA8evyap 6 ut6~LOÜ avepo:mou ~T]TIjcrat Kai cr(i)crat 't6 anoA.roM~); allerdings findet sich diese Aussage zur Sendung Jesu zu den bzw. zugunsten der Sünder auch in anderen Zusammenhängen (vgl. Mk 2, l7b parr; Mt 15,24; Joh 3, 17). Es ist also kaum eine direkte Abhängigkeit unseres Verses von dem Jesuslogion in der lukanischen Form anzunehmen 23, sondern es handelt sich um eine eigenständige Formulierung des christologischen Glaubenssatzes von der Rettung der Sünder, d. h. der Rettung aller Menschen durch Christus Jesus (vgl. 2,6!). Diese Retter-Funktion Jesu wird jetzt aber nicht mehr verknüpft mit dem Sühnesterben Jesu, also einem Ereignis der Vergangenheit zugeschrieben. Eine ältere Stufe mit dem Verweis auf die Heilsfunktion des Todes Jesu liegt dagegen noch Mk 10,45b vor: Der Menschensohn ist gekommen, "öoüvat TI)V IjIUxi)v au'toü A.U'tpov av'ti noM(i)v". Deutlich erkennbar ist auch in Lk 19,10 eine spätere Entwicklungsstufe gegeben; in diesem lukanischen Wort (wahrscheinlich redaktionell gestaltet) wird nicht dem Kreuzestod Jesu für sich genommen rettende Kraft zugeschrieben, sondern das gesamte Auftreten Jesu ist in seiner heilswirksamen Bedeutung angesprochen, nun allerdings verknüpft mit der eindeutig als Hoheitstitel verstandenen Selbstbezeichnung als "Menschensohn".
Hier in 1 Tim 1,15 ist eine noch umfassendere und allgemeinere Formulierung gewählt; in ihr wird auch die "nachgeschichtliche Heilandstätigkeit des Herrn" mit einbezogen, also die bleibende Wirkung des Inkarnationsgeschehens über Paulus bis in die Gegenwart. Dies gilt einmal schon für die - mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmende - selbständige Existenz dieses Wortes, und diese Tendenz wird noch verstärkt J. A. kLAN, Formula 116-118, stellt beim Gebrauch der "tv Xptcr'tt'ji"-Formel in den Past im Vergleich zu Paulus eine "sehr starke Verarmung im Ausdruck" fest; es ist dies für ihn aber auch ein deutlicher Beleg dafür, daß die rast nicht von Paulus geschrieben sind. (Vgl. dazu auch die Einleitung unter 4.a). 22 J. ROLOFF, I Tim 95; vgl. auch N. BRox, Past 111. 23 Recht vorsichtig äußert sich auch S. G. WILSON, Portrait 399, trotz seiner These vom gemeinsamen Verfasser von Apg und Past : auch wenn kein direkter Zusammenhang besteht, so bleibe doch wahr, daß Lk 19,10 die engste Parallele zu I Tim 1,16 ist. 21
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durch die Einbindung in den Zusammenhang der Paulus-Anamnese 24 • Dafür spricht in der Formulierung, die an Joh erinnert, auch das d~ 'tov K60'IloV (vgl. aber auch I Tim 3,16: emO''tEu9T] ev K60'Wp). Die Frage der Präexistenz muß in diesem Zusammenhang offenbleiben. Sie darf in der Aussage vom "Kommen in die Welt" nicht einfach vorausgesetzt und impliziert gesehen werden. Allerdings ist zuzugestehen, daß sich die Präexistenzvorstellung gerade mit einer solchen Aussage sehr gut verbinden konnte, wie auch Joh 3,17 zeigt".
Der neue Stellenwert dieses Glaubenssatzes im Gesamten der Christologie der Past wird auch in der Einführung deutlich. Die Beteuerungsformel "zuverlässig ist das Wort" ist ein Charakteristikum der Past. Sie begegnet nur in diesen, und zwar insgesamt fünfmal, an zwei Stellen mit der Ergänzung "und aller Annahme wert" (I Tim 1,15 [mit Erweiterung]; 3, I ; 4,9 [mit Erweiterung]; 2 Tim 2,11; Tit 3,8)26. Die Formel kann sich sowohl auf Vorhergehendes wie auf Nachfolgendes beziehen. In ihrer häufigen Verwendung wird die schon angesprochene Besonderheit der Past bestätigt, daß in ihnen "Glaube" in bevorzugter Weise als "Glaubensgut" verstanden ist und folglich in den Bereich einer als relativ abgeschlossen vorgestellten bzw. postulierten und damit zuverlässig feststehenden Größe verwiesen ist. Das Christus-Geheimnis wird deshalb nicht mehr inhaltlich entfaltet, sondern als Glaubenswahrheit, als Glaubenssatz zitiert. Mit dem Hinweis auf die Zuverlässigkeit ist der verpflichtende Charakter des Zitierten verknüpft. Der so gestaltete Bezug auf den christlichen Glauben entspricht in den Past ganz der die Gemeinden gefährdenden Auseinandersetzung mit den Falschlehrern um den rechten Glauben. Ein bewährtes Mittel in diesem Streit ist die Mahnung zur Glaubenstreue, zum Festhalten am tradierten, apostolischen Glaubensgut. Der zitierte Glaubenssatz wird abschließend noch in besonderer Weise als verläßlich demonstriert, nämlich an der Gestalt des Paulus. Die als Auszeichnung zu verstehende Vorstellung als 1tpw'to~ ist nicht in erster Linie in zeitlichem Sinne zu beziehen auf eine Reihenfolge, sondern sie hebt den Rang des Apostels hervor. Aus der Gegenüberstellung des Erbarmens Gottes und der Gnade Christi zur unheilvollen Vergangenheit des Paulus wird seine gegenwärtige Stellung als Zeuge und Garant der Glaubenszuversicht begründet. Es läßt sich deshalb auch nicht von einer "Selbstverdemütigung" des Paulus sprechen 27; denn eindeutig wird (in der Form der Vgl. H. WINDISCH, Christologie 222. 2' Vgl. M. DIBELIUS- H. CONZELMANN, Past 25. Aufgrund der Paral1elität zum johanneischen Sprachgebrauch und wegen der Korrelation von Inkarnation und Präexistenz sind nach G. W. KNIGHT, Sayings 38, diese Vorstel1ungen auch I Tim 1,15 im Blick. Zu dieser Einleitungsformel ausführlicher u. a. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 23f; G. W. KNIGHT, Sayings 4-30; N. BROX, Past 112-114; C. SPICQ, Past 277 Anm. 2; A. T. HANSON, Past 63 f; E. SCHLARB, Lehre 206-208. 27 So aber N. BROX, Past 114. 24
2.
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fiktiven Selbstvorstellung) in dem npayw~ von Paulus nicht bloß als dem Sünder gesprochen, sondern es wird von ihm gesprochen als Sünder, insofern ihn das Erbarmen Gottes in besonderer, vorbildhafter Weise getroffen hat (V 13) und er die sündentilgende Kraft des Kommens Christi erfahren hat. Die präsentische Formulierung "ich bin" verweist sodann auf ein Zweifaches: (1) Die Zuwendung der göttlichen Gnade ist bleibendes Geschenk; Gottes Heilswille zeigt sich nicht nur in Ereignissen der Vergangenheit (wenn auch dort besonders deutlich), sondern er ist gegenwärtig. Heil verwirklicht sich hier und heute 28. (2) Paulus als der durch das Erbarmen Gottes Erwählte und Ausgezeichnete (V 12) ist bleibendes Vorbild und Garant für die im Glauben feststehende Gemeinde. Dieser letzte Gedanke wird im folgenden Vers näher ausgeführt. 16 führt die Paulus-Anamnese weiter durch einen Rückgriff auf die schon in V 13 mit T]AE1l8T]V umschriebene Wende im Leben des Apostels; und im weiteren Kontext ist darin auch eine Konkretisierung des im Präskript (V 2) im Segenswunsch eingefügten Zuspruchs des "Erbarmens" Gottes und Christi Jesu zu sehen. Das gesamte Geschehen an Paulus wird jetzt in seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung interpretiert. Was an Paulus geschah, ist Zeichen des göttlichen Erbarmens mit einer heils geschichtlich weitreichenden Konsequenz (dies wird schon erkennbar aus der Einführung: &..Ua öur ,oum); und dieses göttliche Erbarmen zeigte sich in der Langmut Christi. Die enge Verknüpfung von Theologie und Christologie ist zu erkennen in der Charakterisierung der Beziehung des Christus Jesus zu Paulus. Dem Substantiv J.luKpo8uJ.ltU bzw. dem Adjektiv J.luKp68uJ.lo~ liegt eine aus dem AT bekannte Charakterisierung des Handeins Gottes zugrunde 29 • In der hier vorgenommenen Übertragung auf Christus Jesus wird die Einheit des Tuns Jesu mit dem Heilswillen Gottes deutlich gemacht. Das Erbarmen Gottes äußert sich in der Langmut, in der Geduld Christi; und die Hinzufügung von ünucruv zu J.luKpo8uJ.ltuV verstärkt den Kontrast zwischen dem einstigen sündigen Zustand des Paulus und dem "jetzigen" Stand der Begnadung. Mit der Wiederaufnahme von np('j),o~ aus V 15 wird dem Apostel erneut eine herausragende und vorbildhafte Stellung eingeräumt. Aber noch stärker als in V 15 liegt das Interesse jetzt darauf, das Selbstverständnis des "Paulus" hingeordnet zu sehen auf seine Funktion, daß er nämlich paradigmatisch, und das heißt: für alle gültig, die neue heilsgeschichtliche Situation verkörpert. In Paulus ist das Wirklichkeit geworden, was nach dem 28 Die Betonung der Gegenwart als der heils entscheidenden Zeit wird noch des öfteren als Kennzeichen der Past begegnen. 2. Vgl. Ex 34,6, die Selbstoffenbarung Jahwes an Mose am Sinai: "Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig [llaKp6eUIlO~1, reich an Güte und Treue ... "; vgl. auch Ps 85,15 LXX; 102,8 LXX.
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Willen Gottes allen Menschen zukommen soll: das ewige Leben. Paulus ist Urbild der Glaubenden und damit auch Urbild derer, die endgültig gerettet werden sollen, die zum ewigen Leben berufen sind. Diese Rettung ist aber geknüpft an den Glauben an Christus Jesus (mcr'tEtJEtV bt' au'tQ»). Sicher ganz bewußt zeichnet der Verfasser den Apostel als den Repräsentanten des Heils in der Weise, daß das "ewige Leben" auf dem Weg über den Glauben - und man darf interpretieren: nur auf dem Weg über den Glauben - an Christus Jesus zu gewinnen ispo. Und so, in dieser Bindung des ewigen Lebens an den Glauben, hat Paulus für die Gemeinde der Past paradigmatische, vorbildhafte Bedeutung. Als dem ersten kommen ihm auch Autorität und Vollmacht zu. Er hat über diesen Glauben, d. h. über das Evangelium, mit welchem er betraut worden ist (vgl. V 11), zu entscheiden; doch nicht aus eigener Autorität, sondern aufgrund der ihm von Gott und Christus gewährten Gnadenstellung. Dieser Vers läßt erkennen, wie der Verfasser seinen Argumentationsgang gestaltet. Sein Ausgangspunkt ist das auch bei seinen Lesern vorausgesetzte Wissen um die missionsgeschichtliche und theologische Bedeutung des Paulus. Diese wird dadurch unterstrichen, daß dem Apostel - durchaus im Anschluß an und in Übereinstimmung mit dessen eigenem Zeugnis in den Briefen - die besondere Erwählung von Gott her zugestanden wird. Die einzig und allein aus dieser Berufung bzw. Erwählung durch Gott begründbare Vorrangstellung wird erzählerisch untermauert durch eine ganz und gar negative Akzentuierung seiner Vergangenheit, wobei aber weder die jüdische Glaubenstradition im allgemeinen noch seine Gesetzestreue Erwähnung finden.
Im Zusammenhang solcher Beschreibungen, die das Augenmerk sehr stark auf die persönliche Situation des Betroffenen richten, auf seinen Unglauben bzw. seinen Glauben, könnte die Gefahr gesehen werden, daß diesem Paulus zwar durchaus paradigmatische Bedeutung zugesprochen wird, daß diese Bedeutung aber letztlich beschränkt bleibt auf diese an ihm erfolgte Manifestation der Gnade Gottes. Eine solche Eingrenzung liegt aber nicht im Interesse der Past. Auch wenn man von Paulus als dem " ersten " Nutznießer des sündentilgenden Kommens des Christus Jesus sprechen kann (vgl. V 15) und ihm damit eine Vorzugsstellung eingeräumt wird, so ist der Apostel doch in dieser Anwendung ein "exemplum", ein Beispiel, welches in dieser Hinsicht der Erfahrung des gnädigen Handeins Gottes grundsätzlich und ohne sachliche Einbuße durch jemand anderes ersetzt werden kann. In dieselbe Richtung einer zweifachen Bedeutsamkeit geht auch noch in V 16 der Hinweis auf die paradigmatische Stellung des Paulus in der Offenbarung der Langmut des Christus Jesus. In der Bezeichnung als uno'tun(j)(J1C; ist ganz sicher auf die Bedeutung des Paulus als "Urbild aller Glaubenden" verwiesen; an ihm soll gezeigt werden, "wie Christus das Heil schenkt" 31. Da "Paulus" hier aber von sich spricht im Blick auf die, 30 31
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Vgl. N. BRox, Past 114f. G. LOHFINK, Theologie 80. Vgl. auch J.
ROLOFF,
1 Tim 97: "In dem, was an ihm ge-
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die nach ihm und wie er zum Glauben kommen sollen, zugleich aber gegründet auf die von ihm repräsentierte Glaubenstradition, ist auch das Motiv der Vorbildlichkeit des Paulus nicht völlig auszuschließen 32. Ganz gezielt steuert der Verfasser aber gleich wieder, vergleichbar mit der Betonung der Überfiille der Gnade Gottes in V 14, auf einen grundsätzlichen und umfassenden Horizont zu, indem er das Geschehen an Paulus in direkten Bezug setzt zu denen, die - nicht nur: wie er, sondern auch: durch ihn - zum Glauben kommen, und indem er damit die eschatologische Entscheidung, das "ewige Leben", verknüpft. 17 Entsprechend dem Verständnis der Erwählung des Paulus als Erfüllung der göttlichen Heilszusage schließt der Abschnitt mit einer Doxologie. Es ist dies ein aus der liturgischen Praxis übernommener Lobpreis Gottes. In ihm sind Begriffe zusammengestellt, die zum einen in der jüdischen Tradition als Gottesprädikate stehen. "König der Äonen" ist als Gottesbezeichnung bezeugtJer 10,10; Tob 13,7.11; in den neutestamentlichen Texten nur noch Apk 15,3 (v.I.; vgI. auch 11,15) und um die Jahrhundertwende wieder 1 Clem. 61,2. Griechisches Denken zeigt sich in den Bestimmungen Gottes als "unvergänglich" und "unsichtbar" und betont darin die Transzendenz Gottes. Daß Gott "der einzige" ist, entspricht der Sache nach ganz allgemein der alttestamentlichen Gottesvorstellung, bleibt aber auch in den Gottesaussagen des hellenistischen Judentums (etwa bei Philo) erhalten. Auffällig ist im NT, daß diese Prädikation meist im Zusammenhang hymnischer Texte steht, die hellenistischen Einfluß zeigen (Röm 16,27; Jud 25; vgI. aber auch 1 Tim 6,15)33. Mit dem Bekenntnis zur "Einzigkeit" Gottes steht die christliche Tradition auf einer breiten theologischen Basis. Die christliche Gemeinde hat in ihrer liturgischen Praxis auf bereits formuliertes Gebetsgut insbesondere aus dem alttestamentlich-jüdischen Bereich zurückgegriffen und im Laufe der Ausbreitung des Glaubens neue Begrifflichkeiten aufgenommen. Insgesamt gesehen darf man in dieser Doxologie - wie dann auch in der vergleichbaren von 6, 15 f - den Einfluß des griechischsprechenden Diasporajudentums als prägend voraussetzen. V. Hasler bemerkt zu dieser Doxologie, die "den Christusglauben der griechischen Kirche nach dem Offenbarungsschema der hellenistischen Religiosität" zeichnet: "Sie reduziert dabei die sonst auf die ErIösergestalt Christi ausgerichtete Heilslehre auf eine im engeren Sinne theologische ErIösungslehre und legitimiert sie in Abweisung falscher Verkündigung als apostolisch, indem sie unter die Autoschehen ist, wird Paulus zum Urbild der Menschen, die nach ihm künftig Jesus Christus im Evangelium begegnen." 32 Vgl. G. KRETSCHMAR, Glaube 129.131, der in bezug auf diese Stelle von Paulus als "Prototyp des gerechtfertigten Sünders" und als "Vorbild der künftig Glaubenden" spricht. M. WOLTER, Pastoralbriefe 56-59, hingegen will U7tOTU7tOlcn~ ausschließlich in der Bedeutung" Urbild" verstanden wissen. ]J Vgl. zu !!6vo~ auch R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 101.
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rität des Paulus gestellt wird." 34 Dieses Urteil erscheint jedoch nur eingeschränkt zutreffend. Insbesondere ist die auch hier ganz bewußt durchgeführte christologische Begründung des Gotteslobes zu beachten. Der hymnische Dank an Gott schließt einen durch die Konzentration auf die Indienstnahme des Paulus als Einheit erkennbaren Textabschnitt ab, der begann mit einem Dank an den Kyrios Christus Jesus (V 12) und der seine Mitte hat in dem Bekenntnis, daß durch Christus Jesus die Rettung von Sündern geschieht. Der Begriff der "Reduzierung" erweist sich von daher bereits als unpassend und irreführend. Zum zweiten Gesichtspunkt, der Inanspruchnahme der Autorität des Paulus, ist zwar zuzugestehen, daß diese Autorität des Apostels durchgängig betont wird; doch sie ist als im "Dienst" des Kyrios Christus Jesus stehend vorgestellt (V 12) und getragen von seiner "Gnade" (V 14). Sie hat ihren Ursprung in Gottes "Erbarmen" (W 13.16). Der Ausklang der Paulus-Anamnese in ein hymnisches Gotteslob erinnert (zusammen mit dem einleitenden Verweis auf Christus Jesus V 12) an den Anfang des Schreibens mit der Bindung des apostolischen Amtes an den "Auftrag Gottes, unseres Retters (und Christi Jesu, unserer Hoffnung)" (V 1).
Der Abschluß der Skizzierung des Lebensweges des Paulus an der Schnittstelle seiner Berufung durch Christus Jesus mit dieser Doxologie ist in der Intention der Past sowohl für die Christologie als auch für die Begründung der Stellung des apostolischen Dienstes des Paulus durchaus bedeutsam. Die Verkündigung von Jesus Christus - und damit verknüpft auch der Glaube an ihn: vgl. V 16 - kann nur dann als "Heilslehre" und als "Erlösungslehre" gelten, wenn sie eingebunden ist in das Bekenntnis zur uneingeschränkten Königsherrschaft Gottes, wenn sie also als "Evangelium der Herrlichkeit des seliggepriesenen Gottes" verstanden ist (vgl. V 11). Und Paulus gilt zwar aufgrund seiner Indienstnahme als Apostel für die Gemeinden der Past als Autorität und damit auch als Garant des rechten Glaubens; doch gerade unser Text betont - nicht in Widerspruch, sondern als Ergänzung dazu - die unlösbare Verknüpfung dieser Autorität mit der einzig von Gott und von Christus Jesus her zu legitimierenden Funktion. III
Was in dieser Paulus-Darstellung vom Autor geschildert wird, ist nicht geleitet von vordergründig biographischem Interesse; vielmehr sollen die Funktion des Apostels und seine Stellung im Erlösungsgeschehen definiert werden 35. Obwohl viel von der Vergangenheit des Paulus die Rede ist, so geht es doch vorrangig um die Gegenwart bzw. um die Bedeutung des Apostels für die Gegenwart und für die Zukunft. Der den gesamten Abschnitt verbindende Begriff ist "glauben" mit den verschiedenen Wortformen des Wortstammes mcr't-: Paulus ist von Christus Jesus als der "treue", "zuverlässige" Diener in den Dienst der Verkündigung des Evangeliums gestellt worden (V 12: ... mcr'tov J.LB ••• ); er hat sich in Glaube und Liebe bewährt (V 14: ... J.LB'tU nLcr'tBroc; Kai äyunT]C; ...); auf dieser Zuverlässigkeit des Apostels beruht dann auch die Zuverlässig34 J5
V. HASLER, Past 17. Vgl. N. BROX, Past 117.
1 Tim 1,12-17
keit der apostolischen Glaubensüberlieferung (V 15: mO"'toe; 6 Myoe;); die in der Person des Paulus offenbar gewordene Gnadenzuwendung Gottes und seines Christus ist dann auch das Fundament des wahren Glaubens, der zum ewigen Leben führt (V 16: ... mO"'tEUEtv ... Eie; ~roT]V cdrovtOv). Dabei wird nicht übersehen, sondern immer wieder darauf hingewiesen, daß hinter allem und über allem das "Erbarmen" Gottes (VV 13.16) und die "Gnade" des Kyrios stehen (V 14; vgl. auch VV 12.16). Wenn der Verfasser der Past hier auf die Vergangenheit des Paulus zu sprechen kommt und seine Bekehrung vom Christenverfolger zum "Diener" der Verkündigung darstellt, dann konnte er sich am literarischen Zeugnis des Apostels orientieren, der auch in zwar nur bruchstückhaften und nicht ganz zweckfreien biographischen Rückblicken (Gal 1f; auch Phi13,5f; 1 Kor 15,8-10) auf den Wandel vom Verfolger Jesu Christi und der an ihn Glaubenden zum Verkünder des Evangeliums zu sprechen kommt, bzw. er folgte einer mündlich weitergegebenen Paulus-Tradition. Von den (fiktiven) Selbstaussagen von V 13 ist allerdings einzig die vom "Verfolger" von der Paulusbiographie gedeckt. Was dabei den "historischen Paulus" betrifft, so ist die Formulierung nicht gerechtfertigt, der Gedanke, ein Verfolger der Kirche gewesen zu sein, habe ihn nie losgelassen 36. Natürlich spricht auch Paulus von der tiefen Zäsur in seinem Leben, die er verknüpft mit der von ihm als Gottesoffenbarung verstandenen Christophanie (Gali, 15 t); doch verliert die Zeit davor, sein Leben als gesetzestreuer und frommer Pharisäer, damit nicht seine positive Bedeutung. Es steht nicht Unglaube gegen Glaube; vielmehr wird die aus tiefer Gläubigkeit erwachsene soteriologische Sinngebung des radikalen Gesetzesgehorsams abgelöst durch den Glauben an die unüberbietbare und uneingeschränkte Heilskraft des Todes Jesu. Dem Verfasser der Past liegt demgegenüber daran, den Kontrast zu betonen, der allerdings in der hier gewählten Form der Darstellung stärker auf das Ethische verschoben wird, so daß das Leben des Paulus insgesamt, einschließlich seiner Bekehrung, paränetischer Auswertung zugänglich gemacht werden kann. Der Autor hat also auch hier den Leser im Auge, nicht den Apostel, sein Geschick und seine Empfindungen für sich genommen 3'. LITERATUR: F. J. BOTHA, The Word is Trustworthy (I Tim 1,15; 3, 1; 4,9; 2 Tim 2, 10; Tit 3,8): ThEv (SA) 1 (1968)78-84; B. STANDAERT, Paul, exemple vivant de I'Evangile de gräce. 1 Tim 1,12-17: ASeign 55 (1974) 62-69; M. WOLTER, Paulus, der bekehrte Gottesfeind. Zum Verständnis von 1 Tim 1,13: NT 31 (1989) 48-66.
3. So U. BORSE, Past 30. 37 U. BORSE, Past 30, kann man nicht zustimmen, wenn er zu unserer Stelle schreibt, der Verfasser wolle "die Empfindungen des Dankes und Lobes nachvollziehen, die den Apostel sicherlich erfüllt haben, wenn er seine unverdiente Erwählung bedachte".
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d) Mahnung an den Apostelschüler und Warnung vor Abfall (1,18-20)
Diese (Unter-) Weisung lege ich dir vor, mein Kind Timotheus, gemäß den früher über dich ergangenen prophetischen Weissagungen, damit du ihnen entsprechend den guten Kampf kämpfst. 19 im Besitz von Glauben und gutem Gewissen, welches manche Leute verworfen! und (so) im Glauben Schiffbruch erlitten haben. 20 Zu ihnen gehören Hymenäus und Alexander. die ich dem Satan übergeben habe. damit sie durch Züchtigung belehrt 2 werden, nicht (mehr) zu lästern. 18
I
In diesem Schlußabschnitt des 1. Teils von I Tim, 1,3-20, der die Mahnung des Apostels an seinen Schüler zum Kampf gegen die Irrlehrer/lrrlehren und damit verbunden den Auftrag zur Bewahrung des rechten Glaubens zum Thema hat, wird diese zentrale Stellung des Apostelnachfolgers in der Gemeinde noch einmal unterstrichen. Hier von einer "formelle(n) Widmung" zu sprechen 3 ist nicht angebracht. Die Funktion dieses Abschnittes zeigt sich bereits darin, daß vom Verfasser wichtige Begriffe aus dem vorhergehenden Abschnitt und aus der Grußzuschrift aufgegriffen werden: 'tEKVOV (V 2), napayyeAta (V 5; vgl. V 3), nto'tt(; und ayaS" cruvei0TJmr; (V 5). In dieser Wiederaufnahme und Zusammenfassung 4 im Anschluß an die Paulus-Anamnese mit der Betonung der umfassend und grundsätzlich paradigmatischen Bedeutung des Handeins Gottes am Apostel für die christliche Existenz wird nun die spezifische Verpflichtung seines Nachfolgers wieder stärker in den Vordergrund gerückt. Letzteres zeigt sich auch in der direkten Anrede des Adressaten. Da dies noch einmal am Ende des Briefes geschieht (6,20), wo erneut die Aufgabe des Timotheus in Erinnerung gerufen wird - Bewahrung des ihm anvertrauten Glaubensgutes gegen falsche Lehren -, können die Verse 1,18-20 zusammen mit 6,20f als "Rahmen" des Briefcorpus gelten 5. Die Begründung für die Verantwortung in der konkreten Situation der Gegenwart erfolgt zusätzlich durch Rückgriff auf die Vergangenheit, einmal durch die Erinnerung an die früher erfolgte Indienstnahme des Timotheus 6, zum anderen durch Verweis auf das beispielhafte Handeln des Gut die Übersetzung bei V. HASLER, Past 17: über Bord geworfen. Die fast durchwegs bei 11mBEuro gewählte Übersetzung mit "züchtigen" trifft sicher am besten den Sinn; mit der Übersetzung "lehren" könnte das möglicherweise enthaltene pädagogische Element stärker beibehalten werden. Der Nachdruck liegt aber in jedem Fall auf dem damit angestrebten Ziel, nämlich auf dem J.LTJ ßAUcr
2
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Paulus. Dieses Tun bzw. die Autorität des Apostels steht auch hier im Mittelpunkt, weniger das Handeln des Timotheus; dieses Handeln des Timotheus gewinnt seine Bedeutung aus der Übereinstimmung mit dem Vorbild des Apostels. Darin zeigt sich erneut die Künstlichkeit der vorgestellten Situation. Die verschiedenen geschichtlichen Ebenen überlagern sich. Der Weisung des Apostels gilt es Geltung zu verschaffen; diese Weisung des Apostels wird nun jedoch gestaltet und ausformuliert entsprechend den konkreten Bedürfnissen der nachapostolischen Gemeinden. Und gerade dieses Spezifikum der nachapostolischen Zeit läßt sich durch die fiktive Rückdatierung an die Adresse des Apostelschülers und -nachfolgers in besonderer Weise unterstreichen. 11
18 Das, was der Apostel seinem Nachfolger zu sagen bzw. zu übergeben hat, wird wieder mit dem Stichwort napayyeJ",i.a, "Weisung", charakterisiert. Mit dem Demonstrativpronomen -rauTTJv ist zum einen der Zusammenhang mit dem Voranstehenden betont, v. a. mit der eingangs vorgestellten Bestimmung des Apostelschülers als Hüter der rechten Lehre (VV 3-7). Zugleich wird diese Weisung im Blick auf die Stellung des Timotheus in der Gemeinde im folgenden präzisiert und ausgeweitet. Der Briefadressat wird nicht nur vorgestellt als Empfänger der Weisung, sondern auch als deren verantwortlicher Bewahrer und Tradent. Dafür spricht auch das Verbum napa-rHlecr,sat, welches nun nicht mehr nur die "Weitergabe der apostolischen Verkündigung" meint?, sondern zugleich die Übernahme der Verantwortung und damit der Vollmacht. Hier wird deutlich, wie die Beauftragung des Apostelschülers zugleich seine Autorität begründet; die Grenze zwischen dem Apostel und dem sein Erbe verwaltenden Nachfolger verliert an Konturen. In diesem Sinne wird die apostolische napayyeJ",i.a auch zum Rahmen und zur Überschrift für das Folgende, etwa für die in den Kapiteln 2 und 3 stehenden konkreten Anweisungen 8. Dazu paßt auch, daß der Empfänger des "Briefes" wieder mit seinem Namen angesprochen und erneut als "Kind" bezeichnet wird. Dies wird nicht nur dem Interesse des Verfassers zuzuschreiben sein, die fingierte Briefsituation konsequent zur Geltung zu bringen 9. Es geht auch nicht um besondere Herzlichkeit der Beziehung bzw. um die Vertrautheit zwischen "Paulus" und "Timotheus"; dagegen spricht u. a. die doch recht formell wirkende Anrede. Im Blick stehen vielmehr die Gemeinden, die in ihrer Gefährdung durch Falschlehren durch den Zuspruch des Apostels in ihrem Glauben gefestigt werden sollen. Wenn "Paulus" den "Timotheus" in dieser vertrauten Form als "Kind" anredet - zu beachten ist seine Funktion als Repräsentant kirchlicher Amts7
8 9
P. TRUMMER, EWNT III 52. Vgl. dazu J. ROLoFF, 1 Tim 101; M. WOLTER, Pastoralbriefe 118. Diese Intention ist jedoch sicher auch in Rechnung zu stellen; mit N. BROX, Past 118.
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träger! -, dann darf die Gemeinde dessen sicher sein, daß dieser hier und jetzt als verantwortlicher Gemeindeleiter in Übereinstimmung mit dem Apostel handelt. Es gilt wiederum, die Identität der Weisung des Gemeindeleiters mit dem Wort des Apostels zu belegen. So stehen hier wie an anderen Stellen die in die fiktive Briefsituation eingetragenen persönlichen Akzentuierungen ganz im Dienst der Legitimation der Aktivitäten der Gemeindeleiter. Den Bezug zur Gegenwart der Gemeinde unterstreicht die Bindung der apostolischen Weisung an die "prophetischen Weissagungen". Diese np0<j>T]'tEtaL werden im allgemeinen gedeutet im Anschluß an 1 Tim 4,14 ("Vernachlässige die Gnade nicht, die in dir ist und die dir verliehen wurde, als dir die Ältesten aufgrund prophetischer Worte - öta npo<j>T]'teiuC; - gemeinsam die Hände auflegten") als geistbegabte, prophetische Reden, die die Einsetzung in das Amt eines verantwortlichen Gemeindeleiters begleiteten 10. Als Parallele dazu wird bisweilen genannt Apg 13,2f (Aussendung des Paulus und Barnabas durch die Gemeinde von Antiochien zur Mission) 11. Solche prophetischen Reden in der Gemeindeversammlung bzw. im Gottesdienst wurden dieser Erklärungsrichtung zufolge betrachtet als "Anweisungen des erhöhten Herrn Jesus Christus" an seine Kirche 12. Konkret wären somit in diesen npo<j>T]'tEtUt die in der Situation der Ordination gesprochenen Worte zu sehen - Ermahnungen, Fürbitten u. ä., also ganz allgemein "Instruktion bzw. Paränese für den Gemeindeleiter" 13. Läßt sich nun daraus folgern, hier solle "die Stunde der Bestellung zur Amtsübernahme" in Erinnerung gerufen werden, "um mit Hilfe der damaligen eindrucksvollen Begleitumstände Kraft und neue Zuversicht für die gegenwärtigen Anstrengungen zu wekken" 14? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Dagegen spricht die Art der Formulierung; denn mit der Präposition KU'tU ("gemäß") werden die npo<j>T]'tEtUt (" Weissagungen") der apostolischen nupuYYEAiu (" Weisung") zugeordnet. Das bedeutet für die Erklärung dieser npo<j>T]'tEtUt, daß darin nicht Bezug genommen wird auf irgendwelche Worte der Weisung oder des Zuspruchs, die von seiten der Gemeinde oder von deren Vertretern über den Gemeindeleiter, den hier Timotheus wieder repräsentiert, gesprochen worden sind 15. Timotheus wird in gleicher Weise als Empfänger der "prophetischen Weisungen" (npo<j>T]'tEtU) vorgestellt, wie er AdresIO So N. BROX, Past 118; F. J. SCHIERSE, Past 38, spricht von einer "Art Ordinationsparänese", und H. v. LIPS, Glaube 246, deutet npocpT]1:Eia als "bei der Ordination gesprochene, als geistgewirkt verstandene Worte". 11 Vgl. etwa G. WOHLENBERG, Past 101; J. REuss, I Tim 35; J.1EREMIAS, Past 17; C. K. BARRE'IT, Past 47; J. N. D. KELLY, Past 57; G. W. KNIGHT, Past 108. 12 Vgl. V. HASLER, Past 17. 13 N. BROX, Past 118; ähnlich H. MERKEL, Past 23. 14 So N. BROX, Past 118. lS Diese Erklärung favorisiert jedoch u. a. J. ROLOFF, I Tim 102: "Mit den ,vorher ergangenen profetischen Worten' dürften wahrscheinlich jene Worte der Weisung und des tröstlichen Zuspruchs an den Ordinanden gemeint sein, die von den anwesenden Ältesten vor der Handauflegung gesprochen wurden."
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sat der "Weisung" (nupuYYEAiu) ist. Wenn er vom Paulus der Past darauf angesprochen wird, dann doch im Blick auf die gegenwärtige Relevanz sowohl dieser "Weisung" als auch dieser "prophetischen Worte". Die Wendung KU'tU 'tur; npouyou(Jur; Ent (JE npo
Vgl. dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 179. Die Deutung der partizipialen Bestimmung 1tpoayouaa, hängt im wesentlichen ab davon, worauf E1tL ae bezogen wird; so ergibt sich, verbindet man E1tL aE mit 1tpoayouaa" ein ortsbezogenes Verständnis (so etwa G. WOHLENBERG, Past 101, A. SCHLATTER, Kirche 65f, und H. MAEHLuM, Vollmacht 78); wird E1tL aE mit 1tpocpT]1:ela, verbunden, ergibt sich eine zeitbezogene Bestimmung. Letzteres Verständnis, daß nämlich auf "schon früher" ergangene 1tpocp1l,etat verwiesen werden soll (vgl. H. v. LIPS, Glaube 173), ist insbesondere auch aus Sachgründen zu bevorzugen. Zu den verschiedenen Interpretationstypen J. ROLOFF, 1 Tim 101 f. 18 V. HASLER, Past 18. 19 Es sind die beiden Momente in der Bestimmung des Gemeindeleiters zu beachten, nämlich die Beauftragung durch die Gemeinde einerseits und die Legitimation von der Weisung des Apostels her andererseits. Die beiden Bestimmungen ergänzen sich gegen!6
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Vielleicht darf man sodann in der Formulierung des tva-Satzes einen ganz konkreten Ausdruck dieser Gemeindeleiterparänese sehen. Wörtlich bedeutet "den guten Kampf kämpfen" die erfolgreiche Durchführung einer militärischen Aktion. Der übertragene Gedanke vom "Kriegsdienst" bzw. vom Kampf des Frommen ist weit verbreitet in der griechischen Diatribe, speziell zur Kennzeichnung des Ernstes der sittlichen Aufgabe 20 • Das Bild vom Kampf im übertragenen Sinn - der Gerechte bzw. der Gottesfürchtige steht im Kampf mit den Frevlern und Gottlosen - ist aber auch ein im AT verbreitetes Motiv (vgl. Ps 56,2f; 140,2); und von hier aus ist dieses Bild auch in die jüdische Tradition übernommen worden (vgl. bes. in Qumran, in der "Krlegsrolle", in der Darstellung des endzeitlichen heiligen Krieges der Erwählten gegen die Heidenvölker: I QM 1,11; 15,12-15). Sicher ist in der Zeit der Past dieser Ausdruck vom "Kriegsdienst" bereits eine recht geläufige bzw. zumindest allgemein verständliche Bezeichnung des Verhaltens der Christen; nur unter dieser Voraussetzung kann er ja sinnvollerweise in paränetischem Zusammenhang gebraucht werden 21. Mit der vorliegend bezeugten Aufnahme in die Gemeindeleiterparänese ergibt sich aber eine Akzentverschiebung. Es geht nun nicht mehr nur um das eigene Leben und Handeln, um die Verantwortung des einzelnen Christen für sein eigenes Tun; jetzt ist die Gemeinde als" Objekt" der Fürsorge in den "Kampf', in die Mühe an vorderster Stelle einbezogen. So wird auch hier der Auftrag an "Tirnotheus" zu einem "guten Kampf' erteilt in der ganz konkreten Auseinandersetzung, die dieser zugunsten der Gemeinde zu bestehen hat, nämlich in der Abwehr von Gefährdung und Anfechtung der Gemeinde durch Irrlehrer. Der kämpferische Einsatz des Apostelschülers gilt der Gemeinde (vgl. V 3). Zugleich erfolgt aufgrund dieser objektiven, gemeindebezogenen Beauftragung eine Art Rückkoppelung. Der Gemeindeleiter muß in besonderer Weise dafür Sorge tragen, daß die von ihm geforderte Reinheit des Glaubens, die "gesunde Lehre", mit allen Konsequenzen im sittlichen Bereich, zuallererst von ihm selbst verwirklicht wird. Aus der Sorge des Gemeindeleiters für den rechten Glauben seiner Gemeinde entwickelt sich die Sorge der Gemeinde um das rechte Leben und Verhalten ihres verantwortlichen Leiters bzw. der in verantwortlicher Position stehenden Leitungsgremien. Die starke Bindung des Bildwortes vom "guten Kampf' an die Gemeindeleiterparänese zeigt sich in der Verwendung auch an anderen Stellen: 1 Tim 6, 12; 2 Tim 2,3 f; 4,7. In dieser Hinsicht stehen die Past deutlich in der Linie des paulinischen Sprachgebrauchs; der Apostel
seitig und kontrollieren sich auch; in gewissem Sinne stehen sie allerdings in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. 20 Vgl. dazu mit Belegen M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 27. 2i Vgl. O. BAUERNFEIND, ThWNTVII 11.
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selbst verknüpft dieses Bild mit seinem Dienst für die Verkündigung des Evangeliums (vgl. 1 Kor 9,24-27; 2 Kor 10,3-6; Phil 1,27-30)22. Es ist noch kurz einzugehen auf die Bedeut"n~ der Präpositionalwendung EV a(y[;(ttc;. Entsprechend der vorgelegt~n Interpretation von npoq)'T]1:Eim wird damit die Mahnung an die Amtsträger präzisiert, daß sie in ihrem Tun, in ihrem "Kampf' sich auszurichten haben an den ergangenen Weisungen und Weissagungen des Paulus (zu letzterem würde beispielsweise gut passen die in 4,1 als prophetische Weissagung qualifizierte Ankündigung des Auftretens von Irrlehrern). 19 Die notwendige "Ausrüstung" für diesen "Kampf' besteht im Glauben und im guten Gewissen. Beide Bestimmungen sind schon in V 5 als Kennzeichen dessen genannt worden, der entsprechend der napaYYEAia des Apostels und seines Nachfolgers lebt. Das Fehlen von ayan.., in V 19 mag darauf zurückzuführen sein, daß das den Kontext bestimmende Bild vom Kampf ebenso wenig zum Motiv der Liebe paßt wie das gleich in V 20 angeschlossene Beispiel von der praktischen Konsequenz solchen Einsatzes für den rechten Glauben 23. Die Kennzeichen des rechten Verwalters der Aufgaben in der Gemeinde stehen in Kontrast zu den Irrlehrern. Streng genommen geht es dem Verfasser um den rechten Glauben; das Motiv des guten Gewissens ist diesem untergeordnet. Da das "gute Gewissen" Kennzeichen des die Gemeinde im rechten Glauben leitenden Amtsträgers ist, muß konsequenterweise den vom rechten Glauben Abgewichenen auch das gute Gewissen abgesprochen werden. Der gleich nachgeschobene Hinweis auf die Verachtung des guten Gewissens ist somit sicher bedingt durch das geläufige Muster der Ketzerpolemik. Entsprechend dem vorher zitierten, recht breit angelegten Lasterkatalog wird auch hier sittliche Haltlosigkeit einfach vorausgesetzt bzw. unterstellt. "Mit der Häresie ist stets die Verderbtheit des Häretikers gepaart." 24 Man muß aber wohl auch berücksichtigen, daß es in den Past in ganz besonderer Weise um praktische Probleme geht; die Frage nach dem rechten Glauben ist zugleich die Frage nach der rechten Lebenspraxis, d. h. nach dem guten Gewissen. Und wo Abweichung vom rechten Glauben als Vorwurf erhoben wird, da wird zugleich der Abfall vom Willen Gottes und von allem, was damit zusammenhängt, vorgeworfen. Aus der Mahnung an den Gemeindeleiter wird unversehens eine Warnung. Kennzeichen der Irrlehrer ist, daß ihnen gerade das fehlt, was als Aufgabe bzw. als zum Amt befähigende Eigenschaft des verantwortlichen Gemeindeleiters vorgestellt worden war.
Mit dem Bild vom Schiffbruch, das ebenfalls in der griechischen Philosophie geläufig ist 25, ist das radikale Scheitern solcher Leute (hier wieder 22
23 24 2S
Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 103. Vgl. auch G. HOLTZ, Past 51'. N. BRox, Past 119. Belege bei M. DIBELIUs - H. CONZELMANN, Past 27.
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abqualifizierend "[tVE~ genannt) umschrieben, die sich nicht an die vorgestelIte Weisung - zu denken ist dabei insbesondere an die aktuellen Mahnungen des "Apostels" in diesen seinen "Briefen" - gehalten haben bzw. halten. Am Ende steht der Abfall vom Glauben; der Weg dorthin aber beginnt schon da, wo das Gewissen nicht mehr in der rechten Weise Beachtung findet. Es ist das besondere Anliegen des Autors, in einer Zeit, da die Bedeutung des Gemeindeleiters immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses rückt und immer größere Bedeutung für die Identität der rechtgläubigen Gemeinde und ihren Anspruch in der Auseinandersetzung um den rechten, apostolischen Glauben gewinnt, auch die diesen Gemeindeleiter persönlich betreffende Verpflichtung in der Bewährung des täglichen Lebens zu betonen. Mit der vorgestellten engen Verschränkung von Mahnung an den Gemeindeleiter und Warnung vor der Vernachlässigung der eingegangenen Verpflichtung, was letztlich mit Glaubensabfall gleichzusetzen wäre, wird mit dem Anspruch auch die Verantwortung betont, die sich aus der führenden Stellung in der Gemeinde ergibt. Und deshalb ist da, wo die Mahnung des Apostels nicht beherzigt wird, der Abfall vom Glauben schon eingetreten. Es entspricht dem Verfahren des Autors, daß er global, ohne aufinhaltliche Fragen einzugehen, bestimmte Sachverhalte einander gegenüberstellt: der (rechte) "Glaube" und das "gute Gewissen" stehen in der Tradition des Apostels und der von ihm ausgehenden und über" Timotheus" und dessen Nachfolger in den Gemeinden weiterhin wirksamen Weisungen; wer davon abweicht (vgl. 1tio""[t~ zu Beginn und am Ende des Verses), der hat "Schiffbruch" im Glauben erlitten, ist vom Glauben abgefallen. 20 Zur Verdeutlichung und zur Veranschaulichung der angesprochenen Entscheidungssituation zwischen Glaube und Glaubensabfall werden zwei Namen für "Abgefallene" genannt: Hymenäus und Alexander. Sie sind Repräsentanten dieses Abfalls vom Glauben, worauf am Ende von V 19 warnend hingewiesen worden war. Auf dem Hintergrund dieser Feststellung, daß es sich um Vertreter der Irrlehre handelt, gegen die der Autor zum "Kampf' aufruft (V 18), ist die Frage zu stellen, ob es sich hierbei um historische Personen handeln muß. Zugunsten der Historizität wird oft angeführt, daß beide noch einmal in den Past auftauchen: In 2 Tim 2,17 wird Hymenäus zusammen mit einem Philetus genannt; und in 2 Tim 4,14 ist die Rede von Alexander dem Schmied. Die Identität dieser mit den an unserer Stelle Genannten darf - auf der literarischen Ebene! - vorausgesetzt werden. Dennoch ist eine Erklärung als historische Personen, etwa als "prominente Ketzer" oder gar als "bekannte Sektenführer" 26, nicht ganz unproblematisch 27. Der Verfasser hat Vgl. N. BRox, Past 120. Es entspricht allerdings einer verbreiteten Tendenz, die Identität bzw. auch die Art der Verfehlung der bei den Genannten genauer zu bestimmen; einige Beispiele dafür: "fast sicher leitende Personen, deshalb wahrscheinlich Älteste", so G. D. FEE, Past 59; 26
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an ihnen kein historisch-biographisches Interesse. Es ist deshalb auch von der zur Verfügung stehenden Textbasis her unzulässig, ihr Geschick noch biographisch auszumalen 28. Da die Personen ganz hinter die Sache zurücktreten, ist durchaus damit zu rechnen, daß sich hinter den Namen andere Personen verbergen 29. Man kann aber auch ohne Schaden darauf verzichten, hier konkrete Irrlehrer bezeichnet zu sehen, die etwa den Empfängerkreisen bekannt waren; denn diese beiden genannten Personen sind lediglich Beispiele, Konkretisierungen aus der Gruppe der nVB<; (vgl. V 19) dafür, wie der die kirchliche Ordnung vertretende und für sie Verantwortung tragende "Paulus" gegen Ketzer vorgegangen ist und wie in konsequenter Durchführung der ihm übertragenen "Weisung" (V 18) auch dessen Nachfolger im Amt in der Verteidigung des rechten Glaubens handeln muß 30. Die Beschreibung dieses Vorgehens ist formuliert wie I Kor 5,1-5, bes. VV 4f. Im Vergleich zu diesem Beleg aus I Kor 5 sind an unserer Stelle einige wichtige Unterschiede festzustellen: Die "Übergabe an den Satan" konnte beim historischen Paulus offensichtlich nicht nur eine Aussonderung aus der kirchlichen Gemeinschaft zur Folge haben; in der Art der Formulierung mit dem Verweis auf das "Verderben seines Fleisches" wird z. T. ein Hinweis darauf gesehen, daß an Züchtigung, also an "körperliche Peinigungen", zu denken sei, wenn nicht gar an Tötung, was aus der Gegenüberstellung von "Verderben des Fleisches" und "Rettung des Geistes" herausklingen könnte J !. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß nicht aktiv von Paulus oder der Gemeinde gegen den Gebannten vorgegangen wurde; vielmehr steht dahinter ein anderer Gedanke: Paulus traut dem Gemeindeurteil zu, daß dieses über den Gebannten schweres körperliches Leid bzw. auch die Vernichtung bringen kann 32. Von einer pädagogischen Absicht der
"zwei im Umkreis von Ephesus wirkende Irrlehrer ... , die ihren gefährlichen Einfluß auf die Gemeinden ihrer früheren Nähe zum Kreis der Paulusschüler verdankten", so J. RoLOFF, 1 Tim 105; zwei bekannte Gegner des Paulus, deren Nachfolger in der Zeit der Past mit Berufung auf deren Autorität agierten, so A. T. HANSON, Past 65. 28 So etwa bei J. JEREMIAS, Past 18, der in ihnen "Mitarbeiter des Paulus und Timotheus" vermutet: "Mit laxer Lebensführung begann ihr Verderben. Ein Spielbal1 der Leidenschaften, mußte ihr Lebensschiff Schiffbruch erleiden, ihr Glaube zerbrechen." Ähnlich C. SPICQ, Past 353. 29 Vgl. V. HASLER, Past 18. JO Zurückhaltend urteilt auch P. TRUMMER, Paulustradition 138, der zwar konzediert, daß in 1 Tim 1,20 und 2 Tim 2, 17, wo Hymenäus und Philetus genannt werden, "wahr· scheinlich" derselbe Hymenäus genannt ist; aber er gibt zu bedenken, daß "die zweimalige Nennung an sich noch nicht die historische Verläßlichkeit der pseudepigraphischen Notiz" erhöht. Und auch J. L. HOULDEN, Past 62, gibt zu bedenken, daß eine Entscheidung über die Authentizität dieser Namen von dem grundsätzlichen Urteil abhängt, wie man diesen Aspekt der Nennung von Details in den Past bewertet; und wie in "Timotheus" und "Titus" die Gemeindeleiter der Zeit der Past repräsentiert werden, so in Hymenäus und Alexander die lästigen Irrlehrer (vgl. 32-35). J1 Damit rechnet etwa N. BRox, Past 120. J2 So die Erklärung bei J. WEISS, Der erste Korintherbrief (KEK) (Göttingen 1910) (= 1970) 132. Ähnlich W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 1, 1 - 6, 11) (EKK VII/I) (Zürich/Neukirchen 1991) 376f.
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1 Tim 1,3-20 Rückführung des Gebannten in die Gemeinschaft der Gemeinde ist bei Paulus nicht die Rede 33. Wie unterscheidet sich davon nun das hier in V 20 vorgeschlagene bzw. vorgestellte Verfahren? Man könnte stärker als bei Paulus den pädagogischen Zweck der Bestrafung betont sehen. Dafür ließe sich hinweisen auf das Stichwort natÖEuEcr9at und die damit verbundene Zielsetzung, die Betroffenen von ihrem Irrweg abzubringen. Mit der Formulierung "dem Satan überliefern" würde umschrieben der zumindest zeitweise - Ausschluß aus der kirchlichen Gemeinschaft. Das Heil ist ja untrennbar mit dem rechten Glauben und dieser mit der orthodoxen Glaubensgemeinschaft der Kirche verbunden, und darum bedeutet der Ausschluß nicht nur eine Beendigung einer äußerlichen Zugehörigkeit, sondern er führt, wenn er nicht behoben bzw. aufgehoben wird, konsequent auch zum Verlust des Heiles. Aufgrund dieser Identität des Heilsweges mit dem von der Gemeinde bzw. dessen Vorsteher verwalteten rechten Glauben kann der Autor hier dem kräftigen Ausdruck "dem Satan übergeben" verwenden. Das Ziel bliebe dabei aber immer: "Besserung und Rückkehr des Betroffenen", Umkehr von der "Lästerung" 34.
Der Weg des Heils durch die Rückkehr zum rechten Glauben soll nicht nur offen gehalten werden, sondern das Ziel und die Absicht der unter apostolischer Autorität durchgeführten Bestrafungsaktion bleibt weiterhin der Weg zum Heil. Umgekehrt bedeutet dies aber auch: Dieser "rechte", am Glauben orientierte und damit zum Heil führende Weg ist gebunden an die Übereinstimmung mit der Glaubenstradition, die mit der von den Gemeinden der Past repräsentierten und durch die Autorität des Paulus legitimierten Weisung übereinstimmt. Als Zeichen des rechten Glaubens wird die Unterordnung unter die Autorität des Gemeindeleiters verlangt. Man darf allerdings die hier angesprochene Aktion der Kirchenzucht nicht verabsolutieren und auch nicht isolieren, sondern muß sie im Zusammenhang der Gesamtheit der dem Apostelschüler übergebenen Weisungen sehen. Seiner Aufgabe, die Reinheit des Glaubens gegen "Falschlehrer" (vgl. V 3) und "Lästerer" (V 20) zu verteidigen, kann er sowohl nachkommen durch wirkungsvolles Auftreten (nupuyyDJ"Etv V 3) als auch durch die Maßnahme des Gemeindeausschlusses. Weil also verschiedene Verhaltensweisen und Maßnahmen genannt werden, mit denen die Vorsteher ihrer Aufgabe der Sorge um den Glauben nachkommen müssen, deshalb erscheint es angebracht, in der Deutung der Aussage von der Übergabe an den Satan Zurückhaltung zu üben. V. Hasler gibt für seine These, daß "die Ausstoßung nicht als seelsorgerlieh-pädagogische Maßnahme verstanden" sei, als Grund an: "Der Satan oder Teufel ist nicht Umerzieher, sondern der Verderb er, der die Menschen nicht zum Heil zurück-, sondern von ihm wegführt (l Tim. 5,15)." 35 Dies ist jedoch als eine zu weit gehende Interpretation der hier umschrie3J Zu Einzelfragen der Interpretation von I Kor 5, I-li vgl. auch H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther (KEK) (Göttingen '1981) 124f. 34 Vgl. N. BRox, Past 120. 35 V. HASLER, Past 18; auch nach M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 28, kann "Satan" hier "nur als Vernichter von Leib und Leben in Frage kommen".
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benen Maßnahme anzusehen. Dagegen spricht - das sei noch einmal betont - die Parallelität von J.1T] E1:EpOÖtÖaoKaAEtv (V 3) und J.1T] ßA.aOqlllJ.1Etv (V 20). Da es dabei jeweils um den Einsatz des Apostels bzw. seines Nachfolgers geht, bleibt als Ziel auch bei der beschriebenen Aktion bestehen: Durchsetzung der "gesunden Lehre" gegen alles und gegen jeden, der ihr "entgegensteht" (vgl. V 10); Rückkehr bzw. Rückführung der Irrlehrer zum rechten, wahren Glauben. Daß dabei "Paulus" sich als (exklusiv) Agierender nennt, paßt genau dazu; er ist auch in diesem Fall unangefochtene Autorität, jetzt allerdings im Kampf gegen die, die ihrerseits als "Lästerer", d. h. als Falschlehrer auftreten 36. Trotz gewisser Bedenken, die durch den Eindruck einer etwas gönnerhaft anmutenden Attitüde der Selbstgenügsamkeit und der Heilsgewißheit hervorgerufen sind, ist die Erklärung von F. J. Schierse akzeptabel: "Die so Gezüchtigten sollen mit Schmerzen den Weg zum Heil zurückfmdett." 37 Allerdings ist da gleich zu präzisieren: Es ist die Vorstellung von "Heil", welches in der Verfügung des über den rechten Glauben befindenden Gemeindeleiters gesehen wird. Und deshalb ist weiter zu präzisieren: die, die der Bannstrahl der apostolischen und dann durch Gemeinden bzw. in der Zeit der Past durch deren Leiter ausgesprochenen Verurteilung getroffen hat, sollen bzw. müssen zurückfinden unter die Autorität und unter die Vollmacht der durch den Apostel und seine Nachfolger legitimierten Gemeinde bzw. des Gemeindeleiters, um auf diesem Weg zum Heil zu kommen 38. Als Ziel des in V 20 vorgestellten und damit für den Gemeindeleiter empfohlenen Umgangs mit solchen, die der Abweichung vom rechten Glauben angeklagt oder auch überführt sind, ist festzuhalten, daß bei aller Unerbittlichkeit der Ketzerpolemik der Verfasser festhält an der Verantwortung des Gemeindeleiters und mit ihm natürlich der gesamten Kirche für die von ihm bzw. von ihr Bestraften. Während Paulus sodann in 1 Kor 5,4f die Gemeinde auffordert, gemeinsam mit ihm zu handeln, bleibt der Paulus der Past der allein Entscheidende; er bzw. in Fortführung des apostolischen ~ns der von ihm beauftragte und autorisierte Gemeindevorsteher setzt diesen Akt der Kirchenzucht aufgrund eigener Autorität. Die Verantwortung und die Entscheidungsvollmacht liegen jetzt ausschließlich in der Hand der zur . Leitung bestellten Amtsperson. Eine dem Lva-Satz von I Tim 1,20 entspre3. Vgl. L. R. DONELsON, Pseudepigraphy 103: "Here Paul is no longer the prototypical converted heretic but the prototypical rebuker of heretics." 37 F. SCHIERSE, Past 38. Der Weg zum Heil, d. h. zum rechten Glauben, ist das alles entscheidende Anliegen; ob dies "mit Schmerzen" zu geschehen hat, ist demgegenüber zweitrangig. 3B Auch ist die an diese Aussage bei F. J. SCHIERSE, Past 38f, angeschlossene Verallgemeinerung problematisch: "Alle(!) kirchlichen Strafen haben einen medizinalen Zweck, sie wollen niemals endgültig verdammen. Auch die Pastoralbriefe, denen man oft den Geist einer engen, unduldsamen Orthodoxie zuschreibt, möchten nicht verurteilen, sondern bessern und heilen." Letzteres ist zuzugestehen; und doch ist illre Orthodoxie bisweilen in der Tat höchst unduldsam, ja beinahe schon "unchristlich".
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chende Zielsetzung, die von der Strafaktion Betroffenen vom falschen Weg abzubringen, kennt Paulus in 1 Kor 5 nicht. III
Der Autor demonstriert durch die Vorstellung einer beispielhaften Handlung des Apostels die dem Gemeindeleiter aufgrund der apostolischen Bevollmächtigung übertragene Autorität über die Mitglieder der Gemeinde, die den rechten Glauben verlassen haben oder auch verlassen wollen. Diese Notiz schließt den Abschnitt ab, der geprägt ist von einer ersten Skizzierung des Treibens der Irrlehrer und der darauf basierenden Beauftragung des "Tirnotheus" zur Bewahrung und Sicherung des rechten Glaubens, der "gesunden Lehre". Die allein entscheidende Rolle fiel in alledem, entsprechend der auf dem Apostel ruhenden und nun von diesem an seinen Nachfolger delegierten Verantwortung, dem an der Spitze der Gemeinde stehenden Leiter zu. Der Vorwurf gegenüber den Irrlehrem geht aus von der Bewertung ihres Tuns als "Falschlehre" (V 3) und erfährt über die Zuordnung zu unterschiedlichen Verfehlungen (VV 9 f) eine Steigerung und einen gewissen Höhepunkt in dem Hinweis, daß "manche" in ihrem Glauben Schiffbruch erlitten haben. Das bedeutet ja auch, daß sie· drauf und dran sind, ihr Heil zu verspielen. In dieser Situation darf der verantwortliche Gemeindeleiter nicht tatenlos zusehen. Er muß aus seiner Verantwortung für den Glauben und für das Heil aller ihm Anvertrauten, der ganzen Gemeinde, handeln; gegen die einschreiten, die sich gegen das gute Gewissen verfehlt haben. Zur Demonstration der Radikalität des dabei u.U. notwendigen Verfahrens tritt der Apostel selbst beispielhaft handelnd auf. Woran bei der Formulierung "ich habe sie dem Satan übergeben" konkret gedacht ist, woran die Empfänger und Adressaten denken sollten, bzw. ob dabei überhaupt an eine ganz bestimmte Aktion oder an ein konkretes Verfahren zu denken ist, läßt sich nicht klären. Besonders auffällig ist in jedem Fall die Konzentration auf das "Ich" des Apostels. Die Konstellation ist, wie schon erwähnt, gekennzeichnet durch ein Gegenüber. Der Apostel - und d. h. in der Situation der Past: der in seinem Auftrag handelnde Gemeindeleiter -steht als Träger von Verantwortung und Vollmacht der Gemeinde gegenüber. In der Gemeinde sind Leute aufgetreten, die vom rechten Glauben abgewichen sind. Und a1.\S der Gruppe der "Abtrünnigen" werden zwei mit Namen vorgestellte Personen bestraft. Es ist in der Tat so, wie N. Brox formuliert, daß von einer "Gemeinsamkeit mit der Gemeinde bei einem so wichtigen Urteil" genausowenig zu bemerken ist wie von der "Wirksamkeit des Kyrios in diesem ,gesamtkirchlichen' richterlichen Handeln". Die Gemeinde bleibt passiv. Es ist die "Absolutheit und einsame Autorität des Apostels" 39, die als Wächterin über den rechten Glauben, als entscheidende und bestimmende Instanz auftritt. " N. BROJe, Past 121.
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Da es in unserem Text, wie V 18 betont, nicht nur um die Übernahme der Weisung geht, sondern weil in dem napa:ti8q.ulL die Partizipation des Apostelnachfolgers an der Autorität des Apostels sogar gefordert wird also nicht mehr nur: im Amtsträger handelt Paulus, sondern: der Gemeindeleiter handelt in der gleichen Vollmacht wie Paulus -, legitimiert das Beispiel des "Paulus", welches wahrscheinlich schon die Situation der Gemeinde der Past widerspiegelt, die Kirchenzucht in den christlichen Gemeinden des ausgehenden ersten Jahrhunderts. Die in V 20 gewählte Formulierung für die Beschreibung einer Maßnahme eines Gemeindeleiters - als solcher agiert ja hier stellvertretend "Paulus" - gegenüber Gemeindemitgliedern, die des Abfalls vom Glauben beschuldigt werden, provoziert die Frage, ob hier nicht Ansätze für eine mit dem Willen Gottes, dem Auftrag Jesu Christi oder auch der Sorge um den Glauben und um die Glaubenden gerechtfertigte - Praxis der "Kirchenzucht" liegen, deren extremste Form die Inquisition bildete. Und wenn hier unter Hinweis auf die Autorität des Paulus der Gemeindeleiter derartige Vollmacht über die Mitglieder seiner Gemeinde nicht nur als Zugeständnis, sondern als ausdrücklichen Auftrag des Apostels übertragen bekommt, erscheint dann nicht der Gemeindeleiter in einer absoluten Machtstellung, welcher der einzelne in der Gemeinde mehr oder weniger ausgeliefert ist? Die Gefahr einer derartigen Wirkungsgeschichte im Sinne der Legitimierung einer uneingeschränkten Verfügungs macht ist sicherlich in einem Text wie diesem gegeben. Es ist zwar die Vollmacht des Gemeindeleiters mit de~ Verantwortung auch für den von ihm Bestraften verknüpft; doch in der konkreten Umsetzung des hier vorgestellten Auftrages wurde sicherlich diese Verpflichtung auf die Verantwortung auch für die von der kirchlichen Strafe Betroffenen bisweilen zu wenig ernst geno=en. Wo die Autorität die Verantwortung, d. h. im religiösen Bereich die Verantwortung für den und damit zugunsten des Betroffenen, aus dem Auge verliert, da verliert sie aber auch jegliche Berechtigung für ihr Tun. Die Frage von Schierse hierzu ist deutlich genug: "Hatte nicht die Kirche in diesen Zeiten die Rolle des Satans selbst übernommen?" 40 Nun muß man hier gleich zugestehen, daß unser Autor nicht der einzige sein muß, der für solche Irrwege christlicher "Missionierungen" bzw. die' Verteidigung oder Bewahrung des rechten Glaubens herhalten mußte. Es sei nur genannt das geschichtlich so verhängnisvoll gewordene "compelle intrare" aus Lk 14,23. Für ein derartiges falsches Verständnis der "Verantwortung" für das "Heil" des anderen kann auch Paulus dienen. So läßt etwa H. Conzelmann zu der Deutung von I Kor 5,5, "Verderben des Fleisches" meine den "Tod", die er als "befremdliche Vorstellung" bezeichnet, zwei Exegeten zu Wort kommen: "Der Liberale Schmiedel stößt sich an der Sache. Der Katholik Allo verteidigt: Der Gedanke sei nicht inhuman, da es um das Heil der Seele gehe. Das ist die bekannte Begründung der Inquisition! o benedictae flammae!"41
40 F J. SCHIERSE, Past 39. 41 H. CONZELMANN, 1 Kor (s. Anm. 33) 125 Anm. 36.
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Nicht übersehen werden dürfte eigentlich, daß auch der Gemeindeleiter auf den Glauben und auf das gute Gewissen verpflichtet wird. Möglicherweise ist auch diese Mahnung bisweilen vergessen worden zugunsten der Befriedigung eigener Machtgelüste. Die Gefahr des Machtmißbrauchs unter Berufung auf einen biblischen Beleg wie den hier vorliegenden ist in aller Deutlichkeit und Ehrlichkeit bewußtzumachen.
3. Die Ordnung der Gemeinde: 2, 1 - 3,16 Von den allgemeingehaltenen Mahnungen an die Gemeindeleiter in der Person des Timotheus und der Warnung vor den Häretikern und ihren Lehren leitet nun der Verfasser über zu einer inhaltlichen Behandlung der Kirchenordnung. Dabei lehnt sich die Darstellung und Argumentation eng an geläufige Formen der Pflichtenlehre und der Haustafeln an. Formal und sprachlich wird die Nähe zur hellenistischen Literatur wieder deutlich. Im Blick auf Paulus ist eine eindeutige Veränderung der Gemeindesituation und damit ein Wandel im Charakter der Gemeindeparänese festzustellen. Während Paulus die Unterschiedlichkeit und die Vielfalt der charismatischen Funktionen in ihrer Bedeutung für das Leben der Gemeinde hervorhebt, vergleichbar dem Zusammenwirken der vielen Glieder für den einen Leib (vgl. I Kor 12; Röm 12), wird im folgenden zwar auch die Ordnung betont, allerdings mit zwei bedeutsamen Unterschieden zur paulinischen Konzeption: (I) Es geht einmal um die Ordnung der Kirche. Angesprochen ist zwar die Einzelgemeinde im Blick auf die besonderen Bedingungen ihrer Zeit, in ihrer Ordnung nach innen und der Konsolidierung nach außen; dahinter steht aber immer die Intention, das zu formulieren, was allgemein und grundsätzlich für alle Gemeinden Gültigkeit haben sollte. (2) Ferner geht es um die Ordnung, die nicht von unten her auferbaut ist und die gerade nicht von der Vielfalt der Lebensäußerungen und der Aktivitäten der Gemeindemitglieder getragen wird, sondern die durch den in einem ordentlichen Leben und im rechten Glauben ausgewiesenen Gemeindeleiter garantiert ist. Das Kennzeichen einer im Glauben gefestigten, dem Willen und dem Vermächtnis des Paulus entsprechenden Gemeinde ist die Übereinstimmung mit eben dieser Gemeindeordnung, die der Verfasser als durch den Apostel verbürgt vorstellt. Aus dieser Verknüpfung von Gemeindeordnung und Glaubenszeugnis ergibt sich für die Gemeindemitglieder die unbedingte Forderung der Unterordnung und der Übereinstimmung mit dem Gemeindeleiter bzw. den verantwortlichen Führern. Das zugrundeliegende Gemeinde- und Kirchenverständnis zeigt sich besonders prägnant in der Herausstellung der Autorität des Paulus, wobei immer mitzubedenken ist, daß dieser in der Briefsituation zu dem von ihm
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mit bestimmten Aufgaben in der Gemeindeordnung betrauten Schüler und verantwortlichen Leiter der Gemeinde spricht. Entweder läßt der Verfasser Paulus unmittelbar mit entsprechendem Selbstbewußtsein seine Forderungen formulieren (vgl. 2, 1.8.12; auch das betonte EYW in 2, 7), oder er legt dem Apostel das nicht weniger Gehorsam und Unterordnung fordernde "müssen" (OEi:) in den Mund (3,2.7.15). In der Abfolge der verschiedenen Weisungen ist eine stufenweise Differenzierung erkennbar. Die Mahnung zum Gebet (2,1-7) ist ganz allgemein gehalten und zeigt auch einen universalen Horizont. Für die zweite Ermahnung (2,8-15) gibt die gottesdienstliche Versammlung den Rahmen ab, und der Autor läßt den Paulus eine für die Past bedeutsame Differenzierung in Ermahnungen an die Männer (V 8) und an die Frauen (VV 9-15) vornehmen. Die in den bei den folgenden Abschnitten ausgesprochenen Anweisungen betreffen Personen, die eine besondere Stellung und Aufgabe in der Gemeinde haben, nämlich Episkopos (3, 1-7) und Diakone (3,8-13). Den Abschluß bildet dann (3,14-16) eine der fiktiven Briefsituation entsprechende Bezugnahme auf den Adressaten als den Repräsentanten der Gemeinden in nachpaulinischer Zeit und insbesondere als Repräsentant ihrer Leiter mit einer Begründung für die vorangehenden Mahnungen: TUi"l'"ca Gm ypa
N. BRox, Past 121. Vgl. dazu auch A. SAND, Anfänge 217. 236f; H. v. LIPS, Glaube 150-160; L. OBERLINNER, Anpassung 98f. An den drei Bereichen "Organisationsform, Lehrinhalte und ethische Prinzipien" zeigt W. PRATSCHER; Stabilisierung 133, als das "Hauptanliegen der Pastoralbriefe" auf "die Stabilisierung der Kirche in einem bestimmten Bereich der paulinischen Tradition". 2 N. BRox, Past 121. I
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a) Die Mahnung zum Gebet der Christen für alle Menschen (2,1-7) 2,1 Ich ermahne nun zuallererst, Bitten und Gebete, Fürbitten und Danksagungen zu verrichten for alle Menschen, 2 for Könige und alle, die Herrschaft ausüben, damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben fohren (können) in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. 3 Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter, 4 der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. 5 Denn einer ist Gott, und einer (der) Mittler zwischen Gott und (den) Menschen, der Mensch Christus Jesus, 6 der sich selbst hingegeben hat als Lösegeld for alle, das Zeugnis zur rechten Zeit. 7 Für dieses wurde ich eingesetzt als Verkündiger und Apostel- ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht -, als Lehrer der Völker in Glaube und Wahrheit. I
Auch wenn es im Gesamtabschnitt um die Ordnung des Lebens der Kirche geht, so kann in der Sicht der Past die Gemeinde nicht von den sie umgebenden und bestimmenden sozialen und politischen Gegebenheiten absehen. Sicher nicht zufällig bildet deshalb dieser umfassende Gebetsauftrag an die Christen die Exposition des Abschnittes, der sich mit der Ordnung der Gemeinde und dem Auftrag der Kirche befaßt. Und dazu gehört in besonderer Weise auch die Regelung des Lebens und Verhaltens von Christen in einer weitestgehend von Nicht-Christen geprägten Welt. "Weder weltflüchtig noch weltförmig, sondern weltoffen" soll die Kirche ihr Verhältnis zur "Welt" sehen und entsprechend ordnen 3. Christlich verantwortet und erfüllt kann dieser Auftrag jedoch nur werden, wenn die Kirche sich immer wieder neu ihrer Aufgabe bewußt wird, den universalen Heilswillen Gottes zu verkünden und davon Zeugnis abzulegen, daß und wie dieser Wille Gottes in Christus Jesus entscheidend und abschließend Wirklichkeit geworden ist. Den Ausgangspunkt bildet für den Autor in seinen das Gemeindeleben betreffenden Weisungen die gegenwärtige Situation mit ihren Anforderungen; deshalb" werden Christen zuerst einmal angesprochen auf die ihr Leben ganz allgemein prägenden Bedingungen. Doch der Verfasser holt gleich weiter aus; für den Christen muß diese Lebenssituation in einer neuen Art und Weise vom Glauben her bestimmt sein. In einer thesenhaften Erinnerung an zentrale Inhalte des Christus bekenntnisses, nämlich den universalen Retterwillen Gottes und die Erlösungstat Christi Jesu, erfährt das vorgestellte Verhalten nicht nur eine Rechtfertigung, sondern es wird auch soteriologisch begründet. Und auch am Schluß dieses Abschnittes, in der Bezugnahme des Pseudo-Paulus auf 3
Vgl. V.
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HASLER,
Past 19.
I Tim 2,1-7
seine eigene Aufgabe, ist die Gegenwart der Past insofern wieder aufgenommen, als dieser "Verkündigung" und "Belehrung" umfassende, die "Völker" betreffende Auftrag weiterhin besteht 4 • G. Holtz will die Akzente anders setzen. Es wird s.E. in dem Kap. 2 nicht, wie zumeist von Kap. 3 her gefolgert werde, eine "kirchenrechtliche Ordnung" geboten; es sei der Akzent vielmehr auf die "liturgisch-sakramentale Ordnung" zu legen'. Die liturgische Prägung ist nicht zu bestreiten, auch wenn sicherlich die soteriologische Akzentuierung als die grundlegende und deshalb für die Past wichtigere anzusehen ist. Beide Bestimmungen erhalten jedoch ihre Bedeutsamkeit durch den Kontext, nämlich die sowohl unmittelbar (2, 1) als auch zu Beginn (1,3) formulierte Einführung als apostolische Ermahnung; des Apostels Weisung gilt nach außen wie nach innen. Sein Auftrag und damit die von ihm ausgehende Beauftragung erstrecken sich auch auf die gottesdienstliche Praxis. "Wie die Abweisung der Irrlehre, so erfolgt auch die Gestaltung des Gottesdienstes als Verantwortung des überkommenen und verkündigten Glaubens." 6 Und insofern ist das "kirchenrechtliche" Moment doch wiederum das übergeordnete Anliegen.
11 I Die Einleitung mit 1tapaKaM> ist zwar zu sehen in Verbindung mit I, 3 ; doch sowohl in der Adressierung als auch in der Zielsetzung der vom "Apostel" formulierten Mahnung liegt eine Akzentverschiebung. Im ersten Fall, inder Exposition von 1,3, war der Apostelschüler bzw. der von ihm repräsentierte Gemeindeleiter allein angesprochen und auf die ihn ausschließlich betreffende Verantwortung im Blick auf die Identität der Gemeinde hingewiesen worden; er wird verantwortlich gemacht für die eindeutige Abgrenzung der orthodoxen Gemeinde gegenüber den Irrlehrern. Und nicht zufällig schließt dieser Abschnitt (in 1,20.) mit der beispielhaften Bestrafung von zwei (ehemaligen) Gemeindemitgliedern, denen Abweichung vom Glauben vorgeworfen wird, durch - von der Formulierung her als wohl zeitlich befristet geplanten - Ausschluß aus der Gemeinde. Nun richtet sich der Blick des "Apostels" auf eben diese Gemeinde und die ihr aufgrund ihres Glaubens übertragene Aufgabe. Diese Aufgabe liegt gerade darin, daß die Gemeinde sich ihrer alle Grenzen überschreitenden Verantwortung bewußt sein muß. Hier ist aber im Sinne des Verfassers gleich zu ergänzen: Dieser Bestimmung kann die christliche Gemeinde nur dann nachkommen, wenn sie ihr Leben gestaltet
4 Vgl. auch PR. H. TOWNER, Goal 201-205. "In an apostolic tone of authority (... ) the church is commanded to participate in the missionary task of the apostle; the will of God and the very nature ofthe gospel message demand it" (205). Da der Abschnitt ganz betont in die Paulus-Anamnese des V 7 einmündet, wo Paulus "als der heilsgeschichtlich besonders hervorgehobene Zeuge des Heilswerkes Jesu Christi für alle Menschen" erscheint (J. ROLOFF, I Tim 112), ist doch zu fragen, ob mit Hinweis auf 2,1-7 der "Sitz im Leben" der Past bestimmt werden kann unter Ausschluß einer "missionarischen Situation" (so die Tendenz bei E. SCRLARB, Lehre 245 f). S G. HOLTZ, Past 53. 6 V. HASLER, Past 19.
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1 Tim 2,1 - 3,16
und ihren Glauben verantwortet in Übereinstimmung mit der im Nachfolger des Paulus präsenten apostolischen Tradition. An dieser Stelle wird ein neuer Gesichtspunkt im Gemeindeverständnis der Past erkennbar. Der "Apostel" betont nicht die Abgrenzung zur Welt und fordert nicht den Rückzug der Glaubenden aus der Welt und ihren Bedingungen. Es bleibt weiterhin bestimmend die apostolische Autorität (deutlich formuliert in dem vorangestellten napaKaMil), die den Anspruch und das Tun der Gemeinde legitimiert. Diese Aufgabe liegt nun aber gerade in einem der Welt zugewandten Tun, formuliert unter Verwendung der soteriologisch geprägten Präposition unEp (vgl. V 6!). In einem kaum zufällig zustande gekommenen, sondern bewußt gewählten Kontrast folgt auf das Beispiel von den zwei durch Paulus aus der Gemeinde Ausgeschlossenen (1, 18-20) jetzt der Hinweis auf die universale Verantwortung der Christen, die Mahnung, "für alle Menschen" zu beten. Der gesamte Abschnitt der VV 1-7 ist geprägt von diesem dreimal begegnenden Ausdruck "alle Menschen" (VV 1.4.6). In dem Hinweis auf die Verantwortung der Christen für alle Menschen will der Autor u. a. wohl auch andeutungsweise ein Gegengewicht zum Gesamtbild der abwertenden und aburteilenden Ketzerpolemik der vorangehenden Verse bieten. Auffällig ist, daß diese Mahnung zum Gebet mit vier Begriffen umschrieben wird, die zudem im Plural stehen. Schon dadurch gibt der Verfasser zu verstehen, daß diese Gebetsverpflichtung ein besonderes Anliegen für die Gemeinden sein muß. Unterschiede zwischen den einzelnen Bezeichnungen lassen sich vielleicht in Nuancen feststellen 7. Mit BB1]crU; wählt der Verfasser als erstes die Bezeichnung für Gebet, die insbesondere in der paulinischen Tradition verknüpft wird mit dem fürbittenden Eintreten bei Gott für andere (vgl. Röm 10,1; 2 Kor 1,11; 9,14; Phil 1,4.19; auch Eph 6,18; abgesehen von Phil 4,19 jeweils mit ontp bzw. nepi [Eph 6,18] verknüpft). Während diese Gebetsbezeichnung mit Bt'llcrtlö eher das Beten des einzelnen bezeichnet, steht npocrEUXT] in einigen Belegen zur Bezeichnung des gemeinschaftlichen Betens der Gemeinde (vgl. Apg 1,14; 2,42; 12,5; Röm 12,12; vgl. aber auch den Bezug zum einzelnen Röm 1,10; 15,30; Eph 1,16); im Vergleich zu BB1]crU; ist der Blick bei npocreUXT] stärker auf Gott ausgerichtet (vgl. Phil 4,6, hier allerdings zusammen mit Bt'llcrtlö und eoxapunia), die fürbittende Ausrichtung hingegen selten (vgl. Röm 15,30). In den ersten beiden Gebetsbezeichnungen nimmt also der Verfasser Bezug auf zwei Gebetssituationen der Gläubigen: einerseits mit BB1]crtlö auf das fürbittende Gebet, und andrerseits mit npocreUXT] auf den Lobpreis Gottes. Die später folgende Verwendung beider Begriffe bei der Formulierung der Ansprüche an die "echte" Witwe (1 Tim 5,5) kann durchaus als Bestätigung für solch differenzierendes Verständnis in Anspruch genommen werden. Eine ähnliche Differenzierung läßt sich dann auch beim zweiten Begriffspaar vornehmen. Während äVteu~u; (nur noch 4,5; ebenfalls zusammen mit eoxaplcr'tia 4,3f) von der Bedeutung "Eingabe, Bittschrift" in profanen Texten her in der vorliegenden theologischen Verwendung zu übersetzen ist mit "Fürbitte"·, liegt bei eoxaptcr'tia mit der Bedeutung "Danksagung" der Akzent wiederum (wie bei npocreUXT]) auf Vgl. dazu die Hinweise bei J. ROLOFF, 1 Tim 113 f; G. W. KNIGHT, Past 114f; D. E. HIEBERT, Significance 17f. • Vgl. W. BAUER, WB 542. 7
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1 Tim 2,1-7
der Unmittelbarkeit der Beziehung der Gläubigen zu Gott (vgl. auch 2 Kor 4,15; 9,11); der geradezu klassische Ort für solche "Danksagung" ist in dieser Zeit sicher schon die gemeinsame Feier des Herrenmahles geworden. Der Verfasser verwendet also die vier Begriffe in paralleler Zuordnung - einmal mit Betonung des persönlichen Gebetes mit fürbittendem Charakter, zum anderen das gemeinschaftliche Gebet mit der Betonung des Dankens. In dieser Gewichtung des Gebetes ist ein besonderes Anliegen der Past erkennbar: In der Gemeinschaft der Kirche als einer betenden Gemeinschaft liegt ihre Stärke, bzw. besser: auf diesen ihr übergebenen Auftrag muß sie sich immer wieder neu besinnen. Der Apostel mahnt dazu. Natürlich ist das Bitten "das Geschäft der Bedürftigen und Bettelarmen" 9. Da die Gemeinde ihrem Kyrios immer nur als bittende gegenübertreten kann, als Gemeinschaft, die um ihre Armseligkeit und Hilfsbedürftigkeit weiß, deshalb kann aus dieser Gebetsmahnung unter gar keinen Umständen eine Folgerung hinsichtlich der Gemeindesituation der Past gezogen werden, die etwa von V. Hasler folgendermaßen beschrieben wird: "Gerade die Pastoralbriefe wenden sich an eine Kirche, die innerlich zerstritten, äußerlich verlottert und moralisch wenig gefestigt dasteht. So(!) bleibt ihr nur das Bitten." 10 Es ist im Gegenteil gerade Zeichen ihrer Stärke und zugleich ihres Anspruches, wenn die Gemeinde sich als betende zeigt.
Im Blick des Verfassers liegt nicht das Gebet im Sinne einer nur die einzelne Gemeinde und ihre Versammlung betreffenden Aktion; das Beten wird in einen umfassenden soteriologischen Rahmen gestellt. Diese Ausweitung des Horizonts - Ausweitung nicht nur im Sinne der Universalität des Betens "für alle Menschen", sondern vor allem auch in der nachfolgenden soteriologischen Qualifizierung durch das tmEp - mag auch der Grund sein für die Fülle der Ausdrücke ". Im Auftrag des Apostels an die christlichen Gemeinden kann das Gebet nicht bloß auf den Kreis der Gläubigen bezogen werden; es muß umfassend für alle Menschen erfolgen. In der so festgemachten Beziehung ist eine gewisse Spannung erkennbar: der kleine Kreis derer, die an Jesus als den Christus glauben, wird verpflichtet auf das Gebet für die Gesamtheit der Menschen. Auf diese Weise demonstrieren bzw. postulieren die Past auch schon ein bedeutsames Selbstbewußtsein dieser kleinen Gruppe im Gegenüber zu den Nichtchristen 12. Die Christen müssen sich ,,for alle" verantwortlich wissen. Die Aufspaltung in Gläubige und Nichtgläubige soll von der Kirche her selbst aufgebrochen werden im Gebet. Daß dieses umfassende Gebetsanliegen für die Gemeinde zugleich eine Verpflichtung ist, die im Wesen ihres Glaubens und ihrer Gläubigkeit begründet ist, wird durch den folgenden Kontext noch erläutert, nämlich durch den Verweis auf den Heilswillen Gottes und die Erlösungstat Christi Jesu und deren universalen Charakter (vgl. V 4 und V 6). Die Universalität der Gebetsverpflichtung der Christen ist nicht willkürliche Anmaßung oder eigenmächHASLER, Past 19. Ebd. 11 Vgl. H.-W. BARTSCH, Anfänge 34. 12 Mit G. HOLTZ, Past 56, kann man präzisieren: "Das Gebet ergeht auch über die nichtchristliche Menschheit." 9
V.
10
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I Tim 2, I - 3,16
tige Überheblichkeit; sie ist vielmehr grundgelegt im Glauben an den universalen Heilswillen Gottes und im Bekenntnis zur geschichtlichen Verwirklichung dieses Heilswillens in der Selbsthingabe lesufiir alle Menschen. 2 In diesem Vers sind zwei Gesichtspunkte zu beachten, die ihre Bedeutsamkeit durch die Verbindung mit der Aussage von V 1 erhalten; es ist bereits vom Satzbau ersichtlich, daß wir zwischen V 1 und V 2 keine Zäsur machen dürfen, sondern daß ein zusammengehörendes Ganzes vorliegt. Allerdings bringt V 2 auch einen Neuansatz, insofern die in V 1 vorgestellte Hinordnung der Gebetsverpflichtung der Christen auf "alle Menschen" eine Konkretisierung und Spezifizierung erfährt, verknüpft mit einer daraus resultierenden Zielangabe für die Gemeinde. Bleiben wir gleich bei letzterem, dem '(va-Satz. Die Inbeziehungsetzung der in V 2 formulierten Erwartung der christlichen Gemeinde zu ihrem Gebetsauftrag in V 1 erscheint wichtig und sinnvoll, weil damit eine gefährliche Engführung der exegetischen Argumentation vermieden wird, die letztlich unvermeidlich ist, wenn der V 2 zu stark isoliert betrachtet und ausgelegt wird. Der tva-Satz nennt das Ziel, welches die Christen durch ihr Beten zu erreichen suchen sollen: ein "ruhiges und stilles Leben", ein Leben "in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" 13. Es geht folglich nicht nurum das Gebet für die Könige und die leitenden Beamten, um dieses Ziel zu erreichen, sondern um das Gebet insgesamt. Allerdings ist zuzugestehen, daß jenen in dieser Zielsetzung eine besondere Bedeutung zukommt, was auch deutlich zum Ausdruck kommt in der ausdrücklichen Nennung dieser beiden Personenkreise. Dieses "ruhige und ungestörte Leben" ist aber auch nicht verstanden als nostalgische Idylle einer weitab gewandten und introvertierten Beschaulichkeit, sondern gerade ein Leben in der "Welt" und fiir die "Welt". Das geordnete Staatswesen und das von Verfolgungen freie Leben setzen die christliche Gemeinde frei zum missionarischen Dienst; sie hat dann die Mö~lichkeit, ihrem soteriologischen Auftrag für die Welt und "für alle Menschen" nachzukommen. Die Gemeinde soll in freier Entfaltungsmöglichkeit ihren Aufgaben und Verpflichtungen in der sie umgebenden nichtchristlichen Gesellschaft nachgehen können. In den Stichworten eucrEßeta und crellv6TI]~ wird wiederum die Beeinflussung der Sprache der Past durch die hellenistische Begriffs- und Gedankenwelt deutlich. Im NT steht eucrEßeta außerhalb der Past bezeichnenderweise nur noch in der Apg (3, 12) und in 2 Petr (1,3.6.7; 3, 11). Mit dem Begriff wird an unserer Stelle das gottgefällige Verhalten als Charakteristikum der Christen beschrieben. Neben dieser vertikalen Komponente steht als weiteres Kennzeichen die Horizontale, ausgedrückt in 13 J. REUMANN, How 00 We Interpret 154, will dem {va-Satz, der s. E. von Jer 29,7 her zu erklären ist, einen imperativischen Sinn geben, so daß sich diese Abfolge ergibt: "first pray (vv. 1-2a), then ,Let us live a quiet and peacefullife' ... ".
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1 Tim 2,1-7 <JI;~v6't1lC;. Der Christ hat Verantwortung nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen (vgl. schon V 1). Mit den beiden Substantiva ist das vor Gott und den Menschen wohlgefällige Verhalten umschrieben. Man hat dafür das Stichwort vom "Ideal christlicher Bürgerlichkeit" geprägt 14. Es ist sicher richtig, daß hier eine neue Situation und zugleich ein neues Verständnis christlichen Lebens sich etabliert. An die Stelle der Distanz und Fremdheit des Glaubens tritt jetzt die unumgängliche Hinwendung zur Welt und die Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben und den daraus resultierenden Problemen. Es geht nun darum, die Gesamtheit des Lebens unter dem Aspekt christlicher Glaubenshaltung und christlicher Lebensführung zu beschreiben. Dies ist, wie sich auch aus anderen Zusammenhängen ersehen läßt, ein vordringliches Anliegen unseres Autors. Unter diesem Aspekt ist nun auch die Spezifizierung der Gebetsaufforderung in V 2a zu sehen. In der Mahnung zum Gebet "für die Könige" wird in einer verallgemeinernden Umschreibung die christliche Gemeinde aufgefordert, für den römischen Kaiser zu beten. Mit dem Plural kann die Allgemeingültigkeit und die bleibende Verpflichtung dieses Gebetsauftrages betont gesehen werden; zugleich wird damit die Gefahr gebannt, daß aufgrund des politischen oder moralischen Vers agens eines einzelnen Herrschers auch die Gebetsverpflichtung als erledigt betrachtet werden könnte. Der Plural zielt stärker auf die Institution. Die Ergänzung "und für alle, die Herrschaft ausüben", bezieht die untergeordneten staatlichen Instanzen mit ein, mit welchen die Christen ganz konkret im täglichen Leben zu tun hatten. Es geht dabei jedoch weder um die Bekehrung dieser übergeordneten Repräsentanten der staatlichen Autorität, noch wird eingeschränkt, das Gebet gelte nur für die bereits gläubig gewordenen Regenten. Die Gebetsverpflichtung ist vielmehr uneingeschränkt und bedingungslos, also universal orientiert 15.
Die positive Einstellung zur staatlichen Autorität bzw. entsprechende Mahnungen zu einem solchen Verhalten finden wir auch in früherer Zeit, etwa bei Paulus in Röm 13,1-7, dann wieder in I Petr 2,13 f, und schließlich v. a. in der Darstellung der Apg, wo die Loyalität der Christen gegenüber der Staatsrnacht eine beherrschende Rolle spielt. Insgesamt steht dahinter eine bereits im frühen Judentum geläufige Tradition, wie sie uns z. B. begegnet in Esra 6, 10; darin wird das Gebet für den persischen Großkönig unter den Pflichten der sich neu etablierenden und konstituierenden Kultgemeinde von Jerusalem genannt: "Sie [die Priester des Jerusalemer Tempels) sollen so dem Gott des Himmels angenehme Opfer darbringen und für das Leben des Königs und seiner Söhne beten." 16 Und christlicherseits liegt ein im Vergleich zu 1 Tim 2,2 schon weitergehender Anspruch in 1 Clem. vor; darin Vgl. dazu außer M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 32f, u. a. N. BRox, Past 124f; R. SCHWARZ, Christentum 11-17; PR. H. TOWNER, GoaI9-17; R. M. KIDD, Wealth 9-34; L. OBERLINNER, Leben; M. REISER, Christentum 33-39. " Vgl. auch N. BRox, Past 123. Dieser "universalistische Ansatz" ist nach J. ROLOFF, 1 Tim 115, auch das Neue im Gegenüber zum Beten der Synagoge. 16 Gebet und Opfer als Zeichen der Loyalität auch 1 Makk 7,33; los., bell. Jud. 11 197; Arist 45. 14
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1 Tim 2,1 - 3,16 wird nicht nur die Mahnung zu Gehorsam gegenüber "unseren Herrschern und Regierenden auf Erden" ausgesprochen (60,4), sondern die Gläubigen werden auch zum Gebet für diese aufgefordert, weil ihre Herrschaft von Gott stammt (vgl. 61, lf)17. Trotz des oben gegebenen Hinweises, daß der V 2 nicht in sich abgeschlossen ausgelegt werden und darum auch nicht ausschließlich das Gebet für die Könige und die Obrigkeit mit der Zielsetzung verknüpft werden darf, die in dem [va-Satz genannt ist, ist doch nicht anzunehmen, daß der Nennung der Könige und Obrigkeiten keine besondere Bedeutung zukäme. Und deshalb erscheint es höchst unwahrscheinlich, daß diese Differenzierung "völlig unreflektiert" in das Gebet gekommen ist 18• Auch wenn zuzugeben ist, daß "Volk und Obrigkeit als Einheit verstanden" werden und deshalb das Gebet für alle Menschen "notwendig" auch das Gebet für Könige und Obrigkeiten mit sich zog 19, ergibt sich von letzterem her zu dem iva-Satz doch ein spezieller Bezug, der weder unbeabsichtigt sein kann noch auch von den Zeitgenossen des Verfassers übersehen werden konnte. Die Christen des ausgehenden ersten Jahrhunderts hatten schon die Erfahrung gemacht, daß ihr Wohl in besonderer Weise vom Wohlwollen der von Rom gelenkten Obrigkeiten abhing. Zwar gilt uneingeschränkt das Urteil von H.-W. Bartseh: "Die theologische Problematik und das theo~ogische Gewicht der Gebetsanweisung liegen für die Pastoralen nicht in der Fürbitte für die Obrigkeit, sondern in der Ausweitung der Fürbitte auf die ganze Menschheit"20; solche theologische Gewichtung schließt aber nicht aus, daß für die Gemeinden der Past die sie in ihrer religiösen Praxis unmittelbar betreffende Anweisung ebenso wichtig war 2l •
In Anbetracht der von Beginn an betonten Zielsetzung, gegen falsche Lehren und Lehrer vorzugehen, läßt sich bereits in den VV 1.2 eine antignostische Spitze sehen 22; solche antignostischen Tendenzen finden wir auch an anderen Stellen in den Past, etwa gleich in den folgenden Versen. Hier sind unterschiedliche Tendenzen seitens der Gnostiker betroffen, so 17 Vgl. dazu A. LINDEMANN, Clemensbriefe 175: "Der Text 1 Clem 61, 1fist die älteste erhaltene Gestalt eines christlichen Gebets für die Machthaber." 1. So aber H.-W. BARTscH, Anf"änge 35 f; vgl. auch N. BRox, Past 123. W. LoCK, Past 25, gibt zu bedenken, daß die Betonung der Gebetsverpflichtung für die Herrscher "vielleicht" damit zu erklären ist, daß die auf jüdischer Seite vorhandenen Tendenzen, sich gegen das römische Imperium zu erheben, auch Eingang in christliche Gemeinden gefunden haben. 19 Vgl. H.-W. BARTscH, Anfänge 34. 2. H.-W. BARTscH, Anfänge 35. 21 Auf dem Hintergrund einer den christlichen Gemeinden nicht unbedingt wohlgesinnten Umwelt ist in der hier geäußerten Einstellung ein "theologisch motivierter Pragmatismus" zu erkennen (so J. MuRPHY - O'CONNOR, Community 1261). Auf die Bedeutung der soziologischen Bedingungen für die christlichen Gemeinden gegen Ende des ersten Jahrhunderts verweist auch F. REFOULE, Sournission 333 f (mit besonderem Bezug auf die mit I Tim vergleichbare Mahnung in 1 Petr 2, 13 f). 22 Vgl. auch N. BRox, Past 125f. J. J. WAINWRIGHT, Eusebeia 215, verweist darauf, daß in 2, 1-4 kein ausdrücklicher Bezug zur Gnosis und einer von ihr propagierten Verachtung der Obrigkeit vorliegt; doch sowohl die Einbindung dieser Anleitungen zum Beten in die Gemeindeleiterparänese als auch der Gesamtkontext der Past mit der bewußten Gegenüberstellung von rechtem Glauben und Falschlehre spricht dafür, daß das hier vorgestellte Ideal (einschließlich des Lebens "in Frömmigkeit") eine polemische, antignostische Spitze hat.
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das Prinzip einer Welt- und Materiefeindlichkeit und die daraus resultierende negative Einstellung zu den bestehenden Ordnungen dieser Welt einerseits, sowie andrerseits der Anspruch einer ausgrenzenden Zuteilung des Heils an eine bestimmte Gruppe, nämlich die Gnostiker, im Gegensatz zu den Psychikern, die als verloren galten. Gegenüber solchen Tendenzen betont unser Verfasser einmal den universalen Heilswillen Gottes und entsprechend auch die Verpflichtung der Christen, für alle Menschen zu beten. Zum anderen gilt es geradezu als Zeichen des rechten Glaubens, die Ordnungen dieser Welt, also auch die politischen Gegebenheiten, als bindend, weil dem Willen Gottes entsprechend anzuerkennen. So ist der Weltverneinung der Gnostiker die positive Aufnahme der Bedingungen des konkreten menschlichen Daseins durch die rechtgläubigen Christen entgegengestellt. Weltbejahung bedeutet aber nicht kritiklose Anpassung und undifferenzierte Gleichförmigkeit. Auch der Verfasser weiß sehr wohl um die Anfeindungen, die von der staatlichen Obrigkeit den Christen drohen können (vgl. 2 Tim 1,8). 3 Mit dem vorangestellten und dadurch betonten 'toO'to wird die Mahnung zum Gebet verknüpft mit den folgenden theologischen und soteriologischen Aussagen. Die W 3-7 geben die Begründung für die Gebetsaufforderung von W 1 f. Das Gebet fij,r alle Menschen ist deshalb vor Gott gut und wohlgefällig, weil es sich mit Gottes Absicht trifft und ihr entspricht, daß alle Menschen gerettet werden 23. Dieser formelhafte Ausdruck KaMv Kai U1t60EK'tOV, der in ähnlicher Form nur noch in 5,4 steht, dort ebenfalls in Verbindung mit "vor Gott" (U1tOOEK'tOV EVcOmov 'toO 81>00), ist vom Verfasser wohl als feststehende Wendung, mit dem "Sitz im Leben" im kultisch-liturgischen Bereich, vorgefunden worden 24. Durch die Einführung an dieser Stelle bekommt die vorausgehende Gebetsanweisung stärkeres Gewicht, und zugleich gibt die Formel dem Bekenntnis zu Gott als "Retter" eine feierlich-liturgisch klingende Einleitung. In der Bezeichnung Gottes als CJcoTf]p wird übergreifend bereits der folgende V 4 angezielt. Es ist aber auch zu erinnern an 1,1, wo die Indienstnahme des Paulus durch "Gott, unseren Retter", betont worden war. Wie Vgl. N. BRox, Past 126. Die Diskussion, ob das V 3 einleitende 'toO'tO auf die Gebetsaufforderung in V 2a zu beziehen ist, wofür etwa J. A. FITZMYER mit der Begründung plädiert, der Bezug auf V 2b würde "eine Banalität" betonen (Biblical Data on the Vene· ration, Intercession, and Invocation of Holy People, in: Tbe One Mediator [s.o. Lit.], 135-147, hier 1451), oder entsprechend dem Vorschlag von J. REUMANN auf V 2b ("If it is banal to say that living a pious life is ,good and acceptable to God our Savior', it is scarcely profound to say that to pray is God·pleasing and acceptable": Ho Do We Inter· pret 154), ist deshalb kaum sinnvoll, weil die den alternativen Vorschlägen zugrundeliegende Aufteilung des Verses gegen die Intention des Verfassers ist. 14 Zu dieser Formel und ihrer unterschiedlichen Zuordnung vgl. H.· W. BARTscH, Anfänge 30-33. Auf die Herkunft aus jüdisch· hellenistischer Tradition verweisen parallele Wendungen etwa in Dtn 12,25.28; 13,18; 21,9; dabei ist der Wechsel von IiPE
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dort schon ausgeführt, handelt es sich um einen in der hellenistischen Literatur verwurzelten Begriff. Er begegnet deshalb auch bevorzugt in den neutestamentlichen Spätschriften, die eine Affinität zur hellenistischen Umwelt zeigen (z. B. Lk 1,47; 2, 11 ; Apg 5,31; 13,23; und bes. 2 Petr I, I1 ; 2,20; 3,2.18); in 2 Petr ist der Titel aber nur bezogen auf Jesus. Für unseren Fall, in der Verwendung für Gott, ist neben diesem geläufigen hellenistischen Sprachgebrauch auch eine andere Wurzel bedeutsam, nämlich die Gottesüberlieferung des AT. Für die alttestamentliche Überlieferung ist die Vorstellung vom "Rettergott" selbstverständlich 25. Auch ohne daß der Titel crro't~p fällt, ist dieses Bekenntnis zum "Rettergott" bzw. zu seinem helfenden Handeln in der Geschichte allgemein und grundsätzlich vorausgesetzt; das Volk wie der einzelne wissen sich getragen von Jahwes Heilswillen. Darüber hinaus ist dann aber auch im AT die Titulierung Gottes als "Retter" belegt. Und damit, daß in LXX das Gottesprädikat crro~p gebraucht ist2 6 , ergab sich für die christliche Theologie, zusätzlich zur grundsätzlichen Gemeinsamkeit des Glaubens an den weItzugewandten Gott, in der jüdischen Glaubenstradition die Möglichkeit einer terminologischen Anknüpfung. Zusammen mit der Abhängigkeit von hellenistischem Denken und Sprechen ist speziell für das Gottesprädikat crro~p in den Past also in jedem Fall das alttestamentlich-jüdische Bekenntnis als unverzichtbarer Kontext in Rechnung zu stellen. Wenn die Past vom Heil reden, dann bildet den Ausgangspunkt das Wort von Gott, dem "Retter". Und diese Titulierung wird im folgenden Vers genauer expliziert. 4 Der Wille Gottes wird bestimmt als universaler Heilswille. In Entsprechung zur Verpflichtung der Christen, für alle Menschen zu beten, wird jetzt gesagt, daß alle Menschen diesem Heilswillen Gottes unterstellt sind 27 • Aus dieser mit Sicherheit bewußt gestalteten Formulierung ist wiederum eine antignostische Akzentuierung herauszuhören; gegenüber dem exklusiven Heilsanspruch der Gnostiker wird Gott als der verkündet, dessen Heilswille keine Grenzen kennt2 8 . Zugleich ist aber darin auch mitenthalten die Feststellung bzw. das Bekenntnis, daß alle Menschen von diesem Heilswillen Gottes abhängig sind. Nur in dieser Verbindung, d. h. unter Voranstellung des Heilswillens Gottes als dem ermöglichenden Grund, kann dann als das Ziel genannt werden, daß die Menschen zur "Erkenntnis der Wahrheit" gelangen. Der Begriff btiyvrocrt~ steht in den 25 VgL A. DEISSLER, Grundbotschaft des Alten Testaments, Freiburg 61978, 82f, der im Zusammenhang mit dem Dekalog vom "Erlösergott" spricht. 26 VgL Ps 23,5 [LXX]: "Dieser [= der Unschuldige] wird Segen vom Herrn empfangen und Erbarmen von Gott, seinem Retter"; les 45,15: "Du bist ja ein verborgener Gott, der Gott, der Retter Israels." 27 Diesen Zusammenhang mit V I betonen etwa TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 89; G. W. KNIGHT, Past 119. 2. VgL N. BROX, Past 126; A. T. HANSON, Past 68; H. MERKEL, Past 25 (" ... eine völlig ungnostische, wahrscheinlich sogar bewußt antignostische Denkweise").
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Past immer in Verbindung mit uA:f]8Eta (2 Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1). Die "Erkenntnis der Wahrheit" hängt ab vom Heilswillen Gottes und ist deshalb ein grundsätzlich allen zugängliches und erreichbares Ziel. Es handelt sich dabei nicht um eine Verschiebung in Richtung auf eine Intellektualisierung des Glaubens 29; in der Erkenntnis ist vielmehr das Moment der Anerkenntnis, d. h. der Aneignung und der praktischen Verwirklichung, mit eingeschlossen. "Erkenntnis der Wahrheit" zeigt sich in der Bereitschaft, ein Leben entsprechend dieser "Wahrheit", d. h. entsprechend dem von Paulus verkündeten Evangelium (vgl. I, 11; 2,7) zu führen und auf die eschatologische Erfüllung voll Zuversicht zu hoffen 30. In dieser Verknüpfung von Erkenntnis der Wahrheit und Anerkennung des Heilswillens Gottes ist gleichwohl auch ein rationales Element mitenthalten. Mit UA:.,SElCl wird ja das bezeichnet, was der fiktiv schreibende Paulus seinen Gemein· den verkündet; es ist die Wahrheit im Sinne der Glaubenswahrheit. Gerade in dieser Wendung "zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" wird die Nähe zum Begriff der "rechten Lehre" deutlich 31. Aus der Hinordnung des Begriffes "Wahrheit" auf die Verkündigung, d. h. auf die rechte Lehre, ergibt sich für die Past auch die Möglichkeit der hier gewählten Zusammenstellung. In den folgenden Versen wird zunächst eine Glaubensformel mit zentralen theologischen und christologischen Bekenntnissen zitiert (VV 5.6); und es folgt dann erneut der Hinweis auf die durch Gott vollzogene Zuordnung der Aufgabe und der Vollmacht der Verkündigung an den Apostel (V 7). Ganz sicher nicht zufällig steht am Ende von V 4 das Stichwort uATj8EUl und gibt so dem folgenden Zitat der VV 5.6 eine besondere Note. Die Erkenntnis der Wahrheit schließt das Bekenntnis zur Glaubensüberlieferung ein. 5 Die d~-Akklamation leitet eine geprägte Wendung ein, in deren Zentrum in soteriologischer Hinsicht das Bekenntnis zur heilsgeschichtlichen Funktion Jesu steht; daß Christus Jesus sich hingegeben hat als "Lösegeld für viele", darauf liegt das Schwergewicht 32. Daß zuerst Gott genannt wird, ist primär bedingt durch die Bindung an vorgegebenes Traditionsmaterial 3) • Dieser Anschluß ist so dann auch vom Textzusammenhang her passend, weil so ein unmittelbarer Übergang von der Aussage über den Heilswillen Gottes in den VV 3.4 gegeben ist. Letztlich entscheidend ist aber, daß die betonte Voranstellung des Bekenntnisses zum "einen Gott" voll und ganz der Intention der Past entspricht, die Christologie ausdrücklich in die Theologie einzubinden. Vgl. u. a. V. HASLER, Past 20; H. MERKEL, Past 25. Vgl. auch schon in I, I die Verbindung von Gott als' "Retter" und Christus Jesus als "unsere Hoffnung". 31 Mit H. HÜBNER, EWNT I 141, der sich dafür auf R. Bultmann beruft. 32 Vgl. auch J. ROLoFF, I Tim 120. 33 P. TRUMMER, Paulustradition 198, schreibt dazu: "Die Verwendung der Glaubensfor· mel in den Past entspringt wohl demselben Prinzip wie bei P(aulus), die theologische Ar· gumentation von den in den Gemeinden bekannten Traditionen her aufzubauen." 29
30
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1 Tim 2,1 - 3,16 Vergleichbare Akklamationen zur Einzigkeit Gottes finden wir auch schon in 1 Kor 8,6 und Eph 4,5f; an diesen beiden Stellen ist jedoch in paralleler Formulierung zum Gottesbekenntnis (im Eph in umgekehrter Reihenfolge) die Stellung Jesu als Kyrios betont. Insofern zeigt die Tim-Stelle schon einen gravierenden Unterschied; die Funktion und Stellung Jesu wird in Zu- und betonter Unterordnung unter das Gottesbekenntnis ausgeprochen. In dieser Gestalt kann eine ursprünglichere, der altestamentlich-jüdischen Tradition (vgl. Dtn 6,4) näher liegende Form gesehen werden. Gott, er allein, ist der Grund des Heils. Jesus ist der Mittler. Darin zeigt sich wiederum die Unterordnung der Christologie unter die Theologie, bzw. positiv gewendet: die Begründung und Verankerung der Christologie in der Theologie.
Umgekehrt betont das Bekenntnis im christologischen Teil, daß der Mittler zwischen Gott und den Menschen ein einziger ist, Christus Jesus. Es ist kein Platz mehr für eine andere Heilbringergestalt. Gott - Jesus Christus - die Menschen: so lautet der Zusammenhang, und nur in dieser Abfolge, in dieser Verknüpfung verwirklicht sich Heil. Der "Christustitel" l-u;cri'tT]<; ist im NT als Hoheitstitel beschränkt auf diese Stelle und drei Belege im Hebr (8,6; 9,15; 12,24), wo Jesus als "Mittler des neuen Bundes" vorgestellt wird; den einzigen Beleg für Illicrh,,<; bei Paulus (GaI3, 19f) können wir übergehen, denn zum einen ist dort Mose als Mittler des Gesetzes genannt, und zum anderen hat Ifficri'tT]<; pejorativen Sinn 34. Anknüpfungsmöglichkeiten für die von den Past bezeugte Bedeutung von I1Ecrh,,<; auf die vermittelnde Funktion zwischen Gott und den Menschen konnte der im hellenistischen Judentum zumindest punktuell bezeugte Gebrauch von I1Ecri'tT]<; für die Bezeichnung der Funktion von Dingen (so etwa von A.6yot Philo, somn. I 142.143) bzw. von Personen (Mose: Philo, Mos. II 166; AssMos 1,14; 3,12) oder dem Engel (TestDan VI, 2) sein". Ganz konkret in der LXX-Form von Ijob 9,32f, wo Ijob Jahwe um einen "Vermittler" bittet, ist nach Meinung von A. T. Hanson die Vorlage für das vorliegende Verständnis von I1Ecri'tT]<; gegeben 36.
Auch mit der Voranstellung von äv8pümoc; vor Christus Jesus ist wieder eine antidoketistische Tendenz verknüpft; als Mensch wurde dieser Jesus Christus zum Mittler des Heils zwischen Gott und den Menschen. Die Vorstellung von der Mittlerschaft Jesu Christi ordnet diesen positiv ein in die Darstellung vom Wirken des einen Gottes; diese Relation ist zu beachten. Es ist nicht ganz unproblematisch, aufgrund der Wiederholung der dc;-Akklamation für Jesus Christus "die gottheitliche Würde stellung des Mittlers" bewiesen zu sehen 37. 34 Vgl. P. TRuMMER, Paulustradition 196. " Zu l.umi'tT]~ vgl. C. SPICQ, Lexique 987-990; D. SÄNGER, EWNT 11 1010-1012. Unter dem Aspekt der späteren christologischen Rezeption: R. BIAG!, Cristo mediatore. ,. A. T. HANS ON, Studies 56-64; vgl. auch H. MERKEL, Past 25. R. C. - C. C. KROEGER sehen in der Betonung des "einen Mittlers" Christus Jesus einen Zusammenhang mit der in der Gnosis (aber auch in anderen religiösen Traditionen, etwa bei der Ephesinischen Artemis) bezeugten Stellung von Frauen als Mittlerinnen zwischen Gottheit und Menschen (I Suffer 70-74). 37 So V. HASLER, Past 22; auch K. WENGST, Formeln 72, spricht davon, daß d~ I1EcriTT)~ "Göttlichkeit" impliziert.
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Mit den christologischen Aussagen ist der "Höhepunkt" des Bekenntnisses erreicht. Es wird darin in thesenhaften und prägnanten Aussagen festgehalten, wie diese "Mittlerschaft" zwischen Gott und den Menschen "christologisch" Wirklichkeit geworden isPB: Die Mittlerschaft Jesu Christi ist gebunden an sein Menschsein ; und auch das Heilshandeln Gottes kann nur von dieser Radikalität der Inkarnation her verstanden werden. V. Hasler ist zu widersprechen, wenn er behauptet, die betonte Voranstellung von av8p(J)1to~ meine "weder die Menschwerdung noch das Menschsein Jesu, weder die Fleischwerdung des Himmlischen noch die Solidarität des Irdischen", im Hintergrund stehe vielmehr "die Offenbarungsvorstellung der griechischen Göttersagen" 39. Die Bestimmung des Christus Jesus als av8p(J)1to~ hat zuerst einmal einen offenbarungsgeschichtlichtheologischen Sinn; das wird durch die Einleitung der Formel mit dem Bekenntnis zu dem "einzigen Gott" und durch die Tatsache, daß die folgenden christologischen Aussagen von dieser theologischen Aussage her gelesen und verstanden werden müssen, zweifelsfrei erwiesen. Die Inkarnation (im av8p(J)1to~ als "Realisierung" des universalen Heilswillens Gottes; vgl. V 4) kann dann in christologischer (d. h. bekenntnishafter) und soteriologischer Begrifflichkeit formuliert werden. Die Einfügung von av8p(J)1to~ hat zugleich und ebenso unverzichtbar aber auch einen Stellenwert in der Formulierung des christologischen Bekenntnisses; denn es bildet die Brücke von dem Verweis auf den "einen Mittler" zu der Aussage von der Selbsthingabe des Christus Jesus in V 6. Dort wird expliziert, wie geschichtlich-konkret sich die Mittlerschaft Jesu Christi verwirklicht hat. 6 Im Unterschied zu V 4 und V 5, wo die Betonung auf dem Retter-Sein Gottes lag, wird jetzt die Stellung Jesu im Heilsgeschehen in den Mittelpunkt gestellt und entfaltet. Allerdings ist auch die Unterordnung Jesu Christi unter das von Gott ausgehende Heilswirken weiterhin gewahrt: als der Mensch, der sein Leben als Lösegeld hingab, bleibt Jesus der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Die Bedeutung des Todes Jesu liegt in der Bekenntnisformulierung darin, daß in ihm der verborgene göttliche Heilswille in einmaliger und unüberbietbarer Weise, zugleich aber als "konkret historisches Ereignis" sich offenbart hat. Der Verfasser zitiert im ersten Versteil eine ursprünglich von der d~-Akklama tion unabhängige, traditionelle Bekenntnisformel. Eine ähnliche Selbsthingabeformel bezeugt auch Mk 10,45 ("Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele"). Zwischen den beiden Formeln besteht gewiß ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang. Im Unterschied zu Mk 10,45 gibt V 6 das Bekenntnis in einer an hellenistischen Sprachgebrauch angenäherten Form wie38 39
N. BROX, Past 128. V. HASLER, Past 22.
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1 Tim 2,1 - 3,16 der 40 ; der Gebrauch des Kompositums Ctv'ti.Äu'tpov (statt des mk A,(l'tpov) ist Verstärkung des zugrundeliegenden Gedankens der Stellvertretung 4 !.
Mit dem Bekenntnis in V 6a, daß Jesus sich "für alle" hingegeben hat als "Lösegeld", wird die Heilsbedeutung des Todes Jesu festgehalten, sein Sterben als umfassendes, sühnendes Geschehen gedeutet. Jedoch, um dies noch einmal zu betonen, diese Selbsthingabeformel ist Explikation des übergeordneten und für die soteriologische Deutung des Todes Jesu unentbehrlichen Heilswillens Gottes. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu liegt darin begründet, daß er den Retterwillen Gottes historisch verbürgt. Etwas hart angeschlossen folgt die Wendung "das Zeugnis zur rechten Zeit". Das Substantiv l1ap'tUPtOV ist hier nicht martyrologisch zu verstehen und auf den Tod Jesu zu beziehen; vielmehr schließt es die Gesamtheit der Aussagen von der konkreten historischen Verwirklichung des Retterwillens Gottes in Jesu Selbsthingabe ab. Die "rechte Zeit" ist wie in 1 Tim 6,15 und Tit 1,3 ein heilsgeschichtlicher Terminus; das Zeugnis ergeht in der von Gott festgesetzten und bestimmten Zeit. Es ist also nicht nur zu denken an das in der Vergangenheit liegende Christusgeschehen, sondern auch und wohl noch stärker an die gegenwärtige Bezeugung in der Verkündigung des "Apostels", seiner Nachfolger und der von diesen geleiteten Gemeinden. Die Gesamtbedeutung dieser abschließenden Wendung "das Zeugnis zur rechten Zeit" ergibt sich dann aus dem folgenden V 7. Da der abschließende V 7 auf diesen Versteil Bezug nimmt (El.~ ö) und ihn auch erst ermöglicht, ist die Schlußwendung von V 6b kaum zur traditionellen Formel zu rechnen, sondern geht auf das Konto des Autors 42. 7 Dieser Vers nimmt in der Formulierung mit dem relativischen Satzanschluß unmittelbar Bezug auf die Abschlußwendung in V 6, ist aber erkennbar darauf ausgerichtet, die gesamte Texteinheit von 2, 1 an unter einem neuen Gesichtspunkt in Erinnerung zu rufen. Dieser Ausklang ist keineswegs "unmotiviert" 43; er entspringt vielmehr dem Anliegen der Aktualisierung und Vergegenwärtigung, das für unseren Verfasser charakteristisch ist. Ein beinahe gleichlautender Hinweis auf die Einsetzung des Apostels als "Verkünd er, Apostel und Lehrer" steht wiederum in 2 Tim 1,11; dort ist er angeschlossen an das Stichwort Euayyt:AtOv. Der Inhalt dieses "Evangeliums" ist auch dort (2 Tim 1,9f) soteriologisch bestimmt; es enthält den Verweis auf Gott als den, "der uns gerettet hat" (... SeaO 'toO O"c.OO"av'to~ i]l1ä~), und die Bezeichnung Christi Jesu als "unser Retter" Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 35; S. LEGASSE, Priere 244. Mit K. KERTELGE, EWNT 11 904, wobei gleichzeitig zu betonen ist, daß vom Wortsinn her zwischen Ä.(l'tpOV und CtV'ti.ÄIl'tpOV kein Unterschied besteht (vgl. C. SPICQ, Lexique 946 Anm. 3; K. WENGST, Formeln 72f). 42 Zum Zusammenhang von j.1ap'tl)pwv mit eöayyt)"wv und K'l]pIlYj.1a in den Past vgl. H. v. LIPS, Glaube 41-44. 43 Gegen F. J. SCHIERSE, Past 41. 40
4!
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( ... 'toO cronfjpor,; TJILö)V XptO"'tOO 'IllcroO). Es ist somit gerechtfertigt, auch an unserer Stelle eine Verknüpfung der Beauftragung des Pseudo-Paulus mit dem Evangelium in der genannten inhaltlichen Prägung anzunehmen. Wie dort ist auch hier der Kontext (in den VV 5 t) von soteriologischen Aussagen geprägt. Das Christusereignis als einmaliges Geschehen der Vergangenheit ist in seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung gegenwärtig in der Verkündigung. Die Gegenwart wird durch die Verkündigung zur Heilszeit. Von Gottes Retterwillen und von der Selbsthingabe Jesu muß jetzt gesprochen werden, davon muß jetzt, hier und heute, Zeugnis abgelegt werden, damit diese Glaubensinhalte auch als Heilsgeschehen wirklich und wirksam werden können. Gerade mit der Selbstbezeichnung "Verkünder, Apostel und Lehrer der Völker" verweist der fiktiv schreibende Paulus die Gemeinden und insbesondere deren leitende Repräsentanten auf die Gegenwart. Da die Aufgaben der Gemeindeleiter in Entsprechung zum dargestellten Wirken des Apostels zu sehen sind, wird die Verkündigung des Evangeliums auch als ihr Auftrag festgemacht. Dieses Evangelium schließt als zentralen Inhalt ein den universalen Retterwillen Gottes und dessen Verwirklichung in der Selbsthingabe Jesu, Eingeschoben ist eine schwurähnliche Versicherung: "ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht". Vielleicht greift der Verfasser hier ganz bewußt auf eine paulinische Formulierung zurück, nämlich Röm 9, I, um dadurch den "paulinischen" Charakter der Anweisungen zu unterstreichen 44. Die abschließende Verstärkung "in Glauben und Wahrheit" muß aus dem vorangehenden Kontext erklärt werden. Der seinen Sendungsauftrag entfaltende "Paulus" ist als der Heidenmissionar beauftragt mit der Verkündigung dessen, was er gerade als zentralen Inhalt des christlichen Glaubens genannt hat, den universalen Retterwillens Gottes. fiicrnr,; nimmt also zusammenfassend den Inhalt des Bekenntnisses noch einmal auf; und auch U/..:l]8EtU ist von V 4 her zu erklären als bewußte Betonung dieser zentralen Glaubensinhalte 45 • Paulus wird vorgestellt als der Heidenapostel, der die Glaubenstradition bewahrt hat und sie zum eschatologischen Heil der Gläubigen weiterverkündet 46 • III Auch in diesem Abschnitt finden wir wieder, vergleichbar mit 1,12-17, wo das Stichwort mit dem Stamm mcr't- prägend war, die Verwendung eines Begriffes, nämlich des Adjektivs nar,;htUv'tEr,;, welches den Text durchgängig bestimmt und prägt, und zwar immer bezogen auf die Menschen: l)Jttp
Der in einigen Hss bezeugte Einschub tv XptO"1:c'[l ist eine nachträgliche Ergänzung, eine noch weiter gehende Anpassung an Röm 9, I. 4S Zur Einbindung von V 7 in den Kontext der soteriologischen Aussagen ausführlich M. WOLTER, Pastoralbriefe 77-82. 46 Vgl. auch H. MARS HALL, Faith 215: "An intellectual element may be present in 1 Tim 2,7 where ,faith and truth' perhaps means ,the truth that is to be believed'." 44
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nuVtffiV UV8POl1tffiV (V 1); nuvtw; uv8pol1tou<; (V 4); OnEp nUVtffiV (V 6)47. Den Ausgangspunkt und zugleich die Mitte bildet die Aussage über den universalen Heilswillen Gottes (V 4). Dieser ganz auf das Heil der Menschen ausgerichtete Wille Gottes wird wirklich und wirkmächtig in der Inkarnation im "Menschen Christus Jesus". Die Deutung des Todes Jesu als "allen" zugute kommendes Sühnegeschehen ist damit auch eine Aussage über das Handeln Gottes. Doch jetzt gilt auch umgekehrt: Über den Heilswillen und das Heilshandeln Gottes, über Gott als unseren und aller Menschen Retter, läßt sich nur sprechen, wenn über die Mittlerschaft des Menschen Jesus Christus in seiner "für alle" wirksam gewordenen Lebenshingabe gesprochen wird. Für die Menschen, die sich zu Gott als Retter "aller Menschen" und zu Jesus Christus, der sich "für alle" hingegeben hat, bekennen, ergibt sich als Verpflichtung, ,,für alle Menschen" zu beten 48. Daß letztere Anweisung in unserem Text an erster Stelle steht, erklärt sich aus der bereits genannten Betonung der Gegenwart als Heilszeit und der daraus für den Apostelschüler und dessen Nachfolger in der Gemeindeleitung resultierenden Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, daß die christliche Gemeinde durch ihr "alle Menschen" einschließendes Gebet auch die Möglichkeit zur Verwirklichung eines aus dem christlichen Glauben geprägten Lebens schafft. Zwei Zielsetzungen waren bei der Gestaltung des Textes für den Autor maßgeblich. Zum einen wird eine Grenze gezogen zu gnostischen und doketistischen Tendenzen, die sich sowohl in der Christologie und Soteriologie als auch in der Ekklesiologie verhängnisvoll auswirken mußten. Mit der Betonung des uneingeschränkten, universalen Heilswillens Gottes und der ebenso universal gültigen Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu bezieht der Verfasser eindeutig Stellung gegen den Anspruch, der von unter gnostischem Einfluß stehenden Mitgliedern christlicher Gemeinden erhoben wurde, daß nur über die "Erkenntnis" der Weg zum Heil führt, was faktisch die Ausgrenzung bestimmter Personen vom Heil zur Konsequenz hatte und zugleich auch den soteriologischen Charakter der Lebenshingabe Jesu einschränkte bzw. letztlich leugnen mußte. Zugleich ist in dieser massiven Betonung der Universalität der christlichen Heilsbotschaft ein paränetisches Interesse unverkennbar: Bei aller Polemik gegen Irrlehrer und Häretiker darf die Gemeinde der Christusgläubigen nicht die ihr aufgegebene Verantwortung für das Heil aller Menschen vergessen. Dieser zweite Gesichtspunkt führt uns noch einmal zurück zu der oben schon gestellten Frage: Will der Verfasser mit dieser Betonung der Universalität der Gebetsverpflichtung auch ein Gegengewicht gegen seine schroffe
Vgl. auch C. SPICQ, Past 364. Dazu paßt die Selbstvorstellung des Pseudo-Paulus als "Lehrer der Völker", d. h. aller; vgl. F. SCHNIDER - W. STENGER, Studien 179. 4. Vgl. dazu S. LEGASSE, Priere 242-246. "Si tel est le but de l'acte redempteur que I'humanite entil~re soit arrachee ä la perdition et reconciliee avec Dieu, la priere ä son intention ne peut avoir d'autre finalite que celle-Iä, designee du nom global de ,salut''' (245). 47
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Ketzerpolemik schaffen, wie sie etwa im letzten Vers des ersten Kap. begegnete? Dort war ja ein völlig anderes Verhalten vorgestellt worden: Leute, die des Abfalls vom Glauben beschuldigt wurden, waren von "Paulus" - und darin sollte er für die Gemeindeleiter verpflichtendes Vorbild sein - dem Satan übergeben, d. h. aus der Gemeinde ausgeschlossen worden. Und Angesichts dieser scharfen Polemik konnte bei den Lesern durchaus die Frage auftauchen, ob es auf diese Weise nicht auch zu einer unterschiedlichen Bewertung der Heilsaussichten der Christen kommen mußte, die doch gerade als Besonderheit der Irrlehrer bekämpft werden sollte. Es erscheint notwendig, unseren Abschnitt auch von dieser Problemstellung her zu interpretieren. Trotz der als notwendig erachteten scharfen Maßnahmen gegen Irrlehrer und bei aller Anerkennung des Selbstbewußtseins der in der apostolischen Tradition und damit im rechten Glauben gefestigten Gemeinde war vor der Gefahr zu warnen, daß die angesprochenen Christen die Verantwortung für das Heil aller Menschen aus dem Auge verlieren könnten. Das käme dann ebenfalls einer Verfälschung des umfassenden Heilswillens Gottes gleich. Der Verfasser mußte also auch einem falschen Selbstbewußtsein vorbauen, welches zu der Überzeugung führen konnte, daß aus der Gegenüberstellung von rechtem Glauben und Irrlehre, von " Recht" -Gläubigen und solchen, die in ihrem Glauben gescheitert waren, ein exklusiver Heilsanspruch für die zu folgern wäre, die sich zur rechtgläubigen Gemeinde zählten. Möglicherweise ist die in 1,20 am Schluß genannte Zielsetzung bei der Bestrafung der Irrlehrer, "damit sie durch Züchtigung belehrt werden, nicht zu lästern", auch schon in diese Richtung zu deuten, daß in dem Fall des Gemeindeausschlusses für die Gemeinde(leiter) die Verantwortung für die Betroffenen bestehen bleibt. Die Verpflichtung der Christen wird aber nicht nur grundsätzlich und zeitunabhängig "definiert", sondern auch auf die geschichtlich-konkreten Bedingungen hinge ordnet. Ihr Auftrag erstreckt sich auf ihre Umwelt, die vorgestellt wird in den entscheidenden politischen Gestalten und Institutionen. Da die Verantwortung der Christen, entsprechend dem universalen Heilswillen Gottes und dessen Offenbarung in Jesus Christus, uneingegrenzt Gültigkeit hat, kann für sie ein Rückzug aus der Welt nicht in Frage kommen. Verstärkt wird das Moment der Verantwortlichkeit der Gemeinde und insbesondere ihrer Leiter durch den abschließenden Hinweis auf die Sendung des Paulus zu den "Völkern" (V 7). Auf diesem Hintergrund ist abschließend noch einmal kurz anzusprechen die für unser Verständnis u.U. anstößige, weil gesonderte und damit betonte Nennung der Könige und hohen Beamten als derjenigen, für die die Christen beten sollen. Damit verbunden könnte die angeschlossene Begründung, "damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit", verstanden werden als doch recht kurzsichtige und spießige Anbiederung der christlichen Gemeinde an die politischen Machthaber 49. Dazu seien einige Gesichtspunkte genannt, die 49
Vgl. dazu auch F. J.
SCHIERSE,
Past 41.
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für das heutige Verständnis und die Bewertung dieses Textes beachtenswert sein könnten 50. 1. Die Mahnung zum Gebet für die weltliche Obrigkeit ist nicht isoliert zu sehen, sondern sie ist zu interpretieren auf der Grundlage der hier gewählten Zu- und Nachordnung im Zusammenhang der Ermahnung der christlichen Gemeinden, für alle Menschen zu beten. Letzteres, der Gedanke der universalen Gebetsverpflichtung, macht das besondere Anliegen der Past aus. Es läßt sich also aus dem Text nicht der Aufruf zu unterwürfigem Verhalten gegenüber der weltlichen Obrigkeit herauslesen. Mit der vorliegenden Formulierung der Gebetsanweisung wird allerdings auch deren Auftrag und Rang im Rahmen der konkreten staatlichen Organisation anerkannt 51 und damit ihre Wichtigkeit für die Christen betont. Der mitschwingende Unterton der Kritik an einer theologisch begründeten Distanz gegenüber dieser Welt und ihren Bedingungen seitens christlicher Gemeindemitglieder sei als möglicher Gedanke des Verfassers in Erinnerung gerufen. 2. Eine besondere Gefahr liegt wohl darin, daß bei der Interpretation und Beurteilung dieses Textes mit der scheinbaren Ergebenheitsadresse kirchlicher Leitung an die staatlichen Organe heutige Probleme in den Text eingetragen werden, daß also die Auslegung ein Verständnis kritisiert, welches in besonderer Weise bedingt ist durch ein entsprechendes Vorverständnis. Die Kritik an diesem Text gerät sehr schnell unter den Einfluß der Wirkungsgeschichte und steht dann unter dem Eindruck gegenwärtiger, der Neuzeit zuzurechnender Probleme der Verhältnisbestimmung staatlich-weltlicher Autoritäten und kirchlich-theologischen Anspruchs. 3. In diesen Zusammenhang gehört das häufig zitierte Schlagwort vom "Ideal christlicher Bürgerlichkeit", welches in einem solchen Text als "Perspektive christlichen Denkens" seinen Niederschlag gefunden haben soll 52. Die in dieser Bezeichnung mitschwingende Kritik darf jedoch nicht die damalige Situation der Kirche außer acht lassen, die gekennzeichnet ist durch eine relative Isoliertheit der christlichen Gemeinden. Die staatliche Autorität steht der Kirche gegenüber, sie steht noch nicht auf der Seite bzw. im Dienst der Kirche. Die "christliche Bürgerlichkeit" der Past ist immer noch die, die sich in der heidnischen Umwelt zu bewähren hat, nicht aber die, die auf eine staatlich garantierte christliche Lebensordnung sich verlassen darf. Die Verantwortung der Christen wird hier zudem soteriologisch begründet (V 4), auch im Blick auf die staatlichen Autoritäten 53. '0 Vgl. dazu besonders H.-W. BARTscH, Anfange 34-36. Vgl. auch M. REISER, Christentum 36: " ... gerade weil die Christen den geforderten Kaiserkult als mit ihrem Gewissen unvereinbar im allgemeinen verweigerten, mußten sie ihre Loyalität und EocrEßEta der rechtmäßigen Obrigkeit gegenüber durch ihr Gebet für sie beweisen." '2 M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 32f; N. BROx, Past 124f. 53 In seinem Beitrag "Theologische Kritik der ,bürgerlichen Weltanschauung'" (Conc SI
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4. Es besteht die Gefahr, daß das angesprochene Ziel eines "ruhigen und ungestörten Lebens" besonders leicht und leichtfertig als Merkmal einer kleinbürgerlichen und spießerhaften Christlichkeit betrachtet wird, und zwar aus der gesicherten Position einer neuzeitlichen, politisch und sozial abgesicherten und in ihrem Bestand gesetzlich garantierten Kirchlichkeit. Hier ist dann wieder zu fragen, ob mit dem Begriff der "christlichen Bürgerlichkeit" nicht doch ein modernes, in dieser Zeit der Abfassung der Past noch gar nicht vorhandenes Problem in den Text eingetragen wird. Das Wissen um gegenwärtige Probleme und damit verbunden das Gefühl eigener Unzulänglichkeiten wird abgewälzt durch die Kritik am Kirchenverständnis der Past; an ihnen bzw. am Verfasser wird dann das kritisiert, was die eigene Situation kennzeichnet - was einerseits kritisiert, andererseits aber um keinen Preis aufgegeben werden soll, nämlich die staatlich garantierte Sicherheit. 5. Auch die Kritik an der Zielsetzung eines "ruhigen und friedvollen Lebens in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" muß sich der Frage stellen, ob dabei nicht aus der selbstverständlich vorausgesetzten und akzeptierten Situation eines eben solchen, staatlich garantierten ruhigen und geruhsamen Daseins unkritische Überheblichkeit spricht. Man muß zumindest wohl auch noch eines bedenken: Mancher Christ in anderen Ländern dieser Erde denkt sicher bei dieser Bitte auch heute noch nicht an kleinbürgerliche Idylle! 6. "Es würde für die gegenwärtige Problematik von Nutzen sein, wenn die Weite und Uneingeschränktheit des Auftrags, unter dem sich die frühe Christenheit versteht, ernst genommen wird, und man umgekehrt zu fragen beginnt, ob sich daran durch die veränderten Umstände etwas geändert hat." 54
15 [1979]315-319) nennt D. SCHELLONG angesichts der "Symbiose von Profit einerseits, Staat und dessen zugehörigen Institutionen samt der dazu gehörigen Moral andererseits und christlichem Glauben als Dritten im Bunde", von der "Theologie als Kritik der ,bürgerlichen Weltanschauung"', sie müsse "von dem biblischen Gott so reden, daß deutlich wird: Dieser Gott hat mit dem allem nichts zu tun, jedenfalls ist er nicht zur Stütze menschlicher Organisationen da. Denn Christus ist nicht als Diener unseres bürgerlichen Lebens gekommen, und das Reich Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, ist nicht von dieser Welt" (317). Blicken wir von dieser Forderung aus auf die Past, so ist die Differenz zu dem zitierten Anspruch an die christliche Gemeinde nicht zu übersehen. Der Autor der Past konnte sich diesen Standpunkt (noch?) nicht leisten; zum einen aus politisch-sozialen Gründen, da die christliche Gemeinde sich darum mühen mußte, ihren Ort in der Gesellschaft der damaligen Zeit zu klären - für das eigene Selbstverständnis und gegenüber den Außenstehenden (was immer wieder deutlich wird); zum anderen aber aus theologischen Gründen, denn der Verfasser vertritt den Standpunkt, daß Gott mit allen und deshalb auch mit allem zu tun hat, was die menschliche Wirklichkeit ausmacht und daß zwar das Reich Christi "nicht von dieser Welt" ist, daß aber die Kirche "eine Institution in der Welt und für die Welt" ist (vgl. dazu L. OBERLINNER, Anpassung 94- \0 I). 54 H.-W. BARTscH, Anfänge 36.
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I Tim 2,1 - 3,16 LITERATUR: J. ALONSO DiAz, La salvaci6n universal a partir de la exegesis de I Tm 2,4: CuBi 28 (1971) 350-361; R. BLAGI, Cristo mediatore: SacDoc 27 (1982) 488-511; S. BLANCO, Un Dios y un mediador. Nota exegetica a I Tim 2,5: EphMar 39 (1989) 287-292; S. U:GASSE, La priere pour les chefs d'etat: antecedents judaiques et temoins chretiens du premier siecle: NT29 (1987) 236-253; J. MuRPHY - O'CONNOR, Community and Apostolate: BiTod 67 (1973) 1260-66; L. OBERLINNER, "Ein ruhiges und ungestörtes Leben führen". Ein Ideal für christliche Gemeinden?: BiKi 46 (1991) 98-106; J. QurNN, Jesus as Savior and Only Mediator (I Tim 2 : 3-6). Linguistic Paradigms of AccuIturation: J.-D. Barthi:lemy u. a., Fede e cuItura aHa luce deHa Bibbia. Atti della Sessione plenaria 1979 della Pontificia Commissione Biblica (Turin 1981) 249-260; F. REFOULE, Sournission et liberte: VS 690 (1990) 331-342; J. REUMANN, How Do We Interpet 1 Timothy 2: 1-5 (and Related Passages)?: Tbe One Mediator, the Saints, and Mary. Lutherans and Catholics in Dialogue VIII (hrsg. v. H. G. Anderson u. a.) (Minneapolis 1992) 149-157; J. TuRMEL, Histoire de l'interpretation de I Tim 11, 4: RHLR 5 (1900) 385-415.
b) Das rechte Verhalten von Mann und Frau im Gottesdienst (2,8-15)
Ich will also, daß die Männer an jedem Ort beten, indem sie heilige Hände emporheben, ohne Zorn und Zweifel. 9 Ebenso sollen die Frauen in ehrbarer Haltung, mit Sittsamkeit und Zurückhaltung sich schmükken, nicht mit Haargeflechten und Gold(schmuck) oder Perlen oder kostbarer Kleidung, 10 sondern, wie es sich für Frauen ziemt, die sich zur Gottesfurcht bekennen, durch gute Werke. 11 Eine Frau soll in Schweigen lernen, in vollständiger Unterordnung. 12 Zu lehren aber gestatte ich einer Frau nicht, auch nicht, über den Mann sich zu erheben; sie soll vielmehr in Stillschweigen sich verhalten. 13 Adam nämlich wurde als erster geschaffen, dann Eva, 14 und Adam wurde.nicht verführt, sondern die Fr(lU ließ sich verführen und geriet (dadurch) in Übertretung. 15 Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären, wenn sie (alle) verharren in Glaube und Liebe und Heiligung mit Besonnenheit.
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I
Nach der theologisch-heilsgeschichtlich begründeten und christologischsoteriologisch untermauerten Aufforderung zum Beten in den VV 1-7 folgen nun konkrete Anordnungen zum Verhalten beim Gebet bzw. beim Gottesdienst. Im Abschnitt 2,1-7 war der Blick auf die (im universalen Heilswillen Gottes und in der entsprechenden Verantwortung der Christen begründete) Gemeinschaft aller Menschen gerichtet (vgl. die Nennung der ii9vr] V7); jetzt gilt das Interesse dem Verhalten der Gemeindemitglieder. Während die Mahnung an die Männer (V 8) noch kurz gehalten ist und nur die Art und Weise des Betens beschreibt, wird in der entsprechenden (V 9 cOcru(ncoc;;) Anordnung an die Frauen (VV 9 f) schon Kritik an Details von Kleidung und Auftreten eingeflochten. Es folgen weitere Anordnungen an die Frauen, mit welchen ihre begrenzte Mitwirkung in der Gemeinde beschrieben und die damit verbundene Zurückstufung im Vergleich zum Mann noch schöpfungstheologisch begründet wird 82
I Tim 2,8-15
(VV 11-15). Die Unausgewogenheit der auf Männer und Frauen verteilten Verhaltensvorschriften ist damit zu erklären, daß zusammen mit den Anordnungen, die das Verhalten bei den Zusammenkünften zur eucharistischen Feier betreffen, auch das tägliche Leben der Frauen in den christlichen Gemeinden im Blick des Autors steht '. Die Tatsache, daß die beiden Bereiche, die Stellung der Frau in der Gemeinde sowie im öffentlichen und privaten Leben, nicht streng gegeneinander abgegrenzt werden können, entspricht der Konzeption der Pastl. Sowohl in der Form der Aufteilung der Mahnungen an Männer und Frauen als auch in der Festschreibung der Rolle der Frauen im Verhältnis zu den Männern einerseits und zur Institution der Gemeinde andererseits liegt Abhängigkeit von traditionellen Formen der Beschreibung von Verhaltensnormen, wie sie in der Umwelt der frühen christlichen Gemeinden geläufig waren, vor. Die v. a. in älterer Literatur gebräuchliche Einordnung des Abschnittes 2,8-15 unter die "Haustafe1n"J wird in neueren Arbeiten in Frage gestellt, weil die aus der antiken Oikonomik, der "Lehre vom Haus", übernommene Bestimmung der wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Personengruppen im Haus, nämlich Mann-Frau, Vater-Kinder, Herr-Sklaven, in dieser Form nur für Ko13, 18 - 4, 1 und Eph 5,21 - 6,9 zutrifft 4. Da aber das Bild vom "Haus" und die damit verknüpften Vorstellung von der stabilen Ordnung der darin herrschenden Beziehungen ein wichtiges Element der Past ist, sowohl in bezug auf den verantwortlichen Gemeindeleiter (vgl. 3,5; 3, 12; auch Tit 1,6) als auch für das Gemeinde- und Kirchenverständnis (vgl. 1 Tim 3, 15), ist doch ein Zusammenhang mit dem in Kol (und in Abhängigkeit davon in Eph) verarbeiteten "paränetischen Schema" anzunehmen 5, allerdings in einer durch die aktuellen Probleme der Gemeinden bedingten Transformation und Aktualisierung vorhandener paränetischer Traditionen 6. Da für die Past
Dazu M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 36; N. BROX, Past 130. Vgl. auch H. v. LIPS, Glaube 141. 3 Vgl. bes. K. WEIDINGER, der I Tim 2,8-15 u. a. zusammen mit Kol 3,18 - 4, I; Eph 5,21 - 6,9 und I Petr 2, 13 - 3,7 unter die "urchristlichen Haustafeln" zählt (Haustafeln 50-73). 4 Vgl. P. FIEDLER, Art. Haustafel, bes. 1069f. Zur Diskussion u. a. K. THRAEDE, Ärger 115-120; D. LÜHRMANN, Haustafeln; F. LAUB, Begegnung 20-31.83-89; K. MÜLLER, Haustafel; G. STRECKER, Haustafeln 349-359; außerdem D. L. BALCH, Wives 1-10; M. GIELEN, Tradition, bes. 3-6; F.-R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle 181-196. 5 Vgl. H. v. LIPS, Haustafel; v. Lips führt den Nachweis einer "gemeinsamen Tradition" allerdings für I Petr und Tit: "Obwohl der Topos HaustaJel zum festen Element der Paränese geworden ist, tritt er nicht in gleichbleibendJester Form auf. KoI-Eph einerseits und I Petr-Tit andererseits stellen unterschiedliche Ausprägungen dar" (276; 272-276). , "Elemente der urchristlichen Haustafeltradition erscheinen in den Pastoralbriefen in Gemeindetafeln transformiert" (H.-J. KLAUCK, Hausgemeinde 67 Anm. 126; vgl. DERS., Art. Haustafel, in: NBL 11 58). Mit einer "alIererst in der ,Haustafel' des Kolosserbriefes greifbare(n) Entwicklung, deren Schlußphase die ,Ständetafeln' zZ. der Pastoralbriefe darstellen", rechnet K. THRAEDE, Hintergrund 365; und J. E. CROUCH, Origin 144; vgl. 139-145, vermutet wie schon für 1 Kor auch für die Haustafel der Past, daß sie eine Re1
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die Bedeutung christlichen Glaubens und Lebens sich in der Wirkung auf die Nicht-Gläubigen (vgl. 3,7; 5,14; 6,1; Tit 2,5.8.10)' erweist, spricht nichts dagegen, daß sich der Paulus der Past in der Vorstellung seines Idealbildes einer christlichen Frau am "Ideal der schlichten, tugendhaften, in der Stille von Haus und Familie wirkenden Frau" orientiert, welches sowohl der hellenistisch-römischen als auch der jüdischen Vorstellung entspricht 8 • Der Autor greift traditionelle Topoi der Unterweisung auch aus dem Bereich der Haustafeln auf und ordnet sie entsprechend den Erfordernissen der Gemeinden seiner Zeit und mit unterschiedlicher Akzentuierung in die "Briefe" ein 9. Die Verhaltensregeln erscheinen als eine über den für die Gemeinde verantwortlichen Apostelschüler und -nachfolger vermittelte Gemeindeanweisung des Paulus. Mit der größeren Ausführlichkeit der die Frauen betreffenden Bestimmungen ergibt sich sodann eine deutliche Gewichtsverlagerung von der Gesamtgemeinde auf diese Gruppe. Diese Akzentverlagerung wird bereits in V 9 bei der Gebetsanweisung für die Fr~uen vorbereitet. Durch den Anschluß mit clJcrau'tc!)~ wird die Erwartung einer in Entsprechung zu V 8 formulierten Anweisung für das Beten geweckt. Die erwartete Parallelität wird jedoch gestört durch die Infinitivform KOcr!!Etv tau't6.~. Wenn man, im Anschluß an einen Vorschlag von H.-W. Bartsch, für die An: weisung VV 9 f eine "kultische Regel" als Ursprung annimmt und den Infinitiv Kocr~etv tau'td~ als Zusatz durch den Autor der Past herausnimmt, dann ergibt sich ein unmittelbarer Bezug aller Attribute in den VV 9.10 auf den Inf. npocreuxecr8m. Die Ablehnung des Schmuckes für die Frauen betrifft also in der den Past vorliegenden Formel zuerst die Situation der gottesdienstlichen Versammlung; "das Stehen vor dem Angesicht Gottes macht das Tragen des Schmuckes unmöglich" 10. Von dieser kultisch bestimmten Ablehnung des Schmuckes ausgehend, wurde dann das Verbot an die Frauen, sich zu schmücken, ausgedehnt auf das ganze Leben, und gleichzeitig bildete sich "das allegorische Verständnis der guten Werke als des dem Christen angemessenen Schmucks" heraus 11.
Ähnliches würde dann auch gelten für die folgende Anweisung zum Lehren: "Aus dem Verbot des religiösen Lehrens, der Predigt, ist das generelle Verbot einer Belehrung durch die Frau geworden." 12 Dabei muß allerdings noch offenbleiben, ob die Past hier ein schon in christlichen Gemeinden anerkanntes und praktiziertes Lehrverbot für Frauen aufgreiaktion auf pneumatische Exzesse darstellen, die die Stabilität der paulinischen Gemeinden gefährdeten. 7 Vgl. dazu etwa S. H. GRITZ, Pau1106. 8 Vgl. J. ROLoFF, l.Tim 127. Belege dazu bei K. THRAEDE, Ärger 71-93. Vgl. aber auch unten Anm. 45. , Vgl. dazu auch L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 176-183; Donelson nennt dafür die drei Funktionen der Apologetik, der Polemik und der Unterweisung, und er betont die Bedeutung der Verpflichtung auf diese traditionellen Verhaltensnormen für die Selbstdarstellung der Gemeinden in der Gesellschaft. 10 H.-W. BARTSCH, Anfänge 63. Die dem Verfasser vorliegende Regel läßt sich nach Bartsch "hypothetisch formulieren": clJcra.6'tc!)~ ßo6,,-o~t npocr&Uxecr8at 't~ yuvatKa.~ EV Ka'taO"'to"-lI KOcr~tCjl ... (67 f). 11 H.-W. BARTSCH, Anfänge 63. 12 H.-W. BARTSCH, Anfänge 64.
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fen, oder ob sie eventuell, aus außerchristlichen Überlieferungen schöpfend, aus aktuellem Anlaß dieses Lehrverbot aufnehmen, auf die Frauen in den christlichen Gemeinden anwenden und dann auch noch ins Grundsätzliche ausweiten. In dieselbe Richtung einer Verallgemeinerung der Anweisungen an die Frauen verweisen schließlich die VV 13-15, in denen wiederum unterschiedliche Traditionen miteinander verknüpft sind. Dabei ist festzuhalten, daß mit V 13 "der Zusammenhang gottesdienstlicher Regeln eindeutig verlassen" ist 13. Von besonderer Bedeutung wird für eine sachgerechte und der Intention der Past entsprechende Interpretation unseres Abschnittes die Beantwortung der Frage sein, inwieweit sich der zeitgeschichtliche Kontext bzw. die Gemeindeverhältnisse bestimmen lassen, die zu diesen Anweisungen geführt haben. 11 8 Mit der erneuten Betonung des Anspruches des "Paulus" in der Einführung der Weisungen mit ßOUAOJ.LUt (vgl. das "Ich" des Apostels in 1,18 und 2, I) wird die Verbindlichkeit der nachfolgenden Anordnungen unterstrichen. Das "ich will" steht nicht bloß als Bezeichnung eines Wunsches, sondern diese Einführung hat imperativische Bedeutung; der fiktiv schreibende Paulus gebietet ein bestimmtes Verhalten. Deshalb ist ßOUAOJ.Lat wie in 5,14 zu verstehen in Parallelität zum "autoritativen" nupuKuAW von V 2, 1 14 • Das Gebet der Männer soll sich auszeichnen durch die "heiligen Hände". Das Erheben der Hände ist der typische Gebetsgestus sowohl für die in der alttestamentlich-jüdischen Tradition stehenden Gläubigen (vgl. Ps 134,2: "Erhebt eure Hände zum Heiligtum, und preist den Herrn") wie auch für die hellenistische Welt 15 und das frühe Christentum (vgl. 1 Clem. 29,1: "Wir wollen hintreten vor ihn in geheiligter Seele, indem wir heilige und reine Hände erheben zu ihm ... "). Mit dem Hinweis auf die "erhobenen heiligen Hände" wird die äußere Gebetshaltung als Zeichen der inneren Haltung des Menschen, mit der er vor Gott hintritt, eingefordert. Das Adjektiv öcrtOC; hat hier wohl nicht mehr die eingegrenzte Bedeutung von "kultisch rein" (im Sinne der kultischen Reinheitsvorschriften der pharisäischen Gesetzesinterpretation, die etwa Mk 7, 1-5 dokumentiert). AllerH.-W. BARTscH, Anfänge 70. Mit H.-W. BARTscH, Anfänge 47. Daß ßOUAOIlUl hier "imperativen Klang" hat (vgl. H. J. RITZ, EWNT I 542), ist unbestritten (vgl. dazu auch die Belege für den Gebrauch von ßOUAOIlUl "mit dem Bezug auf ein von anderen gefordertes Verhalten ... in Edikten aus der Umwelt des Neuen Testaments" bei M. WOLTER, Pastoralbriefe 173f Anm. 60); da die alles entscheidende Autorität in diesem in Briefform an den Mitarbeiter und Nachfolger konzipierten Schreiben das "Ich" des Apostels ist, ist es kaum möglich, ßouAOIlUl als die "gegenüber nupuKuA(j) stärkere Wendung" (so J. ROLoFF, I Tim 130 Anm. 103) zu interpretieren. 15 Vgl. mit Belegen W. FAUTH, KP2, 708-710; C. SPICQ, Past 372f. 13
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dings ist es nicht unproblematisch, beim Begriff "heilig" den ursprünglichen Bezug auf "kultische Reinheit" durch den Anspruch der "sittlichen Reinheit" zu ersetzen. Die Deutung auf "die sittliche Bewährung des betenden Mannes" 16 kann sich zwar auf die nachfolgende Explizierung ("ohne Zorn und Zweifel") stützen, steht aber in der Gefahr einer einseitig anthropologisch-ethischen Interpretation. Mit dem Verweis auf die "Heiligkeit" ist im Rahmen dieser Gebetsmahnung unmittelbar Bezug genommen auf Gott, dem der Betende mit dem Erheben seiner Hände sich zuwendet. Das Erheben der Hände zum Gebet hat der Heiligkeit Gottes zu entsprechen. Die sittliche Bewährung ist Inhalt der angeschlossenen Bestimmungen: Beten ist unvereinhar mit "Zorn und Streit" bzw. "Zweifel". Aus der Zusammenstellung mit 6pYTJ wird für OtUAoytcrll0C; die negative Bedeutung im Sinn von "Zweifel" bzw. "Streit" nahegelegt. Es ist also OtUAoytcrll0C; trotz der Grundbedeutung" Überlegung" hier in einem negativen Sinn zu verstehen. Allerdings sind die beiden möglichen Übersetzungen "Zweifel" und "Streit" keineswegs gleichgerichtet; mit den beiden Übersetzungsvarianten verbinden sich unterschiedliche Akzentuierungen. Deutet man OtUAoytcrll0C; von 6PYTJ her, dann ist mit "Streit" ein Begriff gewählt, der das Verhalten des betenden Mannes Sinn im zwischenmenschlichen Bereich anspricht. N. Brox, der sich für diese Übersetzung mit "Streit" entscheidet, findet die darin ausgesprochene Anweisung "denkbar einfach: Der Mann soll sich zum Gebet von Zorn und Streit, von Hader und Auseinandersetzungen frei machen" 17. Obgleich diese Übersetzung von OtaAoytcrll0C; aufgrund der Zusammenstellung mit 6PYTJ passend erscheint, trifft die Übersetzung mit "Zweifel" ein Grundanliegen der Past weit besser. Beachtet man den vorangegangenen Kontext - und die Konjunktion oov berechtigt nicht nur dazu, sondern verlangt es geradezu -, dann muß die Mahnung zum rechten Beten im Zusammenhang und auf der Grundlage der voranstehend genannten Glaubensinhalte gesehen werden. Rechtes Beten, d. h. gläubiges Beten, wie es der Paulus der Past fordert, kann nur dort gelingen, wo es auf der Grundlage der vom Apostel ins Gedächtnis gerufenen" Wahrheit" erfolgt. Die Betonung der" Wahrheit" der Verkündigung vom universalen Retterwillen Gottes und der Selbsthingabe Jesu Christi als "Lösegeld für alle" (vgl. VV 4.6) läßt bei dem Begriff OtUAoytcrll0C; an eben diese Glaubensgrundlage denken. Rechtes Beten verlangt das radikale Vertrauen auf die Wahrheit und Zuverlässigkeit des zitierten Bekenntnisses zu Gott als dem Retter und zu seinem Mittler Christus Jesus.
16 V. HASLER, Past 24; vgl. auch P. DORNIER, Past 54 ("sittliche Reinheit"); TH. D. LEAH. P. GRIFFIN, Past 95. Umfassender ist die Deutung bei H. BALZ, EWNT 11 1312: " ... auf die Lebensführung und die gesamte Haltung übertragen". 17 N. BRox, Past 130. So auch schon H.-W. BARTscH, Anfänge 47, und wieder J. ROLoFF, I Tim l3lf.
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1 Tim 2,8-15 , "Ohne. Zorn" sollen die Christen beten, also ohne Vorbehalt gegen den Nächsten, gegen irgend jemanden, ist doch der Heilswille Gottes universal 18 ; und "ohne Zweifel" sollen sie beten, also ohne Vorbehalt gegen das von der Kirche überlieferte Glaubensgut, welches ebenfalls das Bekenntnis zur Universalität des Heilshandelns Gottes betont (vgl. V 7),
Einer Erklärung bedarf noch die - nach M. Dibelius - H. Conzelmann "in unserem Vers etwas unmotivierte" 19 - Bestimmung tv navtt 't6n
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I Tim 2, I - 3,16 nung" gegeben worden ist, erfolgt jetzt - und dieses ,jetzt" ist durchaus wörtlich zu beziehen auf die Situation der Past - eine Rückübertragung auf den nicht-kultischen Bereich; der private und der öffentliche Lebensbereich der christlichen Frauen werden einbezogen in diese "Ordnung", die durch die Verknüpfung mit dem Gottesdienst noch in ganz besonderer Weise begründet und legitimiert erscheinen konnte. Der erste Sitz im Leben ist somit (christlich gesehen) der Kult; der zweite Sitz im Leben ist die Paränese.
Wenn wir die schon angesprochene Frage wieder aufgreifen, warum die Anweisungen für die Frauen die an die Männer gerichteten so unverhältnismäßig übersteigen und warum sie im Unterschied zur Gebetsanweisung für die Männer einen so massiv restriktiven Charakter haben, so ist auch die Antwort darauf zu teilen: in eine Erklärung für die besondere Regelung für den Gottesdienst und in eine Erklärung für die weitreichende Ausgestaltung und Vertiefung der Anweisungen zur Stellung der Frau im grundsätzlichen Sinn. Auf diese Fragen ist am Schluß in der Zusammenfassung noch einmal einzugehen. Hier sei schon darauf verwiesen, daß offensichtlich zwei Aspekte für die christliche Tradition des ausgehenden ersten Jahrhunderts im Blick auf das Urteil zur Stellung der Frau in den Gemeinden Berücksichtigung finden mußten: (I) Es ist auf der einen Seite der Versuch, eine durch den Glauben an das Wirken Gottes in Jesus Christus grundgelegte und im Leben der Gemeinden in Gang gekommene Entwicklung, die eine Neubestimmung der Beziehung der Geschlechter auf der Basis des Glaubens als möglich, wenn nicht gar als unumgänglich erscheinen ließ, zumindest einzuschränken. Eine Konsequenz des Christusbekenntnisses war, daß das Selbstverständnis der Glaubenden als "neue Schöpfung" (2 Kor 5, 17) alte Strukturen gesellschaftlicher und religiöser Art radikal in Frage gestellt hatte (vgl. GaI3,28)". Gewissermaßen selbstverständliche, ja notwendige Konsequenz des christlichen Glaubens war daher von Anfang an die Mitwirkung der Frauen in der gottesdienstlichen Versammlung und in der missionarischen Tätigkeit 26 • Aus dem Zeugnis der Past (vgl. 2 Tim 3,6-9) und insbesondere aus der umfangreichen apologetischen Literatur frühchristlicher Theologen ist aber zu erkennen, daß Frauen auch in Verbindung mit dem allmählich wachsenden Einfluß gnostischer Strömungen in christlichen Gemeinden größere Bedeutung gewannen 27. Das hatte zur Konsequenz, daß die Beteiligung der Frauen am Gemeindeleben als Kennzei-
2' Zu Gal 3,28 - nach E. SCHILLEBEECKX "eine Art frühchristlicher Freiheitscharta" (Christliche Identität und kirchliches Amt. Plädoyer für den Menschen in der Kirche, Düsseldorf 1985, 52) - und der ekklesiologischen Bedeutung dieses Verses u. a. E. SCHÜSSLER FIORENZA, Anfänge 70-73 ("Getaufte Frauen und Männer sind nicht mehr durch ihre geschlechtlichen und sozialen Familienrollen bestimmt, sondern durch ihre ,Neuschöpfung' im Geist"); G. DAUTZENBERG, Stellung 214-221 ("In ethischen Zusammenhängen werden Fragen der gesellschaftlichen Rangordnung immer wieder mit der Erörterung der Unterschiede zwischen Männern, Frauen, Sklaven und Kindern verbunden. Von daher erklärt sich, daß in Gal3,28 mit der Aufhebung der alten Gegensätze zugleich die Aufwertung der bisher Unterlegenen proklamiert wird"); B. WITHERINGTON, Women 76-78; S. H. GRlTZ, PauI82-84. Vgl. dazu die Belege bei A. WEISER, Rolle, bes. 167-179; außerdem G. FITZER, Weib 14-34; W.-H. OLLROG, Paulus 25 f. 27 Vgl. N. BRox, Past 132.
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I Tim 2,8-15 chen gnostischen Denkens und damit als Zeichen des Abfalls vom rechten Glauben angesehen werden konnte. So war nun unversehens die von frühester Zeit an selbstverständliche, weil im christlichen Glauben grundgelegte Mitwirkung von Frauen in Mission, Verkündigung und Gemeindeverwaltung zu einem Problem geworden, da sie als Zeichen mangelnder Rechtgläubigkeit beurteilt wurde und als Kennzeichen der Irrlehre galt. Diese Zuordnung hatte eine fatale Konsequenz: Die Einschränkung der Rechte von Frauen in den verantwortlichen Tätigkeiten in der Gemeinde konnte, ja mußte jetzt als Kennzeichen rechtgläubigen Verhaltens angesehen werden. Was für den Gottesdienst Geltung hatte, wurde dann verallgemeinernd auf das ganze Leben übertragen, auf die Stellung der Frau sowohl in der Familie als auch in der Öffentlichkeit. Den grundsätzlichen Charakter der Anweisungen macht unser Autor zusätzlich dadurch deutlich, daß er im Zusammenhang der Anweisungen an die Frauen in V 9 das npocrEuXEcrOat von V 8 nicht wiederholt. (2) Ein zweiter Aspekt ist genau gegenläufig. Die in den Past vorgenommene Einschränkung der Wirkungs möglichkeiten der Frauen in der christlichen Gemeinde durfte nicht unbegrenzt sein; denn es mußte in jedem Fall vermieden werden, daß die Gemeinden bzw. ihre Repräsentanten, in Parallelität zu doketistischgnostischen Tendenzen, in den Verdacht einer Materie- und Leibfeindlichkeit und damit auch unter den Vorwurf von Frauenfeindlichkeit gerieten. In den eindeutig restriktiven Forderungen ist das Interesse des Verfassers dahingehend ausgerichtet, im Rahmen der ihm vorgegebenen Probleme in der Auseinandersetzung um den rechten Glauben - wodurch seine Möglichkeiten bedeutend eingeschränkt und bestimmte Notwendigkeiten bereits vorgegeben sind - eine Neuorientierung der Rolle der Frau im Gemeinde1eben vorzunehmen. Dabei wird der Bereich der kultischen Funktion allerdings überstiegen hin auf die gesamtgesellschaftliche Stellung.
Der geschichtliche Kontext ist bei den hier formulierten Anweisungen für die Frauen immer zu berücksichtigen, sowohl was ihre geschichtliche Würdigung betrifft, als auch was die wirkungsgeschichtlichen Möglichkeiten und Grenzen angeht. Die ehrbare Haltung wird mit zwei Begriffen umschrieben, die auch in der hellenistischen Umwelt u. a. das Ideal einer tugendhaften Frau kennzeichnen, nämlich "Sittsamkeit" (aiüw,,;) und "Zurückhaltung" (crffi
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1 Tim 2,1 - 3,16 Diese christlicherseits übernommene Frauenparänese hat aber auch einen ganz aktuellen Bezug, nämlich die sozialen Unterschiede in den Gemeinden und die daraus erwachsenen Spannungen 30. In den christlichen Gemeinden waren nicht nur die ärmeren Schichten der Bevölkerung vertreten; v. a. durch den Übergang der christlichen Verkündigung vom engeren Bereich Palästinas in den hellenistischen Bereich, also "von der ländlich strukturierten Welt Palästinas in die städtisch-hellenistische Kultur des Mittelmeerraumes", kam es zu einer stärkeren Öffnung für sozial höhere Schichten 31. Und das hatte auch zur Folge, daß Frauen, die in der hel1enistischen Stadtbevölkerung "wirtschaftlich, gesellschaftlich und religiös zum Teil eine beachtliche Selbständigkeit besaßen", in den christlichen Gemeinden entsprechend ihrem Können und ihrem Stand zunehmend Einfluß gewannen 32. Gebildete und wohlhabende Frauen, etwa auch Witwen (vgl. 5,12-16!), hatten in Gemeinden sicherlich nicht unbedeutenden Einfluß, der nicht auf die materielle Versorgung der christlichen Missionare beschränkt werden darf". Mit dieser Entwicklung und der dadurch gegebenen Einflußnahme wohlhabender Kreise in den Gemeinden wuchs allerdings auch das soziale Konfliktpotential. Spannungen waren nicht zu vermeiden - wie schon die Probleme in der korinthischen Gemeinde mit dem Mißverhältnis zwischen Besitzenden (Gesättigten) und Nicht-Besitzenden (Il" EXOV'tE<;) und deshalb Hungrigen zeigen (vgl. I Kor 11, 17-22). Diese Spannungen mußten besonders dann aufbrechen, wenn die sozialen Unterschiede nach außen hin, in auffälliger Kleidung und teurem Schmuck, deutlich gemacht wurden.
Was der Autor hier verlangt, ist nicht ein grundsätzlicher Verzicht auf Besitz und Reichtum, sondern ein Verhalten, das bestimmt und getragen wird von gegenseitiger Rücksicht. Natürlich hat eine solche Mahnung zuerst und in besonderer Weise Bedeutung für die gottesdienstliche Versammlung. Dieser Rahmen wird aber gesprengt, was v. a. der folgende V 10 deutlich macht 34 • Daß der Autor nur von Frauen spricht, liegt in seiner Zielsetzung, mit dem Hinweis auf solche Gefahren die in den folgenden Versen geforderten Einschränkungen der Mitwirkung von Frauen in verantwortlichen Tätigkeiten in den Gemeinden vorzubereiten. Vgl. dazu V. HASLER, Past 24. Vgl. G. THEISSEN, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde: Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19) (Tübingen 1979) 231-271, hier 268. 32 Vgl. A. WEISER, Rolle 166; Weiser nennt dort (Anm. 16) aus Apgund Briefen namentlich 7 Frauen, die s. E. zu den" wirtschaftlich wohlhabenden und sozial höher stehenden Frauen" zu rechnen sind. " Vgl. dazu auch K. THRAEDE, Art. Frau 229-232; DERS., Ärger 94-102. "Die charismatisch geordnete paulinische Gemeinde kennt ... in Mission und Gottesdienst keine Diskriminierung von Frauen ... Die vom Apostel anerkannten Gemeindeverhältnisse, in denen zwischen praktischer und geistlicher Fürsorge nicht unterschieden wird und Hierarchien noch fehlen, setzen für Männer und Frauen, je nach geistigen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, gleiche kirchliche Rechte voraus" (Ärger 101). 34 V. HASLER, Past 24, will dagegen einzig eine eng eingegrenzte Auslegung zulassen: "Die Auslegung gelingt nur, wenn ihre [= der Instruktionen] Aussagen im engeren Zusammenhang einer gottesdienstlichen Regelung belassen und nicht verallgemeinert werden. Dabei sind die veränderten sozialen Verhältnisse und die religiöse Umwelt der griechischen Kirche um die Jahrhundertwende zu berücksichtigen". Letzteres ist sicher zu veranschlagen; doch die Eingrenzung auf den Kult ist wohl unhaltbar. 30 3I
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10 Die innere Haltung muß sich auch nach außen hin zeigen, nämlich in guten Werken. Begründet wird diese Verpflichtung - und von einer Verpflichtung ist mit guten Gründen zu sprechen - nicht spezifisch christlich oder christologisch, sondern mit dem allgemeinen Hinweis auf die Gottesfurcht. Der Gebrauch des Begriffes Ikocreßeta, im NT nur an dieser Stelle, wird deshalb zurückgeführt auf eine schon geläufige Verwendung im hellenistischen Judentum 35. "Gottesfurcht" kommt hier schon in die Nähe des allgemeinen Begriffs "Religiosität" .. Mit diesem Verweis auf die "guten Werke" als Kennzeichen des rechten Glaubens wird ein für die Past wichtiges Stichwort eingeführt (vgl. auch 5,10.25; 6,18; Tit 2,7.14; 3,8.14). Daß von den Werken nicht im paulinischen Sinn gesprochen wird, zeigt sich bereits darin, daß der für den paulinischen Sprachgebrauch zentrale soteriologische Zusammenhang fehlt. Darüber hinaus bleibt in den Past insgesamt nicht nur die Antithese epya (VO!!ou) -nicr'tt~ ausgeblendet, sondern die "guten Werke" werden der nicr1:t~ sogar zugeordnet. Diese zwei Beobachtungen, daß nämlich die Verpflichtung der betroffenen Frauen auf die "Gottesfurcht" noch sehr im allgemeinen verbleibt und daß die "guten Werke" immer wieder genannt und gefordert werden als Ausweis der Frömmigkeit und damit als Kennzeichen eines frommen, dem rechten Glauben verpflichteten Gemeindemitgliedes, lassen eine frauenspezifische Auswertung dieses Verses nicht ohne weiteres zu. Es ist deshalb kaum begründet, hier bereits "ein bestimmtes christliches Frauenbild" 36 postuliert zu sehen. Dieser Vers enthält als von den Frauen verlangtes Verhalten etwas, was für die Past wesentlicher Bestandteil der an alle Gemeindemitglieder gerichteten Erwartungen ist: eine v. a. für die nichtchristliche Umwelt und die Öffentlichkeit sichtbare und erkennbare Umsetzung des Glaubens. In dieser Hinsicht wird von Frauen noch nichts Außergewöhnliches verlangt. Anders sieht es aus bei den folgenden Bestimmungen. 11-12 Den Frauen wird die Unterordnung, das Schweigen und das Lernen verordnet, dem Argumentationsgefälle entsprechend im Rahmen gemeindlicher Aktivitäten, und dies betrifft v. a. den Gottesdienst. 1m ersten Satz (in V 11) ist als Ideal eine Frau vorgestellt, deren Kennzeichen der vollständige Verzicht auf eigenständiges und eigenverantwortliches Handeln ist. Besonders akzentuiert folgt sodann (in V 12a) ein ausdrückliches Lehrverbot für sie. Eigens betont wird schließlich noch eine Anordnung angefügt, welche die Grenzen der gottesdienstlichen Versammlung wieder sprengt und die Beziehung der Geschlechter - in erster Linie ist dabei wohl gedacht an die Ehe, doch das öffentliche Leben ist davon sicher nicht ausgenommen - eiQ.seitig festgelegt durch ein der Frau erteiltes Ver-
35 So kann Philo 8EOcri:ßWl bezeichnen als TIJV Jl.EyicrTT]v 'tiOv apE'tiOv (opif. 154; ähnlich AbT. 114), als "das vollkommene Gut" (congr. 130) und als "das schönste Besitztum" (fug. 150). 36 So J. ROLOFF, I Tim 134. 91
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bot, über den Mann zu "herrschen", "sich über ihn zu erheben". Und noch einmal wird (V 12c) das Schweigen verordnet, das Sich-still-Verhalten. Das bei diesen Anordnungen verwendete Verbum E11t'tPE'JtCü entspricht dem ßOUAOllat von V 8; und dies bedeutet für den Verpflichtungsgrad: "die apostolische Weisung nimmt ihren Fortgang" 37. Bei diesen Aussagen über die Rolle der Frau bzw. über die neue Bestimmung ihrer Stellung ist zuerst die gottesdienstliche Situation deutlich spürbar. Das Verbot des Lehrens erklärt sich auf dem Hintergrund einer Entwicklung, die die Beteiligung der Frau an den gemeindlichen Aktivitäten als fast schon selbstverständlich erscheinen ließ. Diese Bestimmung der Gemeindesituation noch in der Zeit der Past, daß nämlich in der Praxis Frauen an verantwortlichen Stellen stehen, kann sich berufen sowohl auf die bei Paulus bezeugte Entwicklung als auch auf die in der Apg noch greifbare Anerkennung der Mitwirkung von Frauen im Gemeindeleben. Sodann spricht dafür, daß gleich im nächsten Abschnitt, im Rahmen von Anweisungen an die in den Gemeinden verantwortlichen Personen, auch "Frauen" genannt sind, die aus dem Kontext am überzeugendsten als Diakoninnen zu erklären sind (3, 11; vg1.3, 1-13). Und im Zusammenhang der Bestimmungen über die Witwen (5,3 ff) wird uns dasselbe Problem der· Stellung dieser Gruppe von Frauen in der Gemeinde auf dem Hintergrund der ihnen vom Autor verordneten Verhaltensweisen begegnen. Die genau anders gewendete Annahme, der Verfasser reagiere auf Emanzipationsbestrebungen, die die bisherige Unterordnung der Frauen in den christlichen Gemeinden in Frage stellten und die gerade durch die in gnostischen Kreisen vertretene Gleichrangigkeit der Geschlechter ausgelöst worden seien 38, hat die genannten Zeugnisse über die gemeindespezifischen Aktivitäten von Frauen in frühchristlichen Gemeinden gegen sich. Die vom Verfasser geforderte Neuorientierung - Ruhe (= Schweigen), Unterordnung, Verzicht auf das Lehren - bezog sich also ursprünglich auf den Gottesdienst. Eine Übertragung auf andere Bereiche des Lebens, etwa auf die Familie oder das öffentliche Leben, war unmittelbar nicht gegeben. Eine solche Übertragung mußte aber zwangsläufig erfolgen; denn wenn im Bereich einer spezifisch christlich geprägten Situation, nämlich im Rahmen der feierlichen Erinnerung an das universal sühnende Sterben Jesu, die aus diesem Bekenntnis gezogene Konsequenz des "alle seid ihr einer in Christus Jesus" bzw. das aus diesem Bekenntnis resultierende "es gilt nicht mehr männlich und weiblich" (vgl. Gal 3,28), in einer neuen Aussage zumindest relativiert wurde, in einer Aussage, die jetzt gerade den Unterschied der Geschlechter wieder neu betonte, dann mußte dies Konsequenzen für das ganze Leben der Betroffenen haben 39. 37 G. HOLTZ, Past 69.' " So H. MERKEL, Past 27. 3' Vgl. dazu die Frage bei H.-W. BARTSCH; Anfänge 70, "Was sagt die Gemeinde über das Verstehen der eigenen Existenz, wenn sie gottesdienstliche Regeln für das gesamte Verhalten verbindlich macht?", und seine Antwort lautet: Die Gemeinde bekundet damit, "daß sie ihr ganzes Leben als im Angesicht Gottes geführt versteht". "War der Got-
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1 Tim 2,8-15 Es ist noch einmal zu fragen: Wie kommt unser Verfasser zu einer derart einschränkenden Festlegung der Rolle der Frau in der gottesdienstlichen Versammlung? Diese Frage ist insbesondere auf dem Hintergrund des Zeugnisses des Paulus in I Kor 11,5 zu stellen, wo das "prophetische Reden" der Frau, also ihre aktive Mitwirkung in der Gemeindeversammlung, als selbstverständlich vorausgesetzt ist und keinerlei Einschränkungen genannt werden. Doch auch I Kor kennt in 14,34f ein Schweigegebot für Frauen, welches strukturell dem von I Tim 2,11 f gleicht und deshalb traditionsgeschichtlich in Verbindung mit der Tim-Stelle zu sehen ist. Während diese jedoch in die ekklesiologische Gesamtkonzeption der Past mit der exklusiven Betonung der Autorität des Gemeindeleiters, einer entsprechenden Beschränkung aller übrigen Aktivitäten sowie einer damit zusammenhängenden repressiven "Frauenpolitik" bestens zu integrieren ist (wie der Abschnitt über die Witwen 5,3-16, die Polemik gegen Frauen 2 Tim 3,6 f und die erneute Forderung nach Unterordnung der Frauen unter ihre Männer Tit 2, 5 zeigen) 40, stellt sich für I Kor die Frage, wie die unterschiedlichen Aussagen zur Stellung der Frau in Gemeinde und Verkündigung in Kap. 11 und Kap. 14 in Einklang zu bringen sind. Während eine Reihe von Kommentatoren aus jüngerer Zeit diese Verse aus Kap. 14 als späteren (um ca. 100 zu datierenden) Einschub eines auch an anderen Stellen tätig gewordenen Redaktors erklärt 41, muß es nach Meinung vonP. Trummer "schon aus methodischen Überlegungen fraglich bleiben, ob die Lösung wirklich statthaft ist, auf text- bzw. sachkritischem Weg irritierendes Gedankengut aus P(aulus) zu entfernen". Es sei daher "die bessere Lösung, die beiden Texte auf eine literarische Abhängigkeit zurückzuführen, was dann aber auch für P(aulus) die Ursprünglichkeit der Stelle - allerdings als einer lectio difficilior - wahrscheinlich macht" 42. Dazu ist festzustellen: Die Verse I Kor 14,34f sind nicht bloß "irritierend", sie sind widersprüchlich, wenn sie auf dem Hintergrund von I Kor 11 gelesen werden. Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die Spannungen, die sich für Paulus mit einer solchen restriktiven, auf dem Geschlecht gründenden Forderung ergeben, einmal mit Blick auf seine Missionspraxis, zum anderen in bezug auf sein Evangelium, tesdienst ursprüngliche Proklamation des unmittelbar bevorstehenden Kommens Christi (1 Kor. 11,26), so ist er nunmehr exemplarischer Ausdruck für das Existenzverständnis der Gemeinde im Angesicht des stets gegenwärtigen Herrn. Darum gelten für den Gottesdienst die gleichen Regeln wie für das gesamte Leben und umgekehrt". 40 Die Paränese der Past kennt also ein "Frauenproblem" (E. SCHÜSSLER FIORENZA, Anfänge 78). 41 Vgl. C. K. BARRETI, The First Epistle to the Corinthians (BNTC) (London 21971) 330-333 ("may be preferred though the matter is not certain"); H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther (KEK V) (Göttingen 21981) 298 f; H.-J. KLAUCK, I. Korintherbrief (NEB 7) (Würzburg 1984) 104-106; F. LANG, Die Briefe an die Korinther (NTD 7) (Göttingen 1986) 199-201; R. A. HARRISVILLE, 1 Corinthians (Minneapolis 1987) 242-244. Für Interpolation spricht sich auch aus G. SELLIN, Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes: ANRW 11 25.4 (1987) 2940-3044, hier 2984f. 42 P. TRUMMER, Paulustradition 145. Die Frage nach. den literarischen und traditionsgeschichtlichen Beziehungen von I Tim 2,11 f (bzw. 2,11-15) und I Kor 14,34f (bzw. 14,33-36) wird ausführlich diskutiert bei P. TRuMMER, a.a.O. 144-149, und J. ROLOFF, . I Tim 128-130. Unbefriedigend bleibt in jedem Fall die bei H.-M. SCHENKE - K. M. FISCHER, Einteilung I 93f, vorgeschlagene "Lösung" des Problems, daß nämlich die "Widersprüche" zur Frauenfrage in Kap. 11 und Kap. 14 in 1 Kor erklärt werden mit ihrer Zughörigkeit zu zwei ursprünglich selbständigen Briefen des Paulus an die Gemeinde in Korinth).
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I Tim 2, I - 3,16 dem zufolge doch alle durch die Taufe und durch die Gabe des Geistes in gleicher Weise zu Gliedern des Leibes Christi, zu Kindern Gottes geworden sind (vgl. I Kor 12, 12f; Gal 4,6t). Deshalb ist die weithin akzeptierte und etwa von G. Dautzenberg wieder begründete Annahme am überzeugendsten, daß es sich I Kor 14,33-36 um "eine nachpaulinische Interpolation in den ersten KorintherbrieP' handelt 43.
Es hat seit Paulus eine Veränderung in der Rollenverteilung von Mann und Frau im Gottesdienst und im christlichen Leben überhaupt stattgefunden, oder besser: es gibt solche Tendenzen, und für die Gemeinden der Past wird eine derartige Neubestimmung der Beziehungen gefordert. Für diesen Umschwung sind bereits zeitgeschichtliche Gründe als verantwortlich genannt worden. Andere Stellen aus den Past belegen, daß gegen Frauen der Vorwurf erhoben wurde, sie würden sich für die "Irrlehren" als besonders anfällig und empfänglich zeigen (vgl. 2 Tim 3,6 t). Wie immer man solche Aussagen angesichts der eindeutig negativen Bewertung des Verhaltens dieser Frauen einstufen will- es ist dabei ja wieder eine ordentliche Portion Polemik mit im Spiel! -, so ist doch davon auszugehen, daß in den von unseren "Briefen" bekämpften gnostischen Kreisen, die z. T. noch innerhalb der christlichen Gemeinden anzusiedeln sind, die Lehrtätigkeit der Frauen eine durchaus geläufige Praxis war. In gnostischer Sicht war die Verschiedenheit der Geschlechter zumindest in dieser Hinsicht irrelevant. Der von den Past verlangten Beschränkung der innergemeindlichen Aktivitäten der Frauen liegt also eine polemische, antignostische Ausrichtung zugrunde 44 • Es ist auch nicht auszuschließen, daß in dieser Forderung des PseudoPaulus Einfluß der jüdischen Praxis des synagogalen Gottesdienstes mit hereinspielt, wo eine aktive Beteiligung der Frauen im allgemeinen ebenG. DAUTZENBERG, Stellung 193; ausführlich DERS., Prophetie 257-300. Für die Annahme eines nachpaulinischen Eintrages votieren (neben den in Anm. 41 genannten Autoren) auch G. FITZER, Weib 14, der von einem "unüberbrückbare(n) Gegensatz" zwischen 1 Kor 11 und 1 Kor 14,34f spricht, und K. THRAEDE, Ärger 111-114. - Die Möglichkeit einer Rückführung auf Paulus suchen demgegenüber u. a. zu begründen J. E. CROUCH, Origin 133-139; B. WITHERINGTON, Women 90-104; S. H. GRITZ, Paul 88-90. Besonders ausführlich dazu C. S. KEENER, Paul 70-132, allerdings zum einen unter der problematischen Voraussetzung der Authentizität von I Tim (101), zum anderen mit der nicht überzeugenden vereinheitlichenden Interpretation der Schweigegebote, Paulus wende sich jeweils an "ungebildete Frauen", die entweder (I Kor 14) "den Gottesdienst mit Fragen zu Nebensächlichkeiten störten" (70), oder welchen (wie in I Tim 2) das Lehren zwar untersagt werde, aber nicht deshalb, weil sie Frauen sind, sondern weil ihnen zum Lehren die Befähigung fehle (120). Letzteres ist sicher eine verharmlosende Sicht nicht nur der schroffen Formulierung des Autors, sondern auch der zugrundeliegenden Bedingungen des Gemeindelebens. 44 Mit Verweis auf diesen Abschnitt aus I Tim und insbesondere spätere Texte aus den antignostischen Stellungnahmen der Theologen des 2. und 3. Jahrhunderts begründet K. RUDOLPH, Gnosis 291-293; auch 229f; 277f, sein Urteil, daß die "praktisch-kultische Gleichstellung der Frau" in gnostischen Kreisen relativ weit gediehen gewesen zu sein scheint; gleichzeitig gibt es in den gnostisch beeinflußten anthropologischen und soteriologischen Konzeptionen eine "greifbare Verteufelung des Weiblichen und die Verwerfung der Ehe". 43
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falls nicht vorgesehen war 45 • Dieser Einfluß käme aber in der Zeit des Übergangs zum zweiten Jahrhundert, als die Trennung von der Synagoge weitgehend vollzogen war, allenfalls als bestärkendes Element in Frage. Von den folgenden VV 13-15 her, in welchen eine schöpfungstheologische Begründung für das Verhalten der Frau bzw. besser", für ihre Einstufung gegeben wird und wo eindeutig alttestamentlich-jüdische Traditionen aufgenommen sind, ließe sich freilich ein solcher Einfluß durchaus begründen. Es wird mit einer Reihe von Begriffen die Inferiorität der Frau gegenüber dem Mann zum Ausdruck gebracht: Kennzeichen ihres Verhaltens muß sein die i]cruxiu; durch die Verknüpfung mit I1Uv8av€LV ist ihre Funktion im Gottesdienst eingeschränkt auf das Schweigen und das Hören. In V 12 wird dies noch einmal ausgesagt und zugleich verstärkt und ins Grundsätzliche gewendet durch die Verbindung mit der Unterordnung unter den Mann. Was der Frau untersagt wird, das wird geradezu zum Kennzeichen des Mannes und seiner Stellung. Aus der Gegenüberstellung wird deutlich: Der Frau steht das I1Uv8av€LV zu, dem Mann das ÖtÖacrK€LV. Die Bedeutung der einzelnen Begriffe in V 11 wird bestimmt von der ekklesiologischen Gesamtkonzeption der Past. Und der Rahmen des Gemeinde- und Kirchenverständnisses ist von Anfang an die dem "Timo., Die häufig gegebene Erklärung, die in den Past vertretene Festlegung der Rolle der Frau in der Gemeinde sei ein "Rückzug auf die traditionelle jüdische Position" (so etwa J. E. CROUCH, Origin 141), setzt solche Einheitlichkeit in der faktischen Unterordnung der Frauen in den jüdischen Gemeinden in einer umfassenden Weise voraus. Zwar ist nach den Zeugnissen das Urteil zu rechtfertigen, daß die Rechte der jüdischen Frauen im Gottesdienst im allgemeinen "außerordentlich beschränkt" waren (so K. THRAEDE, Art. Frau 226); doch durch die unterschiedlichen sozialen und politischen Bedingungen in den außerpalästinischen Gemeinden, insbesondere in den Großstädten mit dominierender hellenistischer Bevölkerung und Kultur, kam es gewiß auch zu unterschiedlichen Entwicklungen bezüglich der Stellung der Frauen. Anhand von jüdischen Inschriften kommt P. R. TREBILCO zu dem Ergebnis, daß wenigstens in einigen jüdischen Gemeinden Kleinasiens Frauen in den Synagogen ungewöhnlich einflußreiche Stellungen innehatten (Jewish Communities in Asia Minor (MSSNTS 69) (Cambridge 1991) 126; vgl. 104-126. Ähnlich auch schon B. J. BRooTEN, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues (BJSt 36) (Chico 1982) ebenfalls mit dem Ergebnis: "This collection ofinscriptions should challenge historians ofreligion to question the prevailing view of Judaism in the Greco-Roman period as a religion all forms ofwhich apriori excluded women from leadership roles" [149]). Unter diesen Bedingungen wäre zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß christliche Gemeinden bei der (etwa vO,n Paulus bezeugten) Beteiligung von Frauen in Verkündigung und Gemeindeleitung sich an vergleichbaren Strukturen und Verhältnissen in jüdischen Gemeinden der Diaspora orientieren konnten; oder daß zumindest nicht notwendigerweise ein Gegensatz zwischen jüdischen und christlichen Gemeinden in dieser Frage bestanden hat. An die Feststellung, daß sowohl in frühchristlichen als auch in jüdischen Gemeinden Frauen in führenden Positionen bezeugt sind, schließt B. J. BRoOTEN einerseits die Frage an: "How can one compare these women and their respective positions within their communities ?", und zum anderen verweist sie auf die Notwendigkeit einer vergleichenden Studie zur Stellung der Frauen im antiken Judentum und im frühen Christentum (Jewish Women's History in the Roman Period: A Task for Christian Theology: HTR 79 [1986]22-30, hier 251).
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theus" übertragene Aufgabe, gegen "falsche Lehrer" vorzugehen (1,3). Wie "Paulus" seinen Schüler und Nachfolger mit dem Anspruch auf Gehorsam in seine Aufgaben einweist, so hat dann auch dieser über deren Durchsetzung mit apostolischer Vollmacht zu wachen. Die in V 11 formulierten Bestimmungen zur Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft sind somit auch von dieser dem Gemeindeleiter übertragenen exklusiven Stellung her zu interpretieren 46. Die durch die Einleitung mit OOK E1tt't:Pf:7tCO in V 12 eigens betonte Wiederholung dessen, was der Frau untersagt wird 47, macht deutlich, daß für die Past die Klärung dieses Themas ein zentrales Anliegen war. Von daher ist auch eine Beantwortung der umstrittenen Frage nach der Übersetzung des Hapaxlegomenon U09SV'tECO möglich. Die geläufige und z. T. ausdrücklich betonte Übersetzung "herrschen"48 wird durch die Miteinbeziehung von außerbiblischen Belegen für U09SV'tECO (mit den beiden Bedeutungen "ein Verbrechen begehen" und "Vollmacht haben")49 und stammverwandter Wörter in dieser negativen Bedeutung in Frage gestellt. Und in Verbindung mit der Bezugnahme auf die biblische Urgeschichte in den VV 13.14 wird U09SV'tEtv bisweilen so interpretiert, daß Paulus (zumeist gilt dann der Apostel als Autor) davor warnen wolle, daß sich aufgrund eines falschen Verständnisses der Rolle der Frau das damalige "Geschehen" in der Gegenwart, in der Gemeinde in Ephesus, wiederholen könnte so. Demgegenüber ist das gesamtkirchliche Problem, das mit der Stellung von Frauen in leitenden Positionen sich ergab, stärker zu gewichten. •• Die restriktive ekklesiologische Grundkonzeption wird bei der von S. H. GRITZ, Paul 128-130, vorgeschlagenen positiven Interpretation der Anweisungen von V 11 - die Frau soll lernen "dürfen" (wie der Mann), und zwar in einer Situation der Ruhe und Offenheit für das zu Lernende (tv 1')allX~) und in Gehorsam gegenüber dem, was die Leiter der Versammlung verkünden (tv l'l1to1:aYlO - ebensowenig beachtet wie die sowohl in den folgenden VV 13-15 als auch an anderen Stellen erkennbaren Versuche, die Bedeutung von Frauen in den Gemeinden zurückzudrängen und ihren Einfluß zu beschneiden. 47 Vgl. dazu E. SCHLARB, Lehre 276 mit Anm. 3: "Das OI'lK tm1:pE1tro korrespondiert mit dem ßOUWj.LCll in V 8." •• So u. Il. G. FrrzER, Weib 37 mit Anm. 101; H. v. LlPs, Glaube 136 mit Anm. 179; B. WlTHERINGTON, Women 121 f; E. SCHLARB, Lehre 277 Anm. 8. •• Vgl. LIDDELL - SCOTT - JONES, Lexicon, s. v. aI'l8EV'tEro. 'Q Vgl. etwa die ausführliche Begründung bei R. C. - C. C. KROEGER, I Suffer 84--113; die Aussage des V 12 wolle Frauen davon abhalten, die Autorität des Ursprungs ("the power of origin") für sich in Anspruch zu nehmen (113); der Vers lasse sich folgendermaßen wiedergeben: "I do not permit woman to teach nor to represent herself as originator of man ..." (103). Und A. C. PERRIMAN läßt Paulus bei dem Satz 01'l6i: al'l8eV'telv a.v6p6~ v. a. an daS denken, "was Eva dem Adam angetan hat". Das Verbum vereinige in dem Bild die beiden zur Zeit des Paulus möglichen Bedeutungen - "ein Verbrechen begehen" und "Einfluß ausüben" (138) - und antizipiere den unheilvollen Einfluß, den Eva nach ihrer Verführung durch die Schlange auf Adam hatte. Da die beiden Kontexte - das Beispiel aus der Schrift und die gegenwärtige Lage in Ephesus - sich überschneiden, beziehe sich al'l8EV'tetv "sowohl auf das, was Eva einst getan hat, als auch auf das, was Frauen jetzt nicht tun sollen" (Eve 1411).
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Aufschlußreich für die Einstellung zur Rolle der Frau ist auch die an sie gerichtete Forderung zu umfassender uno,aYl] 51. Zu beachten ist, daß nicht gesagt wird, wem die Frauen sich unterzuordnen haben. Zwar ist in Analogie zur Haustafeltradition (vgl. Eph 5,22) zuerst an die Männer zu denken. Und doch scheint es zu wenig zu sein, hier einzig "die willige Unterordnung unter das von den Männern Gelehrte" sehen zu wollen 52. Es ist auch nicht zutreffend, daß der Frau nur "die selbstherrlich angemaßte Ausübung des Lehramtes" verboten werde, daß aber nicht betroffen sei das "geistgewirkte Reden der Frau in der gottesdienstlichen Versammlung" 53. Für eine derartige Ausrichtung auf ein Verbot lediglich von Auswüchsen bzw. von Anmaßung gibt der Text selbst nichts her. Und diese Auslegung beachtet auch zu wenig den Kontext, der doch deutlich den Rahmen des Gottesdienstes sprengt. Die Forderung der Unterordnung an die Frauen in der orthodoxen, dem Willen der apostolischen Weisung entsprechenden christlichen Gemeinde ist folglich "prinzipieller gemeint"; sie betrifft "die Ordnung der (christlichen) Gesellschaft überhaupt" 54. Dieser grundsätzlichen Ausrichtung entspricht auch der im folgenden Vers gewagte Versuch einer schöpfungstheologischen Begründung der vorgestellten geschlechtsspezifischen Differenzierung. 13 Aus der Reihenfolge bei der Schöpfung - Adam als erster, dann Eva wird eine Überordnung Adams gefolgert. Zugrunde liegt hier der Gedanke, "daß das früher Erschaffene wertvoller ist als das später Erschaffene" 55. Auf diese Weise bekommt die geforderte Rangfolge im Verhältnis zwischen Mann und Frau eine auch im Bereich christlichen Glaubens kaum mehr zu überbietende Legitimation und zugleich eine schlechterdings unaufhebbare Verpflichtung. "Eine Gleich- oder Überordnung der Frau würde nach dieser Vorstellung folglich einen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung darstellen, denn in der Reihenfolge des Erschaffens tat Gott seinen Willen bezüglich des Verhältnisses zwischen Mann und Frau unmißverständlich kund." 56 Betrachtet man einerseits die vorangehend durch den Einsatz der Autorität des Paulus bereits mit Nachdruck formulierte Forderung, die untergeordnete Stellung der Frau zu beachten, und andererseits den massiven - im nächsten Vers noch weiter untermauerten - Rechtfertigungsversuch durch die Autorität der Schrift, dann läßt sich die These, vom Verfasser der Past werde "die im antiken Denken fest ein-
" J. ROLOFF, 1 Tim 135,' spricht mit Verweis auf die Formulierung 7tUcrTJ (U7to'tuyfj) zu Recht von einer "grundsätzlich und in jeder Hinsicht gebotenen Unterordnung". 52 So G. HOLTZ, Past 69. 53 So V. HASLER, Past 25; ähnlich G. HOLTz, Past 69, der l'JcruX(u mit "Ruhe" wiedergibt und damit der Frau "Aktivität im Gottesdienst" zugestanden sieht. Sie werde lediglich angewiesen, "nicht in Leidenschaft und Aufregung, sondern in Gelassenheit ... Fragen zu stellen, wenn sie Belehrung sucht, und Antwort zu geben, wenn sie gefragt ist". 54 G. DAUTZENBERG, Stellung 194. 55 STRACK-BILLERBECK, Kommentar III 645. 56 N. BRox, Past 135.
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1 Tim 2,1 - 3,16 gewurzelte Unterordnung der Frau unter den Mann" auch hier "unreflektiert übernommen" 57, kaum aufrechterhalten. Die Stellungnahme zur Funktion der Frau in Gemeinde und Gesellschaft ist vielmehr Bestandteil einer von den Past mit Bedacht konzipierten Ekklesiologie, die als Antwort auf eine Krise zu interpretieren ist. Den Hintergrund bilden die aktuellen Probleme in bestimmten christlichen Gemeinden zu Ende des ersten Jahrhunderts. In Hinsicht auf die bestehenden Verhältnisse in der Leitung der Gemeinden bedarf es einer Korrektur: Es ist nicht mehr möglich, die in der ersten Zeit gewachsene Ordnung in den Gemeinden mit den vielfältigen Möglichkeiten und der soteriologisch begründeten Gleichrangigkeit der Frau auch in ekklesiologischer Umsetzung zu akzeptieren und folglich als gute, alte und bewährte Tradition zu bestärken. Der "Apostel" muß korrigierend mit einem autoritativen Entscheid eingreifen. Es wird als notwendig erachtet, in den christlichen Gemeinden bestimmte Entwicklungen, die in den ersten Jahrzehnten der Entfaltung des Glaubens und des Wachsens der Gemeinden geradezu als aus dem Glauben an den universalen Sühnetod Jesu notwendigerweise resultierende Neubestimmung des Zusammenlebens der verschiedenen Menschengruppen und damit als verpflichtend angesehen wurden (vgl. Gal 3,28!), den neuen (bzw. alten!) Bedingungen anzupassen.
Die vorliegende Anweisung, welche Männer und Frauen betrifft, und deren theologische Begründung sind im Vergleich zu Paulus und seinem Gemeindeverständnis als radikale Neuorientierung zu bewerten, die allerdings im wesentlichen nicht auf eigenständigen und freien theologischen Reflexionen basiert, sondern die sich als das mehr oder weniger unvermeidbare, erzwungene Ergebnis innergemeindlicher Entwicklungen und sozialer Zwänge präsentiert. Und es ist neben dem schon genannten Problem, daß solche emanzipatorischen Tendenzen in gnostisch beeinflußten Kreisen praktiziert und gefördert wurden, der aus der Umwelt kommende Druck zur "Angleichung an die zeitgenössischen patriarchalischen Strukturen" zu bedenken 58. Der Einsatz des "Schriftbeweises" läßt deutlich erkennen, daß die darin beschriebene Rangordnung noch nicht bzw. nicht durchgängig die Wirklichkeit der christlichen Gemeinden beschreibt, sondern daß er der Verwirklichung des von "Paulus" gesetzten Zieles dient 59. Der Verweis auf die Schöpfungserzählung - dem Ziel der Argumentation entsprechend natürlich nur dem älteren jahwistischen folgend (Gen 2, 4b-25) ~ hat hier allerdings nicht die Funktion, die vom Verfasser vorgelegte Anweisung zu begründen. Für die Begründung ist vielmehr ausschlaggebend die Autorität des "Paulus", als dessen Anweisung (vgl. V 12: OllK e1U'tpEmo!) die Bestimmung vorgestellt ist; zu deren Untermauerung wird dann aus der
'7 N. BRox, Past 134. ,. Vgl. E. SCHÜSSLER FIORENzA, Rolle 7f; ähnlich R. R. RUETHER, Frau 18f; R. NÜRNBERG, Non decet 64~6; M. Y. MAcDoNALD, Churches 224 ("For those who sought to win the who1e world, accommodation to the standards of the world was to a certain extent inevitable and social respectability was crucial"); PH. H. TOWNER, Goal 210f. 59 Mit R. R. RUETHER, Frau 19. 98
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Schöpfungsgeschichte das Motiv der Reihenfolge der Erschaffung von Mann und Frau herangezogen 60. 14 führt die Argumentation von V 13 insofern weiter, als die aus der Schrift begründete Nachordnung Evas mit einem weiteren Detail aus der Schöpfungstradition untermauert werden soll. Beachtet man diese Funktion der biblischen Belege, dann kann es auch nicht überraschen, daß im Gegensatz zu Gen 3, wo die Verfehlung Adams und Evas erzählt wird, hier einzig und allein an der Verführung Evas Interesse vorhanden ist. Eine Verfehlung des Adam wird sogar ausdrücklich ausgeschlossen 61. Einen Ansatzpunkt für eine Entwicklung, die zur auffälligen Aussage der Past führt, finden wir in Sir 25,24 ("Die erste Sünde kam von einer Frau, ihretwegen müssen wir alle sterben"). Weil die Aussage in dem Vers als bloße Behauptung dasteht, ohne nähere Begründung, ist anzunehmen, daß damit eine damals geläufige und deshalb nicht weiter zu begründende Vorstellung zitiert wird. Mit der "Übertretung" - der Begriff begegnet oft in Verbindung mit dem "Gesetz" - ist, dem Erzählzusammenhang der Gen folgend, die Verfehlung gegen das von Gott erlassene Verbot, von der Frucht des einen Baumes in der Mitte des Gartens zu essen, angesprochen. Und in der passivischen Formulierung von der "Verführung" der Frau (e~anatT]9EIO"a) wird implizit verwiesen auf die Schlange und ihren Beitrag (Gen 3, 1-6). Hinter dem e~ana'tfiv kann auch eine Tradition stehen, die im Anschluß an die Ausdrucksweise von Gen 3, 13 f ("die Schlange hat mich verführt" - ,,0 ö<j)t~ T)nUtT]O"Ev !LE") die Verfehlung der Eva im sexuellen Bereich festgemacht hat. Ein derartiges Verständnis ist bereits inder frühjüdischen Interpretation der Paradiesesgeschichte bezeugt62. Und auch bei Paulus ist in der Art und Weise der Argumentation it12 Kor 11,3 der den Gen-Text übersteigende Einfluß der Rezeptionsgeschichte erkennbar"; diese Auslegung wird später auch von der christlichen Tradition übernommen (z. B. Protoev 13,1).
In Verbindung mit der an anderen Stellen erkennbaren Abwehr gnostischen Einflusses auf die christlichen Gemeinden und auf dem Hintergrund einer in späteren gnostischen Systemen bezeugten Bedeutung der Eva als Offenbarerin und Mittlerin und der dadurch bedingten Höherbe,,1 Tim 2,13 ist eine in einen Satz konzentrierte Zusammenfassung einer haggadisehen Erklärung von Gen 2 zur begründemJen Abstützung der urchristlichen Halacha, dass den Frauen das Lehren verboten sei" M. KücHLER, Schweigen 30; vgl. 21-32. 61 Es sei nebenbei auf ganz andere Traditionen verwiesen, wo gerade die Sünde Adams als Grund für die Heillosigkeit des Menschengeschlechts angegeben wird; vgl. Röm 5, 12ff. .2 Vgl. dazu die Belege bei M. KücHLER, Schweigen 44-50. • 3 Vgl. R. BULTMANN, Der zweite Brief an die Korinther (hrsg. v. E. Dinkler) (Göttingen 1976) 203: "vermutlich schwebt nicht nur Gen 3 vor, sondern auch die rabbinische Legende von der geschlechtlichen Verführung der Eva durch die Schlange". Ähnlich M. KücHLER, Schweigen 40-44; er wertet die Nähe von 1 Tim 2,14 zu 1 Kor 1l,3 als weiteres Argument dafür, "dass auch in 1 Tim 2, 14 die Sinnkomponente der sexuellen Verführung der Eva durch die Schlange mitgegeben ist" (44). 60
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wertung gegenüber Adam 64 werden bisweilen die VV 13.14 als polemische Abwehr derartiger Strömungen interpretiert. Und als ganz aktueller Anlaß für das Verbot der Beteiligung der Frauen an der Verkündigung gilt für 1 Tim z. T. eine Entwicklung in der Gemeinde von Ephesus, daß nämlich ehemalige Anhängerinnen (und Anhänger) des Artemiskultes ihre Vorstellungen und Praktiken mit der Dominanz des "weiblichen Prinzips" in die christlichen Gemeinden einbrachten 65. Derartige Einflüsse lassen sich zwar nicht einfachhin ausschließen. Doch sowohl das Lehrverbot für Frauen als auch die nachgetragene biblische Untermauerung sind - zumal bei der zugrundegelegten Fiktionalität des Absenders (Paulus), des Adressaten (Tirnotheus) und von dessen Wirkort (Ephesus) - ungezwungener zu erklären aus den innergemeindlichen Kontroversen um den rechten Glauben und den damit verbundenen Fragen zur Gemeindestruktur, und einem (im Vergleich dazu wohl weniger gravierenden) Anpassungsdruck von außen her. 15 Vers 15 führt den Gedanken von der Bestimmung der Frau in ähnlicher Einseitigkeit fort. Der Vers darf aber wiederum nur gelesen und interpretiert werden im Gesanitkontext und in der Argumentationsabsicht des Abschnittes 2,8-15. Die ausführliche Darstellung der Bestimmungen zur Rolle der Frau in den christlichen Gemeinden (in den VV 9-14) ist im Vergleich zu den Anweisungen an die Männer (V 8) einseitig von dem Ziel geprägt, deren Einfluß zu beschränken und ihre Wirkmöglichkeiten einzugrenzen (VV 11 f). In dem Rückgriff auf die biblische Schöpfungstradition und ihre Rezeptionsgeschichte zeigt sich das Interesse, die vorgetragenen Entscheidungen zum Verbot der aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung des gemeindlichen Lebens seitens der Frauen theologisch abzusichern. Die Frauen werden damit nicht nur von wichtigen Aktivitäten ausgeschlossen; sie befinden sich beinahe mit Eva auf der Anklagebank. Die letzte Aussage über "die Frau" war, daß sie "in Übertretung" geraten ist; d. h., sie wird der Sünde angeklagt 66 • Im Blick auf diese negative Akzentuierung des Bildes von der Frau bringt der abschließende V 15 eine gewisse Korrektur. Von der vorausgehenden Benutzung der biblischen Schöpfungsgeschichte bzw. deren Rezeption in der frühjüdischen TheoVgl. dazu Beispiele aus den Texten von Nag Hammadi bei K. RUDoLPH, Gnosis 114-118. 65 Vgl. dazu R. C. - C. C. KRoEGER, I Suffer 105-125; S. H. GRITZ, Paul 36-43.136-140; bei letzterer als Entfaltung der These, "daß das an die Frauen gerichtete Verbot, zu lehren und über die Männer Herrschaft auszuüben, wie es 1 Tim 2,9-15 ausgedrückt ist, die Folge einer besonderen Situation in der frühen Kirche in Ephesus war; diese Situation war erschwert durch heidnische Einflüsse vom Glauben und von Praktiken der Verehrung der großen MuttergÖttin Artemis in Ephesus, welche durch falsche Lehrer in die Kirche eingedrungen waren" (2) . .. Die "Reglementierung" der Frau ist nach P. HOFFMANN, Priestertum 51, "mit einer massiven theologischen Diffamierung verbunden: Adam wurde zuerst geschaffen - die Frau hat sich zuerst verführen lassen (l Tim 2,13 t)"; ähnlich urteilte schon G. FITZER, Weib 38. 64
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logie her wäre durchaus denkbar, daß der Verfasser auch die gegenwärtige Situation der Frau negativ charakterisieren würde; die Schöpfungsgeschichte böte ihm dazu insofern einen Anknüpfungspunkt, als die mit Mühsal und Schmerzen verbundene Schwangerschaft und Geburt als andauernde Strafe Gottes benannt werden könnten (vgl. Gen 3,13-16).
Mit V 15 setzt der Verfasser nun aber deutlich einen anderen Akzent. Den Abschluß dieses Abschnittes, der mit der Mahnung an die Männer einsetzt, dann aber ganz und gar auf die Anweisungen für die Frauen konzentriert ist, bildet nicht eine negative Beschreibung von deren Gegenwart oder Zukunft, auch nicht, was durchaus den Erwartungen entsprechen würde, eine Warnung. Am Schluß steht vielmehr, ausschließlich bezogen auf die Frauen, der Ausblick auf "das Heil", "die Rettung". Der Übergang von den Aussagen über Eva zur gegenwärtigen Gemeindesituation erfolgt etwas hart und ist eigentlich erst sichtbar und deutlich vollzogen im zweiten Teil des Verses, wo der Plural einen umfassenderen Bezug signalisiert. Von diesem Plural her ist auch die Bedeutung des singularisch formulierten O"ID8T]O"E'tat zu bestimmen. Das Subjekt im engeren Sinn ist von V 14b her YUvTJ. Dort ist der generische Begriff statt des Namens Eva, den man von V 14a her erwarten würde, vom Verfasser gewählt, damit er in V 15 gleich eine Aussage über die Frau in einem allgemeineren, grundsätzlichen Sinn anschließen kann. Auffällig ist die Verknüpfung von Heilserlangung und "Kindergebären". Es ist sicher zutreffend, daß man 'tEKVoyovia nicht in dem engen Sinn der Wortbedeutung sehen muß, also nicht nur auf das Kindergebären bezogen; gemeint ist damit "die Ehe und das Verheiratetsein als ganzes" 67. Zugunsten dieser umfassenden Bedeutung von 'tEKVoyovia ist zu verweisen auf die durch die Schöpfungs- und Paradiesesgeschichte geprägten Vorstellungen. Was in Gen 3, 16 von Gott zu Eva gesprochen wird, das ist hier unter dem Begriff 'tEKVoyovta zusammengefaßt. Es fehlt aber, worauf schon hingewiesen wurde, die in Gen mit der Verfehlung der Frau begründete Bestimmung ihrer Mutterschaft, die den Charakter der Strafe hat 68. Diese Art der soteriologischen Bestimmung der Ehe kann anstößig wirken. So lautet das Urteil von O. Michel dazu: "Die Formulierung crco9T]cre'tlll oe OUI Til~ 'te1CVoyovia~ ist in einer urchristlichen Schrift fast unerträglich."'9 Und J. Roloff ergänzt zur Interpretation dieses Satzes: "Wäre sein Sinn der, daß das Kindergebä67 N. BROX, Past 136. 6. Dieser Gedanke der Strafe wird von J. ROLOFF, I Tim 141, m. E. für V 15 zu stark gewichtet. Roloff läßt, obwohl im Text selbst dafür keine Anhaltspunkte gegeben sind und der Begriff 'tEKVoyovia durch das betont vorangestellte crcoei)cre'tat schon positive Konnotation erhält, den Vers anknüpfen an das Gen 3,16 vorliegende, mit dem Gedanken des Gebären-Müssens verbundene Moment der Strafe. Der damit verknüpfte Aspekt, daß "diese Strafe(!) eben jenen sexuellen Bereich betrifft, der auch bei der Verführung Evas eine wichtige Rolle gespielt hatte", taucht in diesem V 15 gerade nicht auf. TEKVoyovia wird nicht verbunden mit dem Aspekt der Bestrafung, sondern mit der Inaussichtstellung von Heil . .. In: FS Th. Wurm (1948), zit. bei G. HOLTz, Past 71.
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I Tim 2,1 - 3,16 ren hier als Heilsweg bzw. als Heilsbedingung für die Frau herausgestellt wäre, so wäre er in der Tat in einer urchristlichen Schrift fast unerträglich." 70 Wenn es um die Rettung, um das eschatologische Heil geht, dann könnte man mit gutem Recht eine christologische Begründung erwarten. In eher indirekter, für die Past jedoch typischer Weise wird diese christologische Begründung dann auch noch gegeben in dem angeschlossenen Wenn-Satz. Es werden die Grundtugenden eines christlichen Lebens genannt, welche die Erwartung des Heils begründen. mcr'n~ und ay(t1tl] charakterisieren die Annahme des christlichen Glaubens und zugleich die aktuelle, tätige Verwirklichung.
Die Probleme, die sich aus der Zuordnung der verschiedenen Motive in diesem Vers ergeben 71~ liegen insbesondere in dem Verständnis von crcb1;;Ecr8at und in der Frage, wie mit dieser theologisch zentralen Aussage der Begriff 'tEKVoyovia zu verknüpfen ist. Und entsprechend konzentriert sich die Diskussion auf die Interpretation von V ISa. Letztlich ausschlaggebend ist dabei, ob die beiden Begriffe konkret-innergeschichtlich interpretiert werden, oder ob man ihnen eine geistlich-übertragene Bedeutung zuschreibt. Aus den unterschiedlichen Intetpretationsmöglichkeiten 72 sei hier nur die bereits in der frühen Kirche 73 vertretene und in der Geschichte immer wieder neu begründete Interpretation auf der Grundlage einer Eva-Maria-Typologie genannt. Auf dem Weg über die paraphrasierende Übersetzung von V ISa - ,,,durch die Geburt des Kindes', nämlich des Messias, soll (zunächst) Eva gerettet werden" - kommt N. Baumert zu folgender Interpretation: "Gemeint ist nicht der Geburtsvorgang als menschliche Leistung, sondern das Kind, das geboren wird: der Messias." 74 Gegen diesen Lösungsvorschlag ist insbesondere geltend zu machen, daß auf diese Weise der Argumentationsrahmen des Beweisganges, der ja die Unterordnung der Frau in der christlichen Gemeinde durch einen Blick auf das Geschick und das Verhalten der Eva unterstreichen und untermauern sollte, verlassen wird. Und wenn man V ISa messianologisch verstehen wollte, dann wäre eigens zu begründen, wie dei Schlußsatz V ISb verstanden werden kann als "Anwendung auf die christlichen
J. ROLOFF, 1 Tim 140. A. PADGETI, Women 27, nennt dafür drei Fragen: (I) Was heißt "gerettet werden"? (2) Wie kann dies verknüpft werden mit "Kindergebären? (3) Was hat dies zu tun mit den drei Tugenden Glaube, Liebe und Heiligung? 72 J. ROLOFF, 1 Tim 140f, verweist auf drei Deutungsversuche, S. H. GRITZ diskutiert fünf Interpretationsrichtungen (Pau1 140-144), und A. L. BOWMAN entwickelt ihre eigene Interpretation aus der Vorstellung von sechs Deutungsvarianten (Women 206-212). 73 So bei Iren haer. III 22,4-5; V 19,1; lust dial. 100; Tert cam. 17 (vgl. dazu PR. B. PAYNE, Women 177f). 74 N. BAUMERT, Frau und Mann 224-230; vgl. DERS., Antifeminismus 296-300. Eine solche Deutung auch schon bei G. WOHLENBERG, Past 121; W. LOCK, Past 33, und wieder u. a. bei H. HUNZINGER, Women; G. W. KNIGHT, Past 146f. Diese Deutung wird bei Lock (a. a. 0.) und Hunzinger (a. a. 0.25 f) verknüpft mit der Zuordnung der in 3, la folgenden Bekräftigungsformel zu diesem Vers 2,15. 70
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Frauen" 75. In diesem Fall müßte man auch eine für alle Christen und nicht nur für (die) Frauen gültige "Anwendung" erwarten! Warum schreibt der Verfasser nicht einfach: die Frau wird gerettet werden durch Glaube und Liebe? Für die Miteinbeziehung und die betonte Voranstellung des Kindergebärens als Weg der Heilserlangung ist wiederum der aktuelle Anlaß der Auseinandersetzung um Glaubensfragen zu bedenken. Die gnostischen Häretiker "verbieten die Heirat" (1 Tim 4,3). Der Begriff 'tEKVoyovia ist in diesem Kontext zu sehen und wurde gewiß bewußt gewählt, um die eheliche Gemeinschaft gegenüber solchen gnostischen Tendenzen zu verteidigen und aufzuwerten 76. Aus der Kenntnis der in gnostischen Texten vorgenommenen Einschätzung von Ehe und Zeugung und der Schärfe der Polemik, mit der kirchlicherseits die Notwendigkeit der Ehe betont wird - "was eigentlich nur im Zusammenhang der häufig überscharfen Äußerungen der antignostischen Reaktion vorstellbar ist" -, kommt K. Koschorke zu dem Urteil, daß diese Formulierung O"COST]O"E'tat OE (yuvr'J) ota Tii~ 'tEKVoyovia~ "aus antihäretischer Einstellung" zu erklären ist und daß es sich dabei um einen "für gnostische Ohren schlechthin blasphemischen Satz" handelt 77. Dieser Vers verteidigt aber nicht nur Ehe und Geschlechtlichkeit, sondern bringt sie ganz bewußt und provozierend auch noch in einen direkten Zusammenhang mit dem eschatologischen Heil. Die auf den ersten Blick etwas vordergründig und oberflächlich-naiv anmutende Verknüpfung von "Kindergebären" und "Heilszusage" hat zum Ziel, christliches Leben und eschatologisches Heil nicht als theoretische, abstrakte Größen vorzustellen, sondern sie in den Bedingungen des menschlichen Lebens zu verankern. Hier wird (vergleichbar der Weisung zum Verhalten der Christen zur weltlichen Obrigkeit: 2,2) der Versuch unternommen, zu zeigen, wie menschliche Grundbefindlichkeit und christliches Heil zusammengehören und sich ergänzen. Das Anliegen des Autors läßt sich mit der von N. Brox formulierten These wiedergeben: "Die Dinge dieser Welt, die Ordnungen der Schöpfung haben unmittelbar mit dem Heil zu tun." 78 Genau betrachtet ist diese direkte Verknüpfung von Kindergebären und zu-
75 N. BAuMERT, Frau und Mann 230. 7. Zu dieser antignostischen Zielsetzung in der Verkniipfung von "Kindergebären" und eschatologischer Heilszuversicht u. a. K. NIEDERWIMMER, Askese 208-210; R. C. C. C. KROEGER, I Suffer 171-177; S. H. GRITZ, Paul143f(möglicherweise zusätzlich gegen Höherbewertung geschlechtlicher Enthaltsamkeit im Artemiskult). 77 K. KoscHoRKE, Polemik 114f. Die angesichts des Kontextes (vgl. VV 3-6) sicher nicht unbedacht gewählte Formulierung mit oro9i)OE't"at sollte man nicht entschärfen und an die frühchristliche bzw. paulinische Tradition anzugleichen versuchen durch die Auslegung, der Autor wolle hier lediglich auf die Bedeutung der Verantwortung der Frau für die Erziehung der Familie hinweisen und ihr bescheinigen, daß darin das Zeichen für das treue Festhalten am christlichen Glauben liege (in diese Richtung geht die Interpretation bei H. MARSHALL, Faith 206). 78 N. BRox, Past 138.
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künftigem Heil eine recht gewagte theologische Aussage: Die Schöpfungsordnung gilt als die Heilsordnung. Zur Schöpfungsordnung, die als Teil von Gottes universalem Heilswillen zu verstehen ist (vgl. VV 3 fl), gehört nach den Past zum einen, daß die Frau dem Mann gegenüber zweitrangig ist aufgrund der Reihenfolge der Erschaffung und wegen der von ihr verschuldeten Verfehlung Gott gegenüber; dazu gehört zum anderen aber auch, daß sie dem Willen Gottes entsprechend Kinder zur Welt bringt. Und da die Frau auch durch das Kindergebären den Willen Gottes erfüllt, liegt darin für sie der Weg zum Heil. Dem widerspricht auch nicht der eclv-Satz V 15b. Darin wird gewissermaßen verdeutlichend festgehalten, daß das Geschenk des Heils auf der Seite der Menschen - und damit haben "die Frauen" letztlich stellvertretende Funktion - gebunden bleibt an ein Leben "in Glaube, Liebe, Heiligung und Besonnenheit". Es liegt somit in diesem Nebensatz auch keine "Bedingung" oder "Einschränkung" gegenüber V ISa vor 79 , sondern eine Ergänzung durch den für die Past wichtigen Gedanken, daß christliche Gemeinde als Heilsgemeinde sich in einem vorbildlichen Leben darstellen muß. III
Wie schwer sich Exegese und Theologie mit einer sach- und textgerechten Auslegung des behandelten Abschnittes, insbesondere in bezug auf die Aussagen über die Frau und ihre Stellung in der christlichen Gemeinde, oft tun, zeigt beispielhaft eine Feststellung von H. Ringeling: Die Past "propagieren das Ideal der tüchtigen, aber biederen und folgsamen Hausfrau, die in Glaube, Liebe, Heiligung und Zucht ihr Leben führen und im Kindergebären ihr Heil suchen soll (I Tim 2,9-15). Das wurde schon damals der Lebenswirklichkeit nicht gerecht und war der Beginn der kirchlichen Unterdrückung der Frau". 80 Letzteres ist sicher nicht ganz falsch, auch wenn man den Ausdruck "Beginn" nicht pressen darf; denn weder zeitlich noch ursächlich liegt wohl in den Past der Beginn solcher Unterdrückung. Problematischer sieht es dann schon aus mit der voranstehenden Behauptung, das vom Verfasser aufgestellte "Ideal" - wobei auch dieses Urteil, welches mit dem Begriff "Ideal" operiert und damit dem Verfasser eine ganz bestimmte Meinung unterstellt, kritisch zu hinterfragen wäre! - sei "schon damals" der "Lebenswirklichkeit" .nicht gerecht geworden. Dies ist eine ungerechtfertigte Übertragung der Einsicht, daß sich diese Festlegung der Rolle der Frau, ihr Ausschluß von Entscheidungsfunktionen in den Gemeinden, aufgrund der weite Bereiche kirchlichen Lebens umfassenden Verfestigung als verh~ngnisvoll herausgestellt hat (doch wird dieses Urteil auch wirklich von
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So aber N. BROJ{, Past 137. H. RINGELING, Art. Frau (IV. N1): TRE 11, 431-436, hier 435.
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allen geteilt?!), auf die ganz spezifisch und anders gelagerte Situation der Past. Im Blick auf die Wirkungsgeschichte 81, nicht im Blick auf die Past, muß dann die Frage so gestellt werden, wie in der Geschichte der Kirche dieser Text eine solche Bedeutung gewinnen konnte, daß wir ihn für die bis heute andauernden Probleme im Bereich des kirchlichen Lebens und im Kontext theologischer Entscheidungen verantwortlich machen zu müssen meinen. Es ist keine Frage, daß diese Verse, wenn die vorgestellte Funktionsbestimmung der Frau und ihrer Stellung in der christlichen Gemeinde aus dem biblischen und geschichtlichen Kontext gelöst und verabsolutiert wird, ein einseitiges, auch biblisch gesehen verzerrtes Bild von der Rolle der Frau s.owohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche aufzeigen. Und doch wäre es ein verhängnisvoller Fehler - oder besser: war und ist es ein verhängnisvoller Fehler -, daß für die beklagte kirchliche Unterdrückung der Frau unser Verfasser verantwortlich gemacht wird. Die fatale und beklagenswerte Wirkungsgeschichte kann - und dieses Urteil wird von vielen Theologen geteilt - nicht ohne weiteres dem Autor unseres Textes angelastet werden. Vielleicht liegt die Ursache für die Fixierung auf diesen Abschnitt auch darin, daß man in der Geschichte nur zu gerne die eigenen Vorurteile bestätigt gefunden hat, daß man sich also nicht die Mühe machte, intensiver und eindringlicher nach den Bedingungen und Zusammenhängen zu fragen, sondern sich vielmehr begnügt hat mit dem doch recht vordergründigen Vorwurf, der Autor der Past mit seiner damaligen Entscheidung sei schuld an der gegenwärtigen Misere, denn er propagiere "das Ideal der tüchtigen, aber biederen und folgsamen Hausfrau ... "! Sobald man ein solches Urteil flillt, in welchem mit dem Verfasser der Past der Schuldige für ein bestimmtes, geschichtlich gewachsenes Bild der Frau gefunden worden ist, hat man bereits die Möglichkeit verspielt, in eine Auseinandersetzung, in ein Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen, mit seinen Intentionen und Problemen einzutreten. Anstatt anklagend mit dem Finger auf ihn zu zeigen und ihn damit zum Schuldigen für Versäumnisse, für Fehler und "Sünden" der Kirche bis heute abzustempeln - was zugleich auch ein bequemer Weg ist, sich selbst aus der Verantwortung fortzustehlen - , sollte man sich die Mühe machen, sein Anliegen zu erfragen und zu verstehen. Dann dürfte und müßte es aber auch leichter fallen, neue Wege zu suchen und zu finden!
Es ist abschließend noch einmal zu betonen: Die Aussagen dieses Abschnittes, insbesondere die zur Stellung der Frau in Gemeinde und Kirche, dürfen nicht vom Kontext losgelöst und unabhängig von der in V 8 formulierten Mahnung an die Männer, ausgelegt werden; sie sind nur zu verstehen und auch nur zu deuten im Rahmen des Versuches des Autors (und als ein Versuch muß das verstanden werden), den Gemeindegottesdienst und das private und öffentliche Leben der Christen entsprechend den konkreten Verhältnissen und Bedingungen zu ordnen und die Stellung der christlichen Frau in der Gemeinde sowohl innerkirchlich als auch gegenüber der Öffentlichkeit in Abgrenzung zu den unterschiedlichen BI
Zur "Wirkungsgeschichte" sei verwiesen auf den Überblick bei J.
ROLOFF,
1 Tim
142-146.
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Tendenzen in gnostischen Gruppierungen und Gemeinden neu zu bestimmen. Zugleich ist aber nicht zu leugnen, daß hier eine Bestimmung der Rolle der Frau vorliegt, die einseitig bestimmt ist von der Forderung der Unterordnung unter den Mann. Dafür ist einmal eine Entwicklung zugrunde zu legen, die historisch eng mit dem Schwinden der Naherwartung verbunden ist; an die Stelle des paulinischen charismatischen Gemeindemodells tritt allmählich, mit dem Wachsen der Gemeinden notwendig geworden, eine sich verfestigende und als Institution etablierende Gemeindeord-. nung. Diese wird entsprechend den patriarchalisch geprägten Institutionen des Judentums und des Hellenismus ausgestaltet 82 • Problematisch erscheint es aber, wenn der Versuch gemacht wird, die Unterschiede zwischen Paulus und den Past einzuebnen, so daß auch die Past mit den Anweisungen zum Gemeindeleben als durchaus mit den paulinischen Hauptbriefen vereinbar erklärt werden 83. Zur Bedeutsamkeit des Abschnittes und zur Frage der Verbindlichkeit der Einzelaussagen ist somit festzuhalten, daß die hier aufgestellten Forderungen als Wegweisungen und Direktiven in einer ganz bestimmten Zeit mit speziellen Problemen verstanden werden müssen. Gerade auch solche Aussagen, die das Amt betreffen und bestimmte Dienste in den Gemeinden bzw. die Frage der Zulassung und des Ausschlusses davon, sind - zumindest in den neutestamentlichen Zeugnissen - getragen von der Absicht, für aktuelle Fragen und Probleme der jeweiligen Zeit Lösungen zu suchen 84. Die Frage nach der bleibenden Gültigkeit solcher Aussagen hat sich also immer daran zu orientieren, ob und inwieweit die historischen Bedingungen und Voraussetzungen die gleichen geblieben sind, oder ob diese sich geändert haben. Das bedeutet notwendigerweise, daß eine gewisse Zeitbedingtheit und damit auch Zufälligkeit solcher Entscheidungen Berücksichtigung finden muß.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist in Erinrierung zu rufen. Für den Verfasser gibt es nicht mehr die Möglichkeit, zwischen der religiösen, kultischen Welt der christlichen Gemeinde und dem alltäglichen Leben zu unterscheiden. Die beiden Bereiche sind eng aufeinander bezogen und müssen in dieser Verbindung auch beachtet werden. In der Situation des ausgehenden ersten Jahrhunderts wird von unserem Autor im Rahmen der Verteidigung der rechten Lehre der Versuch unternommen, christliches Leben entsprechend der Glaubensüberzeugung zu gestalten. Dazu gehört 82 Vgl. 1. RAMING, Von der Freiheit des .Evangeliums zur versteinerten Männerkirche, in: Co.nc(D) 16 (1980) 230-235, hier 232. 83 So bei N. BAUMERT, Antifemiirismus 291f; DERS., Frau und Mann 227.229f. Diese Tendenz einer Einebnung der Unterschiede zeigt sich bei der Feststellung von PR. H. TOWNER, Goal 221 ; 219-221: was die Frauen betreffe, so widerspreche diese Paränese nicht Ga13,28, sie demonstriere vielmehr die Abhängigkeit der Verfügung dieses Gleichheitsprinzips von den gesellschaftlichen Bedingungen. 84 Dabei kann auch dieser "Versuch" schon skeptisch betrachtet werden wie etwa bei W. SCHRAGE, FrilU 139: "Gewiß kommt den Pastoralbriefen das Verdienst zu, gegenüber der Askese und Spekulation der Gnosis nüchtern geblieben zu sein (vgl. 1 Tim 4,4f. u. a.), aber ob die drohenden Gefahren allein durch eine pragmatische Stabilisierung des Hierarchischen und Institutionellen zu bannen waren, ist eine andere Frage."
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auch die Forderung nach einer Neuorientierung hinsichtlich der Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft. Wenn aber beides miteinander in Korrespondenz steht - unser Verfasser war wenigstens dieser Meinung -, dann machen gesellschaftliche Veränderungen es auch notwendig, das Leben und das Verhalten der christlichen Gemeinde danach zu befragen, wie es den Anforderungen ihrer Zeit gerecht werden kann. Für die Past hatte das, was heute mit dem Begriff "Zeitgeist" etwas abwertend und abweisend bezeichnet wird, nicht nur negative Bedeutung 85 • Der Grund für unsere Probleme mit solchen Traditionen wird m. E. in aller Deutlichkeit aufgezeigt in der Feststellung von F. J. Schierse: "Sehr problematisch wirken auf uns die Ausführungen über die Rolle der Frau im Gottesdienst und in der Familie. Was ist daran zeitbedingt und was unabänderliches Gesetz?" 86 Darin liegt wohl das entscheidende Problem für uns in bezug auf diese Texte, daß wir derartige Alternativen konstruieren zu müssen meinen und auf diese Weise den Text überfordern.
Dennoch ist die Frage nach der Verbindlichkeit solcher Aussagen zu stellen. Sie bieten ein Bild, eine Möglichkeit christlichen Gemeindelebens. Wir dürfen darüber hinaus nicht vergessen, daß Paulus ein anderes Bild bietet. Natürlich läßt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen; es wäre ungeschichtlich, wollte man das paulinische Gemeindeverständnis als das einzig angemessene annehmen, die Ausgestaltung der Past jedoch einfach als Abfall hinstellen. Es ist andererseits aber auch zu fragen, ob es gerechtfertigt ist, recht willkürlich bei einem Stadium der Gemeindeentwicklung stehenzubleiben und dieses für alle Zukunft als verbindlich zu erklären. Die Diskussion um die Rolle der Frau in der Kirche darf und kann, will sie den aktuellen Anliegen entsprechen, sich nicht zufriedengeben mit einem Rückgriff etwa auf einen Text wie den vorliegenden, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, inwieweit damit wirklich auch dem Leben der Gemeinde heute gedient ist. In dieser Hinsicht können die Past für uns sogar ein Vorbild sein. Es reichte ganz offensichtlich in dieser Zeit nicht mehr aus, sich einfach auf Paulus zu berufen und das paulinische Gemeindemodell als das ein für al8' Vgl. dazu auch G. DAUTZENBERG, Stellung 223: "Angesichts des für unsere Gesellschaft wohl endgültigen Zerbrechens der patriarchalischen Ordnung und der breiten gesellschaftlichen Bewegung auf Gleichberechtigung der Frauen hin, gewinnt die Frage nach der sozialethischen und ekldesiologischen Relevanz der lange Zeit nur von einer Gleichheit coram Deo verstandenen Aussagen Ga13, 28; I Kor 11,11 und nach der Praxis der frühen Missionsgemeinden insgesamt neue Bedeutung. Die urchristliche Entwicklung zeigt eine kaum aufhebbare Interdependenz zwischen Gesellschaftsordnung bzw. gesellschaftlicher Option und Gemeindeordnung. Das sollte allen zu denken geben, welche in einer Zeit, welche die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen auf allen Ebenen anerkennfund fordert, für das Gemeindeleben an einer patriarchalischen Orientierung festhalten. Die so entstehenden schweren Konflikte können die gesellschaftliche Basis der Gemeinden bedrohen und bis ins Innerste verletzen, wenn es nicht gelingt, den im Neuen Testament bezeugten Erfahrungen der sich in der Gemeinde auswirkenden Gleichrangigkeit von Mann und Frau wirksames Gehör zu verschaffen." .. F. J. SCHIERSE, Past 43.
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lemal gültige einfach nur zu übernehmen, es einer späteren Zeit und Situation überstülpen zu wollen. In der Situation der Abfassung der Past ging es darum, der Gefahr "asketisch-synkretistischer Tendenzen" zu begegnen 87. Bei aller Reserve und Kritik an Aussagen, wie wir sie zur Rolle der Frau hier finden, sollte man nicht übersehen, daß sie doch auch einen positiven Beitrag in ihrer beson~ ders gelagerten Situation zugunsten eines weltoffenen Christentums geleistet haben 88. LITERATUR: P. W. BARNETI, Wives and Wornen's Ministry (I Tirnothy 2:11-15): EvQ 61 (1989) 225-238; B. BARRON, Putting Wornen in Their Place: I Tirnothy 2 and Evangelical Views of Wornen in Church Leadership: JETS 33 (1990) 451-459; N. BAUMERT, Antifeminismus bei Paulus? (fzb68) (Würzburg 1992) 282-300; DERS., Frau und Mann bei Paulus. Überwindung eines Mißverständnisses (Würzburg 1992) 209-230; A. L. BOWMAN, Wornen in Ministry: An Exegetical Study in I Timothy 2: 11-15: BS 149 (1992) 193-213; G. DAUTZENBERG, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Vor-, aussetzungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief (BWANT 104) (Stuttgart 1975) 257-298; R. FALCONER, 1 Tirnothy 2, 14.15. Interpretative Notes: JBL 60 (1941) 375-379; G. P. HUGENBERGER, Wornen in Church Office: Hermeneutics or Exegesis1 A Survey of Approaches to I Tim 2 :8-15: JETS 35 (1992) 341-360; H. HUIZENGA, Wornen, SalvatiQn and the Birth ofChrist: AReexamination of I Timothy 2:15: SBTh 12 (1982) 17-26; S. JEBB, Suggested Interpretation of I Tim 2,15: ET 81 (1969170) 221-222; E. KAMLAH, ynOTAl:I:EI:ElAI in den neutestamentlichen "Haustafeln": Verborurn Veritas. Festsehr. G. Stählin (hrsg. v. O. Böcher/K. Haacker) (Wuppertal 1970) 237-243; C. S. KEENER, Paul, Wornen and Wives. Marriage and Wornen's Ministry in the Letters of Paul (Peabody, Mass. 1992); D. R. KIMBERLEY, I Tim 2: 15: A Possible Understanding of a Difficult Text: JETS 35 (1992) 481-486; G. W. KNIGHT, AYElENTEnin Referenceto Wornen in I Tirnothy 2.12: NTS 30(1984) 143-157; S. L. LOVE, Wo-. rnen's Roles in Certain Second Testament Passages: A Macrosociological View: BTB 12 (1987) 50-59; A.- M. MALINGREY, Note surl'exegese de I Tim 2, 15 : Studia Patristica XII (hrsg. v. E. A. Livingstone) (TU 115) (Berlin 1975) 334-339; D. J. Moo, I Tirnothy 2:11-15: Meaning and Significance: TrinJ NS I (1980) 62-83; R. NÜRNBERG, "Non decet neque necessariurn est, ut rnulieres doceant". Überlegungen zum altkirchlichen Lehrverbot für Frauen: JAC 31 (1988) 57-73; C. D. OSBURN,AYElENTEQ(1 Tirnothy2: 12): RestQ 25 (1982) 1-12; A. PADGETI, Wealthy Wornen at Ephesus. I Tirnothy 2:8-15 in Social Context: Interp. 41 (1987) 19-31; PB. B. PAYNE, Libertarian Wornen in Ephesus: A Response to Douglas J. Moo's article, ,,1 Timothy 2 : 11-15: Meaning and Significance": TrinJ NS 2 (1981) 169-197; A. C. PERRIMAN, What Eve Did, What Wornen Shouldn't Do: The Meaning of AYElENTEQ in I Tirnothy 2: 12: TynB 44 (1993) 129-142; G. N. REDEKOP, Let the Wornen Leam: 1 Tirnothy 2 :8-15 Reconsidered: SR 19 (1990) 235-245: M. D. ROBERTS, Wornan shall be saved - a closer look at 1 Timothy 2:15: RefJ 33 (1983) 18-22; R. R. RUETHER, Frau und kirchliches Amt in historischer und gesellschaftlicher Sicht: Conc(D) 12 (1976) 17-23; W. SCHRAGE, Frau und Mann im Neuen Testament: E. S. Gerstenberger/W. Schrage, Frau und Mann (Stuttgart 1980) 92-117; E. SCHÜSSLER FIORENZA, Die Rolle der Frau in der urchristlichen Bewegung: Conc(D) 12 (1976) 3-9; A. D. B. SPENCER, Eve at Ephesus (Should wornen be ordained as pastors according to the First Letter to Timothy 2:11-151): JETS 17 (1974) 215-222; K. VAN DER JAGT, Wornen Are Saved Through Bearing Children (1 Tirnothy 2.11-15): 87 So M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 40. 1 Tim ist in der Deutung von K. VAN DER JAGT "ein Gegenangriff" ("a counter-attack") gegen solche Tendenzen innerhalb und außerhalb der orthodoxen Kirche (Wornen 205). 88 Vgl. dazu auch "Zusammenfassung und Ausblick" bei G. DAUTZENBERG, Stellung 221-224.
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I Tim 3,1-7 BiTr 39 (1988) 201-208; (DERS., Women Are Saved Through Bearing Children: A Sociological Approach to the Interpretation of I Timothy 2.15: Issues in Bible Translation [hrsg. v. Ph. C. Stine], UBS.MS 3, London 1988, 287-295); L. E. WILSHlRE, The TLG Computer and Further Reference to AYElENTEn in I Timothy 2.12: NTS 34 (1988) 120-134.
c) Die Anforderungen an den Gemeindeleiter (Episkopenspiegel) (3,1-7) 3,1 Zuverlässig ist das Wort: Wenn einer nach dem Episkopenamt (Vorsteheramt) strebt, so bemüht er sich um eine gute Aufgabe. 2 Der Episkopos nun muß untadelig sein, der Mann nur einer Frau, nüchtern, besonnen, ehrbar, gastfreundlich, befähigt zum Lehren, 3 kein Trinker, kein Schläger, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig; 4 er muß seinem eigenen Haus gut vorstehen, seine Kinder in Zucht (Unterordnung) halten mit aller Ehrbarkeit 5 - wenn einer seinem eigenen Hause nicht vorzustehen weiß, wie soll er da für die Kirche Gottes sorgen? - 6 Er darf kein Neubekehrter sein, damit er nicht hochmütig wird und dem Gericht des Teufels verfällt. 7 Er muß aber auch einen guten Ruf haben bei den außerhalb Stehenden,·damit er nicht übler Nachrede verfällt und (so) der Schlinge des Teufels. I
Im vorangehenden Abschnitt (2,8-15) lag zwar der Ausgangspunkt in den Bestimmungen für die gottesdienstliche Versammlung; letztlich aber war, insbesondere in der unverhältnismäßig ausführlichen Instruktion für die Frauen, das Leben in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit umfassend betroffen. Die Einzelanweisungen orientierten sich dabei an der Geschlechtszugehörigkeit. In den beiden folgenden Abschnitten 3,1-7 und 3,8-13 wird die Gemeinde unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet; es werden nun die für das Gemeindeleben verantwortlichen und damit die Glaubensgemeinschaft repräsentierenden Personen angesprochen. Die Anweisungen werden gruppiert in der Beziehung zu den Funktionsträgern : Episkopos (3, 1-7) und Diakonoi (3,8-13). Bei alIer Unterschiedlichkeit liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit mit der Paränese von 2,8-15 (und in gewisser Weise auch mit der noch nicht differenzierten Mahnung von 2,1 f) darin, daß zwar wiederum das Leben der Gemeinde bzw. die Verantwortung für diese im Blickpunkt steht, daß aber jeweils Aspekte des täglichen Lebens der christlichen Gemeinde aufgegriffen und die Beziehungen von deren Mitgliedern zur nichtchristlichen Umwelt behandelt werden. Das Gespräch mit den GemeindeIeitern wird eröffnet mit einer Aufzählung von Bestimmungen und Forderungen, die das Episkopenamt betreffen. Zuerst werden die an den Episkopos gerichteten Erwartungen mit der Nennung von einigen 'positiven Eigenschaften skizziert, dann wird vor Haltungen gewarnt, die mit diesem Amt als unvereinbar anzusehen sind. 109
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Was man dabei im großen und ganzen vermißt, ist das spezifisch christliche Element, also eine aus dem Christusglauben kommende Begründung und Untermauerung und damit auch der unmittelbare Bezug zur christlichen Gemeinde, zur Amtsvollmacht und zu den besonderen Funktionen und Aufgaben in der Gemeinde. Ja, die genannten Tugenden können nicht einmal als spezifisch christliche Tugenden gelten. Die Forderungen sind in den meisten Fällen die eines "gewöhnlichen" Tugendkataloges. So steht vor uns das Bild eines Mannes, der für das Amt des Episkopos geeignet ist, weil er allseits als positive Leitfigur Anerkennung finden kann. Er soll als Vorbild für die Gemeinde nach innen dienen und sich als von außen her unangreifbar profilieren. Die Entscheidung, im Rahmen der Kommentierung der Aussagen der Past zum Episkopos diesen Titel unübersetzt zu lassen, insbesondere den Begriff "Bischof' zu vermeiden, der für die späteren Texte der außerbiblischen frühkirchlichen Überlieferung ab dem zweiten Jahrhundert durchaus angebracht ist, ist damit zu rechtfertigen, daß mit dem Titel "Bischof' bestimmte Vorstellungen und amtsspezifische Bedingungen verknüpft sind, die für die Past und ihre Gemeindesituation nicht zugrunde gelegt werden dürfen '. Für die Gesamtbewertung der katalogartigen Aufzählung von positiven und negativen Eigenschaften und für die Gewichtung der Einzelaussagen im Blick auf den Episkopos ist wiederum zu beachten, daß nicht eine ad hoc formulierte und damit aktuelle, amtsspezifische Liste von Forderungen vorliegt, welche bedingt wären durch Besonderheiten, die aus dem Amt des Episkopos abzuleiten oder ausschließlich mit seinen gemeindlichen Aufgaben zu begründen sind 2. Formal und inhaltlich greift die Liste wieder zurück auf das Vokabular der Tugendlisten der hellenistischen Umwelt. Damit ist zumindest unmittelbar keine Möglichkeit gegeben, aus diesen Angaben auf die gemeindespezifischen Anforderungen und Erwartungen, die mit dem Amt des Episkopos zur Zeit der Past verknüpft waren, rückzuschließen. Es ist zwar bei einigen Begriffen eine Prägung durch den Weil "die Übersetzung des Wortes episkoposmit Bischofim Neuen Testament einen im Blick auf die damaligen Verhältnisse irreführenden Sinn ergibt", will W. BARCLAY, Past 70, mit "Aufseheroder Leitet' übersetzen; vgl. auch J. REuss, I Tim 47. Die von OTT, Si quis 499, in den 20er Jahren ausgesprochene Gleichstellung, episcopus und presbyter bedeuteten im NT "dasselbe, nämlich das, was wir jetzt mit dem Worte Bischofbezeichnen", gibt gewiß eine bis heute weit verbreitete Meinung wieder. Was "die Eigenschaften betrifft, die an die Verwalter des Bischofsamtes gestellt werden", so spinnen auch nach Meinung von J. BaoscH, Charismen und Ämter in der Urkirche (Bonn 1951) 142, "genügend Fäden herüber zwischen dem Briefe des Apostels Paulus an seinen Schüler Timotheus und dem Codex Juris Canonici". Die von U. BoasE, Past 40, "heutigem Sprachgebrauch" angepaßte Paraphrase von V I b - "Es ist sehr zu begrüßen, wenn jemand den Wunsch hat, Pfarrer (Priester) zu werden" - berücksichtigt zwar die Tatsache, daß der "Dienst des Bischofs noch nicht dem [eines] Oberhirten eines größeren Seelsorgebezirks (entspricht)"; da aber auch dabei Vorstellungen bzw. Strukturen eines festumrissenen kirchlichen Amtes aus der heutigen Zeit in die damaligen Gemeinden übertragen werden, sind Fehlinterpretationen unvermeidbar. 2 Vgl. H.-W. BARTSCH, Anfänge 83. 1
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I Tim 3,1-7
konkreten Aufgabenbereich des Episkopos zu vermuten, etwa in dem 5tin V 2 oder dann in den etwas konkreteren Angaben der VV 6f; und es ist auch nicht auszuschließen, daß in dem einen oder anderen Begriff Probleme der Zeit und der christlichen Gemeinden mitschwingen. Doch eine besondere Aktualität oder gar Ausschließlichkeit für den Stand des Episkopos annehmen zu wollen, erscheint beinahe ausgeschlossen. Insofern ist es gewiß übertrieben zu behaupten, "bei näherem Hinsehen" erweise sich "die christliche Überarbeitung der Listen doch als Niederschlag reicher kirchlicher Erfahrung" 3. Vorlagen für die Zusammenstellung von Aufgaben und Tugenden auf seiten eines für die Gemeinde Verantwortlichen boten dem Autor der Past die sog. "Regentenspiegel" seiner Umwelt 4 • Deren katalogartige Aufzählung von entsprechenden Eigenschaften werden jetzt einfach übertragen auf den christlichen Amtsträger. Es ist aber damit zu rechnen, daß der Autor die Anwendung solcher Tugendlisten für die Verantwortlichen in christlichen Gemeinden schon vorgefunden hat, ohne daß allerdings die Existenz einer bereits ausformulierten "Kirchenordnung" angenommen werden muß 5. Bewährte ethische Normen, die bisher im menschlichen Zusammenleben im allgemeinen und in den Anforderungen an verantwortliche Personen im besonderen Gültigkeit besaßen und sich bewährt hatten, waren durch das Bekenntnis zum "Messias" und "Retter" Jesus nicht einfach außer Kraft gesetzt. Mit der zunehmenden Verantwortung einzelner für das Gemeindeleben wuchs darüber hinaus in diesen Gemeinden der Stellenwert bekannter und bewährter ethischer Maßstäbe. Der praktische Nutzen hat dabei als wichtige Vermittlungsinstanz zu gelten. Und auch bei redaktionellen Eintragungen seitens des Verfassers bleibt der Rahmen der Argumentation auf der Grundlage bewährter Lebensregeln. 5UKLtKOC;
So J. JEREMIAS, Past 24. Beispiele dafür sind zusammengestellt bei A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 73-88. Er verweist (a.a.O. 78-80) auf eine auch bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 117f, zitierte "Parallele zum Bischofsspiegell Tim 3,2", nämlich aus der Schrift "de imperatoris officio" des Onasander (aus der I. Hälfte des I. Jahrhunderts n. Chr.), wo die aufgezählten Tugenden (u. a.: nüchtern, frei von Geldgier, selbstbeherrscht, redegewandt) für sich genommen ebenfalls "wenig für den
4
III
I Tim2,1-3,16
11 1a Der Bezug der Formel von 3, 1a (mo'to<;; 0 f..6yo<;;) ist umstritten und nicht mit Sicherheit zu klären 6. Von den beiden Möglichkeiten - entweder Bekräftigung des vorher (2,11-15) über die Rolle der Frau bzw. (im abschließenden V 15) über die Rettung der treu im Glauben verharrenden Frauen Gesagten, oder Betonung der nachfolgenden Reflexionen zum Episkopos - verdient die zweite den Vorzug. Die Past haben ja ein außerordentliches Interesse an der Gemeindeordnung. Und eine Person, die in ganz besonderer Weise für die Leitung der Gemeinde und alle über Timotheus vermittelten Aufgaben Verantwortung trägt bzw. tragen soll, ist der Episkopos. Das starke Interesse an dieser Gestalt zeigt sich wieder in dem Textabschnitt Tit 1,5-9. Für die hier gewählte Deutung der meno<; 0 Ä.6yo<;-Formel als Einleitung des nachfolgenden Pflichtenkatalogs spricht auch eine textkritische Beobachtung. In der ursprünglichen Textüberlieferung des Codex D, in einigen alt1ateinischen Hss (b g m) sowie bei Ambrosiaster und Pseudo-Augustinus wird mcr't6<; ersetzt durch av8poo1ttvo<;. Diese Textänderung gibt über die damit verknüpfte Aussage ein eher negativ gefärbtes Urteil ab. Und es ist kaum zu bezweifeln, daß die hinter dieser Variante stehende Überlegung darauf zielt, das Streben nach dem Amt des Bischofs (wie E1ticrK01tO<; für diese spätere Zeit schon zu übersetzen ist) "geringschätzig" als menschliche Meinung und menschliches Urteil zu bewerten 7 •
Die unterschiedlichen Verknüpfungen zeigen sich sowohl in den Textausgaben und Übersetzungen als auch in den Kommentaren. Nestle-Aland27 ziehen diese Formel (wie schon in früheren Auflagen) als Abschluß zum vorhergehenden Text und lassen erst mit dem "Wenn"-Satz 3, Ib den neuen Abschnitt beginnen; das GNThat bis zur 3. Auflage (1975) die 1t1.O"'t6<;-Formel als Einleitung des Abschnittes zum Episkopos auf den nachfolgenden Text bezogen, schließt sich mit der 3. korrigierten Auflage 1983 (vgl. auch 4., rev. Aufl. 1994) aber der Textgliederung von Nestle-Aland26 an. Das Münchener NT geht mit Nestle-Aland, die EÜ mit GNTl. Für die erste Möglichkeit entscheiden sich etwa M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 42; G. HOLTZ, Past 72; die zweite, die auch hier zugrunde gelegt wird, wird vertreten von den Kommentatoren aus jüngerer Zeit u. a. N. BRox, Past 139; C. SPICQ, Past 427f; P. DORNIER, Past 56f; J. ROLOFF, I Tim 152f; H. MERKEL, Past 29. 7 Mit N. BRox, Past 141. E. SCHLARB, Lehre, deutet V la als "Bekräftigungsformel", womit der Komplex 2,11-15 "passend" abgeschlossen werde. "Dieser Vorgang einer Problembewältigung mittels Schriftbegründung und folgender Exegese kann sinnvoll mit dem Verweis auf die Tragfähigkeit dieses ,Wortes' abgeschlossen werden" (209; vgl. 208-210). Das entscheidende Argument für die Verknüpfung mit dem voranstehenden Textabschnitt ist der Hinweis, daß der Kontext, in welchem diese formelhafte Wendung an den anderen Stellen Verwendung findet (vgl. 1,15 [bzw. 1,13-16); 4,9 [bzw. 4,8-10); 2 Tim 2,11 [bzw. 2,10-11); Tit 3,8 [bzw. 3,5-8D, jeweils von "Aussagen über das Heil (bzw. den Glauben)" bestimmt ist; so M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 24; auch W. LocK, Past 33, allerdings mit der Einschränkung:" ... it is still uncertain how much of that sentence [V 15) is included in the quotation; probably only crrolhicrE'tat SE Stil Tij<; 'tEKVOYovia<;"; J. M. BOYER, Fidelis Sermo 77f. Der Einwand gegen eine Verknüpfung von 3, la mit 2, 14f bei P. ELLINGWORTH, True saying 444, der voranstehende Satz sei "viel zu lang und zu detailliert", um als "zuverlässiges Wort" ("true saying") gelten zu können, ist jedoch zu formal; so sieht E. SCHLARB, a. a. O. 206f, den "Vorteil" der von G. W. KNIGHT, Sayings 20, gewählten Bezeichnung der 1ttO"'to<; 6 Myo<;-Formel als "a 6
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I Tim 3,1-7
Mit der Bekräftigungsformel 8 wird zwar in erster Linie die sehr grundsätzlich formulierte These'zum Episkopenamt betont (V lb); sie ist aber auch auf die nachfolgend aufgelisteten Pflichten und Verhaltensweisen zu beziehen, die als Entfaltung dieser These gelten können. Und auch das zum Episkopos Gesagte steht nicht isoliert, sondern ist mit den folgenden Anweisungen eng verknüpft. Der übergreifende Zusammenhang wird einmal darin deutlich, daß das in V 2 stehende Bei: grammatikalisch bestimmend ist sowohl für den Episkopos (VV 2-6) als auch für die Männer und Frauen im Amt eines Diakons (VV 8 ff; V 11; die hier aufgestellte Behauptung, daß wir es auch mit Frauen im diakonischen Amt zu tun haben, gilt es im Zusammenhang des nächsten Textabschnitts noch zu begründen). Sodann spricht dafür das zweimalige cOcrall1:w<; (V 8 und V 11); dadurch wird der Ausgangspunkt, das Episkopenamt, gleichsam weiterhin im Auge behalten. Letztendlich läßt der Verfasser seinen Paulus "dies" (vgl. V 14), nämlich das über die Ämter und ihre Träger Gesagte, auf die zentralen ekklesiologischen Begriffe ausrichten: OtKO<; Beau und EKKATJcrLa Beou ~wv'to<; (V 15). Mit der Einleitungswendung lttcr'to<; 6 Myo<; wird also nicht nur die Aussage von V 1b besonders betont, sondern auch eine Perspektive eröffnet, die bestimmt ist von dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Ordnung im Haus Gottes, der Kirche. Diese Ordnung aber findet ihre Garantie in den genannten Personen, die sich sowohl in einer vorbildlichen Lebensführung als auch in Aufgaben, die das Gemeinschaftsleben betreffen, bewährt haben und die deshalb als für die Übernahme besonderer Dienste und Aufgaben in der Gemeinde geeignet vorgestellt werden. Ib Auffälligerweise beginnt der Verfasser seine Anweisungen an den an erster Stelle angesprochenen Funktionsträger, den Episkopos, gewissermaßen im Vorfeld, nämlich mit einer allgemeinen Bewertung des Amtes, der E1tlcrK01tf), und damit verbunden mit einer Aufforderung, sich um dieses Amt zu bewerben. Einleitend wird nicht gleich mit Forderungen abgeschreckt, sondern das Episkopenamt wird als eine erstrebenswerte Sache bzw. Aufgabe hingestellt. Damit verknüpfen sich zwei Fragen: Warum überhaupt solche nachdrückliche Werbung für das Episkopenamt an dieser Stelle? Und: Wie sind Auftrag und Vollmacht dieses "Vorsteheramtes" inhaltlich zu konkretisieren? Zur Beantwortung der zweiten Frage ist einmal festzustellen, daß für E1tLcrKOnT, weder aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition noch auch von der neutestamentlich-frühchristlichen Verwendung her eindeutige Bestimmungen möglich sind. In der LXX steht zwar E1tLcrKOnT, neben anderen Bedeutungen an zwei Stellen mit der Bedeutung "Amt", nämlich Num 4,16 und Ps 108,8 LXX (zit. in Apg 1,20); es fehlt dabei aber jegliche Ausrichtung auf eine raum- und personenübergreifende combined citation-emphasis formula" u. a. gerade darin, daß sie "nicht bloß nach mög· liehst zitierfähigen Kurzsätzen Ausschau hält". 8 Vgl. auch zu 1,15.
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1 Tim 2,1 - 3,16 Funktions- oder Amtsbeschreibung. Und auch die beiden anderen neutestamentlichen Vorkommen in der Verbindung Katp6~ bzw. T]JlEpa (ti1~) EmcrKonfj~ (Lk 19,44; 1 Petr 2, 12) mit der Bedeutung "gnadenhafte Heimsuchung" übernehmen eine im AT vorgegebene eschatologische Sinngebung (vgl. les 10,3), die z. T. auch im neutestamentlichen Gebrauch des Verbums EmcrKEmOJlat gegeben ist (vgl. Lk 1,68.78; 7,16; Apg 15,14; Hebr 2,6 [= Ps 8,5]). Der Sinngehalt von EmcrKOnT] in 1 Tim 3, 1 kann deshalb nur von der titular verwendeten Amtsbezeichnung EntcrKono~ und den damit - allerdings auch eher andeutungsweise - verknüpften Aufgaben und Funktionen her bestimmt werden 9.
Der Kontext verweist für die Umschreibung der Rechte und Pflichten des "Vorstehers" auf das Vorbild des im "Haus" Verantwortlichen (vgl. VV 4f und V 15; ähnlich V 12 zum "Diakon"); der Episkopos wird "der Gemeinde gegenüber in der Stellung des Oikodespotes gesehen" 10. Die Abhängigkeit des Begriffes bttcrKonf] vom personalen Substantiv bticrKOno~ und den über ihn getroffenen Aussagen läßt zum einen als sehr wahrscheinliche Folgerung zu, daß der Autor der Past für die Bildung dieser Sentenz verantwortlich ist 11. Zum anderen wird damit auch der Geltungsbereich von tmcrKonf] definiert: Der Bezugsrahmen für das "Aufsichtsamt" ist die Einzelgemeinde ; im Blick steht noch nicht eine über mehrere Gemeinden sich erstreckende Vollmacht. Ob mit dem Gebrauch von tmcrKoni] auch schon das Vorhandensein von eindeutigen und gegen andere Funktionsträger (Presbyter und Diakone) abgrenzbaren Aufgaben, gar etwa der "Vorsitz bei der gottesdienstlichen Versammlung" 12 verknüpft werden darf, erscheint zweifelhaft; denn für solche Funktionen sind in den angeschlossenen Bestimmungen keinerlei Hinweise zu erkennen. Die mit dem "Aufsichtsamt" umschriebenen Aufgaben und Funktionen lagen wohl im weitesten Sinne im Bereich der Verwaltung. Und in diesem Sinne wird dieses Amt als eine institutionalisierte Einrichtung vorausgesetzt. Wir stehen in jedem Fall mit der betonten Anerkennung dieser für EinzeIpersonen bestimmten leitenden Stellung in einem fortgeschrittenen Stadium der Organisation christlicher Gemeinden 13. • "The tmcrKOnT) in view in the saying is the office ofthe tnicrKOno~ ofthe church which is spoken of in verses 2 and following" (G. W. KNIGHT, Sayings 59). Vgl. dazu auch H. W. BEYER, ThWNT 11 603f; J. ROHDE, EWNT 11 83-85.87-89; J. ROLOFF, I Tim 153 mit Anm. 216. 10 F. LAUB, Hintergrund 264; 262-265; vgl. auch M. Y. MAcDoNALD, Churches 207-214. Die von E. LOHsE, Entstehung 68, über das Verbum tmcrKEmEcr9at und dessen Verwendung im AT hergestellte Verbindung zur Bezeichnung der "Verantwortung", "die ein Hirte für die ihm anvertraute Berde zu tragen hat (Jer 23,2; Ez 34, 11; Sach 11,16 u.ö.)", hat demgegenüber im Text selbst keinen unmittelbaren Anknüpfungspunkt. 11 Anders etwa J. ROLOFF, I Tim 153, der darin einen "vorgeprägten Leitsatz" sieht, der vielleicht sogar Teil des "Ordinationsformulars" war. 12 So J. ROLOFF, I Tim 153. 13 Vgl. N. BRox, Past 142. Wie der Titel tnicrK01l0~ ist auch die Funktionsbezeichnung tmcrKOnT) in den Past (gegen K. STALDER, EnILKOrrOL 218) eindeutig in einem amtlichen, d. h. institutionalisierten Sinn verstanden; zum "Episkopenamt der Pastoralbriefe" vgl. J. ROLOFF, Apostolat 264-269. 114
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Warum aber, so ist weiter zu fragen, diese Betonung, daß das Streben nach dem Episkopenamt eine "gute Sache" sei? Zwei Erklärungsmöglichkeiten kommen dafür in Frage. Zum einen könnte dieses Amt eine nicht gerade überwältigende Attraktivität besessen haben. Durch die Paulusbriefe vermittelt, kannten auch die Gemeinden der Past andere Funktionsträger christlicher Gemeinden, die vorrangig mit der Verkündigung des Evangeliums befaßt waren und die entsprechend hohe Wertschätzung genossen. Hier wären insbesondere neben den Autoritäten der Apostel Propheten und Lehrer (vgl. I Kor 12,28; Röm 12,6f; Lehrer aber auch noch Jak 3, I) zu nennen. Der Aufgabenbereich des Episkopos lag hingegen auf einer anderen Ebene, nämlich in der Gemeindeverwaltung in einem umfassenderen Sinn. Die mit der Einführung des Bildes vom "guten Hausvorstand" (VV 4{) bzw. vom "Hausverwalter" (vgl. Tit I, 7 otKov6I!o~) verknüpfte Vorstellung der Ordnung und damit auch der Stabilität der Gemeinde und die Repräsentation der Gemeinde nach außen hin werden als seine vordringlichen Aufgabenbereiche genannt 14. Als weiteres Kennzeichen ist zwar auch aufgeführt die "Fähigkeit zu lehren" (V 2); doch in Relation zur Summe der Tugenden und im Vergleich zur eindeutigen Gewichtung der Leitungskompetenz erscheint die "Lehrbefähigung" eher am Rande stehend 15. Es wäre also durchaus möglich, daß ein Grund für die Einfügung des zur Übernahme des Episkopenamtes ermunternden Satzes darin lag, daß man dieses Amt im allgemeinen nicht als erstrebenswert einschätzte 16. In dieser Hinsicht wäre auch das Bemühen des PseudoPaulus verständlich, die Funktionsbezeichnung aus dem Bereich eingeschränkter Wertschätzung herauszuführen, ist es doch sein erklärtes Ziel, gerade die rechte Ordnung der Gemeinde und ihres Lebens als Garantie für die Bewahrung des rechten Glaubens zu belegen. Es ist aber auch damit zu rechnen, daß das Ansehen des Amtes bereits dadurch gelitten hatte, daß es etwas vernachlässigt wurde und daß manche, die sich darum bewarben, nicht aus uneigennützigen Motiven handelten. Der dadurch gegebenen Gefahr einer inneren Abwertung und Aushöhlung sollte dieses Wort entgegentreten, gleichzeitig die Bedeutung des Amtes aber unterstreichen. Gegenüber einer Zurückhaltung von fähigen Leuten der Gemeinde würde dann betont, daß der, der sich um das Episkopenamt bemüht, einen guten Dienst anstrebt, eine wertvolle und für die Gemeinde wichtige Aufgabe zu übernehmen sich anschickt. Vgl. dazu W. PRATSCHER, Stabilisierung 134f. " Der Umstand, daß ein eigener rechtgläubiger Lehrerstand in den Past nicht erwähnt wird und das Lehren als Aufgabe der Amtsträger erscheint, erklärt sich nach H. SCHÜRMANN, Lehrer ISS, "aus der Tend~nz, die Lehre angesichts eines pervertierten Lehrer· standes, also situationsbedingt, so ausschließlich an Paradosis und Amt zu binden" (vgl. 151-156). 16 In einer Zeit, da vor allem die Charismen der Verkündigung (Apostel, Propheten, Lehrer) und der Vollmacht (Wunder, Heilungen) Ansehen genossen, war es nach C. SPICQ, Lexique 1117, Anm. I (ausführlich dazu DERS., Si quis), "notwendig", das Episkopenamt zu würdigen. 14
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I Tim 2, 1- 3,16
2 Die in den folgenden Versen aufgezählten Eigenschaften und Fähigkeiten, die den Episkopos auszeichnen müssen, sind gewissermaßen die von den Personen her zu erbringende Bestätigung für den hohen Wert und die Hochschätzung des Episkopenamtes. An erster Stelle ist mit dem Begriff UVE1t1.A:rU.L1t't'o; (untadelig) ganz bewußt eine Eigenschaft eingeführt, die den Episkopos vor der Gemeinde, aber auch vor der nichtchristlichen Öffentlichkeit als über jeden Tadel und Angriff erhaben vorstelltl 7 • Die Allgemeinheit des darin enthaltenen Anspruchs, der den Episkopos sowohl in der Situation des Geforderten als auch des Fordernden zeigt, gibt der folgenden Liste von Eigenschaften deutlich den Charakter eines auch nach außen hin dokumentierten Verantwortungsbewußtseins 18. Mit den drei unmittelbar angeschlossenen Haltungen, "Nüchternheit", "Besonnenheit" und "Ordentlichkeit", werden dem Amtsträger, der an der Spitze der christlichen Gemeinde steht und damit diese Gemeinde nach außen hin repräsentiert, zwar keine außerordentlichen Tugendleistungen abverlangt; der auf diese Weise beschriebene Vorsteher kann aber ein Bild der Zuverlässigkeit und der Vertrauenswürdigkeit vermitteln. Eine die einzelnen Begriffe spezifizierende Abgrenzung ist schon von den verwendeten Formulierungen her nicht möglich. So ist beispielsweise die Unterscheidung zwischen der mit VT]
Auch mit der Forderung der "Gastfreundschaft" bewegt sich der Katalog noch im Bereich der in der hellenistischen Welt geschätzten Tugen17 Später wird in 5,7 von den Witwen und in 6, 14 von Timotheus mit demselben Adjektiv Bewährung gefordert. I' Vgl. dazu R. SCHWARZ, Christentum 45f, der darauf hinweist, "daß alle folgenden Kriterien für den Amtsträger Konkretisierungen des aVE1tiAT]Il1t'to~ sind". 19 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 43. Zu Nuancen im Gebrauch von VT]q>aAW~, crroq>pOlV und K6crllw~, die in literarischen Zeugnissen der Umwelt insbesondere durch Unterschiedlichkeit der Bezugspersonen bedingt sind, vgl. R. SCHWARZ, Christentum 48-51; auch J. ROLOFF, I Tim 156f.
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1 Tim 3,1-7
den 20. Sicher war für die christlichen Gemeinden besonders in der ersten Zeit missionarischen Wirkens die Aufnahme und Versorgung der nicht seßhaften prophetischen Boten eine elementare Notwendigkeit und darum auch ein zentrales Anliegen. Für die Übernahme der Tugend der "Gastfreundschaft" in diesen Katalog der Merkmale eines ausgewiesenen Episkopos war aber sicher die dadurch angestrebte Anerkennung seitens der Nichtchristen wichtiger. Dies zeigt sich auch in der Akzentverschiebung. Es wird jetzt nicht mehr die Gemeinde auf ihre Pflicht zur Gastfreundschaft verwiesen, sondern diese Verpflichtung ist nun verknüpft mit der spezifischen Qualifizierung des Gemeindeleiters - was zwar wiederum keine Exklusivität besagt, wohl aber besondere Verantwortlichkeit. Konnten die bisher genannten Verhaltensweisen noch als Tugenden verstanden werden, die zwar vom Episkopos in besonderer Weise gefordert wurden, die aber auch für alle Gemeindemitglieder als verpflichtend angesehen werden mußten 21 , so scheint sich das beim Stichwort OtOaKLtK6~ zu ändern. Die Fähigkeit zum Lehren, im profanen Bereich ebenfalls, wenn auch selten bezeugt, etwa in "Berufspflichtenlehren" und "Regentenspiegeln" 22, zeichnet den Episkopos nicht nur gegenüber den Gemeindechristen aus; solches wird auch nicht von den Diakonen gefordert. Die Gewichtung dieses Kennzeichens zeigt sich in der erneuten Einführung bei der Beschreibung der Aufgaben eines "Knechtes des Herrn" in 2 Tim 2,24 und in der ausführlichen Schilderung der in der "Lehre" liegenden Aufgaben des Episkopos Tit 1,9. Der Verfasser legt also großen Wert auf die Einbindung des Episkopos in die Aufgabe der Verkündigung. Will er vielleicht damit das Gewicht des Episkopos in der Gemeinde stärken? Ist es der Versuch einer Aufwertung, um die Attraktivität des Amtes zu erhöhen? Wer in dieser Zeit in den Gemeinden der Past mit den Aufgaben der Lehre und Verkündigung betraut war, läßt sich auch aus solchen Angaben nicht ohne weiteres entnehmen 23. Eindeutige Abgrenzungen zwischen den Vgl. die Belege bei R. SCHWARZ, Christentum 52. Darauf, daß diese Bewährungen im Glauben nicht nur vom Episkopos, sondern "im Grunde von jedem Gemeindeglied zu erwarten sind", verweist auch A. SAND, Theologie 367; dies gilt aber grundsätzlich, eben als Zeichen des Glaubens, und nicht nur deshalb, "weil ja jeder den Dienst des Gemeindevorstehers anstreben kann" (ebd.). Vgl. auch B. FIORE, Function, der die Verwendung von Personen als Beispiel und Vorbild in den Past im Anschluß an die Bestimmung von drei "Typen" in nichtchristlichen Schriften (191-195) untersucht. Unter dem Stichwort "explicit example" behandelt Fiore das Beispiel des Paulus (198-208), das des Timotheus und Titus (209-211) und schließlich das der Gemeinde (212-213); im Zusammenhang des Letztgenannten wird auch die Forderung nach "Untadeligkeit" (von 1 Tim 3,2 und 3,10) erwähnt. Die paränetischen Abschnitte zu den gemeindeleitenden Personen werden hingegen nicht eigens besprochen. 22 Vgl. dazu R. SCHWARZ, Christentum 52f. Bei Philo begegnet IhoaK,[IK6~ viermal (congr. 35; mut. 83.88; praem. 27), jeweils verknüpft mit
21
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I Tim 2, I - 3,16 einzelnen Funktionsträgem (Episkopos, Presbyter, Diakone und Diakoninnen, evtl. Witwen) hinsichtlich ihrer gemeindespezifischen Aufgaben und Aktivitäten sind nicht möglich. Es ist anzunehmen, daß der Pseudo-Paulus der Past hier, wie auch bei der Stellungnahme zu den Frauen, zumindest in Ansätzen zu stärkerer Akzentuierung von Zuständigkeiten und gleichzeitig zu einer Profilierung einer bestimmten Gemeindestruktur, nämlich der vom Episkopos geprägten, beitragen wollte.
Als eine Besonderheit ohne außerbiblische Parallelen ist an zweiter Stelle eingeschoben die an den Episkopos gerichtete Forderung, er müsse avT]p Iltä~ yuvatK6~ sein (so wiederum Tit 1,6). Umstritten und wohl auch letztlich nicht eindeutig zu klären ist die Frage, wie diese an den Episkopos gerichtete Bedingung, daß er "Mann (nur) einer Frau" sei, zu interpretieren ist. Eine auf den Episkopos bezogene Erklärung muß insbesondere berücksichtigen, daß beim Diakon dieselbe Bestimmung genannt ist (V 12) und daß auch für die Witwe zur Aufnahme in den Witwenstanddie Bedingung gestellt wird: EVO~ avopo~ YUVT] (5,9). Für die Wirkungsgeschichte am bedeutungsvollsten ist die Verbindung dieser Forderung mit dem Amt des Episkopos geworden. Recht bald hat sich in der kirchlichen Tradition, bezeugt etwa bei Tertullian (Ad uxorem 7; De monogamia 11 f), die Auslegung entwickelt, damit werde eine zweite Heirat des Bischofs nach dem Tod der Ehefrau untersagt. Diese von der Exegese der Kirchenväterzeit bis in die Gegenwart immer wieder vertretene Deutung der Anweisung der Past entsprach zudem der wachsenden "Tendenz, dem ehelosen Stand eine besondere Heiligkeit beizumessen", ausgeweitet auf die "Angehörigen eines kirchlichen Standes mit kultischen Funktionen". Mit H.-W. Bartsch ist freilich zu fragen, ob mit dieser Deutung auch das Anliegen des Verfassers der Past getroffen ist24 • Im wesentlichen lassen sich bis in die Gegenwart vier bzw. fünf Auslegungstendenzen unterscheiden 25: (1) In Weiterführung der eben genannten aItkirchlichen Auslegung wird die Erklärung befürwortet, vom Episkopos werde der Verzicht auf eine Wiederverheira· tung nach dem Tod der Frau gefordert'·. Diese Interpretation wird z. T. verknüpft mit der in nichtchristlichen Grabinschriften bekundeten Hochschätzung der nur einmal verheirateten Frau (~6vavöpo<; = univira)27. Ergänzend ließe sich auf den von Paulus den Witwen erteilten Rat, nicht mehr zu heiraten (I Kor 7, 8.39f), verweisen. Bemerkenswert wäre dann aber, daß der Verfasser im Zusammenhang der an die 24 Vgl. H.·W. BARTSCH, Anfänge 129. Zur Auslegungsgeschichte W. A. SCHULZE, Bischof. 25 Vgl. dazu den Überblick bei W. LOCK, Past 36-38. Zumeist werden aber nur vier Auslegungsmöglichkeiten vorgestellt; so etwa bei R. SCHWARZ, Christentum 46-48; J. RoLOFF, I Tim 155f; PH. H. TOWNER, Goal 231 f; H. MERKEL, Past 29f. 2. So deutet den Text etwa O. KNOCH, Past 29; er begründet dies mit der "analogen Forderung" bei den Witwen 5,9. Vgl. aber auch schon H. BALTENSWEILER, Ehe 240f; K. NIEDERWIMMER, Askese 175 Anm. 37; E. LOHSE, Entstehung 65. 27 Vgl. D. C. VERNER, Household BOf mit Anm. 10. Belege zu diesem "Ideal" (vgl. K. THRAEDE, Ärger 153-156) bei J.-B. FREY, Signification.
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1 Tim 3,1-7 Witwen gerichteten Weisungen (1 Tim 5,3 ff) gerade nicht den Rat des Paulus übernimmt, sondern jüngere Witwen ausdrücklich zu einer neuen Heirat drängt (5, 14). Eine Spannung bestünde bei dieser Auslegung auch zu der an anderen Stellen erkennbaren eindeutigen und betonten Wertschätzung der Ehe (vgl. Tit 2,4 und die antignostische Stellungnahme 1 Tim 4,3) und auch zu 2,15. (2) Die Weisung wird gedeutet als "Verbot der Wiederverheiratung Geschiedener"28. Insbesondere mit Verweis auf das in der Jesusüberlieferung bezeugte Verbot der Ehescheidung (vgl. Mk 10,11; Lk 16,18) ließe sich diese Deutung als der christlichen Tradition entsprechend begründen. Als Gegenargument ist jedoch darauf hinzuweisen, daß sich aus dem Text selbst eine solche Spezifizierung und Eingrenzung nicht ableiten läßt 29. Zudem ist zu bedenken, daß auch in christlichen Gemeinden die Trennung von Ehepartnern unter bestimmten Umständen als Möglichkeit zugestanden war, ohne daß dort entsprechende Auflagen genannt werden (vgl. Mt 5,32; 19,9; 1 Kor 7,15). (3) Als Weiterführung der Verteidigung des Wertes der Ehe gegen gnostische Tendenzen (4,3) wird in dieser Formel "Mann (nur) einer Frau" eine Forderung zur Ehe gesehen. So vertritt G. Holtz die Meinung: "Die Weisung unserer Stelle ist antignostisch und antizölibatär." 30 Diese Deutung ist in ihrer Tendenz, vorn Episkopos das zu verlangen, was für alle gilt, nicht als völlig unmöglich auszuschließen. Es ist aber im Rahmen dieses Katalogs, der den Episkopos auf moralische Integrität und ein vorbildhaftes Leben verpflichtet, mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß sich die Erklärung dieser an den Episkopos gerichteten Forderung nicht begnügen darf mit dem bloßen "Daß", also mit der Verpflichtung zur Ehe; denn in diesem Falle wäre das für den Text Wesentliche ausgespart, nämlich die Mahnung, auch in der Ehe ein Vorbild für die Gemeinde und die nichtchristliche Umwelt abzugeben ". (4) Diese Überlegung ist auch geltend zu machen gegenüber der Auslegung, für den Episkopos solle damit "ausschließlich" die Polygamie verboten werden 32. Die 28 So J. JEREMIAS, Past 69; diese Erklärung teilt A. T. HANS ON, Past 78. So u. a. N. BRox, Past 142; J. ROLOFF, 1 Tim 155. Vgl. auch PR. H. TOWNER, Goa1232: "Moreover, mias gynaikos aneris certainly not the clearest way that this idea could have been expressed." 30 G. HOLTZ, Past 76. 31 Der Einwand gegen diesen dritten Deutungsvorschlag, man habe doch "zu deutlich" den "ehelosen Jesus und Paulus vor Augen" gehabt (so N. BAuMERT, Mann und Frau [vgl. Lit. zu 2,8-15] 217), ist aus zwei Gründen recht anfechtbar. Zum einen müßte geklärt werden, warum ein in der christlichen Gemeinde verantwortlicher Vorsteher in bezug auf die Bedeutung des Lebens J esu anders beurteilt werden sollte als die Gemeindemitglieder (zumal durch die Ehe die Tätigkeit in der Gemeindeleitung in keiner Weise beeinträchtigt ist). Zum anderen aber kann angesichts der bestehenden Situation mit der Gefährdung des Glaubens der Gemeinden durch gnostisierende Tendenzen, verbunden mit einer negativen Bewertung der Ehe bzw. gar deren Ablehnung, ausgeschlossen werden, daß der Verfasser solchen Hinweis auf die Ehelosigkeit Jesu bzw. des Paulus auch nur andeutungsweise als Argument akzeptiert hätte; denn damit hätte man den Gnostikern ein höchst willkommenes und von den in den Past repräsentierten Gemeinden schwerlich zu widerlegendes Argument für ihre Forderung zum Verzicht auf die Ehe präsentiert. 32 So STRACK-BILLERBECK, Kommentar III 648. Vgl. auch R. SCHWARZ, Christentum 47: Das "Verbot der Vielehe", von den meisten Exegeten vertreten, erscheine als "weitaus wahrscheinlichste und unkomplizierteste Lösung". 29
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I Tim 2,1 - 3,16 Aktualität und Notwendigkeit einer solchen Verpflichtung auf die Einehe wird dabei bisweilen begründet mit der Möglichkeit der Polygamie (d. h. genauer: der Polygynie) im Judentum und mit der Laxheit heidnischer Ehemoral 33. Als nicht ganz unproblematisch erweist sich dabei allerdings die Charakterisierung der Ehepraxis insbesondere auf seiten des Judentums. Die häufig ganz allgemein erwähnte Praxis der Polygamie kann zwar darauf verweisen, daß das AT das Recht des Israeliten, mehrere Frauen zu haben, voraussetzt (vgl. Ex 21,10; Lev 18,18; Dtn 21,15-17) und die Praxis der Polygamie bzw. Polygynie vor allem bei höhergestellten Personen auch bezeugt 34; doch ob aus dieser grundsätzlichen Möglichkeit und den in der rabbinischen Literatur geführten Diskussionen um die Polygynie die Schlußfolgerung zu rechtfertigen ist, "die Vielweiberei" sei in neutestamentlicher Zeit "mindestens keine seltene Erscheinung gewesen", erscheint recht fraglich 35. Obwohl die genannten "Feindbilder" der jüdischen und der heidnischen Eheauffassung und -praxis bisweilen in der exegetischen Literatur (negativ) überzeichnet erscheinen, ist das Anliegen des Autors doch auch darin zu sehen, mit der Bestimmung "Mann (nur) einer Frau" das Leben des Episkopos gegenüber Verhaltensweisen abzugrenzen, die nicht der christlichen Botschaft und der dem Gemeindeleiter aufgetragenen Verantwortung entsprechen. (5) Damit ist der für die Past entscheidende Gesichtspunkt angesprochen. Der Verfasser nennt nicht (nur) das, was ein Episkopos nicht tun darf, sondern er stellt ihn vor als Vorbild, er nennt die von ihm eingeforderten Tugenden. Die Auslegung muß also harmonieren mit der Tugendliste. Seiner durch das Episkopenamt bedingten Vorbildfunktion 36 kann der Episkopos nur dann gerecht werden, wenn er sich auch in seiner Ehe bewährt 37.
33 Vgl. H. GIESEN, Dienst 28: "Die Einehe als Voraussetzung für das Episkopenamt einzuschärfen ist auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Praxis der Polygamie im Judentum und der laxen Ehemoral des Heidentums keineswegs überflüssig." Entsprechende Hinweise finden sich auch bei N. BROX, Past 142, und J. ROLOFF, I Tim 156, wobei diese beiden Autoren jedoch eine weitergefaßte Interpretation befürworten. 34 Vgl. dazu W. PLAUTZ, Monogamie und Polygynie im Alten Testament: ZAW 75 (1963) 3-27, bes. 13-19. Im Anschluß daran kommt allerdings H. BALTENSWEILER, Ehe 240 (vgl. auch 27-31), zu dem Ergebnis, schon im AT habe "die Polygamie faktisch im Alltag keine große Rolle gespielt; man lebte weitgehend monogam". 3S Gegenüber dieser Meinung von STRACK-BILLERBECK, Kommentar III 647, ist das Ergebnis der Untersuchung der Belege bei B. WITHERINGTON (Women in the Ministry of Jesus. A Study of Jesus' Attitude to Women and their Roles as Reflected in His Earthly Life [MSSNTS 51] [Cambridge 1984] 31), daß es im Judentum der tannaitischen und amoräischen Zeit die Polygamie zwar gab, daß aber aus ökonomischen und moralischen Gründen die Monogamie die herrschende Praxis war. 36 Als diejenigen, die den Gemeinden vorstehen, müssen die Episkopen (wie die Presbyter und die Diakone) sich präsentieren als "viri fidelitatis matrimonialis omnino exemplaris" (S. LYONNET, Vir 10). 37 So verweisen R. L. SAUCY, Husband 239, und E. GLASSCOCK, Husband 252, mit Recht darauf, daß aus dem Kontext der an den Episkopos gerichteten Forderungen auch für die Wendung ävöpa J.Ltö.~ YllvatK6~ sich ein Anspruch an die Einstellung des Mannes nahelege, an seine eheliche Treue, nicht bloß an die gesetzliche Regelung der Ehe. Mit ähnlicher Argumentation ist auch nach S. PAGE, Expectations 106, im Anschluß an die Übersetzung der New English Bible, "faithful to his one wife" (wobei in der Anm. als Alternativen genannt werden: "Ormarried to one wife, ormarried only once"), und seiner daran geknüpften Interpretation, "that the quality of the candidate's marital rela-
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Somit ist die "Forderung nach der Einehe" in den Past am überzeugendsten zu deuten als die "Forderung nach einer guten Eheführung" 38. Hier ist dann aber auch zu würdigen, daß die Past mit dieser zur Diskussion stehenden FOmlel das vorgegebene Tugendinventar der hellenistisch-philosophischen Ethik überschreiten; es wird vom Episkopos etwas verlangt, was zeitgenössisch nicht allgemein als tugendhaftes Verhalten Anerkennung genoß, was aber für das Ansehen des Episkopos sowohl gegenüber den Gemeindemitgliedern als auch für seine Stellung als Repräsentant derselben gegenüber der nichtchristlichen Umwelt sich als wirkungsvoll erweisen konnte. So verstanden paßt diese Bestimmung auch für die Diakone (V 12) und, in entsprechend veränderter Form, für die Witwen (5,9). Der Autor hat nicht die Absicht, die vorgestellten Tugenden exklusiv nur vom Episkopos einzufordern. Wenn dessen Leben und Verhalten als vorbildlich hingestellt und anerkannt werden, dann gilt dies auch für das Leben und Verhalten aller Mitglieder der christlichen Gemeinde, insbesondere hinsichtlich des Verständnisses und der Praxis von Ehe 39 • 3 Entsprechend seiner Stellung in der Öffentlichkeit muß der Episkopos auch in seinem sozialen Verhalten ein Vorbild sein. Die im folgenden genannten Eigenschaften betreffen ganz allgemein die zwischenmenschlichen Beziehungen; sie sind für den Fall von besonderer Bedeutung, daß sie von Personen gefordert werden, die aufgrund ihrer leitenden Stellung Verantwortung für andere tragen. Der Episkopos sollte sich auszeichnen durch die Fähigkeit bzw. zumindest die Bereitschaft, frei von der Verstrikkung in eigene Fehler und Schwächen, wie etwa dem Hang zum Trinken, der Neigung zur Gewalttätigkeit oder auch der Verführung durch das Geld, ausgleichend und vermittelnd seinen Dienst an der Spitze der Gemeinde zu versehen. Mit E1ttEtK1']~ (gütig) und älJ.axo~ (nicht streitsüchtig) wird der Verzicht auf die Durchsetzung eigener Interessen verlangt zugunsten von Nachgiebigkeit und Friedfertigkeit. Die beiden letztgenannten Eigenschaften sind gewissermaßen das Gegenbild zum Säufer (1t(lPotvo~) und zum Schläger (1tA:f]K't11~), eine Zusammenstellung, die im Episkopenspiegel Tit 1,7 wiederbegegnet. Von dem Begriff 1tapotvo~ aus kann man nicht darauf schließen, es handle sich um spezifisch gottesdienstliche Probleme bzw. Verhaltensweisen, die hier geregelt werden sollten (etwa die tionship is in view rather than his marital status per se', eine Erklärung zu befürworten, die auf "eheliche Treue" abzielt (vgl. 113-119); ähnlich J. L. HOULDEN, Past 78. 38 P. TRUMMER, Einehe 483; vgl. DERS., Paulustradition 151: die Termini Illd~ YUVatK6~ avf]p und Ev6~ avlip6~ yuvf] (5,9) sind "KurzformeIn für eine saubere Eheführung"; PR. H. TOWNER, Goal 232. Ähnlich auch (in Verbindung mit der Forderung der Einehe) N. BROX, Past 142f; R SCHWARZ, Christentum 47f; J. ROLOFF, I Tim 156. " Damit ist auch der Einwand hinfällig, es sei doch erstaunlich, daß das Verbot von Polygamie und Konkubinat "nur für den Amtsträger und nicht für die Gemeinde schlechthin" aufgestellt werde (so H. MERKEL, Past 30). Auch wenn die Formel, wie oben betont, nicht auf diese negative Abgrenzung beschränkt werden darf, so ist dies doch auch Inhalt der Forderung an den Episkopos, und das heißt konsequent: an alle Christen.
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Warnung vor übermäßigem Genuß von Wein beim oder im Anschluß an das Herrenmahl) 40. Insgesamt betrachtet, wird auch hier wiederum in einer sehr schematischen Aufzählung 4 ! vom Episkopos ein ordentliches Leben verlangt. Es sind solche Tugenden genannt, die von einem Mann erwartet werden können, der in einer leitenden Stellung das Geschick der christlichen Gemeinde bestimmt und der zugleich aufgrund seiner exponierten Stellung diese Gemeinschaft nach außen hin repräsentiert. In der Auswahl der Eigenschaften ist trotz der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit des erstellten Katalogs auch die Tendenz zu erkennen, den Episkopos und die Gemeinden auf die Bedeutsamkeit der Ordnung der Beziehungen zwischen Vorsteher und Gemeinde hinzuweisen. Auch wenn man die Aktualität nicht zu hoch in Rechnung stellen sollte 42 , so ist doch davon auszugehen, daß sich in dieser Aufzählung neben den schematischen Vorgaben der Tugend- und Lasterkataloge auch Erfahrungen niedergeschlagen haben, die der Verfasser innerhalb und außerhalb der Kirche bei Leuten machen mußte, die, in leitenden Positionen und mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet, vor Machtmißbrauch nicht gefeit waren. 4 Auch der private Bereich des Familienlebens muß in Ordnung sein. Die dazu an den Episkopos gerichtete Forderung ist zweiteilig; sie gilt zuerst einmal allgemein der Erfüllung seiner Pflichten als Herr des Hauses, und sie wird dann in bezug auf die Kinder konkretisiert mit der vom Episkopos zu verantwortenden Beziehung der" Unterordnung". Die Art und Weise der Miteinbeziehung der "Privatsphäre" des Familienlebens zeigt (1) den Anspruch, den jetzt der Autor - bzw. die Gemeinde und eine breitere Öffentlichkeit - an den Gemeindeleiter richtet. Den Bereich des vermeintlich Privaten gibt es für den, der die verantwortliche Position eines Gemeindevorstehers bekleidet, nicht mehr. Die Beurteilung der Qualifikation für das Amt eines Episkopos hat mitzubedenken, ob der Bewerber in dem überschaubaren und überprüfbaren Bereich der Gestaltung des eigenen Familienlebens zeigt, daß er eine Gemeinschaft "gut" zu führen versteht. Sicherlich mag in dieser Forderung der Gedanke mitspielen, daß die Öffentlichkeit bei Personen mit besonderen Aufgaben und entsprechend anerkannter Autorität auch eine Beziehung herstellt In diese Richtung geht die Deutung bei G. HOLTz, Past 77. Zum Vorkommen von in außerbiblischen Texten vgl. R. SCHWARZ, Christentum 53. 41 Vgl. dazu die Ausführungen bei A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 51-56.239-242. 42 Die Erklärung der beiden Forderungen, "kein Säufer" und "kein Schläger", bei A. T. HANS ON, Past 75, die überwiegende Prägung der Kirche Kleinasiens durch die niederen gesellschaftlichen Schichten mache "solche Sicherheitsmaßnahmen" notwendig, ist gewiß überzogen. Und ob man in der Bestimmung, der Episkopos dürfe nicht geldgierig sein, einen Hinweis auf die ihm in den Anfängen zukommende Aufgabe, "das Geld der Gemeinde zu verwalten", sehen darf (so E. LOH SE, Entstehung 65), muß wohl offenbleiben. 40
llapOLVO~
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zwischen den verschiedenen Ebenen des Lebens, auf denen diese agieren 43 • Wichtiger ist jedoch (2), daß in diesem Bild vom Haus Verhaltensweisen gefordert werden, die in den Past auf weite Strecken das Bild von Gemeinde und Kirche prägen. Das zeigt sich in der Auswahl der Aspekte, in denen der Episkopos sich "im Haus" zu bewähren hat: Er muß seine Aufgabe als " Vorsteher" des Hauses zuverlässig ausfüllen, was die Durchsetzung der ihm aufgrund seiner Position zustehenden Vollmacht einschließt. Und er hat die Kinder in der ihnen gebührenden Haltung der" Unterordnung"zu "halten" (also aktives Tun: ~xoVta). Sowohl in der Art und Weise der Beschreibung der sozialen Beziehungen der Hausgemeinschaft als auch in der Übertragung der im "Haus" geltenden Funktionen und Verhaltensweisen auf das öffentliche Leben bzw. auf die christliche Gemeinde orientieren sich die Past an den in der hellenistischen Welt geläufigen und anerkannten Normen. Das Spezifikum der Past ist jetzt die ekklesiologische Umsetzung 44 • Dem 1tpoimaa9at im eigenen Haus entspricht das "Vorstehen" in der Gemeinde (vgl. 5,17, angewendet auf die Presbyter). Entsprechend wendet sich die Forderung zur Unterordnung (u1t01:ayfJ) an alle anderen Mitglieder der "Hausgemeinschaft"; betont wird dies aber im Blick auf die Beziehungen in der christlichen Gemeinde, was bereits bei der an die Frauen gerichteten Mahnung zur "Unterordnung" (2,11) deutlich wurde. Der ekklesiologische Rang dieser Bestimmung zeigt sich auch darin, daß der Autor umgekehrt als Kennzeichen der Irrlehrer nennt, daß sie solche sind, die sich nicht unterordnen wollen (Tit 1,10: «lVU1t6'taK'tot) 4S. 5 Der Stellenwert der Qualifikation im privaten Bereich des Hauses wird nicht in Frage gestellt; doch die eigentliche Bedeutung des Motivs vom guten Vorsteher des Hauses liegt für die Past in der Verknüpfung mit der Kirche. Die Bewährung im "eigenen Haus" erscheint geradezu als Voraussetzung und Qualifikationsnachweis für die Übernahme der Verantwortung durch den Episkopos in der "Ekklesia Gottes"~ Dabei folgt der Autor wieder der Vorgabe zeitgenössischer außerchristlicher Philosophie und Ethik. An die Stelle der dort geläufigen Zuordnung Haus - Staat 46 tritt nun die
Hier wird nach R. SCHWARZ, Christentum 59, eine "Grundtendenz der Past" sichtbar: "christliches Leben äußert sich nicht nur im Außergewöhnlichen und Besonderen, sondern in der schlichten Erfüllung des Alltäglichen". 44 "Die Hausgemeinschaft mit ihren Ordnungen und festen Regeln dient als verkleinertes Modell für die ganze Gemeinde oder die ganze Kirche": H.-J. KLAUCK, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103) (Stuttgart 1981) 67. 4' Zur "Analogie zwischen Gemeinde und Hausgemeinschaft" vgl. H. v. LIPs, Glaube 121-138. 46 Z. B. in der Formulierung bei Sophokles, Ant. 66lf(zit. u. a. bei N. BRox, Past 146): "Nur wer im eigenen Haus sich bewährt, wird auch im Staat als tüchtig sich erweisen." Zu weiteren Belegen mit ähnlichen Formulierungen M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 43f; H. v. LIPS, Glaube 126-130. 43
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Verknüpfung "das eigene Haus" - "die Kirche Gottes" (tÖtoe; otKoe; EKKATJO"ia 9wu). Mit dieser Verknüpfung wird nun aber nicht nur die Aufgabe des Episkopos plastisch abgebildet; sie hat auch Auswirkungen für das Verständnis von EKKATJO"ia. Oder besser gesagt: Diese Verknüpfung ist bereits Abbild für die Sicht von Gemeinde und Kirche in der von den Past repräsentierten dritten christlichen Generation. Seit Paulus hat sich, nicht zuletzt bedingt durch das Zurücktreten der Parusie erwartung 47, der Charakter der Beziehungen von Verantwortungsträgern und Gemeinde entscheidend verändert. Zumindest ansatzweise ist dies festzustellen am Gebrauch und am Verständnis von EKKATJO"ia (9wu). 'EKKATJcria könnte man in der vorliegenden Zusammenstellung mit olKoe; verstehen als Steigerung in der Größe des sozialen Gefüges; der Episkopos muß sich bewähren nicht nur im Haus, sondern in dem größeren Kreis der Gemeinde. Auf einer ersten Verständnisebene ist diese Interpretation ohne Zweifel zutreffend. Die Funktion des Episkopos wird hier jedoch nicht nur in Blick genommen hinsichtlich seines gemeindespezifischen Handeins, sondern auch hinsichtlich seiner allgemeinen, grundsätzlichen Bedeutung. Das, was als Auftrag des Paulus an die Gemeindeleiter weitergegeben werden soll, was als deren Aufgaben und Kompetenzen formuliert wird, erhält Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bei der Einführung der vorliegenden Zuordnung von "Haus" und "Ekklesia" unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit ist es geradezu die leitende Absicht des Autors, die in der Institution begründete Gemeinsamkeit zu betonen, was zuerst zwar die Einzelgemeinde betrifft, dann aber auf die Anerkennung in der ganzen Kirche abzielt 48. Mit dem Bild vom Haus verbindet sich der Gedanke der "familia dei" 49; in der familia dei kommt dem Träger des Aufsichtsamtes, d. h. dem Episkopos, eine besondere Stellung zu. Die gesamtkirchliche Perspektive ist daraus zu ersehen, daß der Ausgangspunkt in 3,1 die E1ttcrK01tT], das Vorsteheramt, war. Der gute, qualifizierte Episkopos gilt für alle Gemeinden, d. h. für die Kirche, als ebenso wichtig, ja unverzichtbar wie der gute, souveräne Hausvorstand für die Familie. Erneut stellt sich bei dieser sehr starken Betonung der Bedeutung des Episkopenamtes in gesamtkirchlicher Hinsicht der Eindruck ein, daß dieses Amt dem Verfasser in Sicht auf die anstehenden Probleme, nämlich die Verteidigung des Glaubens gegen Irrlehrer, besonders wichtig erschien. Dagegen spricht weder, daß in der Vgl. dazu H. v. LIPS, Glaube l43f. Nach J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 232, bezeichnet EKKAT]cria hier und in 5,16 "ohne Zweifel die Einzelgemeinde" ; ähnlich H. v. LIPS, Glaube 95 f. Sicher zu eng ist die von t1tLlJ.eUOlJ.aL her begründete Interpretation bei G. HOLTZ, Past 78, die Fürsorge gelte "der EKKAT]cria ·tOO Beoo, die als Entsprechung zu lÖW~ OrKO~ lokal, d. h. als Ortsgemeinde verstanden werden kann". 49 Vgl. J. ROLOFF, EWNT I 1009: "Das Bild des Hauses geht fließend in das des Haus· wesens über: Die Kirche ist familia dei. So kann eine Analogie zwischen der Funktion des Hausvaters und der des gemeindlichen Amtsträgers gezogen werden." 47
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gleich folgenden Aufzählung der Ermahnungen an die Diakone Ähnliches verlangt wird, daß sie nämlich den "Kindern und ihren Häusern gut vorstehen" müssen (3, 12), noch, daß in 5, 17 die Presbyter lobend herausgestellt werden, von denen gesagt wird, daß sie "gute Vorsteher" (KaA(j)~ 1tpOEa't(j)'tE~) sind; denn damit bezeugen die Past zwar noch eine gewisse Vielfalt von Ämtern, gleichzeitig aber auch den eindeutigen Vorzug für das Episkopenamt; die Ausführlichkeit der an den Episkopos adressierten Mahnungen und damit die ihm zuerkannte bzw. für ihn geforderte Autorität belegen dies zur Genüge. Es wird die grundsätzliche ekklesiologische Bedeutung auch durch die beiden folgenden VV 6.7 bestätigt, wo auf die Repräsentationsfunktion des Episkopos gegenüber den Heiden abgehoben wird. Das bedeutet für den hier gewiß nicht zufällig eingeführten Begriff €KKATJaLa, daß es ganz prinzipiell um die Kirche und um den allgemeinen ekklesiologischen Stellenwert des Anites und um dessen Ausübung geht. Gerade angesichts dieser Gewichtung des Episkopenamtes ist dann aber auffällig, daß in der Begründung das eigentlich Ekklesiologische, nämlich der Glaube an den Messias Jesus als die unverzichtbare Mitte, nicht angesprochen wird. Ja, man' könnte den Eindruck gewinnen: nicht die christliche Botschaft bewegt die "Welt", sondern die "weltlichen" Strukturen bestimmen, wie es in der "Kirche Gottes" zugehen sol15o. Angesichts der sich wandelnden Bedingungen - das Anwachsen der Gemeinden mit strukturellen Problemen, das Zurücktreten der Parusieerwartung mit der Notwendigkeit einer theologischen Aufarbeitung, das Aufkommen häretischer Anschauungen mit der Gefährdung des Glaubens und der Einheit der Gemeinden 51 - gibt die Ausrichtung der Gemeinden an den anerkannten und geläufigen Strukturen gemeinschaftlichen Lebens Sicherheit; Konsolidierung nach innen und Profilierung gegenüber einer durchaus kritischen Umwelt sind zu erstreben. Es kommt dann in der Tat zu einer "Anpassung an die Umwelt"". Es sollte aber nicht übersehen werden, daß es dabei immer um die Weitergabe des Evangeliums und um die Bewahrung der Identität der "Wahrheit" geht, wie sie der Autor v'lr:,mgehend (vgl. 2,4-6) eindeutig und unmißverständlich zitiert hat. Bea":~_Lung verdient schließlich im Blick auf das von den Past entwikkelte Bild vom Gemeindeleiter, daß in unserem Zusammenhang für die Beschreibung seines verantwortlichen Handeins das Verbum ,;sorgen" verwendet wird (€1tLJ.LEAEta8at, im NT nur noch in der Geschichte vom barmherzigen Samariter Lk 10,34f). Es ist zwar davon auszugehen, daß
50 Wenn N. BRox, Past 144, angesichts der Übertragung der Pflichten aus dem Haus und aus der Familie auf das Episkopenamt formuliert, damit werde nun "ausdrücklich die Brücke von der allgemeinen Tugendregel zur speziellen Amts-Qualifikation geschlagen", dann darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß im Verständnis der Past diese vom Amtsinhaber verlangte Qualifikation "im Haus" auch als Vorbild für alle Mitglieder der christlichen Gemeinden in Geltung bleibt. 51 Mit G. SCHÖ·LLGEN, Hausgemeinde 85, ist also die oI1(o~-Ekklesiologie der Past nicht zu verknüpfen mit der frühen Organisationsform der Hausgemeinden, sondern sie entwickelt sich erst in der dritten christlichen Generation, wo wir "mit größeren und damit der Gefahr der Desintegration stärker ausgesetzten Gemeinden rechnen müssen". 52 Vgl. H. v. LIPS, Glaube 150f.
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der Autor sich wieder an der traditionellen Aufgabenbeschreibung für den "Hausherrn" 51 orientiert; denn dessen Vorrangstellung betrifft auch die Verantwortlichkeit für die "Fürsorge" (bnI1EAEtU) 54. Im Gesamtduktus der für die Bewerbung zum Episkopenamt aufgezählten Anforderungen ist in bttl1EAEtcrSUt jedoch mehr zu sehen als bloße Abhängigkeit von vorgegebenen Topoi. Während im vorausgehenden V 4 mit den Begriffen npo'(cr1:aI1EVO\; und uno1:uYTJ das Moment der Überlegenheit akzentuiert ist, wird nun mit Einführung von tml1EAEtcrSat die in der "Fürsorge" für die "Kirche Gottes" liegende Verantwortung und Verpflichtung betont 55. Die verantwortliche Verwaltung des Episkopenamtes ist einerseits gekennzeichnet (und muß es sein) durch die Inanspruchnahme von Autorität; andererseits muß sie geprägt sein von der "Sorge" für die Untergebenen. So sehr also jeweils das Moment der autoritativen Vollmacht des Episkopos herausgestellt wird, so vergißt der Autor doch nicht, darauf hinzuweisen, daß mit dem Amt immer auch die Verantwortung verbunden ist. Nur wenn der Episkopos sein Amt als "Sorge" versteht, hat seine Autorität den rechten Bezug zu den ihm Anvertrauten und Untergebenen, und das heißt: zur "Kirche Gottes". 6 nimmt die Konstruktion der VV 2-4 wieder auf. Es folgt eine spezifische, den Episkopos betreffende Forderung. Die Ablehnung eines Neubekehrten für das Amt des Episkopos wird begründet mit einer für alle recht plausiblen Erklärung, möglicherweise auch mit praktischen Erfahrungen der Gemeinden: Der schnelle Aufstieg eines Neubekehrten zu der genaimten verantwortlichen Position in einer Gemeinde als "Aufseher" könnte zu einer Haltung führen, die nicht nur dem Stellenwert des Amtes, sondern auch der Eingebundenheit der Autorität in den Dienst an der "Kirche Gottes" widersprechen würde. Sicher ist dabei die Gefahr im Blick, daß eine übereilte Übertragung von Verantwortung und Vollmacht zu Stolz und zu Hochmut führen kann 56. Mit 1:Uq>OülI1Ut (eitel, verblendet werden) ist aber nicht nur die Gefahr der Eitelkeit und des Machtmißbrauchs angesprochen. Es sind für die Erklärung die beiden anderen Belege der Past mit diesem Verbum 1:Uq>Oüll1at hinzuzunehmen; dort ist der Zusammenhang mit der Bewährung des Glaubens bzw. der Gefahr des Glaubensverlustes gegeben: so 1 Tim 6,4, wo das Verbum den kennzeichnet, der "Falsches lehrt" (hEPOÖtÖUcrKUAEt) und sich nicht an die "gesunden Worte" hält (I Tim 6,3); ähnlich, wenn auch nicht ganz so deutlich, 2 Tim " Die Auslegung von E. LASSMAN, Ordination 292f, mit der in den W 4.5 ausgesprochenen Mahnung an den Episkopos, der schon von V 2 her ("Mann einer Frau") nur als Mann zu denken sei, werde die Frau ebenso vom pastoralen Dienst ausgeschlossen wie ihr die Führung im Haus abgesprochen werde (Ordination 292 f), würde zur Intention der Past, die gemeindlichen Aktivitäten der Frauen einzuschränken, durchaus passen. 54 Vgl. die Belege bei H. v. LIPS, Glaube l26f. Im NT steht E1lt/!EASta nur noch Apg 27,3. 55 Vgl. C. SPICQ, Lexique 562 (557-563). 56 Vgl. N. BRox, Past 146.
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3,4, wo u. a. als 't'E't'UCj><.OJ.LEVOt die Menschen "in den letzten Tagen" bezeichnet werden, die "die Macht der Frömmigkeit verleugnen" (2 Tim 3,1-5). Auf diesem Hintergrund scheint auch eine deutlichere Akzentuierung von 't'uCj>c.o8Ei; im Zusammenhang der Episkopenregel möglich. Die Aufgabe des Episkopos als "Vorsteher" der Gemeinde (VV 4.5: npotO''t'U0'8at) und als "Verantwortlicher" für die Kirche Gottes (V 5: E1ttI-U::AE"i:0'8at) erfordert, da ihm die Sorge für den Glauben der Gemeinde aufgetragen ist, eigene Bewährung im Glauben. Dafür aber bietet der Neubekehrte (noch) nicht ausreichend Gewähr. Mit der vorgetragenen Einschränkung will der Autor vielleicht auch auf die Gefahr aufmerksam machen, daß ein "Neubekehrter"57 aufgrund von fehlender Verwurzelung in der Glaubenslehre und wegen mangelnder Einbindung in die Glaubenstradition einerseits der ihm dann aufgetragenen Aufgabe der Verkündigung nicht gerecht werden kann und er andererseits auch den "falschen Lehren" gegenüber wehrlos ist 58. In dieser Situation von Unsicherheit und eigener Gefährdung kann er aber nicht für den Glauben der Gemeinde und der Kirche sorgen. Da auf diese Weise seine Verfehlung nicht nur ihn selbst schuldig werden läßt, sondern auch die ihm Anvertrauten betrifft, wird die damit verbundene Gefahr drastisch so umschrieben, daß er dem "Gericht des Teufels" verfällt. Die Formel Kpil1a mü otaß6Aou kann einmal übersetzt werden mit "Gerichtsurteil des Satans"; dann würde hier die Drohung ausgesprochen, daß der Teufel Anklage erhebt vor dem Gericht Gottes (vgl. Apk 12,10)59. Oder diese Wendung meint das Gericht, welches schließlich auch den Teufel treffen wird. An unserer Stelle scheint diese zweite Deutung näherliegend; denn die Nennung der Bedingungen für eine gute Ausübung des Episkopenamtes setzt auch die Möglichkeit des Versagens voraus. Wer aber der ihm übertragenen Aufgabe untreu wird und damit sich gegen den Willen Gottes verfehlt, begibt sich auf die Seite Satans und ist damit dem vernichtenden Gericht Gottes über Satan verfallen. Die vorausgesetzte Situation der christlichen Gemeinde zeigt wieder Züge einer fortgeschrittenen Reflexion über die Notwendigkeit und die Bedingungen einer Gemeindeordnung, die sich auf einige, besonders qualifizierte Personen stützt. Auch diese Forderung, nur bewährte Christen in das Episkopenamt zu übernehmen, paßt am besten in ein schon fortgeschrittenes Stadium der Entwicklung der christlichen Gemeinden, da nicht mehr (wie etwa noch bei Paulus) das missionari-
Das Adjektiv vc6
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I Tim 2, I - 3,16 sche Werben im Vordergrund stand, sondern (zumindest anfanghaft) die Konsolidierung der Gemeinden nach innen und die Profilierung nach außen 60. Vielleicht steht hinter der hier erhobenen Forderung aber auch eine andere Problematik. Die Gemeinden sind gewachsen und haben ein großes Maß an eigenständiger Verantwortung entwickelt. Manche Strukturen sind aus der Umwelt übernommen worden, manche sind erst in den Gemeinden entstanden. Es haben sich bestimmte Funktionen herausgebildet, und zugleich haben diese Funktionen bestimmte Träger gefunden. Diese Funktionsträger sind in ihre verantwortliche Stellung hineingewachsen und prägen sie. Wenn nun ein anderer diese Aufgabe zu übernehmen sich anschickte, der noch dazu einen entsprechenden Nachweis von "Tradition" aufzuweisen nicht in der Lage war, der also (zumindest im Vergleich) "neu" bekehrt war, dann konnte dies zu Spannungen mit den schon etablierten, in und mit den Gemeinden gewachsenen Autoritäten führen. Die entstandenen Strukturen zeigten wohl auch damals sehr schnell die Tendenz, sich zu etablieren und zu verfestigen. Es verstärkt sich die Orientierung nach innen; N euem und N euen wird mit Skepsis begegnet. Derartige Probleme sollen vermieden werden. Die Forderung von V 6 hätte somit stärker den Charakter einer Konzession. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Zuverlässigkeit überwiegt. Diese Einstellung verdeutlicht der abschließende Vers.
7 Der Episkopos repräsentiert die Gemeinde gegenüber den Nichtchristen, Heiden und Juden. Dem Urteil "derer draußen" (ot e~(J)8Ev) ist deshalb schon im Vorfeld der Bestellung eines Episkopos Aufmerksamkeit zu schenken. Üble Nachrede (6VE10lcrIl6~) schadet nicht nur dem Ansehen des Amtes, sondern der ganzen Gemeinde und der Kirche. Das Bild von der "Schlinge des Teufels" veranschaulicht die Gefahren, welche die exponierte Stellung des Episkopos mit sich bringt; wir finden es in ähnlicher Form 2 Tim 2, 26 und 1 Tim 6,9 61 • Und doch wird nicht ohne weiteres deutlich, wie dieses Bild von der "Schlinge des Teufels" hier zu verstehen ist. In einem ersten Schritt läßt sich diese Wendung deuten als "böswillige Nachstellung"; diese kommt dann zum Ziel, wenn sie es schafft, den Anspruch des Episkopos zu gefährden bzw. zu widerlegen durch den Verweis auf mangelnde Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit 62 • Da das mit "übler Nachrede" entstehende Problem aber schon formuliert ist mit 6VE10lcrIl6~, wird man bei der daran angeschlossenen Beschreibung der Gefährdung durch die "Schlinge des Teufels" an eine weiterreichende Situation zu denken haben, nämlich an die Gefährdung des Glaubens 63 • 60 Die Inanspruchnahme dieser neben der Lehrbefahigung spezifisch christlichen Forderung als "ein wichtiges Indiz für den deuteropaulinischen Charakter der Pastoralbriefe" (H. GIESEN, Dienst 30; ähnlich schon u. a. N. BRox, Past 146; J. ROLoFF, I Tim 160 Anm. 258) ist im Zusammenhang mit anderen Argumenten sicherlich gerechtfertigt. Allerdings ist zuzugestehen, daß ein Ausschluß von "Neugetauften" von bestimmten Diensten auch für die letzten Lebensjahre des Paulus nicht völlig unmöglich wäre und daß "neu" nicht nur als zeitliches Maß verstanden werden, sondern auch für geistige Reife stehen kann (vgl. T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 113). 61 Mit S!lltLm;eW Ei~ ltaYLoa in Spr 12,13; Sir 9,3; Tob 14,10: vgl. M.DIBELIUs H. CONZELMANN, Past 44. 62 Vgl. dazu N. BRox, Past 147. 63 Vgl. auch G. HOLTz, Past 78.
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I Tim 3,1-7
Der Autor fordert dazu auf, das gute Ansehen des Amtsträgers in einer heidnischen Umwelt nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wo dem Episkopos der gute Ruf abgeht, da besteht die Gefahr, daß das Ansehen des Amtes Schaden leidet, daß die ordentliche Leitung der Gemeinde nicht mehr gesichert ist und daß schließlich die Zuverlässigkeit der Glaubensüberlieferung in den Strudel der Verdächtigungen gerät. Es kommt hier im Verweis auf die Bedeutung eines guten Urteils über die Mitglieder der christlichen Gemeinde durch Außenstehende ein immer wieder vorgetragenes Anliegen der Past zur Sprache (vgl. 5,14; 6,1; Tit 2,5.8.10)64. Während dieses Motiv bei Paulus kaum eine Rolle spielt (vgl. 1 Thess 4,12; 1 Kor 10,32), rückt es verständlicherweise in paränetischen Abschnitten späterer Texte stärker in den Vordergrund (vgl. Kol 4,5; 1 Petr 2,12.15; 3,1.16)65. Das recht auffällige Bild von der "Schlinge des Teufels" ist also damit zu erklären, daß mit dem Ruf des Gemeindeleiters mehr auf dem Spiel steht als nur sein persönliches Ansehen, nämlich die Ordnung der Gemeinde und damit die Garantie für eine getreue Weitergabe des Glaubens. III In diesem Abschnitt wird, bezogen auf den Episkopos, das Bild eines Gemeindeleiters gezeichnet, der den Anforderungen nach zumindest über die Tugenden verfügen muß, die in der allgemeinen Paränese von weltlichen Beamten und den für das Gemeinwohl Verantwortlichen eingefordert werden 66. Besonders viel Gewicht legt der Text auf den allgemein vorbildlichen Lebenswandel des Vorstehers. Dabei schlägt vielleicht auch der Realismus der Situation der Abfassungszeit durch. Das Amt des Episkopos ist in der christlichen Gemeinde noch nicht fest etabliert. Dem Pseudo-Paulus der Past erscheint dieses Amt ·in der Situation der Gefährdung des Glaubens durch gnostisierende Tendenzen wichtig, und deshalb zeichnet er mit den aufgezählten Tugenden denjenigen, der als Episkopos an der Spitze der Gemeinde stehen soll, als einen vertrauenswürdigen und zuverlässigen Menschen. Die Anforderungen an den christlichen Amtsträger werden zum einen diktiert von der Lage der Gemeinde und den in ihr auftretenden Spannungen, zum anderen aber auch von einem gewachsenen Verantwortungsbewußtsein gegenüber den außerchristlichen politischen und sozialen Vgl. dazu W. C. VAN UNNIK, Die Rücksicht auf die Reaktion der Nicht-Christen als Motiv in der altchristlichen Paränese: W. ELTESTER (Hrsg.), Judentum - Urchristentum - Kirche. FS J. Jeremias (BZNW 26) (Berlin 1960) 221-234, hier 229f. " Vgl. dazu H. MERKEL, Past 31. Die Intention und das Argumentationsgefälle sind allerdings bei Paulus deutlich anders akzentuiert. Während nach Aussage der Past die Anerkennung durch die nicht christliche Umwelt als Voraussetzung für die Übernahme innergemeindlicher Dienste gilt, ermahnt Paulus die Christen zu einem Leben aus dem Glauben mit dem Zie~ auch "denen, die draußen sind", keinen Anlaß zu einem Vorwurf zu geben (vgl. I Thess 4,9-12; 1 Kor 10,23-33). 66 Vgl. V. HASLER, Past 27. 64
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I Tim 2,1 - 3,16
Bedingungen. Mit der Hinordnung der Verantwortung auf das Gemeindeleben wird der Bezug zum Umfeld der Gemeinde noch verstärkt. In der "Welt" und vor der "Welt" muß der Episkopos sich bewähren. Als Repräsentant nach außen hin hat er auch den Erwartungen der Nichtchristen zu entsprechen. Und sicherlich war das schon in dieser Zeit gar nicht so einfach und selbstverständlich. Die Funktion des Episkopos ist die eines für die Gemeinde und damit für die ganze Kirche verantwortlichen Leiters. Bei der Formulierung der von ihm geforderten Eigenschaften hält der Autor sich an traditionelle Tugendkataloge. Es wird das Bild eines Mannes vorgestellt, der allgemein als Vorbild gelten kann und der für die Führung in verschiedenen Bereichen geeignet erscheint. Die Grenze zwischen gemeindespezifischen Anforderungen und weltlichen Aufgaben wird bewußt nicht streng gezogen. Damit zusammenhängend wird von den Amtsträgern verlangt, daß sie nicht nur die ihnen übertragenen Verpflichtungen der Gemeinde gegenüber zu beachten haben, sondern daß sie auch als Repräsentanten der christlichen Gemeinden vor der "Welt" Verantwortung tragen. Damit mag der Wunsch einer gewissen "Öffentlichkeitswirkung christlichen Verhaltens" 67 mit werbendem Charakter verbunden sein; Aussagen wie die der VV 6.7 zeigen aber auch die Tendenz ängstlicher Normanpassung und darin den "mehr defensiven Charakter" der Anforderungen 68. Bewährung heißt im wesentlichen Bewahrung. Wenn konkret gefragt wird, worin denn nun die Aufgaben des Episkopos bestehen, dann gibt uns dieser Abschnitt keine Antwort. Ganz global aber ist zu sagen: Die Aufgaben des Gemeindeleiters liegen in den Anordnungen, die der als Verfasser vorgestellte Paulus dem ebenso fiktiven Nachfolger Timotheus schreibt. Diese sind allerdings nicht nur dem Episkopos gesagt, sondern allen anderen Amtsträgern. LITERATUR: A. ADAM, Die Entstehung des Bischofsamtes: WuD 5 (1957) 104-113; J. M. BOYER, Fidelis Senno: Bib. 19 (1938) 74-79; P. BENOIT, Les origines de I'Episcopat dans le Nouveau Testament: Exegese et Theologie 11, Paris 1961, 232-246; R. E. BROWN, Episkope and Episkopos: The New Testament Evidence: TS 41 (1980) 322-338; P. ELLINGWORTH, The ,true saying' in 1 Timothy 3.1: BiTr 31 (1980) 443-445; G. FITZER, Die Entwicklung des Vorsteheramtes im NT: Pro Oriente. Konziliarität und Kollegialität als Strukturprinzipien der Kirche. I. Theologische Konferenz, 6. bis 7. März 1970 (München 1975), 91-109; J. B. FREY, La signification des termes 1l6vavopo~ et univira: RSR 20 (1930) 48-60; H. GIESEN, Im Dienst der Einheit. Die Funktion der Dienstämter im Zeugnis neutestamentlicher Schriften: SNTU 15 (1990) 5-40; E. GLASSCOCK, "The husband of one wife". Requirement in I Timothy 3:2: BS 140 (1983) 244-258; J. GNILKA, Geistliches Amt und Gemeinde nach Pau1us: Kairos 11 (1969) 95-104; J. HAINZ, Die Anfänge des Bischofs- und Diakonenamtes: Kirche im Werden 91-107; U. HOLZMEISTER, "Si quis episcopatum desiderat, bonum opus desiderat" (I Tim. 3, I): Bib. 12 (1931) 41-69; E. LASSMAN, 1 Timothy 3: 1-7 and Titus 1 : 5-9 and the Ordination N. ßROX, Past 147. Vgl. H. v. LIPS, Glaube 158; auch J. ROLOFF, 1 Tim 161. Dieser "defensive Charakter der Motivation aus Rücksicht auf die Mitchristen" wird von P. LIPPERT, Leben 33, zu Recht als Kennzeichen der Past benannt. 67
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1 Tim 3,8-13 of Women: CTQ 56 (1992) 291-295; H. LIETZMANN, Zur altchristlichen Verfassungsgeschichte: Das kirchliche Amt im NT 93-143; E. LOHSE, Episkopos in den Pastoralbriefen: Kirche und Bibel. FS E. Schick (Paderbom 1979) 225-231; DERS., Die Entstehung des Bischofsamtes in der frühen Christenheit: ZNW 71 (1980) 58-73; S. LYONNET, "Unius uxoris vir" (1 Tim 3,2.12; Tit 1,6): VD 45 (1967) 3-10; F. NÖTSCHER, Vorchristliche Typen urchristlicher Ämter? Episkopos und Mebaqqer: Vom Alten zum Neuen Testament BBB 17 (Bonn 1962) 188-220; OTT, Si quis episcopatum desiderat, bonum opus desiderat (1 Tim. 3,1): PastB 34 (1921/22) 499-506; S. PAGE, Marital Expectations of Church Leaders in the Pastoral Epistles: JSNT 50 (1993) 105-120; I. DE LA POTTERlE, "Mari d'une seule fernrne". Le sens theologique d'une formule paulinienne: Paul de Tarse, apötre de notre temps (hrsg. v. L. de Lorenzi) (Rom 1979) 619-638; R. L. SAUCY, The Husband ofOne Wife: BS 131 (1974) 229-240; R. SCHNACKENBURG, Episkopos und Hirtenamt: Schriften zum Neuen Testament (München 1971) 247-267; G. SCHÖLLGEN, Monepiskopat und monarchischer Episkopat. Eine Bemerkung zur Terminologie: ZNW 77 (1986) 146-151; W. A. SCHULZE, Ein Bischof sei eines Weibes Mann: KuD 4 (1958) 287-300; C. SPICQ, "Si quis episcopatum desiderat ... " (I Tim. HI.I): RSPT 29 (1940) 316-325; DERS., L'eveque docteur selon les Epitres Pastorales: Terno. 8 (1955) 113-121; K. STALDER, ETIILKOnOL: IKZ 61 (1971) 200-232; P. TRuMMER, Einehe nach den Pastoralbriefen. Zum Verständnis der Termini J.Lla~ yuva.lK()~ avf]p und tvo~ avllpo~ yuvf]: Bib. 51 (1970) 471-484.
d) Die Anforderungen an die Diakone (Diakonenspiegel) (3,8-13)
Diakone müssen in gleicher Weise ehrbar sein, nicht doppelzüngig, nicht übermäßigem Weingenuß ergeben, nicht gewinnsüchtig; 9 sie sollen das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren. 10 Auch sie sollen zuerst geprüft werden; dann, wenn sie unbescholten sind, sollen sie als Diakone Dienst tun. 11 Frauen müssen in gleicher Weise ehrbar sein, nicht verleumderisch, (sondern) nüchtern, zuverlässig in allem. 12 Diakone sollen Männer von (nur) einer Frau sein, ihren Kindern und dem eigenen Haus gut vorstehen. 13 Denn die, welche (als Diakone) ihren Dienst gut versehen haben, erwerben sich einen guten Rang (Ansehen) und große Zuversicht im Glauben an Christus Jesus. 8
I
Schon grammatisch ist der Diakonenspiegel eng mit dem Episkopenspiegel verbunden; das OEt: von V 2 ist weiterhin als Anknüpfungspunkt vorausgesetzt. Aber auch inhaltlich ist gleich von Beginn an die Parallelität erkennbar; bei der Aufzählung der vom Diakon eingeforderten Tugenden steht am Anfang - wie beim Episkopos (V 2) mit aVE1tLA.1l!l1tTO<;; (untadelig) - mit crE!lv6<;; (ehrbar) ebenfalls "ein eher allgemeiner Begriff' 1, und es folgen dann wieder konkretere Bestimmungen. Insgesamt gesehen liegt auch an dieser Stelle, trotz der Möglichkeit, in Einzelaussagen einen Bezug zu Aufgaben in den christlichen Gemeinden herzustellen, "keine spezifische Pflichtenlehre, sondern eine Tafel von allgemeiner Verwendbarkeit" vor 2 • Für das Verständnis der Gemeindeleiterparänesen ist eine nicht unI
2
R. SCHWARZ, Christentum 62. N. BROX, Past 152.
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1 Tim 2,1 - 3,16
wichtige Frage die nach dem Grund für die hier vorgenommene Verknüpfung von Anweisungen an den Episkopos und an die Diakone. Damit verbunden ist zu bedenken, daß der Verfasser sich nicht begnügt mit einem bloßen cOcra(l'tro~ - in dem Sinne: Gleiches (was zum Episkopos gesagt ist) gilt für die Diakone -, sondern eine eigene Liste anfügt, wodurch einerseits die Bedeutung dieser Gruppe unterstrichen wird, andererseits aber durch unterschiedliche Akzentsetzungen amtsspezifische Bedingungen berücksichtigt sein könnten. Was die Zusammenstellung von Episkopenspiegel und Diakonenspiegel betrifft, so scheint es auf den ersten Blick naheliegend, auf die bereits bei Paulus, wenn auch nur an dieser einzigen Stelle, bezeugte gemeinsame Erwähnung von "bdcrKOnm" und "oulKovm" in der Grußzuschrift Phi! I, I zu verweisen. Gegen eine di· rekte Abhängigkeit der Past von Phi! 1,1 sprechen jedoch die schon erwähnten unterschiedlichen Numeri beim Episkopos; in den Past wird er 1 Tim 3,2 und Tit 1,7 im Singular genannt, Paulus hingegen gebraucht Phili, I den Plural.
-Es ist davon auszugehen, daß die vorliegende gemeinsame Nennung von Episkopos und Diakonen ihren Grund in einer durch die Entwicklung der Gemeinden notwendig gewordenen Reflexion über Funktion und Aufgaben der genannten Amtsträger Episkopos und Diakone in der Zeit der Past hat. Im Vergleich zu Paulus haben sich die Gemeindestrukturen entscheidend geändert. Das zeigt sich auch darin, daß über die Adresse des Timotheus und Titus die in den Past erwähnten Funktionsträger exklusiv angesprochen werden, wenn es um die Belange der christlichen Gemeinden und die dafür Verantwortlichen geht; gleichzeitig bleibt aber anzumerken, daß eindeutige Aufgabenbeschreibungen für die einzelnen Gruppen und eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten fehlen. Der Versuch einer Bestimmung der Beziehung zwischen Episkopos und Diakonen in den Past bzw. in den angesprochenen Gemeinden muß deshalb recht hypothetisch bleiben. Vom Text her scheint es zunächst gerechtfertigt, die vorliegende Abfolge der Beschreibung der Pflichten im Sinne einer Zuordnung und einer Unterordnung des Diakonenamtes unter das Episkopenamt auszulegen 3. Läßt sich zwar die Aussage von der "Zuordnung" noch damit begründen, daß das Amt des Episkopos besonders betont erscheint und der Anschluß der Mahnungen an die Diakone mit cOcrau1:ro~ (V 8) diese Gruppe in den an sie gerichteten Forderungen am Episkopos ausrichtet 4, so fehlt für die
3 In diese Richtung zielt die Verhältnisbestimmung bei N. BROX, Past 151, auf seine Bezeichnung (als "Diener") hin sei der Diakon "als Gehilfe des Bischofs und somit der Kirche anzusprechen, in Zuordnung und Unterordnung gegenüber dem Bischofsamt" ; ähnlich lautet die Verhältnisbestimmung bei R SCHWARZ, Christentum 40, "daß die lim· Kovm eine dem t1ttcrK01tO~ zu- und untergeordnete Stellung innehatten". Dageger spricht sich etwa aus G. HOLTZ, Past 82. 4 J. ROLOFF, 1 Tim 174-176, formuliert ebenfalls sehr zurückhaltend, daß "Episkopel und Diakone einander zugeordnet" sind; er beschreibt dann aber als das "Leitbild, da dem Verf. vor Augen steht", "die als Gottes Hauswesen geordnete Kirche am Ort, de
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1 Tim 3,8-13
Begründung der Annahme, der Verfasser wolle die Beziehung im Sinne einer Ämterhierarchie festlegen, einmal die durchaus denkbare ausdrückliche Feststellung dieser Unterordnung; sodann sollte man für den Fall einer vom Verfasser intendierten Stufung von Aufgaben und damit verbunden einer hierarchischen Gliederung eine klarere und auf Differenzierung bedachte Beschreibung der den bei den Amtsträgern zukommenden Funktionen in der Gemeinde erwarten 5. Schließlich steht die durchgängig in allen drei Schreiben zu beobachtende ekklesiologische Konzeption in Spannung zur Vermutung einer derartigen Stufung; das Interesse der Past richtet sich auf die Beziehung von Gemeinde und Gemeindevorsteher, nicht aber auf eine Festlegung der Beziehungen der in der Gemeindeleitung Tätigen oder gar auf eine Ämterhierarchie. Für die an unserer Stelle gewählte Reihenfolge der Gemeindevorsteherparänese, Episkopos - Diakone, mag - und dies würde anderen Beobachtungen (etwa zu 3, Ib.c) entsprechen - der Wunsch mit ausschlaggebend gewesen sein, dem Amt des Episkopos in der kirchlichen Umgebung des Verfassers zu einem höheren Ansehen zu verhelfen. Eine Gemeinsamkeit zwischen den die Diakone betreffenden Anweisungen und dem voranstehenden Abschnitt zum Episkopos liegt auch darin, daß konkrete Angaben dazu fehlen, worin die Aufgaben der Diakone in den Gemeinden im einzelnen bestanden haben. Aus der Warnung vor "Gewinnsucht" in V 8 wird bisweilen die Folgerung gezogen, daß die Diakone mit der Verwaltung von Sachmitteln in den Gemeinden zu tun hatten. Das ist zwar nicht auszuschließen; man wird sich aber hüten müssen, diesen Ausdruck zu eng auszulegen, denn auch der Episkopos wird vor "Habgier" gewarnt (3,3). Ein Blick auf die Schilderung des Konflikts um die Witwenversorgung in der Jerusalemer Gemeinde und dessen Lösung nach Apg 6, 1-6 kann zumindest indirekt für die Klärung der Stellung der Diakone in frühchristlicher Zeit hilfreich sein. Dort wird bei der Auswahl der "Sieben" aus der Gruppe der Hellenisten ihre Aufgabe beschrieben als" Tischdienst" (V 2: OtUKOVELV 'tpulli;~at~); doch schon aus der Art und Weise der betonten Erwähnung besonderer Fähigkeiten (V 3) und dann auch ihrer Tätigkeit (6,8-10; 8,5 f) läßt der Verfasser der Apg erkennen, daß er deren Aufgabe nicht exklusiv in der materiellen Versorgung bedürftiger griechischsprechender Gemeindemitglieder sehen will. Ihr Auftrag liegt in der umfassenden Vertretung der Interessen dieses Teils der Jerusalemer Gemeinde, in Entsprechung zur Gruppe der Zwölf und ihren Zuständigkeiten für die "Hebräer", d. h. die aramäischsprechenden Mitglieder der Gemeinde. Dies schließt den Dienst für die Arjeweils ein 61lLcrK01l0<; verantwortlich vorsteht, umgeben von einer Schar von Diakonen". 5 H. V. LIPS, Glaube 116 mit Anm. 116, gibt diese fehlende Beschreibung der Funktion eines Diakons zu bedenken. Auch J. ROLOFF, I Tim 176, wendet sich dagegen, im Verfasser den Verfechter eines dreigestuften Amtes (Bischof - Presbyter - Diakone) oder eines zweigestuften Amtes (Bischof - Diakone) zu sehen. Die Gefahr einer nivellierenden Vereinheitlichung zeigt sich hingegen in der Interpretation von CH. ZETTNER, Amt 203, es lasse sich eine "Entwicklungslinie des christlichen Diakonats" nachzeichnen, nämlich "die konsequente (und außerchristlich nicht bezeugte!) Zu- und Unterordnung der OUiKOVOL unter die 61lLcrKOllOL von PhilI, I an über I Tim 3, 1-7.8-13 bis zu Did 15, I, I CI em 42,4.5 und zur späteren Entwicklung".
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I Tim 2, I - 3,16 men und Hilfsbedürftigen mit ein - allerdings für die heiden Gruppierungen des Zwölferkreises und des Siebenerkreises. Der Grund, daß Lk für die Siebenergruppe "bewußt den Amtstitel oU1Kovo~ vermeidet", ist mit A. Weiser am besten damit zu erklären, daß dieser Titel "wohl mit Funktionen des Verkündigungsdienstes verbunden war", daß Lk aber "eine bereits vorhandene Führungsgruppe der urchristlichen Mission" - nämlich die "Diakone" - "den Aposteln unterordnen (wollte). Er erreichte es dadurch, daß er sie von den Aposteln einsetzen ließ, ihren Dienst auf die Armenfürsorge beschränkte (vgl. aber Apg 6,8) und den Titel ,Diakon' mied" 6. Damit aber wird die geläufige Interpretation des Textes aus Apg 6 als Beleg für die FestIegung des Aufgabenbereichs der Diakone auf karitative Tätigkeiten (im Unterschied oder gar im Gegensatz zur Verkündigung) fragwürdig. In der Darstellung der Apg dringt die doppelte AufgabensteIlung der Diakone noch durch: Verkündigungsdienst und Betreuung der Hilfsbedürftigen '.
In dieser doppelten Richtung ist wohl auch das Amt des Diakons, wie es die Past kennen, zu bestimmen, so daß es in jedem Fall auch als gemeindeleitende Funktion in einem allgemeinen und umfassenden Sinn zu bewerten ist. Die Aufgabenbereiche mögen unter den verschiedenen Amtsträgern unterschiedlich verteilt gewesen sein - wobei zum einen auf die Schwierigkeit hinzuweisen ist, diese Verteilung aus den Angaben der Past zu konkretisieren, zum anderen auf die Gefahr, daß spätere Entwicklungen in die Texte eingetragen werden; gleichzeitig ist die Art und Weise des vorliegenden Versuchs der Einflußnahme seitens des Autors der Past ein Zeichen dafür, daß die Übergänge zwischen den einzelnen Funktionsbezeichnungen bzw. -trägern noch fließend waren. 11
8 Aufs Ganze gesehen werden, mit z. T. anderen Begriffen, die gleichen Forderungen erhoben wie beim Episkopos. Und inhaltlich ist wieder zuzugestehen, daß die aufgeführten Eigenschaften im wesentlichen nicht besondere, außerordentliche Tugenden vorstellen, sondern daß sie so etwas wie einen Mittelwert menschlich-sozialen Verhaltens markieren, der nicht nur für Christen oder gar ausschließlich für Inhaber/innen leitender Stellungen Gültigkeit hat. Würde man also die verlangten Haltungen lesen ohne Wissen um den dazugehörigen Personenkreis, so käme man nicht ohne weiteres auf den Gedanken, daß hier Qualifikationen christlicher Amtsträger genannt werden. Gleiches galt ja auch schon für die meisten Verhaltensforderungen im Episkopenspiegel. Wie dort die "Ehrbarkeit" verlangt war (V 4: O"qlVO'TjS;), so wird auch von den Diakonen gefordert, daß sie "ehrbar" sein müssen. Der umfassende und allgemeingültige Charakter dieser Mahnung zu einem ehrbaren A. WEISER, EWNT 1731. Vgl. auch B. DOMAGALSKI, Waren die "Sieben" (Apg 6, 1-7) Diakone?: BZ 26 (1982) 21-33, bes. 31-33. , T. HOLTz, Christus Diakonos 137-139, macht auf die "Differenzierung zwischen dem Dienst der Wortverkündigung und dem Dienst der Fürsorge für Bedürftige" in I Petr 4,10 fund Apg 6, 1-4 aufmerksam; darin spiegle sich "die Entwicklung des DiakonenAmtes in der frühen Gemeinde" wider. 6
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I Tim 3,8-13
und würdigen Leben wird verdeutlicht durch einen Blick auf 2, 2; dort war das für alle Christen gültige Ziel des Lebens formuliert mit den Stichworten EUcrEPEUl und crE~v6'tTJ~. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, mit crE~v6~ eine "religiös-kultische Forderung" erhoben zu sehen, die zu beziehen wäre auf den Dienst des Diakons beim Herrenmahl 8 • Die Bedeutung ist weit allgemeiner zu fassen. Was beim Episkopos einleitend und grundsätzlich der Begriff "untadelig" (a.VE1tU.TJ~1t'to~) beschrieb (3,2), das wird jetzt bei den Diakonen ähnlich programmatisch und umfassend ausgedruckt durch das Adjektiv "ehrbar" (crE~v6~); darin ist eine Lebensführung angesprochen, die als dem Willen Gottes entsprechend und zugleich für die Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde vorbildlich gelten kann 9. So läßt sich dieser Haltung immerhin eine vom Glauben geprägte Sinngebung zusprechen. In dieser Zuordnung ist das Zugeständnis enthalten, daß wir uns auf der Ebene eines umfassend christlichen Ethos bewegen, nicht aber auf der Ebene eines herausgehobenen und gesteigerten Gemeindeleiter-Ethos. Was für die Christen allgemein gilt, das gilt - allerdings in besonderer Weise - für die in leitender Position stehenden Diakone. Dies hat zwar in dieser Allgemeinheit auch für die drei folgenden Kennzeichen Gültigkeit: nicht doppelzüngig, nicht dem Wein ergeben, nicht gewinnsüchtig; doch sind "diese elementaren, unspezifischen Forderungen" 10 nicht einmal auf den Kontext einer christlichen Gemeinde angewiesen oder aus ihr als typisch herzuleiten 11. Diese Forderungen an die Diakone bezüglich ihrer Lebensführung sind vom Verfasser ganz sicher bewußt und gezielt ausgewählt worden; denn sie sind unmittelbar von Bedeutung für die Aufgabe, die sie nach den Past haben. Und diese Aufgabe ist neben der Repräsentation der Gemeinde gegenüber den Nichtchristen die Mithilfe an der Gestaltung des Gemeindelebens entsprechend dem rechten Glauben. Wollen sie dieser ihrer Verantwortung gerecht werden, dann ist alles zu meiden, was die Beziehung zur Gemeinde belasten könnte: Falschheit und Unzuverlässigkeit im Wort 12 zerstören das gegenseitige Vertrauen; das Laster der Trunksucht als Zeichen mangelnder Eigenverantwortung und Selbstbeherrschung schließt die Fähigkeit aus, für andere Verantwortung zu übernehmen; und wo Geld und Gewinn das Denken und Handeln des Menschen bestimmen, da werden die Mitmenschen entsprechend taxiert und zu Objekten eigenen Strebens degradiert 13. • So die Deutung bei G. HOLTz, Past 83. • Vgl. zu den Belegen in der hellenistischen Literatur R SCHWARZ, Christentum 61 f, für unseren Zusammenhang mit der "Bedeutung des würdigen Verhaltens vor Gott und den Menschen". N. BROJe, Past 152. 11 Die Warnung vor Gewinnsucht sollte deshalb nicht damit erklärt werden, daß die Diakone "es mit den Gemeindegeldern, also Armen- und Krankenfürsorge zu tun hatten", wie J. JEREMlAS, Past 26, formuliert. Vgl. dazu auch Anm. 13. 12 Si.A.oyo, ist neutestamentliches Hapaxlegomenon und auch in der griechischen literatur kaum belegt; vgl. R. SCHWARZ, Christentum 63. 13 Auch atOXPOKEpSi" ist am besten in diesem grundsätzlichen Sinn zu interpretieren,
I.
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I Tim2,1-3,16
An dieser Stelle sei kurz die Frage nach der Bedeutung und dem Stellenwert solcher katalogartiger Paränese eingeschoben. Welches Ziel steht dahinter? Welche Resonanz wird erwartet, wenn doch nur das gefordert wird, was alle anständigen Menschen zu tun sich bemühen? Diese Pflichtenkataloge sind zu sehen im Kontext dessen, was oben (2,1-7) zur sog. "christlichen Bürgerlichkeit" gesagt worden ist. Die Christen müssen Ernst machen mit der Einsicht, daß ihr Glaube sich zuallererst zu bewähren hat in der Routine des Alltags. Von dieser Notwendigkeit sind die Amtsträger nicht ausgenommen. Christen können viel lernen, wenn sie sich in ihrem Gemeindeleben auf die Grundprinzipien besinnen, die sich in den Familien ihrer Zeit und im gesellschaftlichen Zusammenleben bewährt haben, und wenn sie in der Verwirklichung der verschiedenen Tugenden ihr Leben so gestalten, daß es als Ausdruck des Glaubens an den universalen Heilswillen Gottes verstanden werden kann, nicht nur bei denjenigen, die den gleichen christlichen Glauben haben, sondern auch bei denen, die diesen Glauben nicht kennen und nicht teilen, seine Überzeugungskraft aber danach beurteilen, ob er sich im Leben der Glaubenden widerspiegelt.
Für die christlichen Amtsträger kommt noch etwas hinzu. Die Bedeutung dieser Tugenden liegt für sie letztlich nicht nur darin, daß sie ein gutes und ordentliches Leben führen; für sie geht es darum, daß sie durch eine untadelige Gestaltung ihres ganzen Lebens in die Lage versetzt werden, ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden, nämlich der Gemeinde, der Kirche Gottes gut vorzustehen, für sie Sorge zu tragen (vgl. V 5). Die vorgestellten Tugenden" werden hier zur Voraussetzung, daß das Leben der christlichen Gemeinde der ,gesunden Lehre' entsprechend und als Ordnung ,im Haus Gottes' (V 15) geregelt ist" 14. 9 Dieser Vers bringt eine Formulierung, die zumindest die spezifisch christliche Verantwortung der angesprochenen Diakone belegt 15. Mit der Wendung "Geheimnis des Glaubens" ist eine Bestimmung eingetragen, die in dem Gebrauch von llucrTi]pwv an Paulus erinnert. In I Kor 2, I bezeichnet der Apostel den Inhalt seiner Verkündigung als "das Geheimnis Gottes" (TI) der auf die Verantwortung auch des Diakons (wie des Episkopos: aqnAapyupo~ 3,3) für den Glauben der Gemeindechristen abhebt, wie ja dann Tit I, l1 entsprechend als Kennzeichen der Irrlehrer genannt wird, daß sie "um schändlichen Gewinnes willen" (aicrXpoü KtpooU~ XaplV) lehren. Gegen die Verknüpfung der Bedingung IlTJ aicrXPoKEPoEr~ mit der These, daß die Diakone "für die Verteilung der finanziellen Gemeindemittel zuständig gewesen sein (dürften)" (so J. ROLOFF, Themen und Traditionen urchristlicher Amtsträgerparänese: H. MERKLEIN [Hrsg.), Neues Testament und Ethik. FS R. Schnakkenburg [Freiburg 1989)507-526, hier 517), spricht v.a., daß dieselbe Forderung außer an den Episkopos in I Petr 3,8 auch an die Presbyter (IlTJOE aicrxpoKEpO(j)~) gerichtet wird (für R. SCHWARZ, Christentum 63, allerdings ein Hinweis darauf, daß "offensichtlich alle amtlich Bestellten mit Gemeindefinanzen zu tun hatten"); vor dem Laster der "Habgier" (1tAEOVE~la) warnt auch schon Paulus (Röm 1,29; vgl. I Kor 5, IOf; 6,10; 2 Kor 9,5). 14 Vgl. N. BROX, Past 153. 15 Vgl. auch R. SCHWARZ, Christentum 64: "Die Aufzählung rein ,bürgerlicher' Tugenden ist hier endgültig durchbrachen."
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I Tim 3,8-13 ~ucrTf]pwv 'taU BeaU) 16. In den Deuteropaulinen (Kai 1,26; 2,2; 4,3; Eph 1,9; 3,4) wird dann ~ucrTf]pwv im Rahmen des sog. "Revelationsschemas" 17 sowohl in christologischer als auch in ekklesiologischer Hinsicht ausgefaltet: Christus ist das "seit Äonen und Generationen" im Heilsplan Gottes verborgene "Geheimnis", welches "jetzt" seinen Heiligen offenbart worden ist und den Heiden verkündigt wird (vgl. Kol 1,26 f). Das ~ucrTf]pwv ist also der" verkündigte Christus"; es ist somit nicht nur Gegenstand der von Gott geschenkten Offenbarung, sondern auch Gegenstand der den Aposteln und dann der Kirche aufgetragenen Verkündigung (vgl. Eph 3,8-10). Der Begriff ~ucrTf]pwv hat also in den Deuteropaulinen schon weitgehend die allgemeine Bedeutung einer Bezeichnung des Christuskerygmas gewonnen 1'.
Eine noch stärkere Formalisierung von I1l.lcrnlPtoV ist dann in der vorliegenden Verbindung mit nicrn~ gegeben 19. Durch diese Verbindung von nicrn~ und I1l.lcrTi]PtoV wird die Unverfügbarkeit des Glaubens im Sinne einer von Gott her kommenden Offenbarung betont; insofern bleibt ein Grundzug des Revelationsschemas, nämlich der Auftrag zur Verkündigung des Christuskerygmas, weiterhin gewahrt. Das vorrangige Interesse liegt in der hier gegebenen Redewendung I1l.lcrTi]PtoV Tii~ nicr'tE(Ü~ aber darauf, die Verantwortung der Diakone für den "Besitz" (exov'ta~) des Glaubens und dessen treu er Bewahrung zu unterstreichen. Der Begriff I1l.lcrTi]PtoV erhält an dieser Stelle seinen Sinn nicht aus einer Reflexion über den Heilsplan Gottes, sondern aus der Schilderung der konkreten Situation der christlichen Gemeinden in der Auseinandersetzung mit Irrlehrern um den rechten Glauben. Die Formel l1ucrnlPtOV Tfj~ nicr'tE(Ü~ ist folglich im wesentlichen identisch mit nicrn~ 20 und meint "faktisch die tradierte Lehre", "im ganzen also Rechtgläubigkeit" 21. Diese Einbindung von l1ucrT11PtoV in den kirchlichen Gebrauch und seine Verwendung zur Kennzeichnung des rechten Glaubens zeigt sich auch in der vorliegenden Ergänzung der Charakterisierung des im Glauben bewährten Diakons: sein Merkmal ist das "reine Gewissen". Ein "gutes Gewissen" war schon einleitend als unterscheidendes Kennzeichen des frommen, rechtgläubigen Gemeindemitgliedes im Unterschied zu den "Falschlehrern" genannt worden (1,3.5). Solche Lauterkeit der Gesinnung wird nun ausdrücklich von den Diakonen gefordert und ist deshalb in Ver16 Solcher Bezug zur Verkündigung des Paulus ist auch bei den anderen Belegen zu erkennen: I Kor 2,7; 4,1; 13,2; 14,2; 15,5lf. 17 Vgl. dazu H. KRÄMER, EWNT 11 11 02 f. I' Vgl. dazu D. LÜHRMANN, Offenbarungsverständnis 117-122.124-133: H. MERKLEIN, Amt 202-204.210-215; A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief (StNT 12) (Gütersloh 1975) 74-80; R. HOPPE, Das Mysterium und die Ekklesia. Aspekte zum Mysterium-Verständnis im Kolosser- und Epheserbrief: A. SCHILSON (Hrsg.), Gottes Weisheit im Mysterium (Mainz 1989) 81-101; P. POKORNY, Der Brief des Paulus an die Epheser (ThHK 10/11) (Leipzig 1992) 140-142. 19 N. BRox, Past 153, verweist aber darauf, daß von einem "formelhaften Eindruck" auch schon bei den paulinischen Texten zu sprechen sei. 20 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 47. 21 H. KRÄMER, EWNT 11 I 104.
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1 Tim2,l-3,16
bindung mit der ihnen zukommenden Aufgabe zu bringen; sie sollen dadurch befähigt werden, für die Bewahrung des rechten Glaubens Sorge zu tragen. Diese Ermahnung ist ein Hinweis darauf, daß den Diakonen (neben dem Einsatz im Bereich der sozialen Dienste und der karitativen Tätigkeit) auch in der Glaubensverkündigung eine wichtige Funktion zukam 22. Dies scheint durch den folgenden Vers bestätigt zu werden, der im wesentlichen auf der Forderung bezüglich der 1tto'tt<;; aufbaut. 10 Das Anliegen, welches mit dem Stichwort OOKtl-1a~EOeat umschrieben ist, sollte nicht zu eng ausgelegt werden im Sinne einer für die Übernahme des Amtes geforderten Prüfung oder einer Art von Probezeit23 • Es ist vielmehr ein Hinweis darauf, daß auch die Diakone mit Sorgfalt ausgewählt werden sollen, daß sie sich bereits im Glauben bewährt haben müssen. Dies, so darf aus dem Anschluß mit Kai oi'i'tot gefolgert werden, gilt schon für den Episkopos. Dort ist diese Forderung zwar nicht ausdrücklich ausformuliert 24, sie ist aber in der Ablehnung der Übernahme eines Neubekehrten in das Episkopenamt enthalten. Sachlich liegt folglich mit dieser Bedingung der Überprüfung in V 10 nur eine Variante der in V 6 an den Episkopos gerichteten Bestimmung vor. Die "Unbescholtenheit" ist Voraussetzung für die Übernahme in das Diakonenamt ; sie muß bereits unter Beweis gestellt worden sein. Es geht dabei "einfach um die Frage der sittlichen und charakterlichen Eignung" 2S. Wenn aber bei den Diakonen das Moment der Bewährung so betont wird, dann ist, v. a. im Zusammenhang mit dem im vorangehenden Vers genannten Aspekt des Haltens und Bewahrens des Geheimnisses des Glaubens, zu vermuten, daß ihr Rang in der Gemeinde nicht unbedeutend war, daß sie also eine durchaus wichtige Stellung im Rahmen der VerkündIgung und der Glaubensweitergabe einnahmen. Diese Frage nach Position und Funktion der Diakone in den Gemeinden ist insbesondere bedeutsam im Blick auf die Bestimmung der im nächsten Vers angesprochenen Frauen.
J. GNILKA, Amt 101. Vgl. auch A. SAND, Anfange 230: Die an die Diakone gerichteten Forderungen schließen "die Aufgabe des Lehrens ein, so daß letzten Endes der Aufgabenbereich von Episkopen und Diakonen wieder deckungsgleich ist". 23 Solches vertritt jedoch etwa N. BRox, Past 153; er findet hier "die praktische Regel" formuliert, "die eine direkte Prüfung des Kandidaten für das Diakonamt in Form einer längeren Bewährungsfrist im Glauben anordnet"; ähnlich G. HOLTZ, Past 84; J. JEREMIAS, Past 26. 24 Die von J. ROLoFF, 1 Tim 164, gegebene Erklärung, bei der Wahl des Bischofs sei die Gefahr eines Mißgriffs weniger akut gewesen, "weil die Bischöfe im RegelfaIl sicherlich aus den Reihen der bereits in ihrem Dienst hinreichend bewährten Diakone genommen wurden (vgl. V 13)", erscheint fragwürdig; der Autor verzichtet ja beim Episkopos auch nicht auf einen ausführlichen TugendkataIog. Und auch die Mahnung in 3,6 ergäbe unter dieser Voraussetzung wenig Sinn. 2' F. J. SCHIERSE, Past 49. II
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I Tim 3,8-13
11 Die Eigenschaften, die der V 11 von "Frauen" fordert, sind einmal der Liste für den Episkopos, zum anderen dem Diakonenspiegel entnommen. Es ist unbestritten, daß die betroffenen Frauen in den Gemeinden zu einer genau umgrenzbaren Gruppe gehörten 26. Aber dann gibt es noch zwei Möglichkeiten: Diese yuvatKE(; sind entweder solche Frauen, die die Funktion und Aufgabe eines Diakons ausüben, oder es handelt sich um die Ehefrauen der zuvor genannten Diakone. Die konkreten Forderungen in diesem Vers geben in dieser Frage keinen eindeutigen Aufschluß, wenn auch bereits aufgrund der Parallelität der angemahnten Verhaltensweisen eher daran zu denken ist, daß eine neue Gruppe von Funktionsträgerinnen eingeführt werden soll, die gleichberechtigt neben dem Episkopos und den anderen Diakonen, also den Männem, steht. Es ist allerdings nicht ohne weiteres auszuschließen, daß der Verfasser bei den genannten Frauen an die Ehefrauen der Diakone denkt. Schon an dieser Stelle ist jedoch daraufhinzuweisen,daß gerade nicht dasteht: "ihre Frauen"27. Zugunsten der Erklärung der yuvatKE(; als Frauen der Diakone könnte immerhin angeführt werden, daß auch in diesem Fall ihr Verhalten aufgrund der Position ihrer Männer in der kirchlichen Öffentlichkeit bedeutsam wäre, auch in der Repräsentation gegenüber nichtchristlichen Kreisen. Die Interpretation der geforderten Verhaltensweisen muß sich die gleiche Zurückhaltung auferlegen wie im Zusammenhang der Kataloge beim Episkopos und bei den Diakonen. Hier spezifische Schwächen bzw. Fehlhaltungen der Frauen genannt sehen zu wollen erscheint äußerst problematisch 28.
Daß die Frauen "würdig" sich verhalten und auftreten sollen, stellt sie mit den Diakonen auf eine Stufe und betont damit auch ihre Verantwortung in der Öffentlichkeit, in der Gemeinde und gegenüber Außenstehenden. Es ist dies wiederum eine Verhaltensbestimmung, die in besonderer Weise die Beziehung zu den Mitmenschen gewichtet und so die Verantwortung für die Gemeinschaft betont (vgl. auch O"EJ.l.v6'tT](; in 2,2). In die2. Dies ist festzuhalten gegen die Annahme, es handle sich bei der Nennung der Frauen wie Tit 2,3 lediglich um "eine Aneinanderreihung ohne innere Verbindung" (so A. SAND, Anfange 231). Dagegen spricht u. a. die vom Verfasser bewußt und sorgfältig gestaltete thematische Abfolge in Kap. 3; Episkopos - Diakonoi - "Haus Gottes". 27 So etwa die Übersetzung bei J. JEREMIAS, Past 26. Während H. MERKEL, Past 31, für den Fall, daß die Ehefrauen der Diakone gemeint sein sollten, noch recht zurückhaltend anmerkt, dann hätte der Verfasser "wohl ,ihre Frauen' geschrieben~', hätte dies nach Überzeugung von J. ROLOFF, I Tim 164, "durch den Zusatz des Possessivpronomens aö1:Cöv zu yuvatKa~ zum Ausdruck gebracht werden müssen". 2. Vgl. dagegen J. JEREMIAS, Past 26, der den Verfasser vor der "Zungensünde der Verleumdung" warnen läßt, "der ja die Frau besonders leicht erliegt". Auch G. HOLTZ, Past 85, sieht ÖulßOA.O~ "auf die dem weiblichen Geschlecht nachgesagte stärkere Versuchlichkeit zum Klatsch gemünzt". Solche "VersuchJichkeiten" müßten dann konsequenterweise auch bei den den männlichen Partnern in der Gemeindeleitung abverlangten Haltungen angenommen werden, also Trunksucht und Hang zur Gewalttätigkeit. - Kritisch dazu auch J. ROLOFF, I Tim 165, der eine "direkte geschlechtsspezifische Ausrichtung" bei der Auswahl der "Forderungen für die weiblichen Diakone" verneint.
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1 Tim 2,1-3,16
selbe Richtung geht die Mahnung, nicht verleumderisch zu sein; denn mit der Manipulation der Wahrheit ist ebenso wie durch "Doppelzüngigkeit" (vgl. V 8) das Zusammenleben von Gemeinschaften gefährdet. Derartiges Verhalten wäre in jedem Fall untragbar für Frauen, die, entsprechend der an sie von Pseudo-Paulus gerichteten Anweisung, in wichtigen Positionen in den Gemeinden stehen. Die "Nüchternheit" findet die als Diakone tätigen Frauen wieder vereint mit dem Vorsteher-Episkopos (vgl. 3,2). Die letzte Formulierung "zuverlässig in allem" kann ebenfalls verstanden werden als allgemeine und umfassende Aufforderung zu einem ordentlichen und vorbildlichen Leben. Vielleicht ist aber hier wenigstens andeutungsweise eine für die Männer und Frauen im Amt eines Diakons spezifische Beziehung herauszuhören. Der Gedanke der Universalität ist für die Past zentral; er wird ausdrücklich formuliert sowohl in bezug auf die Verkündigung des Heilswillens Gottes und die sühnewirksame Selbsthingabe Jesu (vgl. 2,3-6) als auch im Zusammenhang der Verantwortung der Christen (vgl. 2,1). Die "allumfassende" Zuverlässigkeit verweist auf den Ort der Diakone an den "Scharnierstellen" des Zeugnisgebens in Wort und Tat, insbesondere als Vertreter der christlichen Gemeinde gegenüber der nichtchristlichen Umwelt. Das bei der Auslegung zugrundegelegte Verständnis der angesprochenen "Frauen" als Diakoninnen kann sich auf gute Argumente stützen (s. u.) und darf deshalb zumindest als "sehr wahrscheinlich" gelten 29. Dennoch ist auch vom Text her keine letzte Sicherheit zu gewinnen. Die unterschiedlichen Positionen sind (im Anschluß an zwei Vorschläge aus jüngerer Zeit) folgendermaßen zu charakterisieren: (I) Zugunsten der Erklärung, bei den "Frauen" sei gedacht an die Frauen der Diakone, läßt sich anführen, das Wort yuVatKEC; sei "zu allgemein, um daraus ein Amt erschließen zu können. Zudem spricht die Stellung innerhalb des Diakonenspiegels dafür, an die Frauen der Diakone zu denken, da ja auch in anderen Ämterspiegeln auf die Familienverhältnisse der betreffenden Amtsträger Bezug genommen wird" 30. (2) Demgegenüber ist aber gleich die Frage zu stellen, ob im Rahmen eines Ämterspiegels eigentlich zu erwarten ist, daß die Anforderungen an die Ehefrauen der Diakone eigens aufgeführt werden, zumal solches beim gerade zuvor genannten Episkopos nicht der Fall war. Diese Feststellung erlaubt zusammen mit der schon angesprochenen Vorstellung der yuVatKEC; ohne das die Zugehörigkeit zu den Diakonen als Ehefrauen anzeigende bzw. zumindest verdeutlichende Possessivpronomen a01:UlV die Schlußfolgerung, "daß es in V 11 nicht um die Frauen der Diakone, sondern um weibliche Diakone, also um Amtsträger, geht"". Für diese Deutung spricht auch, daß gleich 29 H. MERKEL, Past 31; zuversichtlicher J. ROLOFF, 1 Tim 164: "Daran, daß mit den ,Frauen' weibliche Diakone - und nicht etwa die Ehefrauen der VV 8-10 und V 13 genannten Diakone - gemeint sind, sollte kein Zweifel mehr möglich sein." Eine eindeutige Entscheidung hält A.."G. MARTIMORT, Diaconesses 16-19, für nicht möglich; für die von ihm favorisierte Hypothese einer späteren Interpolation von V 11 (erwogen auch bei C. SPICQ, Past 456) fehlen aber Anhaltspunkte im Text und sachbezogene Gründe. 30 So das Urteil bei H. v. LIPS, Glaube 117 f. VgL auch K. ROMANIUK, Phoebe 132. 31 G. LOHFINK, Weibliche Diakone 333. VgL auch J. COLSON, Diakonat 20f; C. E. CERLING, Women Ministers 211 f.
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I Tim 3,8-13 "im nächsten Vers die Diakone auf ihre Verantwortung in der Gestaltung ihres Familienlebens angesprochen werden. Wir müssen jedoch davon absehen, die noch vorhandene Unsicherheit durch die Heranziehung anderer zeitgenössischer Belege, wo Frauen als "Diakone" vorgestellt sind, "historisch" beheben und ausgleichen zu wollen; so etwa durch das Zeugnis des Paulus in Röm 16,1 f, wo Phöbe, eine Christin aus der korinthischen Hafenstadt Kenchreä, als OUlKOVO<; bezeichnet wird 32; oder mit dem Brief des Statthalters von Bithynien, Plinius des Jüngeren (um 112), in welchem dieser schreibt, daß zwei als Christinnen angeklagte Sklavinnen, die als "ministrae" bezeichnet werden, durch Folterung zu Aussagen gezwungen werden sollten 33. Die bei den Belege können zwar die Existenz von weiblichen Diakonen nicht nur für die Zeit des Paulus, sondern auch noch für die Zeit der Past sicherstellen (und dafür werden wir am Schluß noch einmal auf sie zurückkommen müssen); für die Frage aber, ob hier in I Tim 3, II an Diakoninnen zu denken ist bzw. ob der Verfasser solche nennen wollte, können sie unmittelbar nicht ausgewertet werden.
Das aus dem Textzusammenhang kommende und deshalb aussagekräftigste Argument ist der Anschluß mit ro(Jall'tü)~. Dadurch werden die Forderungen an ,,[die] Frauen" - es ist in der Satzkonstruktion immer noch das OEi: von V 2 bestimmend! - auf eine Stufe gestellt und gleichgeordnet mit den Aussagen zum Episkopos und zu den (männlichen) Diakonen. Diesen werden sie so in ihrem Stellenwert in der Gemeindeordnung und damit auch in ihrer Funktion im Rahmen der Gemeindeverwaltung in einem umfassenden, alle Lebensvollzüge betreffenden Sinn gleichgestellt. Ihre Bedeutung liegt somit nicht bloß darin, daß andere, nämlich - gemäß der erstgenannten Auslegung - ihre als Diakone in den Gemeinden wirkenden Ehegatten, nach ihnen beurteilt werden; sie selbst sind es, die aufgrund ihrer offiziellen, amtlichen Funktion in den Gemeinden über anderen stehen und deshalb eigens auf ihre Verantwortung in ihrem Leben und Verhalten hin angesprochen werden müssen. Wenn dies zutrifft, wenn sodann auch zutrifft, daß die Aufgabe der Diakone (und da ist natürlich ohne Belang, ob weiblich oder männlich) nicht nur im Rahmen karitativer Tätigkeit zu sehen ist, sondern daß auch die Verkündigung dazugehört, dann ist allerdings zu fragen, wie sich solches verträgt mit I Tim 2,9-12, der massiven Verpflichtung der christlichen Frauen auf Unterordnung und Schweigen und dem betonten Verbot für sie, zu lehren. Diese Frage wird auffälligerweise von den Befürwortern der Erklärung von yuVatKe~ als weibliche Diakone, soweit übersehbar, nicht gestellt. Eine Erklärungsmöglichkeit liegt m. E. in folgender Zuordnung: Der Verfasser weiß um die Mitarbeit von Frauen im Amt eines Diakons in christlichen Gemeinden, und er kann dies nicht einfach ignorieren, wenn er von der Verantwortung der Amtsträger für Leben und Glauben, für sich selbst, für die Gemeinden und umfassend für die Kirche spricht. Deshalb J2
Das Femininum OLUK6vL<Jcra ist erst seit dem 2. Jahrhundert belegt (vgl. u. a. G. Weibliche Diakone 326). Hinweise u. a. bei G. LOH FINK, Weibliche Diakone 333.
LOH-
FINK, 33
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I Tim 2,1 - 3,16
werden im Rahmen der katalogartigen Ermahnungen an Personen in verantwortlichen Positionen in den Gemeinden auch die Frauen (= Diakoninnen) genannt. Die Art und Weise aber, wie er von den "Frauen" in der Stellung von Diakonen spricht, zeigt einige Besonderheiten. Er spricht über sie vergleichsweise kurz und knapp, mit der Aufzählung von nur vier Eigenschaften. Durch die eingeschobene Stellung im Diakonenspiegel zwischen VV 8-10 und VV 12f entsteht zudem der Eindruck, als sollten die "Frauen" zwischen den männlichen Kollegen gleichsam versteckt werden und ganz in deren Schatten stehen, als sollten sie nur so nebenbei zur Sprache gebracht werden 34. Die in der Auslegung angesprochenen Zweifel über die Identität der Y\)VaiKe~ - weibliche Diakone oder Ehefrauen der Diakone - könnten auf diesem Hintergrund vom Verfasser bewußt grundgelegt sein 35. Und doch ist speziell im Blick auf 2,9-12 dieser Vers (3, 11) bemerkenswert. Die Intention des Verfassers geht aus apologetischen Gründen, wegen der Sorge um die Reinheit der Lehre in der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern und den zu diesen abgefallenen oder den vom Abfall bedrohten Gemeindemitgliedern, dahin, Frauen vom Lehramt fernzuhalten, ihnen eine "neue" (oder auch: alte!) Rolle in Familie und Ehe anzutragen, letzteres zusammen mit einer polemischen, antignostischen Spitze. Gerade der in 2,11 so nachdrücklich geforderte Ausschluß der Frauen von der Lehrtätigkeit zeigt, wie aktuell dieses Thema in den Gemeinden der Past noch war; darin ist also eine Bestätigung für die Annahme zu sehen, daß in den orthodoxen christlichen Gemeinden der Past Frauen noch als Diakone tätig waren, d. h. auch in der Verkündigung mitwirkten. Die beiden Stellen mit den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Aussagen zur Rolle der Frau in den christlichen Gemeinden des Übergangs vom ersten zum zweiten Jahrhundert sind nicht in Widerspruch zueinander stehend zu sehen, sondern sie ergänzen sich. Ähnliches wird sich auch bei der BetrachDiese Tatsache, daß die Frauen "nur in V 11 erwähnt werden, dagegen in V Ilf wieder die männlichen Diakone", ist für J. ROHDE, Charismen 219, Beleg dafür, "daß hier von Diakonenfrauen und nicht von weiblichen Diakonen die Rede ist". Mit L. SCHOTIROFF, DienerInnen 241, ist aber "zu unterscheiden, was der Autor des Briefes durchsetzen will und was tatsächlich in den ihm bekannten Gemeinden von Frauen praktiziert wird". 3S Als "Alternative" zu den beiden Erklärungen - die Frau als Diakon oder die Ehefrauen der Diakone - formuliert R. M. LEWIS, Women 171-175, seine Deutung der yuvai:KE~; es seien damit unverheiratete Frauen bezeichnet, die sich aufgrund ihres Standes, im Unterschied zu den verheirateten Frauen mit der Beanspruchung durch Fa· milie und Haushalt, vorbehaltlos in den Dienst der Kirche stellen und den Diakon in der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen konnten. Abgesehen von dem Problem, daß in dieser Auslegung ein schon sehr klar umschriebenes Aufgabenfeld für den Diakon vor· ausgesetzt wird, ist zu fragen, warum unter diesen Bedingungen der Dienst der Frauen als "Unterstützung" der männlichen Diakone interpretiert werden soll. Auch wenn deshalb diese Deutung von Lewis als Beschreibung des Ist-Standes problematisch erscheint, trifft er doch wohl mit der darin enthaltenen Aussage zur Struktur der Unterordnung der Frauen (als Diakone) unter die (männlichen) Diakone die Intention des Autors. 34
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I Tim 3,8-13
tung des Abschnittes, der von der Rolle der Witwen handelt (5,3-16), zeigen. 12 Der Vers kehrt wieder zurück zum Diakon; und es werden an ihn im wesentlichen dieselben Ansprüche gerichtet wie in V 2 und V 4 an den Episkopos. So steht die Bedingung "Mann nur einer Frau" wiederum für die Erwartung eines ordentlichen und vorbildlichen Ehelebens. Und ebenso wird von ihm ein geordnetes Familienleben verlangt. Hinter dieser Forderung steht der schon des öfteren angesprochene, für die Past wichtige Gedanke: Nur der kann im öffentlichen Leben der Gemeinde sein Amt gut ausfüllen, der auch in seinen alltäglichen Pflichten und Aufgaben im Bereich der Familie zurechtkommt und sich darin bewährt. Beim Diakon fehlt die Übertragung der für den privaten Bereich der Familie und des Hauses gefordert~n Bewährung auf die offizielle Funktion in Gemeinde und Kirche, wie sie in V 5 für den Episkopos formuliert ist. Daraus läßt sich jedoch nicht ohne weiteres die übergeordnete Stellung des Episkopenamtes ableiten 36. Zum einen darf nicht übersehen werden, daß auch von den Diakonen die "gute" Leitung des eigenen Hauses verlangt wird im Blick auf ihre verantwortliche Stellung in der Gemeinde. Und zum anderen ist wieder die Möglichkeit.Zu bedenken, daß die vergleichsweise größere Ausführlichkeit beim Episkopos von der Intention bestimmt ist, dieses - vielleicht in seiner theologischen Bedeutung und in seinem ekklesiologischen Stellenwert noch nicht eindeutige und gefestigte - Leitungsamt aufzuwerten. Zugunsten einer schon ausgebildeten Ämterhierarchie mit der Überordnung des Episkopos über die Diakone könnte allerdings bei entsprechender Auslegung der folgende Vers ausgewertet werden. 13 Dieser Vers bringt mit dem Hinweis auf mögliche Belohnung gegenüber dem mit dem Episkopenamt verknüpften Pflichtenkatalog einen neuen Gedanken ein. Wer als Diakon seinen Dienst gut versehen hat, der erwirbt sich einen "guten Rang". Die Deutung, es sei dabei "an einen Aufstieg in der Ämterhierarchie zu denken" 37, vielleicht in das Amt des Episkopos, ist auszuschließen 38. Für einen solchen Bezug auf Aufstiegsmöglichkeiten in ein höheres Amt läßt sich auch die Aoristform des Partizips (ÖtClK0vtlaClVtE<;) nicht auswerten; denn die Bezugnahme auf die schon unter Beweis gestellte Bewährung im Amt eines Diakons zielt nicht darauf ab, diesen Dienst damit als abgeschlossen und erledigt zu erweisen. Mit dieser "Stufe" (~Cl9!J.6<;) muß vielmehr etwas gemeint sein, was·im Zusam-
" Vgl. dagegen H. MERKEL, Past 32: "Das ,Bischofsamt' ist also das übergeordnete." So H. MERKEL, Past 32 ("vielleicht"); ähnlich F. J. SCHIERSE, Past 49; J. ROLOFF, I Tim 167f. 38 Mit N. BROX, Past 155. 37
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menhang mit dem Diakonenamt steht und dieses auszeichnet, nicht aber etwas, was die Stellung und Funktion als Diakon ersetzen soll 39. Mit Recht wird aber auch eine Interpretation abgelehnt, die das Verständnis von ßa8!!6<; vom gnostischen Gebrauch ableitet, entweder für den Aufstieg der Seele oder für den Fortschritt der Erkenntnis (CorpHerm XIII, 9; CIAl Strom II 54,4)40, da solches Denken mit exklusiven Heilsansprüchen der Grundintention der Past mit der Betonung der Universalität des Heilswillens und des Heilshandelns Gottes geradezu widerspricht.
Der "gute Rang" im Sinne des Ansehens und der Wertschätzung ist auf die Stellung des Diakons in der Gemeinde zu beziehen. Dieser Bezug legt sich auch nahe durch den zweimaligen Gebrauch von KuM<;. Die Anerkennung seitens der Gemeinde, das "gute" Urteil, das die Gemeinde über ihn fällt, kann beinahe als identisch mit diesem "guten Rang" betrachtet werden. Da es für die Past im Blick auf die Gemeindeleiter und die verantwortlichen Funktionsträger besonders wichtig ist, daß sie die ihnen übertragenen Aufgaben, die Leben und Glauben der Gemeinden betreffen, "gut" ausführen, ist auch die daraus resultierende Würdigung auf diesen Zusammenhang zu beziehen. Oder anders gesagt: Das gute Ansehen, der gute Rang ist nicht festzumachen in der Relation der Amtspersonen zueinander, sondern in der Beziehung der in leitenden Positionen stehenden Personen zur Gemeinde 41 • Trotz der eindeutigen Konzentration des Interesses der Past auf die Gemeindeleiter verliert der Autor doch nie den für alles entscheidenden Bezugspunkt aus den Augen, nämlich die Gemeinde. Mit dieser Zuordnung des Begriffes ßu9~6<; zur Beziehung zwischen Gemeindeleiter und Gemeinde harmoniert auch das Verbum 1tEPL1tOLEt(J9UL. Es liegt in der Hand der Diakone selbst, sich solches Ansehen zu "erwerben". Das widerspricht sogar der Deutung einer letztlich vom Wohlwollen anderer abhängigen "Beförderung" - ganz abgesehen davon, daß wir über das Ansehen und das Gewicht der einzelnen Ämter in den Gemeinden der Past kaum etwas Sicheres zu sagen vermögen. In dieselbe Richtung des Verhältnisses von Diakonen und Gemeinde verweist auch die zweite Bestimmung, die als Kennzeichen einer "guten", bewährten Amtsführung dem Diakon zugesprochen wird: "große Offenheit" bzw. "Zuversicht". Für den weiteren Verständnisrahmen ist auf die griechische Philosophie und Ethik zu verweisen; dort steht 1tUPPll(JtU für die Haltung, die gegenüber Gleichgestellten (und z. T. Gleichgesinnten) in jeder Hinsicht, in Lob und Tadel, Offenheit an den Tag legt 42 • Für die Past ist aber die Verwendung von 1tUPPll(JtU bei Paulus sicher ebenso maßgeb39 Vgl. dazu auch G. W. KNIGHT, Past 174. 40 In diese Richtung geht die Interpretation bei G. HOLTZ, Past 86, der sowohl einen Zusammenhang mit "Erkenntnis" als auch ein soteriologisches Verständnis ("zum Heil nützlich") in Erwägung zieht. Vgl. dagegen J. ROLOFF, 1 Tim 166f. 41 Vgl. auch J. ROHDE, Charismen 2-19, der den Begriff "schöne Stufe" (KaM<; ßa8!!6<;) deutet auf "das höhere Ansehen eines Diakons in der Gemeinde, das er sich bei guter Ausübung seines Dienstes erwerben kann". 42 Vgl. H. BALZ, EWNT III 106.
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1 Tim 3,8-13
lieh; denn in dessen Briefen steht dieser Begriff, immer verknüpft mit näc; bzw. nOAuc;, ebenfalls für die Bezeichnung der Beziehung des Apostels zur Gemeinde (2 Kor 7,4; vgl. Phlm 8) bzw. für die Beauftragung mit der Verkündigung des Evangeliums (Phil 1,20; 2 Kor 3,12). Die "große Zuversicht", das "feste Vertrauen", welches die in der Stellung und Funktion eines 8UlKOVOC; tätigen Männer und Frauen sich erwerben, beschreibt die Beziehung zur Gemeinde; diese Beziehung aber hat ihren Ursprung und ihr Ziel in dem gemeinsamen Glauben an Christus Jesus. III
1. Auf die unter dem amts spezifischen Aspekt interessierenden Fragen nach dem besonderen Aufgabenbereich des Diakons und seinen Funktionen in der Gemeinde erhalten wir ebensowenig eine eindeutige Antwort wie beim Episkopos. Es fehlen einerseits - von ein paar Ausnahmen abgesehen - ebenfalls charakteristisch christliche Eigenschaften, und es fehlt auch eine theologische bzw. christologische Begründung des Amtes. Ja, man kann sogar nicht ohne weiteres von einer ekklesiologischen Begründung des Amtes sprechen. Die Zuständigkeiten im einzelnen, v. a. in der Abgrenzung gegenüber den anderen gemeindeleitenden Personen, lassen sich aus den Angaben zu den Diakonen nur grob skizzieren. In dieser Hinsicht ist der Befund ähnlich wie beim Episkopos. In den Gemeinden der Past gibt es aber in jedem Fall den Stand der Diakone als eine anerkannte Institution im Sinne eines an bestimmte Personen gebundenen und auf bestimmte Funktionen und Dienste verpflichteten Amtes 43. Für die, die dieses Amt innehaben, wird die Forderung formuliert, daß sie sich als die verantwortlichen Vorsteher in der Praxis christlichen Lebens bewähren müssen. Die Tatsache, daß die Past im Rahmen des Abschnittes, der von der Ordnung der Gemeinden und von der Bestimmung der Kirche als "Haus Gottes" handelt (3,15), die Diakone mit den von ihnen für die Ausübung ihres Amtes geforderten Qualitäten so ausführlich zur Sprache bringen, kann als Beleg dafür gelten, daß ihnen vom Autor im Rahmen der Gemeindeverwaltung und der Gemeindeordnung - und das heißt für die Past immer auch: im Blick auf die den Gemeindeleitem aufgetragene Sorge um die unverfälschte Weitergabe des (paulinischen) Evangeliums - eine wichtige Rolle beigemessen wird. Die Forderungen sind beinahe insgesamt, wie erwähnt, den hellenistischen Tugendkatalogen entnommen. Und auch die katalogartige Aufreihung entspricht einem in außerchristlicher Paränese geläufigen Verfahren. Beim Versuch einer aktuellen Auswertung ist deshalb Zurückhaltung geboten. Ansätze für eine vom Glauben her beeinflußte Gestaltung und für eine Reflexion vom Wesen der Gemeinden und vom Anspruch der Kirche her können darin gesehen werden, daß geläufige Begriffe der hellenistischen Ethik fehlen, mit welchen dort das Ideal des Herrn und Herrschers 4J
Vgl. dazu J. ROLOFF, TRE 2, 509f; zu den Ämtern der Past 523f.
145
I Tim 2,1 - 3, 16
charakterisiert wird (z. B. aVÖpE"iü<;, EUEPYE'ttK6<; u. a.)44. Die in den Past genannten Tugenden haben fast ausnahmslos eine stark soziale, gemeinschaftsorientierte Ausrichtung. Damit wird die Hinordnung des Amtes auf die Gemeinde unterstrichen. Zugleich findet in der Auswahl der Begriffe die "Außenseite" gemeindlichen Lebens besondere Gewichtung: Die kirchlichen Amtsträger sind als Repräsentanten der Gemeinden dazu verpflichtet, vor den Nichtchristen das Ideal christlichen Lebens in untadeliger Lebensführung zu präsentieren. Die inhaltliche Festlegung der Aufgaben der Männer und Frauen, die als Diakone tätig sind, ergibt sich aus den Bedürfnissen der Gemeinden. Da die Gemeinden sich in dieser Zeit in einer Umbruchsituation befinden, bedingt durch die Probleme der Auseinandersetzung um den rechten Glauben (vgl. 1,3t) und den Zwang zur Klärung des eigenen Anspruchs im Verhältnis zur nichtchristlichen Umwelt (vgl. 2, 1 t), wird die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten im wesentlichen von dieser Entwicklung geprägt und zeigt noch eine gewisse Flexibilität. Dem entspricht die eindeutige Tendenz der Past, die Entscheidungsvollmacht in den Gemeinden entsprechend der traditionellen patriarchalischen Ordnung in der Person des Episkoposzu bündeln. 2. Das Diakonenamt zählte in der Zeit der Past sicher zu den die christlichen Gemeinden prägenden Dienstämtem. Als Hauptaufgaben sind anzusehen "die Verkündigung und der karitative Dienst" 45. Für die historische und theologische Begründung dieses Amtes ist einmal vom Verbum ÖtUKOVELV auszugehen, welches in der Profangräzität die engere Bedeutung des Tischdienstes, aber auch die allgemeine und umfassende des "Dienens" hatte. Die ganze Bandbreite der Bedeutungen findet sich schon in den neutestamentlichen Belegen, vom ursprünglichen Bezug auf den Tischdienst (vgl. u. a. Apg 6,2) bis hin zur Bezeichnung von Jesu gesamtem Wirken, einschließlich seinem Tod, mit ÖtUKOVELV (vgl. Mk 10,45)46. Für den darin bezeugten Stellenwert von ÖtUKOVElV sowohl für die Interpretation des gesamten Wirkens und Lebens Jesu wie auch für das Selbstverständnis der im Glauben an diesen Heilsmittler Jesus geeinten Gemeinschaft ist von der Gestalt Jesu auszugehen, seiner Botschaft und seinem Wirken. Es gehört zu den gesicherten Ergebnissen der historischen Jesusforschung, daß Jesus mit seiner Verkündigung von der jetzt, in seinem Wort und Tun anbrechenden Basileia Gottes traditionelle Herrschaftsstrukturen zwar nicht prinzipiell aufgehoben, aber doch in der Praxis in Frage gestellt hat. Es gilt nicht mehr die Überlegenheit des Frommen über dem Sünder; nicht mehr das Bestimmungsrecht des Mannes über die Ehefrau; es steht nicht mehr das Recht über der Liebe 47. Der Kern des Wirkens Jesu ist •• Vgl. A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 242. '5 Mit A. WEISER, EWNT I 726-732, hier 728 f. 46 Vgl. den Überblick bei A. WEISER, EWNT I 727 f. Ausführlich dazu E. SCHWEIZER, Struktur. 47 Dabei darf dieses "nicht mehr" nicht mißverstanden werden im Sinne eines exklusiven Anspruches für Jesus oder in der Weise, daß außerhalb der Verkündigung Jesu je nur die andere Entscheidung Gültigkeit besessen hätte. Es ist hier Bezug genommen auf Tendenzen menschlichen Verhaltens, die vor der Zeit Jesu und auch danach in allen Be-
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1 Tim 3,8-13 die Botschaft von der vorbehaltlosen Zuwendung Gottes; vom Menschen ist ein entsprechendes Verhalten gefordert. Jesu Wirken ist geprägt von der existentiellen Weitergabe und Vermittlung dieses Heilswillens Gottes. Eine Grundbestimmung seines Verhaltens ist das Dienen. Das Stichwort von der "Proexistenz" Jesu, besonders von H. Schürmann im Zusammenhang der Basileia-Verkündigung Jesu immer wieder betont'8, ist durchaus geeignet, die Besonderheit von Jesu Wirken zu umschreiben. Man wird sich jedoch hüten müssen, von diesem Verhalten Jesu bzw. von seinen Worten eine direkte Verbindungslinie zum "Diakon" der christlichen Gemeinde zu ziehen 49; denn auch das kirchliche Amt des Diakons ist in seiner ekklesiologischen Bedeutung primär christologisch bestimmt. Diese Feststellung gilt unbeschadet der Tatsache, daß eine explizit christologische Begründung des Amtes eines Diakons nicht gegeben wird. An das verpflichtende Beispiel Jesu sind die Gemeindeleiter in ihrem Glauben in gleicher Weise gebunden wie die übrigen Gemeindemitglieder. Das abgewogene Urteil von A. Weiser beschreibt die Zusammenhänge treffend: "otIlKOVECO und seine Wortgruppe wird in bestimmten Schichten des NT zum zentralen Ausdruck für die christI. Grundhaltung, die sich an Jesu Wort und Verhalten orientiert, und zur Bezeichnung spezifisch christI., innergemeindlicher Funktionen, nämlich des karitativen Einsatzes, der Wortverkündigung und der Führungsaufga-
ben"so.
Die Einbindung der Diakone in die Verkündigungsaufgaben ist aus der vorliegenden Beschreibung ihrer Pflichten zu erschließen, insbesondere aus der Forderung von V 9, daß sie "das Geheimnis des Glaubens in einem reinen Gewissen festhalten" müssen. Es ist dies nicht nur eine Mahnung, daß die Diakone gläubige Menschen sein sollen; hier ist vielmehr zusätzlich ihre Verantwortung auch für den Glauben anderer ausgesprochen. 3. Die in der exegetischen Behandlung von V 11 vorgetragenen Argumente, die die These stützen, daß die genannten yuvai:Ke~ als weibliche Diakone vorgestellt werden, seien abschließend noch einmal kurz zusammengestellt 51 • (1) Die Satzkonstruktion der Pflichtenspiegel spricht für diese Deutung. Das oei: von V 2 ist zu beziehen auf den Episkopos, die Diakone und die Frauen. Es wird also bis einschließlich V 11 eine Reihe von Funktionsträgem der Gemeinde zusammengeschlossen. (2) Dafür spricht auch der Zusammenschluß mit cl>craü'tro~. Vor allem reichen des Gemeinschaftslebens aktuell waren und immer wieder aktuell sind. Und gegenüber solchen Tendenzen setzt die Botschaft Jesu, die dabei durchaus auch in der Tradition der prophetischen Verkündigung Israels zu sehen ist, ganz andere Akzente. '8 Vgl. H. SCHÜRMANN, Gottes Reich - Jesu Geschick. Jesu ureigener Tod im Lichte seiner Basileia-Verkündigung (Freiburg 1983), bes. 51-64.193-223. '9 Solches findet sich bei J. JEREMIAS, Past 26, der "die neue Amtsbezeichnung" oU1KoVO~ "unmittelbar auf Worte Jesu" zurückführt und dafür aufMk 9,35; 10,45; Joh 13,1 ff verweist. Ähnlich meint G. HOLTZ, Past 82, die Entwicklung - nämlich zur Bezeichnung eines kirchlichen Amtes mit dem Begriff otaKovia - gehe "auf Jesus selbst zurück". 50 A. WEISER, EWNT I 727. SI Vgl. auch einen Überblick bei J. ROLOFF, I Tim 164f.
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I Tim 2,1 - 3,16
im Blick auf die Diakone von V 8 wird ersichtlich, daß die Frauen diesen nicht untergeordnet, sondern ihnen gleichgeordnet sind. Die Abfolge: Episkopos - die Diakone "in gleicher Weise" - Frauen "in gleicher Weise", legt zumindest nahe, diese Frauen in einer vergleichbaren Position in den Gemeinden anzusiedeln. (3) Für diese Gleichordnung spricht auch das Fehlen von utn;wv nach yuvUt1(E~. Damit ist zwar ein Verständnis als "ihre Frauen" nicht gänzlich ausgeschlossen, es wird aber auch nicht deutlich und eindeutig nahegelegt. Es ist zumindest auffällig, daß eine solche Bestimmung fehlt. (4) Wenn es um die Miteinbeziehung der Ehefrauen der Diakone in den diese, nämlich die Diakone, kennzeichnenden Pflichtenkatalog gehen sollte, dann ist die Konstruktion zumindest ebenso unterbrochen wie bei der Annahme von weiblichen Diakonen; denn in V 10 und dann wieder in V 12 geht es um das Verhalten der Diakone. (5) Sicher nur relative Bedeutsamkeit kommt dem bisweilen zugunsten von Frauen als Diakone angeführten Argument zu, es sei auffällig, daß beim Episkopos keine entsprechenden Anforderungen an die Frauen genannt seien, obwohl sie doch auch als verheiratet vorausgesetzt sind. So formuliert G. Lohfink als Frage: "Weshalb sollten aber in einem Ämterspiegel an die Familie eines Diakons höhere Anforderungen gestellt werden als an die Familie eines Bischofs?" 52 Bei dieser Argumentation besteht einmal die Gefahr, daß die heutige hierarchische Ämterfolge auf die damalige Zeit übertragen wird; wir wissen aber nicht, welcher Stellenwert dem Diakon zukam und in welchem Verhältnis er zum Episkopos stand. Und zum anderen ist der Charakter der katalogartigen Aufzählung von Pflichten zu beachten; sie erheben ja in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit, und sie sollen sicherlich in der Intention des Autors nicht streng gegeneinander abgegrenzt und je nur auf eine Gruppe beschränkt werden. Dennoch bleibt anzumerken: Die Miteinbeziehung der Frauen in die Paränese in der Form, daß sie zwar im wesentlichen dem gleichen Forderungskatalog unterstellt werden, daß ihr Verhalten aber nur als Kennzeichen und Qualifikationsnachweis ihrer in der Funktion eines Diakons agierenden Männer gewichtet wird, wäre doch als recht außergewöhnlich zu bewerten. Der dazu möglicherweise vorgebrachte Einwand, daß "das Haus" ja insgesamt mitgenannt ist (VV 4.12), muß berücksichtigen, daß es dabei immer um das Tun des Episkopos bzw. des Diakonos geht, nämlich um das npotcr'tucr8ut. (6) Aufgrund der Parallelität der an den Episkopos, die Diakone und die Frauen gerichteten Forderungen, die für die beiden ersten mit der Befähigung zur Führung, eines Amtes in den Gemeinden verbunden sind, ist grundsätzlich für die im gleichen Kontext genannten yuvut1(E~ zu unterstellen, daß ihre Bedeutung in den Gemeinden zur Zeit der Past auf der gleichen Ebene anzusiedeln ist. '2
G.
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LOHFINK,
Weibliche Diakone 333.
I Tim 3,8-13
(7) Von 2, 11 her ist die Deutung auf weibliche Diakone nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar noch zu erhärten. Gerade weil in den christlichen Gemeinden Frauen in leitenden Positionen (noch) tätig sind und weil dies als Kennzeichen der Irrlehrer, d. h. der gnostisch be einflußten Gemeinden, gilt, muß - nach Überzeugung des Autors - in den orthodoxen Gemeinden sich dies ändern. Die rechtgläubigen christlichen Frauen haben sich in bevorzugter Weise in dem zu bewähren, was von den Häretikern entweder abgelehnt oder geringgeschätzt wird, nämlich in Ehe und Familie. Deshalb ist die Behauptung zu wagen: Die beiden Stellen mit den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Aussagen zur Rolle der Frau in den christlichen Gemeinden der Zeit der Past ergänzen sich und bezeugen auf je unterschiedliche Weise, daß es auch in den Gemeinden der Past die verantwortliche Mitarbeit von Frauen in der Gemeindeleitung gab. Die Past sind aber gleichzeitig ein Zeugnis dafür, daß und wie solche partnerschaftliche Zusammenarbeit durch theologische Kontroversen in eine Krise gestürzt werden kann 53. (8) Die Plausibilität dieses exegetischen Urteils kann schließlich noch bestärkt werden durch die Mitberücksichtigung der obengenannten Texte, die zeigen, daß die frühe Kirche das Amt eines Diakons auch für Frauen kannte: a) Röm 16, I f nennt Paulus Phöbe, eine oU1Kovo~ aus Kenchreä. Mit dieser Titulierung ist sicherlich noch keine fest umrissene "Amtsstellung" zu verknüpfen; doch Paulus nimmt damit Bezug auf die Tätigkeiten und Dienste dieser Frau in der Gemeinde, die im Bereich von Verkündigung, Fürsorge und Leitung liegen 54. b) Plinius d. J. nennt in einem Brief (um 112) an Kaiser Trajan zwei christliche Sklavinnen, die er verhört hat, "ministrae"; damit ist wohl auch ihre Stellung als Diakoninnen bezeichnet 55. c) In der syrischen Didaskalie, einer in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts entstandenen Kirchenordnung (im nördlichen Syrien beheimatet, erhalten nur " L. SCHOTTROFF, DienerInnen 236, kommt zu dem Urteil, "daß eine Begründung für eine Abtrennung der Frauendiakonie im Neuen Testament erst bei den Autoren (!) der
Pastoralbriefe zu finden ist, die erkennbar das Rad zur patriarchalen Ordnung zurückdrehen". 54 So auch A. WEISER, Rolle 175 f. Eine besondere Stellung dieser Frau in der Gemeinde wird strikt abgelehnt von K. ROMANIUK, Phoebe 134: "The term oUIKovo~ is emphasized in such a general way as regards Phoebe that we should deny that in the early church Phoebe was something more than an ordinary lay-woman." 55 D. ANSORGE, Diakonat 35f, gibt zu bedenken, daß mit Röm 16, If; I Tim 3,11 und dem Plinius-Brief "auch schon sämtliche Quellen genannt (sind), die zugunsten der Existenz von Diakoninnen im 1. und 2. Jahrhundert interpretiert werden können". Er will dennoch nicht ausschließen, daß es "in der Frühzeit der Kirche" Frauen gegeben haben mag, "die den Diakonen in Status und Funktion gleichgestellt waren". Doch dieser Befund der Nichterwähnung von Frauen in verantwortlichen Stellen in den Gemeinden entspricht ja genau der in den Past, also in der Zeit der beginnenden Institutionalisierung von Aufgaben und Funktionen in den Gemeinden, deutlich erkennbaren Tendenz, die Übernahme dieser Leitungsämter zu kontrollieren und Frauen, die auch nach Ansorge "beim Aufbau der Kirchen und in der Diakonie einen erheblichen Beitrag geleistet haben" (34), von der gemeindeleitenden Tätigk,eit auszuschließen.
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1 Tim 2,1 - 3,16 fragmentarisch in Griechisch, vollständig in Syrisch), sind Diakoninnen genannt, und zwar mit klarer Beschreibung der ihnen zustehenden Tätigkeiten. Ihre Aufgaben liegen vor allem im karitativen Bereich, aber auch in der Unterstützung bei Taufe und Taufkatechese". LITERATUR: D. ANSORGE, Der Diakonat der Frau. Zum gegenwärtigen Forschungsstand: T. BERGER - A. GERHARDS (Hrsg.), Liturgie und Frauenfrage. Ein Beitrag zur Frauenforschung aus liturgiewissenschaftlicher Sicht (pietas Liturgica 7) (S!. Ottilien 1990) 31-65; E. CERLING, Women Ministers in the New Testament Church?: JETS 19 (1976) 209-215; J. COLSON, Der Diakonat im Neuen Testament: K. RAHNER - H. VORGRIMLER (Hrsg.), Diaconia in Christo (QD 15/16) (Freiburg 1962) 3-22; H. FRoNHoFEN, Weibliche Diakone in der frühen Kirche: StimmZeit 204 (1986) 269-278; T. HOLTZ, Christus Diakonos. Zur christologischen Begründung der Diakonie in der nachösterlichen Gemeinde: Diakonie 127-143 Getzt auch in: Geschichte und Theologie des Urchristentums. Ges. Aufsätze [WUNT 57] [Tübingen 1991] 399-416); R. M. LEWIS, The ,Women' of 1 Tim 3,11: BS 136 (1979) 167-175; G. LOHFINK, Weibliche Diakone im Neuen Testament: Die Frau im Urchristentum 320-338; A.-G. MARTIMORT, Les diaconesses. Essai historique (BEL.S 24) (Rom 1982) J. ROHDE, Charismen und Dienste in der Gemeinde. Von Paulus zu den Pastoralbriefen: Diakonie 202-221; K. ROMANIUK, Was Phoebe in Romans 16,1 a Diaconess?: ZNW 81 (1990) 132-134; L. SCHOTTROFF, DienerInnen der Heiligen. Der Diakonat der Frauen im Neuen Testament: Diakonie 222-242; E. SCHWEIZER, Die diakonische Struktur der neutestamentlichen Gemeinde: Diakonie 159-185; CH. ZETTNER, Amt, Gemeinde und kirchliche Einheit in der Apostelgeschichte des Lukas (EHS.T XXXIII/423) (Frankfurt/M. 1991). Siehe auch die Literaturangaben zu 2,1-7.
e) Die Kirche, Säule und Fundament der Wahrheit, und das ihr anvertraute Geheimnis des Glaubens (3,14-16) 14 Das schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu dir zu kommen; 15 wenn sich aber mein Kommen verzögert, damit du (dann) weißt, wie man sich im Hause Gottes verhalten muß, welches die Kirche des lebendigen Gottes ist, Säule und Grundfeste der Wahrheit. 16 Und anerkanntermaßen groß ist das Geheimnis der Frömmigkeit: der! offenbar gemacht wurde im Fleisch,
Dazu G. LOHFINK, Weibliche Diakone 334f. Der Anschluß des Hymnus mit ö~ V 16b findet sich in alten Hss, insbesondere in den bei den Codices l( Asowie C Geweils in der ursprünglichen Textform) und F G; Min 33 und 365. Daneben gibt es zwei bemerkenswerte Textvarianten (W. STENGER, Textkritik 240, nennt noch zwei weitere Varianten, die aber weder von der Bezeugung noch vom Sinn her bedeutsam sind): Einmal mit 8E6~: in den Codices l( A C D 0/, jeweils in späterer Überarbeitung; Min 1739 und 1881 und im sog. "Mehrheitstext". Eine weitere Stufe der Entwicklung dieser Variante (etwa Min 88) ist gekennzeichnet durch die Hinzufügung des Artikels 6 (8€6~). Daneben schreiben D (ursprüngliche LA) und ein Teil der Altlateiner ö. Letztere LA ist sicher eine Vereinfachung, da damit grammatikalisch der unvorbereitete Einsatz mit dem maskulinen Relativpronomen verbessert wird; auf diese Weise ergibt sich ein "passenderer" Anschluß an lluaT1'jpwv. Allerdings muß vom nachfolgenden Hymnus her diese Einleitung mit dem Relativpronomen im Neutrum als nicht ursprünglich beurteilt werden; denn im folgenden Hymnus sind die Aussagen personal gefaß!. Der Ersatz von ö~ durch 8€6~ erfolgt erst spät (Ende 4. Jh.); gegen diese LA, die Christus Jesus als "Gott" tituliert, sprechen neben dem textkritischen Befund 56 1
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I Tim 3,14-16
gerechtfertigt im Geist, geschaut von (den) Engeln, verkündet bei den Völkern, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit. I
Der Verfasser kehrt wiederum zurück zum 'autoritativen "Ich" des Apostels. Der fiktiv sprechende Paulus leitet aber gleich von sich über zum zentralen Thema des mit 2, 1 beginnenden Abschnitts, nämlich zur EKKATlcria. In ihr finden die in den voranstehenden Textabschnitten angesprochenen Einzeldienste ihre verbindende Mitte, und von der EKKATlcria her erhalten sie auch ihre entscheidende Legitimation. Gleichzeitig wird die Kirche vorgestellt als eine Institution, als ein "Hauswesen" (OiKO~), welches angewiesen ist auf gute Verwaltung durch die zu entsprechendem Verhalten ermunterten Amtsträger. Mit den VV 15.16 finden die auf das Gemeindeleben bezogenen Kap. 2 und 3 einen Abschluß und eine Zusammenfassung, aber auch eine umfassende Begründung 2; Aussagen über die Kirche, über Gott und über das Heilsgeschehen in Christus Jesus gehen ineinander und bilden die für die Past wohl unüberbietbare Begründung für die Weisungen, die das Gemeindeleben und die Gemeindeleitung betreffen. Insofern ist es gerechtfertigt, hier nicht nur "den Höhepunkt des ganzen Briefes" zu sehen \ sondern diesen kurzen Abschnitt als "die theologische Mitte" der Past insgesamt zu bewerten 4. Im Aufbau sind drei thematische Akzentuierungen zu beachten 5: Den Ausgangspunkt bildet (1) eine der zugrunde gelegten Situation entsprechende Bezugnahme auf die unterschiedlichen Aufgaben von Absender und Adressat. Als Vertreter des "Paulus" (vgl. 1,3) wird "Tirnotheus" an v. a, innere Gründe, denn die Past unterscheiden deutlich und ganz bewußt zwischen Gott und Christus Jesus (vgl. etwa 2,5 I). Dabei ist ein "Lesefehler" - nämlich die fälschliehe Wiedergabe von O~ durch 8~ (so etwa die Erwägung bei J. ROLOFF, I Tim 191)weniger wahrscheinlich als eine bewußt vorgenommene "dogmatische" Korrektur. Zur ausführlichen Darstellung der textkritischen Fragen W. STENGER, aaO. 240-243. 2 Vgl. dazu auch G. HoL'TZ, Past 88. 3 J.1EREMIAS, Past 27; anders als bei Jeremias ist diese Beurteilung aber nicht bloß auf V 16 zu beziehen. Mit D. C. VERNER ist, wie die Auslegung bestätigen wird, sogar davon auszugehen, daß das eigentliche Interesse des Verfassers auf den VV 14.15 liegt und daß der Hymnus V 16 eher ergänzende Funktion hat. 4 J. ROLOFF, I Tim 190. W. STENGER, Christushymnus [1969]33, begründet seine Bewertung der VV 14-16 als "ein verkleinertes Abbild der Pastoralbriefe im Ganzen" so: "V 14 wird die Situation des Abschieds des Apostels dem Leser vor Augen gestellt: der Übergang von der apostolischen zur nachapostolischen Situation, das Anliegen der Pastoralbriefe überhaupt. V 15 faßt paränetische Mahnungen zusammen - wie man sich verhalten soll im Haus Gottes, der Kirche. V 16 schließlich bringt ein Traditionsstück als Beispiel für den althergebrachten Glauben, an dem festzuhalten die Pastoralbriefe einschärfen." 5 Vgl. J. ROLOFF, I Tim 190.
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1 Tim 2,1 - 3,16
die ihm übertragene Verantwortung erinnert. Für den Pseudo-Paulus liegt das entscheidende Moment in der schriftlichen Übermittlung seines Willens (V 14: ypa<pro). Auf der Seite des Adressaten entspricht dieser Mitteilung das Zur-Kenntnis-Nehmen, das "Wissen" (V l5b: ... tva eiöti~ ... Dabei wird in traditioneller Manier durch die beiden gegenläufigen Motive, die Hoffnung auf baldiges Kommen (V 14) und die Erwägung, daß gerade dies nicht der Fall sein wird (V I5a), die Distanz zwischen dem Apostel und dem in seinem Auftrag agierenden Vorsteher überbrückt. Der Akzent liegt allerdings aufgrund der fiktiven Briefsituation auf dem ßpaÖÜVEtv, denn letztendlich müssen das schriftliche Vermächtnis des "Paulus" einerseits und der für dessen Bewahrung und Weitergabe verantwortliche Nachfolger des Paulus im Amt des um den rechten Glauben sorgenden Gemeindeleiters andererseits endgültig und bleibend seine Anwesenheit ersetzen. Und zugleich wird auf diese Weise den christlichen Gemeinden der Zeit der Past gesagt, daß die Autorität des Paulus in seinem geschriebenen Wort und in den legitimen Verwaltern desselben (6,20) gleichbedeutend ist mit seiner persönlichen Präsenz. Auf diese (pseudo-)biographische Notiz folgt (2) eine ekklesiologische Aussage. Sie wird eingeleitet in V l5b mit dem Hinweis für den Adressaten, daß sein Auftrag, wie der des Apostels, hingeordnet ist auf das "Haus Gottes". Dieser Begriff wird sodann in dem Relativsatz V l5c weiterentfaltet und theologisch vertieft. Nach einem überleitenden Hinweis darauf, daß es hier um die Identität des christlichen Glaubens geht, ausgedrückt in dem Stichwort "Frömmigkeit" (V 16a: EU<JEßEta), folgt schließlich (3) in dem hymnischen Text (V 16b) ein christologisches Credo. Unbestritten ist, daß der Verfasser einen ihm vorgegebenen Christushymnus zitiert. Ein formales Kriterium ist der im Textzusammenhang (mit Bezug auf llu<J't'f]pwv) eigentlich nicht passende und deshalb in der Textüberlieferung veränderte relativische Anschluß mit ö~ (vgl. Phil 2,6; Kol 1,15). Als Einleitung eines solchen hymnischen Textes kann als völlig ausreichend gelten der Verweis auf "Jesus Christus, der ... " 6 1I 14 Nach den Mahnungen, die in den zurückliegenden Abschnitten jeweils an größere Personenkreise bzw. an Funktionsträger und Amtspersonen gerichtet waren, überrascht die erneute Bezugnahme auf den (fiktiven) Briefempfänger Timotheus (<Jot). Auf <;liese Weise erfährt die (ebenfalls fiktive) Briefsituation stärkere Betonung. Zugleich erhält das Wort des Apostels größeres Gewicht; denn sein Vollmachtsanspruch ist • Für unseren Hymnus, s. E. "aus dem Zusammenhang eines Gemeindeliedes genommen", nimmt J. JEREMIAS, Past 27, als Einleitung einen Lobpreis an in der Art: "Preis und Ehre sei ihm, der ... " Noch präziser vermutet J. ROLOFF, I Tim 192, in der den Hymnus ursprünglich einleitenden "Lobpreisformel" bereits das "Schlüsselwort ,Geheimnis"': "Preis und Ehre sei ihm, durch den Gott das verborgene Geheimnis aufgeschlossen hat, der ... "
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dadurch wieder untermauert. Die dem Apostelschüler erneut zugesprochene Stellung und Aufgabe in der Gemeinde wird, der vorausgesetzten Situation entsprechend, dem ersten Eindruck nach als ein Notbehelf angesprochen, nämlich als Notbehelf für die eigentlich angebrachte Präsenz des Apostels. Angebracht und notwendig wäre diese Anwesenheit v. a. angesichts der Bedeutsamkeit der zu treffenden Entscheidungen, die insbesondere die rechte Verwaltung des Glaubensgutes in einer durch Falschlehrer gefährdeten Situation der Gemeinden betreffen. Die apostolische Legitimation der in den Gemeinden gültigen Ordnungen und der nun in den Auseinandersetzungen mit den Irrlehrern zu treffenden Entscheidungen soll auf diese Weise unterstrichen werden. Es wird auch hier wiederum deutlich, daß die "Berufung auf Paulus in der Form der Pseudepigraphie" 7 dem Ziel dient, das Selbstverständnis der Gemeinden apostolisch zu untermauern und zugleich die Kontinuität von Paulus zur Kirche um die Jahrhundertwende als wesentliches Kriterium des rechten Glaubens zu benennen bzw. angesichts der Glaubenskrisen in den Gemeinden einzufordern. Was also auf den ersten Blick wie ein Notbehelf erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als durchdachte Legitimationsstruktur. Auf diesem Weg wird der abwesende Apostel nicht nur vollgültig ersetzt, sondern als im Tun und Handeln des Gemeindeleiters anwesend vorgestellt.
Auf dem Hintergrund des zeitlichen Abstandes der Kirche der Zeit der Past vom Apostel Paulus hat die erneute Einführung der direkten Anrede an Timotheus noch einen weiteren Zweck. Es wird damit die Dehnung der Zeit unterstrichen. Nicht nur mit der Abwesenheit des Apostels gilt es jetzt in diesen Gemeinden, an die sich die Past wenden, fertig zu werden; auch der Apostelschüler, der hier als Briefempfänger vorgestellt ist, ist eine Gestalt der Vergangenheit. Da auf diese Weise die Verankerung der Gemeindeordnung im Willen und Auftrag des Apostels Paulus betont wird, gewinnt der Gedanke der Sukzession deutlich an Konturen und prägt das Verständnis sowohl von "Glauben" als auch von "Kirche". Was die Gemeinden vorfinden, woran sie zugleich erinnert werden, das ist die von Paulus über Timotheus, den Apostelschüler und -nachfolger, der Kirche vermittelte Ordnung. Der Hinweis auf die Notwendigkeit der schriftlichen Niederlegung des Willens des Apostels angesichts seiner Abwesenheit verweist in eine Zeit, in der dieser apostolischen Legitimation bereits eine besondere Bedeutung im Selbstverständnis der Kirche zukommt. Dies ist auch ein bemerkenswerter Aspekt bei der Frage der zeitlichen Einordnung der Past in die frühchristliche Gemeindeentwicklung und ein - m. E. besonders eindrucksvoller - Beleg für ihre Abfassung in nachpaulinischer Zeit. 15 Dieser Vers unterstreicht den verpflichtenden Charakter der vorgestellten Gemeindeordnung. Die angedeutete Möglichkeit der Verzögerung der "Parusie" des Apostels zeigt, daß die Gültigkeit der von ihm aus ge7
N. BROx, Past 156.
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sprochenen Anweisungen unabhängig ist von seiner Anwesenheit; sie findet ihren vollgültigen Ersatz in seinem Wort bzw. in dem Wirken des von Paulus selbst legitimierten Nachfolgers. Es ist aber nicht nur Paulus "in unwiederbringlicher Weise" abwesend 8, sondern auch der ihn unmittelbar vertretende und in seinem Namen und in seiner Autorität handelnde "Nachfolger". Man kann deshalb nur mit Einschränkung behaupten: "Wäre der Apostel in der Gemeinde anwesend, dann würden sich Briefe und Anweisungen erübrigen, dann würde er nämlich kraft seiner Vollmacht alles regeln." 9 Wäre der "Apostel" - auch in der fiktiven Briefsituation - anwesend, dann könnte er nicht in dieser grundsätzlichen Weise seine Anweisungen geben und die Verantwortung und Autorität der bereits in seiner Nachfolge stehenden Gemeindeleiter bekräftigen. Für die Gemeinde kommt es jetzt gerade darauf an, die Abwesenheit des Apostels als entscheidende Möglichkeit der Bewährung ihres Glaubens zu erfahren. Es ist charakteristisch, daß die Abwesenheit des "Apostels" und die Möglichkeit der Verzögerung seiner Rückkunft nicht einfach tatenlos überbrückt und die fälligen Entscheidungen für sein Kommen reserviert werden sollen. Die Zeit seiner Abwesenheit ist vielmehr positiv zu nutzen. Die Verantwortung wird ebenso auf den "neuen" Vorsteher übertragen wie die Vollmacht. Die Fiktion der zugrunde gelegten Situation dient dazu, einerseits die Abwesenheit des Paulus dafür zu nutzen, daß dem Apostel die Gelegenheit geboten wird, die iIllIilerhin in Erwägung gezogene Möglichkeit der Anwesenheit mit den fälligen Anweisungen zu verbinden; andererseits wird auf diese Weise deutlich gemacht, daß die leibliche Anwesenheit des Apostels nicht mehr als selbstverständlich gegeben und auch gar nicht mehr als unbedingt notwendig angesehen wird. Die Gemeinde 'kann "apostolisch" sein, sich "apostolisch" verhalten auch'ohne den (leiblich anwesenden) Apostel. Die Gemeinde lebt bereits in der kirchlichen Ordnung, auf die "Paulus" in seiner Abwesenheit den "Tirnotheus" verpflichtet hat. Der verpflichtende Charakter wird eindeutig gemacht durch das öEi. Die im Blick auf die Situation der Kirche konstruierte Art und Weise der brieflichen "Anwesenheit" des "Apostels" in der gemäß seinem Auftrag lebenden, handelnden und glaubenden Gemeinde läßt es als unsachgemäß erscheinen, den Begriff der "Parusieverzögerung" hier anzuwenden 10; denn die napoucria des Apostels hängt jetzt davon ab, ob und inwieweit die Gemeinden bzw. deren Leiter seiner Weisung getreu handeln. Seine Autorität wirkt weiter in seinem Wort.
• Vgl. J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 235; ähnlich P. TRuMMER, Paulustradition 124.
• So N. BROX, Past 156. 10 Davon spricht etwa P. TRuMMER, Paulustradition 124. Ähnlich will F. J. SCHIERSE, Past 51, die ",Verzögerung', mit der Paulus rechnet", auf denselben Zeitraum beziehen wie die Parusieverzögerung ; doch auch Schierse betont, "daß die Gemeindeordnung des Briefes keine vorübergehenden Maßnahmen treffen, sondern dauerhafte Verhältnisse schaffen will". 154
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In diesem Fall richtet sich die Weisung auf das "Haus Gottes". Mit ist ein auch an anderen Stellen im NT belegter Ausdruck zitiert (vgl. 1 Petr 4,17; Hebr 3,6; 10,21). Es ist folglich für diese Formulierung neben der Erklärung aus dem Kontext des "Briefes" auch eine allgemein christliche bzw. christologische und ekklesiologische Prägung vorauszusetzen. Dafür ist zu verweisen auf die verwandte "Vorstellung von der Gemeinde als Tempel Gottes" (vgl. dazu 1 Kor 3, 16f; 6, 19; 2 Kor 6,16; auch Eph 2,19-22; zu nennen ist ebenfalls die Vorstellung vom "Haus Jahwes" Hos 8,1; 9,8.15; Jer 12,7; Sach 9,8)11. Man muß aber annehmen, daß für die Past bei der Aufnahme dieser ekklesiologischen Metapher "Haus Gottes" die Möglichkeit eine nicht unwesentliche Rolle spielte, mit der Formel OiKO~ 'toO 8EOO die in den vorangehenden Verhaltenskatalogen bereits genannten Anforderungen an den Episkopos und die Diakone zu verknüpfen, deren Fähigkeit zum Wirken in den Gemeinden entsprechend ihrer Bewährung im Bereich des Hauses beurteilt wurde (1 Tim 3,4f; 3,12)12. Mit der Betrachtung der Kirche unter dem Bild des Hauses ist ohne Zweifel die Vorstellung von einer strukturell geordneten Institution mit einer festen, verpflichtenden Ordnung verbunden; und damit wird zum Konstitutivum dieser Kirche und zum besonderen Kennzeichen dessen, der dazugehört, die treue Beachtung und Bewahrung der an die Vorstellung vom Haus gebundenen Ordnung 13. Mit dieser Konstellation, die sicher nicht erst durch den Autor der Past in das christliche Kirchenverständnis eingebracht wurde, kommt ohne Zweifel "ein statischer Zug" in das Bild von der Kirche I'. Solches muß aber gar nicht unerwünscht sein; im Gegenteil! Mit der angeschlossenen Bestimmung - "wie man sich im Hause Gottes verhalten muß" - wird die "Kirche" - diese Bedeutung von EKKA.T]oia ist in diesem Zusammenhang im Vergleich zu "Gemeinde" die angemessenere - als der "Raum" vorgestellt, in welchem der Glaube sich bewähren kann, so daß die in ihr Zusammengeschlossenen und Lebenden sich dessen sicher sein können, daß sie Anteil an dem Heil erlangen werden, welches sowohl im Blick auf die geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus als auch in Hinordnung auf die an ihn Glaubenden als dem Willen Gottes entsprechend vorgestellt wird. Das "Haus Gottes" erhält eine weitere Bestimmung: Es handelt sich um "die Kirche des lebendigen Gottes"; bzw. besser und zutreffender formuliert: Die Mahnung des Apostels für das Verhalten im "Haus Gottes" erhält eine spezifischere Begründung in dem präzisierenden Zusatz, daß hier gesprochen wird vom Wirken Gottes in der Welt, vermittelt durch die Kirche. Die davon betroffene Gemeinschaft der in diesem "Haus" Versammelten ist nicht konstituiert durch den Willen und die Entscheidung O{KO~ 'toO 8EOO
!I
12 13 14
P. WElGANDT, EWNT II 1226. Vgl. J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 238; N. BROX, Past 157. Vgl. V. HASLER, Past 29; J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 236. Vgl. N. BROX, Past 158.
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von religiös Gleichgesinnten, sondern sie verdankt sich dem Ruf Gottes 15. Durch die Verknüpfung mit OtKOIO und durch die einseitige Bindung an die bereits die Gemeinde bestimmenden Amtsträger erhält auch der Begriff EKKAT)cria in den Past einen stark institutionellen Charakter; "die EKKAT)cria erscheint als vorgegebene, fertige Größe, als Trägerin und Repräsentantin einer bestimmten Ordnung" 16. Dieses für die Past typische Verständnis von EKKAT)cria hängt im wesentlichen zusammen mit der geschichtlichen Entwicklung. In der Situation der dritten christlichen Generation kann es nicht mehr um die Frage der theologischen Fundierung der Kirche gehen; maßgeblich ist jetzt die Bewährung dieser schon etablierten Gemeinschaft sowohl nach innen als auch nach außen. Das Bild von der Kirche erfährt eine neue Bestimmung durch die im Vergleich zu früher veränderte Aufgabenstellung. Kann man aber behaupten, daß "jede tiefere Deutung der Kirche aus(bleibt)" 17? Und bleibt wirklich, wie J. Roloffformuliert, "der Gedanke an ein Wachstum und damit an die eschatologische bzw. heilsgeschichtliche Dimension der Kirche ausgespart" 18? Diese negativen Urteile erscheinen von der Art und Weise der Formulierung der ekklesiologischen Aussagen her nicht ohne weiteres gerechtfertigt; denn die Kennzeichnung der Kirche als EKKAT]cria 8EOU 1;;(j)v't"o~ gibt die Möglichkeit bzw. macht es sogar erforderlich, nach der theologischen und heilsgeschichtlichen Relevanz dieser "Kirche" zu fragen. Für das Verständnis von "Kirche" ist für die Past grundlegend die Ausgestaltung des Gottesbekenntnisses. Und für dieses Bekenntnis ist in I Tim von Anfang an und betont der Titel crroTilP prägend (vgl. I, I; 2,3). Ein Blick auf die bei den anderen "Briefe" bestätigt dies; während in Tit crroTf]p wiederum schon im Präskript als Gottesprädikat steht (Tit 1,3), spricht auch 2 Tim gleich zu Beginn in einem hymnisch geprägten Stück von "Gott, der uns gerettet hat" (2 Tim 1,8f). Der Verfasser bleibt aber nicht bei der eher abstrakten Titulierung Gottes als "Retter" stehen; er verknüpft damit den Hinweis auf die Universalität des Heilswillens Gottes und die Vermittlung desselben für alle durch den universal sühnenden Tod Jesu (I Tim 2,4-6). Als Mitte des christlichen Glaubens ist "dies" dem Apostel zur Verkündigung übergeben (vgl. 2,7). Die Identität des christlichen Glaubens ist nach den Past in vorrangiger Weise bestimmt von diesem Gottesverständnis und der daraus resultierenden Aufgabe des Boten des Evangeliums - sowohl des Apostels Paulus als auch derer, die in seiner Nachfolge stehen - dieses Evangelium unverfälscht zu bewahren und weiterzugeben. Erneut wird dann in 4,10, in Hinordnung auf das für die Past ebenfalls wichtige Stichwort "Frömmigkeit" (mJcri:ßEw), nicht nur der "lebendige Gott" genannt, und zwar als Grund der Hoffnung der Christen in ihren Bemühungen und Kämpfen 19; angeschlossen ist dort an die Nennung Gottes die formelhafte Konkretisierung, daß er "Retter aller Menschen ist, vor allem der Gläubigen" . Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 52. J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 238. 17 So N. BRox, Past 158. 18 J. ROLoFF, Pfeiler und Fundament 238. 19 In dem "wir" sind wohl nicht nur Paulus und die in seiner Nachfolge stehenden Träger kirchlicher Funktionen angesprochen, sondern alle Gläubigen. 15
16
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Wenn also der Verfasser von der "Kirche des lebendigen Gottes" spricht, dann ist dieser soteriologische Kontext mitzuhören und mitzubedenken. In der Kirche ist Gott gegenwärtig als der Lebendige, dessen Heil und damit Leben schenkender Wille in ihr weiterwirkt. Die Past formulieren aber keine völlig neue, eigenständige Ekklesiologie. Als unverzichtbares Kennzeichen gilt die Begründung der Kirche, ihrer Herkunft und ihrer Zukunft, vom Heilswillen Gottes her. Aufgabe und Funktion der Kirche sind abgeleitet von und bleiben weiterhin gebunden an die genannte Grundstruktur des Gottesbekenntnisses. Wenn also vom "Haus Gottes" die Rede ist, dann ist zwar das schon angesprochene Ordnungsdenken im Stichwort "Haus" mitzuhören; da es sich dabei aber um das "Haus GotteS" handelt, muß als vornehmste und vordringlichste Aufgabe dieser Gemeinschaft der "Kirche" gelten, dem Willen dieses Gottes entsprechend dieses "Haus" zu verwalten. Das Ziel des Autors ist also nicht in erster Linie, das "Wesen" der Kirche zu bestimmen; er will deren Funktion und Aufgabe in der Gegenwart und für seine Zeit beschreiben. Und diese Funktion ist seiner Darstellung nach nur im Dialog mit den Bedingungen seiner Zeit und Umwelt festzulegen. Mit der vorgestellten Charakterisierung der Kirche und des Zusammenlebens in ihr anhand des Bildes vom Haus wird zwar auf der einen Seite der Eindruck erweckt, daß an die Stelle des Vertrauens auf das Wirken des Gottesgeistes in der Kirche die Absicherung durch den Rückgriff auf bewährte Ordnungen und Strukturen des täglichen Lebens getreten ist; andererseits sollte dabei nicht außer acht gelassen werden, daß sich gerade darin das Bemühen zeigt, dem Wissen um die Verantwortung der christlichen Gemeinde für ihre Zeit Rechnung zu tragen. Es läßt sich somit die Behauptung wagen, daß es dem Autor bereits in dieser Zeit darum gehen mußte, deutlich zu machen, daß die Kirche nicht als ein unzeitgemäßes Überbleibsel anzusehen ist, deren Anspruch, auf die Fragen der Menschen eine vom Glauben an Gottes Willen und Macht getragene, bleibend gültige Antwort zu geben, durch den Gang der Geschichte widerlegt worden ist. Er fordert von der Kirche Lebendigkeit und Aktualität, die allerdings nur dann gewährleistet ist, wenn sie sich ihrer Zeit stellt und wenn sie auf die damit gegebenen neuen Bedingungen eingeht. Die beiden am Ende von V 15 stehenden Bestimmungen, "Säule und Grundfeste der Wahrheit", sind sicher auf die unmittelbar vorangehende Formulierung "Kirche des lebendigen Gottes" 20 zu beziehen; sie betonen erneut die Stellung und die Aufgabe der Kirche, als Garant des Heils zu wirken 21 • Die Begriffe cr'tÜAO~ und topuiWIlU sind somit bildhafte VeranSo u. a. mit H. v. LIPS, Glaube 98-100; J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 239f; 1 Tim 199. 21 Demgegenüber vertritt A. JAUBERT, L'image 105, eine Auslegung, in der das Bild cr,Ot.,o~ Kcd tlipaiOl~a individuell verstanden auf Timotheus bezogen wird; u. a. begründet sie dies mit dem Hinweis auf andere ntl Belege, wo als ,.Säule" ebenfalls Einzelpersonen 20
DERS.,
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schaulichungen dieser Bestimmung der Bedeutung der Kirche als "Ort und Hüterin der Wahrheit"". Der Begriff sopuiro!Lu ist neutestamentliches Hapaxlegomenon; die Übersetzung mit "Fundament" ist vom Gebrauch des Adjektivs EOPULO<;; her zu rechtfertigen (vgl. 1 Kor 7,37; 15,58; Koll,23). Da es sich bei den Bezeichnungen o"'tO",o<;; und SOpuiro!Lu um veranschaulichende Bilder handelt, ist die Frage nicht angebracht, wie sich die Begriffe "Fundament" und "Säule" gleichzeitig auf die Kirche anwenden lassen, oder wie einmal vom Ganzen (nämlich vom Haus) und dann von Teilen (Säule bzw. Fundament) im Blick auf ein und dasselbe Objekt der Betrachtung gesprochen werden kann. Beides zusammen soll die Funktion der Kirche charakterisieren, nämlich sowohl als Grundlage als auch als Trägerin der Wahrheit in der Welt zu wirken. Sowohl mit dem Bild von der Säule als auch mit dem vom Fundament wird veranschaulichend die Festigkeit und Unerschütterlichkeit der Kirche beschrieben. H. v. Lips macht auf einen charakteristischen Bedeutungswandel im Gebrauch des Begriffs "Fundament" im Zusammenhang mit der Beschreibung der Kirche im NT aufmerksam: Nach 1 Kor 3, 11 ist Christus das Fundament der Kirche ("Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus"); in Eph 2,20 sind die Apostel und Propheten der Grundstein, Christus ist der Schlußstein ("Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten erbaut; der Schlußstein ist Christus Jesus selbst"). Für die Past schließlich ist "die Kirche selbst zur grundlegenden Größe geworden"". Für die Ergänzung "Pfeiler und Fundament der Wahrheit" als ekklesiologische Prädikation ist nach Meinung von J. Roloff die Formulierung von 2 Kor 6,16b (";I1Ei~ yap vao~ Sm\) Scrl1EV ~(j)V'tO~) verantwortlich, die vom Verfasser als "Vorlage" benutzt worden sei 24. Nun ist die Kenntnis ekklesiologischer Metaphern beim Verfasser der Past selbstverständlich vorauszusetzen, allerdings nicht nur eine durch das literarische Testament der Paulusbriefe vermittelte. So ist zwar auch ein traditions geschichtlicher Zusammenhang der Formulierung der ekklesiologisehen Bestimmungen mit 2 Kor 6, 16 nicht auszuschließen. Angesichts der im Vergleich zu Paulus doch entscheidend anders und neu akzentuierten Ekklesiologie erscheint es aber recht unwahrscheinlich, daß das Interesse des Autors darauf gebezeichnet werden (Gal 2,9; Apk 3,12), sowie mit der Feststellung, daß der Gebrauch dieses Bildes für Timotheus bestens zum Gesamtkontext der Past mit der Betonung der Stellung des Episkopos und der in der Kirche Verantwortlichen passe. Ähnlich J. MURPHY-O'CONNOR, Angels 184, der allerdings die Entscheidung, ob "Kirche" oder "Timotheus" Bezugspunkt ist, nicht überbewertet wissen will, da ja "die Kirche durch ihre Führer handelt, den Bischof und die Diakone (3,1-13), an die die Unterweisungen ... gerichtet sind (3,14)". 22 H. v. LIPS, Glaube 100. Vgl. auch V. HASLER, Past 29: "In der Kirche hat Gott die Wahrheit des Glaubens niedergelegt." Anders die Bestimmung bei J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 240: "Die Kirche ist sichere, feste Gründung, weil sie durch die Wahrheit bestimmt ist." Der Akzent liegt in unserem Kontext aber doch stärker auf dem Besitz und damit verbunden auf der Vermittlung der Wahrheit. 23 H. V. LIPS, Glaube 99. 24 J. ROLOFF, I Tim 198. Auch W. STENGER, Gottesbezeichnung 68, sieht aufgrund der Bezeichnung der Kirche als oIKo~ SWI) "eine gewisse Nähe der Stelle zu 2 Kor 6, 16 gegeben".
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richtet war, seinen "ekklesiologischen Leitgedanken von der Kirche als dem geordneten, in patriarchalischen Strukturen verfaßten Hauswesen Gottes" nun interpretierend in Bezug zu setzen "zu dem traditionell-vorgegebenen paulinischen Topos ,Kirche = endzeitlicher Tempel Gottes"'''. Mit Recht bringt H. Merkel den Verzicht der Past, die Kirche als Tempel Gottes zu bezeichnen, in Verbindung mit der Tatsache, daß "das damit verbundene endzeitliche Bewußtsein" den Past gerade abgeht 2 '. Wenn also das "Haus Gottes" gleichzeitig charakterisiert wird als "Kirche des lebendigen Gottes", dann geht es dabei weder um die Betonung der besonderen Würde dieses Hauses noch - zumindest nicht vorrangig - um eine Mahnung an die Christen, der Würde und Bedeutung dieses "Hauses" entsprechend zu leben 27. "Kirche des lebendigen Gottes" ist eine Bezeichnung, die die Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden ganz von Gott her charakterisieren will; es handelt sich letztlich um eine soteriologische Charakterisierung.
Sowohl von der Theologie als auch von der Christologie her ist das Verständnis von Kirche in den Past wesentlich soteriologisch und damit auch funktional bestimmt. Von diesem Verständnis von "Kirche" her ist gut denkbar, daß in der Wendung eöpairol-La Tfj~ aA.T]e€ia~ die Bedeutung der Kirche als Fundament angesprochen ist, welches etwas anderes trägt, nämlich die Wahrheit, diese weitergibt und für deren unverfälschte Bewahrung sorgt. Der von Roloff gegen diese Deutung vorgebrachte Einwand, solche Interpretation verbiete sich schon deshalb, "weil die zunächst mit einem ganzen Bau verglichene Kirche nicht gut unmittelbar daran anschließend nur mit dem Teil eines solchen identifiziert werden könnte" 28, ist wohl ein zu eng gezogenes Raster sowohl für die Intentionen als auch für die Möglichkeiten des Autors in der Formulierung seiner Ekklesiologie. Er will ja die Funktion der Kirche bildhaft veranschaulichen. Dazu paßt auch die präzisierende Bestimmung dieser Aufgabe und Funktion der Kirche durch die Genitivapposition Tfj~ aA.T]eda~. Von der christlichen Tradition, insbesondere von Paulus her, aber auch im Blick auf das die Past so zentral beschäftigende Thema der Bewahrung und der Weitergabe des rechten Glaubens könnte man allerdings erwarten, daß die Kirche vorgestellt würde als "Säule und Grundfeste des Glaubens". Zur Erklärung ist auf die Bedeutung von uA:f1getu an einer anderen Stelle in den Past zu schauen. In dem Abschnitt 2,3-7 steht die Formel "Erkenntnis der Wahrheit" zwischen der Aussage vom universalen Heilswillen Gottes (V 3) und einem Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu als "Lösegeld für alle" (V 6a); und in V 7 werden "Glaube und Wahrheit" zusammen genannt, ohne daß die Möglichkeit oder die Notwendigkeit einer differenzierenden Aufteilung gegeben wäre. TIicrnc; ist die Wahrheit, die, von Gott kommend, über die apostolische = paulinische Tradition ' der Kirche anvertraut ist 29. 25 26
27
28 29
ROLOFF, I Tim 199. H. MERKEL, Past 34. So aber die Interpretation bei W. STENGER, Gottesbezeichnung 68. J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 240f. "Die ,Wahrheit' ist der wahre und rechte Glaube, die gesunde Lehre" (N.
J.
BROX,
Past
157).
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Die Genitivapposition 'tfj<;; at..:r18da<;; ist nicht als Genitivus qualitatis zu verstehen 30, sondern als Genitivus auctoris. Dafür spricht auch, daß diese "Wahrheit" im folgenden Vers als "Glaubenswahrheit" entfaltet wird. Es lassen sich zu der hier bestimmenden Vorstellung mit dem Begriff "Fundament" vergleichbare Formulierungen in den Texten von Qumran benennen'!. So wird in I QS 5,5 vom "Fundament der Wahrheit für Israel" gesprochen (von Schierse gedeutet als Ausdruck des Selbstverständnisses der Gemeinschaft, von v. Lips dagegen nicht bezogen auf die Gemeinde selbst, sondern auf deren Grundlage); eindeutig ist dagegen die Aussage I QS 8,5, die von der festen Gründung der Gemeinschaft der Einung in der Wahrheit spricht. Hinzuweisen wäre auch auf die Rolle der essenischen Frommen als "Söhne der Wahrheit" im Kampf gegen die "Söhne des Frevels" (1 QH 6,25-30)32.
16a Dieser Vers 16a leitet zum folgenden hymnischen Text über, der in christologischer Sicht einen weiteren Höhepunkt in 1 Tim darstellt 33. Die Einleitung mit OJ.LOAOYOUJ.LEVW<;; stellt dessen Inhalt als allgemein anerkanntes Glaubensgut der Kirche vor. Der Grund für die Betonung der Gemeinsamkeit im Bekenntnis liegt darin, daß der Verfasser hier das Glaubensbekenntnis der Kirche nennt, die im vorhergehenden Vers in ihrer Stellung als Mittlerin des Heils und als Garantin der Wahrheit angesprochen war. Somit ist in dieser die Bekenntnisaussagen als "allgemein anerkannt" qualifizierenden Einleitung mit OJ.LOAOYOUJ.LEVW<;; eine Mahnung an die Christen mitenthalten, die ihr Verhalten in diesem "Haus Gottes" betrifft; denn es ist zu vermuten, daß der Autor bei der Wahl dieses So aber J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 241; DERS., I Tim 200. Vgl. Hinweise bei F. J. SCHIERSE, Past 53; H. v. LIPS, Glaube 98f; J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 240. 32 J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament 240, sieht in diesen Belegen aus Qumran - er nennt zusätzlich I QS 9,3f - ein Argument zugunsten seiner Deutung des Genitivs aA1]8etu~ als Kennzeichnung der Begründung und Verankerung der Gemeinschaft durch die besondere Offenbarung der Wahrheit. Doch gerade für die Qumran-Essener ist damit das Selbstverständnis verbunden, Bewahrer und Träger dieser Wahrheit zu sein. - Die Übereinstimmung von V 15 mit drei Motiven in I Kön 8 (= 3 Kön 8 LXX), nämlich dem mit topuiwl1u verwandten Begriff ~opucrl1U in 8, 13 (bei allerdings nicht eindeutiger Bezeugung) sowie mit den im Kontext begegnenden Hinweisen auf das "Haus des Herrn" (V 11) und auf die "Wolke" (V 10), die identisch sei mit der "Wolkensäule" von Ex 33,9, führt A. T. HANsoN, Studies 5-20, zur These, daß I Tim 3, 15 "das Werk eines frühchristlichen Theologen" zugrunde liegt, der "ursprünglich einen Midrasch zu I Kön 8, 10-13" geschaffen habe; die Kirche erscheine nun als das Haus Gottes, damit als Ort der Offenbarung der Wahrheit und der Anwesenheit Gottes in Christus (19; vgl. auch 5-8). Ein solcher Zusammenhang kann ebensowenig ausgeschlossen werden wie das Anliegen einer christologischen Neuinterpretation einer Tradition, in deren Mitte die Aussage von der Anwesenheit der "Herrlichkeit des Herrn" im "Haus des Herrn" steht (I Kön 8,11). Der dann ursprünglich vorhandene Bezug zum Jerusalemer Tempel als Ort des Wohnens Gottes (vgl. J. ROLOFF, I Tim 200) ist aber in jedem Fall kein Motiv mehr, welches unser Autor betonen wollte. " Gerade aber in christologischer Hinsicht ist der in 2,5 f zitierte Bekenntnistext nicht weniger wichtig; denn dort ist in der Art der Gestaltung, nämlich in der betonten Nennung des äv8pwllo~ J esus Christus, eine Akzentuierung der Christologie seitens der Past deutlich ausgesprochen. 30 31
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nur hier im NT bezeugten Adverbs beim Leser und Hörer das Stichwort oj.1oAoyia/oj.10Aoyetv ins Gedächtnis rufen wollte 34 . Der Ausdruck "Geheimnis der Frömmigkeit" ('to Tii~ eucreßeia~ j.1ucrnlPtov) ist aus dem Textzusammenhang ebenfalls ekklesiologisch zu verstehen. Im Mittelpunkt steht die Kirche. Sie ist Trägerin, Bewahrerin und Verkünderin des ihr übergebenen Evangeliums, der vom Apostel vermittelten Tradition. Wie in der apostolischen Mahnung an den vor Ort verantwortlichen Gemeindeleiter (VV 14.l5ab) auf die Kirche Bezug genommen wurde, so wird jetzt, nach den Aussagen zur heilsgeschichtlichen Funktion der Kirche (in V 15b-d), das angesprochen, was die Mitte dieser Kirche als glaubende Gemeinschaft ausmacht. Dafür ist die Formulierung 'to 'tii~ eucreßeia~ j.1ucrnlPtoV gewählt. Zwei sich ergänzende Gesichtspunkte lassen sich in den beiden Begriffen festmachen. Die Kirche hat es mit einem fl,ucrTIjptoV, einem Geheimnis zu tun. Von der apokalyptischen Tradition her ist mit "fl,ucrTIjptoV" das bezeichnet, was Gott für die Welt und die Menschen bestimmt hat. Die Besonderheit dieser "Geheimnisse" ist nicht ihre absolute Verborgenheit, sondern ihre Funktion, daß Gott sich darin den Menschen zeigt und offenbart 35. Wenn Paulus in der Linie dieses Verständnisses von fl,ucrTIjptoV an die Christen in Korinth schreibt, daß er zu ihnen gekommen ist, um ihnen "das Geheimnis Gottes" zu verkündigen, was nach seiner eigenen Interpretation bedeutet: "Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten" (I Kor 2, 1.2), dann liegt hier derselbe Grundgedanke vor; es ist nicht nur "die Unzugänglichkeit dieses Heilsgeschehens für die menschliche Ratio" 36 zugestanden, sondern die einzig und allein Gott vorbehaltene Möglichkeit der Offenbarung betont, die nur ihm zustehende Möglichkeit der Mitteilung seines Heilswillens und seines Heilswirkens. In dem Begriff fl,ucrTIjptoV ist also auf der einen Seite das Wissen um die Unverfügbarkeit dessen, was als fl,ucr'tT]ptoV erkannt bzw. geglaubt wird, seitens des Menschen zum Ausdruck gebracht; auf der anderen Seite aber wird es geradezu als das Wesen dieses Geheimnisses angesehen, daß es von Gott enthüllt und offenbart worden ist 37. Mit dieser Sicht von fl,ucrTIjptoV kommt wieder die Bedeutung der Kirche zum Tragen; ihr ist dieses Glaubensgeheimnis offenbart und zur Verkündigung anvertraut, und damit trägt sie auch die Verantwortung für dessen unverfälschte .Bewahrung.
Trotz des bereits formelhaften Charakters dieses Ausdrucks 'to 'tii~ euj.1ucrnlPtov38, vergleichbar mit der Formulierung 'to j.1ucrnlPtoV 'tii~ 1ticr'teCl)~ in V 9, ist doch aus dem Kontext eine besondere Akzentuierung erkennbar. Sachlich ist zwar die Wiedergabe der Formel mit "christlicher Glaube" gerechtfertigt; die Einbindung zwischen der Darstellung der
,creßeia~
Vgl. O. MICHEL, ThWNTV 213. S. auch W. METZGER, Christushymnus 15. Dazu und zu ähnlichem Verständnis von "Geheimnis" in den Qumrantexten H. KRÄ· MER, EWNT II 11 00 f. "H. KRÄMER, EWNT II 1102. 37 Vgl. auch J. ROLOFF, 1 Tim 202. Was R. LACHENSCHMID, Geheimnis 228, zutreffend als "Leitidee des ganzen Liedes" bezeichnet, nämlich "die Idee der Offenbarung" - "Es geschah Offenbarung von Gott her - in Christus - uns zum Heil" -, das wird mit dem vorangestellten Begriff fl,ucr'ti]ptoV vorbereitet bzw. ist bereits in ihm enthalten. J8 Vgl. G. BORNKAMM, ThWNT IV 828. . l4 35
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heils geschichtlichen Funktion der Kirche und dem angeschlossenen Hymnus mit zentralen Aussagen zur Christologie legt jedoch nahe, bewußt gewählten Sprachgebrauch anzunehmen. Die Mitte der von Gott gegebenen Offenbarung, die grundsätzlich verborgen und unverfügbar ist, ist das Christusgeheimnis, welches jetzt der Kirche als Glaubensgut anvertraut ist. Damit ist auch schon ein Hinweis dafür gegeben, daß der Verfasser ~\J cr'tT]ptoV charakterisieren kann als Geheimnis "der Frömmigkeit". Mit EUcrEßE~a wird wieder die für die Past typische und umfassende Bestimmung der "Glaubens- und Lebenspraxis der Christen" 39 eingeführt. So kommt das schon in dem Begriff ~\Jcr'tT]PtoV enthaltene Moment der Beziehung der Menschen zu Gott noch stärker zum Tragen, jetzt mit der Betonung darauf, daß dem Handeln Gottes von seiten des Menschen nicht nur die gläubige Annahme der Botschaft entsprechen muß, sondern die Verwirklichung in der Praxis des Lebens. "Frömmigkeit" ist hier mit N. Brox zu verstehen in dem ganz spezifischen Sinn der "Glaubensantwort" 40. Man kann also in der Einführung des folgenden Hymnus, in welcher zugleich eine Überleitung vom ekklesiologischen zum christologischen Teil vorliegt, mit 'to 'tii<; EucrEßEia<; ~\Jcr'tT]ptoV zwei unterschiedliche Akzente erkennen. Es geht einmal um die Bewahrung und um die unverfälschte Weitergabe des von Gott der Kirche anvertrauten "Geheimnisses"; insofern ist bei ~\Jcr'tT]ptoV durchaus das statische Moment bedeutsam. Es geht zum anderen um die gläubige Aufnahme dieser Gottesoffenbarung in einer "Frömmigkeit", die sich nach dem Gesamtbild der Past gerade nicht beschränken darf auf die persönliche Innerlichkeit, sondern die sich aktiv an der Gestaltung der Welt beteiligen muß. Insofern steckt in dieser Begrifflichkeit durchaus der Gesichtspunkt eines dynamischen Prozesses 41. l6b Der nun folgende Hymnus umfaßt in den sechs paral1el aufgebauten Zeilen ein christologisches Bekenntnis, in welchem das Christusmysterium in einer Steigerung von einzelnen Sätzen vorgestellt ist, beginnend mit dem Bezug auf eine Situation, die gekennzeichnet ist durch die (}"(ip~, mündend in dem Verweis auf eine Stellung, die umschrieben wird mit ö6~a 42. Diese bei den den ganzen Hymnus zusammenschließenden Bestimmungen der Glaubensaussagen sind gewissermaßen die Eckdaten der J. ROLOFF, 1 Tim 20l. 40 N. BRox, Past 177; vgl. zu €ucre߀LU 174-177. Vgl. auch J. J. WAINWRIGHT, Eusebeia 223, dessen durch die Betrachtung der Einzelbelege begründete These, daß €ucrt߀lU in den Past nicht zur Kennzeichnung einer "christlichen Bürgerlichkeit" diene, sondern daß damit "christliche Erfahrung, christliches Verhalten und christliche Lehre" bezeichnet werden, im Blick auf 3,16 voll bestätigt wird - nach Wainwright "einer der wichtigsten Verse für das Verständnis von eusebeia in den Past, weil er ... zeigt, daß eusebeia in der Zeit der Entstehung der Past eine eindeutig christliche Bestimmung hatte" (219). 41 Vgl. auch J. ROLOFF, 1 Tim 202, der jedoch bei j.1UcrTfJpLOV den Akzent darauf legt, daß das Geheimnis "keine statische Größe (ist), sondern ein dynamischer heilsgeschichtlicher Prozeß". 42 Vgl. G. HOLTZ, Past 90. 39
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Christologie, ohne daß in der Abfolge der einzelnen Zeilen eine chronologische Aufreihung der "Heilstatsachen" gesehen werden kann 43. l:ap~ und ö6~a sind aber auch nicht einander als Gegenpole gegenübergestellt, die im Sinn der Zwei- oder Drei-Stufen-Christologie die Inkarnation "im Fleisch" als Erniedrigung und die Aufnahme "in (die) Herrlichkeit" als die die Inkarnation überwindende Einsetzung zu gottgleicher Vollmacht und eschatologischer HerrschersteIlung kennzeichnen würden. Der Charakter der Jesus betreffenden Aussagen in den Substantiven wird entscheidend geprägt von den damit verbundenen Verben. Und diese gehören durchweg in den Bereich der "Verkündigungs- bzw. Offenbarungsterminologie" 44. Formal betrachtet ist am besten eine Gliederung in 3 Strophen anzunehmen, in denen jeweils eine Gegenüberstellung von irdischer und himmlischer Welt vorgenommen wird, und zwar in chiastischer Abfolge von "unten" und "oben": Fleisch - Geist; Engel- Völker; Welt - Herrlichkeit (also a-b/b-a/a-b). Am Beginn einer jeden Zeile steht ein das Handeln Gottes umschreibendes Passiv, angeschlossen daran ist eine mit ,,€v" formulierte adverbiale Bestimmung (mit Ausnahme der 3. Zeile). In Sicht auf die jeweils am Ende stehenden Substantive läßt sich zwar, bezogen auf jeweils zwei zusammengehörige Zeilen, der Begriff "Gegensatzpaare" verwenden, nicht aber für die am Anfang stehenden Verben 4s • Von der Gattung her gesehen ist sicher die Bezeichnung "Christushymnus" die dem Text angemessenste 46. Um so auffälliger muß es erscheinen, .3 Vgl. Mit M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 50. So auch J. ROLOFF, 1 Tim 195: Der Hymnus will "offensichtlich nicht Stationen des Weges Jesu aneinanderreihen". J. ROLOFF, 1 Tim 195. W. METZGER, Christushymnus 50.61, spricht von einem "Epiphaniehymnus" . • 5 Anders urteilt H. MERKEL, Past 33; s. E. bilden auch "die am Satzanfang stehenden Verben Gegensatzpaare : In den Zeilen 1,3 und 4 wird von einem Proklamationsvorgang gesprochen (offenbaren/erscheinen/verkündigen), in den Zeilen 2,5 und 6 von einem Akzeptationsvorgang (rechtfertigen/glauben/aufnehmen), jeweils auf die irdische und himmlische Sphäre verteilt." Während F. MANNs, vgl. L'hymne 324-327, die vorlie· gende Zahl der Zeilen als ursprünglich ansieht und sie mit der symbolischen Bedeutung der Zahl "sechs" (für die im hebräischen Alphabet das waw steht) in der rabbinischen Literatur erklärt (er nennt als ein Beispiel GenR XII, 6 [zu Gen 2,4]: die sechs Dinge, die Adam durch seine Sünde verloren hat, werden durch den Messias wiederhergestellt), sieht J. MUltPHY·O'CONNOR, Angels 179-181, die meist vertretene Zuordnung von je zwei Zeilen zu einer Strophe widerlegt dadurch, daß tv crapKl und tv 1t\Ie6!J.1l.'tt in Zeile 1 und 2 nicht als Antithesen zu interpretieren sind; und weil mit Zeile 3 (<<7>q>9r) eXYYEAot9 . ein Bruch in der Form vorliege, sei dieser Versteil"unausweichlich" als Interpolation zu erklären. • 6 Dazu die ausführliche Bestimmung und Diskussion bei J. ROLOFF, 1 Tim 192-197. Am häufigsten begegnet die. Bestimmung des Textabschnittes V 16b als "Christushymnus"; vgl. u. a. E. SCHWEIZER, Erniedrigung 104; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 133; R. H. GUNDRY, Form; K. WENGST, Formeln 157 ("Hymnus oder Lied"); W. STENGER, Christushymnus (1977) 81 (vgl. 70-81); J. MUltPHY-O'CONNOR, Angels; J. ROLOFF, 1 Tim 192; H. MERKEL, Past 33; T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 124f. Etwas anders akzentuieren F. J. STRANGE, Study 89-95, der den Text als eine Mischgattung zwischen Hymnus und Bekenntnis charakterisiert, nämlich als "bekenntnishaften Hymnus" 44
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daß die betont am Anfang stehenden Verben durchgehend das Passiv bezeugen und so auf die Initiative und das Handeln Gottes verweisen 47. Diese passivische Formulierung mit der Einbindung des Christusereignisses in die Gottesoffenbarung paßt allerdings ausgezeichnet in die soteriologische Konzeption der Past (wie sie sich u. a. auch schon in dem Kurzcredo 2,5 f gezeigt hat). Deshalb ist es sicher zu wenig, als "Leitsatz" die Aussage zu nehmen: "Der Erlöser ist erschienen." 48 Da das Handeln Gottes in Jesus Christus die Bekenntnisaussagen so eindeutig bestimmt, wäre passender zu umschreiben: Gott hat seinen Erlöser- und Heilswillen für alle Menschen endgültig und abschließend in Jesus offenbart 4 '. Die erste Strophe nennt in der ersten Zeile das offenbarende Handeln Gottes in der Inkarnation. Die Wendung "im Fleisch" meint hier nicht nur im lokalen Sinn die Erscheinung "in der Sphäre des Fleisches" 50, sondern unterstreicht wie das äv8pw1toC; in 2,5 bei der Nennung Jesu den Weg der Gottesoffenbarung über die menschliche Seinsweise Jesu. Mit J. Jeremias ist darin eine antidoketistische Spitze mitzuhören 51, zumal wenn man in Betracht zieht, daß das hellenistische Judenchristentum,in Aufnahme von LXX-Sprachgebrauch, mit O'ap~ "die irdische Sphäre" umschrieben hat, "deren Kennzeichen Vergänglichkeit und Begrenztheit durch den Tod sind" 52. Diese Zuordnung ist jedoch nicht notwendigerweise im Sinne einer Erniedrigung auszulegen oder als Kenosis des präexistenten Gottessohnes zu interpretieren (wie etwa Phil 2,7 f). Dagegen spricht insbesondere, daß die Erscheinung "im Fleisch" mit dem Verbum <pavep6w als Offenbarungsgeschehen bestimmt ist 5J • Deshalb ist mit der behaupteten antidoketistischen Zielsetzung die von V. Hasler vorgenommene Präzisie("confessional hymn"), und A. T. HANSON, Past 85, der die Bezeichnung "Hymnus" präzisiert mit der Bestimmung, es handle sich um eine Art Glaubensbekenntnis, in welchem die als wesentlich erachteten "facts" über Christus aufgezählt werden. 47 Vgl. auch W. METZGER, Christushymnus 73. 48 So V. HASLER, Past 31. Aufgrund der sprachlichen Gewandtheit unseres Autors und seines ausgesprochenen Formwillens und wegen des Fehlens von "eigentlichen Analogien aus der Zeit des N euen Testaments und der Apostolischen Väter" will Hasler "die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, daß er [der Verf.] auch hier nach ihm vorliegender gottesdienstlicher Überlieferung eine eigene Strophe zusammengestellt hat" (ebd. 30). 4' Vgl. die oben (Anm. 37) schon zitierte Formulierung der "Leitidee" bei R. LAcHENSCHMID, Geheimnis 228: "Es geschah Offenbarung von Gott her - in Christus - uns zum Heil"; auch F. J. SCHIERSE, Past 54. Diese theologische Prägung des Christusbekenntnisses läßt es als unangemessen erscheinen, im Blick auf Christus zu sagen, seine "Gottheit" sei hier "vorausgesetzt" (so N. BROX, Past 160). '0 So K. WENGST, Formeln 158. SI J. JEREMIAS, Past 29. '2 J. ROLOFF, 1 Tim 203. 53 Vgl. dazu M. N. A. BocKMuEHL, Das Verb <pavep6ro im Neuen Testament: BZ 32 (1988) 87-99: bei Paulus und in den seinem Umkreis entstammenden Schriften nicht Offenbarung "im allgemeinen Sinne", sondern "die unlängst ergangene ,Wahrnehmbarmachung' des von Gott seit Urzeiten verheißenen flucrTIJPWV, und zwar in dem geschichtlichen Heilshandeln Christi" (99).
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rung gut vereinbar, daß die Formulierung "Erscheinung im Fleisch" zu unterscheiden sei von der Vorstellung, die verknüpft ist mit dem Stichwort "Fleischwerdung" 54. Dies schließt aber nicht aus, daß der für die Christologie der Past zentrale und in der christologischen Diskussion aktuelle Gedanke besonders betont gesehen werden kann: die Gottesoffenbarung ist in der Gestalt des Menschen Jesus erfolgt und damit zu ihrem abschließenden Höhepunkt gekommen 55. Der Gedanke der Präexistenz wird zwar in dieser Redeweise von der Inkarnation nicht ausgeschlossen, er wird aber auch nicht ausdrücklich formuliert 56. Auf dem Hintergrund der für die Past zentralen Betonung der Präexistenz des Heilswillens Gottes und der Zuordnung der Person Jesu als Mittler dieses Heilswillens erscheint zudem der Gedanke der Präexistenz Jesu Christi eher am Rande liegend 57. In jedem Fall ist die Präexistenz nicht als besonderes Kennzeichen der Christologie der Past zu betrachten. Der Inkarnationsaussage entspricht in der zweiten Zeile der ersten Strophe als Kontrastbegriff die Bekenntnisaussage "gerechtfertigt im Geist". Zur ersten Zeile. mit der Nennung der (JaPS als Ort der Offenbarung steht diese zweite Zeile mit dem Verweis auf das 1tVEÜIlU, also den ganz und gar göttlichen Bereich, in einem Gegensatz, insofern die Existenzweise "im Fleisch" von der "im Geist" nicht nur zu unterscheiden ist, sondern beide als Existenzweisen unvereinbar sind. Diese Gegensätzlichkeit schließt allerdings nicht aus, daß Gott sich in Jesus Christus offenbart, und zwar sowohl "im Fleisch" als auch "im Geist". Geschehen kann diese Gottesoffenbarung aber jeweils nur in einer der beiden Existenzweisen. Eine vergleichbare Konstellation von "Fleisch" und "Geist" im Bereich der christologischen Bekenntnisbildung bietet die von Paulus überlieferte ältere Formel Röm 1,3 f, die mit Recht immer wieder als Parallele genannt wird. Auch dort ist, wie in den beiden ersten Zeilen unseres Hymnus, die erste Stufe des Handeins Gottes bezogen auf die Existenzweise "dem Fleische nach" (V 3), welche dann in V 4, dort allerdings ausdrücklich verknüpft mit dem "Datum" der Auferweckung, abgelöst wird durch die Einsetzung zum Sohn Gottes "dem Geist der Heiligkeit nach". Beide Aussagen handeln von der heilsgeschichtlichen Stellung Jesu. Doch sind bei der Parallelisierung mit der Formel Röm 1,3 f auch die Grenzen zu beachten. Dies gilt zum einen für die Deutung von eOLKatWe". Es könnte nahelie'4 V. HASLER, Past 31; allerdings vertritt Hasler die Interpretation, der Begriff "Fleisch" bezeichne hier "lediglich die irdische Erscheinung des göttlichen Erlösers in einer menschlichen Verkörperung". ss Hier liegt dann Parallelität zu Joh 1,14 vor, wo auch die Inkarnation - dort allerdings deutlich antidoketistisch mit CJ(lP~ tyt.VE'tO formuliert - verbunden ist mit der Aussage von der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. 50 Nach W. STENGER, Christushymnus (1977) 147, mußte der Autor der Past diese erste Zeile des Hymnus im Rahmen des ihm bekannten Revelationsschemas als "Inkarnationsaussage" verstehen. "Außerdem implizierte dann das tepavEpro911 für ihn die Präexistenz, da das Offenbarungsgut des Revelationsschemas durchweg als präexistentes gedacht ist." 51 Auch K. WENGST, Formeln 158, gibt zu bedenken, "daß auf dieser implizierten Präexistenz kein besonderes Gewicht liegt".
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I Tim 2, I - 3, 16 gend erscheinen, den Sinn von öucutoücr8ut von Röm 1,4, also von der Auferwekkungsaussage her bestimmen zu wollen. Doch eine solche Gleichsetzung von tÖtKutw8T) mit der Auferweckungsaussage ist aus mehreren Gründen auszuschließen. Zum einen ist im ersten Teil dieser ersten Strophe weder die Rede vom Tod Jesu noch gar von seiner Hinrichtung; und deshalb erscheint es recht willkürlich, den Begriff der "Rechtfertigung" in diesem Zusammenhang zu interpretieren in Verknüpfung mit dem Bekenntnis zum Geschehen der Auferweckung Jesu, oder die Rechtfertigung gar zu erklären als Erweis der Gerechtigkeit für den "als Verbrecher am Kreuz Hingerichteten vor aller Welt"". Der zweite Einwand resultiert aus der Würdigung der Konstruktion der zweizeiligen Strophe. In der zweiten Zeile wird gerade nicht die Behebung eines Mangels, die Überwindung einer Notsituation ausgesprochen; das Handeln Gottes in der "Rechtfertigung" Jesu (tötKatw8T) führt das Bekenntnis zur "Offenbarung im Fleisch" vielmehr weiter und bringt eine "Steigerung"". Das Moment der Steigerung ist im besonderen gegeben mit dem Stichwort 1tVl;Ü~U. Es wird damit verwiesen auf den Bereich Gottes, der dem Bereich des Fleischlich-Irdischen gegenübersteht.
Man könnte also bei der Interpretation der zweiten Zeile einfach von der "Erhöhung in die himmlische Welt" 60 sprechen. Es ist diese Rückkehr zu Gott - und insofern wäre die Präexistenz vorausgesetzt, bliebe jedoch unbetont - gedeutet als die eschatologische Bestätigung durch Gott, die die Mittlerfunktion Jesu im Blick auf den Retterwillen Gottes zur Vollendung bringt. Auch in der zweiten Strophe bilden die zwei Zeilen insofern eine Einheit, als die beiden Bereiche des Himmlischen und des Irdischen einander zugeordnet sind; das, was für den himmlischen Bereich angesagt wird ("er wurde geschaut"), erhält eine parallele Entsprechung im irdischen Bereich ("er wurde verkündigt"). Es ist aber im Blick auf die neutestamentliche Überlieferung gleich festzuhalten, daß der hier gegebene Bezug der beiden Aussagen nicht als notwendige Verbindung zu interpretieren ist. Der Hinweis auf die Verkündigung des Christus bzw. des Evangeliums vor den Heiden ist ein v. a. in den paulinischen Briefen verbreitetes Thema (vgl. Gall,16; 2,2;.auch Röm 1,5; 1 Kor 1,23; 1 Thess 2,9; vgl. auch Eph 3,1.6.8; Koll,24-27) und dort nicht angewiesen auf eine ergänzende bzw. vorbereitende kerygmatische Aussage. Mit der vorliegenden Verknüpfung erfolgt auch eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Formeln. Das zeigt sich gleich in Übersetzung und Deutung des ersten Prädikates &>811. Die aus dem Zusammenhang der Erscheinungen des Auferstandenen geläufige Übersetzung "er erschien" erweist sich hier als zu blaß, zumal ein Bezug auf die österliche Christophanie auszuschließen ist 61 • Vom Gesamtaufriß des Hymnus her " J. JEREMIAS, Past 29. " Vgl. auch J. ROLoFF, I Tim 203. Insofern erscheint es irreführend, wenn Roloff (ebd. 205 f) das Kontrastschema als Erklärungsmodell einführt. 60 So N. BROX, Past 160; vgl. auch K. WENGST, Formeln 158. 61 Vgl. auch J. ROLOFF, I Tim 206.
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und im Blick auf das zu c'bcp8T) parallele Passiv EKTJp6XST) ist auch c'bcp8T) passender passivisch zu übersetzen: "sichtbar gemacht (den) Engeln", "geschaut von (den) Engeln"62. Die erste Zeile der zweiten Strophe schildert ein Geschehen im Himmel. In dieser "Ortsbestimmung" liegt eine Gemeinsamkeit mit der vorhergehenden Zeile. Während dort aber der Akzent ganz auf einem nur Jesus betreffenden Geschehen bzw. Handeln Gottes liegt, wird jetzt die Auswirkung des Jesus zugesprochenen Status auf die himmlische Welt angesprochen. Als der von Gott "Gerechtfertigte", d. h. als der in seiner eschatologischen Würde und Machtstellung Eingesetzte, wird er ,,(den) Engeln" präsentiert. Der darin enthaltene Gedanke der Übertragung der Herrschaft ist ein geläufiges Motiv neutestamentlicher Erhöhungschristologie (vgl. Phil 2,9-11; Eph 1,20f; 1 Petr 3,211): Der Erhöhte wird der himmlischen Welt präsentiert. Mit dem Begriff &YYEAOL können nicht nur himmlische Wesen bezeichnet sein, sondern ganz allgemein Mittlerwesen zwischen Gott und den Menschen, also Geister und Dämonen (vgl. 1 Kor 4,9; Röm 8,38). Ein solches umfassendes Verständnis bei &YYEAOL scheint nicht ausgeschlossen, verändert in der Interpretation aber kaum etwas. Der Hauptakzent in dieser dritten Zeile liegt auf dem Bekenntnis der" Unterwerfung der himmlischen Mächte unter den verherrlichten Christus" 63. Die dahinterstehende Vorstellung wird in apokalyptischen Texten veranschaulichend dargestellt; so in dem Bild von den um Gottes Thron stehenden Engeln und ihrem Lobpreis Gottes bzw. des Lammes in Offb 5, 11 f; 7, 11 f; oder in der Schilderung AscJes 11,23: "Und ich sah ihn [Jesus), und er war im Firmament, aber er hatte sich nicht verwandelt in ihre Gestalt, und alle Engel des Firmamentes und Satan sahen ihn und beteten ihn an". 64
Dieser himmlischen Präsentation korrespondiert in der zweiten Zeile der zweiten Strophe ein Geschehen in der Welt der Menschen, formuliert in dem Satz: "verkündigt bei den Völkern". Bezogen auf die Zielsetzung des Hymnus, nämlich die schrittweise Entfaltung einer Christologie in Grundzügen, liegt in der Gegenüberstellung von himmlischem Bereich und Geschehen in der Welt ein innerer Zusammenhang vor. Die Verkündigung in der Welt hat den gerade (in Zeile 3) in seiner himmlischen, transzendenten Würde und Herrschaft vorgestellten Christus zum Gegen62 Zwar betont auch W. METZGER, Christushymnus 92, daß c\l
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1 Tim 2,1 - 3,16
stand. Was für den Himmel gilt, das muß auch in der Menschenwelt Anerkennung finden. Sicher liegt das Interesse der Past in dieser zweiten Strophe auf der zweiten Aussage, der universalen Verkündigung Christi. Die schon angesprochene Bedeutung der Verkündigung des Evangeliums vor den Heiden für den Apostel Paulus, die in den authentischen Briefen einerseits und in der Wirkungsgeschichte der paulinischen Pseudepigraphen andererseits zu erkennen ist, prägte, wie u. a. die Aufnahme in den Hymnus zeigt, den Anspruch und das Selbstverständnis der christlichen Mission von Anfang an. Aber auch in den veränderten Bedingungen der Gemeinden der Past bleibt dieses Thema der Universalität der Heilsverkündigung ein wichtiger Bestandteil der Theologie der Past. Wie die Universalität des Heilswillens Gottes (2,4) und die umfassende Bedeutsamkeit des Sühnetodes Jesu (2,6), so wird auch die uneingeschränkte Verantwortung der Christen für alle Menschen betont (2,1). Diese die Grenzen der Gemeinde und der Kirche auf die Welt hin überschreitende ekklesiologische Konzeption zeigte sich des weiteren in den Mahnungen an die Männer und Frauen in der Gemeindeleitung (3,7.10). Die in hymnischer Einbindung vorgegebene Aussage von der Verkündigung Christi vor den Völkern entspricht also diesem für die Past grundlegenden Gedanken der umfassenden, universalen Verantwortung der christlichen Gemeinden in ihrer Verkündigung und ihrem Leben. Gegen diese Deutung auf die aktuelle Situation der Past hin läßt sich nicht die Formulierung in der Vergangenheitsform ins Feld führen. Es wird damit deutlich gemacht, daß die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus an die Heiden begründet ist in der Funktion, die Jesus entsprechend dem Heilsplan Gottes immer schon zukommt. Auf dem Hintergrund der in den vorhergehenden Zeilen Jesus zugesprochenen heilsgeschichtlichen Funktionen, insbesondere der Vollmachtstellung im Himmel, ist eine alle Menschen mit einbeziehende Verkündigung die gewissermaßen notwendige Konsequenz. Bestätigt wird diese Erklärung, daß die Verkündigung an die Heiden heilsgeschichtlich verankert werden soll, durch die passivische Verbform. Die Verkündigung an die Heiden folgt aus der Universalität des Heilswillens Gottes 65. In dieser soteriologischen Sinngebung und Zielsetzung liegt das besondere Interesse der Past. Was der Autor den Apostel als den ihm übergebenen Auftrag nennen läßt, "Lehrer der Heiden" zu sein (2,7), das wird, wie es im Verzögerungsmotiv in den VV 14.15 ausdrücklich festgehalten wurde, dem Gemeindeleiter übergeben und damit auch als Auftrag an die Kirche bestimmt. Jesus, der Mittler von Gottes universalem Heilswillen, muß weiterhin den Heiden verkündet werden. Letztlich handelt es sich dabei allerdings lediglich um eine Umsetzung der im Willen Gottes grundgelegten Universalität des Heils (vgl. 2,3-6). Und da es um die Durchsetzung dieses Willens Gottes geht, braucht sich weder der Hymnus noch auch un-
" Vgl. dazu auch J.
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ROLOFF,
1 Tim 208.
1 Tim 3,14-16
ser Autor um die Frage der praktischen Möglichkeiten der Verwirklichung der universalen Heidenrnission zu sorgen. Die erste Zeile der dritten Strophe, "geglaubt in der Welt", führt den zuletzt genannten Gedanken der Verkündigung weiter. Der Verkündigung entspricht der Glaube. Der Universalität der Verkündigung entspricht somit die umfassende Hinordnung der von der Verkündigung "Betroffenen" auf den Glauben. Geschichtliche Probleme der konkreten Situation, daß nämlich eine weltweite Verkündigung des Evangeliums in dieser Zeit ebenso noch eine Illusion ist wie die Möglichkeit, von einem "Glauben des Kosmos" zu sprechen, können hier nicht vorgebracht werden; denn das Ziel dieses Hymnus ist es, die ganz bei Gott liegende Initiative der Offenbarung seines Heilswillens in Jesus Christus zu betonen und damit deutlich zu machen, daß das Wirksamwerden dieses umfassenden Retterwillens, etwa in Verkündigung und Glaube, ebenfalls nur möglich ist, wenn es als Beteiligung bzw. Partizipation an diesem Willen Gottes verstanden ist. Der Hymnus kann deshalb davon sprechen, daß "er", Jesus Christus, "geglaubt wurde in der Welt", weil Gott ihn für die Welt und ihren Glauben bestimmt hat. Mit dem Schlußsatz, "aufgenommen in die Herrlichkeit", wird die gegenwärtige Situation der das Bekenntnis sprechenden Kirche wiederum deutlicher. Der zu Gott erhöhte Christus ist letztlich der, an den sich die christliche Gemeinde im Gebet wendet. Nach J. Jeremias liegt unserem Christushymnus die Stilform des altorientalischen Thronbesteigungshymnus zugrunde. Dieser umfaßt drei Vorgänge: Erhöhung, Präsentation und Inthronisation. So werde auch "die Thronbesteigung Jesu Christi" als "Triumphzug" geschildert, verdeutlicht jeweils durch das Gegensatz· paar in jeder Strophe: 1. Erhöhung des Menschgewordenen; 2. Kundgabe der Erhöhung an die himmlische und irdische Welt; 3. Einsetzung Christi in Herrlichkeit 66. Beeinflussung durch dieses Schema ist nicht ausgeschlossen, wobei dafür auch schon andere christliche Vorbilder zugrunde gelegt werden können. Man muß allerdings dazu bemerken, daß unser Hymnus kein Interesse mehr hat an irgendeiner Stufen- oder Reihenfolge; denn letztlich sind die Aussagen der einzelnen Zeilen zu verstehen als jeweils neuer und damit in gewissem Sinn eigenständiger und unabhängiger Aspektder Darstellung der "Epiphanie" des Erlösers 67.
III Die Gemeinschaft derer, die an den Messias Jesus glauben, ist bereits über zwei Generationen hin angewachsen. Die christlichen Gemeinden haben sich etabliert; sie sind aber noch auf der Suche nach konkreten Strukturen und Formen, nach denen sie ihr Leben gestalten können. In den Gemeinden entwickeln sich erst allmählich spezifisch auf diese Gemeinschaften ausgerichtete und ihnen entsprechende Ordnungen. Diese werden aber 66
J.
67
So V.
JEREMIAS,
Past 28 f. Past 33.
HASLER,
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1 Tim 2,1 - 3,16
gleich wieder gefährdet und in Frage gestellt durch innergemeindliche Probleme und Auseinandersetzungen um den rechten Glauben. Wie die Past zeigen, gibt es das Bestreben, das gemeindliche Leben auszurichten an der im antiken "Haus" gültigen und bewährten Ordnung. Die Übertra- . gung dieses Prinzips der Hausgemeinschaft, die die Christen aus ihrer konkreten Lebenserfahrung in der hellenistischen Welt kennen, vermittelt der neuen Gemeinschaft zum einen Stabilität und das Gefühl einer gewissen Sicherheit, zugleich aber auch die Möglichkeit, sich vor der nichtchristlichen Umwelt als eine Gemeinschaft zu präsentieren, die als stabilisierender Faktor Beachtung und Anerkennung verdient. Wie wichtig dem Autor diese ekklesiologische Orientierung an der Oikos-Vorstellung ist, zeigt sich wiederum in der Bindung an das verpflichtende "Ich" des Apostels. Paulus ist es, der seinem Stellvertreter das rechte "Wissen" um seine Aufgaben für den Fall der Notwendigkeit eigenverantwortlichen HandeIns vermittelt. Der "Apostel" gibt die verpflichtende Anweisung für das rechte Verhalten, an dieser Stelle allerdings in der recht allgemein gehaltenen Formulierung 1t(j)~ DEI ... avacr'pE<jlEcr8at. Das entscheidende Stichwort ist der Verweis auf das "Haus"; in diesem Hinweis ist all das enthalten, was vorher im Blick auf einzelne Personen und Personengruppen schon entfaltet worden war. Es kommt zu einer Wechselwirkung in der Gewichtung von OtKO~ und EKKAllcrta. Kirche und christliche Gemeinde werden dazu aufgefordert, sich an der Struktur und an der Ordnung des Hauses zu orientieren, da dies auch dazu verhilft, dem heilsgeschichtlichen Auftrag nachzukommen; die Hausordnung selbst erhält umgekehrt durch diese ekklesiologische Aufwertung ein besonderes Gewicht für das Leben der christlichen Gemeinden im Alltag. Und doch ist diese "Hausgemeinschaft" nicht begründet in der Vollmacht des Apostels oder der von ihm autorisierten Personen, und auch nicht in der Beschlußfassung der sich versammelnden Gemeinde. Es ist das Haus Gottes. Die ekklesiologische Konzeption des Verfassers erhält in unserem Text eine theologische und damit soteriologische Präzisierung. Die Kirche muß sich bewähren als "die Kirche des lebendigen Gottes". In dieser Bestimmung ist neben dem Anspruch, in der von Gott geschenkten Lebensfülle zu sein, auch die Verpflichtung enthalten, alle Menschen daran teilhaben zu lassen, das von Gott geschenkte "Leben" weiterzugeben. Solches "Leben" Gottes, welches in der Kirche als Lebensprinzip weiterwirkt und zugleich von ihr weitervermittelt werden muß, ist gebunden an die konkret geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus. Der Hymnus in V 16 expliziert in den vorgestellten Stationen bzw. Aspekten des Christusereignisses die Geschichte und die bleibende, eschatologisch gültige und verbindliche Bedeutung der Offenbarung des Heilswillens Gottes. Die Kirche als "Säule und Fundament der Wahrheit" ist die von Gott bestimmte und vom Apostel im Auftrag Gottes autorisierte Bewahrerin und Verkünderin dieser Wahrheit. Mit dieser stärker objektiv gewendeten Beschreibung der Funktion der Kirche ist auf die Charakterisierung von N. Brox zurückzukommen, in der 170
I Tim 4,1-11
Sichtweise einer heiligen, bergenden Einrichtung, als schützendes Haus trete die Kirche in den Past "als Institution in eine Gegenüberstellung zu den Gläubigen" 68. Bestätigt wird diese Sicht durch die vorliegende Verhältnisbestimmung. Der Adressat, das ist in Entsprechung zum Bild vom Haus der Vorsteher der Gemeinde, wird in der Weisung des "Apostels" auf seine Verantwortung in der Kirche als dem "Haus Gottes" und damit für die Sicherung und Bewahrung der "Wahrheit" angesprochen. Diese Sicht der Kirche als Ort der Sicherheit und als Hort der Wahrheit bedingt auch ein verändertes Verständnis von "Glaube" (ntcr'ttC;;); das "Geheimnis der Frömmigkeit", d. h. das Glaubensgut, hier komprimiert vorgestellt in dem zitierten Hymnus, ist ihr anvertraut. Ein nicht unbedeutender Grund für die Entwicklung dieses Kirchenverständnisses liegt darin, daß dieser Glaube als von Irrlehren gefährdet angesehen wird. Und damit beschäftigt sich der Autor im folgenden. LITERATUR: H. A. BLAIR, A Creed before the Creeds (London 1955); R. H. GUNDRY, The Form, Meaning and Background of the Hymn quoted in I Timothy 3:16: W. W. GASQUE - R. P. MARTIN (Hrsg.), Apostolic History and the Gospel. FS F. F. Bruce (Grand Rapids 1970) 203-222; A. JAUBERT, L'image de la colonne (I Timothee 3,15): Studiorum Paulinorum Congressus Internationalis Catholicus 1961, Bd.II (AnBib 17-18) (Rom 1963) 101-108; J. KREMER, "Aufgenommen in Herrlichkeit" (I Tim 3,16). Auferstehung und Erhöhung nach dem Zeugnis der paulinischen Schriften: BiKi 20 (1965) 33-37; R. LACHENSCHMID, Geheimnis unseres Christseins. Das Christuslied aus I Tim 3,16: GeLe 39 (1966) 225-229; F. MANNS, L'hymne judeo-chretien de I Tim. 3, 16: ED 32 (1979) 323-339; M. O. MASSINGER, The Mystery ofGodliness: BS 96 (1939) 479-489; J. MURPHy-O'CONNOR, Redactional angels in I Tim 3:16: RB 91 (1984) 178-187; W. STENGER, Der Christushymnus in I Tim 3, 16. Aufbau - Christologie - Sitz im Leben: TThZ 78 (1969) 33-48; DERS., Textkritik als Schicksal (I Tim 3,16): BZ 19 (1975) 240-247; DERS., Die Gottesbezeichnung ,lebendiger Gott' im Neuen Testament: TThZ 87 (1978) 61-69; E. SCHWEIZER, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern (AThANT 28) (Zürich 1962) 104-108; J. F. STRANGE, A Critical and Exegetical Study of I Tim 3 :16. An Essay in Traditionsgeschichte, Diss. Madison (New Jersey 1970).
4. Die Auseinandersetzung mit den falschen Lehren: 4,1-11 Nachdem der Verfasser im vorangegangenen Abschnitt die heilsgeschichtliche Stellung der Kirche und noch einmal ihre besondere Beauftragung, für die Wahrheit des Glaubens Sorge zu tragen, betont hat, konkretisiert er dies jetzt. Die rechte Ordnung des Gemeindelebens und die Bewahrung des rechten Glaubens gehören nach Meinung der Past innerlich zusammen; deshalb kann der Verfasser sachgerecht an den Abschnitt über die Gemeindeordnung den Aufruf zum Widerstand gegen Irrlehren anschließen. Diese "Auseinandersetzung" mit den Irrlehrern - wobei gleich darauf 68
N. BROX, Past 157 f.
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1 Tim 4,1-11
hinzuweisen ist, daß mit dem Begriff "Auseinandersetzung" eigentlich zu hoch gegriffen ist - vollzieht sich in zwei Schritten. Es werden zuerst (4,1-5) Positionen der Irrlehrer vorgestellt, und es wird dann die Aufgabe des "Timotheus" beschrieben. Hier ist erneut (vgl. schon zu 1,3-7) das für die Past typische Vorgehen zu beobachten. Bereits im ersten Abschnitt (4, 1-5) liegt die Absicht auf dem Nachweis, daß es sich bei den Vertretern solcher Positionen, die gleich angesprochen werden, um vom Glauben Abgefallene handelt (V 1); ihre Forderungen stehen im Widerspruch zum Willen Gottes, wie er sich in der Schöpfung kundgetan hat (VV 3 f). Der im Hinblick auf das Auftreten solcher Irrlehrer formulierte Auftrag an "Timotheus" enthält so auch keine argumentative Hilfestellung. Die Aufgabe des Vertreters der in der apostolischen Tradition stehenden Gemeinde wird im wesentlichen dahingehend beschrieben, daß er durch seine Frömmigkeit (VV 7.8; vgl. 3, 16!) ein Vorbild für die Brüder sein soll (vgl. V 6) und sich dadurch als "nützlich" für ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben erweisen wird. a) Asketische Forderungen und ihre Zurückweisung (4,1-5)
4,1 Der Geist aber sagt ausdrücklich: In späteren Zeiten werden einige vom Glauben abfallen, indem sie ihre Aufmerksamkeit richten aufbetrügerische Geister und auf Lehren von Dämonen, 2 aufgrund der Heuchelei von Lügnern, welche in ihrem eigenen Gewissen gebrandmarkt sind; 3 sie verbieten, zu heiraten, und (sie gebieten), sich zu enthalten von Speisen, welche Gott geschaffen hat, daß sie angenommen werden mit Danksagung von den Glaubenden und denen, die zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt sind. 4 Denn alles von Gott Geschaffene ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird; 5 es wirdja geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet. I
Nach den sehr allgemein gehaltenen Vorwürfen und Anschuldigungen an die Adresse derer, die gleich zu Beginn des Schreibens der Abweichung von der rechten Lehre beschuldigt wurden, und einer in der traditionellen Polemik sich bewegenden Abqualifizierung von deren Anliegen und Meinungen (vgl. 1,3-7) wird der Verfasser nun etwas konkreter. Es werden Positionen genannt, die das Glaubensverständnis der bekämpften Irrlehrer in eine bestimmte Richtung hin präzisieren; und es sind auch "echte Ansätze zu einer theologischen Auseinandersetzung" mit den gegnerischen Meinungen erkennbar 1. Beachtung verdient die vorliegende Komposition. Der Episkopos und die Diakone waren auf ihre Verantwortung als Repräsentanten der christlichen Gemeinden und (wieder über den fiktiven Adressaten Timotheus) I
P.
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TRUMMER,
Paulustradition 166.
1 Tim 4,1-5
auf ihre Verpflichtung, für die Ordnung in der Kirche und damit für den Glauben Sorge zu tragen, angesprochen worden. Die unmittelbar angeschlossene, recht massive Beschreibung der Gefahr des Glaubensabfalls (zu beachten ist das Futur unoO"TftO"oV'tat, welches allerdings unterschiedliche Aspekte akzentuieren kann) erhält auf diese Weise auch die Funktion, die eben (in Kap. 3) angesprochene Bedeutung und Notwendigkeit einer Gemeindeleitung zu unterstreichen, die weiß, "wie man sich im Haus Gottes verhalten muß" (3, 15a.b). Und der Anschluß mit OE (4,1) zeigt, daß der vorangehend zitierte Hymnus (3,16) nun, im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um den rechten Glauben, als theologische und christologische Gegenposition verstanden werden muß, also den Charakter eines Bekenntnisses gewinnt. Die Erzählebene bleibt die der Gegenwart des Verfassers, obwohl er eingangs zum literarischen Stilmittel der prophetischen Ankündigung zukünftiger, eschatologischer Ereignisse greift. Die Fiktion der paulinischen Abfassung bestimmt die Formulierung. D.er Apostel kündet etwas für die Zukunft an, was für die Gemeinden in der Gegenwart der Past schon Wirklichkeit geworden ist.
11 1 Die Einführungsformel mit dem Verweis auf die offenbarende Funktion des Geistes (ta ~i; 1tVEÜIlU (rr]1:w<; AEYEt) greift eine im NT durchgängig bezeugte Vorstellung vom Wirken des Geistes auf, die ebenso wie die daraus entwickelte "apokalyptische Redeweise" (vgl. Apg 8,29; 22,17; Offb 2, 7.11.17.29; 3,6.13.22; 14,13; 22,17; auch Mk 13,11) durch die Verwendung von ruab/nvEüllU im AT und im Judentum geprägt wurde 2. Mit dieser Wendung werden das Auftreten von Irrlehrern und der Abfall vom Glauben als Ereignisse angekündigt, die in einer bestimmten Sicht der Geschichte als notwendig mit der Entwicklung und Entfaltung des Glaubens verknüpft gesehen werden; es sind dies Dinge, die zum Leben der Kirche gehören und somit auch zu den zu bewältigenden Aufgaben der christlichen Gemeinden und im besonderen ihrer Amtsträger. Die zu erwartenden Geschehnisse werden für die Zukunft angekündigt, für "spätere Zeiten". Die in der Schilderung erkennbare Geschichtsschau, die die eschatologische Zeit mit der erstarkten Aktivität antigöttlicher und antikirchlicher Mächte verbindet, ist ein gemeinchristlicher Topos insbesondere aus der Spätzeit der neutestamentlichen Schriften (vgl. Mk 13,5 f.22; Apg 20,29 f; 2 Thess 2,3 f.9 f; Jud 17 f; 2 Petr 2, 1-3; 1 Joh 2, 18). Die Past greifen dieses Geschichtsverständnis auf, allerdings, wie gleich zu zeigen sein wird, mit eigenständiger Akzentuierung. Man kann darin grundsätzlich den Versuch der theologischen Bewältigung einer beunruhiVgl. 1. KREMER, EWNT III 281 f. Zu den neutestamentlichen Belegen vgl. G. HOLTz, Past 99; PR. H. TOWNER, Goal 57f. Zum hellenistischen Judentum und NT: M. E. ISAAcs, The Concept of Spirit. A Study of Pneuma in Hellenistic ludaism and its Bearing on the New Testament (London 1976).
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genden und verunsichernden Entwicklung in den christlichen Gemeinden sehen. "Die Ketzerei gehört zum heilsgeschichtlichen ,Muß', ist ein Teil des notwendigen Ablaufs auf die Epiphanie zu." 3 Die hier gewählte Form der Ankündigung von Geschehnissen, insbesondere des Auftretens von Irrlehrern und des Glaubensabfalls, ist Kennzeichen der literarischen Gattung der sog. "Abschiedsrede" , deren Einfluß v. a. in 2 Tim erkennbar ist (vgl. auch Apg 20, 17-38). Mit dem Verweis auf "spätere Zeiten" wird wie in 2 Tim 3, I (wo EV EOx(h:av; i]~epatC; steht) eine eschatologisch gefärbte Terminologie eingeführt mit dem Ziel, die Bedeutsamkeit des angekündigten Geschehens zu steigern. Der geschichtliche Ort der für die Endzeit angekündigten Ereignisse ist jedoch die Gegenwart des Verfassers 4 • Auch wenn zu Recht festgehalten wird, daß die beiden unterschiedlichen Formulierungen I Tim 4, I (tv U<J1;epOLC; KatpOic;) und 2 Tim 3, I (ev e<JX(X'tav; i]~epatc;) nur Variationen dieses apokalyptischen Topos sind s, so ist doch in Erwägung zu ziehen, ob nicht der hier gewählte Ausdruck üo'tepOL Katpoi "vielleicht" bedingt ist "durch den künstlich-futurischen Charakter der Stelle" 6. Das Adjektiv üo'tepoc; kann zwar in superlativischer Weise verstanden und übersetzt werden 7, da es sich aber im Rahmen dieses Textes nicht um eine allgemeine Zukunfts beschreibung handelt, sondern eine Situation konstruiert ist, in der der Apostel Paulus seinen Schüler und Nachfolger auf Entwicklungen in den Gemeinden in späterer Zeit, in der Zukunft vorbereitet, kann auch die Übersetzung mit dem Komparativ gewählt werden. Es werden zwar apokalyptische Topoi aufgegriffen; sie werden aber historisiert, denn sie stehen ganz und gar im Dienst der Untermauerung der Anweisungen an den Gemeindeleiter 8• Es fehlt zudem jegliches Interesse, den Endzeitcharakter durch die Übernahme anderer Vorstellungen, die in apokalyptischen Texten auftauchen, stärker zu betonen und zu entfalten. Der Verfasser will mit dieser Form der Einleitung das nach 1,3 ff jetzt erneut angesprochene Phänomen, das Auftreten von Irrlehrern, die die Gemeinde von innen her gefährden 9, als besonders gravierend darstellen. Die Gemeinden und vor allem die Gemeindeleiter werden zu größerer Wachsamkeit aufgerufen. Der Abfall vom Glauben, den der Verfasser an früheren Stellen schon als Gefahr (vgl. 1,3 f) und als Wirklichkeit (1, 19f) beschrieben hat, soll somit zwar als eschatoN. BRox, Past 167. W. L. UNE, I Tim. IV 1-3, 164f; PR. H. TOWNER, Goal 64f. Dazu und zu weiteren Belegen der Verwendung dieses Topos im Frühjudentum und in der frühchristlichen Apokalyptik auch M. WOLTER, Pastoralbriefe 228-230. , Vgl. u. a.A. T. HANSON, Past 87; PR. H. TOWNER, Goa165; G. W. KNIGHT, Past 188f. • So M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 52. Es ist aber gleich einschränkend hinzuzufügen, daß dieses auch für den anders formulierten Beleg in 2 Tim 3, I gilt. 7 Vgl. W. BAUER, WB s.v. ücr'tEPOC; Ib. a So verweist auch J. ROLOFF, I Tim 219, zur Erklärung der Differenz zwischen der Wahl dieses Topos und seiner Verwendung "in einer nahezu völlig entapokalyptisierten Weise" darauf, daß dieser Topos sich für die fiktive Briefsituation gut auswerten ließ". , Anders J. ROLOFF, I Tim 218; er spricht von einer "Konfrontation mit einer von außen kommenden Gefahr, den Irrlehrem" . 3 4
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I Tim 4,1-5 logisches Phänomen gekennzeichnet und entsprechend gewichtet werden; die Glaubenskrise darf aber mit dieser Charakterisierung nicht als noch in der Zukunft liegend relativiert werden. Die Lage in den Gemeinden ist deshalb so ernst, weil das, was in ihnen geschieht, mit dem für die Endzeit erwarteten Glaubensabfall gleichzusetzen ist. Der Autor muß einen Mittelweg finden. Er muß einerseits davor warnen, die Zerrissenheit im Glauben auf die leichte Schulter zu nehmen; deshalb apostrophiert er Glaubensabfall als Teil der Auseinandersetzung zwischen Gott und den widergöttlichen Dämonen, und deshalb läßt er ausdrücklich den Geist Gottes diesen ankündigen. Andererseits aber muß er Glaubensabfall und die Existenz von falschen Lehren auch als konkretes historisches Phänomen schildern, welches die dem Glauben treu Bleibenden zwar herausfordert, sie aber nicht überfordert; denn nur dann kann der Apostelschüler dazu aufgefordert werden, dem Treiben von Irrlehrern Widerstand entgegenzusetzen.
In der Linie einer gewissen eschatologischen Entschärfung und Entapokalyptisierung lO könnte auch liegen, daß vom Glaubensabfall "einiger" gesprochen wird. In dieser Bezeichnung "nvEC;;" ist ebenso eine Relativierung der Bedeutsamkeit dieser Apostaten mitgegeben, wie in den globalen abfälligen Urteilen über den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt ihrer Thesen (vgl. auch VV 2.7). Die Wahl der Einleitungsformel1:o nVEüllu AtYEt muß nach der bisherigen Diktion des "Briefes" überraschen; denn es ist doch auffällig, daß der Autor, der speziell beim Thema der Irrlehrerbekämpfung und damit zusammenhängend der Gemeindeordnung exklusiv die Autorität des Paulus zur Geltung kommen läßt, an dieser Stelle nicht ein prophetisches Wort oder eine (fiktive) Ankündigung mit entsprechenden Verhaltensanordnungen von Paulus her anführt 11. Als Grund läßt sich angeben, daß das Problem der Irrlehre in der gewählten Formulierung eine heilsgeschichtliche Einbindung erfährt. Und doch will der Verfasser sicher nicht sagen, es handle sich "um ein gewissermaßen notwendiges Zeichen der Endzeit, so daß sich niemand zu beunruhigen braucht" 12. Es sind ja gerade solche eschatologischen Phänomene, die die Einheit der Kirche, ihren Glauben in der Gegenwart der Past gefährden; und es sind folglich Erscheinungen, die die Gemeinde zutiefst beunruhigen müssen. Diese Art der Schilderung der Gefährdung des Glaubens und der Einheit der Gemeinden hat auch das Ziel, die Stellung des Gemeindeleiters zu stärken, der bereit und in der Lage ist, entsprechend den Erfordernissen (vgl. 3,15) für die Gemeinde zu sorgen (vgl. 3,4f).
ITicrnc;; ist verstanden als die von der EKKAT]criu zu verantwortende Glaubensüberlieferung, nicht mehr als "Glaube im Sinne persönlicher Gläubigkeit" 13. Dies wird dadurch bestätigt, daß die Glaubenden nicht Vgl. auch J. ROLOFF, I Tim 221. Die Formulierung von F. J. SCHIERSE, Past 56, die Irrlehre werde hier" von Paulus im prophetischen ,Geist' vorhergesehen", ist zumindest ungenau. 12 So F. J. SCHIERSE, Past 56. 13 Gegen diese Deutung von nl<J'tt, bei G. HOLTz, Past 99, betont etwa auch J. ROLOFF, I Tim 220, nLC)"1:t, meine "den GlaubensinhaIt, die fides quae creditur". 10
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unmittelbar angesprochen werden, sondern daß "Paulus" in seinen Anweisungen an den bzw. die Verantwortlichen in den Gemeinden über den Glauben und die Glaubenden bzw. über die vom Glauben Abgefallenen befindet. Die Gemeindemitglieder sind wieder Gegenstand der Analyse und Objekt der an die Leitung erteilten Weisungen. Das hat die Ausbil· dung einer schroffen Antithese zur Konsequenz. Wer sich vom Glauben abwendet 14, der trifft eine Entscheidung, die nicht nur als Indifferenz oder als Unglaube einzustufen ist; Glaubensabfall ist gleichbedeutend mit Übereignung an die widergöttlichen Mächte, an die Dämonen 15. Die Art der Formulierung läßt erkennen, daß das innerchristliche Problem der Auseinandersetzung um den rechten Glauben angesprochen ist. Die radikal ablehnenden Charakterisierungen als "betrügerische Geister" und "Dämonenlehren" sind Teil des innergemeindlichen Streites um den rechten Glauben. Dem Wirken des von der Kirche in Anspruch genommenen 1tVEO~a, des "heiligen Geistes", werden die 1tVEU~a,a 1tAUVa einfach polemisch gegenübergestellt; und auch der Plural otOaO"KaALat hat "verächtlichen, polemischen Sinn" 16. Dem Glauben entspricht nur die eine, die "gesunde Lehre". Solches Vorgehen in dem Streit um den rechten Glauben darf in der Auslegung nicht unbeachtet bleiben. Das Urteil über die Häretiker in diesem Vers, der eine kurze Problembeschreibung einleitet, wird nicht - noch nicht! - von der Häresie her definiert, sondern von der 1tt<J'tt~, also dem Glaubensgut, welches vom Verfasser zuvor (vgl. 3,16) in zentralen Glaubenssätzen vorgestellt worden war 17. 2 Dieser Vers verstärkt den Gegensatz und Abstand zu denen, die des Abfalls vom Glauben angeklagt sind, durch eine Ausweitung der Polemik. Die dazu gewählte Formulierung EV U1tOKPLcrEt 'l'EuooMyrov bleibt eigentümlich in der Schwebe. Es gibt zwei Möglichkeiten der Interpretation dieses Ausdruckes, die wohl beide vom Verfasser gewollt sind. Die vom Glauben Abgefallenen werden einerseits als solche bezeichnet, die sich durch Heuchelei und Lügen haben verführen lassen; denn als Glaubensabfall gilt die Zuwendung zu solchen Leuten, die "Falsches lehren" (vgl. 1,3). Daraus resultiert für die Past dann auch die große Bedeutung der an der apostolischen Tradition festhaltenden Gemeindeleiter. Die Apostaten sind Verführte. Doch gleichzeitig werden ihnen Heuchelei und lügnerische Reden unterstellt, also gegen den Glauben und die Kirche gerichtete Aktivitäten. Kennzeichen der Kirche ist die "Wahrheit" (vgl. 3,15); wer Die Wendung aq>tcn:ucrSat 'ti'j~ nLcrTEOl~ ist im NT einmalig. Wenn A. SCHLATTER, Kirche 116, schreibt, das aq>LcrTucrSat 'ti'j~ nLcrTEOl~ sei "das Gegenteil von IlEVELV EV nLcrTEl 2, 15", dann trifft das die viel radikalere Sicht der Past nur zum Teil. 16 G. HOLTZ, Past 100. 17 Die auf V I gestützte Interpretation bei H. MERKEL, Past 36, die Irrlehre werde "als dämonische Verführung bloßgestellt", erklärt vorschnell das parteiische Urteil des Autors zur Wirklichkeit. 14 15
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sich von der Kirche abwendet, wendet sich auch von der Wahrheit ab und stellt sich in Widerspruch zu ihr. In der Bezeichnung der für den Glaubensabfall Verantwortlichen als "lügnerische Menschen" (\jfEUooAOym) schwingt deutlich ein ethischer Vorwurf mit. Verstärkt wird dieser vorwurfsvolle und verurteilende Ton dadurch, daß das Tun der Irrlehrer als "Heuchelei" bezeichnet wird. Während mit dem Substantiv \jfEUooAOym die Abweichung von der Wahrheit apostrophiert ist, wird mit dem Stichwort "Heuchelei" ihr Verhalten als bewußte Irreführung anderer Menschen bewertet. Dieser zweifache Aspekt der Verfehlung gegen die Wahrheit einerseits und der Irreführung der Menschen andererseits bleibt weiterhin bestimmend. Im Gegensatz zu einem frommen Leben, welches der Weisung des Apostels entspricht und deshalb u. a. gekennzeichnet ist durch ein "gutes" bzw. "reines Gewissen" (1,5.19; 3,9), ist das Gewissen der Irrlehrer "gebrandmarkt". Das Verbum Kauo'tllPul~Etv (mit einem Brandzeichen versehen) ist Hapaxlegomenon im NT und auch außerbiblisch wenig bezeugt 18. Den Hintergrund für den Gebrauch des Verbums in diesem Zusammenhang zur Kennzeichnung einer Gruppe von Menschen, die sich aus der Sicht des Autors des Abfalls vom Glauben schuldig gemacht haben, bildet die in der Antike bezeugte Gepflogenheit, Sklaven und Verbrecher durch Brandzeichen zu markieren (wofür das Verbum KaUo't1lpta~Etv verwendet wurde) und sie damit in ihrer sozialen Isolation und niedrigen Stellung zu kennzeichnen 19. Nimmt man die Bedeutung des Sklavenbrandmals im übertragenen Sinn, so sind als Kennzeichen der Irrlehrer insbesondere Knechtschaft und Unfreiheit gemeint. Dieses Brandmal am eigenen Gewissen, das unauslöschliche Zeichen der Schuld, ist der Abfall vom Glauben und die Verführung anderer. Das verwendete Bild vermittelt sehr stark den Eindruck der Endgültigkeit der Trennung und der Spaltung, der Ausgrenzung derer, die nicht mit der Glaubenstradition der vom Verfasser repräsentierten Gemeinden bzw. Als Beleg für KaIlO"t1]pUl~etV werden genannt (vgl. W. BAUER, WB s.v. KaucrTT]pta.~etv; P. N. HARRISON, Problem 165): Strabo 5, 1,9; Schol. in Lucian 137, 11; BGU 952,4 (?). " Vgl. J. SCHNEIDER, ThWNT III 645. J. ROLOFF, I Tim 221 f, unterscheidet dabei zwischen "Brandmarkung als entehrende Strafe für Kriegsgefangene und Sklaven" und der Kennzeichnung der "Zwangsarbeiter und Rekruten durch ein Brandzeichen ... , um sie so am Entlaufen zu hindern", gibt dann aber der ersten Deutung den Vorzug. Doch diese Unterscheidung läßt sich auch mit den angegebenen Belegen (für die erste Deutung: Diog. Laert. IV 46; Plat. leg. 854d; 3 Makk 2,29; für die zweite: Suet. Caes IV 27) nicht aufrechterhalten; auch für den Sklaven ist die Brandmarkung sowohl entehrendes Zeichen als auch Hindernis, zu entlaufen. Die bisweilen angebotene (dritte) Erklärung auf der Grundlage der medizinischen Praxis der Wundsterilisation durch Ausbrennen, also die Deutung auf die "Abtötung" des Gewissens, so daß es unempfindlich und gleichgültig ist für gut und bös (vgl. C. SPICQ, Past 496 f; ähnlich die Erklärung bei A. T. HANSON, Past 87; G. W. KNIGHT, Past 189), erscheint dagegen sowohl vom engeren Kontext her mit der Alternative: Festhalten am rechten Glauben - Hinwendung zu den Lehren von Dämonen (V I), als auch im Blick auf andere cruveiöT]crt<;-Belege (I, 19; Tit 1,15), wo es ebenfalls um Glaubenstreue und Glaubensabfall geht (vgl. H.-J. ECKSTEIN, Syneidesis 307), weniger wahrscheinlich. 18
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Gläubigen übereinstimmen. Zur rechten Einordnung solcher Aussagen ist aber zugleich zu bedenken, daß diese Vorwürfe, die ja "subjektive Unlauterkeit" unterstellen 20, dem Reservoir der traditionellen Ketzerpolemik entnommen sind und deshalb keine Rückschlüsse auf die Personen und ihre Motive erlauben. Sodann liegt der Akzent bei dieser Abgrenzung in der Mahnung an die Gemeinden, dem Glauben treu· zu bleiben, den die Kirche als apostolisches Vermächtnis bewahrt hat. Die eigentlichen Adressaten der scharfen Polemik sind folglich nicht die "Ketzer" - ganz abgesehen von der Problematik der bei einem solchen Begriff unterstellten Möglichkeit der Definition -, sondern die Gemeinden; für sie soll diese radikale und kompromißlose Verurteilung der Abweichung vom Glauben Anlaß sein, treu zur Kirche zu stehen. Das schließt andererseits nicht aus, daß im Hintergrund der polemischen Ausführungen ganz konkrete Entwicklungen in den Gemeinden und bestimmte Personen stehen. Die vorliegende Form der Behandlung der des Glaubensabfalls Beschuldigten durch den Vertreter der Orthodoxie provoziert F. J. Schierse 21 zu einer kritischen Kommentierung: "Diese massive Verunglimpfung andersdenkender Menschen erscheint uns heute mit dem Evangelium unvereinbar, nachdem wir in der jüngsten Geschichte gesehen haben, zu welch tödlichen Folgen die Verteufelung eines ideologischen Gegners führt." Schierses Bedenken sind im Blick auf die Geschichte voll berechtigt (ohne daß wir hier allerdings einen direkten Zusammenhang im Sinne einer Wirkungsgeschichte unterstellen dürften!); es ist auch die Frage angebracht, ob solcher Umgang von Christen mit anderen Menschen dazu angetan sein kann, den Anspruch der Christen zu belegen, daß das Kennzeichen ihres Lebens und Handeins die Verwirklichung der Liebe sei. Dennoch sollten im Blick auf das Anliegen des Autors die folgenden Gesichtspunkte nicht übersehen werden: 1. Die Intention des Verfassers ist gerichtet auf die christliche, d. h. seiner Interpretation nach rechtgläubige Gemeinde, die er allerdings durch Irrlehren gefahrdet sieht. Er will diese Gemeinde bzw. diese Gemeinden ermahnen, am rechten Glauben festzuhalten. In besonderer Weise werden dabei die Amtsträger in die Verantwortung gerufen. 2. Der Verfasser bewegt sich mit Warnungen und Mahnungen, Verurteilungen und Belobigung im weitesten Sinn im Rahmen der Kirche. Dies gilt auch für die Polemik. Nicht das Unterscheidungsmerkmal von Glaube und Unglaube ist maßgeblich, sondern die Differenz von Treue im Glauben und Abfall vom rechten Glauben (V 1: clnocmlO'ovrat 'ttvEC;!). Eine grundsätzliche Aussage im Blick auf "andersdenkende Menschen" liegt nicht in der Absicht des Verfassers. Es ist deshalb wieder zu betonen: Sosehr der Autor daran gemessen werden kann - und dies auch mit einigem Recht! - , was andere aus ihm gemacht haben bzw. mit ihm machen könnten, so sehr ist auch zu fordern, daß er mit der ihm eigenen Intention ernst genommen wird. 3. Das Problem, das in nachpaulinischer Zeit einen wohl an verantwortlicher Stelle in einer Gemeinde stehenden Christen zur Abfassung dieser pseudepigraphischen Paulus-Briefe veranlaßte, ist die Tatsache, daß christliche Gemeinden in der Gefahr standen, akut oder potentiell das nach Meinung des Verfassers genuin 20 21
Vgl. N. BRox, Past 167; ähnlich J. F. J. SCHIERSE, Past 57.
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1 Tim 4,1-5 Christliche zu verraten. Hier gibt es für ihn nur ein "Entweder-Oder". Da er mit dem Glauben und mit der Kirche das Heil verknüpft, gibt es für ihn nicht die Möglichkeit, dem, der die Kirche verlassen und damit den rechten Glauben aufgegeben hat, indifferent gegenüberzutreten, ihn weiterhin als Glaubenden zu betrachten und am Heilswillen Gottes partizipieren zu lassen. Aus der Verantwortung für den Glauben heraus muß unser Autor die Alternativen in aller Deutlichkeit aufzeigen. Die Unmöglichkeit des Kompromisses in der Glaubensentscheidung zwingt ihn zu Intoleranz und Kompromißlosigkeit hinsichtlich der s. E. zentralen Inhalte des christlichen Bekenntnisses.
3 Hier werden nun endlich zwei Sachverhalte benannt, die die umfassende negative Kennzeichnung dieser Personen und damit auch den gravierenden Vorwurf des Glaubensabfalls inhaltlich präzisieren: Diese Leute verbieten die Ehe und verlangen die Befolgung bestimmter Speisevorschriften. Mit diesen beiden Forderungen läßt sich auch der Charakter der bekämpften Häresie wenigstens in einigen Grundzügen bestimmen. Wir kennen die Tendenzen einer negativen Bewertung von Ehe und Zeugung aus gnostisch geprägten Schriften. Die ablehnende Haltung ist begründet in einer insgesamt negativen Bewertung der Welt, des geschöpflichen Daseins und von allem, was damit zusammenhängt. In den frühen kirchlichen Auseinandersetzungen mit den gnostischen Systemen finden wir die Ablehnung der Ehe aus Gründen, die mit dem Verständnis von Gott, Mensch und materieller Welt zusammenhängen, des öfteren bezeugt; so bei Clemens von Alexandrien, der als Forderung der Gnostiker nennt (strom. IH, 45, I): Man dürfe Ehe und Kinderzeugen nicht zulassen, weil damit nur das Unglück und die Herrschaft des Todes in der Welt gesteigert würden 22. Irenäus sagt von den Anhängern des Satornil, sie würden behaupten, "Heiraten und Zeugen ist vom Satan" (bei Epiph. haer. 40,1,4)23. Die Ablehnung der Ehe ist somit Bestandteil der Abwertung der geschöpflichen Wirklichkeit, die insgesamt als Werk des Demiurgen und damit in Gegensatz zum "höchsten Gott" stehend gesehen wird 24. Eine andere Begründung für die Ablehnung der Ehe durch die Gnostiker überliefert uns ebenfalls Clemens (strom. IH, 48, I): Da die Auferstehung bereits Wirklichkeit geworden ist, wird die Ehe als zur alten Welt gehörend abgelehnt 25 • Auch diese Position hat in den Past (2 Tim 2, 18) eine Parallele. Insgesamt ist also diese strenge Position der Gnostiker im Blick auf die Ehe nicht in allgemein asketischen Überlegungen begründet, sondern wurzelt in ihrer Theologie, die von einem strengen Dualismus zwischen dem "höchsten Gott" und dem Demiurgen geprägt ist 2". Vgl. N. BRox, Past 37; V. HASLER, Past 34. Zitiert bei K. RUDOLPH, Gnosis 263. 24 So ist nach K. KOSCHORKE, Polemik 112 (vgl. 110-119), die "Wertung von Ehe und Zeugung als aktiver Stützung dieser Schöpfung (,der Welt helfen') und die resultierende Forderung strikter Askese aus Protest gegen den Schöpfergott ... in vielen gnostischen Zeugnissen" zu finden, wie etwa bei den Markioniten und Manichäem; und "strikte Geschlechtsaskese" ist auch "Kernpunkt der von TestVer geforderten WeItabsage und zugleich ... ,Erkennungs'-Merkmal (67,5f.10 37,27) der Gnostiker gegenüber den Kirchenchristen" (116). 25 Vgl. N. BRox, Past 38; V. HASLER, Past 34. 26 Vgl. N. BRox, Past 37. Der Vers 2 Tim 2, 18 ist sowohl nach Meinung von W. L. UNE, I Tim. IV 1-3, als auch von J. M. FORD, Note, der Schlüssel zum Verständnis der an dieser Stelle skizzierten Positionen. Nach Meinung von Lane basieren die Aussagen der 22
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Es ist als bewiesen zu betrachten, daß die bekämpften Irrlehrer der Past solche gnostischen Gedanken vertraten 27. Auf demselben Hintergrund ist auch die zweite Forderung zu sehen, die die Enthaltung von Speisen beinhaltet. Obwohl das nicht genauer begründet und im einzelnen festgelegt wird, ist anzunehmen, daß damit Bezug genommen ist auf ein Verbot des Genusses bestimmter Speisen 28, ohne daß Kriterien für den Ausschluß dieser Speisen von menschlichem Verzehr genannt werden. Eine Präzisierung läßt sich folglich nur spekulativ vornehmen 29. Es ist wahrscheinlich, daß eine, vielleicht sogar die entscheidende Wurzel für diese Einschränkung in der jüdischen Tradition mit ihren rituellen Speise- und Reinheitsgeboten zu suchen ist 30; im gnostischen System ist dann in der Abwendung vom jüdischen Schöpfungs glauben der Charakter des Materiellen und Geschöpflichen und damit Widergöttlichen bestimmend geworden. Die Gnostiker der Past sind jedoch keine außerchristliche Gruppierung und Bewegung, sondern "eine Häresie innerhalb des Christentums" ". Für bestimmte Entscheidungen, Praktiken und Sichtweisen der eigenen Existenz konnten sie sogar an bereits vorhandene Vorstellungen und Tendenzen anknüpfen, etwa einen früh-, christlichen Enthusiasmus, der die Stellung zur Welt und den in ihr gültigen Normen in einem neuen, ganz und gar von dem gläubigen Bewußtsein der neuen Existenz "in Christus" bestimmten Licht zu sehen verlangte.
Der Verfasser geht im folgenden nur teilweise und sehr global auf diese Positionen der Irrlehrer ein, um sie zu widerlegen. Während er die Forderung der Ehelosigkeit ganz übergeht - vielleicht in der Meinung, dazu in 2, 14 f schon eine überzeugende Gegenposition vorgestellt zu haben 32 -, stellt er gegen das Speiseverbot ein schöpfungstheologisches Argument; er betont, daß Gott auch diese Speisen geschaffen hat zum "Gebrauch", zum "Genuß". Eine Ablehnung dieser Speisen aus theologischen Gründen erVV 1-3 auf der von den Apostaten (nach Lane konkret: von Hymenaios und Philetos, s. 1,20) vertretenen Überzeugung, daß durch die Auferstehung Jesu Christi auch für die Christen das künftige Leben bereits hier und jetzt Wirklichkeit geworden sei (vgl. a. a. O. 166); Ford hingegen interpretiert die von den Past als Irrlehren abgewiesenen Forderungen als Kennzeichen eines "Proto-Montanismus", der neben den zitierten Regeln der Lebensführung v.a. bestimmt war vom Anspruch besonderer prophetischer Begabung (vgl. 340-343; vgl. dagegen R. J. KARRIS, Background 557 f). 27 Vgl. zu den Irrlehrern den Exkurs in Band XI, 212. 2' Ein Bezug auf 5, 23 und daran geknüpft eine Stellungnahme gegen ein Weinverbot erscheint naheliegend. 29 Dies gilt etwa für die Vermutung von G. HOLTz, Past 102: "Vielleicht ist an ein Verbot des Fleischgenusses zu denken." U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 60, nennt als Grund für die Speiseyerbote, die sich auf Fleisch und Wein beziehen konnten, daß mit ihrem Genuß aufgrund ihrer Verwendung zu kultischen Zwecken (Götzenopferfleisch; heidnischer Libationswein) die Gefahr bestand, mit der "dämonisch beherrschten Welt" in Verbindung zu kommen. ' JO Vgl. J. JEREMIAS, Past 30. 31 N. BRox, Past 38. 32 Vgl. E. SCHLARB, Lehre 91 f.
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scheint damit ausgeschlossen. Diese nicht weiter differenzierte Feststellung zu den Speisen, daß Gott sie geschaffen hat (6 8eoc; ~lC'ttOev), ist das entscheidende, ja eigentlich das einzige Gegenargument des Autors. In der Abfolge der verschiedenen Aussagen zu Gott wird das Schöpferhandein als Kennzeichen Gottes mit der gleichen Selbstverständlichkeit genannt und zugleich ebenso betont wie sein universaler Heilswille und seine Wirksamkeit in der Kirche. Der Schöpfergott und der Rettergott sind ein und derselbe. Das Schöpfungshandeln Gottes, hier wegen der Abhängigkeit von diesem Detail gegensätzlicher Glaubensentscheidungen etwas einseitig bezogen auf die dem Menschen zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel, hat zudem wie sein Heilshandeln als direkten Partner den Menschen im Auge. Dem Willen Gottes entspricht der Mensch, wenn er "Anteil" nimmt, wenn er das Geschaffene annimmt. Der Asket, der die Nahrungsmittel ablehnt, handelt gegen den erklärten Willen Gottes, wie dieser ihn in seiner Schöpfung kundtut 33 • Die Präzisierung "mit Danksagung" (V 3) ist kaum auf den Zusammenhang mit der kultischen Feier der "Eucharistia" zurückzuführen, sondern unterstreicht die Forderung nach einer positiven Einstellung des Glaubenden zum Geschenk der Schöpfungsgaben; die euxapto'tia, die Danksagung, ist die gebührende Antwort des Menschen 34. Diese Aussage gilt für "die Glaubenden und die zur Erkenntnis der Wahrheit Gekommenen". Es reicht nicht aus, darin eine "Selbstbezeichnung der Christen" in einem allgemeinen Sinn zu sehen 35. Diese Formulierung ist vielmehr ganz bewußt vom Autor gebildet worden und wird auch gezielt in einem antithetischen, nämlich antignostischen Sinn an dieser Stelle eingesetzt. Die Gegenposition zu den Irrlehrern zeigt sich in zweifacher Hinsicht: Im Gegensatz zum Selbstverständnis der Gnostiker, die sich selbst als "Erkennende" und "Wissende" etwa auch den Glaubenden gegenüber erhaben fühlen 36, werden hier "Glaubende" und "zur Erkenntnis Gekommene" nicht nur zusammen genannt, sondern eindeutig miteinander identifiziert. Und für diese Glaubenden, die die Wahrheit erkannt haben, die - wenn man so etwas sagen kann - in Glaube und in Erkenntnis vollkommen sind, gerade für sie gilt, daß die Speisen zu ihrer Nutzung, zu ihrem Gebrauch geschaffen sind. Der in der gnostischen Kosmogonie vertretenen Meinung einer Gegensätzlichkeit von Gott und Welt, von Geist und Materie, von Erkenntnis und Unwissenheit (bzw. Glaube) wird hier mit aller Deutlichkeit widersprochen. Man kann sogar fragen, ob unter der gegebenen Konstellation einer gnostisch motivierten Ablehnung bestimmter Speisen - wobei die partielle Enthaltung dann nicht mehr, wie 13 Bei dieser Bewertung asketischen Verhaltens ist natürlich der unmittelbare Kontext mitzubedenken und zu berücksichtigen! 34 Man kann aber darm denken, daß der Autor durchaus den Kontext der eucharistischen Mahlgemeinschaft im Kopf hat und solches auch bei seinen Lesern erwartet, um so das Gewicht seiner Argumentation zu unterstreichen (vgl. V. RASLER, Past 35). " So etwa M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 52; N. BROX, Past 168. 3. Vgl. K. RUDOLPH, Gnosis 64.
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in der jüdischen Tradition, mit der kultischen Unreinheit dieser Speisen zu begründen wäre, sondern grundsätzlich mit der antimateriellen Grundhaltung - die hier vorgestellte Argumentation des V 3 die präzisere und passendere ist, während der folgende V 4 lediglich noch eine grundsätzliche Erwägung beisteuert 37. 4 Das entscheidende Gegenargument zu den Positionen der Irrlehrer bzw. zumindest zu der an zweiter Stelle genannten Forderung nach Enthaltung von bestimmten Speisen enthielt bereits V 3 in dem Hinweis, daß es sich um von Gott geschaffene Dinge handelt, die vom Menschen in einer der Schöpfergüte Gottes entsprechenden Weise, nämlich mit Danksagung, anzunehmen sind. Die anschließende bekenntnishafte These, daß alles von Gott Geschaffene gut ist 38 , bringt im Vergleich zu V 3 in positiver Form die Gegenposition zur gnostischen Weltverneinung zur Geltung. So gibt zwar der biblische Schöpfungsglaube die entscheidende Orientierung; dieser Glaube ist gewissermaßen die Basis. In der von den Past formulierten Zuspitzung liegt aber eine Weiterentwicklung in der Bewertung der Beziehung von Mensch und Welt zu Gott vor, die aus der Universalität des christologischen Bekenntnisses zumindest mitgespeist ist. Auch im Vergleich zur zeitgenössischen jüdischen WeItsicht wird in dieser Aussage eine Fortentwicklung unverkennbar, wobei die Differenz zur jüdischen Tradition mit der dort geübten Praxis der Speise- und Reinheitsvorschriften nicht überbewertet werden darf3 9 • Das uneingeschränkte Bekenntnis zur Güte der Schöpfung ist auch in der christlichen Tradition und Überlieferung nur möglich in der Präzisierung, daß es sich um Gottes Geschöpf (KTiO"lJ.a 9wü) handelt. Der Akzent liegt also darauf, daß jegliches von Gott Geschaffene gut ist. Diese Wendung K'tiO"lJ.a 9wü enthält eine antignostische Sinnspitze. Gottes Güte den Menschen gegenüber zeigt sich in der "Güte" seiner Schöpfung. Der Verfasser bezieht hier durchaus einen extremen Standpunkt und vertritt eine polemische, antihäretische Akzentuierung. Diese polemische Orientierung läßt die Angewiesenheit der Formulierung auf den geschichtlichen und theologischen Kontext wieder deutlich werden. Daran kann die Frage geknüpft werden, ob unabhängig von der konkreten geschichtlichen Situation der Abwehr falscher Vorstellungen über die Qualität der irdischen Güter eine derart weitreichende Aussage möglich gewesen wäre. Man kann das 37 Vgl. auch P. ThUMMER, Paulustradition 167. L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 83, gliedert die Argumentation des Verfassers, die auf dem Gedanken von Gott als Schöpfer und den daraus für das tägliche Leben resultierenden Konsequenzen basiert, folgendermaßen: ,,(A) Everything God created was created to be used. (B) Everything God created can be sanctified with prayer. (C) God created food. (D) Food ought to be used and be received with prayer." 38 Vgl. dazu auch N. BROX, Past 169. " Gegen J. JEREMIAS, Past 31, der eine solche Aussage "auf dem Gebiet des Judentums mit seiner Fülle von Speise- und Reinheitsvorschriften" für "undenkbar" hält.
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durchaus bezweifeln. Manche Aussagen von Jesus oder auch von Paulus zur Ehe könnten eher in das theologische Konzept der sog. "Häretiker" passen als in das global positiv wertende Urteil der Past, die den Anspruch erheben, die Position der in der Tradition des Paulus stehenden Gemeinde zu vertreten. Das hat zur Konsequenz: Dieses Bekenntnis ist nur in solcher Einbindung recht zu verstehen und darf nicht für sich genommen und, aus dem Kontext gelöst, verabsolutiert werden.
Eine gewisse Eingrenzung des Geltungsbereiches scheint der Verfasser selbst vornehmen zu wollen, wenn er den Zusatz anfügt, daß nichts von Gott verworfen ist, wenn es "mit Danksagung empfangen wird". Darin steckt zugleich die Mahnung an die Christen, daß Gottes Gaben vom Menschen, sollen sie recht angenommen werden, mehr verlangen als bloße "Verwendung". Allerdings ist darin keine Zurücknahme des Urteils über die Schöpfung zu sehen. Hier liegt der Akzent auf der Verantwortung des Menschen. Es geht um die Entsprechung dazu, daß Gott als der Schöpfer anerkannt wird. In diesem Urteil stehen die Past in Kontinuität zu paulinischen Grundsätzen. Im Zusammenhang mit der für christliche Gemeinden in ihrem Verhältnis zur Umwelt bedeutsamen Frage, wie Christen zu dem sog. "Götzenopferfleisch" - und darunter fiel wohl das meiste Fleisch, das auf dem Markt zu kaufen war - sich zu verhalten haben, verweist Paulus die Gläubigen ebenfalls auf die Verantwortung, die sie ihren Mitmenschen gegenüber haben, und zwar sowohl beim Essen als auch beim Nicht-Essen (I Kor 8,4-13; 10,25-28; vgl. Röm 14, l4f.20f). Wie bei Paulus liegt aber auch für die Past die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Geschöpflichen nicht in diesem selbst, sondern nur darin, wie der Mensch damit umgeht. Wo mit "Danksagung" von den Dingen der Schöpfung Gebrauch gemacht wird, da geschieht es in Ausrichtung auf den Willen Gottes und damit auch in Verantwortung gegenüber der Welt und den Menschen.
5 Auch die Schlußbemerkung nimmt auf den ersten Blick die radikale Aussage von der Güte jeglichen Geschaffenen wieder etwas zurück, wenn gesagt wird, daß die Schöpfungsgabe durch das Gebet "geheiligt" wird. Jedoch ist damit sicher nicht ein Wandel in der ontologischen Qualität gemeint, der durch das Gebet bewirkt werden könnte. Die von Gott gegebene Schöpfung kann aber in ganz unterschiedlicher Weise angenommen werden. Wo die Glaubenden die Speisen als Gaben Gottes und deshalb mit Gebet in Empfang nehmen, da bekommen diese an sich schon guten Gaben noch eine neue Qualität, bzw. besser formuliert: Es zeigt sich eine gewandelte Qualität in der Einstellung der Menschen zu Gott und zu seinen Gaben. Der Begriff der "Heiligung" betrifft die Beziehung des Menschen zu diesen Gaben im Blick auf Gott. Der Ausdruck Myot:; 8wo ist dabei nicht eindeutig zu bestimmen. Aus dem Anschluß mit yap ergibt sich aufs erste ein Verständnis, welches der "Danksagung" entspricht. Aus der Zusammenstellung mit EVtE\)~tt:; (vgl. 2,1) und aufgrund der Einbindung in die Konstellation von Gottes geschöpflichen Gaben und deren rechtmäßigem und gutem Gebrauch ist aber am ehesten an eine Gebetspraxis zu denken, die sowohl aus der jüdi183
I Tim 4, I-li
sehen Tradition 40 als auch aus der Jesusüberlieferung 41 und der Jerusalemer Urgemeinde von Anfang an 42 auf die christlichen Gemeinden eingewirkt hat. Am nächstliegenden erscheint für unseren Vers insgesamt, daß eine Bezugnahme auf das Tischgebet vorliegt43. Die "Heiligung" ist dann nicht notwendig kultisch zu deuten, also in einer Beziehung zum eucharistischen Mahl; sie bestimmt vielmehr das Geschehen des (Sättigungs-)Mahles, welches durch das Gebet bei der Annahme der Speisen das Verhältnis der Menschen zu Gott ausweist. Als "geheiligt" wird die Schöpfungsgabe nicht isoliert für sich gesehen, sondern dadurch, daß sie in einer besonderen Weise das Verhältnis des Menschen zu Gott zu bestimmen vermag. III
Der Text macht wiederum eines deutlich: Unser Autor kann sich die Themen, mit denen er die Christen seiner Zeit erbauen will, nicht frei aussuchen und wählen; sie werden ihm von der Situation der christlichen Gemeinden, ihren Problemen und Schwierigkeiten diktiert. Er steht mit bestimmten Gruppen in seinen Gemeinden in einer Auseinandersetzung um den rechten Glauben. Die antihäretische, antignostische Grundkonzeption zwingt den Verfasser in ein gewisses Korsett. Damit sind auch die Möglichkeiten von Lösungsvorschlägen von vorneherein eingeschränkt. Dies wird in dem Text besonders deutlich: Weil gnostische Christen die Ehe mißachten und bestimmte Speisen ablehnen, muß der Verfasser deren uneingeschränkten Wert betonen. Er tut dies stellvertretend für die Speisen. Der Verzicht, auch für die Ehe eine schöpfungstheologische Begründung anzubieten, mag zum einen damit zusammenhängen, daß solches vom Verfasser in V 4 in der Feststellung ön 1tUV K'tiO"J..Lu 8eoO KuMv mit ausgesprochen gesehen werden konnte. Die Hochschätzung der Ehe durch die Past war zudem schon in 2, 15 zum Ausdruck gebracht worden. Andererseits wäre eine vergleichbare Argumentation wie bei den geschöpflichen Dingen anhand der biblischen Schöpfungstradition für die Ehe nicht ohne Spannung in die christliche Tradition einzufügen gewesen. Sowohl die Jesusüberlieferung als auch die Paulustradition kennt den Verzicht auf die Ehe "um des Himmelreiches willen" (Mt 19,12) bzw. "um der Sache des Herrn willen" (l Kor 7, 32b-34) 44. Es ist als sicher anzunehmen, daß die Past neben dem gnostisch begründeten Eheverzicht durchaus Zu den Gebeten mit Lobpreis und Dank für die Gaben beim gemeinsamen Mahl vgl. STRACK-BILLERBECK IV, 2, 616-624; 627-634. 41 Ebenfalls eingeleitet mit EöxaptcrTfJcra~ bzw. EÖA.oy"cra~ vgl. Mk 6,41 parr; 8,6 par; 14,22f parr; Lk 24,30; Joh 6,11. 42 Das Bild von der "betenden Gemeinde" in der Apg (I, 14; 2,42; 12,12; 20,36) wurde zwar vom Verfasser gestaltet, greift aber doch geschichtlich zuverlässige Tradition auf. 4' So mit M. DIBELIUs - H. CONZELMANN, Past 52, auch N. BRox, Past 169. 44 Zur "Bevorzugung der Ehelosigkeit" bei Paulus H. MERKLEIN, "Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen". Paulus und die Sexualität nach 1 Kor 7: Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43) (Tübingen 1987) 385-408, bes. 404-406. 40
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I Tim 4,1-5
auch eine Form der Ehelosigkeit kennen, die sie als mit dem Glauben vereinbar anerkennen. Derartige Entscheidungen, die aus einer Verteidigungshaltung heraus formuliert werden müssen und die dadurch fast zwangsläufig auf eine Gegenposition zu vorhandenen, als falsch und dem Glauben widersprechend beurteilten Meinungen und Glaubensüberzeugungen festgelegt sind, ohne die Möglichkeit einer differenzierenden Beurteilung und Würdigung, bieten naturgemäß Angriffsflächen für den "objektiven" Leser und Hörer, der sich und seine Zeit mit solchen Aussagen konfrontiert sieht. Nach N. Brox offenbart sich an dieser Stelle "das große Vertrauen des Verfassers auf die welthafte Einwurzelung des Glaubens sowie sein unkritisches, optimistisches Verhältnis zur Wirklichkeit. Nicht in der Distanzierung, sondern im beherzten, aber geordneten, ,frommen' Gebrauch der Dinge sieht er den Weg des Glaubens"4s. N. Brox gibt aber, im Anschluß an diese doch recht skeptische Beurteilung des Beitrages unseres Verfassers zu einer Bestimmung des Ortes christlicher Gemeinden und der Kirche in dieser Welt und ihres Verhaltens ihr gegenüber, auch den entscheidenden Hinweis für den Versuch einer sach- und zeitorientierten Würdigung, indem er betont, daß eine sachgerechte Beurteilung der Leistung des Verfassers bzw. auch eines bei ihm festzustellenden Defizits angewiesen ist auf die Berücksichtigung des "kirchengeschichtlichen Hintergrunds". Dieser Hintergrund ist die von einzelnen Gruppierungen unterschiedlich beantwortete Frage nach der theologischen Interpretation der Welt und die dadurch herausgeforderte Stellungnahme seitens der sich als Sachwalterin der apostolischen Tradition verstehenden Kirche 46. Es ist wichtig zu beachten, was der Verfasser sagen will und was nicht. Es ist auch zu bedenken, warum er etwas in einer bestimmten Weise formuliert. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, auf innerkirchliche theologische Strömungen zu reagieren, die s. E. den Glauben gefährden. Damit steht er unvermeidbar in einer Verteidigungsstellung. Wie aus der christlichen Grundüberzeugung von der Universalität des rettenden Handeins Gottes in Jesus Christus heraus eine soteriologische Engführung - Heil durch Erkenntnis, nur für Auserwählte - abgelehnt werden muß, so auch das dualistische System der Gnostiker mit ihrer Weltverachtung. Solch negativer Sicht dei Welt und der Schöpfung insgesamt begegnen die Past mit der Antithese von der absoluten und uneingeschränkten Güte der Schöpfung als Gottes Werk. Der Forderung zur Enthaltung von bestimmten Speisen wird die Hinordnung des Geschaffenen auf den menschlichen Nutzen und Gebrauch gegenübergestellt. Der Esoterik gnostischen Erkenntnisdünkels begegnet er mit der - vielleicht als plump erscheinenden - Vereinnahmung der Erkenntnis der Wahrheit für den glaubenden Christen, der die Güter dieser Welt als Gottes Gaben annimmt. Eines kann sich nach Meinung des Verfassers in dieser Zeit einer unumgänglichen Konso45
46
N. BROX, Past 169. Vgl. N. BROX, Past 170. Dazu auch F. J.
SCHIERSE,
Existenz, bes. 286-291.
185
I Tim 4,1-11
lidierung und Orientierung in der Welt die christliche Gemeinde, soll sie sich nicht nur behaupten wollen, sondern auch eine prägende und bestimmende Kraft für die Menschen in ihren Fragen und Nöten sein, in keinem Fall leisten: nämlich eine Befangenheit in esoterischer Beschaulichkeit und in der Pflege einer exklusiven theologischen "Kultur". Steht solche Weltoffenheit - und mag sie wenigstens z. T. auch durch die Umstände erzwungen sein - nicht eigentlich in Widerspruch zu der mit dem Stichwort vom "Ideal christlicher Bürgerlichkeit" (vgl. zu 2,1-7) den Past angedichteten Beschaulichkeit selbstgenügsamer Idylle?! Unser Autor erfährt bisweilen aber auch von einer anderen Seite her Kritik. Man erwartet mehr: Grundsätzlicheres, Wegweisendes, bleibend Aktuelles. Was er sagt, scheint doch des öfteren das "Selbstverständliche" zu sein 47. Dazu zwei Anmerkungen: 1. Liegt nicht gerade in diesem sog. "Selbstverständlichen" - so man es überhaupt genau zu definieren vermag! - und dessen Umsetzung in der Praxis des Lebens die eigentliche crux des Christlichen? 2. Haben Christen nicht zu lange und zu oft gerade dieses "Selbstverständliche", das Alltägliche, zu sehr vernachlässigt und unbeachtet gelassen? Haben sie damit nicht in zentralen Fragen menschlichen Lebens versagt und für die Anliegen und Anforderungen der Menschen ihrer Zeit keine Antworten gegeben, sondern sich auf Grundsatzpositionen zurückgezogen? Unser Autor stellt sich dem Leben und den aus ihm sich ergebenden Problemen. Daß seine Aussagen "zeitbedingt" sind, muß also nicht unbedingt als ein negatives Urteil angesehen werden. Man mag dem Verfasser der Past den Vorwurf machen, ihm gehe die große theologische Konzeption ab, er lege bisweilen das Gewicht zu sehr auf Randfragen, oder er gehe zu pauschal mit den sog. Irrlehrern ins Gericht und suche das Heil in einer unkritischen Ausrichtung der Gemeinden an der Autorität des Gemeindeleiters. Man wird ihm aber nicht vorwerfen können, er verbleibe in der Unverbindlichkeit einer weltentrückten Theologie oder nehme die Herausforderung durch die Geschichte nicht an. Kritik an den Weisungen und Lösungsvorschlägen der Past sind - diese Behauptung sei hier ganz ungeschützt aufgestellt - im Interesse des Verfassers; denn damit eröffnet sich die Aufgabe und Chance, es besser zu machen! LITERATUR: J. M. FORD, A Note on Proto-Montanism in the Pastoral Epistles: NTS 17 (1970/71) 338-346; W. L. LANE, I Tim IV.l-3. An Early Instance ofOver-Realized Eschatology?: NTS 11 (1964) 164-167.
47
Vgl. den Hinweis bei N.
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BROX,
Past 170.
1 Tim 4,6-11
b) Der Nutzen der Frömmigkeit (4,6-11)
Wenn du dies den Brüdern vorträgst, wirst du ein guter Diener Christi Jesu sein, der lebt aus den Worten des Glaubens und der rechten Lehre, welcher du gefolgt bist. 7 Die unheiligen und zu alten Frauen passenden Fabeln aber weise zurück. Übe dich selbst vielmehr zur Frömmigkeit. 8 Denn die körperliche Übung ist zu wenigem nützlich, die Frömmigkeit dagegen ist zu allem nützlich, da sie die Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des künftigen. 9 Zuverlässig ist das Wort und aller Annahme wert. 10 Denn daraufhin mühen wir uns ab und kämpfen wir, weil wir unsere Hoffnung gesetzt haben auf den lebendigen Gott, welcher der Retter aller Menschen ist, vor allem der Gläubigen. 11 Dies ordne an und lehre! 6
Die Situation des vorhergehenden Abschnittes mit der Darstellung der Irrlehren und den grundsätzlichen Hinweisen zu deren Widerlegung ist weiterhin bestimmend. Nun wird aber wieder die Aufgabe des in der Person des Timotheus angesprochenen Gemeindeleiters in dieser Situation beschrieben. Auf diese Weise, in der unmittelbaren Zusammenstellung von Irrlehrerbekämpfung und Gemeindeleiterparänese, wird die Funktion des Amtsträgers notwendigerweise wieder einseitig akzentuiert. Zugleich aber zeigt auch dieser Abschnitt das Bemühen des Verfassers, seine Anweisungen einerseits mit den Mahnungen zu verbinden, die allen Christen gelten, und zum anderen sie theologisch einzubinden in die ihm besonders wichtige Konzeption von Gottes universalem Heilswillen. Auffällig ist im Vergleich zum vorangehenden Teil mit den ansatzweise inhaltlichen Charakterisierungen der Positionen derer, denen Abweichung vom Glauben zum Vorwurf gemacht wird, und den ebenfalls ansatzhaften Gegenargumenten, daß nun wieder sehr allgemeine Aussagen vorherrschen. Dies hängt damit zusammen, daß das Interesse jetzt wieder ganz von der sachbezogenen Konfrontation auf die personale Seite wechselt. Im vorhergehenden Textabschnitt waren in V 2 die vom Glauben Abgefallenen als von den Falschlehrern (\!fEu50A6ym) Verführte vorgestellt worden; die Aufgabe des seiner Verantwortung bewußten Gemeindeleiters liegt entsprechend darin, daß er solcher Verführung mit Entschiedenheit entgegentritt. Er hat für die Bewahrung und Sicherung des rechten Glaubens zu sorgen. Sein Auftrag liegt in der Belehrung und in der Unterweisung. Aufs Ganze gesehen ist der Abschnitt geprägt von einem Wechsel zwischen Auftrag und Ermahnung für den Apostelschüler. Das zeigt sich ganz deutlich in den beiden Rahmenversen, die ihn jeweils auf seine verantwortliche Tätigkeit an der Spitze der Gemeinde, die Belehrung und Unterweisung, hin ansprechen. Während in der partizipialen Wendung in V 6 (taü'ta uno'tL8EI-lEVOr;) noch deutlich der Gedanke der Pflichterfüllung anklingt, überwiegt in den Imperativen im abschließenden V 11 (nap187
1 Tim 4,1-11
ayye').J..,e 'tai.l'ta Kai öiöacrKe) das Moment der Vollmacht. Und auch in den beiden Mahnungen in V 7 gehen die Momente der eigenen Bewährung Übung zur Frömmigkeit und des Einsatzes für die rechte Lehre sowie der Widerstand gegen die den Glauben gefährdenden "Mythen" - ineinander über. Dieser Text liegt damit ganz auf der Linie der pastoralen Gemeindeleiterparänese. Ein wesentliches "Argument" für die rechte Lehre muß beim Vorsteher das Bemühen um ein vorbildliches Leben sein. Wenigstens andeutungsweise wird dann die eigene theologische Position zur Sprache gebracht, in dem Stichwort "Leben" (~rof] V 8) bzw. dem Verweis auf den "lebendigen Gott" (V lOb), verknüpft mit der Prädikation als "Retter aller Menschen" (V 10c). Auch in dieser Hinsicht bleibt der Verfasser bei seiner Linie, die eigene theologische Position mit einigen Stich worten zu skizzieren, die allerdings mit recht eindeutigen Akzentuierungen die theologischen Streitpunkte aufscheinen lassen. 11 6 Was der Verfasser gerade zur Widerlegung der gnostischen Irrlehren an Argumenten genannt hat, das haben die verantwortlichen Gemeindeleiter auch zum Gegenstand ihrer Unterweisung zu machen. Die persönliche Anrede konkretisiert das Problem der Irrlehre auf die Gegenwart hin; aus der eher distanzierten Betrachtung der Positionen von Irrlehrern und ihrer Widerlegung ist nun, auch literarisch verdeutlicht, direkte Betroffenheit geworden. Die Gemeinde ist der Ort der Irrlehre, der Gemeindeleiter der vom Apostel beauftragte Hüter des rechten Glaubens. Die Beziehungen werden deutlich formuliert: Was der Adressat, also der in Timotheus angesprochene Gemeindeleiter, zu vermitteln hat, ist das ('tai.l'ta), was "Paulus" eben geschrieben hat. Dieser Anschluß mit 'tai.l'ta stellt den Zusammenhang her zwischen dem Verkündigungsauftrag und dem Inhalt der Verkündigung. Der Gegenstand der Lehre darf nicht eingegrenzt werden auf die unmittelbar vorangehenden positiven Äußerungen zur Güte der Schöpfung (V 4), auch nicht auf die damit verknüpften Auseinandersetzungen in Glaubensfragen (VV 3-5); zum Verkündigungsauftrag gehört auch die einleitend (VV 1 f) angesprochene heilsgeschichtliche Bewertung des Auftretens von Irrlehrern. Der Vermittler dieser Botschaft, dieser Lehre ist exklusiv der vom Apostel Beauftragte. Adressat ist zwar die Gemeinde; sie ist aber angewiesen auf die Vermittlung der für ihren Glauben und ihr Leben wegweisenden Leitlinien durch den Gemeindeleiter. Die Gemeinde ist Empfängerin der Weisung. Die vorgestellte Konstellation ist auch beim Partizip Ü1to'ttet~VO\; zu bedenken. Das in der medialen Form nur an dieser Stelle im NT verwendete Verbum kann sowohl die Bedeutung "anraten" als auch "anbefehlen" haben 1. Doch auf der Grundlage der in den Past vertretenen Gemeindekonzeption mit der unbedingten Ausrichtung auf die Autorität I
Vgl. W. BAUER, WB s. v. Ö1tO't{6T]l1t 2.
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des von "Paulus" beauftragten Vorstehers (vgl. 1,3) ergibt sich eindeutig der Sinn einer autoritativen Weisung 2 • Daran ändert auch nichts, daß die Adressaten des Lehrens vorgestellt werden als "die Brüder". Der Verfasser greift mit dieser Angabe eine schon traditionelle Selbstbezeichnung der Christen auf, die als Auszeichnung und Verpflichtung zugleich verstanden werden muß. Auch Paulus spricht die Gemeindeglieder in seinen Briefen häufig als "a8eA<poi" an, auch und besonders dann, wenn er in der Vollmacht des Apostels die Gemeinden unterweist (vgl. u. a. Röm 12,1; 1 Kor 1,10; 2 Kor 8, 1; Gal1, 11; Phil 1,12). An dieser Grundbeziehung des Apostels bzw. des von ihm Beauftragten zur Gemeinde, d. h. zu den "Brüdern", hat sich von Paulus zu den Past nichts geändert. Wir haben also formelhaften Sprachgebrauch vorliegen. Der Ausdruck "Brüder" steht für die Gemeinde, welcher die Sorge des im Auftrag des Apostels handelnden Vorstehers gelten muß. Allein aus der Benennung der dem Vorsteher zu- und untergeordneten Gemeindemitglieder als "Brüder" lassen sich somit keine Tendenzen einer dieses Gegenüber nivellierenden Gleichrangigkeit ableiten. Andererseits ist aber die vorliegende Zusammenstellung der Bezeich-. nung der Gemeinde als a8eA<poi und des Gemeindeleiters als 8UXKOVOr; nicht als zufällig und belanglos abzutun. Es ist ja der gemeinsame Glaube an Gottes Handeln in Jesus Christus, der diese Gemeinschaft der "Brüder" (und "Schwestern")3 konstituiert. Der vom Apostel beauftragte Lehrer ist zuerst Teil dieser Gemeinschaft, er gehört als "Bruder" zu ihr. Er wird gleichzeitig in besonderer Weise in Dienst genommen, und zwar in den Dienst Jesu Christi. Die Tätigkeit der Unterweisung ist immer Dienst im Auftrag Jesu Christi und damit auch Dienst an den "Brüdern" und "Schwestern". Diese doppelte und zugleich in sich einheitliche Bestimmung des Gemeindeleiters -seine Einbindung in die Gemeinschaft der "Brüder" und seine besondere Verantwortung und Autorität als "Diener" Jesu Christi ermöglicht es dem Verfasser, das, was als Besonderheit des in seiner Verantwortung Angesprochenen genannt wird, auch als Anspruch an die Mitchristen zu verstehen. Die Gemeindeleiter-Paränese, die den Vorsteher in seinem Leben und Glauben kennzeichnet, geht in der konkretisierenden Ausformulierung von Einzelweisungen über in die unmittelbare Gemeindeunterweisung 4 • Mit der Wendung "Worte des Glaubens" ist die kirchliche Lehrtradition ebenso angesprochen wie mit dem Ausdruck 2 Anders J. ROLOFF, I Tim 241, der im Anschluß an Liddell-Scott-Jones die Übersetzung "zu bedenken geben" bevorzugt und den Sinn im "Bereich der argumentierenden Diskussion" verankert (1 Tim 241). Dies fiele in den Past aber vollständig aus dem Rahmen! 3 Zur Anrede "Brüder" vgl. A. VÖGTLE, Dynamik 143f: "An den weitaus meisten Stel· len, an denen im Neuen Testament ,adelphoi' steht, sind Männer und Frauen, also ,Brüder' und ,Schwestern' gemeint." 4 Vgl. N. BRox, Past 171. Ergänzend ist aber festzuhalten: Im Verständnis der Past geht es beinahe ausschließlich um diese Richtung, vom Leiter zur Gesamtgemeinde.
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"rechte Lehre"; beide Ausdrücke sollen in Kontrast zu den "Mythen" der Irrlehrer (V 7) das "orthodoxe" Glaubensgut kennzeichnen '. Diese Glaubensüberlieferung muß das Leben der Christen prägen. In dem tV'tpe
7 Als "Diener Christi Jesu", verantwortlich für "die Worte des Glaubens" und "die gute Lehre", hat der Gemeindeleiter in der aktuellen Situation mit den Falschlehren eine weitere wichtige pastorale Aufgabe. Er muß zuerst einmal und vor allem verhindern, daß Irrlehren in den Gemeinden verbreitet werden. Seiner Verantwortung für den "Glauben" und für die "Brüder" entspricht es, daß er falsche Lehren von den Gemeinden fernhält. Das Verbum napaL'tEOlJ.at steht wieder 2 Tim 2,23 und Tit 3,10, dort ebenfalls im Kontext der Abwehr einer Glaubensgefährdung. In der Aufforderung zur "Zurückweisung" ist v. a. der Schutz der Gemeinden angezielt. Eine aktive, inhaltsbezogene Auseinandersetzung mit den falschen Lehren oder eine Widerlegung derselben wird auch vom Gemeindeleiter nicht gefordert. In dieser Einstellung einer entschiedenen Ablehnung, verknüpft mit dem Rekurs auf die apostolische Tradition, die an einigen Punkten inhaltlich präzisiert wird (vgl. V 10), können und wollen die Past selbst bei den Gemeindeleitern Nachahmung finden. Das heißt konkret: 5 Die beiden Formulierungen sollen nach A. T. HANS ON, Past 89 f, das schriftlich oder mündlich tradierte Glaubensgut kennzeichnen, das in der Zeit der Entstehung der Past in der Kirche im Gebrauch war. 6 J. ROLOFF, I Tim 242, interpretiert 7lapaKOlcou8Etv im Anschluß an die Verwendung dieses Verbums in der popularphilosophischen Lehrtradition dahingehend, daß es gelte, "der Lehre zu ,folgen' im Sinne des gedanklichen Vollzuges und der reflektierenden Aneignung". Doch gibt es für die Auslegung auf derartige Aktivitäten wirklich Anhaltspunkte im Gesamtkontext und -verständnis der Past?
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"Nicht Diskussion und argumentierende Auseinandersetzung, sondern der apodiktische Verweis ist die empfohlene Reaktion."? Der scharf akzentuierten Gegenüberstellung von rechtem Glauben und Irrlehre entspricht die Art und Weise der Bezeichnung der Irrlehren. Wie in 1,4 spricht der Verfasser von "Mythen". Auf dem Hintergrund des gnostischen Charakters der in den Past bekämpften Lehren sind damit die Spekulationen über Kosmologie, über Offenbarungen und über die Erlösung zusammenfassend negativ qualifiziert; sie werden als erfundene, falsche Geschichten abgewiesen. Wichtig ist unserem Autor aber, zu betonen, daß diese Mythen in unvereinbarem Gegensatz zum wahren Glauben stehen. Deshalb charakterisiert er sie als "unheilig", d. h., sie haben nichts mit Gottes Heilswillen und auch nichts mit dessen Offenbarung zu tun 8. Sie haben aber auch keinen Anspruch darauf, daß man sich ernsthaft damit befaßt, was der Autor mit der weiteren abwertenden Bezeichnung dieser Lehre als "altweiberhaft" zum Ausdruck bringt. Die Charakterisierung mit ypaoo5T]<; orientiert sich an entsprechender Verwendung "in der philosophischen Polemik" 9. rV(i)crt<;, Erkenntnis, hatte der Verfasser schon in V 3 mit Glauben verknüpft. Wem Glaube fehlt und wer sich auf Mythen, auf Fabeleien einläßt, dem fehlt auch die Erkenntnismöglichkeit, dem fehlt der Zugang zur Erkenntnis der Wahrheit. Als Kontrastbegriff zu den "Mythen" steht wiederum "Frömmigkeit". Der Adressat der Ermahnung ist zwar weiterhin der an der Spitze der Gemeinde stehende Apostelschüler bzw. dessen Nachfolger im Amt des Gemeindeleiters; doch das von ihm Verlangte hat Allgemeingültigkeit. Wie "Timotheus", so muß jeder Christ seine Aufmerksamkeit auf die EucreßEta richten. Natürlich hat das Stichwort EucreßEta in der Gegenüberstellung zu den gerade zurückgewiesenen "Mythen" "antithetische Bedeutung" 10 und charakterisiert christliches Selbstverständnis, definiert aber zugleich den Anspruch an die Gemeindechristen. Aus dieser grundsätzlichen Opposition heraus ist eine einseitige Festlegung der "Frömmigkeit" auf sittliche Eigenschaften nicht angebracht 11. Der moralische Mangel gehört zwar N. BRox, Past 171. Das Adjektiyßl:ßT]Äo~ steht im NT außer Hebr 12,16 (als Bezeichnung für Esau) nur in den Past, bezogen auf "Menschen" (im Lasterkatalog 1 Tim 1,9) und auf menschliches Reden (6,20; 2 Tim 2,16). , Vgl. M. DIBELIUS -H. CONZELMANN, Past 55, mit Belegen; im NT ist ypawST]~ Hapaxlegomenon. 10 N. BRox, Past 171. Il In diese Richtung scheint V. HAsLER, Past 36, den Vers auslegen zu wollen: "Frömmigkeit" entspreche "den sittlichen Anforderungen, welche das gängige und öffentliche moralische Urteil gegenüber der Religion erhebt. Im Wettbewerb mit der religiösen Propaganda braucht die Kirche zum Nachweis des Christlichen den moralischen Erfolg." Vgl. dagegen J. J. WAINWRIGHT, Eusebeia 220f, der mit 4,6-10, dem umfangreichsten Abschnitt zu eucrl:ßeta, und der Verbindung mit der mcr't()(; 6 Ä6yo~-Formel die These verknüpft, daß der Begriff eucrl:ßeta schon zum Traditionsgut der Christen vor den Past gehört hat; es handle sich somit nicht um eine Anleihe aus den griechischen Tugendli7
8
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aufgrund der fehlenden Übereinstimmung mit dem rechten Glauben zum Ketzer; das ist gewissermaßen die geläufige und im einzelnen nicht auf Verifizierung angewiesene Überzeugung der orthodoxen Gemeindemitglieder, und dies wird in den Past auch des öfteren deutlich ausgesprochen. Hier aber geht es um die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Rechtgläubigen und Irrlehrern auf der Basis, daß gerade die Irrlehrer ein strenges und rigoroses asketisches Leben verlangen, um damit Gott zu gefallen, verbunden mit dem Anspruch, auf diesem Weg den Willen Gottes zu erfüllen. Dem muß der Autor seine Argumentation anpassen; auch im Bereich der sittlichen Forderungen und einer nach rigorosen Reinheitsvorschriften ausgerichteten Lebensführung können, so gibt er gleich im folgenden zu bedenken, die Werturteile nicht immer nach dem ersten Eindruck abgegeben werden. Es ist deshalb sicher nicht zufällig, daß in unserem Zusammenhang der Autor darauf verzichtet, den von ihm als Abtrünnige gekennzeichneten Christen (vgl. 4, I) moralische Mängel in ihrer Lebensführung vorzuwerfen. Die im ersten Satz in V 7 formulierte negative Anweisung erhält im zweiten Satz eine positive Ergänzung. Der Abwehr der "Mythen" hat der Eifer für die "Frömmigkeit" zu entsprechen. Die Präposition np6c; mit Akkusativ gibt die Richtung, das Ziel an. Das Bild von der "Einübung" (yul1va~Etv), welches in V 8 wiederaufgenommen wird mit dem Substantiv "Übung" (yul1vaoia) und in V 10 mit dem Verbum "sich mühen" (ayrovi~EOeat), greift das geläufige und in der hellenistischen Welt verbreitete Motiv vom Wettkampf auf (vgl. auch wieder 2 Tim 2,3-5). Sowohl in der griechischen und griechisch-hellenistischen Literatur als auch im hellenistischen Judentum (insbes. 4 Makk, Philo) findet sich dieses Motiv zur Veranschaulichung des Bemühens des Menschen in seinem Streben nach der Verwirklichung der Tugenden und nach VoIlkommenheit 12. Auch Paulus hatte unter Zuhilfenahme dieses Motivs vorn Wettkampf sein eigenes Bemühen im Einsatz für das Evangelium umschrieben (PhiI3, 13 f; vgl. KolI,28t) und auch die Christen in Korinth zu Anstrengungen um den "unvergänglichen Siegeskranz" aufgerufen (1 Kor 9,24-27).
Die Beeinflussung sowohl durch hellenistische philosophische Strömungen als auch durch die paulinische Anthropologie mit der Betonung der radikalen Verwiesenheit des Menschen auf die Gnade Gottes ist bei der Übernahme dieses Motivs vorauszusetzen; das Verständnis im Rahmen der Past aber ist aus dem Kontext zu bestimmen, an unserer Stelle aus der Einbindung in die von 4, I her nachwirkende Warnung vor dem Auftreten von Falschlehrern einerseits, wie die Gegenüberstellung zu den "unsten, sondern Eucri:ßEta sei in den Past im Anschluß an das schon vorhandene christliche Verständnis gebraucht als Mahnung, in einem entsprechenden Leben die Überlieferung des rechten, apostolischen christlichen Glaubens zu bewahren; vgl. auch R. M. KInn, Wealth 99f. 12 Zur Gesamtthematik V. C. PFITZNER, Paul, bes. 38-48 (zu Philo) und 57-69 (4 Makk und jüdische Pseudepigrapha); vgl. auch die Übersicht bei J. ROLOFF, I Tim 243-245.
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heiligen und zu alten Frauen passenden Fabeln" von V 7 a zeigt, und in der Verbindung mit dem Stichwort "Frömmigkeit" andererseits. Die im nächsten Vers vorgenommene Differenzierung, daß "körperliche Übung" von "geringem" Nutzen ist, während die Frömmigkeit "zu allem nützlich" ist, zeigt, daß die der Irrlehre angeklagten christlichen Missionare in ihren asketischen Forderungen (V 3) eine verchristlichte Form dieses mit dem Motiv der körperlichen Übung verknüpften Gedankens der sittlichen Vervollkommnung und einer religiösen Vollendung bzw. Erlösung vertraten 13. Der Wert der körperlichen Übung ist nach dem Urteil des PseudoPaulus ein bedingter; er bestimmt sich von da her, ob das Tun auf die "Frömmigkeit" ausgerichtet ist. In Verbindung mit der vorangegangenen Verpflichtung des Gemeindeleiters auf das "Geheimnis der Frömmigkeit" (3,14-16), ist EucrEßEta in einer doppelten Zielrichtung zu interpretieren: Der verantwortliche Vorsteher muß sich um "das Geheimnis der Frömmigkeit" (vgl. V 16a) bemühen, d. i. die Glaubensverkündigung (wie sie paradigmatisch in 3, 16b vorgestellt worden ist), und er muß sich einsetzen für ein Leben der Gemeinde, wie es von ihr als "Haus Gottes" erwartet wird (vgl. 3,15a). So ist auch die angesprochene Verschränkung von Gemeindeleiterparänese und einer die Gemeinde als ganze betreffenden Anweisung noch zu differenzieren. Entscheidend ist, daß die verantwortlichen Gemeindeleiter der angesprochenen Zielsetzung entsprechen, daß sie also in diesem umfassenden Sinn "der Frömmigkeit entsprechend" leben. Zwar wird nicht der Vorsteher exklusiv auf die "Frömmigkeit" verpflichtet; es ist aber auch nicht so, als ob der Amtsträger an dieser Stelle "lediglich die Adresse einer allgemeinkirchlichen Unterweisung" wäre 14. So wichtig und beinahe selbstverständlich die Miteinbeziehung der ganzen Gemeinde in die Verpflichtung auf ein "frommes Leben" ist, so unverzichtbar ist für die Past die vorbildhafte und die Gläubigen verpflichtende Verwirklichung dieses Ideals im Gemeindeleiter. Umgekehrt aber muß die Frömmigkeit des Vorstehers auch eingebettet sein in die Gemeinschaft der Kirche, wie der Ausklang in V IOa mit der 1. Person Plural zeigt. 8 Die Bedeutsamkeit der "Frömmigkeit" als Kennzeichen des rechtgläubigen Christen wird jetzt entfaltet, wobei die durch die Irrlehre vorgegebene Problemstellung weiterhin bestimmend bleibt 15. "Körperliche Übung" und "Frömmigkeit" werden einander gegenübergestellt. Hier zeigt sich in der Tat wieder der stark defensive Charakter der vom Verfasser vorgelegten Beurteilungen und Mahnungen 16. Die "körperliche Vgl. V. C. PFITZNER, Pau1173f; 171-177. So N. BRox, Past 172. lS Vgl. J. ROLOFF, I Tim 245: V 8 steht "noch ganz im Zusammenhang der antignostischen Polemik". 16 Vgl. N. BRox, Past 172: "Der Verfasser spricht hier ständig im Gegensatz zur Häresie. Seine Belehrungen, Ratschläge, Aufforderungen haben defensiven Charakter: Wer so glaubt und lebt, bleibt durch die Ketzerei ungefährdet." 13
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Übung" und ihre Beurteilung ist folglich zu sehen auf dem Hintergrund der in V 3 genannten und als Irrlehren zurückgewiesenen asketischen Forderungen, des Verbots der Ehe und der Forderung zum Verzicht auf gewisse Speisen. Wegen der Beurteilung als Eigenheiten der Irrlehrer müssen solche Einstellungen und religiös motivierten Praktiken als im Widerspruch zum rechten Glauben und zur Wahrheit stehend abgelehnt werden. Ihre Bedeutung wird jetzt, beinahe gezwungenermaßen, als "gering" eingestuft: npoc;; 6A.LyOV ... w
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zieht auf Absicherung durch eigenes Handeln darauf baut, daß Gott seine Verheißung wahr macht, daß also Gottes universaler Heilswille Wirklichkeit wird, und zwar nicht erst in einem zukünftigen Leben, sondern schon hier und jetzt. Diese theologische Ausrichtung der Verheißung wird dadurch bestätigt, daß sie konkretisiert ist als "Verheißung des Lebens". In einem von der eücrEßeta bestimmten Leben erhält der Glaubende Anteil am "lebendigen Gott" (vgl. 3, 15 t). Zoo'l'] ist die Aktualisierung von Gottes Heilswillen und im umfassenden Sinn als "Inbegriff des Heils" verstanden 19. Dieses vom Heilswillen Gottes bestimmte Leben ist nicht zu beschränken auf eine transzendente Zukunft, sondern wird bereits dort Wirklichkeit, wo der Mensch im Glauben an das Evangelium lebt. Gegenwart und Zukunft stehen unter der Verheißung Gottes, die einem Leben in Frömmigkeit gilt. Die Wortverbindung EnayyeAia soofjc; (vgl. auch 2 Tim 1,1) ist also so aufzulösen, daß "Leben" der Gegenstand, der Inhalt der Verheißung ispo. Daß der Verfasser diese von Gott kommende soo'l'] nicht nur als eschatologisches Hoffnungsgut vor Augen stellt, sondern auch dessen Wirklichkeit und Wirksamkeit in der Gegenwart betont, mag zum einen als eine Fortschreibung des paulinischen Sprachgebrauchs erklärt werden 21. Bedenkenswert erscheint darüber hinaus, daß die Past das vOv des von Gott geschenkten Lebens auch betonen wollen gegenüber den Tendenzen in gnostisch beeinflußten christlichen Gemeinden, das Diesseits dieser Welt mit den materiellen Bedingungen nicht als Ort der Gottesoffenbarung und des Heils gelten zu lassen. Die Zusage, daß die Verheißung des Lebens "jetzt"schon Wirklichkeit geworden ist, steht im Widerspruch zur Distanz zu dieser Welt und ihren Bedingungen, wie sie in den in V 3 genannten Beschränkungen zum Ausdruck kommt. Der Begriff eücrEßeta wird hier als ein für die Past zentrales Stichwort des christlichen Lebens aufgegriffen. Er kann einerseits in einem recht unspezifischen Sinn gebraucht werden (vgl. 1 Tim 2, 2); er kann auf der anderen Seite aber eine ganz spezifische christologische Bedeutung erhalten, wie die Formulierung '"Co 'tfjc; eücreßeiac; liucr'tT]PtoV in 3, 16 zeigt. Die vom Autor angesprochene und eingeforderte "Frömmigkeit" hat ihren Ursprung und ihre Wurzel im Glauben an das Christusmysterium ; sie gewinnt Gestalt im Leben der Kirche. Wie diese das Glaubensgeheimnis zu verwalten und für die Gestaltung des Lebens fruchtbar zu machen hat, so umgreift die Frömmigkeit die Annahme der Glaubenswahrheit, des Evan19 Vgl. N. BRox, Past 173. Sowohl vom Text als auch vom theologischen Grundverständnis der Past her ist die Formulierung von H. MERKEL, Past 37, anfechtbar, der Verfasser würde hier "ungeschützt vom Nutzen frommer Übungen(!) für dieses und das künftige Leben" sprechen. . 20 Diese Interpretation verdient, wie G. W. KNIGHT, Past 200 (vgl. DERS., Sayings 751), ausführt, eindeutig den Vorzug gegenüber der Auflösung, Inhalt der Verheißung sei das, was es in diesem und im künftigen Leben zu erlangen gebe. 2I Zu denken ist dabei u. a. an die eschatologische Bestimmung Röm 5, 17 f.21; zum Thema "gegenwärtiges und zukünftiges Leben" auch Röm 6, I-lI.
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geliums, d. h. eine Existenz in Übereinstimmung mit der Glaubenstradition der Kirche auf der einen Seite, und auf der anderen Seite ein Leben aus dem Glauben, in welchem "die grundlegenden Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und menschlicher Pflichten nicht aufgehoben sind", sondern eine erneute Begründung und Vertiefung aus dem Glauben erfahren 22. 9 Mit der Formel zur Bekräftigung des Gesagten wird (wie schon 1,15 und 3, 1) der grundsätzliche Charakter der Aussagen unterstrichen. Nicht eindeutig zu klären ist die Frage, worauf diese Bekräftigungsformel zu beziehen ist. Soll sie die voranstehende Aussage unterstreichen, also den Satz über Askese und Frömmigkeit in seinem polemischen Wert betonen 2J , oder soll der folgende V 10 eine besondere Hervorhebung erfahren? 24 Vielleicht darf man sich hier gar nicht für eine der Alternativen entscheiden. Es ist .auch nicht unbedingt notwendig, in Parallelität zu I, 15 die Zitierung eines allgemein bekannnten und anerkannten Glaubenssatzes suchen zu wollen. Versteht man A6yo~ nicht im strengen Sinn als "Wort" bzw. "Satz", sondern in der umgreifenderen Bedeutung von "Botschaft", und nimmt man die Erweiterung "und jeder Annahme wert" als bewußte, im Blick auf den Kontext gewählte Präzisierung hinzu, daß sich nämlich die Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Frömmigkeit erweist in der Annahme des Glaubens und in der konkreten Verwirklichung im Leben, dann ist diese Formel als eine Hervorhebung dessen anzusehen, was der Verfasser mit dem Begriff " Frömmigkeit" zum Ausdruck bringen wollte 25. So wäre besonders der folgende V 10 betont, aber eben im Hinblick darauf, daß er die christliche Frömmigkeit noch einmal charakterisiert, die in V 8 angesprochen war. Die Bekräftigungsformel ist somit auf die gesamte Aussage zu beziehen, v. a. auf die VV 8.10, die letztlich ein zusammengehöriges Ganzes bilden 26. 10 Nach dem bekräftigenden Hinweis in der eingeschobenen Beteuerungsformel von V 9 knüpft dieser Vers unmittelbar an V 8 an. Der Wert der Frömmigkeit wird gegen mögliche Mißverständisse in zweifacher Hinsicht präzisiert. (1) Der Adressat der Mahnung und damit der Verheißung Vgl. N. BRox, Past 177. So von der "Mehrzahl der Kommentatoren" (e. SPICQ, Past 508) vertreten; u. a. W. LOCK, Past 51; C. K. BARRETT, Past 70; J. N. D. KELLY, Past 101; G. HOLTz, Past 106; G. D. FEE, Past 104 f; A. J. HULTGREN, Past 83; N. BRox, Past 177; P. DORNIER, Past 80; H. MERKEL, Past 37; T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 135. 2' So entscheiden etwa F. J. SCHIERSE, Past 62; D. GUTHRIE, Past 107. 2> Vgl. auch die ErkläTUng bei H. RITT, EWNT 11 887, diese Formel weise "auf die kerygmatische, liturgische und institutionelle Glaubensüberlieferung des Christusgeschehens". 2. In diese Richtung weist auch die Auslegung bei G. W. KNIGHT, Sayings 62f, der zu den VV 8 und 10 bemerkt, "that the verses are best understood in their context when verse 8 is seen to be the saying and verse 10 as taking up the thought of the sying and building upon it". 22 23
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ist zwar ganz betont der Vorsteher der Gemeinde, doch diese Mahnung gilt nicht exklusiv ihm, sondern mit ihm und durch die von ihm zu leistende Verkündigung allen Gläubigen, ja allen Menschen, deren "Retter" Gott sein will. Und es ist (2) bei aller Bedeutung und Betonung menschlicher Anstrengung zu bedenken, daß alles Tun nur getragen sein kann vom Vertrauen auf Gott. Als Kennzeichen der "Frömmigkeit" erscheint nun der Ausblick auf das Leben, welches nur als Gabe und Geschenk Gottes gesehen werden kann. Der Anschluß mit Ei~ 'tOÜ'tO yap nimmt Bezug auf diese Bestimmung einer von der Verheißung Gottes geprägten Frömmigkeit. Die Formulierung mit Ei~ 'tOÜ'tO knüpft an V 8 an; die dort aufgestellte Behauptung von dem unvergleichlich höheren Wert und Nutzen der Frömmigkeit im Vergleich zu körperlich-asketischen Übungen soll noch ausführlicher begründet werden. Damit hat dieser präpositionale Anschluß zugleich vorausweisende Funktion 27. Die Nähe zu Koll,29, wo "Paulus" ebenfalls, bezogen auf sein missionarisches Wirken, von seinem "kämpferischen Einsatz" spricht (Ei~ Ö Kai Komw ayrovt1:;6iJ.evo<;; ...), wird bisweilen mit der Annahme literarischer Abhängigkeit erklärt". Entscheidender aber als dieser sprachliche Anklang im ersten Teil des Satzes ist die Parallelität in der Bewertung des eigenen Tuns. Während in Kol 1,29 die Kraft (Evtpyeta) Christi als Quelle und Grund für das apostolische Wirken genannt ist, verweisen die Past als Grund für die Hoffnung auf den lebendigen Gott; diese Hoffnung ist sowohl Quelle als auch Ziel punkt des Einsatzes der Christen. Inwieweit die Gemeinsamkeit in der Begründung des persönlichen Einsatzes für den Glauben und dessen Verbreitung auf literarische Beziehungen zurückgeführt werden muß, das kann hier unentschieden bleiben.
Für die Past kennzeichnend ist, daß die Begründung wiederum aus der Mitte des theologischen Bekenntnisses gegeben wird. Der Glaube an den "lebendigen Gott" als Fundament einer ebenfalls "lebendigen", d. h. einer aktiven und kämpferisch einsatzfreudigen Kirche - auch hier wäre zu denken an das Kontrastbild der (zu Unrecht behaupteten) Beschaulichkeit des Ideals einer "christlichen Bürgerlichkeit" (vgl. zu 2,1-7) -, dieser Glaube wird wiederum konkretisiert durch die soteriologische Komponente, nämlich durch den Hinweis auf die universale Heilsmittlerschaft Gottes (vgl. schon zu 2,3-6). Die Universalität von Gottes Heilswillen ist dem Verfasser so wichtig, daß er sogar die Spannung in Kauf nimmt, die sich aus der Abfolge von 1tav'trov av8poo1trov und m(HWV ergibt. Gott wirkt und Gott schenkt das Heil. Wirklichkeit werden, Wirksamkeit entfalten und Leben schenken kann dieser Heilswille Gottes aber nur dort, wo die Menschen sich im Glauben diesem Gott öffnen, wo sie die Grenze eigener Beschränktheit und Ängstlichkeit auf Gott hin überschreiten. Und doch Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 247. So urteilt G. HOLTZ, Past 106: "Die Aussage von KoII,29 Ei~ Ö Kai KOllIW ayrovtt;6iJ.evo<;; ist nicht nur sachlich, sondern auch sprachlich identisch." Ähnlich J. ROLOFF, I Tim 247; vgl. 240f. 27 28
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hebt diese dem Willen Gottes entsprechende Annahme des Heilsangebotes im Glauben die Universalität desselben nicht auf, so daß weiterhin das spannungsvolle Nebeneinander "aller Menschen" und "der Glaubenden" in bezug auf Gott als ihren "Retter" bestehen bleibt. N. Brox weist zu Recht die Überlegung ab, daß in der Differenzierung zwischen "allen Menschen" und "den Gläubigen" eine Reflexion auf ein Heil "extra ecclesiam" zu sehen sei 29. Es ist aber doch auffällig und bedeutsam, daß in diesem Text, der mit der Betonung der "Glaubensüberlieferung" und der "Lehre" (V 6) - und im vorhergehenden Kontext mit der Auseinandersetzung mit den Irrlehrem (VV 1-5) - auf die Bewährung der Gläubigen in der Bewahrung des rechten Glaubens und damit auf die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Kirche abhebt, gerade Gottes universale, umfassende Heilswilligkeit so exponiert betont wird. Es scheint so zu sein, daß dem Autor die Aussage besonders wichtig ist, daß Gott "der Retter aller Menschen" (crroTI']p navIrov av8pril1trov) ist. Dabei steht außer Zweifel: Das Verstehen, das Erkennen Gottes und seines Willens sind nur denen möglich, die sich ganz und ohne Vorbehalt im Glauben öffnen für Gottes Handeln; dieses umfaßt sein schöpferisches Gestalten und Erhalten (vgl. VV 3 f) ebenso wie die Inkarnation des göttlichen Heilswillens in dem Menschen Jesus Christus, dem Mittler zwischen Gott und den Menschen, der sich, entsprechend diesem Willen Gottes, hingegeben hat "für alle" (2,5 f).
Die Bereitschaft zur Überantwortung des Lebens, der Gegenwart und der Zukunft, an Gott drückt das T]A.1ttKUj.lEV aus. Das Feststehen in der Hoffnung und Zuversicht ist sachlich mit "Glauben" gleichzusetzen. Die Formulierung des Bekenntnissatzes mit der Perfektform von EA.nU;;ElV gibt Anlaß, die Bedeutung von mO"'toi in dieser Differenzierung gegenüber der Gesamtheit der Menschen (nuv'tE<;) zu überdenken. Dazu ist der Kontext mit heranzuziehen mit der Warnung an die Christen der angesprochenen Gemeinden, dem Beispiel der Irrlehrer zu folgen und die Güte und das Wohlwollen Gottes geringzuschätzen bzw. durch willkürliche Eingriffe in die durch den Schöpfungs glauben grundgelegte Ordnung die biblisch vorgegebenen Bestimmungen der Geschöpfe zu leugnen. In dieser Konstellation ist dann nicht der Gegensatz von Glaube und Unglaube angezielPo. Die ausgesprochene Beziehung zwischen Gottes Heilswillen und den "Glaubenden" zielt vielmehr auf die Treue im Glauben, auf das Festhalten an der Tradition. Die Angesprochenen sollen ihren Glauben bewahren und bewähren; sie müssen die Hoffnung auf den lebendigen Gott und die daraus für sie erwachsene Zuversicht auf Leben festhalten. Kennzeichen der Apostaten ist, daß sie gerade solch gläubiges Vertrauen aufgegeben haben. In dieser Zuordnung zur Irrlehrerabwehr erhält auch das Bekenntnis zu Gott als dem Retter aller Menschen eine antignostische Spitze. Ein Merkmal des gnostisch N. BRox, Past 178. Deshalb ist es nicht ausreichend, mit N. BRox, Past 178, zu formulieren, es gehe "ganz einfach darum, daß das Heil für alle ist (siehe I Tim 2,4) und ihnen zugänglich wird, sobald sie nur zum Glauben kommen"; der Vers ist auch nicht ohne weiteres Beleg für die Gleichung "die Gläubigen = die Christen" (so G. BARTH, EWNT III 233). 29
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I Tim 4,6-11 beeinflußten Christentums ist der Anspruch besonderer Erkenntnis der zur Erlösung führenden Wahrheit. In Verbindung mit den spezifischen Forderungen des Verzichts auf Ehe und der Enthaltung von bestimmten Speisen (V 3) bildet sich eine exklusive Glaubensgemeinschaft mit exklusivem Heilsanspruch heraus. Demgegenüber muß die Universalität des von Gott geschenkten Heils betont werden lI.
Im Zentrum von V 10 steht das Gottesbekenntnis. An ihm orientieren sich der Glaube und die Hoffnung, und daraus resultiert bzw. darauf gründet die Bereitschaft zu Mühe und Kampf. Es liegt also folgender innerer Bezug vor: Gott ist unser aller Retter (OOln1P nUVtOlV uv8po)1tO)v); das bestimmt als feste Zuversicht unseren Glauben (1'!A,nl1caI!Ev); und im Blick und im Vertrauen darauf mühen wir uns ab und kämpfen wir (KonllOl!EV Kai uyO)vl~6I!E8a)32. Mit dem Bild vom Kampf, welches den Verfasser in der Tradition paulinischen Sprachgebrauchs (Röm 15,30; 1 Kor 1,25; Phil 1,30; 1 Thess 2,2) und dessen nachpaulinischer Verwendung zeigt (v. a. Koll,29 [KOnllO uYo)Vl~6I!EVO\;1; 2, 1; 4, 12), wird der Kontrast zur asketischen Forderung der Abtrünnigen gestaltet. Die "Frömmigkeit", Kennzeichen des orthodoxen Glaubens, zeigt sich im beharrlichen Kampf, in der unermüdlichen Anstrengung, sich des von Gott geschenkten Lebens würdig zu erweisen und es zu bewahren. 11 Die für alle Christen verpflichtende "Lehre" ist dem Apostelnachfolger als Aufgabe übertragen. In der Verkündigung der Glaubensbotschaft wird der Gemeindeleiter sich als "guter Diener Christi Jesu" erweisen (V 6). Nicht nur die fiktive Briefsituation wird mit diesem direkten Auftragswort wieder unterstrichen; zugleich ist die Autorisierung der vorgestellten Glaubensbotschaft durch den Apostel verdeutlicht. Mit den beiden Imperativen wird aber auch der Gedanke wieder aufgegriffen, der sich wie ein roter Faden durch die drei Abschnitte in Kap. 3 zog: die Verantwortung des Amtsträgers für die "im Haus (Gottes)" vereinten Gläubigen (3,4f.l2b.l5). Dieser Verantwortung muß er gerecht werden durch Weisung und Belehrung. III
In der antihäretischen Ausrichtung des Abschnittes legt der Verfasser wieder besonderen Wert auf das Kennzeichen wahren Christseins, die EuotßEta. Sie wird zugleich zum unterscheidenden Merkmal des rechten Glaubens im Gegenüber zu den Irrlehrern. Kennzeichen solcher Frömmigkeit ist die Übereinstimmung mit der apostolisch legitimierten "Glaubenslehre" (V 6). In der Verantwortung für diese wird der Beitrag des kirchlichen Amtsträgers darin festgemacht, daß er der "Frömmigkeit" 1I M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 55, treffen also die Intention nicht, wenn sie den Schluß ziehen, die Past fänden sich damit ab, "daß die Gläubigen nur einen Ausschnitt aus der Menschheit darstellen". 32 Vgl. auch N. BROX, Past 177: "Die Anstrengung des Christen ist ... ganz als Ausdruck der Hoffnung, als Antwort auf die Verheißung zu verstehen."
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dient. Das Stichwort EucreßEta, im Kontrast genannt zu den Mythen der Irrlehrer (V 7), lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden - der Übergang zur Gemeinde-Paränese ist also bedingt durch die Nennung der EucreßEta als Kennzeichen der wahren Christen - und zugleich auf das, was diese Frömmigkeit in ihrem Kern ausmacht: die Zuversicht, daß Gott seine Verheißung wahr macht in der Vermittlung des ihm eigenen Lebens. Den falschen, vom Glauben abweichenden und trügerischen "Lehren" der Apostaten (V I), deren Inhalt das Verbot der Ehe und die Forderung zur Enthaltung von Speisen ist (V 3), also nur "leibliche Übung" (V 8), wird die dem Apostelnachfolger durch "Paulus" unterbreitete "rechte Lehre" (V 6) entgegengestellt. Deren Inhalt wird dann in Kürze vorgestellt: Der "lebendige Gott" der wahrhaft christlichen Hoffnung ist der in der Geschichte sich manifestierende Gott; er ist der Schöp!ergott, der alles für die Menschen und zu ihrem Nutzen geschaffen hat (VV 3 t), und er ist der Rettergott, der sich, bereits geschichtlich verbürgt, als der Heilsmittler für alle Menschen erwiesen hat (V 10). LITERATUR: C. 229-242.
SPICQ,
Gymnastique et morale d'apres I Tim., IV, 7-8: RB 54 (1947)
5. Anweisungen für das Gemeindeleben und für die Kirchenordnung (4,12-6,2) Trotz (oder vielleicht auch: wegen) des Überwiegens polemischer Auseinandersetzungen mit den vom rechten Glauben abgekommenen Menschen und ihren falschen Lehren formulieren die Past in den ersten drei Kapiteln recht bedeutsame Aussagen zur Theologie (Gott, der Retter aller Menschen: 2,3t), zur Christologie und Soteriologie (Christus Jesus, der Retter der Sünder: 1,15; vgl. 2,6; unsere Hoffnung: 1,1) und zur Ekklesiologie (die Kirche als "Haus Gottes", als "Säule und Fundament der Wahrheit": 3,15). Den Höhepunkt bildet der Abschnitt 3,14-16; in diesen Versen erscheinen die genannten Bestimmungen in gedrängter Form. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen wäre auch der bisweilen, mehr oder weniger deutlich, artikulierte Vorwurf zu überprüfen, der Verfasser beschränke sich in seinen Ausführungen ganz und gar auf Polemik. In der Tat legt er zwar keinen Wert auf inhaltliche Diskussionen und Auseinandersetzungen um den rechten Glauben. Ein wichtiger Bestandteil seiner Argumentation im Kampf gegen die Irrlehrer sind nun aber gerade diese theologischen, christologischen und ekklesiologischen Formulierungen, die er ganz bewußt als "Gegenargumente" einsetzt. Nach den z. T. recht allgemein gehaltenen Aussagen wird nun ab 4, 12 die Aufgabe der "Kirchenleitung" entsprechend den herrschenden Bedingungen in den Gemeinden und in Ausrichtung auf bestimmte Gruppierungen ausformuliert. Noch stärker als bisher treten mit der direkten Anrede 200
1 Tim 4,12-16
und Beauftragung des "Nachfolgers" des Apostels dessen Leiterfunktion und· seine apostolische Legitimation in den Vordergrund. a) Mahnungen zu einem der Berufung entsprechenden Leben und zu treuer Verwaltung der übertragenen Aufgaben (4,12-16)
Niemand soll dich wegen deines jugendlichen Alters verachten. Werde vielmehr zum Vorbild der Gläubigen in Wort, Lebenswandel, Liebe, Glaube und Lauterkeit. 13 Bis ich komme, widme dich dem (Schrift-) Vorlesen, der Ermahnung und der Belehrung. 14 Vernachlässige nicht die Gnadengabe in dir, die dir durch prophetisches Wort mit der Handauj1egung des Presbyterkollegiums verliehen worden ist. 15 Dafi1r trage Sorge, damit gib dich ab, damit dein Fortschreiten allen offenkundig werde. 16 Achte auf dich und auf die Lehre," bleibe dabei! Denn wenn du das tust, wirst du dich selbst retten und die, die auf dich hören. 12
I
Die zuletzt noch den Argumentationsgang prägende Unmittelbarkeit der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern tritt in den Hintergrund; das Interesse richtet sich wieder (nach den Bestimmungen in Kap. 3) auf die Merkmale, die eine gute Amtsführung bzw. einen qualifizierten Gemeindeleiter ausmachen. Angesichts dieser Konzentration auf die Person und die Funktion des Gemeindeleiters ist eine "Frontstellung gegen die Irrlehrer"] allenfalls noch implizit beabsichtigt und erkennbar. Die lntensität der apostolischen Weisung und der Charakter der verpflichtenden Bindung an den Auftrag des "Apostels" werden wieder gesteigert durch die Form der direkten Anrede. Was es in den Gemeinden zu tun gilt, das ist unmittelbar auf den Apostel zurückgehender Auftrag, von "Paulus" seinem Nachfolger im Leitungsamt vermittelter Dienst. Bestimmend und prägend in diesem Textabschnitt sind konsequenterweise die Imperative, die an den Gemeindeleiter gerichtet sind; sie finden sich in jedem Vers, bleiben aber (mit Ausnahme von V 16) ohne Begründung. Dadurch ist schon angedeutet, daß der Akzent auf dem liegt, was über den Vorsteher, über seine Rechte und Pflichten gesagt wird. Verbunden damit ist aber durchgängig seine Stellung im Blick auf die Gemeinde angesprochen. 11 12 Der erste Satz fällt gleich aus dem Rahmen, insofern nichts darüber verlautet, was "Timotheus" zu tun hat, sondern - man muß zugeben: recht unerwartet - eine Ermahnung ausgesprochen wird, mit welcher der Amtsinhaber ausdrücklich gegenüber möglichen Angriffen, die sich aus seiner Jugend ergeben könnten, in Schutz genommen wird. Das mahnende Wort 1
V.
HASLER,
Past 37.
201
I Tim4,12-6,2
ist an die Gemeinden gerichtet und fordert sie auf, den rechtmäßig an ihrer Spitze stehenden Leiter nicht aufgrund einer Äußerlichkeit zu kritisieren. Wenn man nun doch, der fiktiven Briefsituation folgend, schon zu Beginn von V 12a den Vorsteher als eigentlichen Adressaten angesprochen sehen wollte, dann müßte man diesen Satz als eine an den Vorsteher selbst gerichtete Mahnung interpretieren, er habe darauf zu achten, daß die Gemeinde keinen Anlaß findet, sein jugendliches Alter gegen seine verantwortliche Stellung in der Gemeinde auszuspielen 2. Gegen diese Deutung ist jedoch einzuwenden, daß für die Past zwar einwandfreie Lebensführung und ein guter Ruf wesentliche Bedingungen für die Zulassung zu den Ämtern und notwendige Voraussetzung für deren gute Verwaltung sind; doch das Entscheidende und das Dominierende ist das Amt selbst, welches jemand innehat. Deshalb wäre es falsch zu meinen, die Bedeutung dieser Stellung werde geprägt von dem, der sie bekleidet; es gilt vielmehr umgekehrt, daß die Bedeutsamkeit einer amtlichen Stellung in der Gemeinde auch dessen Träger Würde und Gewicht gibt. Wer als für geeignet befunden wurde, der sollte nicht wegen irgendwelcher Quisquilien wie das mangelnde Alter kritisiert werden. So ist der Hinweis auf die mögliche Kritik an der Jugend des "Timotheus" nicht nur "nicht biographisch, sondern typisch gemeint" 3, sondern es ist auch die Bezugnahme auf das Alter als Paradigma zu verstehen. Das Ziel der Aussage liegt darin, der Gemeinde vor Augen zu führen, daß auch sie in der Beziehung zum Gemeindeleiter lernen muß, bestimmte Denkmuster, etwa bezüglich des Alters desselben, zu revidieren. Die Abfassungsverhältnisse der Past als pseudepigraphische Schriften erübrigen eine Diskussion über die biographischen Daten des historischen Timotheus und sein Alter'. Aus der fiktiven Briefsituation, die die Perspektive des Paulus zugrunde legt und das Lehrer-Schüler-Verhältnis bzw. die Einsetzung des Timotheus als Nachfolger des Paulus betont, findet dieser Hinweis auf das "jugendliche Alter" (VEO'tT)C;)' des Timotheus eine passende und ausreichende Erklärung. 2 So die Deutung bei N. BROX, Past 178f: Der Vorsteher müsse "durch sein Verhalten der Möglichkeit zuvorkommen, sein Alter zum Anlaß einer Geringschätzung seiner Person zu machen". Ähnlich J. ROLoFF, I Tim 251. 3 H. MERKEL, Past 38. 4 Vgl. dagegen die ÜberlegUngen bei Vertretern der Authentizität, wie G. HOLTz, Past 108, J.1EREMIAS, Past 34, D. GUTHRIE, Past 108f, und T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 137 f; ausführlicher dazu J. N. D. KELLY, Past 103 f, und C. SPICQ, Past 511 f. , Zu VEOTT]C; vgl. auch Mk 10,20/Lk 18,21; Apg 26,4. Die damit verbundene Frage, wel· ches Alter konkret mit dieser Bezeichnung veoTT]C; (und auch dem Adjektiv VEOC; bzw. VEOl'tEPOC;) gemeint sein kann, gehen die Meinungen auseinander. Die Angaben schwanken zwischen "höchstens bis zu 30 Jahren" (J. BEHM, ThWNT IV 900; H. HAARBECK, ThBLNT 975) und bis zu 40 Jahren (G. HOLTz, Past 108), während C. SPICQ, Past 512 (unter Hinweis auf die Relativität dieser Angaben von "jung" und "alt") mit der Möglichkeit zu rechnen scheint, daß die Bezeichnung vtoc; bzw. VEOTT]C; auch noch bis zum Alter von 50 Jahren stehen kann. Dazu würde passen, daß für die rabbinische Tradition (nach Aboth 5,21) mit 60 Jahren das Alter beginnt (vgl. STRACK·BILLERBECK, Kommen· tar III 653).
202
1 Tim 4,12-16
Dem entspricht, daß der Briefadressat an anderen Stellen als junger Mann vorgestellt ist (2 Tim 1,5; 2,22) und von "Paulus" als ,eKVov angeredet wird (1 Tim 1,2.18; 2 Tim 1,2; 2, 1 ; Tit 1,4). Hier gehen die historische Ebene (Timotheus erscheint in den authentischen Briefen als von Paulus ausgewählter Begleiter und Mitarbeiter, er steht also im Verhältnis eines Schülers zu ihm) und die literarische Fiktion (Paulus hat seinen Schüler Timotheus als Nachfolger eingesetzt, damit er das von ihm begonnene Werk der Gemeindeordnung weiterführe) ineinander über. Als Begleiter des Paulus, von diesem in den Dienst der Verkündigung berufen, und als Nachfolger "ist" Timotheus der Jüngere. Der Hinweis auf das jugendliche Alter des den Gemeindeleiter repräsentierenden Timotheus und die damit verknüpfte Mahnung, daß dieses nicht Anlaß zu abschätzigem Urteil sein darf, hat ziemlich sicher einen aktuellen Anlaß in der Gemeindesituation der Past. Eine Parallele findet sich im Brief des Ignatius an die Gemeinde von Magnesia (3, I): "Aber auch euch ziemt es, das jugendliche Alter des Bischofs nicht auszunützen, sondern entsprechend der Kraft Gottes des Vaters ihm alle Ehrfurcht zu erweisen, so wie ich erfahren habe, daß auch die heiligen Presbyter seine offensichtliche Jugend nicht mißbraucht haben, sondern sich ihm als Verständige in Gott fügen - doch nicht ihm, sondern dem Vater Jesu Christi, dem Bischof aller." Es ist davon auszugehen, daß die (vergleichsweise) jungen Leute in leitenden Positionen mit Kritik und mit Widerstand seitens einiger Gemeindemitglieder fertig werden mußten 6. Die durch die "Jugend" des Gemeindeleiters heraufbeschworenen Probleme werden noch in zwei unterschiedliche Richtungen vertieft. Die Past sind ein Zeugnis für die Verbindung zweier unterschiedlicher Gemeindeverfassungen, der Presbyterordnung auf der einen Seite und einer vom Episkopos geprägten Gemeindestruktur. In dieser Situation mit der von den Past sichtlich favorisierten Verlagerung der Autorität von der Gruppe der Presbyter auf den (einzelnen) Episkopos, dessen Stellung in der Gemeinde zudem - im Unterschied zu den Presbytern mit dem "Vorzug" des Alters und persönlicher Integrität - durch besondere Fähigkeiten begründet sein mußte, konnte es zu Spannungen kommen '. Einen indirekten Hinweis auf derartige Spannungen und das gleichzeitige Bemühen, sie abzubauen, könnte das Zugeständnis enthalten, daß solche Presbyter, die ihr Vorsteheramt "gut" versehen, "doppelter Ehre" würdig sind (5,17). In die entgegengesetzte Richtung geht die Überlegung, die ebenfalls von der konkreten geschichtlichen Situation der Past ausgeht mit der zentralen Diskussion um den rechten Glauben und die Institution bzw. die Personen, die diesen wahren, apostolischen Glauben garantieren können. Es ist nämlich damit zu rechnen, daß eine Schwäche der von den Past repräsentierten Gemeinden und der von ihnen bzw. vom Verfasser für sie favorisierten Ordnung darin lag oder zumindest darin gesehen werden konnte, daß die Vertreter der "Irrlehren" sich als "Männer mit Vergangenheit, Erfahrung und Ansehen" präsentierten, die den "ordentlichen Gemeindeleitern wohl auch an Alter und Bildung überlegen" waren 8. 6 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 55. Auch N. BROX, Past 178, meint, es sei "eine typische Schwierigkeit in der Kirche der Pastoralbriefe", daß "junge Amtsträger" um ihre Autorität bangen mußten. , Vgl. auch die Überlegungen bei J. ROLOFF, 1 Tim 251; H. MERKEL, Past 38. 8 V. HASLER, Past 37.
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1 Tim 4,12 - 6,2 Die genannten Konkretisierungen haben beste Anknüpfungspunkte in den Past, und deshalb lassen sich solche Schwierigkeiten in den Gemeinden und in deren Umfeld auch nicht einfach ausschließen. Es erscheint jedoch erwägenswert, das hier angesprochene und u.U. für den Amtsträger und damit auch für die Gemeinde belastende Problem weiter zu fassen und nicht nur auf das Lebensalter zu beziehen. Der Hinweis auf die "Jugend" des Gemeindeleiters läßt sich als ein Paradigma erklären; mit dieser Notiz soll stellvertretend - d. h.: unter Einschluß der vE6"tT]~, aber nicht exklusiv darauf bezogen - zugestanden werden, daß an der Person des Gemeindeleiters menschlich gesehen durchaus manches kritisierbar sind. Solche möglichen Einwände müssen jedoch zurücktreten hinter die ihm übertragene Aufgabe und die in ihm wirksame Autorität.
Für diese weiter gefaßte Interpretation spricht schon die Formulierung von V 12a. In dem Imperativ "niemand soll dich verachten wegen deiner Jugend" ergreift der Apostel mit seiner Autorität Partei für den von ihm eingesetzten und bevollmächtigten Nachfolger. Grundsätzlich bedürfte diese Weisung, die der Apostel der Gemeinde erteilt, keiner Begründung. Hinter dem Episkopos, der wegen seines Alters (oder wegen seiner Herkunft, seiner Bildung, seiner sozialen Stellung) ungeeignet erscheinen konnte, steht die Autorität des Apostels; und diese Autorität gibt ihm die Legitimation. Es geht also nicht um ein spezifisches Problem und damit auch nicht um den Amtsinhaber in einer individuellen Schwierigkeit, sondern es geht um das Amt und um dessen Funktionstüchtigkeit, also um die Autorität des Amtes im allgemeinen. Der Gemeindevorsteher steht nicht für sich allein, sondern er hat Stellvertreterfunktion; er vertritt den abwesenden Apostel (V 13: "bis ich komme"!), handelt also in dessen Autorität und Vollmacht. Und er wirkt in der Kraft des ihm übertragenen Amtscharismas (V 14). Mit der Verankerung seiner Autorität in der apostolischen Beauftragung wird diese Autorität nicht relativiert, sondern erhält sie die entscheidende Begründung und Stütze. Wie der rechte Glaube so muß auch die rechte Glaubensverwaltung sich als apostolisch erweisen lassen. Dies ist das entscheidende Kriterium. Die Aktualität liegt folglich nicht ausschließlich in den Altersstrukturen der verschiedenen Amtsinhaber der Gemeinden der Past. Die Intention des Verfassers geht dahin, mit der Inanspruchnahme der Autorität des Apostels für "seine" Gemeindeleiter und Gemeindestrukturen den Unrechtscharakter abweichender Meinungen und Organisationsformen zu erweisen. Sowohl der Gedanke der apostolischen Legitimation als auch die Bedeutung der Sukzession zur Begründung der Autorität des Amtes gewinnen an Bedeutung.
Nach der Mahnung an die Gemeinde, durch welche zugleich die führende Position des Gemeindeleiters unterstrichen wird, wendet sich V 12b, in der direkten Anrede an "Timotheus", gleich wieder diesem Gemeindeleiter selbst zu. Es wird jetzt positiv formuliert, was von ihm als dem Träger dieser Amtsvollmacht erwartet werden muß. Seiner Stellung an der Spitze der Gemeinde entspricht, daß er "Vorbild für die Gläubigen" zu sein hat (vgl. auch Tit 2,7). Dieser Hinweis auf den Vorbild charakter erfährt zumeist in Verknüp204
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fung mit der vorangehenden Aussage über das jugendliche Alter eine Einordnung in die "Kategorie ethischer Vorbildlichkeit" 9. Der Amtsträger solle "durch innerlich begründete Autorität", nämlich "durch einen vorbildlichen Lebenswandel", zu "ersetzen suchen" bzw. "wettmachen", "was ihm an Alter fehlt" 10. Der " Bewährung im Amt" durch einen vorbildlichen Lebenswandel wird auf diese Weise die Funktion zugesprochen, daß aufgrund des Mangels einer Profilierung durch die "Vorzüge natürlicher Autorität und Ehrwürdigkeit des Alters" ein um so intensiveres Bemühen treten muß, sich in der Rolle eines Vorbildes für die Gemeinde zu bewähren 11. Nach dieser Interpretation sollte eventuelle Kritik am Gemein dei eiter, die sich auf seine "Jugend" richtet, von diesem selbst eine Antwort bekommen durch ein umfassend vorbildliches Leben. Zugunsten dieser Auslegung könnte geltend gemacht werden der Anschluß von V l2b mit o'Uo,. Doch die so eingeführte Opposition zum Vordersatz bedeutet nicht, daß die Kritik am Gemeindevorsteher, die ja als strukturelle Kritik formuliert ist, durch die vom Vorsteher eingeforderte Bewährung im Amt widerlegt werden könnte. Der o'Uo'-Satz formuliert vielmehr die Mahnung, daß der Vorsteher seinerseits sich der ihm übertragenen Verantwortung würdig erweisen mußl2. Die in V l2b angemahnte Vorbildfunktion 13 ist in der Vorsteherfunktion begründet; Glaube und Leben des Amtsinhabers haben aufgrund der ihm vom Apostel übertragenen Aufgabe und Stellung für die Gemeinde einen besonderen Stellenwert. Was er sagt und was er verkündet 14, das muß in Verantwortung vor der Gemeinde und für die Gemeinde geschehen. Mit der Trias "Liebe", "Glaube", "Lauterkeit" wird die Relation von Gemeindeleiter und "Gläubigen" sehr stark auf die ethische Ebene verlagert, wobei sich die genannten Begriffe nicht eindeutig gegeneinander abG. SCHUNACK, EWNT III 896. So die Formulierungen bei J. JEREMIAS, Past 34, und F. J. SCHIER SE, Past 63. Vgl. auch die Interpretation bei U. BORsE, I Tim 54: "Durch vorbildliches Verhalten kann er ihre Einwände widerlegen ... " 11 Vgl. N. BRox, Past 179. 12 Vgl. auch H. v. LIPS, Glaube 264: "Autorität ist mit den Amtsfunktionen verbunden, sie wird vorgängig zuerkannt, ist also eine strukturell gegebene Autorität." In V 12 geht es um "die Bewährung der Autorität". 13 Die von M. WOLTER, Pastoralbriefe 191, vertretene Interpretation von V l2b, Gegen· stand der paränetischen Weisung sei hier wie Tit 2,6f "zunächst(!) nur ein von den beiden Adressaten selbst verlangtes Verhalten, dessen sie sich idealtypisch befleißigen sollen bzw. dem sie idealtypisch entsprechen sollen", es handle sich also "zunächst(!) nicht um Aufforderungen zur ,transitiven' VOIbildlichkeit (für Dritte), sondern zur ,intransitiven' Idealbildlichkeit" (so auch schon W. LOCK, Past 52, und, noch deutlicher ak· zentuiert, W. HENDRIKSEN, Past 158), kann mit der hier vorgelegten Auslegung in Einklang gebracht werden; da auch Wolter zugesteht, daß "sekundär ... die beiden Auf· forderungen die Konnotation der Vorbildlichkeit für andere (erhalten)" (ebd.), und weil anerkanntermaßen diese Vorbildfunktion des im rechten Glauben sich bewährenden Amtsträgers ein für die Past wichtiger Aspekt ist, wird bei der Übersetzung von 1:U1tO~ "Vorbild" beibehalten. 14 Das Stichwort Myo~ ist in der Verbindung mit avucJ1:po<jlT) in diesem spezifischen Sinn autoritativer Verkündigung zu verstehen. 9
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grenzen und auf spezifische Verhaltensweisen hin interpretieren lassen 15. Liebe und Glaube - ltlo·tt<; ist hier wie meistens in den Past verstanden im Sinne von "Rechtgläubigkeit" - sind schon allgemein christliche Tugen- . den 16. Ähnliches gilt für den außer hier im NT nur noch I Tim 5,2 genannten Begriff ayvEia. Auch die "Lauterkeit" ist nicht eine auf den Gemeindeleiter eingegrenzte Tugend. Die in der Zufügung von &v a'YvEi~ ausgesprochene "Verpflichtung zu umfassender Rechtschaffenheit", zu "Vorbildlichkeit in Wort und Wandel" erhält ihre besondere Bedeutung wieder dadurch, daß das so ausgerichtete Leben des Vorstehers für die Gemeinde Vorbildcharakter erhält 17. Das übergeordnete Stichwort in V 12b ist die Vorstellung des Leiters als "Vorbild ('tUltOC;;) der Glaubenden". Damit wird in einer umfassenden Weise seine Aufgabe für die Christen beschrieben, wodurch er einerseits zwar in die Gemeinde eingebunden erscheint, andererseits aber auch der Gemeinde gegenübersteht. Hier greift der Verfasser wohl bewußt paulinisehe Tradition auf (vgl. Phil 3, 17; 1 Thess 1,6 f), die den Apostel in seiner Tätigkeit der Vermittlung des EVflIlgeliums zeigt und zugleich in seiner Person den fordernden Charakter der Christus botschaft deutlich werden läßt. Der Gemeindeleiter verlängert als das von "Paulus" beauftragte "Vorbild" das Zeugnis des Apostels im Dienst für das Evangelium in die nachapostolische Zeit hinein. Mit der ausdrücklichen Aufzählung der ein vom Glauben bestimmtes Leben prägenden Merkmale ist allerdings der Akzent gegenüber der paulinischen Typos-Vorstellung auf die Bewährung in der Lebensführung verschoben. 13 Dieser Vers beschreibt die konkreten Aufgaben des Gemeindeleiters bei der Gemeindeversammlung. Er ist verantwortlich für die Verkündigung im weitesten Sinn. Dazu gehört einmal die Schriftlesung (avayvromc;;). Wie in Apg 13,15 und 2 Kor 3,14 bezeichnet avayvromc;; auch hier zuerst einmal den Vortrag der heiligen Texte des AT, die in Anknüpfung an den Synagogengottesdienst die christliche Gemeindeversammlung von Anfang an prägten (entsprechend der Bedeutung der biblischen Offenbarung für das Bekenntnis zum Christusereignis als Offenbarung Gottes). Nun ist bei dem Hinweis auf die Lesung im Rahmen der Past durchaus auch schon an Texte aus christlicher Zeit zu denken, die dem " So verweist auch N. BRox, Past 179, auf die "fortschreitende Formelhaftigkeit der hier verwendeten Begriffe", die "größeren Wert auf Häufung von Begriffen als auf deren prägnanten Gebrauch legt". Die von V. HASLER, Past 37, angedeutete Möglichkeit, es würden sich in dieser Aufzählung "bereits erste Umrisse einer priesterlichen Standesethik abzeichnen" (auch G. SCHUNACK, EWNT III 896), ist aus diesem Grunde weniger wahrscheinlich. 16 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten der Verbindung von "Glaube" mit "anderen christlichen Tugenden" die Zusammenstellung bei H. MARS HALL, Faith 214; für die ungewöhnliche Reihenfolge von Liebe und Glaube in V 12 nennt er als Grund einen Wechsel vom äußeren Verhalten zu seiner inneren Grundlage (215). 17 Mit A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 171 f; vgl. auch H. BALZ, EWNT 153: "vorbildhafte lautere Gesinnung".
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Ziel der Bewahrung und Festigung des rechten Glaubens, der Sicherung der Glaubensüberlieferung dienen konnten 18. Wegen der Fixierung der Past auf die Gestalt des Apostels Paulus und unter Berücksichtigung der gut begründeten These, daß der Verfasser ein bereits vorliegendes Corpus Paulinum mit grundsätzlich anerkannter Verbindlichkeit kannte und daß er dieser Paulus-Tradition mit den vorliegenden "Briefen" in der Art einer testamentarischen Verfügung einen Abschluß geben wollte (vgl. bes. 2 Tim), ist eine Bezugnahme auf die Verlesung von Paulusbriefen für diese Zeit ebenfalls als wahrscheinlich anzunehmen 19. Die weitere Aufgabe des mit der Leitung des Gottesdienstes beauftragten Gemeindeleiters ist die "Ermahnung", die sich an den verlesenen Text anschließt. Ob hier eine Unterscheidung zwischen "Ermahnung" (naPUKATjO"tC;) und "Belehrung" (oLoaO"KaAia) beabsichtigt ist, etwa im Sinne der Differenzierung von Glaubensunterweisung und sittlicher Mahnung 20, ist kaum mehr zu entscheiden. Allerdings kann die Differenzierung zwischen napUpKATjO"tC; und oLoaO"KaAia durchaus von dem Bild des Gemeindeleiters her erklärt und begründet werden. Es ist ja einerseits seine Aufgabe, die Gemeinde durch "Unterweisung" und "Ermahnung" zu einem dem Glauben entsprechenden "Verhalten" (vgl. 3,15) anzuhalten. Dazu ergänzend ist seine "Lehre", die der apostolischen Verkündigung entspricht (vgl. 4,6; 2 Tim 3, 10), das wichtigste Bollwerk gegen die Irrlehren (vgl. 1 Tim 1,10; 4,16). Während napUKATjO"tC; eher die "Innenseite" der Gemeinde anspricht - dabei ist daran zu erinnern, daß Pseudo-Paulus sowohl sein Schreiben mit der Absicht des "Ermahnens" (napaKaAw) verbindet (1,3; 2,1) als auch den Gemeindeleiter zu solchem "Ermahnen" (napaKuAEL) auffordert (5,1; 6,2; 2 Tim 4,2; Tit 1,9; 2,6.15) -, hat oLoaO"KaAia doch häufig (vgl. v. a. in den Verbindungen mit der Qualifizierung als "gesunde", "rechte Lehre") einen apologetischen Unterton und kennzeichnet die Opposition zu den Irrlehrern 21. Mit dem Verweis auf die OLoaO"KaAia könnte in der Absicht der Past die besondere Verantwortung der Gemeindeautoritäten für die eine "Lehre" unterstrichen werden, die es gegen falsche "Lehren", "Lehren von Dämonen" (vgl. 4, 1), zu beschützen und weiterzugeben gilt 22. Der apostolische Charakter der vom Gemeindeleiter in Anspruch genommenen Vollmacht und zugleich seiner Unterweisung und Lehre wird durch die erneute Bezugnahme auf die Abwesenheit des Paulus (vgl. " Vgl. F. HAHN, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41) (Stuttgart 1970) 75 (zu I Tim 4,13): "Die Schriftverlesung betrifft in dieser Zeit ... nicht mehr allein das Alte Testament, sondern auch schon spezifisch christliche Schriften." V. HASLER, Past 38, nennt I Thess 5,27; Ko14, 16; Offb 1,3 als Belege dafür, daß die Kirche "auch die Verlesung von apostolischen Zuschriften im Gottesdienst (kennt)". 19 So auch (mit Verweis auf Kol 4,16) J. SCHLOSSER, Didascalie 91. 20 So V. HASLER, Past 38. J.1EREMIAS, Past 34, denkt bei OlOUcrKUA.LU an "Unterweisung", z. B. "Katechumenenunterricht". 21 Vgl. dazu H. v. LIPS, Glaube 45. 22 Vgl. auch J. SCHLOSSER, der OlOUcrKUA.LU hier im Sinn der "Unterweisung" versteht (Didascalie 91).
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3, 14f) unterstrichen. Aufgrund dieser Funktion der Stellvertretung ist der Apostelschüler nachdrücklich in seiner Stellung in der Gemeinde als dem Apostel gleichwertig ausgewiesen. Diese erzählerische Einkleidung mit dem Ausblick auf das Kommen des Paulus (~CJ)c; ~PxollaL) kann in der Situation der Past nicht mehr als Einschränkung der Vollmacht des in der apostolischen Sukzession stehenden Nachfolgers verstanden werden, da jetzt die Abwesenheit des Paulus aufgrund seines Todes eine nicht mehr umkehrbare Situation kennzeichnet 23. 14 Mit diesem Vers ist in gewisser Weise ein Bruch in der paränetischen Argumentationsstruktur der Past gegeben; denn es ändert sich die Art und Weise, wie die Verpflichtung des "Timotheus" zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe begründet wird. War bislang das verbindliche Wort des "Paulus" maßgeblich, welches von 1,3, der Angabe des Zweckes der Einsetzung des Timotheus in sein Amt in Ephesus, her die Grundlage und zugleich die Motivation für sein Tun und Verhalten abgab, so wird der an der Gemeindespitze stehende Adressat jetzt an ein anderes Faktum erinnert, welches ihm sowohl Vollmacht als auch Verantwortung für seine Tätigkeit gibt, nämlich die Ordination mit Handauflegung durch die Mitglieder des Presbyterkollegiums. Damit rücken unter Beibehaltung der Fiktion des Timotheus als Adressat die Verhältnisse in den Gemeinden der Past wieder stärker in den Vordergrund. Dieser Wechsel ist besonders auffällig im Verhältnis zum vorhergehenden Vers, in welchem noch das in Aussicht gestellte Kommen des Apostels zu entsprechendem Tun (V 13b) motivieren soll. Daß die Erinnerung an die Ordination in der Gemeindekonzeption und für die Gemeindeleiterparänese der Past eine zentrale Bedeutung hat, zeigt die einführende Mahnung, das "Charisma", das dem "Timotheus" verliehen worden ist, "nicht zu vernachlässigen" (IlTJ UllEI..EL 'toO EV aoi xaPiall!l'tOC;). Mit dem Imperativ llTJ UllEI..EL greift der Verfasser eine Wendung auf, die vor allem "in amtlichen Briefen von übergeordneten Amtsträgern an ihre Untergebenen bzw. von Auftraggebern an Auftragsnehmer in geschäftlichen Briefen" in der Umwelt des NT geläufig waren 24. Die mit dieser Aufforderung in Erinnerung gerufene Verantwortung kann Personen, Sachen und Abstrakta zum Objekt haben. Gegenstand der erinnernden Ermahnung ist 'to xupLalla, ein Begriff, der an dieser Stelle den "Amtsauftrag" bezeichneps. Damit deutet sich schon an, daß es zum paulinischen Sprachgebrauch (mit 14 Belegen, mit Ausnahme von 2 Kor 1,11 in Röm und 1 Kor; sonst nur noch 1 Petr 4, 10) Vgl. auch V. HASLER, Past 38. Die paraphrasierende Wiedergabe bei F. J. SCHIERSE, Past 64 - "Nur bis Paulus, der Apostel, wiederkommt, übt der Apostelschüler seine Lehrtätigkeit in der Gemeindeversammlung aus" -, setzt einen falschen Akzent. 24 M. WOLTER, Pastoralbriefe 185f; ausführliche Darstellung und Auswertung der Belege (wobei synonym für IlTJ aj.LtA.t:l auch IlEAB'ta. stehen kann) 185-189. Vgl. auch C. SPICQ, Lexique 101 mit Anm. 3; H. v. LIPS, Glaube 207f. 25 Vgl. J. ROLOFF, I Tim 255 (255-257). 23
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neben wichtigen Gemeinsamkeiten auch bedeutsame Unterschiede gibt. Auffällig und für das Verständnis von xaptO"llu in den Past grundlegend ist die Tatsache, daß der Begriff nur zweimal verwendet wird, und zwar immer bezogen auf den Amtsträger und in Verbindung mit der Handauflegung, also der Ordination 26. Im Zusammenhang der Auslegung von 2 Tim 1,6, wo der Ausdruck XaptO"llu 'toü 8eoü steht (vgl. Röm 6,23; 11,29), ist der Begriff XaPtO"llu ausführlicher zu betrachten. Die Bedeutung von V 14 liegt im Blick auf die Entwicklung kirchlicher Ämter und Funktionen v. a. in der Bezeugung des Aktes der Handauflegung, mit welcher die Einsetzung in ein Amt vollzogen wird. Der Gestus der Handauflegung kann grundsätzlich verschiedene Funktionen haben; er steht im Dienst der Heilung, der Segnung oder auch der Geistmitteilung 27 • Letztere Bedeutung ist im Zusammenhang der Ordination zu sehen. Für die Ausbildung eines christlichen Ordinationsritus mit Handauflegung boten sowohl alttestamentliche Texte als auch insbesondere eine im rabbinischen Judentum bekannte Praxis der Ordination des Rabbi durch Handauflegung Anknüpfungsmöglichkeiten. Nach Num 27,15-23 wird Josua von Mose durch Handauflegung als sein Nachfolger eingesetzt (vgl. auch Dtn 34,9; im Unterschied zu Num 27 ist hier die Handauflegung mit der Ausstattung mit dem "Geist der Weisheit" verbunden). Die in Num 11,16 f überlieferte Einsetzung der 70 Ältesten kennt zwar die Ausstattung mit dem Geist, jedoch keine Handauflegung. Für die in christlichen Gemeinden geübte Praxis der mit der Handauflegung bewirkten Ordination wird das "Vorbild der Ordination der jüdischen Gelehrten" 28 als weit bedeutsamer angesehen. Trotz mancher Einwände 2 ' können einige Zeugnisse als Beleg dafür gelten, daß "Gemeinden judenchristlicher Prägung" für die sich entwickelnde Einsetzung und Autorisierung von Amtsträgem durch Handauflegung auf eine entsprechende Praxis der rabbinischen Ordination aufbauen konnten 30; so die Überlieferung, daß R. Jochanan b. Zakkai (gest. um 80 n. ehr.) seine beiden Schüler R. Elieser und R. Josua durch Handauflegung ordiniert hat (ySanhedrin 19a) 31, und das ebenfalls im palästinischen Talmud (ySanhedrin 19a) überlieferte Zeugnis, daß "in früherer Zeit" jeder Lehrer seine Schüler ordinierte 32. Vgl. H. v. LIPS, Glaube 206; bei v. Lips auch ausführliche Darstellung (206-223). Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 56. Zu den unterschiedlichen Bezeugungen in AT und NT E. LOHSE, ThWNT IX 417f; 420-423; auch A. T. HANSON, TRE 14, 415-421. 2. E. LOHSE, Ordination 101; zur rabbinischen Tradition 28-66. 29 Vgl. dazu die Darstellung bei G. KRETSCHMAR, Ordination 48-55. Zu Datierungsfragen der rabbinischen Belege A. EHRHARDT, Ordination; K. HRUBY, Imposition 50-55; beide verweisen v. a. auf mangelnde Eindeutigkeit der Bezeugung für die Zeit des Ausgangs des I. Jahrhunderts. 30 Vgl. H. MERKEL, Past 39; J. ROLOFF, I Tim 264f. Dies schließt nicht aus, was G. KRETSCHMAR, Ordination 62 (vgl. auch 54.60-65), andeutet, daß auch die "Schriftbelege aus der Mosezeit" auf die c:hristliche Entwicklung eingewirkt haben. 31 Vgl. dazu E. LoHSE, Ordination 32-34. Auch wenn es sich dabei um eine Legende handeln sollte (so A. EHRHARDT, Ordination 135 l), so wird darin doch die Bedeutung der Sicherung der Tradition durch personenbezogene Verpflichtung und Bevollmächtigung für diese Zeit belegt (vgl. auch G. KRETSCHMAR, Ordination 50l). 32 "In früherer Zeit ordinierte jeder Lehrer seine Schüler ... Später aber erwies man diesem Hause (d. h. dem Hause des Patriarchen) die Ehre, indern man sagte: ,Wenn das Gelehrtenkollegium jemanden ohne Einwilligung des ,Patriarchen ordiniert, so gilt diese 26
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1 Tim 4,12 - 6,2 Belege für eine vergleichbare Bezeugung der Handauflegung als Gestus der Beauftragung und der Bevollmächtigung eines begrenzten Personenkreises zu einem besonderen Dienst stehen auch in der nicht viel früher entstandenen Apg, allerdings sicher in einer die damaligen Verhältnisse idealisierenden und zugleich für die Gegenwart aktualisierenden Darstellung: bei der Einsetzung des Siebenerkreises zum "Tischdienst" durch das Zwölferkollegium (6,6) und bei der Aussendung des Barnabas und Saulus zu ihrem missionarischen Wirken durch die Gemeinde von Antiochien (13,3). Auch wenn noch nicht von einem christlichen Ordinationsritus zu sprechen ist, so hat doch die Handauflegung als Zeichen der Beauftragung zu einem besonderen Dienst in der Kirche im Grunde schon die Funktion der Bevollmächtigung und der Verpflichtung. In der Zeit der Past ist die Handauflegung als Akt der Amtseinsetzung bereits geläufig, wie die zwei weiteren Belege in den Past, 1 Tim 5,22 und 2 Tim 1,6, bestätigen.
Auffällig ist auf diesem Hintergrund eine in den Past selbst begegnende Differenz in der Benennung derer, die diese Ordination durch Handauflegung vornehmen. Während unser Vers die Mitglieder des Presbyterkollegiums 33 als die nennt, die dem "Tirnotheus" die Hände aufgelegt haben, ist es nach 2 Tim 1,6 Paulus selbst, und zwar er allein. Diese Differenz ist am überzeugendsten damit zu erklären, daß hier in 1 Tim 4,14 die Praxis der Handauflegung zur Zeit der Past zugrunde liegt, während in 2 Tim 1,6 mit der Nennung des Paulus als der Autorität, die dem Timotheus durch Handauflegung die Vollmacht der Gemeindeleitung übertragen hat, die Begründung für die Legitimation des Leitungsamtes gegeben werden soll, indem ausdrücklich deren apostolischer Ursprung betont wird 34. So soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Amtsträger in der Kirche der Past die "wahren Nachfolger des Apostels" sind 35. Die Ordination ist erfolgt Ötll1tpo
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"aufgrund von prophetischen Äußerungen". Wenn aber die Konstruktion 8Ul mit Genitiv Singular zugrunde gelegt wird, dann ist npOllHrCE1.a bezogen auf den Ordinationsvorgang, so daß zu übersetzen ist: "durch prophetisches Wort". Vorzuziehen ist die letztgenannte Bedeutung 36. Mit dem zusätzlich zur Handauflegung genannten "prophetischen Wort" im Rahmen der Amtseinsetzung wird allerdings häufig die Annahme verknüpft, es handle sich bei "Prophetie" und "Handauflegung" um verschiedene Akte, die zudem auf verschiedene Personenkreise zu verteilen wären 37. Dagegen aber spricht die Art der Formulierung des abhängigen Relativsatzes V 14b; mit ihm erhält das im Gemeindevorsteher wirksame "Charisma" eine Begründung anhand von zwei Bestimmungen: Diese Gnade ist (1) "gegeben" (tM8r)), sie ist dem Gemeindeleiter von Gottübertragen. Und diese Übertragung der Amtsgnade ist (2) erfolgt im Rahmen der Ordination, deren zwei Kennzeichen Gebet (prophetisches Sprechen) und Handauflegung sind. Für den Gebrauch von npo
36 Vgl. H. v. LIPS, Glaube 243; 250-252. Vgl. dazu auch die Begründung aus dem neute· stamentlichen Befund der Verwendung von Ölet mit Gen. bzw. mit Akk. bei J. ROLOFF, 1 Tim 257 Anm. 181: "Sprachliche Indizien sprechen eindeutig für Ölet mit Genitiv." 37 So wird die Formel öui 1tpoq)TJ1:Ei[l~ häufig als Hinweis auf die Beteiligung prophe· tisch begabter Gemeindemitglieder bei Auswahl und Ordination ausgewertet; vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 56; N. BRox, Past 180; V. HASLER, Past 38; H. MERKEL, Past 39. 38 So H. v. LIPS, Glaube 252f.
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15 Der so mit Vollmacht ausgestattete Vorsteher der Gemeinde ist dazu angehalten, sich den übertragenen Aufgaben zu widmen. Die Amtsstellung darf nicht zu bequemlicher Beschaulichkeit Anlaß sein. Die exponierte Stellung gibt auch die Möglichkeit zu beispielhaftem Handeln. Der Fortschritt in seinem Bemühen - die fehlende Näherbestimmung von npoK01t11Iäßt dabei sowohl an einen Fortschritt im religiösen Leben als auch in der Bewährung des alltäglichen Lebens denken - wird in seiner Signalwirkung nach außen hin bewußtgemacht und ist auch darautbin ausgerichtet. Die Angabe naV'tE~ nimmt auch hier in dem sonst für die Past typischen und kennzeichnenden Sinn auf eine nicht eingegrenzte Öffentlichkeit Bezug. Die Offenheit Gottes auf alle Menschen hin ist zu übertragen auf den Gemeindeleiter und seine Aufgabe, ebenfalls für alle Menschen dazusein, und sei es auch nur im kleinen und bescheidenen Rahmen einer guten Amtsführung in der Gemeinde. 16 In der Konsequenz der starken Betonung der durch das Amt gegebenen Öffentlichkeitswirkung wird nicht nur die Verantwortung des Gemeindeleiters für die Lehre noch einmal in Erinnerung gerufen, sondern es wird ihm auch aufgetragen, für sich selbst zu sorgen. Letzteres kann beim Amtsträger nicht als bloße Aufforderung zu individueller Entfaltung verstanden werden, sondern ist ebenfalls Zeichen der Verantwortung für den ihm übertragenen Dienst 39. Beständigkeit in der Erfüllung der übertragenen Aufgabe ist angesichts der Betonung der Verpflichtung der Christen auf die vom Apostel garantierte und in der Kirche tradierte Überlieferung und Weitergabe der Glaubensbotschaft eine verständliche Forderung. Auf diese Weise wird der Amtsträger am besten der Aufgabe gerecht, für die Bewahrung der Glaubensüberlieferung zu sorgen und gegen Abweichungen von der rechten Lehre zu wirken. Der Abschnitt klingt mit einem ungewöhnlichen Gedanken aus; vom Vorsteher wird gesagt, daß ihm eine "rettende" Funktion zukommt, wenn er das von ihm Verlangte in rechter Weise tut. Einerseits steht der Gemeindeleiter auf derselben Stufe wie die auf ihn hörende Gemeinde; denn das Heil ist nur als Geschenk von Gott her zu erwarten. Gleichzeitig bindet ihn der Gemeindedienst in besonderer Weise ein in die geschichtlich in und durch die Kirche sich vollziehende Vermittlung des Gnadenwirkens Gottes. Die Erfüllung der Aufgaben in der Gemeinde ist eingebunden in die Verwirklichung des HeilswilIens Gottes. Da das Handeln des Leiters im Dienst der Kirche, im Dienst des Glaubens steht, trägt es dazu bei, daß Gott mit seiner univeralen HeilswilIigkeit (vgl. V 10!) sich überall durchsetzen kann. Auch der Schlußsatz hat die Funktion, die autoritative Stellung des Gemeindeleiters und seine Verantwortung für die Verwirklichung des Heils39
Vgl. auch H.
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MERKEL,
Past 40.
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willens Gottes zu unterstreichen. Der Vorsteher hat Zeugnis abzulegen vom Handeln Gottes, und er muß gleichzeitig darüber wachen, daß diese Botschaft nicht verfälscht wird. Im Blick auf dieses für sich genommen doch recht massive Wort zur Stellung des Gemeindeleiters - du wirst dich retten und die, die auf dich hören - gilt es, die Theologie der Past als den maßgeblichen Kontext mitzuhören. III
Der von den Presbytern eingesetzte Gemeindeleiter verdient Achtung und Anerkennung seitens der Gemeinde. Er ist der Träger und Verwalter einer "Gnade", die ihm in einem prophetisch begründeten bzw. durch den Geist bewirkten, vom Gebet (dies ist in dem Begriff npoqn]"cda mitenthalten) begleiteten Ritus, der Handauflegung, übergeben wurde. Der so in das Amt des Vorstehers Eingesetzte ist Beauftragter der Gemeinde und zugleich deren Leiter. Das Moment der Beauftragung durch die Gemeinde zeigt sich im Gestus der Handauflegung durch die Mitglieder des Presbyterkollegiums; darin ist auch ein wesentliches Element der Legitimation zu sehen. Seine Stellung als "Leiter" und Vorsteher der Gemeinde ist darin begründet, daß ihm exklusiv dieses "Charisma" übertragen worden ist. Das vom Gemeindeleiter verwaltete Amt prägt und bestimmt dessen Inhaber, nicht umgekehrt. Der Vorsteher kann sich dieses Amt nicht aus eigener Kraft oder durch besondere Eigenschaften verdienen - sei es in geistiger, religiöser, sozialer oder moralischer Hinsicht -, sondern er bedarf der Beauftragung. Die Festlegung solcher amtlicher, offizieller Beauftragung und die Bindung des Amtscharismas an den Ordinationsakt verweisen letztlich darauf, daß das Kriterium der apostolischen Legitimation erfüllt sein muß. In 2 Tim 1,6 ist das festgehalten in der Einsetzung des Timotheus in das Amt durch die Handauflegung seitens des Apostels selbst. Solches ist zwar in diesen Versen 1 Tim 4, 12-16 nicht ausdrücklich ausformuliert; es fehlt aber nicht ganz, wie der Hinweis auf die Stellvertreterfunktion in V 13 zeigt. In einen solchen Rahmen des Amtsverständnisses paßt auch die an die Gemeinde gerichtete Mahnung, niemand solle den Gemeindeleiter wegen seines jugendlichen Alters geringschätzen. Ein derartiger Verweis auf die "Jugend" (VEO'tT]<;;) des Timotheus in seiner Funktion als Vorsteher kann zwar auch in einer Situation Anwendung finden, in der aufgrund eines auffälligen Altersunterschiedes etwa zu den Presbytern die Autorität des Episkopos in Frage gestellt erscheinen könnte. Doch insgesamt gesehen ist eine Beschränkung auf das Problem des Altersunterschiedes zwischen dem Gemeindeleiter und älteren Gemeindemitgliedern, insbesondere auch aus dem Kreis der Presbyter, nicht gefordert und auch keineswegs naheliegend. Es geht bei der vorliegenden vergleichenden Gegenüberstellung von Gemeindeleiter und Gemeindemitgliedern um etwas Grundsätzliches, und das wird an dem Beispiel des Altersunterschiedes veranschaulicht. Entscheidend ist die Frage, ob der Gemeindeleiter die Legitimität seiner Amtsstellung, der ihm übergebenen Amtsgnade, positiv begründen 213
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kann oder muß; bzw. passender negativ formuliert: Darf ein Mangel, wie ihn etwa ein beträchtlicher Altersunterschied darstellen kann (es wäre als eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen eine Kluft in der sozialen Stellung), als eine Beeinträchtigung des Amtes bzw. von dessen Träger angesehen werden? Unser Text gibt die Antwort: Die Autorität des Vorstehers gründet in der ihm übertragenen Amtsgnade ; die die Ordination in Wort und Handauflegung vollziehenden Presbyter sind Mittler der von Gott "gegebenen" Charismas. Damit verknüpft ist dann aber die Forderung, daß der Inhaber des Leitungsamtes durch ein "vorbildliches" Leben (er ist 'tunoe;: V 12b) dafür Sorge zu tragen hat, daß er sich dieser Erwählung als würdig erweist. Mit der Übertragung des Amtes muß ein "sichtbares Voranschreiten" (npoKOnT] <pavepa V 15c) in allen ihm auferlegten Pflichten einhergehen, im Leben wie im Glauben (V 12b), in der Verwaltung des Gemeindedienstes (V 13) wie in der Treue zur Lehre (V 16a). Solches Verhalten wird jedoch nicht eingefordert im Sinne der Begründung des Amtes, sondern als Nachweis der Bewährung im Amt und als Zeichen der Bewahrung der Amtsgnade. Die Notwendigkeit dieser Differenzierung wird bestätigt durch den Hinweis auf die abschließend in V 16 genannte, letztlich entscheidende Funktion des Inhabers der Gemeindeleitung : Er wird sich und die anderen, die auf ihn hören, retten. Angesichts des theologischen Profils des Stichwortes (JffiTIjp in den Past ist es schlechthin undenkbar, daß der Verfasser bei dieser Aussage nicht auch diese theologische Grundbedeutung des Handeins Gottes mit im Blick hatte. Dem Gemeindeleiter wird die Aufgabe zugesprochen, als "Mittler" der von Gott geschenkten und in Jesus Christus offenbarten (Jffi'tT)pia zu wirken. Damit sind zwei auf den ersten Blick gegensätzliche, letztlich aber doch innerlich zusammengehörige Bestimmungen für das Gemeindeleiteramt gegeben. (1) Das Ziel allen Handeins des Gemeindeleiters liegt in der Vermittlung des Heiles, der (Jffi'tT]pia, die, wie schon des öfteren betont, nur als freies und unverdienbares Geschenk Gottes zu sehen ist; und deshalb ist das Charisma des Amtsträgers, seine "Amtsgnade", grundsätzlich zu bewerten als Ausdruck einer Dienstfunktion, die ganz und ausschließlich von Gott her definiert wird. Wo diese Bindung und diese Bedingung vergessen werden bzw. in ihrem bestimmenden Charakter nicht mehr deutlich sind, da verliert das Amt seine theologische Legitimation, mag es auch formal und vordergründig-faktisch weiterhin Bestand haben. (2) Mit der Hinordnung auf die Heilsvermittlung wird dem Amt die letztlich entscheidende Begründung und Legitimation gegeben. Wie "Paulus" sich im Anschluß an das Credo 2,4-6 als (von Gott beauftragter) "Verkünder und Apostel" vorgestellt hat (2,7), so wird der Gemeindeleiter als von Gott eingesetztes Werkzeug der Vermittlung seines Heiles angesprochen. Man kann also sagen, daß der zentrale Hinweis auf die Legitimität des in der apostolischen Nachfolge stehenden Gemeindeleiters, mag er auch nicht in allem, etwa in seinem Alter, dem Ideal entsprechen, darin liegt, 214
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daß Gott durch ihn sein Heil schenkt. Gerade diese soteriologische Grundlegung des Amtes impliziert wiederum als Bedingung die Bindung an den Apostel und an die in der Kirche bewahrte apostolische Tradition. LITERATUR: A. EHRHARDT, Jewish and Christian Ordination: The Framework ofthe New Testament Stories (Manchester 1964) 132-150; E. FERGUSON, Laying on ofHands: Its Significance in Ordination: JThS 26 (1975) 1-12; O. HOFIUS, Zur Auslegungsgeschichte von 1tpEoßu,i;ptOV 1 Tim 4, 14: ZNW 62 (1971) 128 f; K. HRUBY, La notion d'ordination dans la tradition juive: MD 102 (1970) 30-56; J. JEREMIAS, IIPE:EBYTEPION außerchristlich bezeugt: ZNW 48 (1957) 127-132; DERS., Zur Datierung der Pastoralbriefe: Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte (Göttingen 1966) 314-316; G. KRETSCHMAR, Die Ordination im frühen Christentum: FZPhTh 22 (1975) 35--69; H. MANTEL, Ordination and Appointment in the Period of the Temple: HThR 57 (1964) 325-346.
b) Der rechte Umgang mit verschiedenen Altersstufen (5,1-2)
Einen älteren Mann sollst du nicht grob anfahren, vielmehr ermahne ihn wie einen Vater, jüngere Männer wie Brüder, 2 ältere Frauen wie Mütter, jüngere wie Schwestern in aller Lauterkeit.
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In Entsprechung zu der an die Gemeinden gerichteten Mahnung von 4, 12 mit der Bezugnahme auf eine mögliche Beeinträchtigung der Stellung des Gemeindeleiters durch ein biographisches Defizit, mangelndes Alter und vielleicht fehlende Erfahrung und Reife, folgen jetzt Anweisungen an den Gemeindevorsteher für seinen Umgang mit verschiedenen Personen- und Altersgruppen in den Gemeinden. Im Hintergrund steht weiterhin das Autoritätsgefälle zwischen dem Gemeindevorsteher und den Gemeindemitgliedern. Der Vorsteher hat der ihm übertragenen Leitungsaufgabe gerecht zu werden; doch er darf diese Position nicht ausnützen. Wie er einerseits ermahnt wurde, die ihm übertragene Gnadengabe, d. h. die Leitung der Gemeinde (4, 14), nicht zu vernachlässigen, so wird er jetzt in bezug auf einige Personengruppen darauf hingewiesen, in welcher Weise er dieser Aufgabe gerecht zu werden hat. Das Bild vom "jungen" Amtsträger (vgl. 4,12) ist beibehalten. Davon ausgehend werden die unterschiedlichen Beschreibungen der Beziehung zu den Gruppen in den Gemeinden entwickelt. Die Aussagen bleiben allerdings so sehr im allgemeinen, daß der Rückschluß auf konkrete Probleme recht gewagt erscheint 1. Zudem hat die Mahnung durchaus eine autoritätsbejahende und -verstärkende Seite. Die Vollmacht des "Ermahnens" (nupuKuAELV), welche der "Apostel" selbst geltend gemacht hatte sowohl gegenüber seinem Nachfolger (1,3) als auch gegenüber den Gemeinden (2,1), die hat der Nachfolger des Apostels nun auch selbst auszuüben, und zwar mit je unterschiedlicher Akzentuierung im Blick auf die So meint F. J. SCHIERSE, Past 66, es habe "vermutlich schon damals Fälle von Amtsanmaßung und übersteigertem Autoritätsbewußtsein" gegeben.
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I Tim 4, 12 - 6,2
betroffenen Personen (napaKaAEt:vzur Charakterisierung des Leiters der Gemeinden außerdem 6,2; 2 Tim 4,2; Tit 1,9; 2,6.15). Die dafür gewählte Unterscheidung nach Altersgruppen entspricht "einem Schema populärer Moralphilosophie" 2. Die Aufteilung und die ausgewählten Beschreibungen der Beziehungen zwischen dem Vorsteher und den ihm Anvertrauten orientieren sich an der in 3, 15 zur Veranschaulichung gewählten Vorstellung der Ordnung der Kirche als "Haus des lebendigen Gottes". Das Modell der Paränese in diesen beiden Versen folgt der Konzeption der Gemeindeleiterparänese an früherer Stelle; auch Episkopos und Diakone müssen ihre Tauglichkeit für Gemeindedienste unter Beweis stellen durch ihre Bewährung "im Haus" (3,4f; 3,12). In Entsprechung zu dieser neuen Wirklichkeit der Kirche wird nun die Autorität nicht mehr nach dem Alter beurteilt (vgl. 4, 12!), sondern nach dem zur Leitung befähigenden Charisma. Die Ordnung im "Haus der Kirche" findet ihre neue Bestimmung vom Gemeindeleiter und seiner Autorität her. 11
I Der Begriff npEcrß(l'tEPO~ bezeichnet hier nicht die Amtsperson, sondern steht für die Gruppe der zur Gemeinde zählenden älteren Männer. Ihre Nennung an erster Stelle resultiert aus dem altersbedingten Ansehen sowohl in der Familie als auch in der Öffentlichkeit 3. Die Autorität des Vorstehers und seine Vollmacht in dem ihm übertragenen Amt haben Gültigkeit gegenüber allen Altersstufen; die Inanspruchnahme dieser Funktion aber muß in Rücksichtnahme auf die Personen erfolgen. Den älteren Männern gegenüber ist dieselbe Haltung angebracht, die von einem Sohn seinem Vater gegenüber verlangt wird. Es wird damit nicht die Vollmacht des Gemeindevorstehers geschmälert oder gar außer Kraft gesetzt, und deshalb ist es auch nicht berechtigt, das napaKaAeiv einseitig zu deuten als "Aufforderung zum Zurechthelfen und Trösten"4; es geht vielmehr um die Fonn und um den Weg, wie der Vorsteher den ihm übergebenen Auftrag auch gegenüber den Männern durchzusetzen hat, die aufgrund ihres Alters eigentlich dazu bestimmt sind, den jüngeren mit Rat und Weisung zur Seite zu stehen. Ausgeschlossen muß sein, so die Forderung, ein "scharfes Anfahren", ein "Tadeln". Das Verbum E1ltllA.i)crcrEtv ist Hapaxlegomenon im NT; dessen Verständnis ist bestimmt durch die Gegenüberstellung zu llapoxa"-eiv. Wenn aber llapaKaA.Eiv (mahnen) die positive Alternative zu E1ltllA.i)crcrEtv ist, dann ist klar, daß nicht die Ausübung der Amtsvollmacht des Vorstehers den "Alten" gegenüber beschnitten werden soll; es geht "nur" um die Form der Amtsausübung. Das bedeutet aber, daß es nicht ausschließlich um "die Alten" geht. Die in V I gegebene Bestimmung zur Durchführung und zur Handhabung des Leitungsamtes gilt folglich gegenüber allen Gruppen. Wie bei llapaKa"-eiv sind auch bei E1ltnA.i)crcrEtv die anderen AltersM. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 57, mit Belegen. Hier ist die sowohl aus der alttestamentlichen Tradition als auch in der jüdischen Umwelt geläufige Hochschätzung des Alters zu bedenken; vgl. Spr 23,22; Sir 8,6.9. 4 So die Auslegung bei G. HOLTZ, Past 113. 2 J
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I Tim 5,1-12
gruppen entsprechend mit eingeschlossen. Die Unterschiedlichkeit ist nur gradueller Art, entsprechend Alter und Geschlecht, nicht aber grundsätzlicher Art. Es wird eine Inanspruchnahme der Autorität des Amtes zurückgewiesen, welche im Rahmen der (durchaus berechtigten und geforderten) Durchsetzung dieser Autorität die Überlegenheit und das Recht zum Maßstab des Handeins macht, nicht aber die Verantwortung. Während in smnÄ:f}crcrEw die Auseinandersetzung prägend ist, führt das Bild von der Familie - der Vater wird hier allerdings nicht in der Stellung des Familienvorstandes eingeführt, sondern aus der Sicht des Sohnes das Miteinander ein, welches das Handeln des Vorstehers leiten muß.
Da es also letztlich nicht um die Frage des Alters der in der Gemeinde Lebenden geht oder um die Hervorhebung der Beziehung des Gemeindeleiters zu einer bestimmten Gruppe, deshalb kann der Verfasser gleich im Bild bleiben und bei der Nennung der jüngeren Männer die Form der Amtsausübung mit seinem Verhalten gegenüber "Brüdern" charakterisieren. Eine negative Übersetzung dieser Weisung in dem Sinne, daß das Amt die brüderliche Gemeinschaft nicht verhindern dürfe s, erscheint aber zu zurückhaltend. Die rechte Ausübung des Amtes verlangt vom Vorsteher eine Einstellung, die der Verantwortung entspricht, welche Familienmitglieder in ihrem Miteinander haben; und dabei muß das Ziel mehr sein als bloße Vermeidung etwaiger die Gemeinschaft störender Verhaltensweisen. 2 Hier wird die Linie der Interpretation des Tuns des Gemeindeleiters noch weiter ausgezogen, ohne daß sachlich neue Gesichtspunkte eingeführt würden. Die Nennung der "älteren" und ,jungen Frauen", dem Amtsträger in seiner leitenden und bestimmenden Funktion noch unter dem Einfluß des Bildes vom "Haus" als "Mütter" und "Schwestern" zugeordnet, unterstreicht lediglich das in V I Gesagte. Der Hinweis auf die "Lauterkeit" bezieht sich, wie aus der Wortstellung zu ersehen ist, auf das Verhalten gegenüber jüngeren Frauen; im Blick auf sie sieht der Verfasser die Gefahr einer zu großen Vertraulichkeit. Eine exklusive Zuordnung des Begriffes ayvEta auf die Beziehung des Gemeindeleiters zu den jüngeren Frauen und damit eine Festlegung auf das engere Verständnis von "Keuschheit" würde der grundsätzlichen Ausrichtung der Mahnungen jedoch widersprechen. III
Der Grund für diese Ergänzungen zu den bisherigen Ausführungen zu Stellung und Aufgabe des Gemeindeleiters wie auch zur Verwaltung des ~tes mag in konkreten Erfahrungen liegen, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Geineindemitgliedern und dem Gemeindeleiter schon belastet haben. Solche denkbare Aktualität, etwa auch die schon genannte "Amtsanmaßung", sollte jedoch den Blick nicht verstellen für die auch an dieser Stelle , Vgl. N.
BROX,
Past 184.
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1 Tim 4,12 - 6,2
erkennbare Absicht des Verfassers, paradigmatisch darzustellen, wie der Amtsträger den ihm übertragenen Auftrag und seine Vollmacht auszuüben hat. Die Regeln für das Verhalten des Vorstehers den ihm Anvertrauten gegenüber sind zu sehen vor dem Hintergrund der voranstehend (in 4,12-16) definierten Verantwortung. Und es ging bereits dort nicht in erster Linie darum, wie die Untergebenen sich verhalten müssen; es ging vielmehr um die Beschreibung des Verhaltens des Leiters und die Darstellung der mit seinem Amt verknüpften Anforderungen. Dieser Aspekt der mit dem Amt übertragenen Verpflichtungen wird in den bei den Versen von den betroffenen Gemeindemitgliedern her expliziert. Die genannten Verhaltensweisen des Vorstehers, sein Umgang mit den Untergebenen, liefern die Kriterien für die Beurteilung seiner Amtsführung. Ausgangspunkt der Beschreibung der Beziehungen aller Gruppen in den Gemeinden zum Vorsteher ist dessen leitende Stellung. Als Träger des Amtscharismas kann er in der Ausübung dieser Funktion der Gemeindeleitung nicht als gleichwertiges und gleichrangiges Gemeindemitglied gesehen werden; er steht wegen des ihm gegebenen Charismas (V 14) über der Gemeinde. Gerade die Tatsache, daß er dieses sein Amt "im Auftrag Gottes" ausübt (vgl. 4,14: tö68rj), gibt ihm diese besondere, exponierte Stellung 6 • Bei aller Sorgfalt und Rücksichtnahme in der Ausübung seines Dienstes - an der grundsätzlich gültigen Ordnung der Gemeinde mit der Stellung des Vorstehers über allen anderen läßt der Verfasser keinen Zweifel aufkommen. Um die Festigung dieser Position des Gemeindeleiters geht es ihm ja letzten Endes 7. Wenn der Vorsteher in Betrachtung der vorgestellten Rücksichten sein Verhalten zu den Gemeindemitgliedern regelt, dann festigt dies seine Position, und dann ist das auch zum Wohl der Gemeinde und der Kirche. Das Ziel und die Aufgabe aber sind und bleiben für den Vorsteher, dafür zu sorgen, daß er den ihm qua Amt aufgegebenen Pflichten so effektiv wie möglich gerecht zu werden sucht. Es trifft zwar zu, daß die Past "keine Mystifizierung des kirchlichen Amtes kennen" g; doch ist für sie das Wesen der Kirche untrennbar mit dem Amt verknüpft. Es ist diese Struktur der Gemeinde und der Kirche ja nicht menschliche Erfindung, sondern sie ist Bestandteil der Vermittlung des in Jesus Christus offenbarten Heilswil-
, Anders J. ROLOFF, 1 Tim 262; der Träger dieses Amtes, verstanden als "ein besonderer Dienst, der im Auftrag Gottes an der Gemeinde geschieht", stehe "mitten in der Gemeinde, nicht über ihr". 7 Die von F. J. SCHIERSE, Past 67, in diesem Zusammenhang geäußerte Meinung zur Zielsetzung der Past, es gehe darum, "Obrigkeits- und Autoritätsverhältnisse zu ,humanisieren' ", der Gemeind"eleiter solle "allen Gläubigen in ungezwungener Menschlichkeit begegnen und nicht meinen, er sei auf Grund seines Amtscharismas (4, 14) eine Art überirdischen Wesens, zu dem alle anderen hinaufschauen müßten", erscheint zu harmonistisch und ignoriert die Eindeutigkeit der Überordnung des Gemeindeleiters über der Gemeinde. 8 F. J. SCHIERSE, Past 67.
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1 Tim 5,3-16
lens Gottes an alle Menschen, hat also soteriologischen Stellenwert. Theologisch entschiedener läßt sie sich eigentlich nicht mehr begründen. LITERATUR: C. BURINI, Les "vieillards", "nos parents" dans l'Eglise de Dieu - 1 Tm 5,1-2: Paul de Tarse. Apötre de notre temps (hrsg. v. L. de Lorenzi) (Rom 1979) 697-720; C. SPICQ, La pI ace ou le röle desjeunes dans certaines communautes neotesta· mentaires : RB 76 (1969) 508-527.
c) Der Stand der Witwen (5,3-16)
Ehre (die) Witwen, die wirklich Witwen sind. 4 Wenn eine Witwe aber Kinder oder Enkel hat, sollen die zuerst lernen, dem eigenen Haus Ehrfurcht zu erweisen und den Vorfahren Dank abzustatten; denn das ist wohlgefällig vor Gott. 5 Die wirkliche Witwe und allein Gebliebene hat ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und verharrt in Bitten und Gebeten bei Nacht und bei Tag; 6 die aber ein ausschweifendes Lebenführt, ist lebendig (schon) tot. 7 Auch dies schärfe ein, damit sie untadelig sind. 8 Wenn aber jemand für seine Angehörigen und insbesondere die dem gleichen Haushalt Angehörenden nicht sorgt, dann hat er den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger. 9 Als Witwe soll (nur) die eingetragen werden, die nicht unter 60 Jahre alt ist, nur eines Mannes Frau war, 10 in guten Werken ausgewiesen ist; wenn sie Kinder aufgezogen hat, wenn sie Fremde gastlich aufgenommen hat, wenn sie den Heiligen die Füße gewaschen hat, wenn sie Bedrängten beigestanden hat, wenn sie jedem guten Werke nachgegangen ist. 11 Jüngere Witwen aber weise zurück; denn wenn sie von Christus weg ihren Begierden nachgeben. dann wollen sie heiraten 12 und ziehen sich (so) die Verurteilung zu, weil sie die erste Treue gebrochen haben. 13 Zugleich lernen sie auch, untätig zu sein I , indem sie in den Häusern herumlaufen, dabei aber nicht nur untätig, sondern auch geschwätzig und neugierig sind und Unschickliches reden. 14 Ich will deshalb, daß die jüngeren heiraten, Kinder gebären, das Haus verwalten und dem Widersacher keinerlei Anlaß zu böser Nachrede geben. 15 Einige sind nämlich schon abgefallen zur Gefolgschaft Satans. 16 Wenn eine gläubige Frau Witwen (bei sich im Haus) hat, soll siefür sie sorgen, und die Gemeinde soll nicht belastet werden, damit sie für die sorgen kann, die wirklich Witwen sind. 3
I
Der Abschnitt ist als zusammengehörende Einheit zu betrachten. In ihm entfaltet der Autor unter Zuhilfenahme traditioneller und z. T. schon anderweitig verwendeter Regeln ein Bild von der zur christlichen Gemeinde zählenden Witwe, für die deshalb, weil sie zusätzlich zu ihrer Lebenssitua1 Hinter apyai (lwv9avoucnv) ist zu ergänzen dVUl bzw. ~iiV. Vgl. B.-D. REHKOPF, Grammatik § 416, 12; W. BAUER, WB S. v. ~av9av(j); M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 60.
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1 Tim 4,12 - 6,2
tion eine Reihe von Bedingungen erfüllt, die Anerkennung als "wirkliche" Witwe ausgesprochen werden kann. Eine konkretisierende Festlegung von Umfang und Form der von den Past übernommenen Anordnungen und Regelungen erscheint nicht nur schwer durchführbar, sondern ist für das Verständnis der hier vorliegenden Komposition auch wenig aussagekräftig; denn das präsentierte Bild von der Witwe bzw. vom Witwenstand ist ein Spezifikum der Past und bedarf einer aus der kirchlichen und geschichtlichen Situation dieser Schreiben begründeten Erklärung und Auslegung. Die Anordnungen sind zum einen zu sehen auf dem Hintergrund der Lage der Witwen in der antiken Gesellschaft'. Ihre soziale Notlage führte dazu, daß sie (häufig zusammen mit den Waisen genannt) durch eigene gesetzliche Vorschriften geschützt wurden (vgl. Ex 22,21; Dtn 24,17.19-21; Jer 22,3) und in besonderer Weise unter dem Schutz Gottes stehend galten (vgl. Dtn 10, 18; Ps 68,6; Ez 22,6-8). Diese Überzeugung von der Parteilichkeit Jahwes zugunsten der Witwen blieb in der jüdischen Tradition ebenso lebendig (vgl. Sir 35,17) wie das Bewußtsein um die Verpflichtung zur Unterstützung dieser Personengruppe (2 Makk 8,28). Daß sich dann auch die christliche Gemeinde in Jerusalem mit diesem Problem der Witwenversorgung konfrontiert sah, dafür ist die Apg 6, 1-6 festgehaltene innergemeindliche Diskussion ein Beleg. Die Probleme haben sich inzwischen im Laufe der Entwicklung der Gemeinden verlagert. Zwar bleibt die Frage nach der sozialen Absicherung weiterhin aktuell, und sie spielt in diesem Text 1 Tim 5,3-16 eine nicht unerhebliche Rolle; da die Witwen jetzt aber als ein eigener Stand 3 anerkannt sind, mit besonderen Rechten und Pflichten, und sich aktiv am Gemeindeleben beteiligen, gilt es, ihre Stellung in der Gemeinde entsprechend der Vorstellung des pastoralen Paulus zu präzisieren. Die Ausbildung eines eigenen Witwenstandes, wie ihn wenig später Ignatius von Antiochien (Smyrn. 13, I; Polyc. 4,1) und Polykarp (ep. 4,3) bezeugen, ist sicher nicht vorauszusetzen für die Frühzeit der christlichen Gemeinden mit der stark eschatologischen Ausrichtung, sondern ist, in Entsprechung zur Entfaltung gemeindlicher Strukturen und der Ausbildung spezifischer Ämter, erst anzusetzen "in der Zeit der Konsolidierung der Gemeinde in der Welf". Im Blick auf die Entstehung des Witwenstandes 5 ist weiterhin zu bedenken: Im Unterschied zu den Ämtern, die sich aufgrund der veränderten Bedingungen in den christlichen Gemeinden entwickelt haben, ist bei der Entstehung des Standes der Witwen der Ausgangspunkt primär nicht ein Bedürfnis der Gemeinde; vielmehr tritt die Witwe - zumindest im allgemeinen und betont in der vorausgesetzten , Vgl. dazu J. MÜLLER-BARDORFF, BHH 3, 2177 f, und J. ROLoFF, I Tim 285; sowie P. S. HlEBERT, Biblical Widow (mit Blick auf vergleichbare Zeugnisse aus der Umwelt des An, und B. B. THURsToN, Widows 9-17. 3 Zur Entwicklungsgeschichte J. ROLOFF, I Tim 285 f. Die Erklärung, die von der Gemeinde versorgten Witwen hätten "zum Dank dafür" bestimmte Funktionen und Aufgaben übernommen (a. a. 0.285), kann zumindest für einen Teil der Witwen, insbesondere in den Anfängen der Entstehung dieses Standes, eine Rolle gespielt haben. , M. DIBELIUs - H. CONZELMANN, Past 58. 5 Dazu H.-W. BARTSCH, Anfänge 113 f. Von einem "Witwenamt" zu sprechen (H. v. LIPS, Glaube 118 f; vgl. auch J. JEREMIAS, Past 37: die Witwen als" Trägerinnen eines Amtes") erscheint dagegen angesichts des schmalen literarischen Befundes problematisch. ~
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I Tim 5,3-16 Situation - der Gemeinde als von deren Fürsorge und Hilfe abhängige Person gegenüber. Der Stand der Witwen wird konstituiert durch die gemeinsame Lebenssituation einer bestimmten Personengruppe und die daraus resultierende Bedürftigkeit auf der einen Seite, und die Selbstverpflichtung der Gemeinschaft auf der anderen Seite, aufgrund des gemeinsamen Glaubens als christliche Gemeinde für diese Witwen zu sorgen. Daraus ergibt sich umgekehrt der Anspruch der Gemeinde bzw. von deren Leitern, sowohl über die Zugehörigkeit zu diesem Stand mitzubestimmen als auch über die innergemeindliche Stellung dieser Witwen zu entscheiden. Mit dem "Übergang von der Liebespflicht des einzelnen in eine von der Gemeinde geregelte Fürsorge" mit institutionellem Charakter bekommt die Witwe im Gemeindeleben ein besonderes Profil". Angesichts dieser Regelung der Versorgung der Witwen durch die Gemeinde und des Anspruchs von seiten dieser Gemeinde, daß dieser anerkannte Stand der Witwen bestimmten Anforderungen entsprechen muß, ist die Frage nach der "Gegenleistung" durchaus angebracht'.
Für das Verständnis der von den Past formulierten Regeln.ist die spezifische Art der Beziehung auch unter dem Aspekt der Gegenseitigkeit zu bedenken. Und doch ist auch in dieser Hinsicht eine eindeutige Festlegung und dauerhafte Regelung schon deshalb nicht zu erwarten, weil die nicht-amtliche Funktion dieses Standes und die letztlich nicht von der Gemeinde her zu bestimmende Zusammensetzung - ihr ist als die einzige Entscheidungsmöglichkeit das Veto gegen die Aufnahme einer "Kandidatin" gegeben - eine genau begrenzbare Aufgabenbeschreibung gar nicht zulassen. Auch die vorliegenden Anweisungen der Past zu den Witwen sind getragen von dem Anliegen, mit bestimmten Maßnahmen in die Zusammensetzung dieser Gruppe der Witwen einzuwirken und von ihnen besondere Verhaltensweisen einzufordern 8. Die Einbindung in den Gemeindedienst ist einmal zu sehen in der Gebetsverpflichtung (vgl. V 5), sodann in der Übernahme sozialer Aufgaben (V 10). Die karitative Akzentuierung legte sich schon nahe aus der Entstehung dieses christlichen Standes, wobei der Anspruch auf eigene Unterstützung mit einer entsprechenden Verpflichtung verknüpft werden konnte. Sowohl literarisch als auch thematisch ist der Text als Einheit zu sehen. Es geht um das "Problem" der "wirklichen" Witwe (V 3) 9. Eine deutliche Zäsur liegt zwischen V 8 und V 9. Während im ersten Teil die Bedingun" Vgl. H.-W. BARTSCH, Anfänge 114. Allerdings geht Bartsch zu weit, wenn er schreibt, die Witwe habe bereits wegen dieser von der Gemeinde geregelten Fürsorge für die Gemeinde "die gleiche Bedeutung wie ein Amtsträger". 7 Vgl. H.-W. BARTSCH, Anfänge 114. 8 Vgl. N. BROX, Past 186; auch V. HASLER, Past 40f: "Die negativen Abgrenzungen erlauben keinen Aufschluß über den Aufgabenbereich, den die im Gemeindewitwenstand verbleibenden Frauen im Einzelnen zu erfüllen haben. Von einem eigentlichen Witwenspiegel, der die Pflichten und die Tugenden der Witwen aufzählen müßte, kann keine Rede sein. Durchgehender Gesichtspunkt der Anweisungen bleibt vielmehr die Aufhebung des herrschenden Mißstandes durch eine geregelte Versorgung aller Witwen in der Gemeinde ... " 9 Treffend überschreibt A. T. HANSON, Past 96, den Text "How to deal with the problem of widows".
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gen genannt sind, die die sozialen Verhältnisse und die Lebensführung der Witwen betreffen (VV 4-8), werden im zweiten Teil (VV 9-15) die Bedingungen entfaltet, die mit dem Alter der betroffenen Frauen verknüpft sind. V 3 bildet dazu eine Art "Überschrift" 10, und V 16 bietet eine Art Resümee mit der für den Autor wichtigen Festlegung der "wirklichen" Witwe nicht auf aktive Mitarbeit, sondern auf die Versorgung durch die Gemeinde 11. In der Komposition schließt der Abschnitt mit V 3 noch unmittelbar an die Mahnungen an, die dem Gemeindeleiter für sein Verhalten den verschiedenen Altersgruppen gegenüber mit entsprechender Veranschaulichung (5,1 f) geboten werden. Mit der Einführung des Stichwortes X1lpa wird dann jedoch das ganze Interesse darauf ausgerichtet, die Stellung der Witwen und ihr Leben in der Gemeinde zu charakterisieren. Der Akzent liegt nun nicht mehr auf der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Gemeindeleiter und verschiedenen Gruppierungen, sondern jetzt geht es um die Klärung der Frage, wer gemeint ist, wenn von "Witwe" gesprochen wird. Während in den VV 1.2 das seelsorgerlich-pastorale Moment bestimmend war, rückt jetzt das rechtlich-normierende Interesse in den Vordergrund 12. Auch wenn die Gesamtgemeinde im Verhältnis zu der Gruppe der Witwen weiterhin angesprochen ist, so wird doch die Verantwortung des Gemeindeleiters in der Person des Timotheus nicht aus dem Blick verloren; sein Auftrag steht in direktem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Bestimmungen, die den Witwenstand betreffen. Die Grenzen zwischen Gemeindeleiterparänese und Mahnungen an die ihm unterstellten Gläubigen gehen ineinander über. Dem schon angesprochenen rechtlich-pragmatischen Gefälle entspricht die deutlich restriktive Ausrichtung. Die verschiedenen Anweisungen lassen erkennen, daß die Past in bezug auf den Stand der Witwen einschneidende Korrekturen fordern: mit Anfragen bzw. Forderungen an die soziale Bedürftigkeit, mit der Überprüfung der Würdigkeit, mit der Festlegung der Altersgrenze und schließlich mit recht globalen Verdächtigungen gegenüber jüngeren Witwen. 11 3 In Fortführung der bisherigen Konzentration auf das Verhalten und die Pflichten des Gemeindeleiters wird dieser erneut angesprochen. Bei aller Unterschi.;dlichkeit zu den bei den vorangehenden Versen liegt hierin eine grundsätzliche Gemeinsamkeit, die später auch für das Verständnis von 'tt~tiv Berücksichtigung finden muß.
10 Vgl. auch J. MÜLLER-BARDORFF, Exegese 114; H.-W. BARTSCH, Anfänge 117; J. ERNST, WitwenregeI434-436. 11 Vgl. J. M. BASSLER, Widow's Tale 33, EnapKEtv V 16b korrespondiere dem 'ttJ.lav in V 3. Ebenso J. MÜLLER-BARDORFF, Exegese 115 f, mit dem Hinweis, daß .. in dem ab· schließenden Satz V 16b" die .. Tendenz der Reduzierung der Unterhaltspflicht auf die öv't(J}~ xii pm zu erkennen ist. 12 Vgl. auch J. ROLOFF, I Tim 283.
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I Tim 5,3-16 Der weiterhin bestimmende Vorstellungs hintergrund ist das Bild vom "Haus Gottes". Mit der dem Gemeindeleiter aufgetragenen Regelung des Verhältnisses der Witwen zur Gemeinde konnte einerseits dessen Autorität erneut unter Beweis gestellt werden. Andererseits bot sich damit die (im folgenden vom Verfasser auch genutzte) Möglichkeit, diesen Stand der Witwen unter den Anspruch der Gesamtkirche einzuordnen.
Die beiden Aspekte - der Gemeindeleiter und sein Verhältnis zur Gemeinde sowie die inneren Bedingungen des Witwenstandes - werden gleich in V 3 angesprochen. Die Ermahnung an den Gemeindeleiter, "ehre Witwen", ist eine Forderung, die die Art und Weise seines Umgangs mit diesen Frauen betrifft. Die Ergänzung "und zwar die, die wirklich Witwen sind", erscheint jedoch gleich wie eine Einschränkung. Da der Verfasser im folgenden immer bemüht ist, Kriterien für eine Differenzierung in der Beurteilung der Witwen zu benennen, um so die angesprochene Gruppe, deren Charakteristikum mehr sein muß als der Verlust des Ehepartners, in ihrer Funktion und Stellung im Rahmen der Gemeinde zu beschreiben, ist diese Ergänzung mit ÖVTWC; X11PaC; deutlich als Auftrag zu verstehen, aus dem größeren, auf den ersten Blick eindeutig zu bestimmenden Personenkreis anhand anderer Kriterien eine Auswahl zu treffen. Es wird im folgenden genauer beschrieben und damit auch als Vollmacht des Vorstehers ausgewiesen, festzulegen, wer zu diesen "wirklichen Witwen" zu zählen ist. Trotz dieser eindeutigen Konzentration auf den Gemeindeleiter und seine Kompetenzen wird einleitend vom Vorsteher eine ehrerbietige Haltung gegenüber den Witwen gefordert, die in seiner Gemeinde als eigener Stand leben. Eine solche Einstellung ist keineswegs als selbstverständlich vorauszusetzen, v. a. wenn man die soziale Abhängigkeit der Witwen vom Wohlwollen der Gemeinde bzw. begüterter Mitglieder in Betracht zieht. Diese Witwen haben nicht bloß Anrecht auf Mitleid und Almosen; ihnen muß der Gemeind&leiter vielmehr mit Ehrerbietung begegnen. Im Unterschied zu dieser Deutung, die den Gemeindeleiter neben seiner Vollmacht auch in seiner Verantwortung angesprochen sieht, wird Tt!lUV zumeist in einem spezifischen Sinn verstanden; der Gemeindeleiter werde nicht zu besonderer Ehrerbietung angehalten, die Aufforderung Tl!la meine vielmehr die Verpflichtung zu materieller Fürsorge, zur "Unterstützung" der Witwen 13; oder noch konkreter: es werde hier die Praxis einer regelrechten "Besoldung" bzw. "Honorierung" des Witwendienstes bezeugt 14. Gegen diese einseitige Festlegung des dem Gemeindeleiter aufVgl. J.1EREMIAS, Past 37; V. HAsLER, Past 40. H.-W. BARTSCH, Anfänge 117, sieht in der "Überschrift" V 3 "das zusammengefaßt, was die Gemeinde den Angehörigen des Witwenstandes schuldet einschließlich der Bezahlung" - entsprechend seine Übersetzung von V 3: "Besolde die Witwen ... " (a. a. O. 112; auch bei J. ROLOFF, 1 Tim 282). 14 Vgl. J. ERNST, Witwenregel439: "Die ,Ehrung' drückt sich konkret aus in der entsprechenden Bezahlung." Ähnliche Erklärungen etwa bei J. N. D. KELLY, Past 112f; R. SCHWARZ, Christentum 165; P. DORNIER, Past 88; H. KRAFT, EWNTIII 1117; G. W. KNIGHT, Past 216. Dieser Interpretation schließen sich auch J. MüLLER-BARDoRFF, Ex13
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getragenen Verhaltens auf eine den Leistungen der Witwen entsprechende Bezahlung bzw. Versorgung ist zum einen darauf aufmerksam zu machen, daß diese Aufgabe der materiellen Versorgung die ganze Gemeinde be- . trifft (vgl. V 16: 1i EKKAllcria!); und zum anderen wird der Gemeindeleiter hier wie in den beiden vorangehenden Versen auf sein Verhalten zu verschiedenen Gruppen der Gemeinde angesprochen, in welchem sein Beitrag zum Leben "im Haus Gottes" eingefordert wird 15. Dieser kann nicht durch materielle Leistung allein abgegolten werden. Die Aufgabe der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern ist damit natürlich nicht ausgeschlossen; in dem Imperativ 'rtlLa wird aber mehr und Wichtigeres gefordert als "bloß" materielle Unterstützung. Zeichen des "Ehrens" ist u. a. auch, daß der Gemeindevorsteher sich um die Sicherung einer ausreichenden Lebensgrundlage sorgt 16. Wie bei den Anweisungen zu den verschiedenen Altersgruppen (5, 1 f) der Gemeindevorsteher mit seinem Tun auch die Gemeindemitglieder beeinflussen soll, so gilt dies auch hinsichtlich der Witwen. Die Einstellung und das Verhalten des Gemeindeleiters müssen vorbildhaften und verpflichtenden Charakter für die ganze Gemeinde haben. Aus der Ehrfurcht des Vorstehers und damit auch der Gemeinde, nicht aus der Notlage der Witwen, folgt die Verpflichtung zu sozialer Hilfe 17. So hat die Aufforderung an den Gemeindeleiter, die" wirklichen" Witwen zu ehren, letztendlich auch apologetische Funktion. Das z. T. . doch recht rigorose Vorgehen in den ihm aufgetragenen Entscheidungen steht von vorneherein unter dem Anspruch, daß sein Verhalten ein Zeichen der "Ehrerbietung" gegenüber den "echten" Witwen in den Gemeinden isti 8 • Es ist in diesem Zusammenhang zu verweisen auf 4,14.16, weil dort der entscheidende Anknüpfungspunkt auch für V 3 liegt. Die Dienstfunktion und der hohe Rang des Gemeindeleiters als Mittler des Heilswillens Gotegese 114, und J. ROLOFF, I Tim 287, an, allerdings mit dem Hinweis verbunden, daß der ursprüngliche Sinn von ,[IJlUV dabei noch nicht ganz in Vergessenheit geraten sein muß. J5 Vgl. auch N. BRox, Past 187. 16 So auch H. MERKEL, Past 42. Ebenfalls in dem allgemeineren Sinn der Verpflichtung des Gemeindeleiters zur Unterstützung der wahren, d. h. wirklich bedürftigen Witwe deuten 1:tJlUV C. K. BARRETT, Past 74; D. C. VERNER, Household 161-163; R. M. KrDD, Wealth 103; und PR. H. TOWNER, Goal 183 ("Timao included material assistance but was not ,payment'."). 17 Damit ist auch der Einwand von H. v. LIPS, Glaube 110 Anm. 94, zu entkräften, eine "Beschränkung von Ehrerbietung auf die Gruppe der ÖV,[Ol~ XfjPUI sei" wenig plausibel". Auf dem Hintergrund der, gleich im folgenden durchgeführten Differenzierung mit deutlich wertenden Aussagen erscheint eine solche Einschränkung durchaus sinnvoll. 18 Vgl. A. SAND, Witwenstand 194: Eine Witwe, "die sich ganz Gott zur Verfügung stellt", verdient "Ehre und Anerkennung". Die Begründung dieser Übersetzung mit der sonstigen Verwendung von '[IJlUV/'[IJlT] in den Past (vgl. ebd.) hat gewiß nur eingeschränkte Beweiskraft (vgl. die Kritik bei J. ROLOFF, I Tim 287 Anm. 313); doch gelten vergleichbare Bedenken nicht auch für die geläufige Argumentation, zugunsten des Verständnisses von 1:tJlUV als "Honorar bezahlen" spreche die Parallelität zu V 17? Daß '[1JlUV als "sittliche Hochschätzung" aufzufassen ist, betont schon G. WORLENBERG, Past 170f; ähnlich W. LOCK, Past 57; W. BRANDT, Gut 63.
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tes (vgl. V 16: crfficrEt~) erfordern einerseits das "Hören" derer, die auf diesen Träger des Charismas (4,14) verwiesen sind; diese Funktion begründet aber auch das Postulat, daß der Vorsteher diesen ihm Unterstellten, wie etwa den in einem eigenen Stand zusammengeschlossenen "Gemeindewitwen" 19, mit Ehrfurcht und Ehrerbietung begegnet. 4 Dieser Vers geht gleich über zu praktischen Fragen. Im Mittelpunkt steht das Problem der Versorgung einer Witwe. Dieses Thema wird aber erst einmal behandelt unter dem Aspekt, ob und wie eine solche Versorgung der Witwen außerhalb einer der Gemeinde zufallenden Verpflichtung gesichert werden kann. Der erste Blick richtet sich nicht auf die Gemeinde als Institution, sondern auf die betroffenen Familien. Dazu paßt die im ganzen Abschnitt erkennbare Tendenz, "diesen Stand einzugrenzen, ihn zahlengemäß unter Kontrolle zu halten und dazu die Einlaßkriterien streng festzulegen" 20. Die Kriterien orientieren sich primär an der Bedürftigkeit. Solche Bedürftigkeit wird für den Fall als nicht gegeben angesehen, daß Kinder oder Enkel die soziale Sicherung der Witwe zu gewährleisten in der Lage sind. Die Nachkommen müssen auf ihre Pflicht hingewiesen werden - sie sind Subjekt des I-LUv8aVEw 21 -, die sich aus der Zugehörigkeit zum gemeinsamen Haushalt (OiKO~) ergibt. Wenn in diesem Zusammenhang von EUcrEßEiV gesprochen wird - "fromm leben", "in Frömmigkeit verwalten" -, dann muß darin noch nicht ein spezifisch christlich geprägtes Verständnis angesprochen sein; es ist die Beachtung einer Bestimmung gefordert, die letztlich aus einem Ordnungsdenken ableitbar ist. Allerdings lassen die Past eine derartige Spannung gar nicht aufkommen, da für sie diese Ableistung der Dankesschuld an die Vorfahren zusammenfällt mit der Erfüllung des Willens Gottes. "Die menschlichen Verflechtungen und Verpflichtungen fallen unmittelbar mit dem Anspruch Gottes zusammen ... Der Glaube realisiert sich in den Ordnungen und Pflichten des familiären, bürgerlichen und kirchlichen Lebens" 22. Unterstrichen wird die in dem Bedingungssatz getroffene Bestimmung, die den Anspruch der Witwen auf Versorgung durch die Gemeinde deutlich begrenzen und an bestimmte Bedingungen knüpfen soll, durch die Bekräftigungsforinel "das ist nämlich wohlgefällig vor Gott". In der Verbindung von gemeindeorientierter und sachbezogener Anweisung einerseits und der Legitimierung der Entscheidung im Willen Gottes andererseits zeigt sich erneut ein Grundgedanke der Past; der christlichen Gemeinde muß es um die konkrete Bestimmung des Willens Gottes in der Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 69. . N. BROX, Past 187 f. 21 Vgl. dazu u. a. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 58; N. BROX, Past 188. Die an· dere Auslegungsmöglichkeit, die Witwen als Subjekt zum Verbum J.LaVBavE1;oJ<Jav zu ziehen (wodurch der Übergang vom generischen Singular XTIpa zum Plural als constructio ad sensum zu erklären wäre), paßt weniger gut zur Gesamtintention, die Möglichkeiten der nicht von den Gemeinden zu leistenden Versorgung der Witwen auszuloten. 22 N. BROX, Past 188. 19
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Ordnung der Verhältnisse in ihrer Zeit und unter Berücksichtigung der konkreten geschichtlichen Bedingungen gehen. Die Anerkennung der sozialen Bedingungen etwa des Hauses oder des Staates als gottgewollte Ordnung schließt ein, daß die Abweichung davon auch als Abweichung vom Willen Gottes beurteilt wird. Vielleicht darf man hier sogar ein verstärktes Bemühen des Verfassers sehen, angesichts gewisser Auflösungserscheinungen solcher" weltlicher" Strukturen auch in den christlichen Gemeinden deren Anerkennung und ihre Gültigkeit von Gott her zu untermauern. Es war wohl nicht nur so, daß in dieser Zeit manche Familien mit der Überstellung der Mutter an die "kirchliche Karitas" sich aus der Verantwortung lösen wollten 23. Als entscheidender ist anzusehen, daß mit der aus der Jesustradition und dem Christusglauben erwachsenen neuen Sicht der Welt und ihrer Verhältnisse in der Tat ja auch wichtige Änderungen in manchen Bereichen des Lebens sich vollzogen hatten: etwa in der Einstellung gegenüber Armen und Kranken, in der Wertschätzung von Kindern und Frauen und in der Verantwortung für die in der sozialen Ungesichertheit lebenden Witwen durch die christlichen Gemeinden. Wie die Christen dieser ihrer Verantwortung gerecht werden konnten, das war offen und bedurfte einer an der Gemeindewirklichkeit orientierten Entfal' tung (die Charismenlisten der paulinischen Briefe können ebenfalls schon als ein derartiger Versuch gelten).
Probleme konnten dabei nicht ausbleiben, sobald in diesen Bereichen die Institutionalisierung Platz griff. An die Stelle der unmittelbaren, persönlichen Verantwortung trat eine durch Verfügung entscheidende Obrigkeit. Und erst in einem solchen Stadium wird es möglich, zu differenzieren zwischen xf]pu und ÖVtw<; xf]pu. Die Möglichkeit und zugleich auch die . Notwendigkeit einer derartigen Differenzierung, die sich letztlich nicht mehr an der eigentlich bedeutsamen und zu berücksichtigenden Situation der betroffenen Frauen orientiert, waren mit dem Zeitpunkt gegeben, da sich ein eigener Stand mit besonderen Rechten und Pflichten herausgebildet hatte. Es müssen nun von der Gemeinde bzw. den in ihr verantwortlichen Entscheidungsträgem, welche diesen Witwenstand "verwalten" und gleichzeitig auch für ihn Verantwortung tragen, Kriterien vorgegeben werden, die für diese Gruppe der Witwen den besonderen Status im Rahmen der Gemeinde festlegen. 5 Im Gegensatz zu den negativen Kriterien von V 4 wird jetzt (oe) ausgeführt, was positiv als Kennzeichen der "wirklichen Witwe" gilt. Im Unterschied zu den Möglichkeiten einer familiären und häuslichen Einbindung wird ihr "Alleinsein" betont. Mag auch bei der hier als Ideal vorgestellten Witwe das Moment der bewußten Entscheidung für das weitere Leben ohne ehelichen Partner betont sein, so ist doch die wohl häufige Erfahrung, daß mit dem Verlust des Ehemannes die Frau sozial in Not und Abhängigkeit geriet, nicht einfach ausgeblendet. Bei aller Idealisierung ist 23 Diese von F. J. auszuschließen.
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SCHIERSE,
Past 70, genannte Möglichkeit ist natürlich auch nicht ganz
1 Tim 5,3-16
die soziale Notlage nicht ganz ausgeblendet. Allerdings liegt darauf nicht der Ton. In der Formulierung wird deutlich, daß das Partizip l!El!OVWl!EVTj lediglich eine Näherbestimmung von ÖVtWC; ist; als "wirkliche" Witwe gilt nur die, die allein lebt. Es folgt dann das eigentliche, von der Gemeinde her entwickelte Kriterium für diese Witwe: Ihre ganze Hoffnung ruht auf Gott, und sie widmet ihre ganze Zeit dem Gebet. Dieses ihr vorbildhaft christliche Leben bringt sie zusammen mit dem Alleinsein gewissermaßen als ihr "Guthaben" mit ein in den gemeindlichen Witwenstand. Das beharrliche Gebet bleibt weiterhin (npocrl!EVEt) ihr Kennzeichen. Dieses Gebet ist auch als "die einzige sichere, quasi-amtliche Funktion der Gemeindewitwen zu erkennen" 24. 6 Der Vers führt nun, in der Abfolge der gerade begonnenen Vorstellung der Kennzeichen einer "wirklichen Witwe" etwas überraschend, eine Kontrastgestalt ein, die der ÖVtWC; XTJpa von V 5 gegenübergestellt wird: die Witwe, die ein üppiges, ausschweifendes Leben führt. Es wird dabei in erster Linie an einen Kontrast hinsichtlich der Möglichkeiten, die ein reichliches Vermögen bietet, gedacht sein. Armut, soziale Bedürftigkeit werden zwar noch nicht ausdrücklich als Kriterien der Anerkennung der "echten" Witwen angeführt; doch nach dem Gesamttenor ist die kirchlich anerkannte Gemeindewitwe die, die sich aufgrund ihrer Bedürftigkeit ganz in den Dienst der Gemeinde gestellt hat; deshalb wird auch von dieser bzw. den sie Leitenden über sie verfügt. Zu diesem Ideal paßt die vermögende Witwe mit entsprechendem Selbstbewußtsein nicht. Und diese Tatsache ist dann auch der Grund dafür, daß eine solche Witwe, die weiterhin sorgenfrei zu leben in der Lage ist, als bedauernswert hingestellt wird 25. Gerade das, was ihr Leben demonstrieren soll, nämlich Genuß in vollen Zügen (bzw. allein schon die Möglichkeit dazu!), zeigt, daß sie nicht wirklich lebt. Ihr "Leben" ist Kennzeichen ihres Totseins. Es wird also eine Witwe vorgestellt, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zuerst einmal auf eine materielle Versorgung durch die Gemeinde nicht angewiesen ist. Insofern erfüllt eine solche Frau schon gar nicht die Grundbedingung, um als "wirkliche Witwe" in der Gemeinde Anerkennung zu finden. In dieser Kontrastierung könnte durchaus ein aktuelles Problem der Gemeinden angesprochen sein: Ärmere Witwen suchten aufgrund ihrer Not um Aufnahme in den christlichen Gemeinden nach, während reichere Frauen, auf eine solche Versorgung durch die Gemeinde nicht angewiesen, aus eigenen Mitteln sich ein durchaus befriedigendes Leben leisten konnten. Auf diesem Hintergrund wäre dann auch verständlich, daß die Gemeinde bei dieser Gruppe der Witwen eine gewisse Kontrolle übernehmen mußte. Allerdings bleibt dann weiterhin offen, warum die Past zu diesem Kontrastbild der "ausschweifend lebenden" Witwe greifen. 24 N. BROX, Past 189. 2' Vgl. dazu auch E. SCHÜSSLER FIORENZA, Gedächtnis 377; DIES., Anfänge 80: "Nach dem Verfasser ist also eine echte Witwe nur diejenige, die finanziell total abhängig ist. Deshalb greift er solche Witwen an, denen es gutgeht und die sich ein finanziell sorgenfreies Leben leisten können."
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Deshalb scheint eine weitergehende Überlegung angebracht. Es dreht sich ja im Kontext um die Frage der Anerkennung einer Witwe durch den Vorsteher der Gemeinde. Auf diesem Hintergrund ist denkbar, daß begüterte Witwen sich bereit zeigten, sich in der Gemeinde auch im sozialen Bereich zu engagieren, unter Umständen in der Übernahme der Versorgung verarmter und alleinstehender Witwen (darauf ist noch einmal zu sprechen zu kommen bei V 16). Ihre materielle Unabhängigkeit unterscheidet diese Frauen fundamental von den Witwen, die ganz für die Gemeinde und von der Gemeinde leben. Das hat aber zur Konsequenz, daß die reiche Witwe unter den genannten Bedingungen nur schwer Aufnahme in den Kreis derer finden kann, die als "echte" Witwen anerkannt werden.
Es wird hier schon deutlich, in welchem Sinne die Past ihr Urteil in bezug auf die Witwen als Gemeindemitglieder treffen; sie stellen den Kontrast mit den unterschiedlichen Möglichkeiten einer eigenständigen oder abhängigen sozialen Absicherung in den Vordergrund und verbinden damit ein wertendes Urteil. Man darf etwas scharf formulieren: Die für die Aufnahme in den kirchlich anerkannten Witwen stand geeignete Witwe ist die, die aufgrund ihrer sozialen Notlage nicht frei, sondern abhängig ist, angewiesen auf andere. Auf diese Weise ergibt sich die Beziehung von Nehmen und Geben, wobei beides unter der Obhut und Verfügungsgewalt der Gemeindeautorität bleibt. Wegen dieser eindeutigen Parteinahme ist die negative Qualifizierung der "üppig Lebenden" (ona'taAö'lo'U) im Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit mit Zurückhaltung zu bewerten. Wer ist dann aber diese hier so abschätzig als ona'taAö'lou Bezeichnete? Sie verkörpert den Kontrast zu der dem Ideal der Past entsprechenden Witwe. Es wäre zu einfach, wollte man die Alternative: frommes Leben religiöse Unwahrhaftigkeit, auf die Person der öV'tWC; XTJpa und der ona'tuAö'loa (XTJpa) übertragen 26. Der Stand der Witwen wird ja nach den Past nicht, zumindest nicht vorrangig, unter religiös-ethischem Gesichtspunkt definiert; das negative Urteil und damit der Ausschluß vom Kreis der Witwen, die seitens der Gemeindeleitung Anerkennung finden (mit dem Urteil öV'tWC;), trifft sicher auch die Frauen, die nicht bereit sind, sich den genannten Bedingungen unterzuordnen. Es sei der vorläufige Versuch einer Charakterisierung gewagt: Diese hier als ona'taAö'loa, als ausschweifend lebende Witwe gekennzeichnete Frau ist die sozial gesicherte und damit unabhängige Frau, die mit Selbstbewußtsein das Leben der Gemeinde mitbestimmen und mitgestalten will, die über ihr Tun und Lassen selbst entscheiden kann, die sich auch von einer Gemeindeleitung nicht vorschreiben lassen will, wie sie als Witwe zu leben hat, die als Zeichen ihrer Frömmigkeit weder akzeptiert, allein bleiben zu müssen, noch, daß eine aktive Mitarbeit in der Gemeinde für sie als Witwe ausgeschlossen sein soll und einzig und allein das Gebet und soziales Engagement im Rahmen der vom Vorsteher diktierten Normen 2. In diese Richtung geht die Beschreibung der Gefahren für eine Witwe, die sich um die Aufnahme in den Witwenstand bewirbt, den Anforderungen aber nicht gerecht werden kann, bei J. ROLOFF, 1 Tim 291.
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als die ihr zustehenden Aktivitäten anerkannt werden. Das schließt sie in der Sicht des Autors notwendigerweise vom Stand der Gemeindewitwen, wie er ihn definiert, aus. 7 Dieser Vers erinnert in einem Einschub, der fast wie e'in Gegengewicht zur Aufforderung an den Gemeindeleiter von V 3 ('dj.1a) wirkt, daran, daß für die hier vorgestellte Ordnung des Witwenstandes der Gemeindeleiter Verantwortung trägt. Das wird v. a. von Bedeutung sein für eineabschließende Bewertung des Witwenstandes in der Sicht der Past. Der Anschluß mit der Wendung Kai 'taO'ta umgreift alle bisherigen Aussagen; eine besondere Betonung einer bestimmten Aussage liegt kaum vor. Der eingeschobene Hinweis auf den Vorsteher der Gemeinde, d. h. die direkte Erinnerung an seine Aufgabe, steht wieder im Vordergrund. Deshalb kann auch die angeschlossene Weisung im Rahmen traditioneller Paränese bleiben; "untadelig" zu sein, das war schon als Kennzeichen des Episkopos gefordert worden (3,2), und darauf wird auch "Tirnotheus" später noch einmal verpflichtet (6, 14). Die Aktualität dieser Mahnung ist, von den Witwen her gesehen, sicher nicht höher zu veranschlagen als bei den beiden anderen Belegen. Es kommt wieder die für die Past typische Blickrichtung zum Tragen: eine einwandfreie, von niemandem zu beanstandende Lebensführung gibt der Gemeinde einen guten Stand im Gegenüber zur Umwelt27 • Dabeihat auch diese Mahnung an die Witwen beispielhafte Bedeutung; sie gilt für alle in der Gemeinde. 8 Der schon in V 4 angesprochene Fall der gegenseitigen Verantwortung einer Familien- und Hausgemeinschaft wird "in einer negativen Version" 28 noch einmal aufgegriffen. Die Pflicht zu Sorge und Fürsorge für die Angehörigen, unterstrichen noch durch den Verweis auf die Gemeinsamkeit des Zusammenlebens "im Haus" (oiKetot), erhält eine theologische Untermauerung. Es ist die Situation der christlichen Familien- und Hausgemeinschaft zugrunde gelegt. Auch sie muß immer wieder daran erinnert werden, daß die Pflichten gegenüber den Angehörigen für Christen nicht nur weiterhin Gültigkeit haben, sondern in ganz besonderer Weise als Bewährung ihres Glaubens anzusehen sind 29 • Verfehlung gegen die den Angehörigen geschuldete Liebe ist gleichbedeutend mit Verleugnung des Glaubens. Dieses aus der einheitlichen Sicht von Glaubenswahrheit und Lebenswandel erwachsene Verständnis der sittlichen Verfehlung als Glaubensabfall entspricht dem Grundanliegen der Past, gerade die Bewährung der Christen in den Fragen der Ethik als Bestätigung der Kraft ihres Glaubens aufzuDazu R. SCHWARZ, Christentum 45f.. N. BROX, Past 190. 2. Die Familie ist "der erste und entscheidende Bewährungsort des Christen"; vgl. G. KRETSCHMAR, Glaube 134. 27
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zeigen 30. Die Gewichtung der geltend gemachten Forderung zur Erfüllung der Pflichten im eigenen Haushalt erhält so eine massive Untermauerung. Die abschließende Warnung, daß ein Christ, der seinen Verpflichtungen für Haus und Familie nicht nachkommt, im Vergleich zu einem Ungläubigen schlechter abschneidet, bewegt sich im Rahmen eines solchen weitgespannten Verständnisses von "Glaube". Der umfassenden Gültigkeit dieses Grundsatzes entspricht die allgemein gehaltene Subjektangabe mit Ti<;;. Es ist aber damit zu rechnen, daß im Rahmen des vorliegenden Kontextes in der Intention des Autors dieses Ti<;; zu konkretisieren ist. Von V 4 her ließe sich an eine Erneuerung der Mahnung an die Angehörigen einer Witwe denken. Da aber in den vorangehenden VV 5-7 die Witwe als Verantwortliche in ihrem Verhalten angesprochen war, legt es sich nahe, daß auch in V 8 die Witwe selbst in ihrer Verantwortung für den Bereich von Haus und Familie als Adressatin anzusehen ist. Die Betonung ihrer Verpflichtung auf den Bereich von Haus und Familie entspricht dem schon in 2,11-15 erkennbaren Interesse der Past, die Frauen aus der kirchlichen Öffentlichkeit und insbesondere aus leitenden und verantwortlichen Positionen in der Gemeinde zurückzudrängen und als ihren Ort "das Haus" festzulegen 31. Dazu paßt die zu V 6 vorgeschlagene Interpretation, daß die Kritik an den Witwen, denen die Zulassung zu diesem Stand verweigert wird, darin begründet sein kann, daß ihr Verständnis von den Möglichkeiten und Aufgaben einer Witwe in der Gemeinde und in der Gemeindearbeit nicht harmoniert mit denen unseres Verfassers und seinem Gemeindeverständnis. Dieser restriktive Grundzug findet im nächsten Vers seine Fortsetzung. V 8 zeigt zusammen mit V 4emeut die eigentümliche Verquickung der verschiedenen Ebenen der Paränese. Es ist deutlich, daß es nicht möglich ist, eine Einzelperson oder auch eine Gruppe in der Gemeinde auf die aus dem Glauben erwachsene Verantwortung anzusprechen, ohne Berücksichtigung der Gemeinde als ganzer. Angesprochen ist zuerst der Gemeindeleiter in seiner Verantwortung für die Regelung der die Witwen betreffenden Fragen. In der Darstellung der Details und in der Ausführung der Begründung richten sich dann die Aussagen direkt an die betroffenen Frauen bzw. an die Familien. Letzten Endes werden alle Gemeindemitglieder auf ihre aus dem Glauben erwachsenen pflichten gegenüber der" Welt" hingewiesen.
9 Es kommen in den folgenden Versen wiederum verschiedene Bestimmungen zur Sprache, die als Kriterien für die Zugehörigkeit zu dem Stand der Witwen Anwendung finden sollen. Mit KumMYEtv kann die technische Bedeutung der "Eintragung in Listen" verknüpft werden 32. Ob allerdings für die Situation der Past in den christlichen Gemeinden bereits sowohl eine Art Witwenliste als auch die geläufige Praxis einer offiziell 30 F. J. SCHIERSE, Past 70, trifft sicher einen wichtigen Punkt, wenn er christlichen Glauben in unseren "Briefen" verstanden sieht als "ein humanes Leben in den von Christus wiederhergestellten Ordnungen der Schöpfung". 31 Vgl. auch J. ROLoFF, I Tim 292. 32 Vgl. u. a. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 59; N. BRox, Past 190.
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vorgenommenen Eintragung in dieselben vorauszusetzen ist, erscheint doch fraglich. Die vorliegende Anweisung macht eher den Eindruck eines Ratschlages zu einer Neuordnung der Stellung der Witwen in den Gemeinden. Der Akzent liegt eindeutig darauf, daß für die Zukunft ein vom Gemeindeleiter kontrolliertes Instrument der Regelung der Zugehörigkeit zu diesem Stand der Witwen geschaffen werden soll 33 • Das entspräche genau der Intention der Past, das Gemeindeleben und die gemeindlichen Aktivitäten von der Person des Vorstehers her zu bestimmen. Die Folge einer solchen Art von Institutionalisierung ist dann konsequent, daß der Gemeindeleiter (zusammen mit der Gemeinde?) über Aufnahme bzw. auch Verweigerung der Aufnahme entscheidet (vgl. V 11) und daß die so ausgezeichneten Frauen gegenüber der Gemeinde eine Verpflichtung eingehen (vgl. V 12). Insofern und unter Berücksichtigung der schon (in V 5) genannten und noch (in V 10) zu nennenden Kennzeichen ist diese Art von Witwenstand "in erster Linie" eine "geistliche" Einrichtung 34. Allerdings läßt sich die soziale Komponente dieser Institution nicht davon abtrennen, wie aus der starken Betonung der Verantwortung der Familienmitglieder für die verwitwete Mutter und Großmutter deutlich wird, und wie v. a. auch daraus zu ersehen ist, daß die Frage der nicht zu behebenden Bedürftigkeit unaufgebbares Kriterium der Anerkennung bleibt.
Eine erste Bedingung betrifft das Alter. Die Altersangabe von 60 Jahren hat zuerst einmal eine grundsätzliche Bedeutsamkeit; es galt als der Beginn des Greisenalters 35. Damit verbinden sich gewiß auch praktische Erwägungen, die z. T. mit Erfahrungen mit jüngeren Frauen zusammenhängen mögen. Es ist naheliegend, mit diesem Alter "eine gewisse Gewährleistung der Treue zum Stand" zu verknüpfen 36. Nicht außer acht zu lassen ist schließlich, daß mit dieser Forderung der Kreis der in einer Gemeinde zum Witwenstand Zugelassenen stark eingegrenzt werden konnte und daß die Festlegung dieser Altersgrenze die Möglichkeiten für die Witwen in jeder Hinsicht sehr stark beschneiden mußte, und zwar auch für die, die diese Bedingung erfüllen konnten. Für die nächste Forderung, daß die Witwe "eines Mannes Frau war" (EVO\; av5po\; yuvr]), kann die ähnlich lautende Anweisung sowohl an den Episkopos als auch an die Diakone, mit (nur) "einer Frau" verheiratet zu sein (3,2.12), nicht unberücksichtigt bleiben; es ist aber gleich einschränkend daran zu erinnern, daß auch die dortige FormelllLä\; YUVULKO\; avilP in ihrer Bedeutung umstritten und nicht eindeutig zu klären ist. Die Notwendigkeit einer dazu unterschiedlichen Deutung ist nicht ohne weiteres Vgl. dazu auch den Hinweis bei E. SCHÜSSLER FIORENZA, Gedächtnis 376, daß solche Schriften, "die eine Vorstellung einer derartigen patriarchalen Dynamik erwecken, präskriptiv und nicht deskriptiv sind". 34 So V. HAsLER, Past 41. J. ROLOFF, 1 Tim 293, spricht (im Anschluß an G. STÄHLIN, Tb WNT IX 445) von einer "halb klerikalen Körperschaft"; dieser "religiöse Aspekt" hat jedoch die Bedürftigkeit und eine von der Gemeinde zu erbringende Versorgung der Witwen zur Voraussetzung. 35 Vgl. STRACK-BILLERBECK, Kommentar IU 653. 36 So N. BRox, Past 190f. 3J
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mit dem Hinweis zu begründen, daß Mann und Frau im Judentum einem "unterschiedlichen Eherecht" unterstanden 37. Dieses Argument ist deshalb nicht überzeugend, weil ein juristischer Hintergrund und Zusammenhang nicht gegeben ist und reflektiert wird. Eine zweite Ehe wird zwar in VV llb.12 untersagt und als Bruch eines Treueversprechens bewertet; allerdings gilt dies eindeutig erst für den Fall, daß die Witwe bereits in diesen Stand aufgenommen worden ist und - so ist zu ergänzen - sich vor der Gemeinde bzw. vor deren Repräsentanten auf eine bestimmte Lebensform verpflichtet hat (vgl. V 12). Da auf diese Weise aber doch deutlich unterschieden wird zwischen der Situation der Witwe in einer allgemeinen Zugehörigkeit zur Gemeinde und der spezifischen Anerkennung durch die Eingliederung in diesen Stand, ist es eher unwahrscheinlich, daß die Frage nach einer eventuellen nochmaligen Verheiratung der Frau vor dieser Zeit als bestimmend angesehen wird. Es ist deshalb anzunehmen, daß auch in diesem Kontext (in Entsprechung zu den vergleichbaren Aussagen beim Episkopos und bei den Diakonen) nur ganz allgemein die Bewährung der Witwen in ihrem Eheleben gefordert wird, Treue gegenüber ihrem Mann (etwa auch dergestalt, daß sie sich nicht hat scheiden lassen)l8. Dieses Verständnis entspricht im übrigen auch dem gesamten Abschnitt, speziell in zwei Aspekten: Der Text hebt stark ab auf die sittliche Bewährung der Witwe in ihrem bisherigen Leben und auf ihre Frömmigkeit (VV 5.10); dazu paßt das genannte Verständnis der Forderung entschieden besser. Eine Wiederverheiratung einer jüngeren Witwe wird in V 14 sogar ausdrücklich empfohlen bzw. als notwendig angesehen 39. Die Formel wäre also zu paraphrasieren: eine Frau, die (jeweils) nur mit einem Mann verheiratet war und zusammengelebt hat. Die durch den Gesamtkontext bedingte Einschätzung einer Zweitehe gilt es zu berücksichtigen. Das Ideal der unverheiratet gebliebenen Witwe, der "univira", ist auf diesem Hintergrund nur sehr bedingt aussagekräftig 40; denn speziell die Vorstellungen über die Ehe und ihren Wert entwickeln die Past eindeutig in
Mit diesem Hinweis begründet N. BRox, Past 191 (mit Verweis auf STRACK-BILLERBECK, Kommentar II 648), seine Erklärung, man sei "jedenfalls nicht gezwungen, die Forderung der Einehe an dieser Stelle auf genau dieselbe Weise wie in den Amtsspiegeln für Männer zu deuten". 38 Vgl. auch H.-W. BARTSCH, Anfänge 130: Einehe im Sinne einer Verwerfung der Scheidung und verschleierten Vielehe. 39 Vgl. auch M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 59: " ... wer den Abschnitt 5,3-16 einheitlich faßt, hat keine Ursache, hier ein Verbot der zweiten Ehe zu finden." 40 Zur Bewertung der Wiederverheiratung in der Antike, die in Griechenland und in Rom recht unterschiedlich ausfällt, vgl. B. KÖTTING, Art. Digamus, bes. 1017-1020; H. FUNKE, Univira 183-186. Die ausdrückliche Bezeichnung der Frau als "univira" bzw. f.l6vavöpo~ etwa auf Grabinschriften wird auch so gedeutet, daß der Verzicht auf eine zweite Ehe die Ausnahme war (vgl. H. FUNKE, a.a.O. 186; P. TRUMMER, Einehe 480f). Da Wiederverheiratung in der Antike "unter Umständen eine ganz dringliche soziale Frage" war, kommt P. Trummer zu dem Urteil, daß "auch von diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund her unser Terminus der Einehe [I Tim 5,9) nur zu verstehen (ist), wenn mit ihm eine gute Eheführung gemeint ist" (a.a.O. 481). 37
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Absetzung von ehefeindlichen, asketischen Tendenzen in christlich-gnostischen Kreisen (vgl. 4,3). 10 In Ergänzung zu den von der Witwe selbst nicht aktiv zu verantwortenden Voraussetzungen - mit ihrem Status als Witwe verbunden v. a. ihr Alter - wird jetzt wieder ihr aktives Tun eingefordert. In Parallelität zu V 5 erfolgt noch einmal, nun unter Miteinbeziehung des konkreten Handeins, eine Festlegung dessen, was die "wirkliche Witwe", also die von der Gemeinde als Mitglied dieses Standes anerkannte Frau, kennzeichnet. Sie muß, so ist einleitend und summarisch festgelegt, "ausgewiesen sein in guten Werken". Obwohl in den folgenden Beispielen in der Vergangenheitsform aufgezählt wird, was sie getan hat bzw. wodurch sie sich in ihrem bisherigen Leben ausgezeichnet haben muß, so geht es doch primär nicht um das in der Vergangenheit liegende Verhalten, sondern darum, festzulegen, was den Stand der Witwen im Rahmen des gegenwärtigen Gemeindelebens auszeichnet. Die "guten Werke" sind Kennzeichen der "wirklichen" Witwe und damit auch Kennzeichen des Witwenstandes in seiner konkreten gemeindlichen Existenz. Die Bedeutung der guten Werke als Beleg der Frömmigkeit, die Witwen auszeichnet, wird unterstrichen durch die abschließende Wendung: "wenn sie jeglichem guten Werk nachgefolgt ist". Ein Unterschied in der Bedeutung von spyov ist durch den Wechsel in der Verwendung von ayaEl6v zu KaMv nicht beabsichtigt, wie der wechselnde Sprachgebrauch in den Past belegt (spyov ayaEl6v noch 2 Tim 2,21; 3,17; 1 Tim 2,10 [Plural]; spya KaM 1 Tim 5,25; 6,18; Tit 2,7.14; 3,8.14). Die "guten Werke"41 müssen Kennzeichen aller Christen sein (Tit 2, 14; 3,8; vgl. 2 Tim 3, 17); sie sind der Schmuck der gottesfürchtigen Frauen (1 Tim 2, 10) wie auch Merkmal des Gemeindeleiters (Tit 2,7); der Besitzende muß sich zeigen "reich an guten Werken" (1 Tim 6,17 f), und mit der Bewahrung des rechten Glaubens wird die Bereitschaft "zu jedem guten Werk" (2 Tim 2,21) verknüpft.
Mit der Forderung an die vom Gemeindeleiter als Mitglied des Witwenstandes anerkannte Frau, daß sie sich durch "gute Werke" auszuzeichnen hat, wird zwar ein besonderer Anspruch seitens der Gemeinde geltend gemacht, gleichzeitig aber tut die Witwe damit nur das, was die Past als Zeichen des Glaubens von allen Christen fordern. Und deshalb ist auch bei der Gruppe der Witwen aus der Verpflichtung 'auf die "guten Werke" nicht ohne weiteres ihre Tätigkeit im Bereich karitativer Dienste abzuleiten 42. Allerdings ist die Betonung der "guten Werke" als Kennzeichen des Witwenstandes auch zu sehen in Zusammenhang mit der Besonderheit der Verpflichtung, die die Gemeinde ihnen gegenüber übernimmt, nämlich für sie zu sorgen (vgl. VV 4.5.16). Es wird nicht direkt ausgesprochen, daß die 41 Die Ausdrucksweise KaM/&ya9& Ilpya ist in den Past "eine allgemeine Formel", schon "stark typisiert"; so P. LIPPERT, Leben 42f; vgl. auch H. MARSHALL, Faith 216. 42 Vgl. auch N. BROX, Past 193: " ... der diakonische, karitative Dienst wird nirgends ausdrücklich als Standespflicht gefordert."
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Frauen, wenn sie nun zu diesem "geistlichen Stand" der Witwen gezählt werden (unter den Bedingungen aus V 5), zu außerordentlichen Liebeswerken verpflichtet werden; auch die Nennung der vier Beispiele kann verstanden werden als veranschaulichende Beschreibung dessen, was mit "guten Werken" gemeint ist. Allerdings ist es kaum ein Zufall, daß gerade bei der Behandlung des Witwenstandes, und nur bei diesem, eine Konkretisierung durch die Aufzählung einzelner Beispiele vorgenommen wird 43. Daß also bei den Witwen ausdrücklich beschrieben wird, wo und wie solche guten Werke konkret geleistet werden können, wie christlicher Glaube in der Tat sich manifestiert, zeigt, daß zusammen mit dem Gebet als Besonderheit des Witwenstandes angesehen wird, daß sie im Dienst der Gemeinde auch im Rahmen karitativer Aufgaben eingesetzt wurden bzw. in diesem Bereich - nach Meinung des Verfassers: ausschließlich? - eingesetzt werden sollten. Damit ergibt sich im Blick auf die Beispiele nun doch die Möglichkeit, sie in einer besonderen Ausrichtung auf die Witwen zu betrachten: Wenn man bei 'tEKVO'tPOq>EtV (neutestamentliches Hapaxlegomenon) auch an die Erziehung von Waisenkindern zu denken hat, wie zumeist vorgeschlagen wird 44, dann eignet sich für eine solche Aufgabe besonders gut die Witwe, die im Dienst der Gemeinde stehend nicht mehr für den eigenen Unterhalt und für eigene Kinder Sorge zu tragen hat. Der Erweis von Gastfreundschaft (~EVOOOXEtV, wiederum Hapaxlegomenon im NT) ist ebenfalls ein Verhalten, das weniger auf die Privatinitiative des einzelnen als vielmehr auf die Verpflichtung seitens der Gemeinde hinweist. Diese Forderung war besonders wichtig in einer Zeit, da die Mitglieder der christlichen Gemeinden einen nur verschwindend geringen Teil der Bevölkerung in einzelnen Orten ausmachten. Vielleicht ist auch daran zu denken, daß sich in dieser Zeit die Gefahr von ersten Verfolgungen abzeichnete 4S; damit bekäme die Bereitschaft zur Aufnahme von "Fremden" noch größere Aktualität. Solche Haltung der Gastfreundschaft war auch beim Episkopos schon verlangt (3,2). Auf gegenseitige Hilfe und Unterstützung als Zeichen des gemeinsamen Glaubens verweist södann das Bild vom Waschen der Füße. Es ist dies ein niederer Dienst, der zu den Aufgaben der Dienerschaft gehörte 46 • Dieser Dienst hat nun aber aus der christologischen Tradition des Verständnisses der Sendung Jesu als Liebesdienst eine ganz neue inhaltliche Füllung erfahren. Man muß nicht gleich an Joh 13 als literarisches Vorbild denken; der Grundge43 Eine entfernte Parallele wäre allenfalls zu sehen in 1 Tim 6, 17f, wo "die Reichen" zu Wohltätigkeit, guten Werk\:n, Freigebigkeit und zur Bereitschaft, zu teilen, ermahnt werden . •• Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 59; G. HOLTZ, Past 118; N. BROX, Past 192. •, Vgl. G. HOLTZ, Past 118 . • 6 Vgl. STRACK-BILLERBECK, Kommentar II 557: "Zu den Arbeiten des nichtjüdischen Sklaven gehörte u. a. auch dies, daß er seinem Herrn die Füße wusch." Diese Tätigkeit gehörte aber auch zu den Pflichten der Frau gegenüber dem Mann und der Kinder gegenüber dem Vater.
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I Tim 5,3-16 danke ist vorbereitet in den Formulierungen des Bekenntnisses zur Sendung Jesu als Dienst, als Hingabe "für" (vgl. v.a. die Abendmahlstradition; Mk IO,45b; die Bekenntnisformel zur Hingabe bzw. Sendung des Sohnes, z. B. Röm 8,31; Gal 4,4-6; Joh 3, 16f; auch Joh 13,4f.12-17).
Auf diesem christologischen Hintergrund ist nun die Fuß waschung Zeichen besonderer christlicher Verbundenheit. Aus solcher christologischsoteriologischen Bestimmung des Gestus des Dienens - es geht ja um ein Tun, welches vom Glauben an das Handeln Gottes und Jesu Christi "für uns" getragen ist - ergibt sich, daß in diesem Bild vom "Füßewaschen" nicht nur die Gastfreundschaft noch einmal angesprochen ist; ganz grundsätzlich wird damit "die Bereitschaft zum selbstverleugnenden, demütigen Dienen" verlangt 47. Da es zum einen um die bildhafte Vorstellung der Verwirklichung der von Gott in Jesus Christus geschenkten Liebe geht und weil zum anderen die Witwen auch hier als Exponentinnen christlichen HandeIns angesprochen und genannt sind, die allen anderen Christen durch ihr Tun Vorbild sein sollen, ist die Frage unangemessen, ob solche Dienste den Witwen, etwa aufgrund ihres Alters, noch zugemutet werden konnten. Außerdem erscheint es nicht ganz unproblematisch, aus der Erwähnung des Wasehens der Füße dieses als geläufige Geste anzusetzen; es ist allenfalls als bei besonderen Ereignissen und Personen praktizierte symbolische Handlung anzunehmen. Mit der Titulierung als iiYWL ist eine Selbstbezeichnung der Christen aufgegriffen, die schon Paulus ganz selbstverständlich gebraucht hat (vgl. Röm 1,7; 15.25 f; 16,15; I Kor 1,2; 14,33; 2 Kor 1,1; 8,4; 9,1; Phill,I).
Als weiteres Kennzeichen ist schließlich noch angeführt: Bedrängten beizustehen. Es ist nicht notwendig, dazu nach außerordentlichen Problemen in den Gemeinden zu fragen; vielmehr ist zu denken an die Unterstützung von Gemeindemitgliedern in ganz elementaren Schwierigkeiten des täglichen Lebens. Im Blick auf die voranstehenden drei Beispiele verdient dieses letzte aber doch noch etwas mehr Aufmerksamkeit. Kindererziehung baut auf einer besonderen emotionalen Bindung auf; Gastfreundschaft und ein Dienst wie das Waschen der Füße ("der Heiligen") betrifft Mitchristen. Die Gemeinsamkeit des Glaubens ist ein wesentliches Motiv für diese guten Werke. Nicht mehr so eindeutig ist dies bei der Nennung der "Bedürftigen". Es ist jetzt einzig und allein der Mangel, die Notlage des Nächsten, die die christliche Witwe zur Hilfe verpflichtet. Will der Verfasser vielleicht mit diesem Hinweis der Gefahr begegnen, daß der Stand der Witwen (und mit ihm in diesen Bereichen einer christlichen Praxis auch die Gemeindechristen insgesamt) mit den bisher genannten Aktivitäten des Gebetes und der guten Werke sich im Sinne einer "Caritas" der Antwort bzw. der Vergeltung ausschließlich der Gemeinde zuwendet, so daß der Kreis von Hilfsbedürftigen, die nichts vorzuweisen haben als ihre 47 J. JEREMIAS, Past 38. Vgl. auch H. MERKEL, Past 43: "ein Beispiel für die Bereitschaft zur Übernahme geringster Dienste am Mitchristen".
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Not und nicht die Gemeinsamkeit des gleichen Glaubens, ausgegrenzt werden könnte? 11 Dieser Vers leitet einen längeren Textabschnitt ein, der verstanden werden kann als Rechtfertigung der in V 9 ohne weitere Begründung festgesetzten Altersgrenze für die Anerkennung einer Witwe als Mitglied der "Gemeindewitwen" ; es ist auch ein Bezug zu der eingangs in V 3 thetisch genannten Gestalt der "wirklichen Witwe" zu sehen. Die noch nicht 6Ojährigen Witwen werden global als veo)'tepat bezeichnet; und damit sind sie von der dem Gemeindeleiter vorbehaltenen Anerkennung als "wirkliche" Witwen (noch) ausgeschlossen. Die Nichtzugehörigkeit dieser Frauen zu den "wirklichen Witwen" wird in einer für die Past charakteristischen Weise formuliert. Durchaus passend und naheliegend ließe sich die Argumentation von den Frauen selbst her durchführen; der entscheidende Grund liegt ja bei ihnen selbst, nämlich in der Tatsache des fehlenden Alters. Die Past machen daraus aber wieder eine Angelegenheit des Gemeindeleiters. Er wird zu einer administrativen Maßnahme aufgefordert. Der Grund für die Verweigerung der Aufnahme ist zwar das fehlende Alter der Witwe; für den Verfasser aber ist wichtig, daß der Gemeindeleiter seine Autorität geltend macht. Diese Formulierung zeigt das Interesse des Autors, die Verantwortung für den Stand der Witwen in allen Hinsichten dem Vorsteher zu übertragen; er hat darüber zu bestimmen und zu entscheiden. Er folgt damit einer vom "Apostel" selbst verfügten Weisung. Bemerkenswert ist der Gebrauch des Imperativs napat1:o0. Das Verbum napaneicr8at (zurückweisen) verwenden die Past nur in dieser Imperativform und durchgängig in negativer Konnotation: 4,7 (die unheiligen und altweiberhaften Mythen); 2 Tim 2,23 (törichte und unverständige Grübeleien); Tit 3, 10 (einen "häretischen Menschen"). Betroffen sind hier von dieser Zurechtweisung die Witwen, die als "jung" eingestuft werden, die noch nicht 60 Jahre alt sind und die in den Witwenstand aufgenommen werden wollen. Nun sind die Gründe für diese radikale Bestimmung mit der Festlegung der Altersgrenze und dem Ausschluß der jüngeren Frauen, wodurch die vorher genannten positiven Qualifikationen eines aktiven christlichen Lebens wieder etwas in den Hintergrund treten, nicht ohne weiteres zu benennen. Entsprechend dieser Unsicherheit ist die Palette der Erklärungen recht breit gefächert. So kann man entweder vermuten, daß diese Bestimmung nötig geworden ist wegen "des Zulaufs und Andrangs auf den Witwenstand" '8 oder weil dieser "Stand der Gemeindewitwen" für die noch jungen Frauen die für sie notwendige "häusliche Geborgenheit" nicht bieten konnte '9, oder aber weil ihnen einfach "die nötige Reife zur Ausübung der Witwenfunktion abgesprochen" wurde". Zwar sind solche Begründungen nicht einfachhin als unmöglich abzutun und auch nicht zu widerlegen; sie dokumentieren aber häufig die Tendenz zu textfremder oder auch die Texte selbst über Gebühr '8
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'0
So N. BRox, Past 193f. So V. HASLER, Past 41. So H. v. LIPS, Gemeinde 120.
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ausgestaltender Entfaltung'!. Es muß nicht unbedingt so gewesen sein, daß der Ausschluß der jüngeren Witwen von diesem Stand einzig und ausschließlich oder auch nur vorrangig seinen Grund in den Witwen, in ihrem Verhalten bzw. in ihrem Leben hatte. In der Aufforderung zu solch rigorosen administrativen Maßnahmen zeigt sich eine frappierende Parallelität zu 2, ll f.
Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß die Praxis gezeigt hatte, daß jüngere Witwen in einen Konflikt gerieten, wenn sie nach einer gewissen Zeit der Zugehörigkeit zu diesem Stand wieder heiraten wollten. In der vorausgesetzten Situation wird dann eine an sich nicht weiter aufregende Entscheidung, nämlich der Entschluß einer Witwe zu einer neuen Ehe, zu einem Problem; der Grund dafür ist die Zugehörigkeit zu diesem Stand, die - aufgrund eines Aufnahmeaktes (vgl. V 9) und u. U. durch eine Art Gelübde 52 - als bleibend verpflichtend angesehen wurde bzw. der vorgestellten Regelung der Past nach so angesehen werden sollte. Der Wunsch zu einer neuen Heirat steht in Widerspruch dazu und wird deshalb als eine Verfehlung gegen Christus hingestellt. Die Umschreibung des Gegensatzes zwischen dem Wollen und dem früheren Versprechen der Witwen mit dem nur hier belegten Kumcr'tPTJvLfiv (sinnlichen Begierden unterliegen) gibt zusammen mit der Einführung des Genitivobjekts [KU'tU] 'tau XPLcr'tOU einer solchen Entscheidung der Frauen zur Wiederverheiratung letztlich den Charakter des Glaubensabfalls. Das negative Urteil über die Entscheidung einer Witwe zu einer weiteren Heirat gilt aber nur für den Fall der Zugehörigkeit zum Witwenstand mit entsprechenden Rechten und Pflichten. 12 Hier wird der gegenüber einer solchen Witwe erhobene Vorwurf präzisiert: sie hat ihr erstes (früheres) Treueversprechen gebrochen. mcr'tL~ ist sicherlich in der letztlich nicht eindeutig festzulegenden Bedeutung zwischen "Glaube" und "Treue" zu sehen. Wenn wir die Bedeutung des Witwenstandes in der für bleibend erachteten Verpflichtung sehen müssen; dann ist die zweite Heirat der Bruch dieses Treueversprechens 53; auch von hier aus wäre das schon genannte gelübdeähnliche Versprechen zu vermu'I Die zeigt etwa exemplarisch die Beschreibung bei F. J. SCHIERSE, Past 70, der den "Mißstand" folgendermaßen definiert: "Jüngere Witwen boten den Gemeinden ihre oft recht zweifelhaften Dienste an, stifteten durch ihre von Klatsch und Tratsch begleiteten Hausbesuche viel Unfrieden und kehrten dem Institut gleich wieder den Rücken, sobald sie Gelegenheit zu einer zweiten Ehe fanden." Dieses Urteil vereinfacht die Argumentation des Verfassers noch, ja verfälscht sie eigentlich; sie läßt zudem die notwendige Differenzierung vermissen zwischen der hier vorgelegten Argumentation und der dahinter stehenden Wirklichkeit. '2 Vgl. J. JEREMIAS, Past 39. " Das Verbum li8E'tEtv steht in LXX v. a. für Verletzung oder Bruch von Vereinbarungen und Verträgen (vgl. 2 Kön 18,7; 2 Makk 13,25; 14,28), aber auch den Bruch des Gesetzes (Jes 24,16; Ez 22,26) und den Abfall von Jahwe (Jes 1,2; Jer 12,6); in juridischer Akzentuierung auch im NT: Mk 7,9; Ga! 3,15; Hebr 10,28 (vgl. C. SPICQ, Past 536; M. LIMBECK, EWNT I 831).
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ten 54. Es handelt sich dabei aber um eine Beziehung, die nicht nur die einzelne Person und ihr Verhältnis zu Gott betrifft; die Gemeinde ist mitbetroffen. Und diese ekklesiologische Komponente bedingt die Meinung des Verfassers, der dabei in Übereinstimmung mit den Gemeinden seiner Zeit stehen dürfte, daß es auch um eine Frage des Glaubens geht. Die Gemeinde und der an ihrer Spitze stehende Leiter bzw. die leitenden Personen, die in der Person des Timotheus angesprochen werden, haben die Verantwortung für die Bewahrung des Glaubens übertragen bekommen. Die Gestaltung des Lebens der Gemeinde ist Ausdruck dieses Glaubens. Verleugnung des Glaubens kann nicht nur erfolgen durch den Abfall von der Wahrheit in der Form, daß "falsche Lehren" verbreitet werden, die der von der Gemeinde verbürgten Glaubensüberlieferung widersprechen (vgl. 1,3; 4,1-3); um Glaubensabfall handelt es sich auch dort, wo das Leben für Christus, im Widerspruch zu einem vor dem Gemeindeleiter und damit auch der Gemeinde gegenüber abgelegten Versprechen, gegen eine neue Ehe eingetauscht wird 55. Die Drohung mit dem Gericht (KptJ.1a)S6 mag zum einen zu erklären sein aus dem Interesse des Autors, den bindenden Charakter der einmal getroffenen Entscheidung möglichst drastisch vor Augen zu stellen; darin zeigt sich aber erneut die Gewichtung des Lebens als Ausdruck des Glaubens. Deshalb lautet die eindeutige Forderung: jüngere Witwen sollen heiraten (V 14). Zuvor jedoch will der Verfasser die durch die unverheirateten jungen Witwen heraufziehenden Gefahren, die nicht nur sie selbst, sondern auch die Gemeinden und damit auch den Glauben gefährden, noch veranschaulichen. 13 Es wird das Bild von Frauen gezeigt, welche im wesentlichen das Gegenteil von dem tun, was "wirkliche", im Glauben und im Leben bewährte Witwen kennzeichnet. Die Absicht ist dabei eindeutig: Es soll die Notwendigkeit drastisch vor Augen gestellt werden, daß diese Frauen innerhalb der Gemeinde einen festen Platz zugeordnet bekommen. Da sie für den Witwenstand - man muß hier ausdrücklich sagen: noch - ungeeignet sind, der ihnen zustehende Platz also nicht in der Öffentlichkeit und in der Be5. Die Erklärung von 1ticr'tt~ als "Treueverhältnis" schließt nach Überzeugung von K. NIEDERWIMMER, Askese 175, Anm. 28, "den Gedanken eines (mehr oder weniger liturgisch bzw. rechtlich geordneten) Gelübdes ein". Ein solches ist nach Meinung von J. MÜLLER-BARDoRFF, Exegese 120, zwar "nicht ganz unwahrscheinlich", aber auch "nicht unbedingt erforderlich"; doch auch Müller-Bardorff sieht mit 1ticr'tt~ "ein objektives Treueverhältnis" bezeichnet. " Zur Diskussion um unterschiedliche Möglichkeiten des Verständnisses von 1ticr'tt~ und damit verbunden des gegenüber der Witwe erhobenen Vorwurfs bei V. HAsLER, Past 41 f. Es ist nicht auszuschließen, daß das hier anklingende Moment einer rechtlich ver· pflichtenden Bindung der Witwe deshalb so betont wird, weil der Verfasser diesen Stand stärker in die Gemeindestruktur (die Hausordnung) einbinden und der Kontrolle des Gemeindeleiters unterstellen will. 56 KpiliU meint die Verurteilung durch Gott und den dadurch ratifizierten Verlust des Heils; vgl. auch 3,6 und I Kor 11,29.34.
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teiligung an deren Aktivitäten in der Gemeinde (vgl. V 10) liegen kann, bleibt für sie nur eines: Bindung an den Haushalt, Einbindung in die Sorge für eine Familie (vgl. V 14)57. Das soll durch die Schilderung der Gefahren für die jungen, unverheirateten und in der Gemeinde tätigen Witwen unterstrichen werden. Diese Schilderung provoziert gleich die Frage: Bietet die Darstellung eine polemische und verzerrende Karikatur junger Witwen mit dem Ziel, für die vorgeschlagenen Regelungen zusätzlich Argumente zu gewinnen, oder steht dahinter irgendeine konkrete geschichtliche Erfahrung?
Die Formulierung der Vorwürfe gibt Anhaltspunkte dafür, daß der Autor als Vergehen kennzeichnet, daß Witwen in den Gemeinden Aktivitäten entwickelt haben, die er selbst als ihnen nicht zustehend beurteilt; und deshalb läßt er "seinen" Paulus ein in jeder Hinsicht negatives Urteil über diese Personen abgeben. Der Stellenwert der Aussagen ist zu gewinnen aus der Einbindung zwischen VV 11.12 und V 14. Die Themen sind dort die "jungen" Witwen und die Gefährdung der einmal getroffenen Entscheidung für die Zugehörigkeit zum Witwenstand durch einen späteren Entschluß, doch wieder zu heiraten, sowie die daraus resultierende Anweisung an den Gemeindeleiter, anstelle einer Aufnahme in den Witwenstand für eine Verheiratung dieser Frauen zu sorgen. Die Begründung der Notwendigkeit einer neuen Ehe für junge Witwen kann aber nicht mit allgemeinen Erwägungen über Ehe und Ehelosigkeit durchgeführt werden; denn sowohl Ehe (für die jüngere Witwe) als auch Ehelosigkeit (für die "wirkliche", ganz im Dienst der Gemeinde stehende Witwe) haben ihren Wert. Der Argumentationsgang zielt darauf, das Versagen solcher Witwen . in der Praxis zu benennen . . Diese "Praxis", also Tätigkeiten im Rahmen der christlichen Gemeinde, ist zu erschließen aus den Hinweisen auf das "Umhergehen in den Häusern" und das "Reden". Diese Witwen machen Hausbesuche, und sie "reiden" mit den Menschen, betreiben folglich im weitesten Sinne Verkündigung und Seelsorge 58. Solches Verhalten findet auf seiten des Autors nicht imr keine Anerkennung; es wird sogar als aus niedrigen Motiven kommend und als für die Gemeinden schädlich radikal abgelehnt. Was diese Witwen tun, ist geradezu das Gegenteil dessen, was für die "wirklichen" Witwen als Kennzeichen Anerkennung findet 59. Anstelle der "guten Werke", wie sie eben (V 10) genannt worden sind, ist ihr Kennzeichen Untätigkeit, Müßiggang. Sie halten sich in den Häusern der Gemeindemitglieder auf, wobei der Gebrauch des Partizips 1tEptEPX0J.LEVat (die die " Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 70. SB Vgl. auch J. ROLOFF, 1 Tim 297: "Sie machen Hausbesuche, die wohl der Krankenpflege und dem seelsorgerlichen Gespräch dienen sollten." ~9 Vgl. auch G. D. FEE, Past 122: Die jungen Witwen "are notdoing what they should be doing (prayer, v. 5, and the good works of vv. 9-10), and they are doing things they should not".
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Häuser ablaufen) 60 einen deutlich negativen Akzent hat. Vielleicht soll solches Verhalten in Gegensatz gestellt werden zu dem Dienst, zu den guten Werken der Witwen, die auch in die Häuser gehen, aber nicht zum Zeitvertreib, sondern um denen zu helfen, die in wirklicher Bedrängnis und in Not sich befinden 61. Doch damit nicht genug! Zur Faulheit kommen Geschwätzigkeit und Neugier hinzu, also Verhaltensweisen, die der Gemeinschaft schaden. Mit den Bezeichnungen "geschwätzig" (
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V 3 klar benannt: Es dreht sich im Rahmen der christlichen Gemeinde um die vom Vorsteher vorzunehmende Klärung der Frage, welche Frau als "wirkliche" Witwe Anerkennung und damit die Aufnahme in die Gruppe der Gemeindewitwen finden soll. Nach der Nennung bestimmter Voraussetzungen und positiver Kriterien soll auch die Ablehnung argumentativ gestützt werden, und zwar über dieÄußerlichkeit einer Einschränkung mit der Altersgrenze von 60 Jahren hinaus. Eine solche argumentative Weiterführung liegt in diesem Vers 13 vor. Die Besonderheit ist darin zu sehen, daß die von Witwen offensichtlich entfalteten Aktivitäten in der Gemeindearbeit eine völlig negative Beurteilung erfahren. Weil selbstverständlich nicht davon auszugehen ist, daß die "jüngeren" Witwen - d. h. die, die vom Alter her gesehen (noch!) nicht den Vorstellungen der Past entsprechen - aus unlauteren Beweggründen ihre Tätigkeiten in den Gemeinden durchführen (die vermutlich sachlich mit denen der "echten" Witwen identisch sind I), ist die Schlußfolgerung unausweichlich, daß es bei den hier formulierten Aussagen zu den nicht den Vorstellungen des Autors entsprechenden Aktivitäten von Witwen in den Gemeinden um eine grundsätzliche Entscheidung geht, nämlich um die umfassende Durchsetzung der Autorität des Gemeindeleiters und seiner Vorstellungen über die amtlich einzusetzenden Personen im Gemeindedienst. Es handelt sich also nicht um ein Problem, das exklusiv mit den Witwen zusammenhängt; es geht vielmehr auch bei diesem Thema um die Gemeinde und ihre Struktur. Was bei den Aktivitäten der als zu jung eingestuften Witwen moniert wird, ist im wesentlichen der Mangel an Unterordnung unter die Entscheidung des Gemeindevorstandes. Solche Ordnung und Unterordnung aber wird als Zeichen des Glaubens gewertet 64. Unordnung und mangelnde Unterordnung gefährden wie die Irrlehre den Glauben. Dienst an der Gemeindeordnung ist Dienst an der . Sicherung des Glaubens.
Die Kritik an den hier genannten Aktivitäten, dem "Umherlaufen" in den Häusern und dem "Reden", richtet sich letztlich darauf, daß dieses nicht im Auftrag und unter der Leitung des Vorstehers geschieht. In der mangelnden Unter- und Zuordnung unter die Direktive des Gemeindevorstehers ist die eigentliche Wurzel für die gegen die Witwen erhobenen Vorwürfe zu sehen. Wovor der Verfasser warnen will, ist ein Tun, welchem die Legitimation durch den Gemeindeleiter und damit auch - dies ist zumindest die Meinung des Autors - durch die Gemeinde fehlt (vgl. dazu auch die Mahnung in 3, 15!). 14 . Der Verfasser nennt als apostolischen Willen und Auftrag: Jüngere Witwen sollen heiraten und sich in der Erfüllung der ihnen durch die Familie zufallenden Aufgaben bewähren.
64 "Der Glaube realisiert sich in den Ordnungen und Pflichten des familiären, bürgerlichen und kirchlichen Lebens"; so N. BROX, Past 188, zu V 4.
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I Tim 4,12 - 6,2 Hier wird beim Verfasser eine gewisse Gespaltenheit erkennbar: Auf der einen Seite hat er den Witwenstand so sehr in seinen Vorzügen gezeichnet, daß die Zugehörigkeit, zumal in der Anerkennung durch die Gemeinde, als eine Auszeichnung erscheint; die nochmalige Heirat ist nur denen ans Herz zu legen, die dafür die notwendigen Vora\lssetzungen (v. a. altersmäßig) noch nicht aufweisen. Auf der anderen Seite ist für die Past die Ehe fraglos ein besonderes Gut, ja Kennzeichen derer, die sich zum rechten, wahren Glauben bekennen (vgl. 2,15; 4,1-4). Zur Beurteilung des Stellenwerts der Eheaussage sind auch an dieser Stelle der Kontext und das Argumentationsziel zu beachten. Es geht nicht um eine allgemeine Würdigung der Ehe, sondern um ihre Bedeutung unter den spezifischen Bedingungen der Gemeinde in der Auseinandersetzung um den Stand der Witwen 65. Und doch will der Verfasser nicht nur eine aus praktischen Erwägungen gerechtfertigte Lösung vorstellen; auch diese im Wort des Apostels empfohlene bzw. angeordnete Regelung steht im Dienst des Nachweises der Treue zum Glauben, die das öffentliche Leben der Gemeinde und das private der Familie mitbestimmen muß.
Die Hinordnung auf die Verantwortlichkeit für den Glauben formuliert der zweite Teil des Satzes; durch das geordnete Eheleben legt die Frau Zeugnis ab für ihren Glauben, sie gibt damit dem Gegner keinen Anlaß zur Schmähung, zur Beschimpfung. Die Bestimmung des Begriffes avnKEiJ.IEVO~ schwankt zwischen der allgemeinen Bedeutung "Gegner" und der spezifischen "Satan". Es ist wohl keine eindeutige Entscheidung zu treffen; beide Bedeutungen spielen mit herein. Da der gute Ruf der Gemeinde für die Past ein wichtiges Anliegen ist (vgl. u. a. 3,7), ist am ehesten die Mahnung herauszuhören, Nichtchristen nicht durch innere Unordnung der Gemeinde Anlaß zu Kritik und Spott zu geben. Auf derselben Linie liegt auch die immer wieder ausgesprochene Zusammengehörigkeit von Irrlehre und sittlichen Mängeln bei den Menschen, vor welchen der Autor seine Gemeinde warnen will. Der Zusammenhang von Lebenspraxis und Urteil über die Gemeinde wird im folgenden noch verallgemeinert. 15 Bei der Nennung des Subjekts, 'ttVE~ wiederum eine Personenbezeichnung mit abwertendem Unterton, ist in erster Linie an die Witwen zu denken, die durch ihr Verhalten dem Glauben in dem gerade gekennzeichneten Sinn mangelnder Gehorsamsleistung untreu geworden sind. Gleichzeitig soll die Gefahr aufgezeigt werden, die daraus resultiert, daß sich Gemeindemitglieder aus der Gemeinschaft des Glaubens lösen und eigene Wege gehen, die im Widerspruch zur allgemeinen Glaubensüberzeu-, gung stehen. Glaubensabfall - und daß es sich darum handelt, zeigt der Hinweis auf Satan - bekommt eine Bedeutung mit stark moralischer Prä-
Vgl. etwa auch den Hinweis bei N. BRox, Past 196, es handle sich "nicht um einen Satz über die Ehe und deren rechte Bewertung, sondern um eine praktische Regel zum Schutz des Witwenstandes und zum Heil derer, die ohne solche Regeln vielleicht an ihm zu Fall kämen". 65
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gung; zur Irrlehre (vgl. 1,3f) kommt der "Irrweg", das Kennzeichen derer, die vom rechten Glauben abgefallen sind, hinzu 66. Im Vergleich mit dem zur Ketzerpolemik gehörenden Vorwurf sittlicher Verkommenheit der Irrlehrer ist eine veränderte Perspektive gegeben. Nicht mehr das allgemein als moralisch verwerflich bekannte und auch so beurteilte Handeln ~ennzeichnet den Irrlehrer, sondern es geht um die Abweichung von einer Norm, die die Gemeinde bzw. ihr Leiter aufgestellt und über deren Einhaltung die Gemeinde unter Führung ihres Vorstehers zu wachen hat. Nichtbeachtung solcher Bestimmungen wird als Abwendung vom rechten Glauben verurteilt.
Die Bedeutung der Kirchenordnung wächst; die rechtliche Bestimmung gewinnt für die Definition der Glaubenstreue an Gewicht. 16 Noch einmal kehrt der Verfasser zur praktischen Frage der Handhabung der Witwenregel zurück, und dabei steht erneut die Frage nach der materiellen Versorgung im Vordergrund. Solange die Möglichkeit besteht, daß eine Witwe in der Gemeinde von privater Seite versorgt werden kann, ist darauf zu achten, daß dies auch geschieht. Die Begründung dafür bleibt ganz sachbezogen: Die Gemeinde soll für die wirklichen Notfälle frei sein. Das zur Veranschaulichung genannte Beispiel zeigt eine christliche Frau (nicht einzuschränken auf eine Witwe, doch wohl in der Regel auf eine solche bezogen 67), die mehrere Witwen zu sich ins Haus aufgenommen hat und für deren Lebensunterhalt aufkommt. Es handelt sich dabei aber um eine rein private Initiative ohne institutionelle Bedeutsamkeit. Das ist zugleich (wie in VV 4.8) ein Appell an die Gemeindemitglieder, daß sie nach Möglichkeit der ihnen aus dem Glauben erwachsenden Verpflichtung auch im sozialen Bereich nachkommen sollen. Zur begründung wird aber weder auf die Not der Witwen noch auf die aus dem Glauben kommende pflicht zur Unterstützung verwiesen, sondern hier herrscht der Pragmatismus der Institution Gemeinde. Sie kann (und will!) nur für den Teil der Witwen sorgen, die - und da schließt sich der Kreis - als "wirkliche Witwen" Anspruch auf "Ehre" 013) und Unterhalt seitens der Gemeinde 0116) haben. Der Schlußvers zeigt, daß die Zulassung zum Witwenstand sehr restriktiv gehandhabt wurde bzw. nach Meinung des pastoralen Paulus so gehandhabt werden sollte. Es erscheint fraglich, ob sich dafür ausschließlich praktische Erwägungen anführen lassen, insbesondere etwa die Gefahr eines von den Gemeinden finanziell nicht zu verkraftenden Zulaufs. .. 'EK'tpe1t8crBcLL zur Bezeichnung des Abfalls vom rechten Glauben auch 1,6; 2 Tim 4, 4. Die andere Lesart zu ntO"Tf), nämlich nLO"'to~ i\ mcr't'fJ (bezeugt u. a. von den Codices D 'P, dem Mehrheitstext, lat. Hss a m, syrischen Hss) ist zwar schon aus textkritischen Gründen als sekundär zu beurteilen, zeigt aber nach Meinung von H.-W. BARTscH, Anfänge 137, daß die Abschreiber unter "der gläubigen Frau" "auf jeden Fall nicht eine Witwe verstanden". Die x'flpadn I Tim 5,3-16 müssen nach Meinung von F. C. SYNGE, I Timothy 5.3-16,201, nicht unbedingt und ausschließlich Witwen sein; damit könnten auch Frauen gemeint sein, die sich durch ihren Anschluß an die christliche Gemeinde von ihren Familien getrennt hatten und die deshalb ohne Unterstützung dastanden. •7
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III
Überblickt man den ganzen Abschnitt, der von den Witwen und ihrer Stellung in der christlichen Gemeinde handelt, dann ist eine gewisse Zwiespältigkeit in der Argumentation unverkennbar. 1. Das betrifft einmal die Bestimmung für die Anerkennung der "wirkliehen" Witwe. Den notwendigen Ausgangspunkt bildet zwar der Status der alleinstehenden Frau, deren Mann gestorben ist. Doch dann folgen gleich restriktive Bestimmungen, verantwortet von der Gemeinde bzw. deren leitenden Personen. So sollen die Möglichkeiten der Versorgung der Witwe durch andere Personen in der Gemeinde umfassend geprüft werden. In erster Linie ist dafür die eigene Familie zu belangen; die Angehörigen werden auf ihre Verantwortung der Mutter bzw. der Großmutter gegenüber verwiesen (VV 4.8). Für die betroffene Frau ist damit aber auch die Aufnahme in den Witwenstand ausgeschlossen. Wo andere Gemeindemitglieder entsprechende Unterstützung leisten können (vgl. V 16), gilt dasselbe. Erst bei der Witwe, die diese Hürde der "Qualifikation" genommen hat, bei der also die soziale Bedürftigkeit unverkennbar und auch nicht durch die genannten Maßnahmen behebbar ist, kommt im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die Gemeinde für den Unterhalt auf. Allerdings ist hier erst noch als eine weitere Hürde das "kanonische" Alter von 60 Jahren aufgebaut. In den bisher genannten Bedingungen war die Witwe allein Betroffene. Für die Anerkennung als" wirkliche" Witwe, und das heißt sowohl für die Versorgung durch die Gemeinde als auch (notwendig damit verknüpft) für die Anerkennung der Zugehörigkeit zu einem besonderen Stand in der Gemeinde, werden nun weitere Anforderungen genannt, die auf die Bewährung der Witwe in ihrem Leben und in ihrem Glauben Bezug nehmen. Gebet (V 5) und vorbildlicher Lebenswandel, bezeugt durch gute Werke (V 10), sind von ihr verlangt 68. Im Zusammenhang mit den genannten Voraussetzungen in sozialer Hinsicht und in Verbindung mit der Altersgrenze ist der restriktive Charakter der Bedingungen zur Aufnahme in den Witwenstand offensichtlich. Von der Gemeinde bzw. vom Gemeindeleiter, auf dessen Autorität und Entscheidungsvollmacht ausdrücklich Bezug genommen wird, muß die Zustimmung gegeben, muß das "Placet" erteilt werden. Eigenverantwortung auf seiten der Witwe und die Forderung zu Unterordnung unter die Entscheidungen des Gemeindeleiters stehen nebeneinander und z. T. in Spannung zueinander. Die letzte Entscheidung über die Witwe und ihre Stellung in der Gemeinde liegt beim Vorsteher; die Frau muß "seinen", d. h. den hier in der Autorität des Paulus formulierten Vorstellungen entsprechen 69. Treffend beschreibt F. YOUNG, Theology 116f, die öVtw, xfjpa: "A ,proper widow' is one who both needs assistance and receives it responsibly, setting an exarnple of faith and piety." 69 Die Schlußthese von R. J. KARRIS, Past 94, zu 5,3-16, "wornen are as worthy as rnen
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2. Die bereits angesprochene Frage nach der Aufgabe.der Witwe als Angehörige des Witwenstandes im Rahmen des Gemeindelebens ist schwer zu beantworten. Dies ist wesentlich bedingt durch die genannte Einseitigkeit in der Festlegung der Voraussetzungen. Durch die starke Betonung der möglichen Defizite und die damit begründete Nicht-Zulassung erscheint die "echte" Witwe mit besonderer Akzentuierung als Objekt der Versorgung. Mit diesem Aspekt beginnt der Abschnitt und damit schließt er auch. In der Nennung des Gebetes (V 5) und der Betonung der guten Werke (V 10) ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Hinweis darauf zu sehen, daß in diesen Bereichen des stellvertretenden Gebetes und der karitativen Tätigkeit nach Meinung des Autors die für den Witwenstand typischen Dienste für die Gemeinde liegen müssen. Allerdings werden sie als solche, nämlich als von den Witwen for die Gemeinde erbrachte "Leistungen", nicht ausdrücklich zur Sprache gebracht. 3. Der Eindruck einer gewissen Zwiespältigkeit wird noch verstärkt, wenn man die vom Verfasser verlangte Einschätzung der "wirklichen Witwe" durch den Gemeindeleiter betrachtet. Der Gemeindeleiter ist in der Person des Timotheus zwar zu ehrfürchtiger Einstellung den "wirklichen" Witwen gegenüber aufgerufen; denn die werden als vor Gott und den Menschen bewährt vorgestellt. Und doch scheint der Paulus der Past alles daranzusetzen, diesen Stand möglichst klein zu halten; ja, man hat den Eindruck, daß es geradezu das Ziel jeder Gemeinde sein sollte, nach allen möglichen Wegen zu suchen, die Witwen anderweitig zu versorgen, so daß es die hier "definierte" Witwe als Mitglied dieses eigenen Standes gar nicht mehr gibt bzw. es sie nicht mehr geben sollte 70. Fragt man nach den Gründen für solche restriktive Eingriffe, die von der Gemeindeleitung autoritativ durchzusetzen sind, wie die Imperative (V 7: napaYYEAAE, V 11: napat1:00) und der Hinweis auf den "Wunsch" des Apostels (V 14: ßouAO!!at) zeigen, so ist zwar die Gefahr einer Überforderung der Gemeinde in ihren materiellen Möglichkeiten zu bedenken; entscheidender aber sind zwei Gesichtspunkte, die mit der Gemeindestruktur zusammenhängen': a) Für die Bewertung der Rolle der Frau in den christlichen Gemeinden der Past ist der Hintergrund gnostischer Irrlehren mit der grundsätzlich möglichen und z. T. sicher auch verwirklichten Präsenz von Frauen in der Führung der Gemeinde zu beachten. Die restriktive Handhabung der Zulassung zum Witwenstand wäre dann zumindest teilweise zu erklären als eine Konsequenz daraus. Streicht man in V 13 die scharfe Polemik, dann ist in den genannten Akt~vitäten die Verkündigungstätigkeit von Frauen of occupying positions of authority within the Christian community", hat den Text doch eher gegen sich. 70 Vgl. dazu auch L. A. BROWN, Ascetism 83-87; 85: "The description of widows in 1 Timothy 5 :3-16 represented a restricting ofthe arena in which a certain group ofwomen participated and a limiting of the corporate power of that group."
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bezeugt, wobei möglicherweise ein Teil dieser Frauen gnostisch beeinflußt war. Damit aber "mußte" der Vertreter der Gemeinde, die den Anspruch auf die Zugehörigkeit zur (wahren) "Kirche des lebendigen Gottes" und damit auf apostolische Legitimation vertrat, solches Tun negativ bewerten und in seinem Einflußbereich nach Möglichkeit unterbinden. Es fehlt allerdings ein ausdrücklicher Hinweis darauf, daß der Verfasser die Witwen tatsächlich in die Nähe der von ihm so massiv bekämpften gnostischen Irrlehrer rücken wollte. b) Es erscheint also sowohl im Blick auf diesen Text als auch unter Miteinbeziehung der Past insgesamt angebracht, die Erklärung für die Stellungnahme zu den Witwen innergemeindlich zu suchen, aber unter anderen als den vom Verfasser zugrunde gelegten Bedingungen. Die "Gefahr", die von manchen Witwen ausging, die (noch) nicht dieser vorgestellten Norm entsprachen, lag nicht in glaubensgefährdenden oder -zerstörerischen Handlungen und Worten, sondern im Gegenteil in ihrem aktiven Einsatz für die Gemeinde in der Verkündigung und in pastoralen Diensten. Es ist denkbar, ja sogar wahrscheinlich, daß Witwen, die aufgrund ihrer gemeinsamen Lebenssituation sich zusammengeschlossen hatten und nun auch durch den gemeinsamen Glauben miteinander verbunden waren, in manchen Gemeinden starken Einfluß gewannen. Dies kann einmal zusammenhängen mit einem gewissen Reichtum, den diese Frauen in die Gemeinde einbrachten; Kennzeichen mancher Witwe und damit auch mancher Gruppen von Witwen, die zusammenlebten, war wohl eine gewisse Wohlhabenheit, nicht aber Armut. Dazu kommt, daß diese Frauen Ansehen genossen, da sie sich im Leben bewährt hatten (v. a. im Bereich der Familie und auf dem sozialen Gebiet), und daß sie religiös vorbildlich lebten. Zu dieser Aktivität in der Gemeinde gehört selbstverständlich auch die Verkündigung des Evangeliums 71 • Die Bedeutung einer solchen Gruppe wuchs naturgemäß, als sich den christlichen Gemeinden immer mehr Menschen aus bedürftigen Schichten anschlossen. Den Witwen fiel auf diese Weise eine quasi "amtliche" Funktion zu, die zu den in der gleichen Zeit sich bildenden Ämtern als in Konkurrenz stehend empfunden werden konnte. In den Past haben wir wahrscheinlich schon eine Reaktion auf diese Entwicklung vorliegen 72. Sie sind ja getragen von der Zielsetzung, in der Auseinandersetzung um 71 Vgl. dazu E:ScHüssLER FIORENZA, Gedächtnis 381-383, die das Vorgehen der Past gegen den Witwenstand mit der Entstehung solcher "Frauengemeinschaften" zu Beginn des zweiten Jahrhunderts in Verbindung sieht; dazu zählten auch Witwen, die "in gemeinsamen Haushalten zusammenlebten" (vgl. auch Ign., Smyrn. 13, I). 72 Vgl. zu dieser Entwicklung des Witwenstandes, der durch die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit Attraktivität entwickelte, und zur "Antwort der Kirche" J. M. BAssLER, Widow's Tale 31-39; demgegenüber will B. W. WINTER, Providentia 97f, das Problem auf die Versorgung der Witwen beschränken. Zwar sieht auch M. Y. MAcDoNALD die Absicht des Verfassers darin, die Zahl der "eingeschriebenen Witwen" zu reduzieren; sie verbindet dies jedoch (im Anschluß an den Text) damit, daß Sittenlosigkeit und Glaubensabfall bei den Witwen vorgekommen seien: Women Holy in Body and Spirit: the Social Setting of I Corinthians 7: NTS 36 (1990) 161-181, hier 163f.
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1 Tim 5,3-16
den rechten Glauben den Gemeindeleiter in seiner Autorität zu festigen. Neben Diakonen und Diakoninnen und Presbytern wird besonders der Episkopos als verantwortlicher Gemeindeleiter aufgebaut und durch die Anbindungan die Autorität des Apostels Paulus legitimiert. Aus diesem Bereich der Gemeindeleitung sollen die Witwen verdrängt werden. Daß dies das Ziel der Past ist, läßt sich daran erkennen, daß jeder Anschein von Eigenverantwortung bei dieser Gruppe strikt vermieden wird und daß sämtliche die Witwen betreffenden Angelegenheiten der Entscheidung des Gemeindeleiters unterstellt werden. Das betrifft einmal die amtlich von der Gemeindeleitung durchgeführte Festlegung einer "wirklichen Witwe" (V 3), sodann die nur über die dem Gemeindeleiter unterstellte Institution des Witwenstandes (V 9) mögliche Anerkennung als Witwe. In diese offiziöse Gruppe werden diese Frauen nur dann noch aufgenommen, wenn sie Bedürftigkeit nachweisen können (vgl. VV 8.16), wenn sie also der Gemeinde als Bittstellerinnen gegenübertreten müssen. Von da aus wären noch einmal die Gründe für die scharfen Attacken zu überdenken, einmal gegen die "gut lebende Witwe" (V 6) und dann auch gegen die jüngere Witwe (V 13). Eine indirekte Bestätigung für eine solche beginnende Zurückdrängung des Witwenstandes, kaum daß er sich gebildet hatte, bieten die späteren Kirchenordnungen. H.-W. Bartsch verweist darauf, daß sowohl die Apostolischen Konstitutionen (Ende des vierten Jahrhunderts) als auch andere parallele Kirchenordnungen "die beginnende Auflösung des Witwenstandes" bezeugen. Die darin geforderte Verweigerung der Ordination zeigt, daß "der Witwenstand als Stand innerhalb der Gemeindehierarchie ausdrücklich abgewertet" ist 73. "Die letzte Konsequenz dieser Entwicklung wird dann in den ean.Hip. sichtbar, die nicht mehr um eine Ordnung des Witwenstandes bemüht sind, sondern die Auflösung des Witwenstandes innerhalb der Gemeindehierarchie betreiben bzw. voraussetzen. Die Witwen sind dort wieder dahin zurückgeführt, von wo sie ausgingen. Sie sind ein natürlicher Stand innerhalb der Gemeinde und als solcher auf die Fürsorge der Gemeinde angewiesen. So werden die Witwen dort wieder als Menschen genannt, denen gegenüber lediglich die Gemeinde eine Fürsorgepflicht wie gegenüber den Waisen hat, ohne daß den Witwen Amtsfunktionen zugebilligt werden." 74 Ist der Anfang dazu nicht bereits hier in den Past gemacht? LITERATUR: O. BANGERTER, Les veuves dans les epitres pastorales, modele d'un ministere feminin dans l'Eglise ancienne: FV 83 (1984) 27-45; J. M. BASSLER, The Widows' Tale. A Fresh Look at 1 Tim 5 :3-16: JBL 103 (1984) 23-41; L. Bopp, Das Witwentum als organische Gliedschaft im Gemeinschaftsleben der alten Kirche (Mannheim 1950) 18-26; P.-G. DUNCKER, " ... quae vere viduae sunt" (I Tim. 5,3): Ang.35 (1958) 121-138; J. ERNST, Die Witwenregel des ersten Timotheusbriefes - ein Hinweis auf die biblischen Ursprünge des weiblichen Ordenswesens?: ThGI59 (1969) 434-445; H. FUNKE, Univira. Ein Beispiel heidnischer Geschichtsapologetik: JAC 8/9 (1965/66) 183-188; P. S. HIEBERT, "Whence Shall Help Come to Me?" The biblical Widow: Gender and Difference in Ancient Israel (hrsg. v. P. L. Day) (Minneapolis 1989) 125-141; B. KÖTTING, Art. Digamus: RAC III 1016-1024; J. M ÜLLER-BARDORFF, Zur Exegese von 73 74
H.-W. BARTSCH, AnHinge 124. H.-W. BARTSCH, Anfänge 135.
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1 Tim 4,12 -6,2 1 Tim 5 :3-16: Gott und die Götter. FS E. Fascher(Beriin 1958) 113-133; A. SAND, Witwenstand und Ämterstrukturen in den urchristlichen Gemeinden: BiLe 12 (1971) 186-197; E. SCHÜSSLER FIORENZA, Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge (München/Mainz 1988) 376-384; F. C. SYNGE, 1 Timothy 5,3-16, in: Theo!. 68 (1965) 200f; B. B. THURSTON, The Widows: A Women's Ministry in the Early Church (Minneapolis 1989); B. W. WINTER, Providentia for the Widows of 1 Timothy 5,3-16: TynB 39 (1988) 83-99.
d) Die Stellung der Presbyter (5,17-22)
Die Presbyter, die ihr Vorsteheramt gut verwalten, sollen doppelter Ehre würdig erachtet werden, besonders die, die in Wort(verkündigung) und in Lehre sich abmühen. 18 Sagt doch die Schrift: Einem dreschenden Ochsen sollst du das Maul nicht verbinden; und: Der Arbeiter ist seines Lohnes wert. 19 Gegen einen Presbyter nimm keine Klage an, es sei denn aufgrund von zwei oder drei Zeugen. 20 Die, die sich verfehlen, weise vor allen zurecht, damit auch die übrigen Furcht haben. 21 Ich beschwöre dich vor Gott und Jesus Christus und den auserwählten Engeln, daß du dies beachtest ohne Vorurteil und nichts tust nach Gunst. 22 Lege niemand vorschnell die Hände auf und habe keinen Anteil an fremden Sünden. Bewahre dich rein. 17
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Für die Erörterung dieses Abschnittes sind vorweg zwei Fragen zu stellen: Es ist (1) zu fragen nach der Übersetzung und der Bedeutung des Begriffes npscrßu't'Epm und (2) nach der Einheitlichkeit des Textes, ob also durchgängig von den npEO'ßu't'Epm gehandelt wird, oder ob (ab V 21) ein Wechsel auf andere Personen anzunehmen ist. Zu (1): Das Wort npEO'ßu't'EPO~ kann sowohl einen älteren Mann bezeichnen (vgl. 5,1) als auch als Titel gebraucht werden. Letzteres ist etwa zweifelsfrei belegt durch die Nennung des Presbyterkollegiums in 4,14, welches als von einem festen, begrenzten Kreis von Presbytern gebildete Gruppe mit spezifischen Funktionen in der Gemeinde vorzustellen ist 1. rrpEcrß\l't'EPO~ ist hier (wie auch Tit 1,5, wo gesagt wird, daß der Apostelschüler im Auftrag des Paulus Älteste einsetzen soll) "offenkundig terminus technicus für Träger des gemeindeleitenden Amtes"2. Die ursprünglich (aufgrund der Herkunft aus dem Bereich der Presbyterialverfassung der jüdischen Synagogengemeinde) auch noch auf ein entsprechendes Alter weisende Bezeichnung war in der Zeit der Past schon Funktionsbezeichnung, so daß zwar auch und insbesondere ältere Männer in diesem Gremium vertreten waren, das Alter jedoch nicht mehr allein bedeutsam war.
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2
Vg!. F. M. YOUNG, EIUEKOrrOl: 143f. G. BORNKAMM, ThWNT VI 666.
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I Tim 5,17-22 Demgegenüber vertritt J. Jeremias die Meinung, "daß das Wort presbyteroi nicht Amts-, sondern Altersbezeichnung ist"; dann besage V 17 "völlig einleuchtend, daß diejenigen Alten, denen ein Amt übertragen wurde und die es treu verwalten, doppelte Bezahlung erhalten sollen - nämlich im Vergleich zu den von der Gemeinde unterstützten Alten und Witwen" 3. Diese Interpretation hat sich auf breiterer Basis nicht durchsetzen können', obwohl weitgehend das Verständnis von 'tt11'; im Sinne der Entlohnung akzeptiert wird. Es ist also davon auszugehen, daß hier npEO"ß(YtepOl als Titel und Funktions- bzw. Amtsbezeichnung gebraucht ist'.
Weniger sicher läßt sich über die allgemeine Bestimmung gemeindeleitender und -ordnender Funktion hinaus Konkretes über die Stellung der Presbyter sagen, v. a. auch, was das Verhältnis zum Episkopos angeht 6. Mit der Bestimmung der Presbyter als "gemeindeleitendes Kollegium ... , aus dem auch einige in der Verkündigung tätig sind"', ist das Zugeständnis zu verknüpfen, daß eine Abgrenzung zum Aufgabenbereich des Episkopos kaum möglich ist. G. Bornkamm ist deshalb der Meinung, "daß beide Ämter in den Pastoralbriefen überhaupt identisch sind" 8. Diese These hat insofern einiges für sich, als die bei den Gemeindeformen - die von Episkopos und Diakonen bestimmte und die mit einem Gremium von Presbytern an der Spitze - ursprünglich verschiedenen Missionsbereichen zuzuordnen sind, die Aufgaben in den Gemeinden für diese verantwortlichen Gruppen also dieselben waren. Mit der in den Past bezeugten Entwicklung der Verschmelzung der beiden Gemeindeformen ergibt sich dann aber die Möglichkeit bzw. auch die Notwendigkeit einer Differenzierung. Wie die ausführliche Beschreibung der Stellung von Episkopos und Diakonen (vgl. 3,1-7.8-13) erkennen läßt, will der Verfasser seine Gemeinden auf diese Struktur festlegen 9. Das stellt ihn vor die Aufgabe, die Presbyter zu integrieren. Dies geschieht in einer sehr eindrucksvollen Weise dadurch, daß das Presbyterkollegium bei der Ordination des Gemeindeleiters - und dabei ist dann schon an den Episkopos zu denken eine entscheidende Funktion zugesprochen bekommt: Durch Handauflegung der Presbyter wird ihm das für seine Aufgabe der Gemeinde1eitung wichtige Charisma übertragen (4,14) 10. Die von N. Brox aufgrund dieser 3 J. J EREMIAS, Past 41. • Vgl. aber die Erklärung bei G. HOLTZ, Past 125, unser Abschnitt habe "insgesamt die Kreise vor Augen, zu denen auch Amtsälteste gehören". Im Anschluß an J. Jeremias formuliert auch U. BORSE, 1 Tim 62, seine Position: es sei naheliegend, "die vorausgehende Unterhaltsregelung für die Witwen durch eine entsprechende Anweisung zu ergänzen, die die Altersversorgung der Männer betrifft". Dagegen spricht aber schon die ganz unterschiedlich geartete Bestimmung des Verhältnisses der Angesprochenen zur Gemeinde. , Zu den "Presbytern" in den Past auf dem Hintergrund des urchristlichen Ältestenamtes vgl. M. KARRER, Ältestenamt 176-179. • Dazu N. BROX, Past 149-151; G. BORNKAMM, ThWNTVI 666-668. 7 So H. v. LIPS, Glaube 111. B G. BORNKAMM, ThWNTVI 667. 9 Vgl. etwa J. ROLOFF, 1 Tim 175. 10 Die Darstellung des Ordinationsritus ist nach M. KARRER, Ältestenamt 177, "eine überaus dichte Belebung der ererbten Ältestenvorstellung" ; dahinter werde Moses
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"Ämtervermischung" vorgeschlagene Bestimmung, daß "alle Bischöfe Presbyter" waren, "aber nicht alle Presbyter Bischöfe" 11, läßt sich dahingehend präzisieren, daß - zumindest in der Regel - "aus den Reihen des Presbyteriums einer als Episkopos der Gesamtgemeinde bestimmt werden" sollte 12. In der Funktionsbeschreibung ist somit zusammen mit der Tätigkeit der Gemeindeverwaltung auch die Verkündigung als eine wesentliche Aufgabe der Presbyter zu benennen, wobei letztere vom Verfasser her gesehen möglicherweise stärker auf die Person des Episkopos hin ausgerichtet werden sollte. Zu (2): Der einheitliche Bezug des Textabschnittes auf den Presbyter ist umstritten, insbesondere die Interpretation von V 22, ob nämlich die Handauflegung als Ordinationsritus oder als Bußritus zu deuten ist. Wird letzteres Verständnis bevorzugt, dann ist in den meisten Fällen auch zwischen V 19 und V 20 ein Wechsel der Personen angenommen; während VV 17-19 von den Presbytern handeln, spreche der Verfasser ab V 20 von Sündern in einem ganz allgemeinen Sinn 13. Die Einheitlichkeit der Perikope bleibt allerdings auch bei den Exegeten gewahrt, die in der Handauflegung V 22 zwar einen Bußritus sehen, die davon Betroffenen aber als abtrünnige und reuige Presbyter identifizieren 14. Gegen die Annahme eines Personenwechsels zwischen V 19 und V 20 spricht jedoch die thematische Einheitlichkeit des Abschnittes 5,17-22 15, so daß auch daran festzuhalten ist, daß jeweils von der Gruppe der Presbyter, also den Verantwortlichen der Gemeinde, die Rede ist. Über sie wird in dreifacher Hinsicht gesprochen: (1) Zuerst über die, denen gute Arbeit attestiert wird (VV 17 f); (2) über die, die sich etwas zuschulden kommen ließen (VV 19f); (3) schließlich über Bedingungen für die Einsetzung von ' Vorstehern (VV21f)16. Handauflegung auf Josua (Dtn 34,9; Num 27, 15-23) sichtbar; die prophetische Äußerung verweise auf Num 11,25. 11 N. BRox, Past 151. 12 Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 176. Es ist wohl richtig, daß die Behauptung zu weit geht, der Episkopos müsse "unbedingt" aus der Reihe der Presbyter gewählt werden (vg1. H. MERKEL, Past 92); einige Bestimmungen zum Episkopos, etwa die Fähigkeit zu lehren (3,2), können aber doch als Hinweise gesehen werden, daß der Paulus der Past sich ein bereits bewährtes Mitglied der Gemeinde an der Spitze wünscht. 13 Vgl. die Aufteilung bei U. BORsE, Past 61.64, del" den Abschnitt 5, 17-19 überschreibt "Doppelte Anerkennung für die guten Vorsteher", und 5,20-25 mit "Vom Umgang mit den Sündern". Ausführlich begründet diese Auslegung P. GALTIER, Reconciliation. Für eine "Zäsur" zwischen V 19 und V 20 spricht sich auch aus G. BORNKAMM, TbWNT VI 666 Anm. 93; auch nach M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 62, beginnt mit V 21 "eines der Zäsurstücke". Vgl. dazu auch den Überblick bei N. BRox, Past 201 f. . 14 Vgl. V. HASLER, Past 43; auch G. HOLTZ, Past 127-129, der 1tPEcrß(l'tEPot allerdings mit "die Alten" übersetzt. 15 Vgl. dazu die Einzelbegründung bei A. COUSINEAU, Sens 149-158, und bei J. W, FÜLLER, Elders, wobei beide die VV 17-25 als Einheit betrachten, letzterer mit Verweis auf die Parallelität zu Dtn 19,15-20. Die Einheitlichkeit des Abschnitts 5,17-22 bzw. 5,17-25 wird von den neueren Kommentaren beinahe einhellig vertreten. 16 Vgl. P. DORNIER, Past 94, der allerdings V 21 zum zweiten Teil hinzunimmt und den dritten Teil (VV 22-25) anders akzentuiert; ähnlich H. MERKEL, Past 44.
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1 Tim 5,17-22
11 17 Mit einem relativ abrupten Subjektwechsel führt der Verfasser nun erstmals, und erstaunlicherweise erst nach der Behandlung der Witwen, die Gruppe der Presbyter ein. Allerdings ist ihr innergemeindlicher Rang in dem Hinweis auf ihre Mitwirkung bei der Ordination des Gemeinde1eiters (4,14) bereits angedeutet worden. Es wird aber nicht nur allgemein von den npecrß(ycepm gesprochen, sondern der Verfasser stellt sie, vergleichbar mit dem vorhergehenden Text zu den Witwen, unter ein kritisches Urteil bezüglich ihrer Aufgabenerfüllung. Die Formeln KUA(i)~ npoecr't(i)'te~ ist sicher nicht nur einfach zu verstehen als allgemeine Bezeichnung des Vorsteheramtes, sondern bestimmt wie in 3,4 die Qualität der Amtsausübung. Die Bewährung im Amt erhält noch eine Spezifizierung mit der Hervorhebung derer, "die sich abmühen in Wort und Lehre". Es ist dabei nicht zu denken an eine strenge Aufgabenteilung, etwa zwischen Verwaltungs aufgaben und Verkündigung; beides gehört vielmehr zum Aufgabenbereich der Presbyter. Der Vers gibt aber schon deutliche Hinweise für eine differenzierende Sicht und Bewertung der Arbeit der Presbyter für die Gemeinde. Es gibt unterschiedliche Grade in der Art und Weise der Erfüllung einer Aufgabe; es gibt aber auch unterschiedliche und unterschiedlich gewichtige Bereiche, die in die Verantwortung eines Presbyters fallen. Als übergreifende Bezeichnung des Aufgabenbereichs der Presbyter dient npotcr'racr9ut (vorstehen). Bereits Paulus nennt 1 Thess 5,12 zusammen mit denen, die "sich mühen" (Kom(i)V'te~), solche, deren Tätigkeit mit "vorstehen" umschrieben wird (npo·(cr-c
18
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I Tim 4,12 - 6,2 tung von Verkündigung und Lehre entspricht, daß dem, der darin sich auszeichnet, vom "Apostel" doppelte 't1.11" zuerkannt wird.
Die Übersetzung von 'tL~'" in diesem Zusammenhang ist nicht eindeutig festzulegen. Von der Wortbedeutung her ist sowohl möglich die Übersetzung "Ehre" wie "Preis" (= Bezahlung). Im Blick auf die bei den Zitate in V 18 wird heute die zweite Bedeutung überwiegend als zutreffend angenommen. So legt sich etwa nach H. v. Lips "das Verständnis als Bezahlung, Honorar zwingend nahe" 19. In prinzipieller Übereinstimmung mit dieser Deutung auf die Entlohnung und unter Verweis auf V 18 wird doch bei anderen Exegeten eine einseitige Festlegung der Erklärung von 1:tl1" als "Bezahlung" vermieden. So will z. B. N. Brox 't1.11" als "Ehrerbietung und Besoldung zugleich" verstehen, wobei der Ton, anders als in 5,3 und 6, 1, auf der "technischen" Bedeutung von Lohn und Honorar liege 20 • Ähnlich wählt V. Hasler zwar in der Übersetzung von 't1.11" den Begriff "Belohnung" und billigt dem Presbyter "bessere Bezahlung" zu, will aber doch den Begriff der "doppelten Honorierung" nicht pressen. Der Ton liege vielmehr "auf der vermehrten Anerkennung des tüchtigen und bewährten Presbyters und damit auf der Anspomung zu erhöhtem Eifer und unermüdlichem Einsatz" 21. Und auch nach Überzeugung von J. Roloff ist die Bedeutung von 't1.11" (analog zu 't1.l1äv V 3) als "terminus technicus für eine Besoldungsleistung" v. a. "durch die nachfolgende Begründung (V 18) sichergestellt"; doch sowohl bei der Erklärung von 6t1tI-:11 im Sinne eines "doppelten Honorars" fehle uns der entscheidende Bezugspunkt, und von einer "regulären Besoldung" könne "schwerlich" die Rede sein, allenfalls sei mit einer "bescheidene(n) Aufwandsentschädigung im Sinne eines Ehrensoldes" zu rechnen 22. Weil die Deutung von 't1.11" auf "Unterhaltszahlung" u. a. wegen des Fehlens weiterer Bezeugung bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts in eine "Sackgasse" führt, verweist G. Schöllgen zur Erklärung auf die in der Antike bezeugte Praxis, daß v. a. im Vereinswesen "Patrone, Priester und sonstige Funktionsträger häufig durch doppelte oder dreifache Portionen bei Festrnählern geehrt" wurden. So lege sich auch für die 6mA.fi 't1.11" der Presbyter in I Tim 5,17 "die Deutung als Ehrenportion bei den Gemeindemählern als plausibelste Interpretationsmöglichkeit meindlichen Funktionen gesprochen wird. Der Vorschlag der Staffelung bei U. BORSE, Past 62 - einmal mehr ältere Männer, die wie die alleinstehenden Witwen zu versorgen sind; dann solche, die sich als "gute Vorsteher ihres Hauswesens" bewährt haben; schließlich die, "die sich für die Lehre des Gotteswortes eingesetzt haben" - hat keine Basis im Text. 19 H. V. 4ps, Glaube 109 Anm. 86. Vgl. auch T. HARAGUCHI, Das Unterhaltsrecht des frühchristlichen Verkündigers. Eine Untersuchung zur Bezeichnung tpya't1]~ im Neuen Testament: ZNW84 (1993) 178-195, hier 185f. 20 N. BROx, Past 199. Brox entzieht dann aber diesem Verständnis von "Lohn" doch wieder die notwendige Basis, wenn er das Vorhandensein einer "kirchlichen Gehaltsordnung" (mit Recht!) bezweifelt und entsprechend das Adjektiv "doppelt" nicht numerisch verstehen will. Da bei 't1.11" "zusammen mit dem Geld, wahrscheinlich sogar hauptsächlich, die entsprechende Hochschätzung" gemeint sei, verlange die Kirchenordnung "lediglich die angemessene Wertschätzung eines bewährten Presbyters, die sich aber auch in seinem Gehalt niederschlagen soll" (ebd.). 21 V. HASLER, Past 42f. 22 J. ROLOFF, I Tim 308. Ähnlich spricht J. P. MEIER, Presbyteros 327, von "freiwilliger Bezahlung" ("honorarium").
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1 Tim 5,17-22 nahe"'3. Folgt man dieser Deutung, dann wäre mit der außergewöhnlichen Versorgung mit Speisen und Getränken doch in jedem Fall auch ein besonderer Akt der Ehrerbietung verbunden, der nicht allein in der Fülle der Gaben zu sehen ist; und da die Zusammenkünfte zu diesen Gemeindemählern in Privathäusern stattfanden, wäre auch damit zu rechnen, daß es unterschiedliche Formen der Anerkennung für den verdienten Presbyter gab.
Unter diesen Bedingungen erscheint es mehr als fraglich, ob man 'ttlJ." vorrangig überhaupt in diesem technischen Sinne von "Besoldung" bzw.
auch "Ehrenportion" verstehen darf 24 • Der Hinweis auf V 18 ist nur bedingt tragfähig, insofern diese beiden Zitate gerade nicht die Verdoppelung der 'ttlJ." für den bewährten Presbyter belegen. Es ist zu fragen, ob der Bezug auf die "Schrift" in V 18 ausschließlich als Hinweis auf materielle Versorgung verstanden werden darf. Schließlich muß auch noch offenbleiben, ob der Verfasser eine in seiner Zeit schon gefestigte Praxis vor Augen hat, oder ob er von sich aus einen Beitrag zur Förderung des Ansehens der Gemeindebeamten leisten will. Nehmen wir den Kontext als Interpretationshilfe hinzu, so ist der vorangehende Abschnitt mit der ausführlichen Erklärung zu den Gemeinde-. witwen mitzubedenken. (1) Wenn bei den Presbytern von "doppelter Ehre" gesprochen wird, dere~ sie wert erachtet werden sollen, dann ist nach dem Vergleichspunkt zu fragen, nach dem Ausgangspunkt, auf den in dieser überbietenden Forderung Bezug genommen ist. Dabei ist der Zusammenhang von 'ttJ.Ulv von 5,3 und von 'ttlJ." von 5, 17 zu: beachten. In heiden Fällen geht es um die Beziehung der Gemeindemitglieder untereinander; einzelne Gruppen, die in der Gemeinde in irgendeiner Weise besonders hervortreten und sich profilieren, werden vorgestellt. Es geht um den Beitrag, den sie als Gruppe für das Leben der Gemeinde einbringen. Der Begriff'ttlJ." ist deshalb, wie auch schon das Verbum 'ttlJ.öv in 5,3, passender nicht auf ein materielles Entgelt einzugrenzen, sondern in erster Linie im wörtlichen Sinn mit "Ehre" zu übersetzen. Die daraus resultierende Verpflichtung zu entsprechender materieller Versorgung für den Fall, daß solche notwendig ist, ist dabei eine nicht weiter reflektierte Konsequenz 25. (2) Im Blick auf den Witwenstand behält dann die Forderung der doppelten Ehre für die Presbyter·auch eine passende Bedeutung. WeI).n wir die Stellung der Gemeindewitwen, die ganz und ungeteilt für die Gemeinde und ihre Anliegen da sind, richtig bestimmt haben und wenn wir zugleich die Intention des Verfassers getroffen haben, daß er diesen Witwenstand nach Möglichkeit zurückdrängen, ja als eine in der Gemeindeöffentlich.3 G. SCHÖLLGEN, 'tLJ.LT) 234-239. Dem schließt sich H. MEBKEL, Past 45, an. Die in späteren Kirchenordnungen belegte Wortbedeutung "Besoldung" geht auch nach Meinung von H. MERKEL, Past 44f, "über das an unserer Stelle Gemeinte hinaus; . bloße Vermutung ist, die guten Presbyter würden doppelt so hoch wie die Witwen besoldet. Der Finanzkraft der frühchristlichen Gemeinden wird damit erheblich zuviel zugetraut". Ähnliche Bedenken auch schon bei G. SCHÖLLGEN, 'tLJ.LT) 235. 25 o. KNocH, Past 40, fordert, 'tLJ.LT) "doppelt zu verstehen: im.Sinn von Ehrerbietung, ' Anerkennung und im Sinn v~ Bezahlung". 24
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keit aktive Institution ganz beseitigen will, bzw. daß die Bedingungen so formuliert sind, daß das Vorhandensein solcher unversorgter Witwen beinahe schon als ein Vorwurf an die soziale Verantwortung der Gemeinden erscheint, dann setzt diese Forderung nach doppelter Ehrerbietung gegenüber den Presbytern wiederum einen Akzent, der in direktem Zusammenhang mit den Aussagen zu den Gemeindewitwen zu sehen ist. Entsprechend der größeren Verantwortung der Presbyter für die Gemeinde, nämlich in der Verkündigung und in der Sorge für die Lehre, haben sie höherer, ja doppelter Wertschätzung von seiten der Christen für würdig zu gelten. In dieser Verbindung erhält auch das Adjektiv OUtAfj einen Sinn, der nicht darauf angewiesen ist, quantitativ exakt bestimmt zu werden 26. 18 Die vorstehende Forderung wird zuerst aus der Schrift begründet. Der begründende Charakter wird aus dem Anschluß mit yap deutlich. In der Zitation der alttestamentlichen" Tierschutzvorschrift" 27 Dtn 25, 4 zeigt sich der Verfasser literarisch abhängig von der paulinischen Zitierung derselben Stelle in I Kor 9,9 28 • Paulus begründet dort das Recht des reisenden Missionars auf Unterhalt durch die Gemeinde. Die Möglichkeit einer einfachen Übertragung dieser von Paulus aufgegriffenen Bestimmung, mit welcher die Gemeinde auf die Verpflichtung zur Unterstützung des vorübergehend anwesenden Missionars hingewiesen wird, auf den vorliegenden Fall, nämlich die Verpflichtung der Gemeinde, für den Unterhalt der in der Gemeinde lebenden Presbyter aufzukommen, ist schon wegen der veränderten Situation der betroffenen Gemeinden und auch wegen der andersgearteten Stellung der für die Verkündigung Verantwortlichen nicht gegeben. Das Verständnis des alttestamentlichen Zitates als "kirchenrechtliche Vorschrift" 29 ist sicher zu hoch gegriffen; es ist allerdings deutlich, daß es um eine Anweisung bzw. um eine Bestimmung geht, die die sich entwickelnden Strukturen innerhalb des Gemeindelebens in ihrem verpflichtenden Charakter unterstreichen soll. Der in der Gemeindeverwaltung tätige und für die Lehre sich abmühende Presbyter hat ein Recht auf Anerkennung, die sich auch in der entsprechenden Sicherung des Lebensunterhaltes durch die Gemeinde äußern muß. Dies zeigt sich auch in dem zweiten Wort: "Der Arbeiter ist seines Lohnes wert." Die auffällige Übereinstimmung mit Lk 10,7 wird bisweilen damit erklärt, daß der Verfasser das Lukasevangelium oder aber die Logienquelle gekannt und daraus zitiert habe 30. Solche Abhängigkeit ist
2. Umgekehrt bleibt bei der Deutung von 'tLj.LT] auf "Entlohnung" der Sinn des Adjektivs lhMfj offen, wie sich etwa bei P. TRUMMER, Paulustradition ISS Anm. 217, zeigt: ,,'tLj.LT] ist sicher auch im Sinne einer Bezahlung zu lesen. liLMfj scheint weniger exakt die genaue Maßeinheit angeben zu wollen." 27 Vgl. N. BRox, Past 199. 28 Dazu P. TRuMMER, Paulustradition 15lf. Vgl. auch J. ROLOFF, I Tim 305. 29 So F. J. SCHIERSE, Past ]3. 30 So etwa H. MERKEL, Past 45; ähnlich J. ROLOFF, I Tim 309f. Eindeutig entscheidet
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jedoch nicht nur nicht zu belegen, sondern auch nicht notwendig; denn ebensogut kann unser Autor dieses Wort der mündlichen Überlieferung entnommen haben 31. Des weiteren ist zu fragen, ob das Sprichwort ausdrücklich als Jesuswort auf den Verfasser gekommen sein muß, da es doch recht allgemeinen und allgemeingültigen Charakter hat. Daß es gewissermaßen schon zum Selbstverständnis christlicher Missionare dazugehörte, ist ebenfalls möglich, wobei eine ausdrückliche Verbindung mit Jesus nicht einmal vorausgesetzt werden kann. Dies ist.von Bedeutung für die Interpretation der Einführungsformel mit dem Bezug auf "die Schrift". Mit der These, der Verfasser zitiere aus einer Sammlung von Jesusworten (Lk oder Q oder auch allgemein eine Sammlung von Logien 32), wird bisweilen auch die These verknüpft, im Verständnis des Verfassers sei nicht nur das aus 1 Kor 9,9 übernommene Schriftzitat aus Dtn 25,4 (welches bei Paulus allerdings ausdrücklich als Zitat aus dem "Gesetz des Mose" eingeführt wird!) als ypa
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zum festen Bestandteil des christlichen Gottesdienstes" gehörten, ist alles andere als "wahrscheinlich" '6, ganz abgesehen davon, daß die Textbasis zur Absicherung einer solchen Behauptung schon erheblich erweitert werden müßte. Es liegt aber auch nicht die Zitierung eines Jesuswortes vor, so daß "in der Beiordnung eines Herrenwortes zur alttestamentlichen Schrift auch schon die faktische Hochschätzung der neben den alttestamentlichen Kanon tretenden Autorität Jesu" gesehen werden könnte". Zu letzterem ist zu bedenken, daß es dem Verfasser unter Voraussetzung der Kenntnis von I Kor möglich gewesen wäre, von Paulus her als Wort und Auftrag des "Kyrios" zu übernehmen, daß die Verkünder des Evangeliums auch vom Evangelium leben sollen (I Kor 9, 14). Für die Übernahme der Sentenz vom Arbeiter, der seines Lohnes wert ist, konnte ausschlaggebend gewesen sein, daß dieses Zitat im Vergleich zu dem Wort von den Verkündem des Evangeliums allgemeiner gehalten war .und damit breitere Anwendungsmöglichkeiten bot, etwa auch für die, die ihren Dienst als Vorsteher "gut" verrichtet haben (V 17).
19 Nach den Bemerkungen zum "guten Vorsteher" im Presbyteramt in den VV 17.18 spricht V 19 von dem Presbyter, gegen den eine "Anklage" (KuTllyopiu) erhoben wird. Der Verfasser äußert sich dazu parteiisch, indem er Bedingungen für eine Anklageerhebung nennt. Der Presbyter erhält in der Tat einen "Vertrauensvorschuß" 38. Die Vorschrift, eine Anklage gegen einen Presbyter nur anzunehmen, wenn der aus der alttestamentlichen Rechtstradition (Dtn 19,15) bekannte Grundsatz erfüllt ist, daß diese Anklage von zwei oder drei Zeugen vorgebracht wird, ist eindeutig eine Schutzvorschrift. Das ist auch daran zu erkennen, daß im Unterschied zu Dtn 19,15 jetzt nicht von Prozeß und Verurteilung die Rede ist, sondern daß es noch im Vorfeld derselben um die Zulassung (oder auch die Verweigerung) einer Anklageerhebung geht. Es ist jedoch nicht festzustellen, ob diese Regelung auf eine besondere Gefährdung der Presbyter zurückzuführen ist, und auch nicht, welcher Art die gewesen sein könnte. Allein die Erfahrung, daß die exponierte Stellung des Presbyters Anlaß zu unterschiedlichen Beschuldigungen und Verdächtigungen sein konnte, mochte eine solche Regelung nahelegen, die dem Presbyter eine Art "begrenzte Immunität" verschaffte 39 • Letztlich dient die Schutzvorschrift aber dazu, die Bedeutung des Amtes und damit die Gewichtigkeit einer Anklage gegen einen Vertreter desselben zu betonen.
Gefahr einer Nivellierung scheint auch gegeben, wenn P. TRuMMER, Corpus Paulinum 139, in bezug auf die bei den Zitate von einer "bewußte(n) NebeneinandersteIlung atl. und ntl. Tradition" spricht. 36 Gegen U. BORSE, Past 63. 37 So P. TRuMMER, Paulustradition ISS. Trummer ist zu widersprechen, wenn er sagt, das Herrenwort, das Paulus in I Kor 9, 14 "nur andeutet", sei hier "ausdrücklich angeführt" (ebd.); es ist folglich in V 18 auch nicht ein "wertvolles Zeugnis der neutestamentlichen Kanongeschichte" gegeben, wie F. J. SCHIERSE, Past 74, meint. " H. MERKEL, Past 45. ,. Vgl. N. BROX, Past 200. Dies wird in der Textüberlieferung durch die Weglassung der Regelung mit den Zeugen (so die alt1at. Hs b, Ambrosiaster und Pelagius) noch einen bedeutenden Schritt weitergeführt.
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1 Tim 5,17-22
20 Dieser Vers beschreibt den Fall der Verfehlung. Aufgrund der eingangs begründeten Zusammengehörigkeit des Abschnitts ist vorausgesetzt, daß weiterhin von den Presbytern gesprochen wird 40. Der Bedeutung des Amtes für die Gemeinde und ihren Glauben entspricht zwar, daß der Amtsinhaber vor leichtfertigen und ungerechtfertigten Beschuldigungen in Schutz genommen wird (V 19); nicht weniger wichtig ist aber, daß wirkliche Verfehlungen bei einem Presbyter vom Gemeindeleiter ernst genommen werden. Das entsprechende Verfahren wird mit dem Verbum f:A.f:Y"tßtV umschrieben, welches in den Past häufiger die Aufgabe des Gemeindeleiters, etwa auch im Gegenüber zu Irrlehrern beschreibt (vgl. 2 Tim 4,2; Tit 1,13; 2,15; f:A.ey~6~ 2 Tim 3,16). Die Art und Weise der "Zurechtweisung" ist aus dem Verbum nicht genauer zu bestimmen. Wichtiger ist die damit angestrebte Wirkung auf andere; die Aktion soll "Furcht" hervorrufen, sie soll abschreckend wirken. Nimmt man die anderen Belege für tAtYXEtv dazu, dann läßt sich auch an dieser Stelle der Akzent so angeben, daß die Maßnahme gegen einen Presbyter, der sich verfehlt hat, vor allem auf den Schutz der Gemeinde zielt. Das hat Konsequenzen für die Bestimmung des dazu vorausgesetzten Forums. Die Formulierung f:VOl1ttoV 1tIIV'tOlV kann die ganze Gemeinde bezeichnen, aber auch die Gruppe der Presbyter. Es lassen sich für beide Interpretationen Gründe anführen. Möglicherweise will der Verfasser insbesondere auf die Notwendigkeit hinweisen, daß solche Zurechtweisung eines Presbyters, der sich schuldig gemacht hat, öffentlich erfolgen soll. Diese "Öffentlichkeit" ist auch schon durch die Anwesenheit der anderen Presbyter erreicht, Der Verfasser verbindet damit auch einen erzieherischen Zweck: Die übrigen -und im Rahmen des vorgestellten Verfahrens gegen Presbyter, die schuldig geworden sind, ist ebenfalls an Presbyter zu denken - sollen daraus lernen; für sie soll es ein abschreckendes Beispiel sein 41. Nun ist solche Überhöhung des Motivs der Furcht nicht ganz unproblematisch, insofern die Anwendung disziplinarischer Maßnahmen, mögen sie auch sachlich gerechtfertigt sein, und die daraus resultierende Furcht zuerst einmal dazu führen, daß die Betroffenen (als potentielle Ankläger und möglicherweise als Angeklagte) darin übereinstimmen sollen, daß solches, nämlich die Bestrafung, sich nicht wiederholen möge. Natürlich ist auch hier die Autorität Gottes letztlich in der Begründung des HandeIns und damit auch in der Verantwortung der einzelnen Gemeindemitglieder untereinander mitzubedenken. Es wird aber in der Bestimmung der Zielsetzung der öffentlichen Durchführung der Bestrafungsaktion einseitig das Moment der Furcht vor Strafe, also der Unterordnung und der Abhängigkeit betont 42. Es ist allerdings zugleich zu beachten, daß es dabei um die Männer geht, die für die Gemeinden besondere Verantwortung tragen. Vgl. dazu J. P. MEIER, Presbyteros 330-332. Vgl. H. BALZ, EWNTIII 1038: "Gottesfurcht ist Ausdruck des Gehorsams (I Tim 5,20) und des Wissens um das gerechte Gericht Gottes ..... 42 Die neben dem Motiv der Abschreckung in q>6ßo<; enthaltene Bedeutung der Aufforderungzum Gehorsam (vgI.J. ROLOFF, 1 Tim311; H. BALZ, EWNT III 1037f) entspricht einem Grundanliegen der Past. 40 41
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In der sich anschließenden Frage nach der für die Bestrafung zuständigen Instanz ist am ehesten an den Episkopos zu denken 43 . 21 Mit der "Beteuerungsformel" (vgl. auch 2 Tim 2, 14; 4,1)44 wird wieder die Autorität des Paulus im direkten Gegenüber zum Gemeindeleiter ins Zentrum gerückt. Die Aktivitäten des Amtsinhabers entsprechen dem Auftrag des Apostels; er wird von "Paulus" sehr eindringlich an seine Verantwortung erinnert. Da es um die Verantwortung geht, die er als Gemeindeleiter und damit auch für die Mitglieder des Presbyterkollegiums hat, erscheint es nicht zweifelhaft, daß über Timotheus der Vorsteher auf seine Verpflichtung hingewiesen wird, die insbesondere mit dem Verhalten der Presbyter zu tun hat. Was ihm zur Beachtung aufgetragen wird (lva ... qJUAl:t~T]~), das (tao'ta) betrifft das zuvor über den Ehrerweis für die guten (V 17) und die Zurechtweisung der einer Verfehlung überführten Presbyter (V 20) Gesagte. Das betrifft aber auch den Anteil des Leiters in der verantwortlichen Stellung als oberste Gemeindeautorität. Er muß seiner Pflicht nachkommen, die nicht durch persönliche Voreingenommenheit beeinträchtigt werden darf45. Das schließt - m. E. notwendigerweise und logisch - die (im nächsten Vers angesprochene) Verantwortung im Vorfeld mit ein, bei der Auswahl und bei der Ordination der Presbyter 46 . Die dreigliedrige Einleitungsformel kann als Bestätigung der vorgelegten Interpretation, insbesondere auch für die Deutung von V 20 auf die Presbyter, gesehen werden. Sie verbindet nämlich äußerst geschickt das über den guten Presbyter Gesagte - der sich abmüht in Verkündigung und Lehre 47 - mit der Anweisung zum Vorgehen bei der Ordination. Für die Beteuerungsformel, die in der triadischen Form der Zusammenstellung von Gott, Jesus Christus und den "auserwählten Engeln" im NT sonst nicht mehr begegnet, lassen sich in der christologischen Überlieferung Anknüpfungspunkte benennen 48, die aber zugleich für unterschiedliche Gestaltung offen sind. In der am ehesten vergleichbaren Zusammenstellung Offb 1,4fwerden "die sieben Geister" vor Jesus Christus genannt, und sie stehen vor dem Thron Gottes, sind also verstanden "als der eine Geist Gottes selbst"49. Ähnlich ist die Reihenfolge der Nennung der beim GeVgl. F. J. SCHIERSE, Past 74f; H. v. LIPS, Glaube 115. Vgl. J. ROLOFF, I Tim 312f. 45 llp6KPLJ.1Ct (Vorurteil) und 7lp6(JKA.L(JL~ (Gunst) sind neutestamentliche Hapaxlegomena; die Begriffe stehen "faktisch synonym" (J. ROLoFF, I Tim 312 Anm. 437). 46 Diesen Zusammenhang betont C. SPICQ, Past 546; ähnlich I. GOLDHAHN-MüLLER, Grenze 203. 47 Die Diskussion über die Frage, wie viele "unterschiedliche Gruppen von Presbytern" in V 17 genannt werden (vgl. etwa bei J. P. MEIER, Presbyteros 326f), ist müßig. Es ist nur von einer Gruppe die Rede, nämlich von denen,die sich durch ihre "Mühe" (KO7lL(i)v'te~) für "Wort und Lehre" ein "gutes Urteil" (KCtMii~) verdient haben. 48 J. ROLOFF, I Tim 312, rechnet mit einem "Rudiment einer altertümlichen Christologie, die Christus in eine enge Verbindung mit bestimmten Engeln brachte". 49 E. SCHWEIZER, Die sieben Geister in der Apokalypse: Neotestamentica (Zürich! Stuttgart 1963) 190-202, hier 202. 43
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I Tim 5,17-22
richt Gottes anwesenden Zeugen (vgi. äthHen 48,9), der "heiligen Engel" und des Lammes, in Offb 14,10 am ehesten damit zu erklären, daß die Engel "als jüdische Umschreibung für Gottes Gegenwart" stehen S0. Als Gerichtsforum werden die~ngel in der synoptischen Tradition in solchen Aussagen genannt, die das'Wiederkommen des Menschensohnes zum Gericht ankündigen (Mk 8,38parr; Lk 12,9; vgi. auch Mk 13,26f par; Mt 25,31). Hier dürfte der traditionsgeschichtliche Anknüpfungspunkt für unseren Autor liegen, der, entspreche!}
1984) 268. Anzeichen für eine "Hochschätzung" der Engel oder gar so etwas wie "Engelsverehrung" fehlen hingegen vollständig (gegen B. LANG, NBL I 538). Sl Vgl. I. GOLDHAHN-MüLLER, Grenze 203. Ausführlich dazu auch N. ADLER, Handauflegung. SI
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1 Tim 4,12 - 6,2
4. Die Handauflegung als Bußritus ist erst seit dem dritten Jahrhundert mit Sicherheit belegt. Die Frage, von wessen Ordination gesprochen wird, ist aus dem Kontext heraus mit dem Verweis auf die Presbyter zu beantworten. Es spricht nichts dafür, daß diese Ordination solchen Männern erteilt wurde, die schon zum Kreis der Presbyter zählten und die nun zu besonderem Dienst, zu Lehre und Verkündigung bestellt werden sollten (vgl. V 17)". Die Allgemeinheit der Anweisungen deutet sodann darauf hin, daß der Verfasser nicht nur etwas über die Presbyter sagen wollte, sondern daß er mit den Presbytern ein Paradigma für alle Amtsträger der Gemeinden gewählt hat.
III
Auf zwei Aspekte sei abschließend noch verwiesen. 1. Mit den Presbytern wird eine in den Gemeinden anerkannte Gruppe von Amtsträgern eingeführt. Die Betonung liegt aber, wie aus der Art und Weise der Formulierung der Anweisungen zu ersehen ist, darauf, daß mit der immer stärker werdenden (und vom Verfasser auch tatkräftig unterstützten) Verlagerung des Gewichts in der Gemeinde auf die Amtsträger auch die Verantwortung derer wächst, die mit der Einsetzung und bleibenden Beurteilung dieser Amtsträger zu tun haben. 2. Der wachsenden Bedeutung der Kirchenzucht (vgl. 1,3; 1,19 t) entspricht die Ausbildung eines Rasters von Vorschriften für die Besetzung und die Verwaltung der Ämter. Für die zum Dienst in der Gemeindeverwaltung und v. a. in der Glaubensverkündigung durch einen offiziellen Akt bestellten Personen werden ansatzweise Kriterien benannt, die bei der Besetzung dieser Ämter in der Zukunft beachtet werden sollen. Zusammen mit der zunehmenden Institutionalisierung von innergemeindlichen Aufgaben gewinnt, erkennbar in der Gewichtung der Handauflegung, auch der Sukzessions gedanke an Bedeutung. LITERATUR: N. ADLER, Die Handauflegung im Neuen Testament bereits ein Bußritus? Zur Auslegung von 1 Tim 5,22: Neutestamentliche Aufsätze (FS J. Schmid) (Regensburg 1963) 1-6; J. W. FULLER, OfElders und Trials in 1 Timothy 5.19-25: NTS 29 (1983) 258-263; I. GOLD HAHN-MÜLLER, Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der Zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh. bis Tertullian (GTA 39) (Göttingen 1989) 197-205; J. A. KIRK, Did "Officals" in the New Testament Church receive a Salary?: ExpT84 (1972/1973) 105-108; G. SCHÖLLGEN, Die IhMf!1:1111l von 1 Tim 5,17: ZNW 80 (1989) 232-239.
e) Zwischenbemerkungen zum Verhältnis von gegenwärtigem Tun und künftiger Vergeltung (5,23-25)
Trinke nicht mehr nur Wasser, sondern nimm etwas Wein wegen deines Magens und wegen deiner häufigen Krankheiten. 24 Von einigen Menschen sind die Sünden offenkundig, sie gehen ihnen voraus zum Ge-
23
" Dafür spricht sich aus J. ROLOFF, 1 Tim 314.
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I Tim 5,23-25
richt; anderen aber folgen sie nach. 25 Ebenso sind auch die guten Werke offenkundig, und auch die (guten Werke), bei denen es sich anders verhält, können nicht verborgen bleiben. I
In den meisten Kommentaren werden diese Verse im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Abschnitt behandelt. Zugunsten einer solchen Einteilung ließe sich die enge Verbindung von V 22b zu V 23 anführen, wo "Timotheus" unmittelbar angesprochen ist. Da mit der "persönlichen" Notiz zur Lebensweise des Timotheus zugleich eine Zäsur gegeben ist, können die VV 23-25 als eigener Textabschnitt interpretiert werden 1, wobei dafür nicht ein ihnen gemeinsames Thema ausschlaggebend ist - es handelt sich um "Zwischenbemerkungen" -, sondern eine gewisse Unabhängigkeit zwischen dem Presbyter-Abschnitt (5,17-22) und den in 6,1 f folgenden Anweisungen an die Sklaven. In der direkten Anrede in V 22b einerseits und in V 23 ist eine Unterschiedlichkeit in der "Situation" zu beobachten. Während in V 22 die Aufforderung zu reinem, untadeligem Lebenswandel noch auf den Amtsträger bezogen ist und seinen Auftrag in der Gemeindeleitung im Auge hat, wird in V 23 eine spezielle Situation vorgestellt, die nicht direkt mit der gemeindeleitenden Funktion des (fiktiven) Briefadressaten zu tun hat. 11 23 Die Sorge um die Gesundheit des "Tirnotheus" läßt den Verfasser überraschend und ohne Vorbereitung diesen Rat des "Paulus" an seinen Schüler einfügen, er solle um seiner Gesundheit willen auch "etwas Wein" (oivQ> 6A{YQ» zu sich nehmen. Da biographische Überlegungen mit der Begründung des Weinverzichts aus dem Leben des Timotheus unangebracht sind 2, ist eine Erklärung aus dem "Brief' zu geben. Möglicherweise gab dem Verfasser das Adjektiv ayv6r:; (rein) von V 22 das Stichwort, welches er, in Anpassung an die fiktive Briefsituation, gleich zu interpretieren sich genötigt sah. Es geht also um das rechte Verständnis von "Reinheit". Und aus der Gegenüberstellung von Wassertrinken und Weingenuß läßt sich folgern, daß solche Enthaltung von Wein Kennzeichen mancher gnostisch beeinflußter Christen war,ja daß solcher Verzicht von einigen Gnostikern aus theologischen Gründen gefordert wurde; eine Verbindung mit 4,3-5 wird zwar nicht direkt hergestellt, ist aber als wahrscheinlich anzunehmen 3. Darauf weist auch die angeschlossene Begründung mit der Gesundheit hin, die sich ganz im Rahmen der Argumentation mit der Schöpfung Mit N. BROX, Past 203. Vgl. dagegen G. HOLTZ, Past 129f. J Ein "antignostisches Motiv" liegt vor nach M. DlBELIUs - H. CONZELMANN, Past 63; ähnlich J. JEREMIAS, Past 43. Und V. RASLER, Past 44, meint: "Der Verzicht aufWeingenuß und die demonstrative Wassertrinkerei gehören zum Arsenal einer leibfeindlichen und die Schöpfung verachtenden Irrlehre." Vgl. auchJ. ROLOFF, I Tim3l5; H. MERKEL, Past 46. 1
2
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I Tim 4,12 - 6,2
(vgl. 4,3f) bewegt 4 • Der Maßstab für das Handeln ist für die Past,wie auch in anderen Bereichen das" Vernünftige", das allgemein "Bewährte" s. Die auf den ersten Blick persönlich ausgerichtete Anweisung hat nicht den (fiktiven) Adressaten Timotheus als Bezugspunkt, sondern konkrete Fragen der Zeit des Verfassers. 24f Die Auslegung dieser beiden Verse hängt wesentlich davon ab, ob man den Zusammenhang mit den Presbytern zugrunde legt, speziell mit der Ordination von V 22. In diesem Fall würde die "Mahnung zur Vorsicht bei der Auswahl der zu Ordinierenden" begründet mit dem Argument: Es gibt nicht nur die offen zutage liegenden Sünden, sondern auch die verborgenen, die aber auf Dauer nicht verborgen bleiben können 6. Diese Deutung wird aber dem spezifischen Sinn von KPLO"tC; als dem Endgericht Gottes' nicht gerecht. Gegen eine unmittelbare Fortsetzung der Ordinationsparänese von V 22 spricht auch, worauf N. Brox hinweist 8 , daß für diesen Fall die Stellung von V 23 noch problematischer würde. Man wird deshalb in V 24 (und in V 25, der positiven Umkehrung) an eine Sentenz zu denken haben, welche darauf hinweisen soll, daß die Menschen über ihr Tun beim Endgericht Rechenschaft ablegen müssen. Dies liegt ganz offen zutage bei denen, die ihrer Verfehlungen überführt sind. Gleichzeitig wird davor gewarnt, sich in Sicherheit zu wiegen, wenn Sünden verborgen bleiben; im Endgericht werden auch die damit behafteten Menschen von ihrer Schuld gewissermaßen eingeholt 9. Bei den guten Werken verhält es sich nicht anders. Vor Gott gelten nicht nur die Werke etwas, die allen sichtbar und bekannt sind und die zu entsprechender Anerkennung nicht nur der Gemeinde, sondern auch des verantwortlichen Vorstehers führen. Da es letztlich auf das Urteil Gottes ankommt, sind die hier und jetzt zu treffenden Entscheidungen und Bewertungen zwar nicht wertlos und überflüssig, wohl aber als relativ und begrenzt anzusehen. Vom Textzusammenhang her geht es immer noch um die Presbyter; zuerst um die Frage, ob sie ihre Arbeit gut tun, und dann darum, solches auch entsprechend zu würdigen. Doch trifft die "doppelte Ehre" (vgl. V 17) wirklich immer die Richtigen? Der Verfasser spricht in der Person des Timotheus den Gemeindevorsteher in seiner Autorität und Verantwortung an; er muß über die Presbyter sein Urteil abgeben. Die Praxis aber Vgl. V. HASLER, Past 44. , Vgl. auch N. BRox, Past 203. 6 So J. JEREMIAS, Past 43; vgl. auch F. J. SCHIERSE, Past 76: "Bei manchen Menschen sind die Sünden so offenkuIJdig, daß sie für ein kirchliches Amt von vornherein nicht in Frage kommen. Andere aber, die zunächst keinen Anlaß zur Beanstandung geben, offenbaren später ihre moralische Brüchigkeit." 7 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 63; J. ROLOFF, I Tim 316. • N. BRox, Past 204. 'Es ist dies ein Gedanke, der in der alttestamentlichen und apokalyptischen Tradition begegnet (vgl. 4 Esra 7,35; Offb 14,13) (darauf weist H. MERKEL, Past 46, hin), der aber auch zur urchristlichen Paränese (vgl. Mt 25,31-45) gehört (vgl. J. ROLOFF, I Tim 317).
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zeigt gewisse Probleme in der Handhabung (vgl. auch die Warnung vor Parteilichkeit in V 21). Manche Verfehlung wird aufgedeckt, manches aber wird verschwiegen, manches ist auch nicht eindeutig zu klären und rechtlich zu werten. Die Begrenztheit der Einflußmöglichkeiten seitens des Gemeindevorstehers werden eingeräumt; gleichzeitig aber warnt "Paulus" davor, dies ausnützen zu wollen. Die letzte Entscheidung, das letzte und entscheidende Urteil über alles liegt bei Gott; und vor ihm kann nichts verborgen bleiben. Es ist dies Warnung und Trost zugleich. III Die als Einschub zu wertenden VV 23-25 stehen nur in lockerer Verbindung zur Presbyterparänese. Sie bilden insofern einen Abschluß, als der Blick über die konkrete geschichtliche Situation hinaus auf das Urteil Gottes im Gericht gelenkt wird (VV 24.25). Das persönlich gehaltene Wort zu Timotheus (V 23) bnn zum einen die enge Verbundenheit des "Paulus" mit seinem Schüler zum Ausdruck bringen (vergleichbar der persönlichen Anrede in 1,18 und 6,20); es soll aber zugleich die Verantwortung des "Timotheus" für die ihm übertragene Aufgabe in Erinnerung rufen, die sich darin zeigt, daß er für seine Gesundheit sorgt. Zum anderen ergibt sich die Gelegenheit, den "Paulus" selbst mit diesem persönlich formulierten Rat zum Weintrinken in eine aktuelle Streitfrage in den christlichen Gemeinden eingreifen zu lassen. LITERATUR: C. SPICQ, I Timothee 5 :23: L'Evangile hier et aujourd'hui (FS F.-J. Leenhardt) (Genf 1968) 143-150.
f) Das rechte Verhalten der gläubigen Sklaven (6,1-2)
Alle, die als Sklaven unter dem Joch leben, sollen ihre Herrenjeglicher Ehre wert erachten, damit nicht der Name Gottes und die Lehre gelästert werden. 2 Die aber, die gläubige Herren haben, sollen sie nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern sollen noch eifriger ihren Dienst als Sklaven tun, weil sie Gläubige und Geliebte sind, die als solche sich der Wohltätigkeit widmen. Das lehre und dazu ermahne! 6,1
I
Die bei den Verse sprechen im Rahmen dieses Abschnittes (ab 4,12 1), in welchem verschiedene Gruppen in der Gemeinde unter unterschiedlichen Aspekten, aber jeweils im Blick auf ihren Beitrag zum Gemeindeleben zur Sprache gebracht werden, abschließend von den Sklaven. Auffällig ist, 1 F. LAUB, Begegnung 83, stellt diese Verse über die Sklaven in den Kontext von 2, 1 6,2a, da hier (wie Tit 2,1-10) "die verschiedenen Gruppen und Stände der Gesamtgemeinde in den Blick kommen". Weil aber mit 3, 14-16 eine deutliche Zäsur gegeben ist, erscheint es gerechtfertigt, nach den Stellungnahmen zu den Irrlehrem (4, 1-5.6-11) den Abschnitt 4, 12 - 6,2 als eigenständige Einheit zu fassen.
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I Tim 4,12 - 6,2
daß im Unterschied zur Haustafeltradition in Kol (3,22 - 4, I) und Eph (6,5-9) nur von der Verpflichtung der Sklaven ihren Herren gegenüber gesprochen wird, nicht aber umgekehrt die Herren auf ihre Verantwortung den Sklaven gegenüber angesprochen sind. Der Grund für diese Einseitigkeit liegt zum einen in der differenzierenden Aufteilung in zwei Gruppen von Sklaven: solche mit heidnischen Herren, und solche mit Herren, die wie die Sklaven selbst getauft sind. Eine Mahnung an die Becrn:6'tat zu entsprechendem Verhalten den Sklaven gegenüber ist aber für die erste Konstellation ausgeschlossen 2. Ein zweiter Grund, der zugleich die Nennung der Sklaven als eine eigene Gruppe in der Gemeinde erklärt, ergibt sich aus der Zusammensetzung der christlichen Gemeinden in der hellenistischen Umwelt. Auch wenn man nicht davon ausgehen will, daß Sklaven "den größeren Teil der urchristlichen Gemeinden ausgemacht haben"', so ist doch sicher, daß die christliche Botschaft gerade auf Sklaven (wie auch auf andere Gruppierungen, die sich auf der "Schattenseite" des Lebens befanden) besondere Anziehungskraft ausübte. Die dadurch gegebene soziale Struktur der Gemeinden mußte zum einen zu Problemen innerhalb der Gemeinden selbst führen 4 (etwa in der Frage des Verhältnisses der Sklaven zu den Freien oder in der Frage nach dem auch den Sklaven zustehenden Recht der sozialen Betreuung). Aber auch nach außen hin waren Schwierigkeiten für die Gemeinden unvermeidlich, denn das Bekenntnis zu der in Christus geschenkten Freiheit, welche bisher geltende Grenzen und Einschränkungen aufhob (vgl. Gal 3,28), konnte durchaus auch verstanden werden als politisches Programm, als Aufforderung zur "Aufhebung der gesellschaftlichen Schranken" und als Aufruf zum" Umsturz der öffentlichen Ordnung" s. Es ist möglich, daß solches in manchen Gemeinden, und nicht nur in gnostisch beeinflußten, gefordert wurde.
Die Antwort der Past ist wiederum die Aufforderung zum Festhalten am bestehenden sozialen Gefüge, ja Bekräftigung der für christliche Sklaven aus der Bedeutung dieser Ordnung erwachsenen Verpflichtung.
2 Die von J. ROLoFF, I Tim 319 mit.Anm. 469, für "das Fehlen reziproker Mahnungen an die Herren" gegebene Erklärung, es liege "eine gattungsgeschichtliche Transformation" vor, denn die Sklaven würden "nicht als Gruppe im OtKO~, sondern als Stand in der Gemeinde anvisiert", bedarf der Ergänzung; der Bezug zum oIKo~ ist insofern gewahrt, als die einzig in dessen Rahmen relevante Beziehung Sklave-Herr angesprochen wird, die Gemeinde aber nur zur Begründung in den Blick kommt. 3 Vgl. dagegen N. BRox, Past 205, der mit Verweis auf I Kor 1,26-28 vermutet, daß die Sklaven "in der Regel den größeren Teil der urchristlichen Gemeinden ausgemacht haben dürften". 4 Vgl. auch H. GüLZow, Christentum 74f; D. C. VERNER, Household 141 f. Daß "die Frage der Sklaverei für die Gemeinde von Anfang an problematisch war", ist nach H.W. BARTscH, Anfänge 146, vgl. 145f, auch aus der großen Zahl von Anweisungen für Sklaven im frühchristlichen Schrifttum zu ersehen; zu nennen sind I Petr 2, 18-20; Did. 4,lOf; Bam. 19,7; Ign. Polyc. 4,3. , V. HAsLER, Past 44. Vgl. auch U.-R. KÜGLER, Paränese 202.
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I Tim 6,1-2
11 I Es wird zuerst von den Sklaven gesprochen,-,die als Christen weiterhin im Dienst heidnischer Herren stehen. Ihre Unfreiheit, die Unterordnung unter einen Herrn, wird durch das Bild vom Joch umschrieben. Der Verfasser greift mit der Beschreibung der Existenz der Sklaven als .. unter dem' Joch" (Uno ~uy6v) stehend eine Wendung auf, die schon traditionell mit dem Begriff der BOUA.stu (Sklaverei) verbunden ist 6 • Er sieht sich nicht dazu gezwungen, im Blick auf diese gesamtgesellschaftliche Institution irgendeinen Unterschied zwischen dem Bereich der nichtchristlichen Umwelt und der christlichen Gemeinde zu machen. Erwähnenswert sind die Sklaven für die 'Past im Rahmen der Betrachtung der christlichen Gemeindeordnung nur deshalb, weil sie ein wichtiger Faktor im Gemeindeleben sind (vgl. wieder Tit 2,9 f). Es kann deshalb m. E. nicht zweifelhaft sein, daß V I ausschließlich von christlichen Sklaven handelt 7. Diese Sklaven werden dazu aufgefordert, ihren heidnischen Herren weiterhin mit Ehrerbietung zu begegnen, womit zwar auch die Erfüllung der den Sklaven übertragenen Aufgaben und Pflichten gemeint sein dürfte; doch darüber hinaus zielt 'ttl11l auf die Anerkennung der Vorrangstellung ihrer .. Herren" (Becrn6'tut). Hier ist zu erinnern an die für die Past SO wichtige Struktur des Hauses mit der Betonung der Aufgabe des "Vorstehens" (vgl. 3,4f.12); das darin zentrale Moment der Über- und Unterordnung gil~ auch in den christlichen Gemeinden weiterhin für die Beziehung von Herr und Sklave B• In dieser ihrer Unterordnung, in ihrem Sklavesein, hat sich nach Meinung des Verfassers durch ihre Hinwendung zum christlichen Glauben nicht nur nichts geändert; es hat sogar den Anschein, daß ihr christlicher Glaube nun ein neues, zusätzliches Argument abgibt für die Begründung dieses Abhängigkeitsverhältnisses, für ihre Unterordnung. Die bestehende Machtverteilung wird theologisch noch untermauert, zugegebenermaßen nur indirekt, indem als Motiv angegeben wird, daß Gott und die Lehre andernfalls in Gefahr kommen könnten, gelästert zu werden. Es geht nicht um eine notgedrungene, unvermeidbare Annahme einer bestehenden sozialen Ungerechtigkeit; die vorhandene Ordnung wird als Ausdruck des Willens Gottes anerkannt und sanktioniert. Sicherlich ist die Zielsetzung pragmatisch; es soll vermieden werden, daß durch irgendwelche Forderungen oder Maßnahmen der Anschein erweckt wird, der christliche Glaube gefährde bestehende Gesellschaftsstrukturen. Da dies aber ver• Vgl. W. SCHENK, EWNTII 258, mit Verweis auf Soph., Ai. 944; Plat., ep. 8,354d; I Mall 8,17f.31. . 7 So u. a. mit N. BROI, Past 206 f; V. HASLER, Past 44f; H. MERKEL, Past 46; auch A. T. HANSON, Past 105 (" ... the a\lthor would not be addressing non-Christian slaves anyway, so there is no point in mentioning their Christianity"). Nach J. ROLoFF, I Tim 321, dagegen ist V I "als allgemeine Regel für alle Sklaven zu verstehen" (l Tim 321). • Die Parallelität von 'tt1lT] und li~tO~ in 6,1 zu 5,17 ('ttIlT] und ä~1.6C1l) kann als zusätzliches Argument dafür gelten, daß auch in 5,17 'tt1lT] in erster Linie die "Wertschätzung" meint, die' ein guter Presbyter sich verdient hat.
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I Tim 4,12 - 6,2 bunden ist mit der Drohung, daß andernfalls Gott oder der Glaube verletzt würden, wird solche Annahme der Lebenssituation als Sklave zu einer christlichen Tugend hochstilisiert, alles andere aber unter den Bann der Glaubensgefährdung gestellt'.
2 Der Vers spricht von den Sklaven, die einem christlichen Herrn unterstehen. Die Bestimmungen bleiben im wesentlichen dieselben. Hier war es gewiß für die Betroffenen oft noch schwerer, sich mit den herrschenden Strukturen in der Gemeinde und dann auch noch in der Hausgemeinschaft abzufinden 10. Und auch für die Verantwortlichen mußte die Not noch größer sein, solches einsichtig zu machen. Die Aufforderung an die Sklaven, ihre Herren nicht zu "verachten", scheint die Forderung im Vergleich mit den Betroffenen von V I auf den ersten Blick etwas tiefer zu hängen. Wahrscheinlich darf man aber KU'tU
• J. JEREMIAS, Past 43, verallgemeinert wohl und glättet zu sehr, wenn er interpretiert: "Jeder Dienst muß Zeugnis für das Evangelium durch die Tat sein. Das ist das hohe Motiv der christlichen Sozialethik, durch das auch der schlichteste Dienst geadelt wird." 10 Vgl. U.-R. KÜGLER, Paränese 203f; zu Unrecht bringt Kügler diese Spannungen in Zusammenhang mit "Irrlehren" (vgl. dagegen PR. H. TOWNER, Gnosis Ill f: "There is no evidence that the false teachers were immediately responsible for this activism."). 11 Vgl. D. C. VERNER, Household 144; J. ROLOFF, I Tim 324. 12 V. HASLER, Past 45.
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I Tim 6,1-2
nung" (vgl. V 2d) sind. Da die "Herren" die "Brüder" der Sklaven sind, deshalb dürfen die Sklaven jene nicht geringschätzen 13. In die Richtung einer verstärkten Verpflichtung der Sklaven zu Unterordnung weist auch der zweite Teil des Verses, der die Aufforderung zu noch größerer Bereitschaft, als Sklave zu dienen, wiederum mit zwei Kennzeichnungen der Herren begründet: sie sind "Gläubige" und "Geliebte". Das Bemerkenswerte ist dabei, daß diese Begriffe erneut dazu dienen, die Verpflichtung zum Gehorsam von seiten der Sklaven zu untermauern 14. Auch die "Wohltätigkeit" ist nicht genannt als "besondere Pflicht" der Herren 15, sondern soll, als zusätzliches Argument der Abhängigkeit, die Sklaven noch stärker ihren Herren gegenüber verpflichten. Auf diese Weise werden die Relationen in der grundsätzlichen und allgemeingültigen Ordnung aufrechterhalten, und es ist nur die Rede von den Pflichten des Sklaven gegenüber seinem Herrn, nicht aber umgekehrt. Dennoch gibt dieser Vers neue Akzente, insofern "die Herren" als gläubige Christen vorgestellt sind, die Verpflichtungen der Sklaven aber begründet werden im Blick auf dieses ihr Christsein 16. In der Frage der Übersetzung und Auslegung der Wendung oi 'tijc; ElJEpYEcriac; av'ttAal1ßav6l1EVot in bezug auf die Herren der Sklaven - entweder ihre Kennzeichnung als "die, die Wohltat erhalten" (durch den Dienst ihrer Sklaven), oder als solche, "die sich selbst dem Wohltun widmen" - ist (eigentlich gegen die Tendenz der beiden Verse) letztere Deutung von den Begriffen EUEPYEcria (Wohltun) und av'ttAal1ßavEcrSat (sich bemühen) her die wahrscheinlichere 17; denn der zweite ö'tt-Satz nennt, insgesamt gesehen, die Gründe für den "noch eifrigeren" Sklavendienst. Mit der Beauftragung, für die Befolgung und Weitergabe dieser AnordHier wäre ein Blick auf Phlm aufschlußreich und würde zeigen, wo unterschiedliche Bestimmungen vorliegen. Vgl. dazu F. LAUB, Begegnung 67-75. 14 Paral1el zum ersten ön-Satz ist mit PlI. H. TOWNER, Goal 178, auch beim zweiten die Aussagespitze dahingehend festzumachen, "that brotherhood in Christ must, within the slave - master relationship, be realized through the submission of slaves to masters, not through emancipatory activism". Die Gleichstellung der Aussage in Phlm zur Beziehung von Herr und Sklave mit I Tim 6,2 bei G. W. KNIGHT, Past 247 - "Thus just as Paul asks the master Philemon to regard the slave Onesimus as a ,beloved (aya1t1j1:6~) brother' (Phlm. 16), so here he reminds Christian slaves that their Christian masters are ,beloved'" -, scheitert daran, daß in der Intention des Paulus der Hinweis auf den "geliebten Bruder Onesimos", also den Sklaven, den Philemon, seinen "Besitzer", auf die Notwendigkeit einer neuen Bestimmung dieser Beziehung hinweist, während in den Past die Bezeichnung der "Herren "als "Brüder" und "Geliebte" die Sklaven zu noch größerem Gehorsam (j.J.dlJ..ov) verpflichtet. lS So deutet J. JEREMIAS, Past 44, den zweiten ön-Satz V 2d. 16 Man kann mit F. J. SCHIERSE, Past 79, in diesen "Ehrentiteln" (Gläubige, Geliebte, Wohltäter) "eine - allerdings nur sehr vorsichtige und indirekte - Mahnung an die Adresse der Herren" sehen. 17 Vgl. D. C. VERNER, Household 142-144; PlI. W. TOWNER, Goal 179; J. ROLOFF, I Tim 324f. Ausführlich dazu R. M. KIDD, Wealth 140-154, mit der Entscheidung für "the ,masters-as-benefactors' position" (154). 13
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I Tim 4,12 - 6,2
nungen ZU sorgen, wird, wie in 4, 11, wieder der ganze Abschnitt mit den verschiedenen Verhaltensmaßregeln abgeschlossen. III
Die Bewahrung des Bestehenden, die Festigung der bewährten Ordnung ist ein ganz besonderes Anliegen der Past. Davon wird auch die gesellschaftliche Struktur mit Herren und Sklaven nicht ausgenommen. In dieser Beziehung stehen die Past nicht allein; sie belegen die Einstellung, .die für die frühe christliche Tradition insgesamt maßgeblich war. "Eine soziale Revolution (auch eine allmähliche) lag gänzlich außerhalb nicht nur der Möglichkeiten der frühen Kirche, sondern auch außerhalb ihres Gesichtskreises und ihrer Absichten", urteilt N. Brox 18. Gesteht man dies zu und berücksichtigt man auch, daß ein von den Christen ausgehender Versuch, die sozialen Verhältnisse radikal zu ändern, unweigerlich zum Scheitern verurteilt gewesen wäre 19, so ist damit auch die frühe Kirche noch nicht aus der Pflicht entlassen; denn es gibt nicht nur die beiden Alternativen: sozialer Umsturz oder theologische Festigung des vorhandenen Systems mit Herren und Sklaven. Es ist also über die Beobachtung hinaus, daß Sklaverei als "selbstverständliche Gegebenheit" behandelt und von den Christen übernommen wurde 20, zu fragen, warum etwa die Past von ihrem christlichen Standpunkt aus diese soziale (Un-)Ordnung und Struktur noch festigen, indem sie darin - verständlicherweise nur von Sklaven und von dem von ihnen zu erbringenden Gehorsam her! - eine besondere Möglichkeit der Bewährung christlichen Glaubens festmachen 21. Wurde vielleicht in dieser sozialen Gege,benheit mit dem Verhältnis Herr-Sklave, mit der klaren Verteilung von Über- und Unterordnung, von Befehl und Gehorsam, aber auch von Verantwortung (beim Herrn) und Abhängigkeit (beim Sklaven) eine Ordnung des Lebens gesehen, die in dieser grundsätzlichen Form der Über- und Unterordnung auch für das Gemeindeleben und die Gemeindeordnung ein bewährtes, zugleich aber auch "bequemes" Muster menschlichen Zusammenlebens abgeben konnte? LITERATUR: R. GAYER, Die Stellung des Sklaven in den paulinischen Gemeinden und bei Paulus. Zugleich ein sozialgeschichtlich vergleichender Beitrag zur Wertung des Sklaven in der Antike (EHS XXIIII78) (Bem/Frankfurt 1976); H. GÜLzow, Christentum und Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten (Bonn 1969); U.-R. KÜGLER, Die Paränese an die Sklaven als Modell urchristlicher Sozialethik, Diss. (Erlangen 1977); D. B. MARTIN, Slavery as Salvation. Tbe Metaphor of Slavery in Pauline Christianity (New Haven/London 1990). N. BROle, Past 205. Vgl. auch F. J. SCHIERSE, Past 77. 20 Vgl. N. BROle, Past 205. 21 Vgl. dazu D. HORRELL, Converging Ideologies 94-96, mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von Kritik an der "Perspektive des biblischen Autors" zugunsten der Unterdrückten. 18 10
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1 Tim 6,3-21
6. Mahnungen zur Verteidigung und Bewahrung des Glaubens (6,3-21) In diesem abschließenden Teil des 1 Tim werden noch einmal die beiden zentralen Themen zur Sprache gebracht, die schon bisher im Mittelpunkt standen und eng zusammengehören: die Warnung vor Irrlehrern und die Ermahnung zu Ausdauer im Kampf für die Bewahrung des rechten Glaubens. In Entsprechung zu dieser bestimmenden Gedankenführung der Past mit der Gegenüberstellung von Irrlehrern und Rechtgläubigen 1 werden beide Gruppen erneut in ihrem Leben und Glauben gegensätzlich charakterisiert. Die negative Auswirkung der Irrlehre auf das Leben wird beschrieben und durch Beispiele exemplifiziert (VV 4.5); und ebenso werden die Tugenden und Kennzeichen des frommen Christen, der seinem Glauben treu bleibt, so wie es der fiktiv sprechende Paulus von seinem Nachfolger fordert (V 11), aufgezählt. Wie sehr die Gefährdung dieses Glaubens nach Meinung der Past zu befürchten war, zeigt die abschließende Mahnung in VV 20 f. Gewissermaßen exemplarisch dargestellt wird diese Differenz zwischen Falschlehre und rechtem Glauben anband des Themas Geld und Besitz. Während "Geldgier" in Verbindung gebracht wird mit denen, welchen "Abweichung vom rechten Glauben" vorgeworfen wird (V 10), ist Zeichen des rechten Glaubens, der sich an der Anweisung des Apostelnachfolgers orientiert, "Gutes zu tun", "reich zu sein an guten Werken" (V 18). Im Mittelabschnitt (VV 11-16) scheint zwar das Thema "Geld" bzw. der Umgang mit Reichtum "völlig ausgeklammert"2. Aus dem Aufbau des Abschnitts mit der Darstellung dessen, der Falsches lehrt (V 3), und in der betonten Gegenüberstellung des Amtsträgers (oll M: V 11) wird jedoch deutlich, daß auch dort die Themen "Reichtum" und "Geld" als negative Folie mit angesprochen sind 3. Die Frage, ob der Schlußabschnitt 6,3-21 eine Einheit bildet, läßt sich nicht mit dem ausschließlichen Blick auf die in den Einzelabschnitten angesprochenen Themen beantworten; zu berücksichtigen ist auch, ob in anderen Teilen des Schreibens bzw. in der Gesamtkomposition von 1 Tim vergleichbare Bezüge zu beobachten sind 4. Die Einheitlichkeit des Abschnittes läßt sich schon daran aufzeigen, daß die vorkommenden Themen und Motive ganz deutlich aufeinander bezogen sind. Der Falschlehre 1 Vgl. J. THtJREN, Struktur 243: "Die Warnung vor Irrlehrern und ihren Sünden, die Empfehlung der reinen Lehre ist das Thema des ganzen Briefes." 2 J. ROLOFF, 1 Tim 326. 3 VgJ. M. WOLTER, Pastoralbriefe 135: "Auf die Schilderung des Irrwegs der Häretiker folgt eine regelmäßig durch aU liE angeschlossene imperativische Mahnung, die zur Abgrenzung und einem signifikant unterschiedlichen Verhalten auffordert (1 Tim 6,IOf.; 2 Tim 3,13f.; 4,3-5; Tit 1,16 -2,1)." • Solche Bezüge der zentralen Themen in 1 Tim hat J. T. REED, Cohesive Ties 140-146, graphisch dargestellt und erläutert.
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I Tim 6,3-21
und dem Glaubensabfall (VV 3.10.21) entspricht die Verpflichtung des Timotheus; für die "gesunden Worte", den "Glauben" und die Bewahrung des "Glaubensgutes" sich einzusetzen (vgl. VV 3.11.20). Sodann werden sowohl Glaubensabfall als auch Glaubenstreue mit entsprechenden Verhaltensweisen verknüpft; zum Irrlehrer, zum Glaubensabfall gehören Gewinnsucht (V 5) und Geldgier (V 10), Kennzeichen rechtgläubiger Christen hingegen ist gottgewollter Umgang mit dem Reichtum, Gutes zu tun, um sich so das "ewige Leben" zu erwerben (VV 17-19). Ein weiterer Beleg für die bewußt durchgeführte Komposition des Schlußabschnittes von 1 Tim zeigt sich darin, daß auffällige Übereinstimmungen mit dem Briefeingang 1,1-20 festzustellen sind s. Für den Autor am bedeutsamsten ist sicher (1) der Hinweis auf das Auftreten von Falschlehrern (El"€POOtOUcrKUAe"iV: 1,3 und 6,3) samt den negativen Begleiterscheinungen in der Lehre (u. a. 6K~TJTf]cr€ti;: 1,4 - ~TJTf]cr€tC;: 6,4) und im Leben (vgl. die Lasterkataloge 1,9f und 6,4), ja Abfall vom Glauben (ucrl"OXTJcruVl"€C;: 1,6 -n€pi TIJV nicrl"tv T)crl"6XTJcruv: 6,21), und (2) der daraus resultierende Auftrag an den Apostelschüler, für den rechten Glauben zu "kämpfen" (1,18 und 6,12) und den ihm übergebenen "Auftrag" (TIJV nupuYY€Aiuv: 1,18) bzw. "das Glaubensgut" (TIJV nupu9f]KT]v: 6,20) ZU bewahren; (3) der Empfänger der Weisung, Timotheus, wird ausdrücklich mit Namen genannt (1, 18 und 6,20), und es erhalten (4) beide Abschnitte mit der Einfügung einer Gottesprädikation (l, 17 und 6, 15 t) eine besondere Akzentuierung, wobei zugleich ein Gefälle zum ausführlichen Lobpreis Gottes in Kapitel 6 zu beobachten ist. Für die Untergliederung dieses Schlußteils sind sowohl die im engeren' Kontext als auch in der Makrostruktur von 1 Tim zu beobachtenden Textsignale auszuwerten; dies führt zu der in den Kommentaren aus jüngerer Zeit 6 zugrunde gelegten Gliederung: VV 3-10 (mit den Stichworten "Falsches Lehren" V 3 und "abirren vom Glauben" V 10)1; VV 11-16 (als Ermahnung des Gemeindeleiters); VV 17-19 (mit Hinweisen zum rechte~ Gebrauch des Reichtums); VV 20f (als Schlußmahnung). LITERATUR: P. DSCHULNIGG, Warnung vor Reichtum und Ermahnung der Reichen. I Tim 6,6-10.17-19 im Rahmen des Schlußteils 6,3-21: BZ 37 (1993) 60-77; J. THuREN, Die Struktur der Schlußparänese 1 Tim 6,3-21: ThZ 26 (1970) 242-253.
Vgl. dazu J. THuREN, Struktur 242-244; J. ROLoFF, 1 Tim 237f; P. G. BUSH, Note 153f. 6 U. a. bei N. BROX, G. D. FEE, O. KNOCH, J. ROLOFF, H. MERKEL. Vgl. dazu und zu anderen Gliederungsvorschlägen P. DSCHULNIGG, Warnung 71. 7 Diese Inc1usio mit der Warnung vor Irrlehre und Glaubensabfall spricht gegen die Aufteilung in 2 Abschnitte, VV 3-5 als" Warnung vor Irrlehrern und ihrem Streben nach Gewinn" und VV 6-10 als "Ermahnung zur Genügsamkeit und Warnung vor Streben nach Reichtum", bei P. DSCHULNIGG, Warnung 71; so auch die Kommentare von V. HASLER und G. W. KNIGHT. 5
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I Tim 6,3-10
a) Das Urteil über Irrlehrer und die Warnung vor Geldgier (6,3-10)
Wenn einer etwas anderes lehrt und sich nicht an die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus hält und an die Lehre, die der Frömmigkeit entspricht, 4 so ist er verblendet, da er nichts versteht; er ist vielmehr krank an Untersuchungen und Wortgefechien, aus denen Neid entsteht und Streit, Lästerungen und üble Verdächtigungen, 5 fortwährende Streitereien von Leuten, deren Verstand verderbt ist und die der Wahrheit beraubt sind, die meinen, die Frömmigkeit sei eine Erwerbsquelle. 6 Eine große Erwerbsquelle ist die Frömmigkeit aber (nur), wenn sie mit Genügsamkeit verbunden ist; 7 denn nichts haben wir hineingebracht in diese Welt, so daß wir auch nichts hinaustragen.können. 8 Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, so wollen wir es damit genügen lassen. 9 Die aber reich sein wollen, geraten in Versuchung und in eine Schlinge und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen in Verderben und Untergang stürzen. 10 Denn Wurzel aller Übel ist die Geldgier; einige, die ihr verfallen sind, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich selbst viele Schmerzen bereitet. 3
I
Der Abschnitt erinnert an 1,3-7. Es wird zuerst das Faktum der Irrlehre genannt; dann folgt eine sehr allgemein gehaltene negative Bestimmung, die im wesentlichen nur die Abweichung von den "gesunden Worten", d. h. vom rechten Glauben, konstatiert, dann aber gleich ein vernichtendes Urteil über die moralischen Defekte der Irrlehrer ausspricht. Wie in den beiden voraufgehenden Passagen mit der polemischen Warnung vor Irrlehrern (1,3-7; 4,1-11) fällt der recht unspezifische Charakter der Beschuldigungen auf - unspezifisch in dem Sinne, daß für die Beschuldigung der Abweichung von der Glaubensüberlieferung keine sachbezogene Begründung und inhaltliche Aufschlüsselung gegeben wird 8 • Sobald von Falschlehrern gesprochen wird, wird ein Arsenal negativer Beschreibungen aufgeboten: Neid, Streit, Begierden u. a. (vgl. VV 4f.9f). Daß in diesem Abschnitt wenigstens ansatzweise 6) eine positive Bewertung des Gelderwerbs eingetragen ist, hängt zum einen mit der Absicht zusammen, der Gefahr einer umfassend negativen Bewertung irdischen Besitzes vorzubauen; insbesondere aber zielt dieser Einschub darauf, die entscheidende negative Bestimmung auf die Irrlehrer zu beziehen, die durch ihr Tun und Verhalten. auch das Besitzstreben als falsch erscheinen lassen. Dem wird dann der Gemeindeleiter gegenübergestellt, gekennzeichnet mit den Tugenden Gerechtigkeit, Frömmigkeit u. a. (V 11), ganz ausgerichtet auf die Erfüllung des ihm von Paulus übergebenen Auftrags und damit im Dienst der Vollendung des Heilsplanes Gottes stehend. .
rv
• Eine gewisse Abweichung von diesem Grundprinzip liegt nur vor in 4,1-11 in der Kennzeichnung einiger Positionen und einer ansatzhaften theologisch argumentierenden Auseinandersetzung.
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1 Tim 6,3-21
Da die Warnung vor der Geldgier in den Dienst der Irrlehrerpolemik gestellt ist, muß sie auch in diesem Zusammenhang interpretiert werden und kann nicht ohne weiteres als eigenständiges Thema betrachtet werden 9. Die Einheitlichkeit des Textabschnittes unter dem Gedanken der Warnung vor Irrlehrern zeigt sich in der den Text umschließenden Nennung am Beginn in V 3 (als solche, die etwas anderes lehren) und am Ende in V 10 (als die, die vom Glauben abgeirrt sind). 11 3 Der Autor greift zurück auf den Anfang seines Schreibens und die dort dem "Timotheus" übertragene Aufgabe, gegen solche Leute einzuschreiten, die "anderes lehren". Die Unvereinbarkeit mit der von Paulus her legitimierten Glaubenstradition unterstreicht die Ergänzung, daß diese Leute sich nicht an das halten, was als bewährt ("gesund") und deshalb als von der Kirche anerkannt zu gelten hat. Es wird damit wieder ein Fall vorgestellt, der das bestimmende Wort des Apostels bzw. des von ihm autorisierten Gemeindeleiters notwendig macht. Die Einleitung mit "wenn" nimmt nicht Bezug auf eine Möglichkeit, sondern kennzeichnet eine konkrete, bereits aktuelle und höchst gefährliche Entwicklung \0. Es steht auf der einen Seite die Lehre der Kirche, die erneut (ähnlich wie in 1,10) mit der Bezeichnung "gesunde Worte" und mit dem Hinweis auf die der Frömmigkeit entsprechende "Lehre" umschrieben wird. Und es steht auf der anderen Seite ein Verhalten, w~l ches schon deshalb als "Falschlehre" charakterisiert werden muß, weil es sich nicht an die kirchlich garantierte und autorisierte Tradition hält. In der vorliegenden Kombination zeigt sich erneut das nach der Darstellung der Past Charakteristische für die Irrlehre, nämlich die fehlende Orientierung an der kirchlichen Lehre 11. Glaubensabfall (daß hEPOÖtÖucrKUAELV als Glaubensabfall zu interpretieren ist, zeigen der Abschluß der Perikope in V 10 und der Kontext in 1,3-7) ist somit nicht in erster Linie eine Angelegenheit, die den einzelnen Menschen in seiner nur ihn betreffenden Beziehung zu Gott angeht, sondern er ist verstanden als eine Verfehlung gegenüber der Gemeinschaft der Glaubenden, er ist eine Entscheidung, mit der die Beziehung zur Glaubenslehre der Kirche abgebrochen wird. Die Bedeutung dieser Entscheidung liegt auch darin, daß mit der Abkepr von der kirchlichen Lehre in der Vorstellung der Past notwendigerweise Vgl. H. MERKEL, Past 47 f, der "zwei Themen" behandelt sieht: Polemik gegen die Häresie (VV 3-5) und Warnung vor Geldgier (VV 6-IOa): durch V lOb aber "werden Geldgier und Irrlehre verknüpft, und dadurch erhält der Abschnitt formal eine gewisse Einheitlichkeit" . 10 Vgl. G. D. FEE, Past 140: "Such conditional sentences are used when an author is quite certain of bis premise." 11 J. ROLOFF, 1 Tim 330f, gibt zu bedenken, daß man "vielleicht" auch "den sakral-kultischen Klang, den das Verb llpocrepXEcrSat in der LXX und auch im Hebr (4, 16; 10,22; 7,25; 12,18) hat, heraushören (darf): Das ,Wort unseres Herrn' wäre dann als heiliger, sinnstiftender Bereich gesehen, an dem man durch bewußte Zuwendung Anteil gewinnt"; ähnlich auch schon G. HOLTZ, Past 133. 9
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I Tim 6,3-10
die Grundlage für ein "frommes" Leben entfällt. Dieser Zusammenhang wird in V 3 formuliert mit der Kennzeichnung der kirchlichen Verkündigung als "der Lehre, die der Frömmigkeit entspricht". Es liegt in der Konsequenz eines Denkens, welches von der Übereinstimmung von Rechtgläubigkeit und einem frommen und tugendhaften Leben ausgeht, daß als Kennzeichen der Irrlehre moralische Mängel aufgezählt werden (VV 4f; vgl. auch 2 Tim 3,5) 12. Auffällig ist bei der vorliegenden Umschreibung des rechten Glaubens, daß nicht nur, wie etwa in 1,10, von der "gesunden Lehre" gesprochen, sondern daß eine doppelte Wendung gebraucht wird, wobei die erste noch eine Ergänzung erfährt: "die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus". Haben wir darin etwas anderes zu sehen als in dem Hinweis auf "die der Frömmigkeit entsprechende Lehre"? Bisweilen wird die zuerst genannte Wendung so verstanden, daß damit auf Jesusworte hingewiesen werde, sei es in der Form einer Art Logiensammlung wie Q, sei es auf ein Evangelium (etwa Lk)13. Demgegenüber ist die Erklärung zu bevorzugen, daß die Apposition 't00 Kupiou TJIlUlV '111000 Xgto'tOO bei Mym nicht auf die Herkunft, sondern auf die Autorität zu beziehen ist, die hinter diesen Worten steht 14. Besonders der sprachliche Befund in den Past spricht dafür. Der Hinweis auf "die gesunden Worte", d. h. auf die dem Amtsträger anvertraute Botschaft, als Kriterium der Rechtgläubigkeit findet sich auch 2 Tim 1,13, und das Attribut "gesund", welches in den meisten Fällen mit OtOUOKUAiu verbunden ist (vgl. 1 Tim 1,10; 2 Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1), wird 'in den Past eindeutig als Kennzeichen des rechtmäßigen, von der Kirche i autorisierten Glaubens verstanden. Das Vergehen der Irrlehrer liegt darin, daß sie sich dieser Autorität der Kirche (vgl. 3,15) widersetzen. Der Ausgangspunkt der Ketzerpolemik ist auch an dieser Stelle nicht eine inhaltlich gekennzeichnete Abweichung in der Lehre, also eine thematisierte "andere Theologie", zu der dann der Paulus der Past theologisch argumentativ Stellung beziehen könnte bzw. müßte. Es wird vielmehr das Faktum der Abweichung vom rechten Glauben konstatiert und mit dem Vorwurf, daß diese Menschen den rechten Weg der bewährten und kirchlich anerkannten Glaubenstradition verlassen haben, eine klare Grenzlinie gezogen, die eine Diskussion über diese Entscheidung überflüssig macht. 12 So nennt auch H. v. LIPS, Glaube 83, als das "Entscheidende", "daß diese eöO"eßeta im Leben der Glaubenden konkret wird". Vgl. auch E. SCHLARB, Lehre 292f: Die Ihlla· mcu),,(a wird auf eine "sie normierende Größe" verwiesen, die euO"eßeta. "EuO"eßeta ist dabei das Ergebnis, nämlich Frömmigkeit als Einheit von Glaube (als ,Wissen') und Tun." . "Vgl. dazu u.a. A. SCHLATIER, Kirche 160f; G. HOLTZ, Past 133f; C. SPICQ, Past 557; J. SCHLOSSER, Didascalie 92f; besonders bestimmt auch J. ROLOFF, I Tim 331. 14 Deshalb wird diese Formulierung zumeist verstanden als Bezeichnung der christlichen Verkündigung in einem allgemeinen Sinn; vgl. u. a. B. S. EASTON, Past 164; J. N. D. KELLY, Past 133f; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 64; N. BRox, Past 208; P. DORNIER, Past 101; A. J. HULTGREN, Past 95 f; H. MERKEL, Past 48; T. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 166. Vgl. auch R 1. KARRIS, Background 558f.
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I Tim 6,3-21 Wichtig ist in dem Zusammenhang der Hinweis, daß die Past nicht einfachhin gegen Andersdenkende polemisieren; die Zielgruppe sind Christen, die in bestimmten Glaubensfragen andere Positionen beziehen. Insofern handelt es sich um eine (noch) innerchristIiche und auf weite Strecken sicher sogar innergemeindliche Auseinandersetzung. Der Blick ist dabei nicht zuletzt auf die gerichtet, die bisher in Treue zum Glauben und zur Kirche stehen; sie sollen in ihrer Treue gestärkt und vor Abfall gewarnt werden.
4 Diese Warnung erfolgt wieder dadurch, daß anhand einer katalogartig aufzählenden Beschreibung negativer Auswirkungen der Falschlehre diejenigen, die sich zu ihr bekennen, in ihrem Denken und Handeln und in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen unter schwere Anklagen gestellt werden. Da sich die Past wie auch sonst an vorgegebenen Mustern orientieren (vgl. schon 1,3 f.6 t) und an Differenzierung oder argumentativer Begründung kein Interesse zeigen, kann man mit einigem Recht von einer "Diffamierung des Gegners" sprechen 15. Die erhobenen Vorwürfe gegen die einer gnostischen Deutung des christlichen Glaubens verfllllenen "Irrlehrer" zeigen einmal diese selbst so, daß ihnen gen au das abgesprochen wird, was ihren Anspruch ausmacht: Erleuchtung, besseres Verständnis. Demgegenüber wird gegen sie geurteilt, daß sie "verblendet" sind und "ohne Einsicht". Zur Beschreibung der Häretiker greift der Verfasser später noch einmal auf diese Kennzeichnung mit dem Verbum w<jloocr8at zurück (vgl. 2 Tim 3,4); und auf die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung hat er auch bei der Wahl eines Neubekehrten zum Episkopos hingewiesen (l Tim 3,6). Für die Übersetzung dieses im NT nur in den Past und im Passiv vorkommenden Verbums, hier wie im außerbiblischen Gebrauch ausschließlich im übertragenen Sinn gebraucht, sind zwei Möglichkeiten gegeben: aufgeblasen (eitel) werden oder verblendet (töricht) werden 16. Da die Feststellung ,e,O<jlOl'tal wie auch die partizipiale Charakterisierung /-LTJoev f:mcr,u/-LeVOC; als Konkretisierung der in V 3 erwähnten Gefahr des Abfalls zur Falschlehre stehen, liegt es näher, von "Verblendung und Unverständnis" zu sprechen 17. Wo "etwas anderes" gelehrt wird - etwas anderes im Vergleich zur kirchlichen Lehre, die der Frömmigkeit entspricht -, da fehlen die grundlegenden Voraussetzungen dafür, daß dies als wahr und zuverlässig anerkannt werden könnte. Die auf vollständige Ablehnung und radikale Verwerfung zielende Beschreibung wird verstärkt durch das Urteil über den Menschen, der sich Mit V. HASLER, Past 46. Zu bedenken wäre dabei aber die Frage, worin denn nach Meinung der Past diese schlechten Eigenschaften ihren Grund haben. Für sie dürfte die ausschlaggebende Frage aarin liegen, ob der Vorwurf der Abweichung vom rechten Glauben geteilt wird; denn da entscheidet sich alles. 16 Diese beiden Möglichkeiten bei W. BAUER, WB s.v. Tu
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1 Tim 6,3-10
nicht an die offizielle Lehre hält; er ist "krank" (vom'öv). Mit der als Gegenbegriffzu den "gesunden Worten" gewählten Kennzeichnung 18 erfahren die betroffenen Personen eine Ausgrenzung; zugleich wird die Gemeinde vor ihnen gewarnt und zu Wachsamkeit aufgerufen. Während sodann in dem Hinweis auf "Untersuchungen" (~Trr11crEt~) und "Wortgefechte" (AOYOJ.1uXiut) das Anliegen der Gescholtenen wenigstens noch andeutungsweise durchschimmert, nämlich eine Lehre zu verkünden 19, greift der Verfasser im folgenden wieder auf das reiche Repertoire der Lasterkataloge zurück 20. Als die unvermeidlichen Folgen der Irrlehre werden genannt Neid, Streit, Lästerungen und böse Verdächtigungen, also solche Gefahren, die die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens bedrohen. Darin ist nicht Sorge um die kirchliche Moral zu sehen; als Vertreter der Kirche will der Autor auf diesem Weg drastisch zum Ausdruck bringen, daß die Irrlehre nicht nur die Einheit der Lehre, sondern auch die Einheit der Gemeinden gefährdet. 5 Diese die christlichen Gemeinden in ihrem Bestand, in ihrer Einheit und Ordnung unmittelbar bedrohende Situation wird schließlich noch beschrieben als vom Falschlehrer ausgehende Verstrickung der Menschen, die sich auf seine "Lehre" einlassen, in "fortwährende Streitereien"; dabei steigert der Verfasser das ihm aus der hellenistischen Popularphilosophie bekannte 1tUpu'tptßTj (Reiberei), um durch die Beschreibung als DtU1tUPU'tptßui (in biblischer und außerbiblischer Literatur nur hier belegt)21 "die Handlungsweise der Sonderlehrer scharf zu treffen" 22. In den bei den folgenden Beschuldigungen verschiebt sich der Akzent wieder etwas, insofern die Irrlehrer in ihrer eigenen Hilflosigkeit vorgestellt werden; sie handeln ohne Vernunft, und sie stehen da, "der Wahrheit beraubt" (U1tEcr'tEPllJ.1evrov Tii~ UAlleEiu~). Die Auseinandersetzung um die "Wahrheit" ist in den Past ein zentrales Thema. Während die Rechtgläubigkeit immer wieder umschrieben wird mit "Erkenntnis der Wahrheit" (I Tim 2,4; 4,3; 2 Tim 2,25; Tit 1,1; vgl. auch 1 Tim 3,15; 2 Tim 2, 15), ist Kennzeichen der Irrlehrer, daß sie "von der Wahrheit abweichen" (2 Tim 2,18; Tit 1,14). Es ist mit guten Gründen anzunehmen, daß sich in dieser Terminologie die innere Gespaltenheit einiger Gemeinden widerspiegelt. Dahinter steht die aktuelle Auseinandersetzung insbesondere mit gnostisch geprägten Ansprüchen um die Glaubenswahrheit. Darin zeigt sich aber auch der Anspruch der Gemeinden der Past, daß sie "die Kirche des lebendigen Gottes" sind, "Säule und Fundament der Wahrheit" (3,15); ihr ist von Paulus, der im Auftrag Gottes und Jesu Christi (vgl.
18 Das Verbum VOcrEtv steht im NT nur hier; vgl. dazu H. v. LIPS, Glaube 69f. H. MERKEL, Past 48, sieht darin "häufige theologische Auseinandersetzungen" be· zeugt. 20 Vgl. dazu A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 12-14.218-222. 21 Vgl. LIDDELL-SCOTT - JONES, WB s. v. ötanapaTptß". 22 A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 220. 222; vgl. auch B.-D.·REHKoPF, Grammatik § 116,4; W. BAUER, WB s. v. ötanapaTptß". 19
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1 Tim 6,3-21 1, I) als" Verkünder und Apostel" gewirkt hat (2,7), das "Glaubensgut" anvertraut worden (6,20; vgl. 2 Tim 1,14). Wer die von Paulus her garantierte Glaubenstradition verläßt oder in Frage stellt, der stellt sich gegen die Wahrheit. Daß das Treiben dieser Menschen als "fortwährende Streiterei" zu beurteilen ist, ohne Ziel und ohne Aussicht auf geistigen Gewinn, hat des weiteren seinen Grund darin, daß sie als in ihrem "Verstand" "verderbt" vorgestellt werden. Die Past kommen auf den "Verstand" (voil<;) nur zu sprechen im Zusammenhang der Irrlehrerthematik, und immer in negativem Sinn (vgl. noch 2 Tim 3, 8; Tit 1, 15). Dabei hat das negative Urteil über den Verstand keinen eigenständigen Stellenwert, sondern ist jeweils, wie der Kontext zeigt (vgl. 2 Tim 2, 7f; Tit I, 14f), mit der Anklage des Abweichens von der Wahrheit verknüpft. Auch dieser Verzicht auf eine positiv gewendete Inanspruchnahme des "Verstandes" dürfte seinen Grund in der Gefährdung der Gemeinden durch gnostische Missionare haben, die den voil<; als göttlichen Lichtfunken verstehen, der im Menschen schlummert und auf dem Weg über die "Erkenntnis" die Erlösung ermöglichen soll 23 •
Den Abschluß bildet die Beschuldigung, die anderen Lehrer würden aus ihrer Verkündigung ein gewinnbringendes Geschäft machen. Dabei steht die Verknüpfung von "Erwerbsmittel" (nop1crlLoC;) und "Frömmigkeit" (eocreßeta) von vorneherein unter dem Verdikt, daß es sich bei den damit befaßten Leuten um in jeder Hinsicht Unqualifizierte handelt. Etwas überspitzt ließe sich also sagen: Nicht die Tatsache, daß mit dem Dienst für die Gläubigen Gelderwerb und Lebensunterhalt verknüpft sind, macht die so Gescholtenen verdächtig, sondern die Tatsache, daß ihre Verkündigung nicht im Dienst und im Auftrag der Kirche und damit auch nicht im Dienst der Wahrheit geschieht 24 • In der damit notwendigerweise aufbrechenden Diskussion, ob das Verhalten und das Leben der Betroffenen Anhaltspunkte für diese Beschuldigungen boten, ist zum einen zu bedenken, daß derartige Anklagen bereits in der hellenistischen Literatur auftauchen und dort zum "Arsenal der philosophischen Wanderlehrer" gehören 25. Darüber hinaus ist das zugrundeliegende Problem der Relation von Verkündigung und Unterhalt durch die Gemeinden auch im Bereich der christlichen Verkündigung schon früher aufgetaucht; bereits Paulus wurde in dieser Hinsicht 23
Vgl. N. BRox, Erleuchtung 20-24. Zur Beschreibung "wahrer Gnosis" zitiert etwa
K. KoscHoRKE, Polemik 119f, TestVer 36,26 - 37, If: ,,[Dies] ist das vollkommene Le-
ben, [wenn] der Mensch [sich selb]st durch das All erkennt; [nicht wird er die] fleischliche (crapKlld]) [Auf]erstehung (avacr'tacrt<;) erwarten, weIche durch die Zerstörung [des Fleisches (crap~] (doch nur) von [ihm (dem Fleisch)] entblößt [werden wird]". Dieser Text zeigt nach Koschorke einen "eindrucksvolle(n) Kontrast: im Gegensatz zum Gnostiker, der kraft seiner Selbsterkenntnis - nämlich der Erkenntnis seines wahren U rsprungs ... - bereits in der Welt von der Weit erlöst ist und das ,vollkommene Leben' hat, erwartet der kirchliche Glaube auch für die Zukunft nichts anderes als die Fortdauer (bzw. Wiederherstellung) der jetzigen sarkischen Existenz: er hofft auf das Fleisch, das doch zum Untergang bestimmt ist". 24 Zu wenig beachtet wird das Argumentationsgefälle der Past, wenn die Gewinnsucht als der "schärfste" Vorwurf verstanden wird (so J. ROLOFF, 1 Tim 333). 25 M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 64. Belege sind zusammengestellt bei M. DIBELIUS, An die Thessalonicher I. 11. (HNT 11) (Tübingen 31977) 7-9; H. D. BETZ, Lucian von Samosata und das Neue Testament (TU 76) (Berlin 1961) 112-114. Vgl. auch J. RoLOFF, I Tim 333 f Anm. 30-32.
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1 Tim 6,3-10 mit entsprechenden Anschuldigungen konfrontiert (vgl. I Thess 2, 5; 1 Kor 9,6-18; 2 Kor 11,7-9)26. Das Thema bleibt sodann über die Zeit der Past hinaus als Argument in der Irrlehrerpolemik aktuell (vgl. 2 Petr 2,14; auch Did. 12,5: xPtcr'tt~1tOPO~ = einer, der mit Christus Geschäfte macht) bis hinein in die antignostischen Streitschriften frühkirchlicher Apologeten (vgl. Iren. haer. I 4,3; 13,3; 11 31,3; 32,4; Eus. h.e. V 18 [zum Urteil des Kirchenschriftstellers Apollonius über Montanus und seine Lehre).
Nun ist trotz dieser Beobachtung, daß mit dem Vorwurf der Geschäftemacherei ein bekannter Topos aufgegriffen ist und daß ganz offensichtlich solche Beschuldigungen - nebenbei, wie das Beispiel Paulus zeigt, auch die gegenteilige, der Verzicht auf Entlohnung und Unterhalt durch die Gemeinden! - als Argumente konkurrierender Wanderprediger eingesetzt wurden, nicht auszuschließen, daß diese Anklage in den Past "einen konkreten Hintergrund" hat, nämlich daß gnostische Lehrer sich für ihren Unterricht bezahlen ließen 27. Doch wo liegt da der Unterschied zu den Gemeindeleitern der Past, da doch gerade ein paar Verse zuvor für die ihr Amt gut versehenden Presbyter festgehalten wurde, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist (5, 18)? Es fehlen die wirklich beweiskräftigen Anhaltspunkte dafür, daß sich die Häretiker in ihrer Einstellung zu Geld und Gelderwerb aus Verkündigung und Gemeindearbeit grundlegend von den (Amts-)Mitgliedern der Gemeinden der Past unterschieden haben 2 '. Der Vorwurf der Geschäftemacherei ist Bestandteil der Polemik und ist aus diesem größeren Kontext der umfassend negativen Bewertung der der Abweichung vom Glauben Beschuldigten zu erklären. Die Irrlehrer werden vorgestellt als Menschen, die durch ihren Glaubensabfall zugleich jede Möglichkeit vertan haben, ihr Tun aus ihrem Glauben zu rechtfertigen. Sie sind nicht als Irrlehrer gekennzeichnet, weil ihnen die Vernunft fehlt oder weil sie mit ihrem Glauben Geschäfte machen wollen; es gilt vielmehr umgekehrt: Weil sie als Ketzer und Irrlehrer gelten, deshalb wird ihnen alles Gute ab- und alles Schlechte zugesprochen, eben auch die Verknüpfung von Frömmigkeit und Gelderwerb.
2. Zur Auseinandersetzung des Paulus mit der Gemeinde von Korinth um Sinn und Berechtigung seiner Ablehnung einer finanziellen Unterstützung vgl. H. D. BETZ, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition (BHT 45) (Tübingen 1972) 100-117; dort (108-114) auch Belege zur Kritik der-Philosophen an der Verknüpfung von Philosophieren und Gelderwerb. 27 So etwa H. MERKEL, Past 48, und ähnlich J. ROLOFF, I Tim 334. Massiver klingt dies bei J. JEREMIAS, Past 45: "Mit schneidender Schärfe stellt unser Brief diese Sünde der Sektierer heraus, die sich offenbar ihren Unterricht reichlich bezahlen ließen und ihre Anhänger ausbeuteten", und G.HOLTZ, Past 136: "Wie heidnische Opferpriester mästeten die entarteten Gegner, die intelligent und für die Leitung von Menschen begabt gewesen sein mögen, mit den eucharistischen Gaben ihren Bauch. Die Frömmigkeit war im innersten Kern verdorben." 28 Vgl. A. T. HANSON, Past 107: "Perhaps, just as the conscientious presbyters might expect to receive honoraria from the flock, so the false teachers might have similar expectations from their adherents."
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6 Beinahe provozierend wird die eben den Irrlehrern zum Vorwurf gemachte Verbindung von Frömmigkeit und Gewinn jetzt positiv unter den Anspruch der Kirche gestelit. Das Kriterium für ein positives Urteil dieser Verbindung ist die Verknüpfung mit "Selbstgenügsamkeit" (a(rcapKEta). Durch diese unerwartete und überraschende Wende in der Bewertung des Verhältnisses von "Geschäft" und "Frömmigkeit" 29 erhält die oben zu V 5 angemahnte Zurückhaltung in der - den Text selbst bisweilen spekulativ überschreitenden - abwertenden Beschreibung von Verhaltensweisen und Motiven der sog. Irrlehrer eine Bestätigung. In dem Abschnitt 6,3-10 hat V 6 eine Art Überleitungsfunktion ; denn im folgenden steht das Thema Besitz und Reichtum nicht mehr im Zusammenhang der Irrlehrerpolemik, sondern es geht, wie u. a. der Wechsel zur 1. Person Plural ab V 7 deutlich macht, um die Einstellung der Christen dazu 30. Zugleich besitzt V 6 eigenständiges Profil. Die Konsequenz aus der bei den Irrlehrern festgestellten, besser: diesen gegenüber als Vorwurfformulierten Verquickung von Gelderwerb und Frömmigkeit ist nicht die Forderung, daß es solches bei denen, die sich an die rechte Lehre halten, nicht geben dürfe. Ja, in einer Steigerung gegenüber V 5 gesteht der Verfasser sogar zu, daß die Frömmigkeit "eine große Erwerbsquelle" sein kann - allerdings nur unter der Bedingung, daß sie mit "Genügsamkeit" (aö1:apKEta) verbunden ist. Dabei sind allerdings zwei unterschiedlich akzentuierte Verständnismöglichkeiten gegeben. So kann der Akzent einer ersten Interpretation zufolge darin gesehen werden, daß das im vorhergehenden Vers genannte und dort negativ bewertete Stichwort 1tOptO',.w~ eine Neuinterpret~tion erfährt durch die Hinzufügung des Begriffes aÖ1:apKEta, eine in der stoischen philosophischen Ethik zentrale Tugend 31. Als Parallele dazu wäre Phil 4, 11 zu nennen, wo Paulus die Unabhängigkeit seines apostolischen Dienstes damit kennzeichnet, daß er gelernt habe, "genügsam zu sein" (aö1:apK1'!~ Etvat)32: Der Autor der Past formulierte auf diese Weise den Anspruch der Kirche, daß sie über die Form und 2~ Vgl. H. MERKEL, Past 48: "Mit erstaunlicher Unbefangenheit kann der Verfasser den Vorwurf der Geschäftemacherei ins Positive wenden." Daß die Aufnahme dieses Gedankens in V 6 "fast überspitzt-ironisch" erfolge (so E. SCHLARB, Lehre 270; vgl. auch J. N. D. KELLy, Past 135; V. HAsLER, Past 47: "nicht ohne Ironie"), läßt sich weder aus dem Vers selbst begründen, noch paßt dies zur unmittelbar angeschlossenen Warnung vor den Gefahren des Reichtums. 30 F. J. SCHIERSE, Past 82, sieht in dem Abschnitt 6,3-10, "für sich betrachtet, ein Stück popuIarphiIosophischer Leb"ensweisheit"; und bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 64, wird dies ergänzt durch die Charakterisierung, der Standpunkt der Vorlage ,,(jüdisch-)hellenistischer Herkunft" sei der eines "naiven Eudämonismus". 31 Vgl. B. SIEDE, TBLNT 499: "In der stoischen Moralphilosophie wird die Fähigkeit des äpKEta9al zum Inbegriff aller Tugenden." Vgl. Diog. Laert. 11 24 (überSokrates :aUtapK'IJ~ TE T)V Kai aEIlv6~); Epict. Diss. I I, 12f. Auf das in den verschiedenen "Schulen" unterschiedliche Verständnis von alhapKEla verweist F. E. BRENK, Wineskins 41-49. 32 Vgl. dazu J. GNILKA, Der Philipperbrief (HThKX 3) (Freiburg 41987) 174f. literarische Abhängigkeit von dieser Phil-Stelle ist aber nicht anzunehmen.
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über das Maß des Gelderwerbs im Zusammenhang mit "Frömmigkeit" zu bestimmen und zu wachen habe. Zugleich liegt darin eine Mahnung an die kirchlichen Amtsträger, die ihren Unterhalt von der Gemeinde beziehen (vgl. 5,17 f), den Besitz und das Geld so zu verwalten und zu gebrauchen, daß diese nicht Macht über sie gewinnen. "Genügsamkeit" bezeichnet einen Umgang mit Geld, welcher der Frömmigkeit entspricht 33 • Die mit der partizipialen Ergänzung ~E'ta aU'tapKEiUl; zu EU<JEßEta vorgenommene Verhältnisbestimmung von "Gelderwerb" und "Frömmigkeit" bildet somit eine "polemische Antithese" zum Tun der Irrlehrer 34 • Allerdings liegt der Streitpunkt dann nicht in der Frage, ob Gelderwerb und ein frommes Leben miteinander zu vereinbaren sind, sondern darin, wie das Verhältnis zwischen bei den zu bestimmen ist. Während in dieser Auslegung der Begriff 1topt<J~6<; im grundsätzlich gleichen Sinn wie in V 5 verstanden wird, aber interpretiert durch die Frömmigkeit, die mit Genügsamkeit verbunden ist, wird in einer zweiten Auslegungsrichtung die Betonung auf ElJ<JEßEta 35 gelegt; 1topt<J~6<; wird im Unterschied zu V 5 nicht auf die irdisch-materielle Versorgung gedeutet, sondern "im Sinn von 4,8" theologisch bzw. soteriologisch interpretiert, bezogen auf "den letzten, bleibenden ,Besitz' des Menschen", das jetzige und das kommende Leben 36. Doch diese theologisch überhöhende Deutung paßt weder als Alternative zu V 5 (insbesondere auf dem Hintergrund von 6, 17f!) noch zur nachfolgenden Behandlung des Themas Besitz und Reichtum, noch auch zum Grundanliegen der Past, in den die Gemeinden und ihre Vorsteher unmittelbar bewegenden Fragen des alltäglichen Lebens und in den innergemeindlichen Streitfragen zur Welt und ihren Bedingungen - und dazu gehören neben Ehe und Speisen (vgl. 4,3 f) auch der Gelderwerb und der Besitz - konkret brauchbare Hilfestellungen zu geben. 33 Vgl. die Akzentsetzung bei A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 177: Der Abschnitt der VV 6-10 handle "nicht so sehr von der E(OcrEßWX), sondern von der mit der Frömmigkeit notwendig verbundenen Genügsamkeit (a01:CLpKWl 6,6) und der verpöntenGeldliebe". Nach F. J. SCHIERSE, Past 83, hat die hier vorgetragene Lösung "deutlich die Form eines Kompromisses, eines fatalen ,Ja - Aber'''; denn der Verfasser möchte "einerseits die Tatsache rechtfertigen, daß die Frömmigkeit eine gute Erwerbsquelle darstellt, anderseits möchte er aber die Amtsträger zur Genügsamkeit mahnen und vor den schlimmen Folgen der Geldgier warnen". Zur vergleichbaren Position von F. Tillmann vgl. die kritische Darstellung bei N. BRox, Past 209f. 34 Vgl. J. ROLOFF, I Tim 334. 35 Vgl. etwa G. W. KNIGHT, Past 253, unter Berufung auf W. BAUER, WB S.V. IlE1:CL A. 11.6: "Zur engen Verb. zweier Subst., auf deren erstem der Hauptnachdruck liegen soll"; dort als Beleg 1 Tim 6,6. 36 So N. BRox, Past 209; vgl. auch C. K. BARRETT, Past 84: "religion affords gain in respect both of this life and of the life to come"; H. MERKEL, Past 48: Frömmigkeit, "gewinnbringend für das irdische und ewige Heil"; P.DscHULNIGG, Warnung 61: Der "Sinnhorizont der Aussage" habe sich durch die Zufügung IlE1:U a01:apKeia~ gegenüber V 5 "überraschend" verschoben: "Die Frömmigkeit ist nicht als Erwerbsquelle, sondern als großer Gewinn in diesem und im kommenden Leben verstanden (4,8), wenn sie als Genügsamkeit gelebt wird."
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7 Die eben vom Verfasser beschriebene Möglichkeit zu einem frommen Leben, welches auch dem Erwerb, also der Sicherung der Existenz, dient (m)'tupKEtU!), erfährt nun eine Erläuterung und Begründung, die nicht unmittelbar als eine Weiterführung des in ml'tUpKEtU enthaltenen Grundgedankens des verantwortlichen Umgangs mit den irdischen Gütern zu verstehen ist. Pseudo-Paulus greift mit dem knappen, aber eindringlichen Hinweis auf die Unfähigkeit aller Menschen, an den beiden entscheidenden Stationen ihres Lebens, bei der Geburt und beim Tod, von sich aus die Zukunft zu bestimmen, ein Motiv auf, welches in der jüdischen Weisheitsliteratur in ähnlicher Form geläufig 37, aber auch außerbiblisch verbreitet war 38 • Die Argumentation bleibt "vernünftig" und pragmatisch. Die Quintessenz des Satzes, daß der Mensch bei seiner Geburt ebenso wenig in der Lage ist, etwas mitzubringen, wie er bei seinem Tod aus der Welt etwas mit sich nehmen kann, ist unabhängig von jeder religiösen Überzeugung einsichtig. Und es ist gewiß nicht zufällig, daß der Autor auf theologische Begründung, etwa auf einen Hinweis auf die Begrenztheit des Menschen als Gottes Geschöpf, verzichtet. Er verweist auf die Erfahrungen des Lebens, und er vermittelt damit die Gewißheit einer in der menschlichen Existenz verankerten Notwendigkeit. Damit kann er auf Aussagen und Argumente verzichten, die mit irgendwelchen negativen Urteilen über die weltlichen, materiellen Dinge belastet wären. Die naturgegebene Begrenztheit des menschlichen Lebens läßt den Dingen dieser Welt grundsätzlich nur relative Bedeutung zukommen. Für die Diskussion um den Anschluß der zweiten Zeile mit ö'tt" ist entscheidend, daß das konsekutive Verständnis grammatikalisch möglich und auch vom Sinnzusammenhang her zu begründen ist 40 • Sowohl im vorhergehenden Vers als auch in den nachfolgenden Versen geht es um Besitz und Reichtum, die im Leben des Menschen angesammelt werden; ihre durch die Lebensspanne begrenzte Bedeutung wird im zweiten Teil von V 7 herausgestellt, so daß auf der Aussage von der Sinnlosigkeit des Reichtums im Blick auf den Tod die eigentliche Betonung liegt 41. J7 Vgl. das Urteil über den Reichen Koh 5, 14: "Wie er aus dem Leib seiner Mutter herausgekommen ist - nackt, wie er kam, muß er wieder gehen. Von seinem Besitz darf er überhaupt nichts forttragen, nichts, das er als ihm gehörig mitnehmen könnte." Vgl. auch Ijob 1,21; Weish 7,6; Sir 40, I. J8 Vgl. Philo spec. I 294f: "yu~v6~ ~EV yap ... ilAeE~ yu~v6~ OE naALV IinEl~ ... "; Sen. ep. 102, 24f: "Excutit redeuntem natura sicut intrantem. Non licet plus effere quam intuleris". Weitere Belege bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 65. " Vgl. dazu etwa C. SPICQ, Past 561 f; J. ROLOFF, 1 Tim 335 f. Die LA ÖflAOV ÖTl (!C 2 D2 qr Mehrheitstext, altlat Hss und die syr Übers.) ist ebenso sekundäre Konkretisierung wie aAT]eE~ ÖTl (D*, lat Hss, Ambrosiaster). 40 Vgl. W. BAUER, WB s.v. önl.d.y (" ... , so daß wir auch nichts hinaustragen können"; so auch die Übersetzung u. a. bei H. MERKEL, Past 47; P. DSCHULNIGG, Warnung 62). Es besteht deshalb auch kein Grund, Ö'tl als Dittographie von [K6cr~lov her zu erklären (so etwa nach M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 65, u. a. auch A. T. HANSON, Past 108). 41 Die Interpretation von V 7b durch V. HASLER, Past 47, für den Autor beschreibe dieser Spruch "nicht nur das allgemeine Schicksal der Sterblichen", sondern bringe "den Willen des Schöpfers zum Ausdruck, auf den er schon 4,4 bei der Abwehr der Speisege-
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8 Der Vers bleibt zwar in der Linie einer an Lebensweisheiten orientierten Argumentation, bringt aber doch im Vergleich zu V 7 wieder einen Gedanken ein, der sich am Stichwort "Genügsamkeit" aus V 6 orientiert. Mit dem Hinweis auf "Nahrung" und "Kleidung" - öta:tpocpTJ und aKEnaO"J.l.a, im NT nur hier - als die Dinge, mit denen Christen sich zufriedengeben sollten 42 , folgt der Verfasser wiederum einem aus der stoischen Philosophie bekannten Ideal v. a. des kynischen Wanderpredigers 43. Nun kennt zwar schon das AT die Zusammenstellung von "Nahrung" und "Kleidung" als das, was für das Leben notwendig ist und wofür Gott deshalb sorgen wird (Gen 28,20; Dtn 10,18; vgl. Spr 30,8f; Sir 29,21); und in der Jesusüberlieferung werden die Jünger aufgefordert, sich nicht einmal um diese Grundbedürfnisse zu sorgen, verbunden mit dem Hinweis, daß "euer (himmlischer) Vater" darum weiß (vgl. Mt 6,25-34/Lk 12,22-31). Daß an unserer Stelle jegliche derartige Argumentation bzw. Anspielung fehlt, darf nicht durch den Hinweis auf den theologischen Gesamtzusammenhang überspielt werden 44. Ein wichtiger Grund für die recht allgemein gehaltene Zitierung dieser geläufigen Lebensregel ist darin zu sehen, daß der Verfasser im folgenden versuchen muß, ein eigenständiges Urteil in der Bewertung von Besitztum abzugeben 45 •
.bote verwiesen hat" (so auch zustimmend zit. bei J. ROLoFF, I Tim 334), trägt einen Ge· danken ein, der im Text selbst keinen Anhaltspunkt hat und auch aus dem Argumentationsgefälle nicht erschlossen werden kann. In dieser Hinsicht liegt auch ein Unterschied in der Argumentation zwischen diesem Vers und zwei häufig als ParaIlelen zitierten Texten, nämlich Herm. sim. I 6 (.. Erwirb dir als einer, der im fremden Lande wohnt, nicht mehr, als was du brauchst und was dir ausreicht ['t1')v o,ö'tapKEto,v 't1')v apKE't'ftV aotl, und sei bereit, wenn der Herr dieser Stadt [0 I5E<J1t6'tT]~ 't'fj~ 7t6A.Ero~ 'to,U'tT]g dich ausweisen will ... ") und Pol. ep. 4,1 (.. Da wir nun wissen, daß wir nichts in die Welt hineingebracht haben, aber auch nichts hinauszunehmen haben, woIlen wir uns wappnen mit den Waffen der Gerechtigkeit und uns zuerst selbst belehren, im Gebot des Herrn zu wandeln [1t0pEUEa9o,t tv T!\ tV'tOA:n 'toO KUptOUJ"); bei diesen bei den Texten haben wir trotz aller Gemeinsamkeiten, die zu erklären sind von den genannten Vorgaben aus der alttestamentlich-jüdischen und heIlenistischen Tradition, den entscheidenden Unterschied zu V 7 zu beachten, daß die Argumentation eindeutig theologisch bestimmt ist. '2 Das Futur kann (vgl. B.-D.-REHKOPF, Grammatik § 362) imperativisch verstanden werden; so etwa C. SPICQ, Past 562; J. ROLOFF, I Tim 336. 41 Vgl. Diog. Laert. VI 105 . •• Diese Tendenz ist erkennbar bei C. K. BARRETI, Past 85; auch P. DSCHULNIGG, Warnung 63, gesteht zwar zu, daß die in der Jesusüberlieferung gegebene Begründung der Radikalität ..mit der Ausrichtung auf das Reich Gottes und mit der Güte des Schöpfers gegenüber allem Geschaffenen" hier .. nicht direkt" geboten werde, aber .. aus analogen Aussagen des Kontexts von I Tim" mit zu bedenken sei. Vgl. dagegen J. ROLOFFs, I Tim 337, berechtigten Hinweis, daß .. der extreme Rigorismus der Jesustradition nicht aufgenommen" wird; ähnlich N. Baox, Past 210. ., Vgl. etwa W. SCHRAGE, Ethik 249, zu V 8: "Damit ist nicht Besitzverzicht, sondern ein gewisser Mittelweg und Kompromiß zwischen Besitzlosigkeit und Reichtum gemeint."
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9 Mit V 9 wird gleich das negative Gegenbild zu dem Ideal des "genügsamen" Christen geliefert. Wen der Verfasser bei dem Hinweis auf die, die "reich sein wollen", treffen will, ist nicht ohne weiteres zu sagen. Daß er auch die von ihm bekämpften Irrlehrer im Auge hat, erscheint von dem in V 5 gegen sie erhobenen Vorwurf der Verbindung von Religion und Geschäft her wahrscheinlich. Es spricht aber nichts dafür, daß exklusiv die Irrlehrer als die vorgestellt werden sollen, die der Autor auf die Gefahren des Reichtums aufmerksam machen will 46 • Es ist die Behauptung zu wagen, daß alle Christen in den Gemeinden der Past sich angesprochen fühlen sollen, da die Gefahr, daß Reichtum das Wollen und Streben bestimmt, nicht gegen alle Erfahrung auf die Irrlehrer abgewälzt werden kann. Die aus dem Streben nach Reichtum 47 erwachsenden Gefahren werden in verschiedenen Bildern dargestellt, die letztlich gemeinsam die Gefährdung des Glaubens betonen sollen. In der Wahl der Bezeichnungen läßt sich eine Steigerung feststellen 48. Der Begriff "Versuchung" (1tEtpaO).l.O\;, nur hier in den Past) und das Bild von der "Schlinge" (vgl. I Tim 3,7) zeigen den Geldgierigen, der seine Entscheidungsfreiheit zu verlieren droht, über den deshalb die "Begierden" Macht gewinnen. Mit der Hinzufügung der Adjektive "töricht" (UVOT]'to\;) und "schädlich" (ßAaßEpO\;, neutestamentliches Hapaxlegomenon) zu E1tt8u).l.tat legt der Verfasser wieder den Ton darauf, daß solche Bindung an den Besitz dem Menschen und seiner Bestimmung unangemessen ist 4 '. Am Ende stehen dann "Verderben" und "Untergang". Die bei den hier gebrauchten Begriffe ÖAE8po\; (vgl. I Thess 5,3; 2 Thess 1,9; vielleicht mit einer anderen Akzentuierung 1 Kor 5,5) und U1tcOAEta (vgl. Phil 1,28; 3, 19; Röm 9,22 ; 2 Petr 2, 1.3 ; 3, 16) haben bereits für sich stehend die Bedeutung des über die Welt hereinbrechenden eschatologischen Vernichtungsgerichtes Gottes 50. Für die, die sich dem Reichtum verschrieben haben, gibt es für die Zukunft nur die Erwartung des endgültigen Scheiterns "aufgrund des Urteils Gottes im Endgericht" 51. Der "Untergang" solcher Menschen, insbesondere aber auch solcher Christen wird veranschaulichend umschrieben mit dem in wörtlicher Bedeu-
Diese Identifizierung scheint aber J. ROLOFF, I Tim 337, zu favorisieren: die, die "reich sein wollen", seien "zweifellos die Irrlehrer, die den rechtgläubigen Amtsträgern als negatives Gegenbild gegenübergestellt sind"; ähnlich schon G. HOLTZ, Past 137. 47 Zu Recht betont J. H. BERNARD, Past 96, daß es nicht um den bloßen Besitzvon Reichtümern geht, sondern um das Verlangen, reich zu sein, Insofern kann der Gebrauch der Wendung "Abwehr des Reichtums" (vgl. H. MERKEL, Past 49) irreführend wirken. 48 Vgl. auch P. DORNIER, Past 103, 4' In dieser Hinsicht zei~en sich wiederum Gemeinsamkeiten sowohl mit den in jüdischweisheitlicher Tradition geäußerten Warnungen vor dem Verlangen nach Reichtum (vgl. Spr 23,4f; 28,20.22; Prd 5,9-16; Sir 31,5) als auch - wenn wir die Wendung oi ßouA6~ VOlnAOU-cE"iV als Vorgriff von Q>tAapyupia von V 10 verstehen - mit der philosophischen Ethik. so Vgl. dazu H. eHR. HAHN, TBLNT 1254-1257. SI Mit J. ROLOFF, I Tim 338. 46
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tung auf das "Untergehen" von Schiffen bezogenen Verbum (vgl. Lk 5,7).
ßUet~E(Jeat
10 Den Abschluß der mit der Irrlehrerproblematik ins Gespräch gebrachten Frage nach der Einstellung der Christen zu Besitz und Reichtum bildet eine formelhafte Sentenz, die mit zahlreichen Parallelen in der Umwelt als allgemein bekannte und geläufige Wendung vorauszusetzen ist. Belege dafür bietet die philosophische Literatur 52 ; bei Philo steht eptAapy\Jpia in katalogartigen Aufzählungen (spec. 1281; prob. 21), und in den Test XII (Test Dan 5,5-7; Test lud 18,2; 19, I) wird damit ebenfalls die Gefahr für den Glauben beschrieben. Auch die zu V 7 schon zitierte Parallele Polyc. ep. 4, I (apXTJ OE 1taV'trov xaAe1troV eptAapY\Jpla) steht im Zusammenhang einer Aufzählung von Tugenden und Lastern (noch einmal 4,3).
Der Hinweis auf die Gefahr des Reichtums und eines daraus sich möglicherweise ergebenden Lasters, der Geldgier, gehört zu den festen Topoi paränetischer Texte (entsprechend die Erwähnung der q>tAupyupm im Lasterkatalog 2 Tim 3,2 und des positiven Gegenstücks uqnAupyupor; in I Tim 3,3). Es ist zwar anzunehmen, daß auch konkrete Erfahrungen im Gemeindeleben dem Autor die Aktualität des dahinterstehenden Problems vor Augen geführt haben, doch ist es nicht gerechtfertigt, aus dem recht allgemeinen und sicher auch häufig gebrauchten Spruch auf spezifische und außerordentliche Probleme, in den Gemeinden zu schließen, etwa Probleme mit der "Geldgier" bei Gemeindeleitern oder "Habgier" als Kennzeichen der sog. Irrlehrer. Die Verbindung zu letzteren erneut herzustellen, das ist allerdings die Absicht des Verfassers. Der paränetische Grundgedanke wird im zweiten Teil von V 10 polemisch umgebogen 5\ Damit schließt sich der Kreis zu V 3 und zu V 6. Weil es dem Verfasser darum geht, mit dem bekannten Wort die Irrlehrer zu charakterisieren, stellt er die Verbindung von Habsucht und bereits vollzogenem Glaubensabfall her (U1t01tAUVUW im aktiven Sinn "vom Glauben abbringen" nur Mk 13,22). Durch den relativischen Satzanschluß werden - stilistisch unglücklich 54 - Geldgier und Glaubensabfall so eng aneinandergeknüpft, daß der Vorwurf des Glaubensabfalls ein zwar radikales, zu52
"Die Geldgier als Urheberin alles Bösen war ein Lieblingssatz des Kynismus":
H. ALMQVIST, Plutarch und das Neue Testament (ASNU 15) (Uppsala 1946) 126. Vgl. die Warnung vor der Gefahr der "Liebe zum Reichtum" bei Plat. leg. VIII 831 c.d; IX 870 a-c. Von dem Wanderprediger und Philosophen Bion aus dem 3. Ih. v. Chr. (KiPI 1, 904 f) ist bei Stob (III 417,5) überliefert: Ti]v (jltAapyupiav I-LTl"tp6noALV !lAEYE nucrTl~ KaK(a~ dvm; ähnlich bei Diog. Laert. VI 50: Ti]v eptAapY\Jplav EInE I-LTl"tp6noALV nuv"tOlv "tOOV KaKoov. Zu weiteren Belegen s. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 66; C. SPICQ, Lexique 1588. 53 Vgl. G. HOLTZ, Past 138, mit der Ergänzung: "eine bis heute übliche Form der Auseinandersetzung" . 5. Vgl. A. T. HANSON, Past 109; der Gegenstand des "Begehrens" ist natürlich nicht, entgegen dem Anschluß mit ik "Geldgier" (eptAapyupia), sondern das Geld (upyupwv). Unbefriedigend bleibt auch der Vorschlag von H. RÖNscH, Exegetisches, bes. 142, das Relativpronomen ~<;; auf pi~a zu beziehen.
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gleich aber auch wenig profiliertes Urteil abgibt S5 . Daß die beiden Themen Habgier und Glaubensabfall nicht unbedingt zusammengehören, bestätigt auch der Verfasser, indem er in den VV 7-9 die Gemeinden und (wenn auch nicht ausdrücklich gesagt) v. a. ihre Leiter vor den Gefahren des Reich-sein-Wollens warnt. Eine weitere Bestätigung kann man darin sehen, daß die Auslegung recht häufig - allerdings ganz sicher im Sinne des Autors! - in die Gemeindeleiterparänese wechselt 56. Der entscheidende Vorwurf, den die Past gegen manche Gemeindemitglieder erheben,ist der des "Abirrens vom Glauben". Der Verlust des wahren und rechten Glaubens bedeutet im Verständnis der Past zugleich den Verlust von all dem, was menschliches Leben ordnet und es auch im Bereich des Sittlichen als bewährt ausweist. Die paränetische Zielsetzung ist also mitzubedenken. Christen in der Zeit der Past werden gewarnt, sich zu sehr auf das Geld einzulassen. Die Häretiker stehen ihnen dafür als warnendes Beispiel vor Augen. III
Der Text steht in der Tradition der Ketzerpolemik; nach einer kurzen paränetischen Ausweitung lenkt der Verfasser zum Schluß die Aufmerksamkeit wieder gezielt auf das Problem der Spaltungen in den Gemeinden in Fragen des Glaubens. Da eine inhaltliche Konkretisierung der "Falschlehre" fehlt, sind auch irgendwelche Besonderheiten der Theologie der Häretiker aus dem Text selbst nicht zu erschließen. Ein neuer Akzent gegenüber den anderen Abschnitten zu den Apostaten ist das Thema Geldgier. Es wird ebenfalls eingeführt auf dem Weg über die Verurteilung der Gegner. Der Vorwurf der Verbindung von Frömmigkeit und eigener Versorgung (1topLO"J.L6C;) gibt den Anlaß, darauf näher einzugehen. Die Schwierigkeit für unseren Autor liegt wieder darin, daß er Extreme vermeiden muß. Eine radikale Ablehnung von Besitz und Reichtum konnte er nicht fordern, da solches als Mißachtung der Dinge dieser Welt und damit als Gemeinsamkeit mit der gnostischen Lehre verstanden werden konnte. Grenzenlose und d. h. rücksichtslose Nutzung von Hab und Gut kann er selbstverständlich auch nicht gutheißen; denn damit würde er sich in Gegensatz zur Jesustradition (vgl. Mt 6,25/Lk 16,13), zum Ideal der Genügsamkeit des Paulus (vgl. 2 Kor 9,8; Phil4, 11) und zu anderen frühchristlichen Forderungen stellen (vgl. Jak 1,9-11; I Joh 2,15-17)57. 55 Vgl. auch J. ROLOFF, 1 Tim 339, zu V lOb: "Die recht plakative und pauschale These gewinnt erst durch die Einbindung in die Ausgangsthematik Konkretheit und Überzeugungskraft. " 56 Vgl. etwa J. ROLOFF, 1 Tim 339: "So wird am Beispiel der Irrlehrer deutlich, daß es für die Verkündiger der Heilsbotschaft nur eine ungeteilte Motivation geben kann, nämlich ihren Amtsauftrag (V 14), hinter dem der Herr der Kirche selbst steht." " Daß der Verfasser von der Jesusüberlieferung "mitgeprägt" ist, ist kaum zu bezweifeln; daß er aber, wie P. DSCHULNIGG, Warnung 65f, weiter ausführt, "bewußt auf Lo-
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Die Tatsache, daß diese Mahnung zu verantwortlichem Umgang mit dem Besitz und mit dem Reichtum einen so breiten Raum einnimmt, läßt sich vielleicht mit einer besonderen Situation der Gemeinden erklären; also nicht mit entsprechenden Problemen auf seiten der Irrlehrer, sondern damit, daß der Autor hier eine besondere Gefahrenquelle für die christlichen Gemeinden sah, d. h. gerade für die, die sich über die Irrlehrer mit deren asketischen Forderungen erhaben fühlten. Dafür spricht auch V 10, mit der Verknüpfung von Geldgier und Glaubensabfall, die allen Christen als Mahnung und Warnung dienen kann. LITERATUR: F. E. BRENK, Old Wineskins Recycled: Autarkeia in I Timothy 6,5-10: FilNT 3 (1990) 39-51; M. J. J. MENKEN ·On en 1 Tm 6,7: Bib.58 (1977) 532-541; H. RÖNscH, Exegetisches zu 1 Tim 6,10: ZWTh 27 (1884) 140-146.
b) Mahnung an Timotheus zur Ausdauer im Kampf für den Glauben (6,11-16)
Du aber, Mensch Gottes, fliehe dies;jage vielmehr nach Gerec~tigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Geduld und Sanftmut. 12 Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu welchem du berufen wurdest und das gute Bekenntnis abgelegt hast vor vielen Zeugen. 13 Ich gebiete [dir] vor Gott, der allem das Leben schenkt, und vor Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat, 14 den Auftrag makellos und untadelig zu bewahren bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, 15 welche zur rechten Zeit zeigen wird der selige und alleinige Herrscher, der König der Könige, der Herr der Herren, 16 der allein Unsterblichkeit besitzt, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat und auch nicht zu sehen vermag. Ihm sei Ehre und ewige Macht. Amen. 11
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Nachdem der Briefadressat in den an die scharfe Verurteilung der Häretiker angeschlossenen Betrachtungen zum Thema Besitz und Reichtum allenfalls implizit mit angesprochen war, ist er nun wieder unmittelbar als Empfänger der Weisung des Apostels genannt. Formal läßt sich der Abschnitt VV 11-16 deutlich in zwei Teile gliedern. Im ersten Teil (VV 11.12) wendet sich "Paulus" direkt an "Timotheus" und ermahnt ihn in vier Imperativen, die in einer Steigerung angeordnet sind, seine Aufgabe im Dienst für die Bewahrung und Sicherung des rechten Glaubens treu und zuverlässig zu erfüllen. Der Ausgangspunkt ist die noch negativ gewendete Aufforderung, die gerade genannten Gefahren, die aus der Geldgier kommen und die zum Glaubensabfall führen, zu meiden (taU1:U
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und am Ende steht die Verheißung ewigen Lebens (emAaßoO TI1~ airoviou ~rofj~); dazwischen wird "Timotheus" als guter Verwalter seines Leitungsamtes zu aktivem Handeln und zu Einsatz entsprechend seinem Glauben aufgerufen (OiroKE ... ayrovi~ou). Im zweiten Teil (VV 13-16) bleibt der Apostelschüler und -nachfolger zwar weiterhin auf die ihm übertragene Aufgabe hin angesprochen (V 14), doch die Person des Adressaten tritt deutlich in den Hintergrund durch die erneute, fast feierlich wirkende Selbstvorstellung des Apostels als "Gebieter" einerseits (V 13) und durch den hymnischen Lobpreis Gottes (VV 15-16) andererseits. Insgesamt gesehen kann man den Eindruck einer sehr stark ausgeprägten persönlichen Note gewinnen 1; zugleich aber ist an der Art und Weise der Formulierung zu erkennen, daß keinerlei Interesse an individuell-personbezogenen Aussagen besteht. Wenn also in diesen Versen das Bild eines vorbildlichen Gemeindeleiters im Kontrast zu den Falschlehrern gezeichnet werden so1l2, dann ist auch die Einbindung in den Kontext gut zu erklären. Entgegen der Behauptung, der Abschnitt wirke "wie eine Unterbrechung zwischen 10 und 17" und er sei "mit dem Kontext nach vorn und rückwärts nicht verbunden" 3, passen diese Verse, die sich wieder an den Gemeindeleiter wenden, zur Gesamtkonzeption der Past. Wie nach den bei den vorhergehenden scharfen Verurteilungen der Falschlehrer (1,3-7.9 f; 4, 1-5) jeweils eine die rekte Aufforderung an Timotheus ergeht, sich in der Treue im Glauben und im Widerstand gegen diese Irrlehrer als Vorbild zu zeigen (1, 18.19a; 4,6-16; vgl. 1,3f)4, so geschieht es auch hier. Nachdem mit dem Anspruc~ apostolischer Autorität Lehre und Leben - letzteres unter dem Stichwort Besitz und Reichtum - als Abweichung von der der Frömmigkeit entsprechenden Verkündigung (V 3) und als Abirren vom Glauben (V 10) verurteilt worden sind, wird jetzt konsequent und passend aufs neue die Verantwortung des Gemeindeleiters für den Glauben herausgestellt. Unter Beachtung dieser inneren Verknüpfung der Textabschnitte VV 3-10 und VV 11-16, die der kompositionellen Absicht des Autors entspricht, kann auch die Frage gestellt werden, ob und in welchem Umfang der Verfasser in VV 11-16 ihm vorgegebenes Traditionsgut übernommen hat. Die v. a. auch mit der These von der mangelnden Integration in den Kontext verknüpfte Annahme, es handle sich nicht um eine Komposit~on des Verfassers, sondern um ein als Ganzes übernommenes paränetisches StückS, bedarf einer Überprüfung. Daß unser Autor formelhafte Wendungen aufgegriffen und verarbeitet hat, ist nicht zu bezweifeln; Umfang und Charakter der vorgegebenen Traditionen sind jedoch unsicher. Die den Text abschließende Doxologie zeigt deutlich liturgisch-feierliche Prägung, Vgl. dazu J. N. D. KELLY, Past 139. Vgl. C. SPICQ, Past 566. 3 So M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 66, und N. BROX, Past 212; vgl. auch E. KÄSEMANN, Formular 101. 4 Vgl. den Hinweis bei G. D. FEE, Past 148. S So N. BROX, Past 212, im Anschluß an E. KÄSEMANN, Formular 107. I
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vergleichbar dem kürzeren hymnischen Stück in 1, 17; es ist deshalb als wahrscheinlich anzunehmen, daß zumindest dieser Lobpreis Gottes als liturgische Formel tradiert und vom Verfasser ohne wesentliche Veränderung übernommen worden ist 6 • Was hingegen den Beginn des Abschnittes mit VV 11.12 betrifft, so ist die Annahme einer diese beiden Verse enthaltenden Vorlage höchst unwahrscheinlich. Die direkte Anrede in imperativischer Form und insbesondere der verwendete Wortschatz sowohl bei den Verben 7 als auch bei den Substantiven 8 verweisen auf Formulierung durch den Autor der Past 9 • Allerdings ist bei VV l2c-14 zu überlegen, ob nicht in den um den Begriff "Bekenntnis" (6!iOAoyia/6!iOAoYEiv) zentrierten Text eine vorgegebene Glaubensformel eingegangen ist. So rekonstruiert K. Wengst eine zweigliedrige Glaubensformel, die allerdings s. E. schon vor Aufnahme in die Past Bestandteil einer Ordinationsparänese geworden ist 10. Zwar ist zuzugestehen, di:J,ß sowohl das Gottesbekenntnis als auch das Christus bekenntnis von V 13 formelhaften Charakter haben; doch ob sich aufgrund dieser Beobachtung eine eigenständige und auf diese Bekenntniselemente eingeschränkte Glaubensformel postulieren läßt, erscheint doch fraglich. Vorbehalte sind auch gegenüber der Annahme angebracht, hier liege Zitat einer Ordinationsparänese vor, bzw. es handle sich um das "Formular einer Ordinationsverpflichtung" 11. Dabei ist die Aufnahme von Einzelelementen, die im Zusammenhang der Bestellung von Gemeindeleitern verwendet wurden, durchaus denkbar und wahrscheinlich; ebensowenig ist aber auszuschließen, daß Motive aus anderen, zentralen Bereichen der liturgischen Praxis, etwa der Taufliturgie und der Taufparänese, eingeflossen sind. Die bisweilen bemerkbaren Tendenzen zur Alternative - ent• iR. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 29 Anm.4, beurteilt hingegen diese Doxologie als "eine ad-hoc-Bildung des Verfassers". 7 ;Vgl. zu den Imperativen !p€Oy€ und ÖlroK€ die Parallele 2 Tim 2,22; zu ayrovl~ou I Tim 4,)Q (Komw/lEV Kai ayrovL(;OIl€9a) und 2 Tim 4,7 ('tOV KaA.6v aywva 1']yrovLC1llaL); zu {;mAaßoO I Tim 6,19. 8 Zu öLKawC1uV112 Tim 2,22; 3,16; €UC1e߀La I Tim 2,2; 4,7.8; 6,5.6; Tit I, I; 1tlC1n~ zusam11len mit aya1t1] 1 Tim 1,5.14; 2,15; 4,12; 2 Tim 1,13; 2,22; 3, 10 (+ U1t0Il0v1']); Tit 2,2 (+ U1t0Il0v1']); 1tpaü1ta91a ist neutestamentliches Hapaxlegomenon. Die Verbindung (;ro1) alrovw~ 1 Tim 1,16; Tit 1,2; 3,7; ähnlich I Tim 4,8; 2 Tim 1,1.10. , Während E. KÄSEMANN, Formular 108, lediglich 'taO'ta !p€Oy€ dem Autor als Textanschluß zuschreiben will, betrachtet J. ROLOFF, I Tim 343, die VV 11.12 als "eine vom Veif. selbst geschaffene Einführung und Überleitung". 10 Diese "ältere Bekenntnisformel" (E. KÄsEMANN, Formular 107) wird von K. WENGST, Lieder 124f, so bestimmt: (mC1't€uro €l~, 0IlOAOYW) 'tov 9€ov 'tov (;oroyovoOv'ta 'tu 1t!lv'ta Kai XPLC11:0V 'I1]C100v 'tov llap'tup1']C1aV'ta {;1ti ITov'tlou ITLACL'tOU (übernommen auch von J. ROLOFF, I Tim 344). Diese Formel sei "im Gegenüber zu einer doketischen Gnosis gebildet worden und behauptet die Schöpfertätigkeit Gottes und das wahrhaftige Leiden Christi zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt". Letztere Erklärung erscheint jedochfiir die Formel allein etwas gekünstelt, v. a. wenn man vergleichbare Formulierungen mit heranzieht (s. zur Einzelauslegung). 11 U.a. vorgeschlagen von N. BROX, Past 212.
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weder Taufparänese oder Ordinationsformular - erscheinen von der in den Past noch deutlich erkennbaren Funktionsbestimmung des Gemeindeleiters her, daß er dieses sein Amt insbesondere dadurch ausfüllt, daß er durch seinen Glauben und sein Leben ein Vorbild für die Gemeindemitglieder ist, nicht sachgerecht 12. Auf den Verfasser der Past ist schließlich auch die Einführung der Mahnung mit der 1. Person Singular napaYYEAA,ro zurückzuführen, während die Wahl des Verbums napaYYEAAEtv, welches sonst nur verwendet wird zur Bestimmung der Pflichten des "Timotheus" durch Pseudo-Paulus (vgl. 1,3; 4, 11 ; 5,7; 6, 17), auf eine Vorlage zurückgehen dürfte 13. In der Frage, ob diesem Text 6,11-16 das "Formular einer Ordinationsparänese" zugrunde liegt, ist unter Berücksichtigung der verschiedenen Probleme abschließend das Urteil von H. v. Lips zu teilen, daß der Verfasser unter Verwendung von Formelgut, welches möglicherweise auch in Beziehung zur Ordination stand, den Text gestaltet hat; die Vorlage einer bereits fest ausformulierten Ordinationspa~. änese kann somit "nicht als erwiesen" angesehen werden 14.
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11 Nach der Schilderung der Situation der Irrlehrer und den Warnungen vor Besitzstreben und Geldgier, die gezielt als Irrlehrerpolemik eingesetzt worden sind, wendet sich der Paulus der Past wieder an den Briefadressaten mit der betonten Forderung, sich "davon" fernzuhalten. Den Kontrast betont einmal die Anrede ou oE, womit in den Past auch an anderen Stellen die Opposition des der rechtgläubigen Lehre verpflichteten Vorstehers gegen Häretiker eingeleitet wird (2 Tim 3, 10.14; 4,5; Tit 2, 1). Diese Opposition wird inhaltlich noch unterstrichen; was für manche Leute (-nVEC;: V 10) zutrifft, das darf für den, der als "Mann Gottes" anerkannt sein wiU, nicht gelten. All das, was die charakterisiert, denen "Falschlehre" u~d "Abweichen von der Wahrheit" (VV 3.10) vorgeworfen werden muß, hat der für den rechten Glauben und die Wahrheit Verantwortliche radikal zu meiden. In der Aufforderung, "dies" ('taü'ta) zu fliehen, ist zwar im engeren Sinn ein Bezug zu dem gerade in VV 3-10 Geschilderten intendiert, darüber hinaus aber wohl auch zu all dem, was bereits früher über "Falschlehre" (I,3!) und "Abweichen vom Glauben" (4,1-3.7) gesagt 12 Dieses Miteinander von spezifischer Beauftragung des Amtsträgers in der Nachfolge des Apostels und seiner Verpflichtung auf ein vorbildhaftes Leben als Getaufter betonen auch J. ROLOFF, I Tim 343, und H. MERKEL, Past 49. 13 Die bei J. ROLOFF, Past 343, mit der persönlichen Anredeform begründete Bestimmung des Sprechenden, es sei "der den Ordinationsgottesdienst leitende Bischof', erscheint angesichts anderer Aussagen zum Episkopos (vgl. I Tim 1,3-7) und zur Bestellung der Gemeindeleiter (vgl. I Tim 4, 14; 2 Tim 2,2) für den Bereich der Gemeinden der Past eher fraglich. Zur Kritik an solcher Deutung auch H. v. LIPS, Glaube 180. Zum Thema "Ordination" ausführlich bei J. ROLOFF, a. a. 0. 263-281. 14 Zur ausführlichen Diskussion H. v. LIPS, Glaube 177-180. Ähnlich das Urteil bei H. MERKEL, Past 49, der als Gegenargument den Befund von "sprachlichen und sachlichen Eigentümlichkeiten des Verfassers" im Text anführt.
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worden war 15. Umschrieben wird die geforderte Entscheidung auf der negativen Seite, wie schon bei Paulus in I Kor 6, 18 und wiederum in 2 Tim 2,22, mit dem Verbum
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Vgl. auch G. D. FEE, Past 149. Vgl. Did. 3,1; Bam. 4,1.10; 1 Clem. 30,1; 2 Clem. 10, I (6tcO~roI1EV apETf)v ... lpuyro!1EV n,v aO"E~Eta.V); Ign. Trall. 11,1; Philad. 2, I; 6,2; Polyc. 5,1; s. auch 4 Makk 8,19; Test Rub 5,5. 17 Für Mose: Dtn 33,1; Jos 14,6; Ps 89, I [LXX]; für Samuel: 1 Sam 9,6f; für Elija: I 17,18.24; 21,9-13; für Elischa: 2 4,7; für David: Neh 12,24; 2 Chr8, 14. In Aufnahme des alttestamentlichen Sprachgebrauchs auch bei Philo: zu Mose (mut. 26; 125) bzw. Priester und Propheten (gig. 61; imm. 139). Vgl. dazu C. SPICQ, Past 567: ,,11 s'agit donc d'un homme choisi par Dieu et consacre aDieu pour le presenter, parler et agir en son nom, notamment dans le domaine de la foi et du culte." 18 Diese doppelte Bedeutung bei der Anrede als Iiv8prollE 8EOO auch in der Interpretation bei G. W. KNIGHT, Past 260. 19 Während N. BRox, Past 212f, diese Bezeichnung auf Timotheus als Amtsträger appliziert sieht und so deutet, daß der Ordinierte ein Geistträger und Geistübermittler sei, ist nach V. HASLER, Past 49, der hier in seinem Auftrag charakterisierte Amtsträger nicht als alleiniger Geistträger und Geistvermittler in der Gemeinde vorgestellt. '6
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Eine Bestätigung für diese die Amtsausübung des Gemeindeleiters übersteigende Deutung liefert der zweite Teil von V 11 mit der positiven Ergänzung zu den Anforderungen, die "Tirnotheus" gegenüber den vom Glauben Abgefallenen auszeichnen muß. Die Dringlichkeit der Verwirklichung des im folgenden mit einer katalogartigen Aufzählung gekennzeichneten Lebens zeigt die mit paulinischem Sprachgebrauch (vgl. Röm 9,31 f; I Kor 14,1; Phil3, 12-14; I Thess 5,15) übereinstimmende Formulierung mit OtWKBtV (vgl. auch 2 Tim 2,22). Mit der Aufforderung "jage nach" (als Ergänzung zu "fliehe") macht der Autor deutlich, daß es für die von ihm verlangte Vorbildlichkeit des Gemeindeleiters nicht ausreicht, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Die Aufzählung der folgenden Tugenden weist unterschiedliche Bezüge auf, die der Verfasser aufgegriffen und zu einer neuen Einheit verschmolzen hat. Mit "Gerechtigkeit" (OtKaWO'I)Vr)) und "Frömmigkeit" (BuO'EßBta) zeigt sich die Nähe zur hellenistischen Ethik. "Gerechtigkeit" bezeichnet aber nicht im Sinne der Kardinaltugend die Haltung der auf den zwischenmenschlichen Bereich bezogenen Orientierung am Recht (OiKT]), sondern, wie aus der Zusammenstellung mit BUO'EßBta zu erkennen ist, das "gottwohlgefällige, rechte Verhalten des Menschen" (vgl. auch 2 Tim 2,22; 3,16; 4,8)2°. Und mit "Frömmigkeit" (vgl. 1 Tim 2,2; 4,7 f; 6,6) ist in ähnlicher Weise die Ausrichtung des Lebens am Willen Gottes angezie1t, und das ist nach den Past gleichbedeutend mit der Ausrichtung an der Verkündigung der Kirche. Bei den drei folgenden Begriffen, "Glaube, Liebe und Geduld" (vgl. auch 2 Tim 3,10; Tit 2,2), ist die Gemeinsamkeit in den beiden ersten Gliedern mit der Trias "Glaube, Liebe, Hoffnung" in der frühchristlichen Tradition, insbesondere bei Paulus (vgl. 1 Kor 13,13; Gal 5,5 f; 1 Thess 5,8), ebenso auffällig wie der Ersatz von EAni\; durch unoJ,Lovf} 21. Die Anhäufung von Tugenden mit zum Teil durch die Auswahl erkennbarer aktueHer Akzentuierung zeigt, daß der Verfasser nicht nur den an der Spitze der Gemeinde stehenden Amtsträger im Auge hat, sondern daß er hier "ein aHgemeines Idealbild christlicher Existenz" zeichnen will".
Dies gilt schließlich auch für die an letzter Stelle angefügte Haltung der "Sanftmut" (npa!lna8ia)23. Die Anfügung dieser auf den zwischenmenschlichen Bereich zielenden Einstellung mag damit zusammenhängen, daß der Autor in dem Lasterkatalog VV 4f das Verhalten der Irrlehrer als aggressiv und sozial schädlich charakterisiert hatte. Den Vertreter des rechten Glaubens muß im Unterschied dazu auszeichnen, daß er zwar mit Nachdruck, aber auch mit Zurückhaltung für seine Überzeugung eintritt (vgl. 2 Tim 2,25; Tit 3,2). 10
A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 175; vgl. 170-178.
In Verbindung mit nicJ'w;, aycmT] und tAn(~ ist unoJ.LovT] aber aU9h I Thess 1,3 eingefügt; in Röm 5,3-5 steht das Wort zusammen mit IiOKlJ.LT], tAn~ und ayanT]. 11 VgJ. auch J. ROLOFF, I Tim 347. 13 Neutestamentliches Hapaxlegomenon und auch außerbiblisch selten belegt, vgl. LlDDEL-Scorr-JoNEs, Lexikon, s. v. npaOna9(a. 11
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12 Aus der weiteren Verwendung der imperativischen Anrede ergibt sich, daß die in V 12 begonnene Ermahnung an "Timotheus" fortgesetzt bzw. entfaltet werden soll. Gleichzeitig ist, wie oben (in der Übersicht) schon angedeutet, die Möglichkeit einer Steigerung zu bedenken. In der Metapher vom Kampf wird erneut (vgl. schon 1, 18; 4, 10; wieder 2 Tim 2,3-5; 4,7) ein in der antiken Literatur und im hellenistischen Judentum häufig zur Veranschaulichung sittlicher und religiöser Anstrengung und Bewährung gebrauchtes Bild aufgegriffen 24. Im Vergleich zur Übernahme dieses Motivs bei Paulus, der damit seinen missionarischen Einsatz für das Evangelium charakterisiert (1 Kor 9,24-27; 1 Thess 2,2; vgl. Kol 1,29), zeigt dieser Beleg, der im Vergleich zu den anderen Vorkommen in den Past durch die Ergänzung mit dem Genitiv 't11~ 1ticr'tE(i)~ auffällt, deutlich die unterschiedliche Akzentuierung. Während für Paulus Ziel seines "Kampfes" der Glaube der Menschen ist, die Annahme seines Evangeliums, betrifft die Aufforderung zum "Kampf des Glaubens" in den Past die Situation dessen, der als bereits Glaubender nun zur Bewährung in diesem Glauben verpflichtet wird. Neben Paulus ist deshalb für die Past sowohl aus der philosophischen Ethik die mit dem Kampfmotiv verknüpfte Vorstellung der Lebensgestaltung mitzubedenken 2s , wie auch die in der jüdisch-hellenistischen Literatur damit verbundene Zielsetzung eines im Gesetzesgehorsam dem Willen Gottes entsprechenden und damit ,Jrommen" Lebens 26. In grundsätzlicher Übereinstimmung mit dieser Tradition gebrauchen auch die Past das Motiv vom Kampf. Zwei Gesichtspunkte werden in der Vorstellung vom "Kampf des Glaubens" veranschaulicht. Es ist zum einen der mit dem Bild verknüpfte Gedanke persönlicher Bewährung des Glaubens in einem Leben, welches der Glaubensverpflichtung entspricht 27. In dieser stärker subjektiven Beziehung ist also nicht notwendigerweise an die von außen kommenden Auseinandersetzungen, in welche Christen wegen ihres Glaubens verwickelt werden 28, zu denken. Daneben hat 1ticr'tt~ in den Past auch eine "objektive" Prägung; durch den Glauben bleibt das Evangelium als Heilsbotschaft für die ,. Vgl. dazu Belege bei G. DAUTZENBERG, EWNT I 60. Einen Überblick gibt V. C. PFITZNER, Paul, der die Belege auflistet nach der Bezeugung in der griechischen Literatur (23-35), bei Philo (38--48) und in jüdisch-hellenistischen Pseudepigrapha (55--69). 25 Vgl. Epict. Diss. III 25,2f: ... 00 yap ontp nCtAT]~ Kai naYKpaT{ou 6 ayrov np6KE1Tal ... , aÄAiL on&p aOTii~ EÜTuxia~ Kai EOOall.LOvia~. "The Cynic-Stoic Agon is removed from its cultic framework and placed in the sphere of everyday life", so V. C. PFITZNER, Paul 35. 2. Vgl. Philo, agr. 119; Mos. I 307 (ayrov ... on&p EocrE~Eta~ Kai 6crt6TT]TO~); virt. 45 ( ... T6v on&p EocrEßEia~ ay(j)va); 4 Makk 9,23 f (iBpav Kai EOYEVil crTpaTEiav crTpaTEocracr9E nEpi Tii~ EocrEßE(a~ ...). 27 Vgl. 1. ROLOFF, I Tim 348: "Glaube, treues und zuverlässiges Festhalten am Christenstand, hat notwendigerweise die Gestalt des Kampfes (2 Tim 4,7)." 2' So jedoch G. W. KNIGHT, Past 263. Vgl. dagegen V. HASLER, Past 49: Es geht "um das Fortschreiten in der persönlichen Frömmigkeit, um das Ringen nach einer höheren Stufe der Heiligung" und "um das unentwegte Streben nach christlicher Vollkommenheit".
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Gemeinden lebendige Wirklichkeit 29 • Da das Grundthema der Past die Gefährdung dieses Glaubensgutes durch falsche Lehren und durch ein nicht dem Evangelium entsprechendes Leben ist (vgl. V 10), eingeschlossen die Anweisungen, wie dem zu begegnen ist, beinhaltet die Aufforderung zum "guten Kampf des Glaubens" auch den aktiven Einsatz für den Glauben gegen Falschlehren. An der Stelle wird auch deutlich, daß die Grenze zwischen Texten, als deren ursprünglicher Sitz im Leben die Taufliturgie anzusehen ist, und Ordinationsparänese nicht eindeutig festzulegen ist. Die Ermahnung zum "guten Kampf des Glaubens" hat - vergleichbar den Imperativen in V 11 - als Wort an den Täufling guten Sinn; es paßt aber auch in den Rahmen einer gottesdienstlichen Feier mit der Erinnerung an die in der Taufe empfangene Gnade (vgl. 2 Tim 1,9-11; Tit 3,4-7), wobei ein exklusiver Bezug auf den Vorsteher und die von ihm zu übernehmenden Aufgaben nicht vorliegen muß. Allerdings gilt diese Mahnung an die Getauften in besonderer Weise und mit besonderer Verpflichtung für die Amtsträger.
Der Ausblick auf das ewige Leben bringt erneut die in der Taufe ausgesprochene Berufung in Erinnerung. Mit dem Imperativ E1ttAaßoO ist weder der Geschenkcharakter noch die Zukünftigkeit dieses "Lebens" aufgehoben. In der hier gebrauchten Formulierung wird jedoch, im Unterschied zu Paulus (vgl. Röm 6,22f; Gal 6,8), stärker die Gegenwärtigkeit dieses von Gott schon jetzt geschenkten Lebens und damit auch die aus der Selbstmitteilung Gottes resultierende Verpflichtung der Christen für das Leben hier und jetzt betont (vgl. 4,8)3°. Die beiden Gesichtspunkte der von Gott ausgehenden Erwählung und der auf seiten des Menschen zu vollziehenden "Aneignung" 31 werden eigens thematisiert. Die Parallelität der Formulierung und die gemeinsame Funktion der Interpretation der Zusage und Verheißung ewigen Lebens für den Adressaten in V 12b (EmAaßoO 't1'l~ aiooviou 1;;OOf1~) spricht eindeutig dafür, daß die bei den Aussagen in dem an 1;;00" angeschlossenen Relativsatz in einer einheitlichen Richtung zu interpretieren sind. Für den ersten Teil, das Bekenntnis der Berufung durch Gott - wie die passivische Formulierung EKA"eT)~ zu deuten ist -, ist der Bezug auf das Taufgeschehen unbestritten. Uneinigkeit aber herrscht hinsichtlich des Verständnisses des zweiten Teils, der vom "guten Bekenntnis" des Timotbeus spricht, welches er "vor vielen Zeugen" abgelegt hat. Von den drei Erklärungsrichtungen - (1) das Bekennt2. Dazu O. MERK, Glaube 93-99. Ausführlich zum "Glaubensverständnis der Pastoralbriefe" H. v. LIPS, Glaube 25-93 (vgl. 52: "nt(J"tt~ ist geprägt durch das Übergewicht des sachlich-inhaltlichen anstatt des personalen Bezuges. 1ttcri:t~ ist vor allem die Haltung, die die [inhaltlich verstandene] Glaubenswahrheit akzeptiert, und wird auf dieser Linie selbst zur Bezeichnung des Glaubensinhalts"). '0 Vgl. dazu u. a. P. DORNIER, Past 104f; G. D. FEE, Past 150; G. W. KNIGHT, Past 263. Mit Recht hält zwar J. N. D. KELLY, Past 141, fest, daß "kein Gegensatz" zu den paulinischen Aussagen vorliegt; doch sowohl in der Formulierung selbst als dann auch in der kontextuellen Interpretation der Past ist eine eindeutige Akzentverschiebung auf die Gegenwart festzustellen. '1 Vgl. F. J. SCHIERSE, Past 86.
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nis des Timotheus vor Gericht, (2) das Tautbekenntnis, (3) die Ordinationsverpflichtung 32 - hat die erstgenannte Deutung die Annahme der Past als echte Paulusbriefe zur Voraussetzung und kann deshalb hier übergangen werden 33; und so scheint alles auf die Alternative Taufparänese oder Ordinationsbekenntnis hinauszulaufen. Die Kontexteinbindung gibt eine eindeutige Antwort: das "gute Bekenntnis", welches der angesprochene Christ abgelegt hat, ist die Antwort auf den "Rur' (EKA:f18T]~). Der Adressat des Bekenntnisses (OIlOA,oyiu) ist Gott; das Forum sind "viele Zeugen", d. h. die Gemeinde. Im Vergleich zum "Rur' erscheint das "Bekenntnis" durch die sprachliche Gestaltung besonders betont. Als "gutes" Bekenntnis (KUA," OIlOA,oyiu) kann es gelten, weil es zum einen dem erwählenden Handeln Gottes und zum anderen der allgemein anerkannten Glaubensüberzeugung der Kirche entspricht. Die "vielen Zeugen" sind deshalb auch nicht einzugrenzen auf eine Gruppe, etwa die Presbyter, sondern sie repräsentieren die Glaubensgemeinschaft der Kirche 34. Damit wird gegenüber der Alternative Tauf- oder Ordinationsparänese eine weiter gefaßte Deutung möglich. Das, was der in Timotheus angesprochene Gemeindeleiter durch die Taufe empfangen und worauf er sich verpflichtet hat, das gilt nun in der Situation der Amtsübertragung in besonderer Weise. Der Verfasser verwendet Traditionen der Taufparänese, um den Auftrag des Gemeindeleiters zu beschreiben 35. Ein zusätzliches Argument dafür, daß der Verfasser hier nicht eine geprägte paränetische Formel übernimmt, sondern einzelne, schon formelhaft gebrauchte Motive zu einer neuen eigenständigen Weisung "komponiert", kann im Fehlen einer inhaltlichen Konkretisierung des "Bekenntnisses" gesehen werden. 13 Wenn jetzt "Paulus" als die die Anweisungen legitimierende Autorität sich wieder unmittelbar an den Adressaten 36 wendet, entspricht dies ganz der Grundstruktur der Past, daß die Vollmacht des Amtsträgers in der Übereinstimmung mit der apostolischen Weisung (nupuYYEA,A,W) ihren Vgl. dazu E. KÄSEMANN, Formular 103. Vorsichtig noch G. HOLTZ, Past 141, zu KUA" oJ.LoAoyiu: "Vielleicht liegt einer der ersten Anstöße zur Bekenntnisbildung in der Verantwortung vor dem Richter; vielleicht stand auch Timotheus schon vor Gericht." W Da es nach J. ROLOFF, I Tim 348 f, bei dem "Bekenntnis" "ohne Zweifel um die Ordi· nation" geht, deutet er auch die "vielen Zeugen" auf die an der Ordination beteiligten Presbyter und darüber hinaus auf die ganze Gemeinde. " Da N. BRox, Past 214f, im Anschluß an E. Käsemann die VV 11-12 "für sich genommen" als "Taufparänese" deutet, die dann im Zusammenhang der VV 11-16 als schon traditionelle "Ordinationsparänese" verwendet wurde, muß er eine "Inkongruenz" feststellen. Es erscheint aber möglich, diese Inkongruenz zu beheben, wenn man sich nicht auf das Formular einer in VV 11-16 vorliegenden Ordinationsformel festlegt. 3. Das Personalpronomen (JOt ist trotz recht ordentlicher Bezeugung (!t 2 A D H Min 1881, Mehrheitstext, lat. Übers. und syr. Text, z. T. in kopt. Versionen, Tertullian) mit!t* F G 'I' Min 6, 33 u. 1739, lat Übers. m und sah. Übers. als sekundäre Verdeutlichung zu sehen. 32
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Grund hat (vgl. auch 1,3; 4,11; 5,7; 6,17, jeweils als Auftrag an Timotheus). Im Unterschied zu anderen Einführungen eines Auftrags des (Pseudo-)Paulus, wo die Vollmacht der apostolischen Weisung nichtweiter expliziert wird (vgl. 1,18; 2,1; 2,8.12; 5, 14), läßt der Verfasser hier den Apostel nicht nur feierlicher sprechen, sondern seine Anweisung mit Einfügung eines theologischen und eines christologischen Bekenntnisses besonders betonen. Die vorliegende Erweiterung geht somit über die vergleichbaren Einführungen von 5,21 (ow,).Lap1:upo).Lat Evromov 1:00 8eoo Kai. XPLO'1:00 'l'rlO'OO) und 2 Tim 4, 1 (oLa).Lap1:Upo).Lat Evromov 1:00 8eoo Kai. XPLO'1:00 '11]0'00 1:00 ).LEMoV1:0<;; KptVELV ...) noch hinaus durch die Einfügung des Bekenntnisses zum Schöpferhandein Gottes, Die auffällige Parallelität dieser drei Belege einerseits und die Unterschiedlichkeit in der Ausgestaltung andererseits zeigen aber auch, daß es nicht ausreicht, deren Einführung und gleichzeitig deren Inhalt mit der Vorgabe einer Bekenntnisformel zu erklären 37. Die Gottesprädikation ist dabei eindeutig. Gott wird in seiner umfassenden Schöpfermacht vorgestellt, die aus der zugrundeliegenden biblischen Tradition heraus nicht nur die Erschaffung der Welt, sondern auch deren Erhaltung, ja umfassend Gottes Wirken in der Geschichte umfaßt. Die universale, kosmische Herrschaft Gottes ist Bestandteil unterschiedlicher frühchristlicher Traditionen (vgl. 1 Kor 8,6; 12,6; Eph 1,11; Kol 1, 16), so daß für die Past dieses Gottesbekenntnis ohne Vorgabe einer feststehenden Glaubensformel greifbar war. In der Gestaltung der Gottesaussagen zeigt der Verfasser zudem eine gewisse Eigenständigkeit (vgl. etwa das für die Past charakteristische Bekenntnis zu Gott als O'ül't'i]p). In der christologischen Aussage, die zur Gottesprädikation parallel gestaltet ist, wird überraschend und unvermittelt Bezug genommen auf die Gestalt des Pontius Pilatus, vor welchem Jesus Christus "das gute Bekenntnis bezeugt hat", Für das Verständnis dieser Aussage ist daran zu erinnern, daß die Past durchaus zentrale christologische und soteriologische Bekenntnisformulierungen kennen (vgl. 1,15; 2,6f; 2 Tim 1,9f; 2,8; Tit 2,13 f; 3,4--6), Angesichts dessen erscheint es nicht ausreichend, den Hinweis auf Pontius Pilatus und das damit verknüpfte "Zeugnis" Jesu Christi im historischen Sinn zu interpretieren, also als Bezugnahme auf die Person Jesu; dies hätte der Verfasser mit großer Sicherheit ausdrücklich geschrieben. In der hier gebrauchten Formulierung liegt vielmehr ein paränetischer und damit verknüpft ein christologischer Akzent vor, Das paränetische Interesse zeigt sich in der Parallelität von KaAT] o).LoAoyia, in V 12 zu "Timotheus" gesprochen und hier auf Jesus Christus bezogen. Die so in den Blick genommene Gemeinsamkeit ist nicht in der Aktivität der beiden zu sehen, also etwa in dem treuen und unerschrockenen "Bekenntnis und Zeugnis", das Jesus schon abgelegt hat und welches "Timotheus"
So etwa M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 67, mit der Begründung, diese Erweiterung sei "durch den Zusammenhang nicht oder nicht so veranlaßt" .
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jetzt, dem Vorbild Jesu folgend, auch ablegen soll 38. Die Gemeinsamkeit liegt vielmehr in dem "Objekt" des Bekenntnisses, in Gott. In dieser Hinsicht, in der radikalen Erfüllung des Willens Gottes, ist Jesus Vorbild für den Amtsträger. Der christologische Akzent ist in der zeitlichen Bestimmung dieses von Jesus bezeugten Bekenntnisses gegeben, daß es "unter", "zur Zeit von Pontius Pilatus", erfolgte 39 • Wie im Gottesbekenntnis das geschichtlich konkrete Handeln Gottes, sein umfassendes schöpferisches Wirken aufgenommen ist, so erhält auch das christologische Bekenntnis eine geschichtliche Bestimmung und Verankerung in der Person des Pontius Pilatus. Nimmt man die beiden Bekenntnisaussagen zusammen, dann wird deutlich, daß in diesen geschichtlichen Bezügen die besondere Akzentuierung des Gottes- und Christusbekenntnisses der Past festzumachen ist. In anderen Zusammenhängen wird ebenfalls vom SchöpferhandeIn Gottes gesprochen, und zwar in eindeutig antignostischer Akzentuierung (4,3 f), und es wird auch das Handeln Gottes in der Geschichte, in der Selbsthingabe des "Menschen Christus Jesus" (2, 5c; vgl. VV 3 f: Gott "unser Retter, der will, daß alle Menschen gerettet werden ... ") betont. Wie in diesen beiden Texten ohne Zweifel eine antignostische Stellungnahme enthalten ist, so ist solches auch für die parallele Gestaltung des Gottes- und Christusbekenntnisses in 6, 13 anzunehmen 40. 14 Nach der feierlich gestalteten und zugleich den autoritativen Anspruch unterstreichenden Ankündigung läßt der Verfasser nun "seinen" Paulus die Anweisung konkretisieren. In Entsprechung zur Anrede in V 11 (au oe) wendet sich "Paulus" wieder direkt an seinen Schüler, um die von diesem übernommene Verpflichtung in Erinnerung zu rufen. Die in den Past zugrunde gelegte Konstellation, daß der Apostel Paulus für die Zeit seiner Abwesenheit dem Timotheus den Glauben und das Leben der Gemeinde betreffende Aufträge erteilt, läßt für das Verständnis von tvtOA:f] Vgl. zu dieser Deutung N. BROX, Past 216; J. ROLOFF, 1 Tim 351. Die Bedeutung der Präposition bd ist umstritten. Die Übersetzung "vor" (vgl. u. a. W. BAUER, WB s.v. tni I.1.a.o; V. HASLER, Past 48; 51; J. ROLOFF, 1 Tim 340; 351) kann verknüpft werden mit der Absicht des Verfassers - oder auch schon des dem Verfasser vorliegenden formelhaften Bekenntnistextes? (so die berechtigte Anfrage von A. T. HANSON, Past 111 f) -, zu dem Verhör vor Pilatus mit dem "Bekenntnis" Jesu zu seinem Königtum nach Mk 15,2parr; Joh 18,33-37 einen Bezug herzustellen (vgl. G. W. KNIGHT, Past 265f). Für die Übersetzung als Zeitbestimmung, "unter Pontius Pilatus", entscheiden sich u. a. J. N. D. KELLY, Past 143; N. BRox, Past 216. Zu Für und Wider mit Entscheidung für die zweite Übersetzung P. DORNIER, Past 106f. 40 Vgl. K. WENGST, Formeln 125, der hierin (neben der "Schöpfertätigkeit Gottes" in einer allerdings nicht gerechtfertigten Einengung auf "das wahrhaftige Leiden Christi") eine Gegenposition zu einer "doketischen Gnosis" sieht; H. MERKEL, Past 50f. J. RoLOFF, 1 Tim 351 Anm. 108, dagegen zählt solche antidoketische Deutung zu den .,Yerlegenheitsauskünften". Deutlicher und greifbarer wird diese antidoketistische Ausrichtung dann allerdings bei Ign. Magn. 11; TraU. 9; Smym. 1. A. STECKER, Formen 179, verweist auf die Parallelität der beiden Partizipien; während das erste die Macht Gottes betont, ist im zweiten Satz "das Zeugnisgeben Jesu vor Pilatus als Zeichen seiner Macht" verstanden. J8
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eine Deutung erwarten, die diese Aufgabe in eine bestimmte Richtung konkretisiert. Damit aber sind noch immer verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gegeben. So kann MOI..T), dem engeren Kontext folgend, als "Amtsauftrag" verstanden werden, welcher in der Ordination übermittelt wurde 41. Die andere Deutung 42 interpretiert Ev'tOI..T) inhaltlich auf das bezogen, was es für Timotheus zu "bewahren" gilt. Das betrifft dann entweder - in Analogie zu 1tapaST)KTJ (vgl. 6,20) - "alles dem Timotheus Anvertraute" 43; oder aber es handelt sich - unter Berücksichtigung der in VV 11 f eingeforderten Verhaltensweisen - um eine stellvertretende Umschreibung für "die ethischen Gebote des christlichen Glaubens"44. Nun ist es die Besonderheit der paränetischen Weisungen der Past, daß sie in der Auseinandersetzung und im Streit um den rechten Glauben in beide Richtungen zielen; sie betonen einerseits die Autorität und die Vollmacht des im apostolischen Auftrag agierenden Amtsinhabers, und sie geben andererseits, wenn auch teilweise unter etwas mechanischer und stereotyper Verwendung von katalogartigen Aufzählungen von Tugenden und Lastern, diesem Auftrag des Gemeindeleiters einen zumeist stark ethisch ausgerichteten Inhalt. Beide Gesichtspunkte sollten deshalb auch bei der Interpretation von eV'tol..T) Berücksichtigung finden. Der "Auftrag" umschließt all das, was in Timotheus dem Gemeindeleiter anvertraut ist, was er zu bewahren und weiterzugeben hat; das umschließt sowohl die Lehre als auch die sittliche Unterweisung, ist also durchaus mit dem Stichwort 1tapaST)KTJ zu verknüpfen. Der Auftrag ist aber gebunden an die Weisung des Apostels und damit an die Beauftragung seitens der Repräsentanten der Gemeinden. Die Bedeutung des "Auftrages", den Timotheus zu bewahren hat, liegt in der kirchenamtlichen Anerkennung 45. Die beiden Ergänzungen, daß dieser Auftrag "unbefleckt, ohne Makel" (lia1t1.A.o~) und "untadelig" (I'LV€1tU.TJIL1t'tO~) zu bewahren ist, betonen die Kontinui~ tät, die der Gemeindeleiter zu garantieren hat, und sie deuten zugleich auf die aktuelle Gefährdung des überlieferten Glaubensgutes durch Irrlehrer 46 • 4' So E. KÄSEMANN, Formular 106f; F. J. SCHIERSE, Past 88; M. LIMBECK, EWNT I 1125; J. ROLoFF, I Tim 352. • 2 G. W. KmGHT, Past 266-268, unterscheidet und diskutiert acht Erklärungsmöglichkeiten, die allerdings unter die beiden hier vorgestellten eingeordnet werden können. 43 So M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 68; auch H. MERKEL, Past 50. 44 H. v. LIPS, Glaube 179; in einem (zu) allgemeinen Sinn auch schon G. WOHLENBERG, Past 212 ("die ganze christliche Heilslehre"). •, Die Formulierung bei N. BRox, Past 217, das "Gebot" sei "alles dem Timotheus Anvertraute, zur Bewahrung und Weitergabe Übergebene unter der Hinsicht einer getreuen und autoritativen Verwaltung", bringt die beiden Aspekte m. E. gut zur Geltung und muß nicht als Inkonsequenz in der Interpretation (so die Kritik bei H. v. ups, Glaube 179) kritisiert werden . .. Gegen die v. a. in älteren Kommentaren z. T. recht massiv eingeforderte Beziehung der beiden Adjektive liomA.oc; und äVE1ti.Ä.lllL1t'tOC; auf den Akk. os, mit der Begründung, daß es sich um "persönliche Eigenschaften" ·handle (so H. v. SODEN, Past 249; ähnlich B. WEISS, Past 227; A. SCHLATIER, Kirche 169; J. JEREMIAS, Past 46), wird heute sicher zu Recht der Bezug zu sV'tOA.i) zugrunde gelegt (vgl. u. a. bei N. BRox, Past 217; J. Ro-
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Der Stellenwert des dem "Timotheus" anvertrauten Auftrages wird noch demonstriert durch eine heils geschichtliche Zuordnung. Der Zielpunkt ist die Epiphanie "unseres Herrn Jesus Christus". Die für die Christologie der Past bedeutsamen Begriffe E7tupaVEta (nöch 2 Tim 1,10; 4, 1.8; Tit 2, 13) und E7tt<paivEtv (Tit 2, 11 ; 3,4) stehen in den Past in engster Verknüpfung mit der Offenbarung von Gottes Heilswillen in Jesus Christus 47 • Damit ist diese "Erscheinung" Bestandteil des Heilsplanes Gottes "vor ewigen Zeiten", "jetzt" Wirklichkeit geworden in und durch Jesus Christus (vgl. 2 Tim 1,9t). Die Gemeinde wartet aber auch auf die Wiederkunft Christi; und in die bis dahin sich erstreckende Zeit der Verkündigung und der Kirche ist die Aufgabe des Gemeindevorstehers eingebunden. Der Hinweis auf die Epiphanie ist nun nicht mehr geprägt von aktueller Parusie erwartung, und er soll auch den Gedanken des dann stattfindenden Gerichts nicht besonders betonen. Das mit "Epiphanie" umschriebene Heilsgeschehen mit den verschiedenen Stufen der Offenbarung gibt lediglich den Rahmen ab, in welchem der von "Paulus" beschriebene Auftrag seine Erfüllung finden muß. In diesen Worten zeigt sich bereits recht deutlich das Selbstbewußtsein einer kirchlichen Gruppierung, nämlich der mit amtlichem Auftrag den Gemeinden Vorstehenden, die ihr Tun eschatologisch einordnet. Auf solche Weise erhält der in den Past beschriebene Dienst in der Kirche einen äußerst hohen Rang zugesprochen, l,md zugleich wird der heilsgeschichtlich verankerte StelIenwert ihrer Sorge um den rechten Glauben demonstriert. Der Weg der mit dem Christusgeschehen geschichtlich belegt in seinem guten Zeugnis unter Pontius Pilatus - in das entscheidende Stadium getretenen Offenbarung des Heilswillens Gottes" braucht, um das Ziel und die VolIendung der zum Heilsplan Gottes gehörenden (vgl. V 15) und noch ausstehenden eschatologischen Epiphanie (dem Willen Gottes entsprechend) zu erreichen, den Boten, der dieses Evangelium von der Epiphanie, in Vergangenheit und Zukunft, bewahrt (vgl. 4,6-11)49.
LOFF, 1 Tim 352). Für äcr1t1.A.o~ ist im profanen wie im biblischen Bereich (vgl. 1 Petr 1,19; Jak 1,27; 2 Petr 3,14) sach- und personenbezogener Gebrauch belegt (vgl. A. OEPKE, ThWNT I 500); aVEniA.llJ.l1t'tO~ ist 3,2 und 5,7 auf Personen bezogen, wird in außerbiblischen Belegen aber auch sachbezogen gebraucht, etwa bei Philo leg. III 25 (noA.t1:da); congr. 70 (npCt~Et~). 47 Vgl. dazu L. OBERLINNER, Epiphaneia 200-203; DERS., NBL I 552f. Zu "Epiphaneia" E.PAX, Epiphaneia; DERS., RACV 832-909; PFISTER, PW(S) IV 277-323; D. LÜHRMANN, Epiphaneia; V. HASLER, Epiphanie; L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 133-154; E. SCHLARB, Lehre 142-192. 48 Zu Recht kritisiert E. SCHLARB, Lehre 170 Anm. 18, den im Zusammenhang von Tit 3,3-7 von mir (Epiphaneia 201) gebrauchten Begriff der "Selbstoffenbarung Gottes". 49 Vgl. auch E. KÄsEMANN, Formular 106f: Von der Erfüllung und Bewährung des "Amtsauftrags" (EV'toA.i]) "hängt tatsächlich das Heil der Kirche ab, sofern dadurch die Erhaltung der gesunden Lehre und apostolischen napa8Tl'(1l gesichert wird". Die zeitliche Festlegung mit der Präposotion J.LEXpt läßt es nach Meinung von PR. H. TowNER, Age 436, als "höchst unwahrscheinlich" erscheinen, daß mit dem Wort EnupaVEta auf etwas anderes als ein in der Zukunft liegendes Geschehen Bezug genommen wird.
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Mit dem Ausblick auf die Epiphanie als Ziel punkt des kirchlichen Amtes eröffnen die Past einen Zeitrahmen, der deutlich über die unmittelbare, nachapostolische Zeit hinausführt. Sachlich betrachtet kündigt sich auch hier die mit der Übertragung des Verkündigungs- und Leitungsamtes verknüpfte Verantwortung der Amtsträger für die Sicherung des auf die Zukunft hin gegebenen Auftrages an, also der Grundgedanke der Sukzession. 15 Die für die Past grundlegende Hinordnung der Heilsgeschichte auf die Erfüllung des universalen Heilswillens Gottes (2,4) bedingt auch, daß die Erwartung der eschatologischen Offenbarung Jesu Christi wieder formuliert wird als offenbarendes Handeln Gottes und daß dieser eschatologische Ausblick in einem Gotteshymnus ausklingt (vgl. die Verbindung 1,12-17). Gott selbst ist es, der diese Epiphanie "zeigen", offenbar machen wird. Der Gebrauch von OEL1CVOVat (= sehen lassen) für das Offenbarungsgeschehen unterstreicht den Öffentlichkeitscharakter des damit angesprochenen Geschehens und somit auch dessen umfassende, universale Bedeutsamkeit. Man könnte auch sagen, daß mit der "Epiphanie" Jesu Christi Gott die Offenbarung seines universalen Heilswillens zu ihrem Ziel, zu ihrer Vollendung bringen wird, wie er auch in der "Epiphanie" Jesu Christi, unseres Retters, "Leben" und "Unvergänglichkeit" hat aufleuchten lassen (2 Tim 1,10). Die Ergänzung, daß Gott dies tun wird "zur rechten Zeit" (KaLpot~ tOiOL~, vgl. 2,6), muß nicht interpretiert werden als Korrektur einer Naherwartung der Parusie oder als Stellungnahme ge J gen Berechnungen ihres Kommens S0, sondern unterstreicht den angesprochenen soteriologischen Stellenwert der eschatologischen Erwartung; und so erhält auch der auf diese Epiphanie ausgerichtete Auftrag an den Ge;., meindeleiter (V 14) eine besondere, heilsgeschichtliche Qualität, insofern sein Tun auf den in Gottes Heilsplan festgelegten "Termin" hinzielt. Der Verfasser spricht aber nicht einfach vom Handeln "Gottes"; er stellt vielmehr hier und im folgenden V 16 eine Reihe von Prädikationen zusammen, die die absolute Überlegenheit und Erhabenheit Gottes betd~ nen und so die Gültigkeit der Verpflichtung des Amtsträgers unterstreichen SI. Trotz der unterschiedlichen Herkunft der einzelnen Titel ist in der Dominanz des Gedankens der Transzendenz Gottes der stärkere Einfluß der Gottesvorstellung erkennbar, wie sie sich in den Synagogen außerhalb Palästinas unter dem Einfluß hellenistischer Vorstellungen entwickelt hat. 50 Solchen Zusammenhang vermutet A. T. HANSON, Past 112. Die Probleme hinsichtlich der Parusieerwartung lagen in den Gemeinden der Past, wie der Hinweis in 2 Tim 2, 18 zeigt, in einer anderen Richtung, nämlich in der Preisgabe eschatologischer Erwartungen. " Das Stück kann nach R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 29 Anm. 4, als "ein kleiner Gotteshymnus" angesprochen werden, der allerdings nicht als aus dem Gottesdienst übernommene Einheit anzusehen sei, sondern als "eine ad-hoc-Bildung des Verfassers"; zu den einzelnen Prädikaten, die "weitgehend traditionell" sind (ebd.), vgl. Einzelbelege 81-105.
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1 Tim 6,11-16 Als "Herrscher" (öuvaoTT)C;) erscheint Gott nur hier im NT (im profanen Sinn noch Lk 1,52; Apg 8,27), wohl übernommen aus dem hellenistischen Judentum (vgl. Sir 46,5.6.16; 2 Makk 3,24; 12,15.28; 3 Makk 2,3; 5,51). Ebenfalls griechischem Sprachgebrauch entspricht die adjektivische Ergänzung mit "selig" (~IlKa ptoc;vgl. 1,11), die auch Philo in Verwendung für Gott kennt (spec. II 53 [~6voc;yap EUÖlli~oov Klli ~IlKaptoc;J; sacr. 101; imm. 26). Die Einzigkeit Gottes (~6voC;, vgl. I, 17) ist zwar eine aus der alttestamentlich-jüdischen .Glaubenstradition (vgl. Dt 6,13; Jes 44,24) geläufige Bestimmung, scheint hier aber wie in anderen hymnischen Stücken, die ebenfalls hellenistischen Einfluß erkennen lassen (vgl. Röm 16,27; Jud 25; Apk 15,4), recht formelhaft gebraucht, zumal sich die Inhalte der Prädikationen nicht eindeutig gegeneinander abgrenzen lassen 52. Solche Formelhaftigkeit kennzeichnet auch die beiden folgenden Titulierungen "König der Könige und Herr der Herren" (ßIlOWUC; 't(i)v ßllowu6v'toov Klli KUPtoC; 't(i)v KUptEU6noov). Die Titulierung "König der Könige" hat ihren Ursprung im profanen Bereich orientalischer Herrscherbezeichnungen (vgl. Esr 7, 12: Artaxerxes; Ez 26,7 und Dn 2,37: Nebukadnezzar) und wird dann in unterschiedlicher Ausgestaltung sowohl in alttestamentlicher Zeit (vgl. Dt 10,17; Ps 135,2 f LXX; 2 Makk 13,4; Dn 2,47) als auch in jüdisch-hellenistischem Schrifttum (vgl. Philo, spec. 1,18; Cher. 99; 3 Makk 5,35) als Gottesprädikat gebraucht S3 • Dieses Gottesbekenntnis hat selbstverständlich gegenüber den Gottesvorstellungen der Umwelt und insbesondere gegenüber dem hellenistischen Herrscherkult eine kritische Funktion, sollte aber angesichts der Offenheit der jüdischen Gottesverkündigung für solche Prädikationen nicht einseitig auf den polemischen Akzent festgelegt werden. Das schließt nicht aus, daß etwa in Krisenzeiten die christliche Gemeinde mit diesem Bekenntnis (vgl. Apk 17,14; 19,16) ihren Widerstand gegen politische Machtansprüche und religiöse Strömungen geltend machen konnte'4.
16 Der Gedanke der Herrschaft ist weiterhin bestimmend, nun bezogen auf das Verhältnis zur Todesmacht. In einer doppelten Richtung zeigt sich auch hier die Absolutheit Gottes: Er allein ist es, dem Unsterblichkeit zugesprochen werden kann. Als Bestimmung Gottes steht ä9avacria im NT nur an dieser Stelle, dem Sinn nach allerdings vergleichbar mit dem Adjektiv a
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higkeit des Menschen, Gott je - aus den theologischen Aussagen der Past ist zu ergänzen: von sich aus -:- zu sehen, betont auch die Aussage von der ihm allein zustehenden Unsterblichkeit die radikale Unvergleichbarkeit Gottes. Trotz gewisser Gemeinsamkeiten mit alttestamentlichen Gottesaussagen - Ex 33, 18-23 handelt von der Unmöglichkeit, daß ein Mensch die Herrlichkeit Gottes sehen kann, und mit Is 40, 12f läßt sich die Aussage von der Unzugänglichkeit Gottes verknüpfen 55 - steht hinter der hier vorherrschenden Akzentuierung der Transzendenz und umfassenden Einzigartigkeit Gottes deutlich der Einfluß des hellenistischen Judentums. Der des öfteren geäußerte Verdacht, der Verfasser wolle, v. a. bei der Reservierung der Vorstellung von der Unsterblichkeit für Gott, gegen die im Herrscherkult der Zeit geläufige Apotheose der Herrscher protestieren 56, erscheint wiederum zwar denkbar, erklärt aber noch nicht ohne weiteres die massive Ausformulierung des Abstandes Gottes zum Menschen in diesem Vers. Letzteres muß zudem vor dem Hintergrund anderer Aussagen zu Gott und seiner Beziehung zu den Menschen überraschen, insbesondere des Bekenntnisses zum universalen Heilswillen "unseres Rettergottes" (vgl. 2,3 f). Die Erklärung für das Zusammenkommen der beiden Sichtweisen, der Darstellung der Transzendenz einerseits und der Betonung der Zuwendung zu Welt und Menschen andererseits, ist innerchristlich zu suchen, und zwar in der Auseinandersetzung mit gnostisierenden Tendenzen. Gegen den Anspruch einer auf Erkenntnis pochenden und damit exklusiven Erlösungslehre betonen die ,Past die Universalität des Heilswillens Gottes und auch den Heilsweg über die Selbsthingabe des Menschen Christus Jesus als "Lösegeld für viele" (2, 5c.6a); und gegen die zugleich in christlich-gnostischen Kreisen mögliche Inanspruchnahme besonderer, durch persönlich erfahrene Offenbarung erlangter Erkenntnis halten die Past fest an der vollständigen Andersartigkeit Gottes, die nur von Gott her zu den Menschen hin aufgebrochen werden kann durch "die Epiphanie unseres Herrn Jesus Christus" 57. Mit der Doxologie erhalten der Lobpreis Gottes und die Inpflichtnahme des an seinen "Auftrag" erinnerten Vorstehers eine Abrundung, die nicht aus der Liturgie der Ordination abzuleiten ist, sondern ebenso dem "Inventar" von Einzelbegriffen entnommen ist (vgl. lJ ö6~a Kai 'to Kp(l'tOe; 1 Petr 4, 11 ; 1'] EUAoyta Kai 1'] 'ttl-LlJ Kai 1'] ö6~a Kai 'to Kp(X'tOe; Apk 5,13) wie auch die Zeitbestimmung mit der im Gegenüber zu 1, 17b (Eie; 'toue; aimvae; 'tmv aiwvffiv) gräzisierten Form "Ehre und ewige Macht"
55 Vgl. H. MERKEL, Past 51. " So P. DORNIER, Past 108; vgl. auch J. N. D. KELLY, Past 146; J. ROLOFF, 1 Tim 356. Zu den Belegen vgl. C. SPICQ, Past 574. 57 Wenn F. J. SCHIERSE, Past 88, als "theologische Kritik" zu dieser Doxologie anmerkt, daß seit der Offenbarung Gottes in und durch Jesus "es einfach nicht mehr zu(trifft), daß Gott ,im unzugänglichen Lichte' wohnt und daß ihn ,kein Mensch gesehen hat und auch nicht zu sehen vermag''', dann wird damit eine nicht nur für den Autor der Past unzutreffende Alternative konstruiert.
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(tLf.l." Kai Kpa'to<; atrovwv) 58. Mit 'tLf.l.TJ greift der Verfasser einen in hymnischen Texten geläufigen Ausdruck auf (wie auch in 1, 17), wählt aber für das geläufigere 06~a (auch 1,17; vgl. Apk 4,9.11; 5, 12.13; 7, 12; 21,26) die Bezeichnung Kpa'to<;. Der Ton liegt insgesamt darauf, daß Gottes Macht Anerkennung findet bzw. daß die Gläubigen Gottes Hoheit und Macht preisen. In 'tLf.l.TJ liegt eine Mahnung, daß von den Menschen her dieses Wissen um das Wesen Gottes im Erweis der Verehrung Gottes zum Ausdruck kommt, während die Verwendung von Kpa'to<; Gott als den bekennt, der die unbegrenzte und überlegene Macht besitzt 59. III
Der paränetische Abschnitt 6, 11-16 zeigt einen klaren Bezug zur Gemeindesituation der Past mit der von Falschlehrern ausgehenden Gefährdung des Glaubens. Der von "Paulus" für den Kampf gegen die Irrlehrer beauftragte Gemeindeleiter wird direkt auf diese seine Aufgabe und Verantwortung hin angesprochen (V 11: O"u OE ... ; V 13 f: napayyEA).ffi ... 'tl1pfjO"ai O"E ...). Es fehlt allerdings eine durchaus denkbare inhaltliche Entfaltung der angesichts des Auftretens der Irrlehrer für den Vorsteher sich ergebenden Pflichten und Aufgaben in Verkündigung und Gemeindeverwaltung. Die in VV 11.12 formulierten Erwartungen und die Bezugnahme auf die Verheißung des ewigen Lebens sind auch keine amtsspezifischen Sachverhalte. Ein zweites Kennzeichen ist die starke Prägung des Textes durch homologische und hymnische Teile (VV 13:15f). Wenn man dafür die Abhängigkeit von einem bereits vorformulierten Abschnitt aus dem Ordinationsgottesdienst nicht als Erklärung annehmen will, dann gilt es, Gründe für diese Gestaltung der an den Gemeindeleiter gerichteten Weisungen zu benennen. Zwei Gesichtspunkte seien dazu genannt: (1) Wiederum ist ein Kennzeichen der auf die Irrlehrerthematik antwortenden Ermahnung, daß der Rahmen einer innerkirchlichen Belehrung nicht überschritten wird. Es werden nur Verhaltensweisen angesprochen, die als Kennzeichen eines frommen Lebens und als Beweis des rechten Glaubens gelten können. Die Aufgabe des Gemeindeleiters wird darin festgemacht, daß er selbst in der Kontinuität der Glaubenstradition zu leben und für dessen unverfälschte Bewahrung Sorge zu tragen hat. Deshalb gilt es auch, sich an das einmal abgelegte "gute Bekenntnis" zu erinnern (V 12), womit der Autor ziemlich sicher auf die Taufe Bezug nehmen will. Es entspricht dies der Art und Weise, wie er die "Auseinandersetzung" mit Irrlehrern führt, daß er nämlich als Gegenbeweis gegen ihre theologischen Lehren auf die Glaubenstradition verweist. SB Vgl. dazu mit Einzelbelegen R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 27-29. " Vgl. W. MICHAELIS, ThWNT III 908. Mit C. SPICQ, Past 574, läßt sich in der Wahl des Begriffs Kpa1:0~ ein Zusammenhang mit der Akklamation als 1tUV'toKpa'tCOp (vgl. 2 Kor 6,18; Apk 1,8 u.ö.) vermuten; für die Ableitung der Wah1 von Kpa1:0~ "aus der Verfolgungssituation der Gemeinden" (P. VON DER OSTEN-SACKEN, EWNT II 780) fehlen hingegen im Text Anhaltspunkte.
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(2) Dem entspricht, daß der größte Teil dieser 1 Tim abschließenden, dem Paulus in den Mund gelegten "Anordnung" (1tUPUYYEMW V 13) formelhafte, bekenntnishafte Stücke enthält, die überwiegend aus der liturgischen Feier genommen sind und auf diese Weise bekannte Glaubensinhalte unter einer veränderten Zielsetzung in Erinnerung rufen. Die Beschreibung des "Glaubensgutes" (vgl. V 20) bleibt im wesentlichen sehr allgemein und grundsätzlich ausgerichtet, gleichzeitig aber mit Akzentuierungen versehen, die der Situation einer durch gnostisierende Interpretation des christlichen Glaubens erwachsenden Gefahr Rechnung tragen: Es ist das Zeugnis, das Jesus Christus in seinem Reden, Wirken und Sterben "zur Zeit des Pontius Pilatus" abgelegt hat; und es ist das Handeln Gottes in der Geschichte, von Anfang an bis zur Vollendung in der Epiphanie Jesu Christi. In der heils geschichtlichen Zuordnung der Tätigkeit der gemeindlichen Amtsträger erfolgt nicht nur eine starke Legitimation, sondern darin liegt auch der Hinweis auf die Dienstfunktion solchen Amtes, daß es Zeugnis ablegt von diesem Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. LITERATUR: G. BALDENSPERGER, 11 a rendu temoignage devant Ponce Pilate: RHPR 2. (1922) 1-25.95-117; C. H. TURNER, 1 Tim. VI 12,13: €nl nOV'tLOU nStA.Cl'tOu: JThS 28 (1927) 270-273.
c) Vom rechten Gebrauch des Reichtums (6, 17-19)
Denen, die reich sind in dieser Welt, gebiete, nicht hochmütig zu sein und auch ihre Hoffnung nicht zu setzen auf die Ungesichertheit des Reichtums, sondern auf Gott, der uns alles in ,reichem Maße zum Genuß gewährt; 18 sie sollen Gutes tun, reich sein an guten Werken, freigebig, bereit zum Teilen, 19 um sich (so) ein gutes Fundament anzusammelnjUr die Zukunft, damit sie das wahre Leben erlangen. 17
I Das Thema "Reichtum" ist bereits im Zusammenhang der VV 3-10 angesprochen worden, und trotz der unterschiedlichen Art und Weise der Behandlung - in den VV 3-10 steht die Gefahr der Geldgier im Vordergrund (mit VV 5 f aber auch die Frage nach der rechten Beziehung von "Frömmigkeit" und Gelderwerb), hier dagegen geht es ganz allgemein um verantwortlichen Umgang mit Reichtum - besteht kein Zweifel, daß für den Verfasser mit diesen VV 17-19 das zu Beginn von Kapitel 6 angeschnittene Thema fortgesetzt werden soll J. In beiden Textabschnitten wird die
I So spricht auch H. MERKEL, Past 52, von einer Ergänzung der VV 9 f "durch Weisungen zum positiven Umgang mit Hab und Gut"; ähnlich J. N. D. KELLY, Past 147f; P. DORNIER, Past 109. Die von F. W. HORN, Glaube 257, formulierte Bezugnahme auf die beiden Abschnitte VV 9fund VV 17-19, es werde "in zwei unverbundenen und sach-
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Frage reflektiert, wie Besitz und Reichtum mit dem Glauben in Übereinstimmung gebracht werden können, und sie sind im Sinne einer Weiterführung auch dadurch einander zugeordnet, daß im ersten Teil "Paulus" als Autorität spricht und daß in diesem Abschnitt "Timotheus" auf seine Verantwortung hin angesprochen wird 2. In dem Imperativ "gebiete" (1tUPaYYE"J...c.) liegt zudem eine vergleichbare weiterführende Verknüpfung zur "Weisung" des Apostels von V 13 (1tUpuyytUro) vor. Schließlich zeigt sich die Zusammengehörigkeit der beiden Abschnitte VV 3-10 und VV 17 ~ 19 auch in der unterschiedlichen Art und Weise des Redens und Urteilens über den Reichtum. Während die VV 9.10 einzig und allein dessen negative Seite und die mit Gier nach Reichtum für den Glauben verbundenen Gefahren aufzeigen und verurteilen, steht im Vordergrund der Überlegungen in den VV 17-19 der Nachweis der positiven Möglichkeiten, wie Reichtum und Glaube, d. h. ein frommes Leben, miteinander in Einklang zu bringen sind 3. 11 17 Die reichen Leute, die der pastoralen Fürsorge des Gemeindeleiters anempfohlen werden, sind von anderer Qualität als die, auf die der Autor früher (VV 9.10) zu sprechen gekommen ist. Der Unterschied liegt aber nicht darin, daß im ersten Fall von Menschen gesprochen würde, die es zu Reichtum bringen wollen, während hier in V 17 es solche sind, die es bereits zu Wohlstand gebracht haben 4. Die unterschiedliche Behandlung des Themas Reichtum bzw. der Besitzenden ist bedingt durch den Kontext. Zu den VV9f ist dieser Kontext die Warnung vor Falschlehrern, und. das Thema "Habgier" ist Bestandteil der Irrlehrerpolemik (vgl. bes. V 10). ~etzt dagegen geht es um "die Reichen", die Mitglieder der christlichen Gemeinden sind und für die die Frage nach der Einstellung zum Reichtum ~u einem Problem ihres Glaubens werden kann bzw. von denen das Verhältnis zum Reichtum bedacht werden mußs. . Die über den Gemeindeleiter an die Reichen adressierte Mahnung stellt der Verfasser unter eine besondere Bedingung, indem er sie ausdrücklich liCh zu unterscheidenden Stücken" zum Thema Besitz Stellung bezogen, ist von der Komposition des Verfassers her für das erste Urteil zu korrigieren. 2 Da die aus Geldgier erwachsene Gefahr im Glaubensabfall gesehen wird (V 10), könneh die VV 6-10 nicht "in strenger Ausrichtung auf den Amtsträger" (so J. ROLOFF, I Tim 366) gesehen werden. Solche Einengung auf ein "Amtsethos" würde zudem dem Charakter ethischer Weisungen im Verständnis der Past widersprechen. 3 Der Satzaufbau in VV 17-19 mit einer "relativ kurze(n) Warnung vor falschem Verhalten" und einer "ungleich längete(n) Weisung zu rechtem Verhalten (VV 17c-19)" ist mit J. ROLOFF, I Tim 366, als Beleg dafür zu werten, daß "die positive Aussage ... schon von der sprachlichen Gestaltung her das Übergewicht (hat)". 4 In dieser Hinsicht wird die von D. C. VERNER, Household 174, vorgenommene Aufteilung in zwei Gruppen (ähnlich P. DSCHULNIGG, Warnung 66) von R. M. KIDD, Wealth 95-97, zu Recht kritisiert; denn es geht in bei den Fällen nicht um Reichtum und Besitz für sich genommen, sondern um den Einfluß, den er auf Menschen ausübt. S Vgl. V. RAsLER, Past 52.
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der "jetzigen Welt", dem "gegenwärtigen Äon", zuordnet. Sachlich besteht zwar in diesem am Zwei-Äonen-Schema der Apokalyptik orientierten Sprachgebrauch Übereinstimmung mit Paulus (bei ihm zumeist in der Form 6 airov oü'tO~, vgl. Röm 12,2; 1 Kor 1,20; 2 Kor 4,4), doch die Past teilen nicht dessen negatives Verständnis 6. Allerdings steht mit der Zuordnung zu "diesem Äon" der Reichtum unter denselben Beschränkungen wie die "jetzige Welt", nämlich denen der Vergänglichkeit; das gilt aber in gleicher Weise ganz allgemein für den Menschen (vgl. V 7). Doch mit dem Hinweis auf "diesen Äon" läßt sich nicht nur der Gedanke der Begrenztheit und der Vergänglichkeit verknüpfen (vgl. V 7), sondern auch der Gedanke der Verantwortung. Die im Namen des Paulus erteilte Weisung beurteilt die Lebenszeit des Menschen nicht einfach als eine Zeit der Gottesferne, die nur auf das Erscheinen Jesu Christi (vgl. VV 14f) ausgerichtet zu sehen ist; es ist vielmehr eine Zeit verantwortlichen, gottgewollten Umgangs mit den geschaffenen Dingen "dieser Welt" (vgl. 4,4), und das heißt notwendigerweise auch: mit Geld und mit Reichtum. Die den Gläubigen zukommende Verantwortung erstreckt sich auf zwei Bereiche; sie gilt Gott gegenüber, und sie betrifft die Beziehung zu den Mitmenschen. Die folgenden Ausführungen des Verfassers sind letztlich nur erläuternde und begründende Beschreibungen der einleitenden Situationsangabe der Existenz der Reichen "in dieser Welt". Der Ausgangspunkt ist der einzelne mit seinem Reichtum, und die Weisungen beschäftigen sich ausschließlich mit seinem Umgang mit dem Reichtum unter dem Vorzeichen seiner "persönlichen Frömmigkeit". Damit ist auch das Fehlen eines christologischen Begründungszusammenhangs wie einer gemeindebezogenen Betrachtungsweise zu erklären'. Dieser Verzicht auf eine im engeren Sinn theologische Argumentation dürfte damit zusammenhängen, daß es dem Verfasser unter den Bedingungen seiner Zeit:'" auch Christen, die unter dem Einfluß gnostischen Gedankengutes steheti, fordern Distanz zu den geschöpflich-materiellen Dingen (vgl. 4,3) - gerade darum gehen mußte, die dem Glauben entsprechenden Möglichkeiten eines frommen Lebens für Reiche aufzuzeigen. Darin liegt auch ein Stück Ehrlichkeit! Die Einfügung von EV 't4> vOv aioovt zeigt, daß diesen Aussagen zum Reichtum in der Intention der Past ein begrenzter Stellenwert zukommt. Die Reichen 8 dürfen nicht "hochmütig sein". Das dafür verwendete Ver6 In der jüdischen Apokalyptik steht "dieser Äon" (6 aiwv oÖ'tO~) im Gegensatz zu "dem kommenden Äon" (6 alwv J.lEMroV), ist "dieser Äon" eine "Welt der sündigen Verderbtheit, der Ungerechtigkeit, der Drangsale, der Schmerzen und des Todes; er steht unter dem maßgebenden Einfluß Satans oder Belials und seiner dämonischen Hilfsgeister" (A. VÖGTLE, Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos [Düsseldorf 19701 56f). 7 Vgl. dazu auch V. HASLER, Past 52; J. ROLOFF, I Tim 368. B Daß es in den angesprochenen Gemeinden bereits eine größere Anzahl,wohlhabender Christen gegeben habe (so H. MERKEL, Past 52; ähnlich V. HASLER, Past 52), ist anzunehmen.
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bum u\jIT]ÄO
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derum deutlich geg~n die' asketischen Forderungen einer christlichen Gnosis gerichtet. 18 Doch letzterer Gedanke ist nicht nur als apologetisch motivierter Einschub zu bewerten. Zwar wird in V 18 mit mehreren Ausdrücken als die eigentliche Bestimmung des Reichtums festgehalten, daß er auch anderen zugute kommen soll. Der Reichtum selbst wird aber keiner grundsätzlichen kritischen Bewertung unterzogen. Es wird weder radikaler Verzicht auf Eigenbesitz noch die Beschränkung auf das zum Leben Notwendige gefordert; aufgezeigt werden vielmehr die Möglichkeiten, mit dem Reichtum für sich und für andere etwas zu bewirken. Mit dem allgemeinen Stichwort "Gutes tun" (aya90epyetv, in der kontrahierten Form aya90upyEtv nur noch Apg 14, 17) ist im wesentlichen nichts anderes verlangt als das, was gleich anschließend mit Reichtum an "guten Werken" beschrieben wird. Die "guten Werke" gelten allerdings für die Past als Zeichen des rechten Glaubens (vgl. 2, 10; 5,25; 2 Tim 2,21; 3, 17; Tit 2,7; 3, 1). Somit betont der Autor mit der gewählten Formulierung "reich sein an guten Werken" nicht primär die aus dem Reichtum resultierende soziale Vetantwortung, sondern die für. den Reichen aufgrund seines Besitzes sich ergebende Möglichkeit, dadurch seinen Glauben und seine Frömmigkeit unter Beweis zu stellen. Auch mit den beiden Mahnungen zu "Freigebigkeit" und "Bereitschaft zu teilen" 12 bleibt der Veifasser auf der Ebene einer positiven Bewertung des Reichtums, lediglich unter der gleichbleibenden Voraussetzung, daß der Besitz auch in den Dienst der Gemeinschaft gestellt wird. 19 Der letzte Vers dieses Abschnitts fügt dann aber wieder eine Bewertung ein, die an die schon in V 18 erkennbare Tendenz, deli verantwortungsbewußten Umgang mit dem Reichtum vom "Gewinn" des entsprechend Handelnden her zu bewerten 13 ,. anknüpft. Wer sich an die vorgestellten Weisungen hält, der hat auch für die Zukunft bestens vorgesorgt; eine Zukunft aber nicht nur "für diese Welt" (vgl. V 17), sondern auch für das "wirkliche", d. h. das zukünftige Leben. ' Mit diesem Ausblick wird erneut verdeutlicht, daß VV 6-10 und VV 17-19 doch nicht zusammenhanglos und unverbunden nebeneinander stehen. Habsucht, d. h. die Unterordnung des Menschen, seines DenkeriS und Wollens, unter die materiellen Güter, führt zu allem Bösen, wendet die Menschen vom Glauben und damit von Gott ab; wenn aber Reichtum in rechter Weise genutzt wird, im Vertrauen auf Gott und in VerantWQrtung gegenüber den Mitmenschen, dann ist auch das ein Weg, zum Heil zu gelangen. Der Verfasser bleibt im Bild, gibt aber dem Begriff "ansam12 Die beiden Adjektive eÖlWtaliO'to<; und KotVCOVllC6<; sind neutestamentliche Hapaxlegomena, begegnen aber in der hellenistischen Literatur, letzteres auch bei Philo. II Daß der Akzent auf tall'toi<; liegt, darauf macht auch J. N. D. KELLy, Past 149, aufmerksam.
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meIn" (ci.1to9rJao,upU;;&w) eine neue Bedeutung. Was der Reiche als "Schatz" (9rJao,up6~) vorweisen muß, um das ewige Leben zu erlangen, ist ein vom irdischen Besitz zu unterscheidender "Schatz", ein anderer "Reichtum". Allerdings erscheint es schon recht auffällig, mit welcher Ungeschütztheit der Verfasser dabei den Bogen vom "Schatz der guten Werke" hin zur Erlangung des ewigen Lebens schlägt. Die beiden Bilder vom "Sammeln" und vom Fundament (9&~ALOIO) passen in der vorliegenden Verknüpfung ("ein gutes Fundament ansammeln") nicht recht zusammen. Die Aufnahme von 9&IlEALOIO dürfte zu erklären sein aus dem Interesse, auf diese Weise ein Gegengewicht zur "Ungesichertheit des Reichtums" (V 17) herzustellen. Die "Hoffnung auf Gott" ist dieses "gute Fundament". III
Diese Verse provozieren geradezu Kritik. Wenn man insbesondere die Jesustradition zum Vergleich heranzieht (vgl. Mt 6,19-21par; Mk 10, 17-22parr), dann kann man in der Tat mit F. J. Schierse den Eindruck gewinnen, daß "von der Radikalität des Evangeliums wenig mehr zu spüren" ist; und Schierse fügt treffend hinzu, daß man "fast" sagen könnte, "aus dem ,Selig ihr Armen' ist eine - wenn auch mit allerlei Bedingungen versehene - Seligpreisung der Reichen geworden" 14. ,Man fühlt sich allerdings, aus der Sicht der Past, gleich zur Nachfrage gedrängt: Was spricht eigentlich dagegen, daß der Verfasser nun auch eine "Seligpreisung" der Reichen - unter den genannten Bedingungen! - vorlegt? Und man wird es unserem Autor nicht hoch genug anrechnen können, daß er sich den Bedingungen, in welchen die christlichen Gemeinden seiner Zeit mit ihren .unterschiedlichen sozialen Schichten leben, stellt und daß er nicht ein Ide.albild von "christlicher Armut" vorschiebt, welches die Wirklichkeit ignoriert oder verdrängt. Es ist zu bedenken, daß der Verfasser bei der Betrachtung und Bewertung des Reichtums noch nicht die "Institution" Kirche im Blick hat, sondern daß er die Gemeinden bzw. einzelne Mitglieder ansprechen und nicht nur die drohenden Gefahren, sondern auch die Möglichkeiten, als "reiche" Christen christlich zu leben, verdeutlichen will 15. Die Betrachtungsweise ist zugegebenermaßen einseitig individualethisch bestimmt. Und mit den Worten von J. Roloff ist die Tatsache, daß "die sozialethische und ekklesiologische Problematik des Reichtums" ausgeklammert bleibt, als "das theologische Defizit dieser fragme'ntarischen '4 F. J. SCHIERSE, Past 89 f. Vgl. auch O. !(NOCH, Past 47: "An dieser Stelle zeigt sich bei dem nüchternen christlichen Lehrer, dem sich die Past verdanken, die Gefahr der sogenannten christlichen Bürgerlichkeit." " F. W. HORN, Glaube 257, sieht allerdings 1 Tim und das Lukasevangelium (vgl. Lk 6,24; 12,20 f.33 f; 16, 9-13.14 f) "in einer Front gegen q)\.A.apyup{a und 0llMlÄOeppovEtv innerhalb der Gemeinde" stehen. "Beide setzen die Erfahrung des Abfalls vom Glauben durch die Bindung an den Besitz voraus und beschreiben Besitz als mögliche Gefahr endzeitlichen Heilsverlustes" ; ähnlich F. ZEILINGER, Bewertung 80.
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Reflexion" anzusehen 16. In diesem Zusammenhang ist aber zu bedenken, daß es in den Gemeinden der Past Kritik an Besitz und Reichtum gegeben hat; es ist aus religiösen Motiven und mit theologischer Begründung z. T. sehr radikaler Verzicht gefordert worden - allerdings von seiten einer gnostisch beeinflußten christlichen Verkündigung und dort, wenigstens zum Teil, im Rahmen asketischer Forderungen, erwachsen aus einer dualistischen, materie- und leibfeindlichen WeItsicht. Es ist damit zu rechnen, daß die Anhänger dieser "Irrlehre" manche Jesusworte über Reichtum und Besitz für ihre Glaubensposition in Anspruch genommen haben. Das von den Past vorgestellte "Ideal" eines frommen Menschen mit Reichtum zielt deshalb darauf ab, eine Alternative im Umgang mit irdischen Gütern gegenüber den Tendenzen einer materiefeindlichen Strömung christlichgnostischen Zuschnitts aufzuzeigen. Der vorgeschlagene Weg entspricht der sonst in den Past erkennbaren Linie der Einbindung des Glaubens in das Leben; nicht Auszug aus der Welt und Abgrenzung sollen Kennzeichen eines "frommen Lebens" (EocrtßEta) sein, sondern ein von Verantwortung sowohl den Gemeindemitgliedern als auch den Außenstehenden gegenüber bestimmter Umgang mit den Dingen und den Bedingungen der Welt. LITERATUR: F. W. HORN, Glaube lind Handeln in der Theologie des Lukas (GTA 26) (Göttingen 1983); F. ZEILINGER, Die Bewertung der irdischen Güter im lukanischen Doppelwerk und in den Pastoralbriefen: BiLi 58 (1985) 75-80.
d) Abschließende Verpflichtung auf das Wächteramt für den rechten Glauben (6,20-21)
Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, indem du dichfernhältst von, den gottlosen leeren Reden und den Widersprüchen der fälschlich so ge" nannten Erkenntnis, 21 zu der sich manche bekannt haben und dadurch hinsichtlich des Glaubens auf Irrwege geraten sind. Die Gnade sei mit euch.
20
I Die beiden Schlußverse, die durch die nach 1,18 nur hier begegnende di" rekte Anrede des (fiktiven) Adressaten Timotheus hervorgehoben werden, bilden eine Art abschließende, zusammenfassende Wiederholung der zentralen Anliegen: Bewahrung des Glaubensgutes und Widerstand gegen die Falschlehren. Diese beiden Themen halten den "Brier' wie eine Klammer zusammen (vgl. auch 1,3 t). Die Absicht, diese Themen besonders zu betonen, kann auch die vorliegende knappe Form des Briefschlusses erklären, die nicht nur im Gegenüber zu den authentischen Paulusbriefen, 16
J. ROLOFF, I Tim 370.
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sondern auch im Vergleich mit den Abschlüssen in 2 Tim und Tit auffällig wirkt!.
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20 Mit der Namensnennung verleiht der Autor der abschließenden Weisung des "Paulus" an den in Timotheus angesprochenen Gemeindeleiter besonderes Gewicht. Der schon erwähnte Zusammenhang mit 1,18 zeigt sich sodann auch darin, daß in dem in V 20 ziemlich unvermittelt eingeführten Begriff 1tapa911K11 die Beschreibung der Beauftragung aus 1,18 'tau't1]v't1'rv 1tapaY'YEÄtav 1tapa'ti9EJ.l.at O"Ot - wieder aufgenommen wird 2. Dieser Begriff 1tapa911K11 ist im NT nur in den Past (noch 2 Tim 1,12.14; zu weiteren Ausführungen bei 2 Tim 1,14) gebraucht. Er ist aus dem Bereich des Rechtslebens übernommen, wo damit ursprünglich eine Sache bezeichnet wurde (depositum), welche jemandem zu treuen Händen (<poMlO"O"EW) übergeben wurde. Der mit der Aufbewahrung Beauftragte hatte für die Unversehrtheit des "anvertrauten Gutes" zu sorgen. Bereits in der antiken Literatur wurde 1tapa911KTj (gleichbedeutend ist 1tapaKa'ta911K11) dann auch im übertragenen Sinn für Worte und Lehren verwendet. Beispiele für den Gebrauch von 1tapaKa'ta911KTj sowohl im ursprünglichen Sinn des Depositalrechts als auch in übertragener Bedeutung fmden sich· etwa bei Philo 3. Da der Grundgedanke der der Bewahrung der Tradition ist, wofür "Paulus" in seiner Nachfolge den" Timotheus" verantwortlich macht, ist die Frage angebracht, ob mit dem Wechsel der Begrifflichkeit von "Überlieferung" (1tapa,öocrtylna.paOtö6vat) bei Paulus (vgl. I Kor 11,2.23; 15,3) zu na.pa61lK1J des Deutero-Paulus der Past auch ein unterschiedliches Verständnis der Aufgabe und der Pflicht dessen gegeben ist, der im Dienst der Bewahrung und der Weitergabe der Glaubenstradition steht. Ausgehend von .der gut begründeten Annahme, daß der Autor der Past bereits eine Sammlung von Paulusbriefen kennt und sie z. T. benutzt, ist ein erster Grund für die neue Terminologie in der - trotz der Fiktion paulinischer Verfasserschaft - für den Verfasser maßgeblichen veränderten geschichtlichen Situation zu sehen. Im Unterschied zu den Gemeindebriefen des Paulus mit der absoluten Verpflichtung der Gläubigen auf das von ihm verkündete Evangelium als Heilsweg (vgl. Röm 1,16f; I Kor 15, I f; Gall,6-9) ist in den Past das Interesse ausschließlich auf die Beziehung des "Paulus" zu dem von ihm zu besonderem Dienst eingesetzten Vorsteher gerichtet. Während also die Berufung auf die 1tapa,öo~ bei Paulus auf die Autorität des Evangeliums abhebt, zielt das Stichwort 1tapa61lK1J in den Past ausschließlich auf die Autorität des Paulus'. Der wesentliche Unterschied ist also in dieser Relation festzumachen. 1 J. ROLOFF, 1 Tim 370f, wertet die für Pseudepigraphen und ihr Bemühen um Anerkennung der Authentizität untypische Knappheit inVV 20 f als Beleg für die Abfassung der Past als Corpus. "Der Authentizitätsnachweis durch Imitation paulinischer Brief· schlüsse kann an dieser Stelle unterbleiben, weil er später nachgeholt wird." 2 Vgl. dazu u. a. M. WOLTER, Pastoralbriefe 1I8f; J. ROLOFF, 1 Tim 371; E. SCHLARB, Lehre 235. 3 Aus dem Bereich des Sachenrechts vgl. Cher. 14; spec. 1235; IV 32; in-übertragener Bedeutung: det. 65; plant. 101-103; ebr. 213. • VgI. dazu etwa J. WANKE, Paulus 187 (..Der Anschluß an Paulus wird zur Garantie, an
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Für die Past gilt die Gestalt des Paulus als Urheber und Ausgangspunkt der Glaubensüberlieferung, die zu bewahren er die Gemeindeleiter anweisU. Eine Auslegung, die mit dem Stichwort "Paradosis" die Möglichkeit aktualisierender Weitergabe und interpretierender Zusätze verbindet, mit der Wahl des Begriffes "Paratheke" jedoch die Absicht verknüpft sieht, solches auszuschließen 6, läßt in bezug auf die Past unberücksichtigt, daß für sie "Bewahrung der Tradition" gerade nicht unveränderte Weitergabe der Paulus-Überlieferung bedeutet, sondern deren Anwendung und Entfaltung, deren Transformation und Interpretation. Mit P. Trummer ist weiterhin zum Verständnis von "Paratheke" festzuhalten: "Was 1tapa&f)1CTl für die Past eigentlich heißt, wird am besten an ihrem eigenen Verhalten gegenüber der P[aulus)-Tradition sichtbar." 7 Wenn der Gemeindeverantwortliche sich an dieses Glaubensgut hält und auch die Gemeinde darin festigt, dann ist dies das beste Bollwerk gegen die vom Glaubenskonsens abweichenden Lehren. Sie werden in polemischer Diktion als "leeres Geschwätz" (KEVo<provl.a) 8 abgefertigt, verbunden mit der Beurteilung als "gottlos" (ßEß1'JA.O~) (so auch 2 Tim 2, 16). Das schließt jede Möglichkeit eines sinnvollen Dialogs mit den Irrlehrern aus, was der Verfasser dann in 2 Tim 2, 14 ausdrücklich feststellt. Da der Autor mit dem anschließenden Begriff a.V'tteEO'Et~ ebenfalls die Position von Leuten kennzeichnen will, von denen der für dIe "Bewahrung des anvertrauten Gutes" verantwortliche Gemeindevorsteher sich fernzuhalten hat, ist für diesen Begriff eine Deutung zu bevorzugen, die einen negativen, abweisenden Akzent damit verknüpft 9. Die sich dem "leeren Geschwätz" anschließen, gehen einen "Irrweg hinsichtlich des Glaubens" und stehen mit
der wahren Paratheke teilzuhaben. Wo Paulus - da das Evangelium!"); E. LOHSE, Vermächtnis 271, im Anschluß an I Tim 1, 17: "weil er der erste ist, an dem sich Gottes Gnadenerweis auf wunderbare Weise mächtig gezeigt hat, darum haben alle, die nach ihm kommen, auf sein Beispiel zu blicken und seiner Lehre, die ihnen als sein Vermächtnis überliefert ist, zu folgen" (Hervorhebungen von mir). S Dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 125-128, dem sich im wesentlichen J. ROLOFF, 1 Tim 372, und E. SCHLARB, Lehre 231-233, anschließen; vgl. auch H.·v. LIPS, Glaube 269. , Vgl. diese Differenzierung bei H. MERKEL, Past 53. 7 P. TRUMMER, Paulustradition 221 f. Vgl. auch J. ROLOFF, 1 Tim 373: Die Past "wollen als llapa81)K1] verstanden werden, aber nicht im exklusiven, sondern im inklusiven Sinn". • Die LA Kawo!pcovta (D F) ist sicher als sekundär zu bewerten, wohl als "itazistischer Hörfehler" (vgl. NESTLE-ALAND, NT z.St.; J. ROLOFF, 1 Tim 374 Anm. 222), übernommen aber in Vg und einem Teil der Altlateiner: "vocum novitates" (vgl. dagegen 2 Tim 2,16: "inaniloquia"). ;Zur Wirkungsgeschichte vgl. H. M. KÖSTER, Sprache 453-462. • Die bis in jüngste Zeit (vgl. PH. VIELHAUER, Geschichte 237) vertretene Erklärung, mit dem Begriff !lVtL9tOEU; werde Bezug genommen auf die gleichnamige Schrift des Markion - was eine Datierung der Past in die 30er Jahre des I. Jahrh. zur Folge hätte -, wi.rd heute mit Recht weitgehend ebenso abgelehnt wie die These einer ebenfalls durch Markions Schrift bewirkten Interpolation. E. SCHLARB, Miszelle 281, zeigt, daß es sich bei !lVtL9tOE~ um eine bewußt gewählte Formulierung des Verfassers handelt, mit der er "polemisch der gegnerischen Position den Standort zuweist"; "die eine llapa81)K1] steht gegen die vielen !lVtL9toE~!"
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ihrer Lehre im Gegensatz zur Lehre der Kirche 10. Daran ändert nach dem Urteil der Past auch die Tatsache nichts, daß Missionare ihre" Widersprüche" vortragen unter dem Anspruch der Erkenntnis; denn auch dieser Anspruch besteht nach den Past nicht zu Recht, und deshalb wird diese Richtung christlicher Verkündigung nicht anerkannt als wirkliche "Erkenntnis", sondern erhält das abwertende Urteil 'l'Sul)rovull0<; YV(i)O't<;, "zu Unrecht so genannte Gnosis". 21 Solche abwertenden Urteile schließen nicht aus, daß die Lehre schon Anhänger gefunden hat. In der Bemerkung, daß einige sich zur Lehre der Gnosis bekennen, kommt die Lage der Gemeinde am Ende des ersten Jahrhunderts wieder zur Sprache und wird die Bedeutung des dem" Timotheus" aufgetragenen Amtes der Bewahrung des "Glaubensgutes" noch unterstrichen. Da diese Schlußmahnung (VV 20.2Ia) ganz auf die Einzelperson des Gemeindeverantwortlichen zugeschnitten ist, überrascht die Formulierung des Grußes im Plural J.LE8' 01l(i)V 11. Zwar begegnet dieselbe knappe Form des Gnadenzuspruchs in der pluralischen Form auch am Ende von 2 Tim (4,22) und Tit (3,15, ergänzt mit 1tUV'tOlV); sie ist an beiden Stellen allerdings wegen der vorangehenden Grüße an andere Personen passend. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß der Segenswunsch in 2 Tim 4,22 sich zuerst an den Adressaten richtet (6 KOPto<; J.LE'tu 'toO 1tvsoJ.La't6<; O'ou), dann an einen weiteren Kreis von Personen (..; xupt<; J.LE8' Ollö'lV). Die Erklärung, der Verfasser übernehme mit der pluralischen Wendung in 1 Tim 6,20b eine aus der liturgischen Feier geläufige Formel l2, ist zwar plausibel; das schließt allerdings nicht aus, daß für den Autor diese Form des Schlußgrußes auch angebracht erscheinen konnte, weil mit seinen Anordnungen zwar der Amtsträger angesprochen ist, er aber dabei letztlich Leben und Glauben der Gemeinden und ihre Gefährdung durch Irrlehren im Blick hat. III Die Alternativen werden zum Schluß von 1 Tim noch einmal knapp skizz;ert. Auf der einen Seite steht die 1tapa811K1l, das "Glaubensgut", das in der Autorität des Paulus begründet ist und über den von "Paulus" eingesetzten und so legitimierten Gemeindevorsteher in den Gemeinden bewahrt und weiterüberliefert wird. Auf der anderen Seite steht eiqe Lehre, die mit dem Anspruch von yvö'lO't<; verkündigt wird, die aber dadurch, daß sie vom rechten "Glauben" - und 1tiO''tt<; ist für die Past zugleich Um,. ·Vgl. u. a. J. JEREMIAS, Past 48; W. LocK, Past 76; J. N. D. KELLY, Past 152; J. ROLoFF, I Tim 374. 11 Die singularische Form lJ.E'tcl aoll einiger Textzeugen - neben den Codices B 'I' 048 auch vom Mehrheitstext, einigen lat. und den syr. Übers. vertreten - ist eindeutig sekundäre Anpassung (vgl. O. ROLLER, Formular 532: ..... Verbesserung des ursprünglichen Textes, dessen 01J.6)V dem Leser Anstöße zu bereiten geeignet war"). 12 So J. ROLoFF, I Tim 375.
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schreibung für ein frommes, am Willen Gottes ausgerichtetes Leben - weg in die Irre führt, keine wirkliche Alternative sein kann. Der Verfasser bleibt bis zum Schluß seinem Grundsatz treu, die in den Gemeinden virulenten gnostischen Tendenzen in der christlichen Verkündigung radikal abzulehnen und auch die Gemeindeleiter auf diese Linie einer nicht weiter begründeten Verpflichtung auf das kirchlich anerkannte "Glaubensgut" festzulegen 13. Irrlehrerpolemik und Gemeindeleiterparänese bilden eine untrennbare Einheit. LITERATUR: H. M. KÖSTER, Um eine neue theologische Sprache. Gedanken zu I Tim 6,20: Wahrheit und Verkündigung (FS M. Schmaus), Bd I (München 1967) 449-473; S. DEL PARAMO, Depositum Custodi. I Tim 6,20; 2 Tim 1,14: SalTer 50 (1962) 556-562; E. SCHLARB, MiszeUe zu I Tim 6,20: ZNW 77 (1986) 276-281.
Il Vgl. auch G. LOHFINX, Normativität 96: "Man kann ohne Übertreibung sagen, daß für die Past die napaB1lKTJ das Wichtigste, das Entscheidendste, ja das Heiligste ist, was die Kirche besitzt."
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