Die letzte Fahrt der ›Isabella‹ von William Garnett
Die beiden Galeonen mit Francis Drake und Philip Hasard Killigrew ...
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Die letzte Fahrt der ›Isabella‹ von William Garnett
Die beiden Galeonen mit Francis Drake und Philip Hasard Killigrew gleichen schwimmenden Festungen. Hinter den Schanzkleidern lauern Besatzungen und Soldaten, bewaffnet mit Musketen und Pistolen. Auch die Kanonen sind besetzt. Gespannt warten die Männer auf einen weiteren Angriff der Iren und Spanier. Um Mitternacht, bei Niedrigwasser, wird ein Teil der Sperre sichtbar sein. Der Seewolf beginnt mit dem Beschuß der Sperre. Und dann starten die Iren zu einem Unternehmen, das heller Wahnsinn ist. 1. Kurz vor achtzehn Uhr setzte die Ebbe ein und drehte die Hecks der beiden englischen Galeonen ›Marygold‹ und ›Isabella‹, die in der Mündung des Blackwater ankerten, seewärts. Die ›Marygold‹, das Schiff Francis Drakes, die etwa dreißig Yards von der ›Isabella‹ entfernt lag, begann ein paar Sekunden früher herumzuschwingen, und ihr aufragendes Heck glitt gefährlich nahe an der Bordwand der ›Isabella‹ vorbei. »Holt das Ruder quer!« schrie Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der ›Isabella‹ zu den Wachen auf dem Achterkastell der ›Marygold‹ hinüber. »Paß lieber auf, daß dir dein großes Maul nicht ausfranst!« rief einer der Männer herüber. Ferris Tucker murmelte etwas, das mit Abstammung und Moral der Mutter des Mannes zu tun hatte und wäre beinahe 2
glücklich gewesen, wenn die ›Marygold‹ wirklich ihr Ruder abgebrochen hätte. Philip Hasard Killigrew grinste seinen Schiffszimmermann schadenfroh an. Er mochte den Riesen mit den roten Haaren und den harten Fäusten, und er wußte sehr gut, daß man ein Rauhbein wie Ferris Tucker brauchte, um die Männer der ›Isabella‹ in Trab zu halten. Aber dennoch freute er sich, wenn dem guten Tucker mal jemand über den Schnabel fuhr. »Achte darauf, daß die Männer nicht einschlafen«, sagte er zu Ferris Tucker und lehnte sich an das Schanzkleid des Achterkastells. »Aye, aye.« Der Riese stieg den Niedergang hinunter, und Sekunden später hörte Hasard seine aufmunternde Stimme über das Hauptdeck schallen. Philip Hasard Killigrew, den seine Männer, seine Freunde und seine Gegner respektvoll den »Seewolf« nannten, blickte auf das Hauptdeck, auf dem Soldaten und Seeleute in voller Kampfbereitschaft hinter den Schanzkleidern hockten. Seit fast einer Woche hatten diese Männer gewacht und gekämpft, seit ihrer Ankunft in der Dungarvanbai im Südosten Irlands. Francis Drake und sein Verband von drei Galeonen hatten den Auftrag gehabt, Waffen- und Munitionslager der aufständischen Iren aufzuspüren und zu vernichten. Und sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Zwei Waffenlager der Iren in den Drum Hills hatte man entdeckt und in die Luft gesprengt. Ferner waren insgesamt acht Karavellen und zwei spanische Kriegsgaleonen in harten Seegefechten beziehungsweise durch Entern vernichtet worden. Ein voller Erfolg also. Doch auf der Minusseite standen die Opfer der Kämpfe. Von den einhundertfünfzig Soldaten für das Landunternehmen waren einhundertsechsundzwanzig gefallen oder schwer verwundet. Ganze vierundzwanzig Mann waren übriggeblieben. Und die beiden Schiffe saßen in der engen Mündung des Blackwater in einer Falle der Iren und Spanier. 3
Es war mehr als zweifelhaft, ob sie noch einmal entkommen würden. Sie würden eine gehörige Portion Glück dazu brauchen, erkannte Hasard, und er hatte das Gefühl, daß sie bei diesem Unternehmen ihre Ration an Glück schon mehr als aufgebraucht hatten. Er beugte sich über die Balustrade und starrte in das rasch ablaufende Wasser. Die Flut hatte den Blackwater aufgestaut, und mit Einsetzen der Ebbe floß das dunkle Wasser, von dem der Fluß seinen Namen hatte, immer rascher ab. Aber noch nicht genug, um die heimtückische Sperre zu erkennen, mit denen die Iren sie hier festhielten. Nicht der kleinste Wirbel im dunklen Wasser verriet die Stelle, an der sie eine Barriere aus Kähnen und Fischerbooten errichtet hatten. Während die beiden englischen Schiffe und ihre Besatzungen weiter flußaufwärts damit beschäftigt gewesen waren, eine übriggebliebene spanische Galeone zu erledigen, hatten die Iren die mit Steinen vollbepackten Kähne in die Mündung geschleppt und dort versenkt. Es war ein Glück, daß bei der Fahrt stromab zur Mündung des Blackwater die scharfen Augen Dan O’Flynns gerade noch rechtzeitig den weißen Schaumstreifen entdeckt hatten, der von der Unterwasserbarriere aufgeworfen wurde. Knapp dreißig Yards vor dem tödlichen Hindernis hatte der Anker die ›Isabella‹ festgehalten. Und Drakes ›Marygold‹, die etwas langsamer reagiert hatte, schwoite jetzt ganze zehn Yards vor dem künstlichen Riff an ihrem Buganker. »Dan!« rief Hasard zum Mars hinauf. »Ist was?« krähte die freche Stimme des fünfzehnjährigen Dan O’Flynn von oben. »Das sollst du mir sagen, du Rotznase. Schon was von den Kähnen zu sehen?« »Keine Spur. Die haben sich genauso verkrochen wie die Iren und die Dons.« Dan steckte mitten im Stimmbruch, und seine 4
Stimme wußte nicht, ob sie noch im knabenhaften Sopran oder schon im männlichen Bariton reagieren sollte. »Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen, Dan. Halte die Augen offen.« Die absolute Stille gefiel ihm nicht. Er trat von der Balustrade zurück und blickte sich nach allen Seiten um. Es war eine Kuhle, fast windstille Dezembernacht. Helles Mondlicht beleuchtete die felsigen, von Kieferngebüschen und kahlen Sträuchern bestandenen Ufer. Eine knappe Meile flußabwärts sah er die kleine Hafenstadt Youghal liegen. Fast unbeleuchtet und auch sie totenstill wie die dichtbewachsenen Ufer des Blackwater. Nicht einmal ein Hund bellte, selbst die Nachtvögel schwiegen. »Es ist, als ob alles den Atem anhält«, ließ eine Stimme hinter ihm seine eigenen Gedanken laut werden. Ben Brighton, der Bootsmann und Erste Offizier der ›Isabella‹, lehnte an einer der beiden Drehbassen des Achterkastells und hob schnuppernd die Nase in den leichten Ostwind, als ob er eine Gefahr riechen könne. »Und die verdammte Warterei ist das Schlimmste.« Hasard nickte schweigend und schlug dem alten Gefährten vieler Schlachten auf die Schulter. Ja, er hatte recht, es gab nichts Schlimmeres, als tatenlos warten zu müssen und dabei ständig das Gefühl zu haben, daß überall im Dunkeln unsichtbare Augen auf sie starrten, jede Bewegung verfolgten und auf eine Gelegenheit warteten, anzugreifen. »Killigrew!« hörte er einen Ruf vom Achterkastell der ›Marygold‹, die schräg Steuerbord achteraus vor ihnen ankerte. Er wandte sich um und sah die Silhouette Kapitän Drakes an der Backbordbalustrade stehen. Der gefürchtete Privateer der englischen Königin, den die Spanier fast ehrfurchtsvoll ›El Draque‹, den Drachen, nannten, wirkte klein und fast unscheinbar in dem diffusen Licht. »Sir?« Der Seewolf legte die Hände trichterförmig an den 5
Mund und rief mit mäßiger Lautstärke, die gerade ausreichte, um auf der dreißig Yards entfernten ›Marygold‹ noch verstanden zu werden, keinesfalls aber bis zu den Ufern trug. »Ich denke, daß wir gegen zehn Uhr anfangen können!« rief Drake in der gleichen Lautstärke. »Um Mitternacht haben wir Niedrigwasser. Aber ich glaube, daß wir schon zwei Stunden vorher sehen können, wo das Zeug liegt.« »Aye, aye, Sir«, sagte Hasard. »Wir« war gut. Die Arbeit würde der ›Isabella‹ ganz allein zufallen. Drakes Schiff war so nahe an die Sperre herangelaufen, daß sie im toten Winkel ihrer Geschütze lag. Aber das dachte er nur. »Wie sieht es bei Ihnen mit Kugeln und Pulver aus?« rief Drake. »Es wird reichen«, antwortete Hasard und warf einen raschen Blick auf die Pulverfässer und Stapel von Eisenkugeln, die neben den beiden Drehbassen bereitstanden. Die Kämpfe gegen die spanischen Karavellen und der Beschuß von Dungarvan hatten große Löcher in die Bestände gefressen. Aber es würde reichen. Es mußte einfach reichen. »Dann viel Glück - uns allen.« Francis Drake hob grüßend die Hand und trat von der Balustrade zurück. Viel Glück! In dieser Lage klang der Wunsch fast ironisch. Weil es gar nicht so viel Glück gab, wie sie brauchen würden, um diese Falle aufzuknacken. Die Iren hatten alle verfügbaren Kräfte am Blackwater zusammengezogen, und was sich von den versenkten spanischen Schiffen an Land gerettet hatte, war zu den Rebellen gestoßen. Es mußten mindestens fünfhundert Mann sein, schätzte Hasard, vielleicht sogar mehr, erheblich mehr, die dort irgendwo im Dunkel lauerten. Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Als er niemanden erkennen konnte, griff er unwillkürlich an dem Degen. 6
»Trinken, Sir?« sagte eine Stimme, und ein weißes Gebiß blitzte aus dem Dunkel. Batuti, der riesige Gambia-Neger, hatte im Dunkel wirklich eine Tarnfarbe. Vielleicht war das ein Grund, warum er Nachtkämpfe so besonders reizvoll fand. Womit nicht gesagt werden soll, daß er etwas gegen Kämpfe bei Tageslicht hatte. »Danke, Batuti.« Hasard nahm dem Neger den dampfenden Zinnbecher aus der Hand. Und erst jetzt wurde ihm richtig bewußt, wie kalt es war, obwohl hier an der Südostküste Irlands auch im Dezember relativ laue Temperaturen herrschten. Aber eben relativ. Er nahm einen langen Schluck von dem heißen Getränk und spürte, wie es feurig wärmend in seinen Magen rann. Es war Whisky, verdünnt mit heißem Wasser. »Wo hast du den Whisky her, du schwarzer Hundesohn?« Die weißen Zähne blitzten in einem breiten Grinsen. »Pures Glück, Sir. Ich gehen vorbei an Kombüse, denken, muß was Heißes holen für armen, frierenden Seewolf und sehe, Kutscher steht gerade an Schanzkleid und bewässert Fische. Ich denken, Kutscher da und Whiskyfaß hier, das ist Fügung Gottes. Wäre doch Sünde, wenn man nicht schnell ...« »Demnächst wird Gott verfügen, daß ich dir dein schwarzes Fell über die Ohren ziehe«, sagte Hasard und nahm genüßlich einen zweiten Schluck. »Da ist doch mindestens zur Hälfte Whisky drin.« »Hälfte und noch bißchen.« Batuti grinste fröhlich. »Kapitän starker Mann, braucht starkes Getränk, denkt Batuti.« »Batuti sollte das Denken lieber lassen, es könnte gefährlich werden für seinen schwarzen Hintern«, sagte Hasard. Und dann, ernst: »Haben die Männer schon ihren Tee gehabt?« »Kutscher will ihn gerade ausgeben. Sowie fertig mit Fischbewässern, denke ich.« »Dann sag ihm, er soll den Männern auch einen gehörigen Schuß Whisky hineinkippen, klar?« 7
»Aye, aye, Sir. Sofort, Sir.« Er jumpte schon den Niedergang hinab. »Moment, Batuti!« rief Hasard ihm nach. »Ich sagte, einen gehörigen Schuß, Einzahl - nicht Mehrzahl, verstanden?« »Verstanden, Sir. Einzahl.« Hasard blickte ihm nach, als er über das Hauptdeck zur Kombüse lief. Er sah die Männer an beiden Seiten hinter dem Schanzkleid hocken, in Decken und Mäntel gewickelt, die Musketen neben sich. Ab und zu wurde das Mondlicht von Metall reflektiert, von einem Helm, der Klinge eines Säbels oder eines Entermessers. Wenn nur endlich etwas passierte! »Schaumstreifen Backbord voraus!« schrie prompt Dan O’Flynn aus dem Mars. Hasard mußte den Kieker zu Hilfe nehmen, um das schwache Branden des ablaufenden Wassers zu erkennen. Und auch jetzt sah er nur ein leichtes Kräuseln auf der Oberfläche, wo die scharfen Augen des Jungen schon Schaumstreifen erkannten. Diese Veränderung der Wasseroberfläche begann ziemlich nahe am Ufer der knapp hundert Yards breiten Flußmündung, wahrscheinlich an der äußersten Grenze der Fahrrinne. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Borde der Schiffe sichtbar wurden, die direkt vor ihnen in der Mitte des Flußbettes lagen. Aber immerhin, es war ein erstes Zeichen. Bald würde es soweit sein, daß sie endlich wieder handeln konnten - in weniger als einer Stunde, schätzte Hasard. Wieder wanderte sein Blick zu den beiden Flußufern. Wenn er nur wüßte, was die Iren vorhatten. Aber das würde sich wohl bald herausstellen. Eine halbe Stunde später tauchten die Dollborde der in Ufernähe liegenden Kähne aus dem Wasser, und in der Mitte der Fahrrinne markierte weißschäumende Gischt die Lage der Sperre.
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Al Conroy, der Geschützführer der ›Isabella‹, beugte sich etwas durch eine offene Stückpforte vor und starrte zu dem immer deutlicher werdenden Gischtstreifen hinüber. Auch hier, auf dem Geschützdeck der Galeone, war seit Stunden volle Gefechtsbereitschaft. Die Männer hockten oder standen bei den sechs Vierpfündern, deren Mündungen auf die beiden Ufer gerichtet waren. Glimmende Lunten befanden sich neben den Kanonen, mehrere Pulverfässer und über hundert Rundkugeln waren bereitgestellt. Aber wahrscheinlich würden sie heute nacht nicht einen einzigen Schuß abfeuern, überlegte der dunkelhaarige, untersetzte Mann mißmutig. Auf die Sperren konnten nur die beiden Drehbassen des Achterkastells eingesetzt werden. Die Iren schienen sich verkrochen zu haben, so unwahrscheinlich das auch sein mochte. Aber vielleicht war es besser so. Er hatte kurz vor Dunkelwerden die Bestände kontrolliert. Pulver war noch reichlich da, aber die Kugeln gingen zur Neige. Jetzt zeichnete sich deutlich ein dunkler Schatten in dem Gischtstreifen ab, die Bordwand des Schiffes, das die Mitte der Fahrrinne blockierte. Al Conroy trat von der Stückpforte zurück, strich im Vorbeigehen mit seiner schwieligen Hand über das Bronzerohr der Kanone und sagte: »Ich gehe nach achtern. Du übernimmst hier inzwischen das Kommando, Schwede. Nur schießen, wenn es wirklich notwendig ist. Und seht zu, daß ihr trefft.« »In Ordnung, Al.« Der blonde Stenmark, ein hellhäutiger Riese, der wie ein direkter Nachfahre der Wikinger wirkte, nickte Al Conroy zu. Conroy stieg zum Hauptdeck hinauf, ging an den Männern vorbei, die mit schußbereiten Musketen hinter dem Schanzkleid lagen, und kletterte auf das Achterkastell. »Schiff voraus jetzt gut zwei Fuß aus dem Wasser!« hörte er Dan O’Flynn aus dem Mars rufen. »Scheint ein Fischerboot zu 9
sein!« »Es war mal eins, wenn wir damit fertig sind!« rief Ferris Tucker zurück und richtete seine Drehbasse auf den dunklen Streifen der Bordwand, die von weißem Gischt umbrandet wurde. Al Conroy trat zu der zweiten Drehbasse, hinter der Hasard stand. »Laß mich das tun, Hasard«, sagte er ruhig. Der Seewolf funkelte ihn an. »Meinst du, daß du besser schießt als ich?« Al Conroy kannte und liebte seine Waffen wie lebende Wesen, und Batuti hatte einmal behauptet, Al könnte einer Fliege das Auge herausschießen. »Ich meine nur, daß die Iren zurückschießen werden«, sagte er ruhig, »vor allem auf die Männer an den Drehbassen.« Hasard zögerte ein paar Sekunden. Dann sah er ein, daß Al Conroy recht hatte. Er war der Kapitän der ›Isabella‹ und hatte die Pflicht, sie aus dieser Falle herauszubringen. Und das schaffte er nicht, wenn er hier den Helden spielte. Außerdem, wie gesagt, war Al Conroy wirklich ein hervorragender Schütze. Schweigend trat er zurück. Al Conroy überzeugte sich, daß der Dreipfünder geladen war. Er wußte, daß er geladen war, aber Conroy gehörte zu den Männern, die nichts glaubten, wovon sie sich nicht selbst überzeugt hatten. Er blies das glimmende Ende der Lunte an, die neben dem Geschütz am Schanzkleid hing, und richtete sich auf. »Fertig, Sir.« Philip Hasard Killigrew nickte und blickte wieder zum Bordrand des versenkten Schiffes hinüber, das genau vor ihnen in der Mitte der Fahrrinne lag. Er sah, daß sich hier der meiste Gischt entwickelte. An dieser Stelle drückte der Ebbstrom also am stärksten gegen die Sperre, hier war ihr schwächster Punkt. Er rief Al Conroy und Ferris Tucker zu: »Nehmt den Kahn in 10
der Mitte auseinander! Feuer!« Fast gleichzeitig drückten Conroy und Tucker die glimmenden Lunten auf die Pulverpfannen ihrer Waffen. Dröhnend wurden die schweren Eisenkugeln aus den Rohren geschleudert und schlugen dicht nebeneinander in die Bordwand des versenkten Kahns ein. »Wir arbeiten von der Mitte nach außen!« rief Al Conroy Tucker zu. »Du nach links, ich nach rechts.« Conroy hatte seine Drehbasse als erster wieder feuerbereit. Der Schuß dröhnte, und die Kugel riß breite Holzfetzen aus der Bordwand des versenkten Fischerbootes, dicht neben der Bresche, die seine erste Kugel hineingeschlagen hatte. Kurz darauf krachte auch wieder Tuckers Kanone, und auch sein Schuß lag gut, wenn auch nicht so genau wie der von Al Conroy. »Ein Jammer, daß ich nicht ein paar Breitseiten mit den Vierpfündern reinfetzen kann!« rief Conroy, als er wieder nachlud. »Dann könnten wir richtig aufräumen!« »Sei nicht so vergnügungssüchtig!« rief Ferris Tucker zurück. »Wir haben doch Zeit.« Hatten sie nicht. Die Iren lagen zu beiden Seiten der Sperre an den Ufern, hinter Felsen und Gebüschen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie längst losgeschlagen. Sie hatten einen gesunden Haß auf die Engländer entwickelt, schließlich ging es hier um ihr Land und ihre Freiheit. Nur mühsam war es den Spaniern gelungen, daß sie noch abwarteten. Sie hatten sich auch noch zurückgehalten, als die ersten vier, fünf Kugeln der Drehbassen in die Bordwand des versenkten Fischerbootes krachten. Aber als der zehnte Schuß Conroys den Hecksteven traf und die Reste der Bordwand vom Ebbstrom fortgerissen wurden, war ihre Geduld endgültig vorbei. Al Conroys Ohren dröhnten noch vom letzten Abschußknall, es war der neunte oder zehnte, soweit er sich erinnern konnte, 11
als er plötzlich einen wilden Fluch vom rechten Ufer hörte. Fast gleichzeitig knallte ein Musketenschuß. Die Kugel strich dicht über seinen Kopf weg und schlug in den Besanmast. Unwillkürlich hatten er und die anderen Männer auf dem Achterkastell die Köpfe eingezogen. Das war ihr Glück. Denn in der nächsten Sekunde krachte es von beiden Seiten. Wie böse Wespen surrten an die hundert Kugeln über sie weg. »Geduckt laden!« rief Hasard den beiden Kanonieren zu. »Erst unmittelbar vor dem Feuern aufrichten!« Er hätte sich diesen Befehl sparen können. Keiner der beiden Männer hörte ihn, weil im selben Moment das Abwehrfeuer der beiden Galeonen einsetzte.
2. Die beiden Schiffe wurden zu schwimmenden Festungen, zu feuerspeienden Burgen, die nach beiden Seiten tödliches Blei spuckten. Philip Hasard Killigrew stand geduckt hinter dem Schanzkleid, eine Pistole in der Hand, und wartete, bis es drüben wieder aufblitzte. Eine winzige Korrektur, und dann krachte sein Schuß. Ein Aufschrei am Ufer verriet ihm, daß er getroffen hatte. Wieder einer weniger, dachte er grimmig, als er sich hinter die dicke Holzwand duckte und seine Waffe nachlud. Er hatte noch eine zweite Pistole im Gürtel, gebrauchte sie aber nicht. Der Seewolf hatte gelernt, daß es gut ist, für alle Fälle immer noch eine kleine Reserve zu haben. Er füllte Pulver in den Lauf, stopfte es mit einem Pfropfen fest, stieß eine Kugel nach und richtete sich wieder auf. Befriedigt sah er das stetige Aufblitzen der Mündungsfeuer von den Bordwänden der beiden Galeonen. Ein Glück, daß 12
Drake so weit vorgelaufen ist, überlegte er, sonst würden wir uns jetzt gegenseitig im Weg liegen. Hat doch eben alles sein Gutes, dachte er, und drückte wieder ab. Als er sich wieder aufrichtete, um nach einem Mündungsfeuer zu suchen, zischte etwas dicht an seinem Gesicht vorbei und fuhr mit einem trockenen, harten Aufschlag in das gegenüberliegende Schanzkleid. Hasard fuhr herum und sah den zitternden Schaft eines Pfeils im Holz stecken. »Achtung! Pfeilschützen!« rief er zur Kuhl hinunter. »Auf Pfeilschützen achten!« schrie Ben Brighton lauter als Hasard. Aber die Warnung erfolgte zu spät. Dicht neben sich hörte er einen leisen Aufschrei. Lewis Pattern ließ seine Muskete fallen und umklammerte mit beiden Händen den Pfeilschaft, der aus seiner rechten Brustseite ragte. »Kutscher!« brüllte Ben Brighton. »Kutscher! Wo steckt dieser Affenarsch schon wieder?« Wütend richtete er sich auf. »Kutscher!« Er nahm den Kopf hastig wieder weg, als eine Kugel ihm fast einen zweiten Scheitel zog. Lewis Pattern war zusammengesackt. Sein Gesicht war verzerrt, ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Seine Hände zitterten und umklammerten den Pfeilschaft so fest, als ob er mit ihm sein Leben festhalten wollte. »Kutscher!« brüllte Ben Brighton noch einmal und noch lauter. »Was schreist du denn so?« Ein mittelgroßer, fast schmalbrüstig wirkender Mann kroch auf Händen und Knien über das Deck. Ben Brighton deutete mit dem Daumen auf Lewis Pattern. »Arbeit für dich. Und wenn du Saftsack noch einmal so lange bummelst, wenn man dich ruft ...« Der Rest seiner Ansprache ging in einem ohrenbetäubenden Krachen unter. Die sechs Vierpfünder der ›Isabella‹ feuerten 13
gleichzeitig. Das Deck vibrierte wie bei einer harten Kreuzsee. »Das ging ins Volle!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. Tatsächlich, die unerwartete Kanonade schien den Iren und Dons die Sprache verschlagen zu haben. Ein paar Sekunden schwieg das Gewehrfeuer von den Ufern. »Sorgt dafür, daß es so schön still bleibt, Männer!« rief Ben Brighton den Kämpfenden hinter dem Schanzkleid zu. »Der beste Ire ist ein ruhiger Ire!« Seine Muskete krachte. Vom Ufer her ertönte ein hohler, kehliger Schrei. »Einer mehr von der ruhigen Sorte«, murmelte er befriedigt. Der Kutscher kniete neben dem verwundeten Lewis Pattern und tastete vorsichtig über dessen Rücken. »Das Ding ist fast durch«, sagte er mit dem professionelkühlen Ton, mit dem ein Arzt den Tod eines Kranken feststellt. Der Kutscher hieß so, weil er einmal diesen Beruf ausgeübt hatte, bei Sir Freemont, einem bekannten Arzt in Plymouth. Und dem hatte er nicht nur einige Kniffe seines Handwerks abgeguckt, sondern auch dessen überlegenes, fast arrogantes Auftreten übernommen. Und mit Recht, fand er. Schließlich war er etwas Besseres als diese ungehobelten Kerle, die nur fluchen, saufen und raufen konnten. Seine ungewaschene Hand zog einen Beutel aus rohem Hanf näher, kramte etwas darin herum und holte ein etwa fußlanges Stück Weichholz heraus. »Hier, beiß da ‘rein, wenn es weh tut«, sagte er und schob Lewis Pattern das Holz zwischen die Zähne. Es mußte schon vielen Männern unter der Behandlung des Kutschers weh getan haben, denn das Holzstück war zerbissen wie ein Knochen, um den sich mehrere Bernhardiner gebalgt hatten. Er packte den Kopf des Verwundeten, zog ihn etwas von der Bordwand fort und trieb mit einem harten Faustschlag die 14
Pfeilspitze ganz hindurch. Lewis Pattern stieß einen erstickten Schrei aus, und das Holz knirschte zwischen seinen zupackenden Zähnen. »Wir haben’s gleich, Junge«, sagte der Kutscher tröstend, brach die Stahlspitze des Pfeils ab und riß den hölzernen Schaft aus der Wunde. »Na also, war doch gar nicht so schlimm«, kopierte er wieder eine Standardredewendung seines früheren Brotherrn Sir Freemont. »Aber anders hätten wir das Ding niemals rausgekriegt.« Er hielt die blutverschmierte Pfeilspitze hoch. »Widerhaken wie eine verdammte Saufeder«, murmelte er kopfschüttelnd. »Diese Iren ...« Er verschluckte den Rest des Satzes, weil eine Kanonenkugel gemeingefährlich über ihre Köpfe wegsauste und auf der Backbordseite eine Handbreit des Schanzkleides mitnahm. »Sind die Kerle auf der ›Marygold‹ besoffen?« schrie er wütend zum Achterkastell hinauf. »Das war nicht die ›Marygold‹!« rief Dan O’Flynn aus dem Mars. »Das war eine von unseren eigenen Kugeln.« »Das kannst du deiner Großmutter erzählen!« Der Kutscher fühlte sich ehrlich verschaukelt. ».Seit wann schießt denn eine Kanone im Kreis?« Es war ein Abpraller gewesen. Die Bordwände des versenkten Schiffes waren unter dem präzisen Feuer der beiden Drehbassen zersplittert, und das ablaufende Wasser hatte die Steinladung freigelegt, auf die beide Kanonen jetzt feuerten, um sie zu zerschlagen und so eine Fahrrinne freizuräumen. Schuß auf Schuß krachte in die Steinbarriere. Zerschlagene Felsstücke wurden emporgewirbelt, Steine rollten zur Seite und versanken klatschend im dunklen Wasser. Und immer wieder, wenn die schweren Rundkugeln im zu steilen Winkel aufschlugen oder einen besonders schweren Felsbrocken trafen, flogen sie als Abpraller im flachen Bogen über das Wasser, oder sie zerplatzten und streuten ihre 15
Trümmer wie eine Ladung aus gehacktem Blei. Ein paar Male waren solche Abpraller mitten in den Stellungen der Iren gelandet und hatten noch einen guten Zweck erfüllt, überlegte Hasard Killigrew, als wieder ein Abpraller in flacher Bahn über das Wasser zog, aber dicht vor dem Bug der ›Marygold‹ einschlug. Wenn sie Pech hatten, konnten sie sich mit den eigenen Geschützen ein paar Löcher in die Bordwand schießen. »Achtung! Feuer am Ufer! Backbord querab!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. »Auf Brandpfeile achten!« rief Hasard zur Kuhl hinunter. »Das Feuer unter Beschuß nehmen!« Die Feuer, hätte er sagen sollen, denn jetzt flackerten überall am linken Ufer kleine Brände auf. Und dann zischte der erste Brandpfeil auf die ›Isabella‹ zu. Die Spitze mit dem ölgetränkten, brennenden Werg bohrte sich dicht neben dem Großmast ins Deck. Ben Brighton riß ihn heraus und schleuderte ihn außenbords. Dann trampelte er die kleine Flamme aus, die sich in das Holz fressen wollte. Drei Pfeile gleichzeitig. Einer zischte dicht über die Bordwand weg, einer fuhr durch die offene Geschützpforte aufs Deck, der dritte bohrte sich in das aufgegeite Großsegel. Flammen leckten über die Leinwand, bevor Ben Brighton den Pfeil herausziehen konnte. »Wasser!« schrie er, riß die Jacke herunter und schlug mit ihr auf die immer höher züngelnden Flammen ein. »Wasser!« Irgend jemand schleuderte den Inhalt einer Segeltuchpütz in die Flammen. Aber das brachte nur wenige Sekunden Verzögerung. In dichten, weißen Dampfwolken verdunstete das Wasser. Der auffrischende Wind fachte die Flammen sofort wieder an. Verzweifelt schlug Ben Brighton mit seiner Jacke auf das Feuer ein, aber kurz darauf brannte auch sie. Fluchend 16
schleuderte er sie an Deck und trampelte die Flammen aus. Währenddessen flogen immer mehr Brandpfeile auf die beiden Schiffe zu. Auch auf der ›Marygold‹ flackerten jetzt ein paar kleinere Brände auf. Besonders gefährlich waren die Treffer in den Bordwänden. Um sie zu löschen, mußte sich jemand außenbords beugen und eine Pütz Wasser gezielt auf den Brand kippen. Die Iren lauerten nur darauf, daß sich jemand über der Brandstelle zeigte, von den Flammen auch noch gut beleuchtet. Es war reines Glück, daß sie dabei nur ein paar Streifschüsse erzielten, und wenn es dabei blieb, so war dies allein Blacky zu verdanken, der eine eigene Technik entwickelte. Er tauchte niemals direkt über dem Brandpfeil auf, sondern links oder rechts daneben und erstickte die Flammen mit einem wohlgezielten Wasserschwall. Ben Brightons Hände waren von Brandblasen bedeckt. Immer wieder griff er in die Flammen und fetzte Stücke der brennenden Leinwand heraus. Aber er wußte, daß es vergebens war. Immer höher fraß sich das Feuer in das aufgegeite Segel, und es war ein Glück, daß Rahe und Mast aus Hartholz waren, sonst stünden sie längst in hellen Flammen. Eine Kugel pfiff dicht über seinen Kopf weg, eine zweite schlug in das brennende Segel und fetzte brennende Leinwand über Deck. Die verdammten Iren hatten erkannt, daß sie hier eine Bresche geschlagen hatten, die sie nur zu erweitern brauchten. Der Bootsmann duckte sich unwillkürlich, als drei, vier Kugeln dicht hintereinander über seinen Kopf strichen. Und das rettete ihn vor dem Brandpfeil, der Sekundenbruchteile später dicht unter dem brennenden Segel in den Mast schlug. »Könnt ihr Hammel denn nicht die paar lausigen Iren in Schach halten!« brüllte er wütend. Er tat den Männern unrecht. Wann immer sich bei einem der Feuer ein Schatten zeigte, krachten mehrere Musketen. Es war 17
für die Iren ein tödliches Unternehmen, ihre Brandpfeile anzustecken, besonders, nachdem der Schwede Stenmark und seine Kanoniere alle Feuer bis auf drei mit den Vierpfündern erledigt hatten - jeweils unter Mitnahme mehrerer Iren, wie Stenmark zufrieden feststellte. »Die Iren verlegen ihre Feuer hinter die Hänge!« meldete Dan O’Flynn aus dem Mars. »Hier vorn wird es ihnen zu ungemütlich!« Kurz darauf setzte der Beschuß mit Brandpfeilen wieder ein, noch intensiver als zuvor. Aber er blieb fast wirkungslos. Die Iren schossen hinter der Deckung der Hügelkuppe in steilem Bogen und ohne ihr Ziel sehen zu können. Bis auf einige Zufallstreffer landeten alle Brandpfeile zischend im Wasser. Ben Brightons Hände bestanden nur noch aus Brandblasen, die schwielige Haut hing stellenweise in Fetzen. Das schlimmste war, daß er keinen Erfolg hatte. Je mehr brennende Fetzen er aus dem Segel riß, desto weiter fraßen sich die Flammen. Es war nur der Mut der Verzweiflung, der ihn stur weitermachen ließ, trotz der Schmerzen in den verbrannten Händen, trotz der Kugeln, die wie wütende Hornissen an seinem Kopf vorbeisummten. »Komm, laß mich mal, das kann ich besser als du«, sagte jemand hinter ihm und versuchte, ihn zur Seite zu drängen. Der Bootsmann fuhr herum. »Wenn du dir einbildest, du könntest mir ...« Matt Davies hielt ihm schweigend einen dolchartigen Haken vor das Gesicht. Er saß an der Stelle, an der andere Menschen ihre rechte Hand haben - in einer Lederprothese. »Das Ding brennt nicht«, sagte er sachlich, schob Ben Brighton aus dem Weg und begann, das brennende Segeltuch in großen Fetzen herunterzureißen. »Auf die Idee hättest du auch eher verfallen können«, sagte der Bootsmann wütend und trampelte die brennenden Leinenfetzen aus. 18
»Hättest ja um Hilfe schreien können«, sagte Matt grinsend und schlug seinen eisernen Prothesenhaken wieder in das brennende Segel. Ben Brighton hielt es für sinnlos, diese Unterhaltung fortzusetzen. Außerdem hatte er wirklich genug damit zu tun, die brennenden Segelfetzen auszutreten. Die verbrannten Hände taten abscheulich weh, merkte er erst jetzt. So beschränkte er sich darauf, ein paar zoologische Bezeichnungen, Matts Abstammung betreffend, vor sich hin zu knurren. »Wasser her!« schrie Matt Davies einem Mann zu, der gerade seine Pütz über Bord schwang. Als der herantrabte, riß Davies ihm die Segeltuchpütz aus der Hand und kippte ihren Inhalt über die nur noch glimmenden Reste des Segels. »Noch drei, vier Pützen, dann ist es ausgestanden.« Er grinste Ben Brighton an. »Man soll eben immer einen Fachmann ...« »Sei mal ruhig«, unterbrach ihn der Bootsmann und hob lauschend den Kopf. »Hörst du nichts?« Matt Davies kippte eine Pütz Seewasser über das glimmende Segel. »Nee. Keine Spur. Im Gegenteil, es ist so ruhig geworden.« »Eben. Die Iren schießen kaum noch. Und das gefällt mir nicht. Das gefällt mir absolut nicht.«
3. Die beiden Abschüsse der Drehbassen klangen ungewohnt laut, fand Hasard. Er hatte ebenfalls bemerkt, daß das Feuer der Iren von den beiden Ufern immer schwächer geworden war. Und auch ihm gefiel das nicht. »He, Dan!« rief er zum Mars hinauf. »Kannst du erkennen, was die Brüder vorhaben?« »Keine Ahnung. Sieht so aus, als ob sie sich zurückziehen. 19
Anscheinend haben sie die Nase ... Moment!« »Was ist denn, verdammt noch mal? Siehst du was, oder siehst du nichts?« »Das weiß ich eben nicht genau. Eben war mir, als ob - ja, ich hatte doch recht. Sie ...« Das Dröhnen der Drehbassen übertönte seine Worte. Ein Abpraller segelte über das Wasser und schlug dicht vor dem Ufer in den Fluß. »Sie schleichen sich zum Ufer!« schrie Dan O’Flynn mit sich überschlagender Stimme. »Sie wollen auf die abgesoffenen Kähne!« Hasard riß den Kieker heraus und setzte ihn an sein rechtes Auge. Deutlich erkannte er einen dunklen Schatten, der rasch aus einem Gebüsch sprang und über eine etwa zehn Yards breite, mondhelle Schneise ins Wasser sprang. Nein, nicht ins Wasser. Zwischen dem Ufer und der jetzt hoch aus dem Wasser ragenden Bordwand des ersten Kahns hatten die Iren ein paar Flöße geschoben, vielleicht auch nur ein paar Baumstämme oder Bohlen, das konnte er bei dem schwachen Licht nicht erkennen. »Die Kerle müssen wahnsinnig geworden sein«, murmelte er, als er das Glas absetzte, wahnsinnig vor Wut und Haß auf die Engländer, die ihnen zu entwischen drohten. Aber der Wahnsinn hatte Methode, erkannte er sofort. Ein Dutzend guter Schützen hinter den Bordwänden der unzerschossenen Wracks konnte die beiden Männer an den Drehbassen unter ein verheerendes Feuer nehmen. »Ben! Laßt die Kerle nicht auf die Wracks kommen!« schrie er zur Kuhl hinunter, spannte seine Pistole und richtete sie auf einen Schatten, der gerade aus dem Buschwerk auftauchte und über die hell erleuchtete Uferschneise wetzte. Hasard zielte kurz und zog durch. Fast gleichzeitig krachte unten eine Muskete. Der Mann zuckte zusammen, wurde vom Schwung seines Laufs nach vorn gerissen und stürzte in das 20
aufschäumende Uferwasser. Der nächste ließ sich fast eine Minute Zeit. Und das war die letzte Minute seines Lebens. Von drei Kugeln getroffen, wurde er in die Luft gehoben und ins Gebüsch zurückgeschleudert. »Einzeln feuern!« rief Hasard nach unten. Die Iren brauchten nur drei, vier Mann kurz hintereinander loszuschicken, dann hatten die Männer ihre Musketen leergeschossen, und der Rest konnte unbehelligt über das freie Stück auf die Sperre stürmen. Wenn er das Unternehmen zu leiten hätte, überlegte Hasard, würde er die Leute im Rudel hinüberscheuchen. Sechs, acht Männer würden wahrscheinlich getroffen werden, aber der Rest würde heil auf die Wracks gelangen. Sie stürmten im Haufen. Sie schienen drüben auch einen Mann zu haben, der denken konnte, erkannte Hasard und drückte seine Pistole ab. Ihr Krachen ging unter im Dröhnen der Musketenschüsse, die die Backbordwände der ›Isabella‹ und ›Marygold‹ in feuerspeiende Festungen verwandelten. Hasard riß die sächsische Reiterpistole aus dem Gürtel und feuerte auch sie ab. Er nickte grimmig, als ein Mann, der die Deckung des Bordrandes fast erreicht hatte, zusammenbrach und seitlich ins Wasser kippte. Zumindest dieser eine hätte es fast geschafft, verdammt. Aber er hatte keine Zeit, sich lange mit diesem Gedanken aufzuhalten. Die ersten Musketenschüsse krachten hinter der Deckung hervor, und die Kugeln pfiffen dicht über das achtere Schanzkleid weg. Al Conroy stieß einen lauten Fluch aus, ließ den eisernen Ladestock fahren, mit dem er gerade eine Kugel in den Lauf der Drehbasse rammen wollte, und preßte die Hand auf die linke Schulter. Wortlos lief Hasard auf ihn zu und drängte ihn zur Seite. »Ist doch nur ein Kratzer«, protestierte Al Conroy. »Wenn mir der Kutscher einen Lappen rumbindet ...« 21
»Dann laß dich verbinden«, sagte Hasard und schob ihn sanft, aber energisch zum Niedergang. Er hob den Ladestock auf und rammte die Kugel fest. Dabei hielt er sich so tief wie möglich hinter der Deckung des Schanzkleides, denn immer wieder strichen Kugeln haarscharf über seinen Kopf weg oder schlugen krachend in den oberen Rand des Schanzkleides. Ferris Tucker, der fertig geladen hatte, warf seinem Kapitän einen langen Blick zu, dann atmete er tief durch. Innerhalb einer Sekunde richtete er sich auf, richtete die Kanone und drückte die Lunte auf das Zündloch. Dennoch erschien es ihm wie ein Wunder, daß er heil wieder hinter seiner Deckung verschwinden konnte. »Daß die Kerle nicht imstande sind, die verdammten Iren ...« Der Rest ging unter im Dröhnen von Hasards Drehbasse. »Die haben zu tun, die Iren auf den Uferhöhen in Schach zu halten«, rief Hasard Ferris Tucker zu und begann, seine Kanone nachzuladen. »Dan!« rief er zum Mars hinauf. »Sir?« »Kannst du erkennen, wo die Iren sitzen?« »Klar! Dazu bin ich doch hier oben auf dem Aussichtsturm! Die dickste Wuhling ist auf den beiden Kähnen links und rechts von dem Trümmerstück in der Mitte!« Also doch kein wirklicher Kopf bei den Iren, überlegte Hasard zufrieden. Es war doch sträflicher Leichtsinn, seine Kräfte so zu massieren, wenn der Gegner über Artillerie verfügte. »Noch nicht feuern, Ferris!« rief er Tucker zu, der bereits wieder fertig geladen hatte. »Wenn ich den Befehl gebe, hältst du genau in die Bordwand von dem Kahn rechts von der Bresche, verstanden?« »Verstanden.« Trotz der Dunkelheit sah Hasard das Grinsen auf Tuckers 22
Gesicht. Der alte Pirat wußte sofort, was er beabsichtigte. »Ben!« rief Hasard zur Kuhl hinunter. »Sir?« Der Bootsmann stieß den Kutscher, der gerade eine übelriechende Salbe auf seine Brandwunden schmierte, zurück. »Laß doch meine Pfoten los, du Saftsack!« »Was hast du gesagt?« »Nichts, Sir. Ich meinte nur ...« »Später, wenn’s wichtig sein sollte. Hör zu. Wir müssen jetzt vor allem die Burschen auf der Sperre unter Feuer nehmen. Laß alle Männer nachladen und haltet sie dann unter Feuer, daß keiner den Kopf hochkriegt. Aufs Treffen kommt es nicht an, das besorgen wir schon. Kapiert?« »Aye, aye, Sir!« Und dann lauter: »Habt ihr’s gehört, ihr müden Krücken? Feuer einstellen und nachladen! Fummel doch nicht dauernd an meinen verdammten Pfoten ‘rum, du lausiger Quacksalber!« Hasard und Ferris Tucker hockten hinter ihren Drehbassen, die glimmenden Lunten in der linken Hand, und warteten. Über das achtere Schanzkleid pfiffen die Kugeln der Iren, Blei schlug mit dumpfem, patschenden Geräusch in die dicken Holzbohlen. »Fertig!« rief Ben Brighton. »Stetig feuern!« Die ersten Schüsse krachten, dann dröhnten die Musketen in kurzen, regelmäßigen Abständen. »Jetzt!« Hasard fuhr hoch, richtete die Mündung der Kanone auf die schräge, freiliegende Bordwand des Kahns links von der freigeschossenen Bresche und drückte die Lunte auf das Zündloch. Bevor er sich wieder wegduckte, sah er die schwere Kugel einschlagen. Holzteile und Menschenleiber wirbelten in die Luft, und bei dem anderen Kahn rechts von der Bresche war das gleiche Bild. Grelle Schreie tönten durch das Dunkel. Hasard konnte 23
sich vorstellen, wie die Kugel Stein- und Holztrümmer mit verheerender Wirkung nach allen Seiten fetzte. Tucker war etwas früher mit dem Nachladen fertig als er. »Feuern oder warten?« rief er Hasard zu. »Raus mit dem Zeug, so schnell es geht!« Als Tuckers Dreipfünder dröhnte, war auch Hasard wieder soweit. Er setzte seine Kugel hart links von der Bresche, die die erste geschlagen hatte. Wieder das grausige Bild durch die Luft wirbelnder Körper, das Schreien von Verwundeten. Jetzt beteiligten sich auch die Musketen der ›Marygold‹ am Beschuß. Aus dem spitzen Winkel konnten die Männer durch die aufgeknackten Breschen hinter die noch stehenden Reste der Bordwände feuern, die mit jedem Schuß der Drehbassen kürzer wurden. Das Feuer der Iren war jetzt fast völlig verstummt. Hasard nahm an, daß die meisten der Männer gefallen oder verwundet waren. Ein paar von ihnen sah er ins Wasser springen und hinter der Barrikade auf das Land zuschwimmen. Das Wasser mußte eisig sein, dachte er. Aber besser eine Weile frieren, als für immer einen kalten Hintern. »Auf erkannte Ziele feuern!« rief Hasard Ferris Tucker zu. Sie konnten sich jetzt wieder Zeit lassen und brauchten nicht sofort wieder in Deckung zu gehen. Hasard sah drei Iren, die über die schwankende Verbindung auf das Land balancierten. Er jagte eine Kugel hinaus. Wieder flogen Körper und Holztrümmer durch die Luft. Wer jetzt noch nicht an Land ist, holt sich einen mächtig nassen Hintern, dachte Killigrew zufrieden. Und so was dämpft den Angriffsgeist beträchtlich. Auf Tuckers Seite schien sich niemand mehr zu rühren. Er setzte seine nächste Kugel schon wieder in die Steinhaufen, die von dem zerschossenen Fischerboot übrig geblieben waren. Ein paar Steine kollerten zur Seite, andere rutschten nach und wurden von dem noch intakten unteren Teil des Bootes 24
festgehalten. »Hör auf, Ferris, das bringt uns nicht weiter.« Hasard beendete das Nachladen seiner Drehbasse, zog den Kieker heraus und blickte vorsichtig über das achtere Schanzkleid zur Sperre. Die ständigen Einschläge der Kugeln hatten das Boot trotz des tonnenschweren Gewichts der Steinladung stromab angekantet. Und das ablaufende Wasser hatte ein übriges dazu getan, es um fast fünfundvierzig Grad überzulegen. Sie konnten natürlich die jetzt wieder hoch aus dem Wasser ragende Bordwand zerschießen. Nein, sie mußten es sogar, um zu verhindern, daß die einlaufende Flut sie wieder unter Wasser drückte und den Steinen weiteren Halt gab. Aber dennoch ... Er hatte sich fest darauf verlassen, daß der Ebbstrom den Verband der Kähne auseinanderreißen oder zumindest das zerschossene Boot, das im Zentrum des Stroms lag, zur Seite drücken würde. Warum rührte sich das verdammte Ding nicht? »Iren sammeln sich am Backbord-Ufer!« rief Dan O’Flynn. Sollten sie. Wahrscheinlich hatten sie endlich eingesehen, daß ihr Einsatz sinnlos war. Auf diese Art zumindest. Erst jetzt merkte er, daß die sporadischen Schüsse nur von Bord der beiden Schiffe abgefeuert wurden. Die Iren hatten das Feuer völlig eingestellt. Dennoch richtete sich Hasard nicht höher auf als unbedingt nötig, als er, den Kieker vor das rechte Auge gepreßt, auf die versenkten Boote starrte. »Habe ich mir doch gedacht«, murmelte er nach einer Weile. Das Heck des zweiten Kahns und der Bug des dritten waren etwa vier Yards auseinander. Und in diesem Zwischenraum erkannte er zwei oder drei dunkle Striche, die sich deutlich von dem im Mondlicht glitzernden Wasser abhoben. Die Burschen hatten die Kähne durch Trossen miteinander verbunden, bevor sie sie auf Grund gesetzt hatten. Völlig klar, daß sich keins von ihnen aus dem festen Verband 25
herausbrechen ließ. Er schob das Fernrohr zusammen und steckte es ein. »Ben! Batuti!« rief er zum Mitteldeck hinunter. »Ben! Batuti!« schrien ein paar der Männer für den Fall, daß die beiden den Kapitän nicht gehört haben sollten. »Sir?« Der Bootsmann hatte mit seinen verbundenen Händen Schwierigkeiten, den steilen Niedergang hochzuklettern. Sein Gesicht war ruß- und dreckverschmiert. Das von Batuti wahrscheinlich auch. Aber ihm hatte die Natur eine natürliche Schutzfarbe dafür gegeben. »Batuti«, wandte sich der Seewolf an den riesigen Neger. »Wir beide werden uns jetzt einen ziemlich kalten Hintern holen.« »Hintern von Batuti immer kalt«, sagte der schwarze Goliath und verzog das Gesicht. »Bißchen mehr kalt, was ist dabei?« »Batuti und ich werden tauchen und die Verbindungstrossen zwischen den mittleren Kähnen zerschneiden. Vielleicht räumt der Strom dann den Rest weg.« Ben Brighton fuhr mit der verbundenen Hand über sein schmutziges Gesicht. »Dann mußt du dich aber verdammt beeilen, Hasard. Das Wasser ist fast abgelaufen. In einer guten Stunde haben wir Stau.« »Weiß ich selbst, Bootsmann«, sagte Hasard ungeduldig und begann, Jacke und Hemd auszuziehen. »Sorg dafür, daß niemand auf die drei mittleren Kähne schießt, solange wir draußen sind. Und haltet uns die Iren vom Leib.« Er winkte ihm, abzutreten, und der Bootsmann verschwand zum Hauptdeck. Hasard spürte ein leichtes Schauern, als er halbnackt in der immer mehr auffrischenden Brise stand. »Batuti jetzt überall kalt, nicht nur armes Hintern«, sagte der Neger zähneklappernd, als er seine dicke Jacke auf Deck fallen ließ. »Halte die Augen offen«, sagte Hasard zu Ferris Tucker, als 26
er und Batuti zum Niedergang gingen. »Und schieß uns nicht die Rübe ab.« »Keine Sorge, Hasard, ich paß schon auf.« Tucker zögerte ein paar Sekunden, bevor er hinzusetzte: »Mit allem Respekt, aber vielleicht solltest du doch Kapitän Drake über dein Vorhaben informieren.« »Darum wollte ich dich gerade bitten«, sagte Hasard grinsend. »Tu es aber erst, nachdem wir im Wasser sind.« Er hatte das Gefühl, daß Francis Drake vielleicht nicht sehr begeistert war, wenn sich einer seiner Kapitäne als Taucher betätigte. Als Hasard und Batuti vom Niedergang auf die Kuhl traten, erschien bereits der Bootsmann, gefolgt von zwei Männern, die sauber aufgeschossene Leinen schleppten. »Wo wollt ihr über Bord gehen?« fragte Ben Brighton. »Ich meine, von der Steuerbordseite aus wäre es am günstigsten, weil ihr dort in Feuerlee seid.« »Dachte ich auch«; erwiderte Hasard. »Wir jumpen aus einer der Stückpforten.« »Aye, aye, Sir.« Der Verband um die rechte Hand, mit dem der Bootsmann über sein Gesicht fuhr, starrte vor Dreck. Aber der Lappen war schon nicht besonders sauber gewesen, als der Kutscher ihn über die mit Salbe verschmierten Brandwunden gewickelt hatte. »Blacky!« Ben Brighton sah sich um. »Wo steckst du Himmelhund denn?« Er wandte sich wieder an Hasard. »Ich habe euch rasch die beiden schärfsten Enterbeile ‘raussuchen lassen.« Er deutete auf die beiden Waffen, die Blacky in den Händen hielt. »Nicht nötig, Ben. Mein Messer - aber vielleicht hast du recht. Vielleicht werden wir die Dinger brauchen können.« Smoky und Pete Ballie belegten die Enden der Leinen auf zwei Klampen am Steuerbordschanzkleid. Dann schlangen sich 27
Hasard und Batuti die beiden Enden um die Brust. »Knüpf einen Slipknoten«, riet Hasard dem Neger. »Für den Fall, daß wir irgendwo hängenbleiben.« »Ganze Leben von Batuti ist Slipknoten«, sagte der Schwarze und brachte trotz seines Zitterns ein Grinsen zustande. »Also dann.« Hasard trat an die achtere Geschützpforte auf der Steuerbordseite. »Viel Glück, Hasard«, sagte Ben Brighton ernst. Er schlug Batuti auf die Schulter. »Und dir auch, du schwarzer Satansbraten.« »Danke, Ben.« Hasard stand neben der ausgefahrenen Geschützmündung und hielt sich am Bronzerohr des Vierpfünders fest. »Sorgt dafür, daß keiner von den Burschen von Land her auf die Sperre steigt.« Er duckte sich durch die Geschützpforte und ließ sich ins Wasser gleiten, dicht gefolgt von Batuti.
4. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Im ersten Moment durchfuhr die eisige Kälte des Wassers seinen Körper wie ein Schock und schnürte ihm fast die Luft ab. Es dauerte eine Weile, bis er sich einigermaßen daran gewöhnt hatte - soweit ein Mensch sich überhaupt daran gewöhnen konnte. Aber er war ziemlich abgehärtet. »Alles in Ordnung, Batuti?« fragte er leise. Der Neger mußte noch mehr unter der eisigen Kälte leider als er. »Alles in Ordnung? Nichts in Ordnung, Sir. Oder denkst du, in Ordnung, wenn Mensch wird wie Zapfen aus Eis? Nicht fragen, ob in Ordnung, Sir. Fragen, ob geht. Dann Batuti sagen: geht schon, Sir. Weil geht immer, wenn muß.« Wider seinen Willen mußte Hasard grinsen. »Zum Heck«, sagte er dann leise und zog sich an der 28
glitschigen, algenbewachsenen Bordwand entlang. Der Ebbstrom war noch stark genug, um kräftig an ihnen zu zerren. Sie klammerten sich an das Ruderblatt und blickten zu der Sperre hinüber, die dreißig Yards von dem Heck des Schiffes entfernt lag. Direkt vor ihnen ragte die zerschossene Bordwand des Fischerbootes aus dem Wasser, links und rechts daneben die zerfetzten Dollborde der beiden Kähne, von denen aus die Iren sie unter Feuer genommen hatten. Hier, bei den im Tiefwasser liegenden Booten waren Bug und Heck auch bei Ebbe unter Wasser. Sie würden tauchen müssen, um die Trossen zu durchtrennen. Hasard überzeugte sich noch einmal, ob Messer und Enterbeil fest im Gürtel steckten, dann sagte er leise: »Du nimmst dir den linken Verband vor, ich den rechten, klar?« Batuti nickte. Über sich hörte Hasard die Stimme Tuckers rufen: »Achtung, ›Marygold‹! Botschaft von Kapitän Killigrew an Kapitän Drake!« »Hätte der Idiot nicht warten können, bis wir an der Sperre sind?« knurrte Hasard wütend. »Also los, Batuti.« Er stieß sich vom Ruder ab und ließ sich vom Ebbstrom auf die Sperre zutreiben. »Hier Drake!« hörte er die Stimme des Kapitäns über das Wasser schallen. »Was ist, Mister Killigrew?« »Der Kapitän ist nicht an Bord!« rief Ferris Tucker zurück. »Ich soll Ihnen ausrichten ...« Hasard hatte die Sperre fast erreicht und hielt es für angebracht zu tauchen - für den Fall, daß Drake einen Befehl für ihn haben sollte, den er nicht ausführen wollte. Jedenfalls nicht sofort. Der Ebbstrom stieß ihn hart an die Bordwand des Fischerbootes. Er fing den Stoß mit ausgestreckten Armen auf und glitt zum Bug. 29
Keine Klüse. Die hatten diese kleinen Boote meistens auch nicht. Der Anker wurde einfach über die Bordwand geworfen. Wahrscheinlich war die Trosse an einem Poller auf dem Vordeck belegt, dachte er, oder um den Maststumpf. Aber er hatte jetzt nicht mehr genug Luft, um sich davon zu überzeugen. Er gab sich Mühe, möglichst lautlos aufzutauchen, atmete dreimal kräftig durch und tauchte wieder nach unten. Richtig. Es war so, wie er vermutet hatte. Die Trosse war um einen Holzpoller geschlungen, der dicht hinter dem Bug an Deck angebracht war. Er wußte, daß es kaum Sinn hatte, zu versuchen, die Belegknoten zu lösen. Die Hanffasern der armdicken Taue hatten sich voll Wasser gesogen und waren aufgequollen. Dennoch unternahm er einen Versuch. Er würde viel Zeit und Mühe sparen, wenigstens eines der beiden Taue vom Poller zu lösen. Aber es blieb ein vergeblicher Versuch. Und er kostete ihn so viel Kraft, daß er wieder nach oben mußte, bevor er damit beginnen konnte, die schweren Hanfseile zu zerschneiden. Es war eine Knochenarbeit. Die verquollenen Taue waren hart wie Stahl. Der Ebbstrom zerrte so stark an ihm, daß er sich mit einer Hand festklammern mußte, um nicht abgetrieben zu werden. Als er gerade nach unten getaucht war, glaubte er, mehrere harte Schläge zu hören. Er stieg etwas rascher wieder nach oben, obgleich seine Luft noch gereicht hätte. Als er den Kopf aus dem Wasser steckte, wußte er, was in der Tiefe wie Schläge geklungen hatte. Von der ›Isabella‹ dröhnten Musketenschüsse. Anscheinend hatten seine Männer Bewegung am Ufer gesehen. Ob die Iren Batuti und ihn bemerkt hatten? Wenn ja, konnte er auch nichts daran ändern, überlegte er, als er wieder in die Tiefe tauchte. Wenn sie hier heil herauskommen wollten, mußten die Trossen zwischen den versenkten Booten gekappt 30
werden. Mit den Iren sollten sich die Leute an Bord beschäftigen. Wütend säbelte er mit der scharfen Messerklinge an dem Tau und spürte, wie zwei der Kardeele nachgaben und schließlich rissen. Fünf Minuten später war die erste Trosse gekappt. Hasard stieg nach oben und gönnte sich eine halbe Minute Pause, bevor er die zweite in Angriff nahm. Das Schießen hatte aufgehört. Hatten die Iren sich wieder verzogen, oder waren sie jetzt nur vorsichtiger? Und wie kam Batuti zurecht? Beides Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Er tauchte wieder ab.
Batuti säbelte bereits an der zweiten Trosse herum. Das riesige Entermesser wirkte in seiner Pranke wie ein zierlicher Hirschfänger, und wenn es nicht so erbärmlich kalt gewesen wäre, hätte ihm die Arbeit sogar Spaß bereitet. Batuti hatte immer Spaß an Dingen, die er meisterte. Besonders wenn Kapitän Killigrew sie ihm befohlen hatte. Für den Kapitän würde er sich seine schwarze Haut streifenweise abziehen lassen. Er hatte nie vergessen, daß der Seewolf ihn und die fünfzig anderen Neger von einem spanischen Sklavenschiff gerettet hatte. Man hatte sie auf die südamerikanischen Besitzungen der Dons schaffen wollen - soweit sie die lange Überfahrt in ihrem verschlossenen Verlies unter Deck lebend überstanden hätten. Kapitän Killigrew hatte ihnen ein erbeutetes spanisches Schiff gegeben, mit dem sie in ihre Heimat Gambia zurückgesegelt waren. Aber Batuti war bei dem Seewolf geblieben. Und er hatte diesen Entschluß noch keine Sekunde bereut. Allerdings, wenn er jetzt daran dachte, wie schön warm es in Gambia war ... 31
Das Messer glitt ihm aus der Hand, und als er mit der linken danach griff, verlor er seinen Halt am Heck des Bootes und wurde vom Ebbstrom an ihm vorbeigerissen. Blindlings griff er ins Leere und kriegte die Trosse zu fassen, die er bereits durchgetrennt hatte. Die Lose betrug gut drei Yards. Als sich das Tau straffte, schleuderte ihn die Strömung um das Heck des anderen Kahns herum. Seine Atemreserve war völlig verbraucht, als er sich an der glitschigen Bordwand nach oben zog. Nach einem ersten Blick zog er seinen Kopf sofort wieder ein. Hinter der zerfetzten Bordwand des Kahns hockte ein Ire und richtete seine Pistole genau auf die Stelle, an der er normalerweise aufgetaucht wäre. Der kann lange warten, dachte Batuti, als er sich lautlos näher heranzog. Nein, nicht zu lange, korrigierte er sich dann. Man soll niemanden zu lange warten lassen. Der Mann starrte wie gebannt auf die Stelle, an der Batutis Kopf erscheinen mußte. Und die Mündung seiner Pistole starrte mit ihm. Als Batuti nur noch knapp ein Yard von ihm entfernt war, wurde der Mann unruhig. Anscheinend begriff er, daß kein Mensch so lange unter Wasser bleiben konnte. Aber bevor er irgendwelche Konsequenzen aus dieser Erkenntnis ziehen konnte, schnellte sich Batuti halb aus dem Wasser, packte ein Bein des Iren und riß ihn in die Fluten. Der überraschte Aufschrei des Mannes wurde vom Wasser erstickt. Er wehrte sich verzweifelt und mit den übermenschlichen Kräften der Todesangst. Batuti drückte ihn so lange unter Wasser, bis die Kräfte des Mannes zu erlahmen begannen, dann ließ er ihn los. Er wurde von der Strömung gepackt und auf die Flußmündung und die offene See zugetrieben. Bevor er wieder soviel Kraft und Geistesgegenwart haben würde, um zu schreien, war er längst außer Hörweite, überlegte der Gambianer. Wenn die Götter der weißen Manner wollten, 32
daß der Ire am Leben blieb, würde er bald wieder soweit bei Kräften sein, um an Land zu schwimmen. Wenn sie es nicht wollten, trieb er eben aufs Meer hinaus. Sollte er sich später bei seinen Göttern darüber beklagen. Batuti hatte jetzt andere Sorgen. Zum Beispiel die Frage: Wo war der Ire hergekommen? War es ihm gelungen, ungesehen von Land auf die Sperre zu kriechen, oder hatte er sich vorhin nicht getraut, mit den anderen an Land zurück zu flüchten? Aber viel wichtiger war die Frage: War er allein gewesen, oder hockten noch mehr auf der Sperre? Batuti klammerte sich an das Heck des Kahns und blickte vorsichtig nach beiden Seiten. Nichts. Keine Bewegung. Er glaubte nicht, daß sich weitere Iren auf der Sperre befanden. Aber nachsehen ist besser als glauben, hatte er schon als Kind im Busch in Afrika gelernt. »Wenn du den Panther hörst, ist es schon zu spät«, hatte ihm sein Vater immer wieder eingeschärft. Lautlos zog er sjch an der Bordwand des Kahns entlang, bis er eine Bresche fand, die tief genug war, um sich daran hinaufzuziehen. Er packte mit beiden Händen das zerfetzte Holz und schnellte sich aus dem Wasser. Das heißt, er versuchte es. Irgend etwas hielt ihn fest. Die verdammte Leine mußte sich irgendwo verfangen haben. Wütend zerrte er daran. Sie gab nicht nach. Vielleicht ist sie nicht länger, überlegte er und tastete nach dem Slipknoten. Er zögerte eine Sekunde. Wenn irgend etwas schiefging und er ins Wasser mußte, würde er von der Strömung unrettbar mitgerissen werden. Unsinn. Wird schon gutgehen. Er zog den Knoten auf und schlang das Ende der Leine fest um einen zersplitterten Spant der Bordwand. Dann kroch er auf Händen und Knien über das zerschossene Deck und den Steinballast nach links. Nichts. An der Trosse zog er sich zum nächsten Kahn. Der war heil 33
geblieben, bis auf einen Zufallstreffer dicht hinter dem Bug. Batuti sah mit einem Blick, daß niemand an Bord war. Dennoch kroch er bis zum Heck und hob vorsichtig den Kopf, um zu den letzten beiden Kähnen hinüberzusehen, die das Stück bis zum Ufer blockierten. Das Mondlicht fiel auf die schrägliegenden Decks. Kein Schatten, Reine Deckung, wo sich jemand verstecken konnte. Befriedigt trat Batuti den Rückweg an, zog sich an der Trosse zum Kahn, von dem er den Iren heruntergeholt hatte, und kroch zu dem Spant, an dem er seine Leine belegt hatte. Sie war verschwunden. In ersten Augenblick glaubte er, sich geirrt zu haben. Es gab schließlich mehrere zersplitterte Spanten in der Bordwand des Kahns. Aber dann wußte er, daß es dieser Spant gewesen war, an der er die Leine ... Er reagierte um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, als er das leise Geräusch hinter sich hörte. Er konnte den Schlag zwar noch abducken, aber die Klinge des Entermessers traf ihn am Hinterkopf und grub sich in die Kopfschwarte. Mit einem wilden, wütenden Aufschrei fuhr er herum. Zwei Iren! Einer hielt eine Pistole in der Hand und richtete sie auf ihn, und es war sein Glück, daß der Mann mit dem Entermesser ihm dauernd vor der Mündung umhertorkelte, um einen zweiten Schlag anzubringen. Batuti stürzte sich auf ihn, riß ihn hoch und warf ihn auf den anderen. Er hörte das Krachen eines Schusses, spürte einen harten Schlag an der rechten Stirnseite, aber bevor er zusammenbrach, sah er noch beide Iren über Bord stürzen. Dann wurde es dunkel um ihn.
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Hasard vernahm undeutliche Schreie, als er wieder auftauchte. Als er zur Flußmündung blickte, glaubte er, im silbrig glänzenden Wasser Bewegung zu erkennen. Aber er war nicht sicher. Außerdem war das stromab. Was immer dort im Wasser paddeln mochte, würde niemals gegen den Ebbstrom herankommen können. Noch zweimal, überlegte er, dann war es geschafft, dann hatte er auch die zweite Trosse gekappt, und das Boot war frei. Er holte tief Luft und tauchte wieder zum Vorschiff hinunter. Das Tau war so straff gespannt, daß er sich wunderte, warum es nicht den Holzpoller aus dem Deck riß. Aber die Iren bauten schon verdammt solide Schiffe, mußte er zugeben. Die Hanfkardeele sprangen wie straff gespannte Saiten, wenn die Messerklinge sie durchtrennte. Noch drei, vier Stück, dann war es geschafft. Er vernahm ein undeutliches Knacken und hatte das Gefühl, als ob sich das schrägliegende Deck unter seinen Füßen bewegte. Bevor er sich über den Grund dafür klarwerden oder reagieren konnte, rutschte er seitwärts ab. Etwas drückte ihn in die Tiefe, zwischen Heck und Bug der beiden Boote, und er hörte ein dumpfes Poltern wie bei einer Lawine. Und eine Lawine war es auch, die jetzt über ihn hereinbrach eine Lawine schwerer Steine, die sich beim Hochkippen des Bootsrumpfes verlagerten und über die zerschossene Bordwand in die Tiefe stürzten. Verzweifelt versuchte Hasard, den herabstürzenden Steinen auszuweichen und an die Oberfläche zu gelangen. Aber immer wieder landeten schwere Steine auf seinem Rücken und drückten ihn auf den Grund. Seine Luft war zu Ende. Er wußte, daß er nicht mehr als acht oder zehn Sekunden Zeit hatte. Ein besonders dicker Brocken torkelte auf ihn herunter. Wenn ihn der unter sich begrub, war er erledigt. Und er hatte nicht 35
mehr die Kraft, noch rechtzeitig unter ihm wegzutauchen. Aber der Ebbstrom hatte die Kraft. Der dicke Brocken streifte nur seine Beine, als Hasard von der harten Strömung zwischen Bug und Heck der beiden Boote flußabwärts geschoben wurde. Er ließ sich treiben, als sein Kopf aus dem Wasser tauchte und er gierig die frische, kalte Luft in seine Lungen sog - bis ein harter Ruck ihm die Luft aus den Lungen preßte. Die Leine straffte sich um seine Brust. Er war gut zehn Yards abgetrieben worden und begann, sich an der Leine zur Sperre zurückzuziehen. Dabei blickte er immer wieder zu dem Wrack des Fischerbootes hinüber, das er aus dem Verband der anderen herausgelöst hatte. Ja, es war noch weiter auf die Seite gedreht worden. Die zerfetzte Bordwand lag jetzt fast parallel zur Wasseroberfläche. Sie hatte den größten Teil ihres Steinballastes wie ein Marktkorb ausgekippt. Wenn sie jetzt mit den Drehbassen noch einmal ordentlich daraufhielten, mußte es eigentlich klappen. Er zog unwillkürlich den Kopf ein, als mehrere Schüsse krachten. Er sah das Aufblitzen der Mündungsfeuer an Land und Sekunden später an der Backbordseite der ›Isabella‹. Es war eine verdammte Anstrengung, sich gegen die Strömung an der Leine zur Sperre zurückzuhangeln. Sein Atem ging in keuchenden Stößen, immer wieder mußte er kurze Pausen einlegen. Er war froh, als er den Bug des Fischerbootes erreichte und wollte sich gleich an die andere Seite ziehen, wo ihn die Strömung gegen das Wrack drücken und nicht wieder wegzerren würde. Aber dann überlegte er sich, daß er die Lage an Ort und Stelle noch einmal genauer überprüfen sollte, um zu wissen, wie sie weiter vorgehen mußten. Die Bordwand ragte wie eine zackige, schroffe Felsenkulisse in den klaren Himmel. Davor türmten sich die Steine. Ja, die Ladung war ins Rutschen geraten, und ein guter Teil war 36
ausgekippt worden. Aber nur, um neben dem Wrack einen neuen, wenn auch wesentlich flacheren Wall zu bilden. Hasard fluchte leise, als er sich an den Steinen hochzog und mit einem Fuß gegen sie stieß. Zwei, drei von ihnen kollerten die Schräge hinunter, aber der Rest lag unverrückbar fest. Wieder krachten Schüsse vom Land, kurz darauf folgte die Antwort von den beiden Schiffen. Hasard hatte sich unwillkürlich geduckt. Aber dann merkte er, daß keine der Kugeln in seiner Nähe einschlug. Auf was ballerten die verdammten Iren denn? Vorsichtig richtete er sich auf. Auf der ›Marygold‹ hatten sie ein Boot zu Wasser gelassen, und ein halbes Dutzend Männer kletterte hinein. Und auf die schossen die Iren von beiden Ufern. »Möchte wissen, was Drake vorhat«, murmelte Hasard und kroch geduckt über die Steine zum Heck des Bootes. »Batuti?« rief er leise und beugte sich über den schmalen Spalt, der das Heck von dem des nächsten Bootes trennte. »Batuti?« Keine Antwort. Hasard ließ sich wieder ins Wasser gleiten und tastete nach den Trossen, die beide Boote miteinander verbanden. Sie hingen lose. Aber das wollte nichts besagen. Er folgte ihnen, bis er ihre im Ebbstrom treibenden, gekappten Enden ertastete. Dann zog er sich am Seil zurück und tauchte auf. Wahrscheinlich war Batuti lange vor ihm fertig gewesen und schon zurück an Bord, während er von der Strömung abgetrieben worden war. Unsinn, dachte er sofort. Batuti würde nie ohne ihn zur ›Isabella‹ zurückkehren. Schon gar nicht, nachdem das von den Trossen befreite Boot zur Seite gekippt war. Er wäre sofort zum Bug gekommen und hätte nach ihm gesehen. Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre! »Batuti!« 37
Die plötzliche Angst um den Neger ließ ihn alle Vorsicht vergessen, und er schrie seinen Namen laut hinaus. Im selben Augenblick krachten auch schon Musketen am Ufer, und zwei, drei Kugeln schlugen in die Bordwand des Kahns. »Batuti!« Keine Antwort. Doch. Irgendwo, rechts von ihm ein leises Geräusch. Es klang wie ein Stöhnen. Ja, jetzt wieder. Und diesmal gab es keinen Zweifel. Irgend jemand stöhnte, und zwar auf dem Deck des Kahns rechts von ihm. Vorsichtig gab Hasard Lose auf seine Sicherheitsleine, bis die Strömung ihn an die tiefer liegende Bordwand gedrückt hatte. Die Ebbe hatte jetzt fast ihren Tiefststand erreicht, und selbst diese Bordwand ragte gut zwei Fuß aus dem Wasser. Er packte das Dollbord mit beiden Händen und zog sich so weit hoch, daß er auf das Deck schauen konnte.
Er blickte in ein schwarzes, blutverschmiertes Gesicht. »Batuti!« rief er erschrocken. Wieder ein leises Stöhnen. Mit einem Schwung stemmte sich Hasard über die Bordwand und warf sich neben Batuti auf das schrägliegende Deck des Kahns. Zwei Schüsse krachten Sekundenbruchteile zu spät. Wütendes Musketenfeuer von Bord der ›Isabella‹ antwortete den irischen Schützen. Hasards Hand tastete vorsichtig über die blutverkrustete rechte Kopfseite des Negers. Batuti warf den Kopf zur Seite, und wieder drang ein schmerzgequältes Stöhnen aus seinem Mund. Auf jeden Fall lebt er noch, dachte Hasard erleichtert. Und 38
solange er am Leben war, würde ihn der Kutscher schon irgendwie wieder zurechtflicken. Ein paar Narben mehr würden Batutis dunkelhäutiger Schönheit keinen Abbruch tun. Aber dazu mußte er ihn erst einmal an Bord der ›Isabella‹ haben. Er tastete nach Batutis Leine. Sie war nicht mehr da! Warum, zum Teufel, hatte er seine Sicherheitsleine abgelegt? Egal, sie war verschwunden und damit basta. Über das Warum konnten sie sich später unterhalten. Eilig löste Hasard das Ende der Sicherheitsleine von seiner Brust, hob den Körper Batutis ein wenig an und schlang es ihm mehrmals unter den Armen hindurch. Dann band er es fest. Nicht mit einem Slipknoten diesmal, sondern mit einem soliden Stek, der jeder Belastung gewachsen war. Er ließ zwei Yards Lose und schlang sich die Leine dreimal um das linke Handgelenk. Nicht sehr sicher, das Ganze, aber zumindest würde er sich im Notfall rasch lösen können. Ein paar Sekunden blickte er in das Gesicht des bewußtlosen Batuti und überlegte, ob er ihn lieber aufwecken sollte. Vielleicht reichten ein paar kräftige Schläge ins Gesicht? Nein, lieber nicht. Er würde mindestens benommen bleiben, und bei den Bärenkräften des Negers war das ein äußerst gefährlicher Zustand. Er mußte vor allem darauf achten, daß Batutis Kopf nicht unter Wasser geriet. »Ho, ›Isabella‹!« rief er leise zu dem dreißig Yards entfernt liegenden Schiff hinüber. Und seine Männer waren auf Draht. Und wachsam. »Wer ist da?« hörte er eine Stimme rufen. Niemand zeigte sich am Schanzkleid des Achterkastells. »Killigrew! Erkennst du denn meine Stimme nicht?« rief er wütend. »Jetzt schon«, sagte der Mann auf der ›Isabella‹, »Alles klar, Sir?« »Batuti ist verwundet!« rief Hasard zurück. »Wartet auf mein Kommando und ...« 39
»Soll ich kommen und ihn holen?« Jetzt erkannte Hasard die Stimme Blackys, und kurz darauf tauchte sein Kopf über dem Schanzkleid auf. »Nein. Du sollst mir nur zuhören, verdammt noch mal!« »Ave, aye, Sir.« »Schick ein paar Männer zur Kuhl und laß sie vorsichtig die Lose einholen. Wenn ich das Kommando gebe, zieht uns herein, und zwar sehr plötzlich. Verstanden?« »Verstanden!« Es war eine Heidenarbeit, den schweren Körper des bewußtlosen Batuti auf die Bordwand zu stemmen. Hasard fühlte, wie die Lose langsam eingeholt wurde, bis die Leine straff war. Er ließ sich mit den Beinen voran ins Wasser gleiten, ohne Batuti loszulassen. Und dann folgte der kritischste Teil: Er mußte den Bewußtlosen ins Wasser bringen, ohne daß sein Kopf untertauchte. Vorsichtig drehte er ihn herum, bis die Beine im Wasser hingen, dann packte er ihn um den Leib und zog. Er wußte sofort, daß er es nicht schaffen würde. Der riesige Neger war einfach zu schwer, als daß er ihn halten konnte. Batuti klatschte ins Wasser und riß ihn selbst mit hinunter. Die eisige Kälte und das Erstickungsgefühl holten Batuti aus seiner Bewußtlosigkeit. Er begann, wild um sich zu schlagen und drückte Hasard tief unter Wasser. Als er an die Oberfläche tauchte, hörte er Batutis wütenden Schrei. »Zieht!« brüllte er zur ›Isabella‹ hinüber, bevor er wieder unter Wasser gedrückt wurde. In derselben Sekunde spürte er einen harten Ruck, der ihm fast den linken Arm aus dem Gelenk riß. Batuti brüllte wie am Spieß, als er halb unter, halb über Wasser auf die ›Isabella‹ zu geschleift wurde. Mit beiden Händen packte er das Seil, das um seine Brust geschlungen war, und Hasard befürchtete, daß es dem bärenstarken Kerl 40
sogar gelingen könnte, es loszureißen. Aber er hatte genug eigene Sorgen. Auch er legte den größten Teil der Strecke unter Wasser zurück und tauchte gerade oft genug an die Oberfläche, um rasch Luft holen zu können. Die Spritzer, die oft dicht neben ihm aus dem Wasser schlugen, schienen ihn nichts anzugehen, und das wütende Feuer von den Ufern und von Bord beider Galeonen hörte er kaum. Einmal, als er wieder zum Luftschnappen die Oberfläche durchbrach, erkannte er keine drei Yards entfernt das Beiboot, der ›Marygold‹. Aber auch darüber dachte er im Augenblick nicht weiter nach. Plötzlich sah er dicht vor sich die Bordwand der ›Isabella‹, und im selben Augenblick wurde ihm fast der Arm aus dem Gelenk gekugelt. Wie ein Fisch an der Leine hing er drei, vier Sekunden zwischen Wasser und Geschützpforte, als das Gewicht Batutis zum Tragen kam. Sechs Männer waren notwendig, sie beide heraufzuziehen. Hasard sackte zusammen, als er die festen Decksplanken unter seinen Füßen spürte. Jemand warf eine Decke über ihn, und Hasard hatte den Wunsch, ein paar Stunden hier liegen zu bleiben und nur die Wärme zu genießen, die in seine erstarrten Glieder drang. »Alles in Ordnung, Sir?« Er öffnete die Augen und blickte in das besorgte Gesicht seines Bootsmanns Ben Brighton, der sich über ihn beugte. »Wie geht’s Batuti?« fragte Hasard und richtete sich auf. »Den haben wir ein bißchen schlafen geschickt.« Ben grinste etwas verlegen und blies sich über die Knöchel. »Anders konnten wir ihn nicht zur Ruhe bringen.« Hasard warf einen Blick auf den Neger, der reglos an Deck lag, ebenfalls mit einer Decke zugedeckt. »Der Kutscher soll sich um ihn kümmern«, sagte er und stand auf. »Komm mit, Ben.« Er wickelte die Decke fest um sich und ging, gefolgt von Ben 41
Brighton, in seine Kammer im Achterkastell. Er zerrte sich die nasse Hose vom Körper und begann sich abzufrottieren. »Während ihr an der Sperre wart ...« begann Ben Brighton. »Später«, unterbrach ihn Hasard. »Zunächst brauche ich einen großen Whisky. Du weißt ja, wo die Flasche steht.« Ben Brighton trat zu dem kleinen Wandschrank und holte die Whiskyflasche und ein Glas heraus. Hasard nahm nur die Flasche, setzte sie an den Mund und nahm einen tiefen Zug. Wohlig spürte er, wie der hochprozentige Alkohol in seinem Magen brannte und sich die Wärme durch den ganzen Körper ausbreitete. »So, jetzt kannst du reden«, sagte er, drückte Ben Brighton die Flasche in die Hand, trat zu einer Truhe und nahm trockene Sachen heraus. Während er sich anzog, berichtete Ben Brighton, daß Kapitän Drake etwas mißgestimmt gewesen sei, als er erfahren habe, daß Kapitän Killigrew zu den versenkten Booten geschwommen sei. »Ich habe ihm doch Bescheid sagen lassen.« Hasard zog sich gerade das frische Hemd über den Kopf und brauchte sich sein Grinsen deshalb nicht zu verkneifen. »Ich habe das Gefühl, Kapitän Drake wäre gerne vorher darüber informiert worden.« Hasard zog eine Jacke aus dickem, blauem Wollstoff über. »Gut, dann informiere ihn jetzt, daß ich das Feuer auf die Sperre in fünf Minuten wieder aufnehmen werde.« »Ich habe den Eindruck, daß Kapitän Drake bereits andere Dispositionen getroffen hat.« Ben Brighton war als Bootsmann sozusagen der Erste Offizier der ›Isabella‹ und hatte sich im Umgang mit Gentlemen einen kleinen Vorrat von Vokabeln angeeignet, die im Vorschiff sonst nicht üblich waren. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« fuhr Hasard ihn an. Er saß auf der Truhe und zog knielange Seestiefel an. 42
»Wollte ich ja, Sir. Aber Sie wollten erst einen Whisky ...« »Laß das und komm endlich zur Sache.« Hasard winkte ungeduldig ab. »Also, was hat Kapitän Drake vor?« »Er ist der Ansicht, daß es unsinnig sei, mit den beiden Dreipfündern auf die Sperre zu schießen.« »Und was hat er ...« »Kapitän Drake meint«, fuhr Ben Brighton mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit fort, ohne sich von dem Einwurf Hasards stören zu lassen, »daß die Vierpfünder dafür besser geeignet seien.« »Das weiß jch selbst, du Hornochse. Aber wie sollen wir die Vierpfünder ...« »Einmal wegen der größeren Feuerkraft, zweitens wegen der besseren Wirkung, und außerdem sind die Männer im Batteriedeck nicht so dem feindlichen Feuer ausgesetzt wie an den Drehbassen.« »Himmelarsch, das weiß ich selbst!« Hasard schlug mit der Faust auf den kleinen, von Seekarten und Schreibzeug bedeckten Tisch. Es war ein Glück, daß das Tintenfaß kardanisch aufgehängt war, sonst hätte es eine größere Überschwemmung gegeben. »Ich habe dich gefragt, wie wir das hinkriegen sollen! Außerdem sind wir mit den Kugeln für die Vierpfünder ziemlich am Ende.« Ben Brighton nickte in seiner ruhigen Art, die oft herausfordernd und aufreizend wirkte. »Noch über einhundertzwanzig Schuß, also etwas mehr als zehn für jede Kanone.« »Na also.« Hasard griff nach seiner Segeltuchjacke. »Ich werde sofort mal mit Kapitän Drake ...« »Deshalb will er es ja auch mit der ›Marygold‹ tun«, sagte Ben Brighton. »Die sind schon seit einer halben Stunde dabei, einen Heckanker auszubringen, mit dem sie die Galeone quer zum Strom ziehen können.« Deshalb also das Boot, dachte Hasard. Drake ließ den 43
Heckanker der ›Marygold‹ mit dem Beiboot ein Stück stromauf ausbringen. Dann würde er das Heck herumholen lassen, bis es quer zum Strom lag und konnte so mit voller Breitseite auf die Sperre feuern. »Komm mit, Ben.« Er war schon aus der Tür und lief den Niedergang zum Achterkastell hoch. Durch das Fernrohr sah er, wie das Beiboot der ›Marygold‹ längsseits vertäut wurde. Die Iren schossen Störfeuer, als die Männer, die den Anker ausgebracht hatten, von ihren Kameraden durch die Stückpforten an Bord zurückgeholt wurden. Ein Dutzend anderer Männer stemmte sich gegen die Speichen des Bratspills auf dem Achterkastell der ›Marygold‹ und war dabei, das Heck herumzuholen. Der Schiffsrumpf lag jetzt schon fast diagonal in der Strömung. Hasard blickte zu dem zerschossenen Mittelteil der Sperre hinüber. Das Fischerboot, von dessen Steinlast er beinahe erdrückt worden wäre, streckte seine zerfetzte Bordwand fast diagonal gen Himmel. Hasard schaute zu den Sternen hoch. Es mußte fast Mitternacht sein. Sie konnten mit etwa einer halben Stunde Stau rechnen, dann kippte der Strom, und das Wasser begann wieder aufzulaufen. Kapitän Drake würde sich beeilen müssen, dachte der Seewolf.
5. Die Männer am Bratspill der ›Marygold‹ wußten es auch, sie spürten es sogar am meisten. »Schneller, ihr faulen Säcke!« Der Profos der ›Marygold‹, Edwin Carberry, war genau der richtige Mann, um die Männer anzutreiben. 44
»Ihr glaubt wohl, ihr seid auf einer Erholungsreise, ihr Affenärsche?« Stöhnend legten sich die Männer noch stärker in die Speichen des Bratspills, um die schwere Ankertrosse Zoll um Zoll hereinzuholen. Der Ebbstrom war merklich schwächer geworden. Dafür aber hatte der Wind aufgefrischt und fand in dem hoch aufragenden Achterkastell des Schiffes eine breite Angriffsfläche, um die Anstrengungen der Männer zu erschweren. Sie keuchten und stöhnten, und immer wieder glitt einer auf dem glatten Deck aus und stürzte in die Speichen. Manchmal kostete es ihre ganze Kraft, nur um zu verhindern, daß Wind und Strom das Heck wieder zurückdrückten. »Weiter, Jungens, weiter!« Der Profos wußte genau, daß sie am Ende ihrer Kraft waren. Er packte selbst zu, als einer der Männer wieder ausglitt und auf Deck sank. Vor allen Dingen mußten sie verhindern, daß die mühsam eingeholten Yards der Trosse wieder ausrauschten. Die Männer würden nicht die Kraft haben, sie aufzuhalten. Und völlig unmöglich war es, sie noch einmal von vorn anfangen zu lassen. Der dicke, waagerechte Eichenbaum des Spills drehte sich knarrend in seinen Lagern. Wieder wurden ein paar Zoll der Trosse hereingeholt, und der Profos wunderte sich, woher die Männer plötzlich die neue Kraftreserve hatten. Er warf einen raschen Blick zur Seite und sah einen mittelgroßen, untersetzten Mann am Schanzkleid lehnen Kapitän Francis Drake. Es war keine Augendienerei, wenn die Männer sich jetzt mit letzter Kraft ins Zeug legten, wenn der Profos sie anschrie, ihr Bestes zu geben. Sie taten es, weil dieser Mann ein wirklicher Führer war, weil er die Qualitäten und die unerklärliche Ausstrahlung besaß, die Respekt, Gehorsam und Zuneigung hervorrufen. 45
Schweigend stand Francis Drake am Schanzkleid und blickte die schwer arbeitenden Männer an, und jeder von ihnen hatte das Gefühl, daß er es war, den der Kapitän ansah, und daß das eiserne Wollen dieses Mannes auf ihn übersprang und ihn zu einer neuen Höchstleistung befähigte. Dabei war Francis Drake alles andere als eine imponierende Erscheinung. In der dicken Jacke wirkte seine mittelgroße, untersetzte Gestalt fast plump, sein rundes Gesicht von einem gesunden, fast bäuerlich wirkenden Rot, und eigentlich war es nur der Blick der grauen Augen, die einen wirklichen Herrn verrieten. Er wandte den Kopf und blickte zu der Sperre hinüber, die jetzt fast parallel mit der Backbordseite des Schiffes lag. »Noch vier oder fünf Yards, Jungens, dann habt ihr es geschafft.« Er stieß sich von dem Schanzkleid ab und ging ins Batteriedeck. »Ihr habt gehört, was der Kapitän gesagt hat«, hörte er die Stimme des Profos über das Deck schallen. »Ihr werdet doch nicht vor lächerlichen fünf Yards Trosse schlappmachen, was, wie?« Auch bei den Kanonen leisteten die Männer der ›Marygold‹ Schwerstarbeit. Der Schußwinkel vom tiefer gelegenen Batteriedeck war zwar weitaus kleiner als der vom Achterkastell, auf dem die Drehbassen standen, aber er war immer noch zu hoch, um die nur etwas über zehn Yards entfernte Sperre unter Beschuß nehmen zu können. Zwölf, dreizehn Männer waren dabei, schwere Keile unter die Schwanzenden der Lafetten zu treiben, damit der Schußwinkel niedriger wurde. Ein peitschender Knall hallte durch das enge Deck, als eine der schweren Spaken, mit denen die Männer das Lafettenende hochwuchten wollten, zerbrach. Durch das Gewicht des schweren Bronzerohrs krachte die Lafette mit voller Wucht auf einen gerade angesetzten Eichenholzkeil und trieb ihn wie ein 46
Geschoß quer über das Deck. Der Keil wirbelte dicht am Kopf des gerade eintretenden Francis Drake vorbei und prallte einem Mann auf der anderen Seite des Decks gegen die Schulter. Der Mann schrie auf, als er von der Wucht des Aufpralls gegen eine der Steuerbordkanonen geschleudert wurde und mit gebrochenem Schultergelenk zu Boden ging. Francis Drake war einer der ersten, die sich um ihn kümmerten. »Laß mal sehen, mein Junge«, sagte er, kniete sich neben den Verletzten und tastete vorsichtig mit seinen überraschend schmalen und feingliedrigen Fingern über die Schulter des Mannes. Die Enden des gebrochenen Knochens waren durch Haut und Muskel deutlich zu spüren. Er richtete sich auf. »Bringt ihn nach vorn«, sagte er zu einem der Männer, und als ein zweiter ihm helfen wollte, hielt er ihn zurück. »Nur einer. Wir können hier jetzt keinen Mann entbehren.« Er half dem Verletzten auf die Beine und sagte zu dem anderen Mann: »Mac Pellew soll sich um ihn kümmern. Und kippt ihn ordentlich voll Whisky, bevor ihr den Knochen geradestellt.« Er wandte sich um und starrte die Männer an, die ihre Arbeit unterbrochen hatten und erschöpft, fast etwas neidisch ihrem verletzten Kameraden nachblickten, der sich jetzt ausruhen konnte, mit einem großen Pott Whisky im Bauch. »Was gibt’s denn da zu glotzen?« fuhr Drake sie an. »Weitermachen! Oder glaubt ihr, die Arbeit erledigt sich von selbst?« Die Männer schoben die schweren Spaken unter das Lafettenende der mittleren Kanone, hebelten sie über kurze Kloben in die Höhe, und dann hallten die Schläge der schweren Hämmer, die die Keile zwischen Decksplanken und Lafette trieben. Natürlich war die Aktivität an Bord der ›Marygold‹ nicht 47
unbeobachtet geblieben. Die Iren, die an beiden Ufern des Blackwater lagen, hatten sofort das Feuer eröffnet, als das Beiboot zu Wasser gelassen wurde und von der ›Marygold‹ wegpullte. Aber die einfachen Bauern und Fischer konnten nicht die richtigen Schlüsse aus dem Manöver ziehen. Sie sahen nur Aktivität und ballerten los, so wie sie auf alles schossen, was sich bei den Engländern bewegte. Doch die Männer des »Hauptquartiers« sahen das Boot ebenfalls und zogen die richtigen Schlüsse. Es waren ein halbes Dutzend Iren und Kapitäne der versenkten spanischen Karavellen, die auf einer Hügelkuppe am linken Ufer des Blackwater saßen und alle Vorgänge bei der Sperre und an Bord der englischen Schiffe genau beobachteten. Als das Boot querab von der ›Marygold‹ in die Flußmitte pullte, gelangten nur zwei oder drei von ihnen zu der richtigen Schlußfolgerung. Aber als sie durch ihre Fernrohre sahen, wie mehrere Männer einen schweren Gegenstand auf das Dollbord wuchteten und dieser platschend ins Wasser fiel, waren sich nicht nur die Seeleute unter ihnen klar, was die verdammten Engländer vorhatten. Und sie beschlossen sofort, etwas dagegen zu unternehmen. »Boot Backbord voraus!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. »Nein - ein Floß!« »Was ist es denn nun, ein Boot oder ein Floß?« rief der Seewolf zurück. Er hatte dem Kleinen immer gepredigt, seine Meldungen kurz, knapp und präzise abzugeben. »Beides, Sir. Ein Boot und ein Floß. Ich meine, ein Boot mit einem Floß im Schlepp. Und sie pullen auf die Flußmitte zu, in unsere Richtung.« Was im Klartext heißen sollte, daß sie vom Ufer her diagonal auf die ›Isabella‹ zuhielten. Aber das war ein Begriff, den der junge Dan noch nicht kannte. Hasard zog das Fernglas aus und setzte es an sein rechtes 48
Auge. Vier Männer saßen in einem ziemlich großen Ruderboot und pullten es mit raschen, harten Schlägen diagonal zur Flußmitte. Am Heck des Bootes, mit einer ziemlich kurzen Leine vertäut, schwabberte ein Floß - eigentlich nur ein paar zusammengenagelte Stämme, höchstens drei bis vier Yards lang und zwei Yards breit, schätzte Hasard. Und auf dem Floß ... »Zwei Fässer und eine Kiste auf dem Floß!« schrie Dan O’Flynn herunter. »Pulver, schätze ich!« »Du sollst nicht schätzen und nicht raten, sondern nur melden, was du wirklich siehst, Dan!« Selbst in einer Situation wie dieser vergaß es Hasard nicht, seine Männer auf Fehler hinzuweisen oder ihnen seemännisch weiterzuhelfen. Dabei hatte der Junge wahrscheinlich recht. Die beiden kleinen Fässer, die auf dem Floß festgezurrt waren, hatten Größe und Form spanischer Pulverfässer. Und wahrscheinlich war auch die etwa ein halbes Kubikyard große Kiste mit Pulver gefüllt. Hasard setzte das Fernrohr ab und runzelte die Brauen. Er ahnte, was die Iren vorhatten. Das heißt, diese Idee stammte wahrscheinlich von den spanischen »Beschützern« der Rebellen. Sie hatten von Anfang an beabsichtigt, die beiden englischen Schiffe zu kapern. Nachdem ihr erster Enterversuch blutig zurückgewiesen worden war, hatten sie sich darauf verlassen, die Besatzungen der blockierten Schiffe durch Hunger, Durst und ständige Angriffe der irischen Flankier zu entnerven und zur Aufgabe zu zwingen. Sie hatten nur eins vergessen: die sprichwörtliche Zähigkeit und Hartnäckigkeit der Engländer, das bulldoggenartige Festbeißen in einen einmal gefaßten Plan sowie den Mut und das seemännische Können der beiden Kapitäne der festgehaltenen Schiffe: Francis Drake und Philip Hasard 49
Killigrew. Vielleicht hatten sie es auch nicht erkennen wollen, überlegte Hasard, als er das Fernrohr wieder ans Auge setzte. Und das war schließlich auch verständlich. Da drüben hockten einige spanische Kapitäne, denen sie ihre Schiffe unter dem Hintern weggeschossen hatten. Er konnte sich den Empfang in Sevilla vorstellen, wenn sie - sozusagen - zu Fuß dort eintrafen. Sie wollten wenigstens zwei Prisen mit nach Hause bringen. Deshalb die Sperre, mit der sie die ›Marygold‹ und die ›Isabella‹ zur Aufgabe zwingen wollten. Aber inzwischen schienen sie erkannt zu haben, daß der Ausgang dieses Unternehmens höchst zweifelhaft geworden war. Sie hatten erkannt, daß die Engländer alles versuchen würden, um die Falle aufzubrechen. Der Beschuß mit den Drehbassen der ›Isabella‹ und die teilweise Zerstörung des Verbands hatten eine erste Bresche geschlagen. Wenn die ›Marygold‹ jetzt ihre Breitseite einsetzte, bestand durchaus die Möglichkeit, daß die Sperre völlig zerschlagen wurde und die Engländer, wenn auch mit etwas angeschrammtem Kiel, entwischen würden. Wenn sie schon nicht mit zwei Prisen heimkehren konnten so versuchte Hasard den Überlegungen seiner spanischen Gegner zu folgen - wollten sie doch wenigstens melden können, daß auch die Schiffe des gefürchteten ›El Draque‹ vernichtet worden wären. »Floß wird losgeworfen!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. Auf der ›Marygold‹ hatten sie das Manöver der Iren ebenfalls bemerkt und richtig gedeutet. Die Drehbasse im Bug der Galeone dröhnte, und Hasard sah die Kugel drei Yards vor dem Floß ins Wasser klatschen. »Aufhören!« Sein Ruf wurde übertönt vom Dröhnen des Dreipfünders auf dem Achterkastell der ›Marygold‹. Die Kugel schlug so nah neben dem Floß ein, daß es sich hart nach Backbord überlegte 50
und fast gekentert wäre. »Aufhören mit Schießen!« brüllte Hasard noch einmal zur ›Marygold‹ hinüber. »Was wollen Sie denn, Killigrew?« Francis Drake stand am Schanzkleid seines Schiffes, die Hände in die Hüften gestemmt, und Hasard konnten den harten, befehlenden Blick der grauen Augen fast körperlich spüren. »Soll ich etwa warten, bis die Burschen das Ding mit einem Musketenschuß zünden, wenn es genau an meiner Bordwand liegt?« »Es reicht jetzt schon, um beide Schiffe zu beschädigen«, sagte Hasard. »Das weiß ich selbst! Aber lieber verliere ich ein bißchen Takelage als daß ...« Wieder dröhnte der Schuß einer Drehbasse. Das Floß wurde von der Schockwelle leicht angehoben und platschte erst Sekunden später wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. »Mit Schäden an der Takelage kommen wir von hier nicht weg!« rief Hasard zur ›Marygold‹ hinüber. »Wenn wir einem spanischen Verband vor die Rohre laufen ...« »Mister Killigrew, denken Sie daran, daß Sie bei mir gelernt haben, wie man Schiffe führt, und nicht ich bei Ihnen!« Die nervliche Belastung wirkte sich jetzt auch bei Drake aus. Normalerweise war er durchaus dafür, daß beide Kapitäne auch ihren eigenen Kopf hatten, eigene Ideen entwickelten und nicht bloße Jasager und Befehlsempfänger waren. »Aber wenn Sie wieder einmal klüger sein wollen als ich, dann reden Sie. Was schlagen Sie vor?« »Ich würde den Spieß umdrehen und das Pulver dem Gegner zu kosten geben!« rief Hasard zur ›Marygold‹ hinüber. »Wenn wir beide Ufer mit den Drehbassen und allen Musketen unter Dauerfeuer nehmen, daß die Iren keinen gezielten Schuß auf die Pulverfässer abgeben können ...« »Das ist doch Unsinn!« unterbrach Drake ärgerlich. »Eben haben Sie mir erklärt, daß wir uns keinen ...« 51
Von beiden Ufern krachten die ersten Schüsse auf das Floß mit den Pulverfässern. Drake mußte lauter sprechen, um verstanden zu werden. »Die Explosion wäre doch noch erheblich näher, wenn Sie das Zeug auf der Sperre hochgehen lassen wollen.« »Das hatte ich auch nicht vor!« rief Hasard zurück. »Was denn?« »Ich habe ein Stück weiter gedacht, an das Auslaufen, Sir.« »Sie sind ein Optimist, Mister Killigrew!« »Nur selbstsicher, Sir! Wenn wir nicht fest mit einem Erfolg rechneten, könnten wir es doch gleich lassen, nicht wahr?« Drake schenkte sich eine Antwort. Hasard fuhr fort: »Ich meinte, wenn wir durchbrechen, werden uns die Iren aus lauter Wut mit allen Rohren Zunder geben. Es wäre gut, - wenn wir wenigstens von einer Seite keinen Beschuß erhielten.« »Verstehe!« rief Drake. »Sie müssen doch einsehen ...« »Ich sagte Ihnen, ich habe verstanden. Lassen Sie mich eine Minute nachdenken.« »Aye, aye, Sir.« Drake brauchte nur eine halbe Minute. »Ich sehe durchaus die Vorteile!« rief er dann zur ›Isabella‹ herüber. »Aber ich sehe noch mehr Risiken und Gefahren. Wenn Sie Ihr Vorhaben genau durchdacht haben, können Sie es meinetwegen versuchen.« »Aye, aye, Sir. Lassen Sie ab sofort auf beide Uferstellungen feuern.«
6. Das Musketenfeuer der Iren war stärker geworden, manche der Einschläge lagen schon verdammt nah bei dem Floß. 52
»Ben!« rief Hasard zum Hauptdeck. »Hier, Sir.« Ben Brighton stand bereits hinter ihm. Er hatte einen sechsten Sinn dafür, wann und wo er gebraucht wurde. »Augenblick, Ben.« Hasard trat an die Balustrade und rief ins Hauptdeck hinunter. »Dauerfeuer auf die Uferstellungen, Ferris! Sorg dafür, daß keiner von den Iren den Kopf aus dem Dreck hebt!« »Aye, aye, Sir«, antwortete der Schiffszimmermann. Und schon dröhnte seine Stimme los. »Habt ihr gehört, was der Kapitän befohlen hat, ihr Hundesöhne? Bewegt euch gefälligst, oder ich ziehe euch ...« r Was er mit ihnen tun würde, erfuhren die Männer nicht mehr, weil in diesem Augenblick ein Dutzend Musketen gleichzeitig losdonnerten. »Hör zu, Ben.« Hasard mußte wieder schreien, um sich durch das Krachen der Schüsse verständlich zu machen. »Wir müssen das Floß mit den Pulverfässern ans linke Ufer lotsen. Am besten unter den überhängenden Felsen dort vorn. Siehst du, was ich meine?« Ben Brighton sagte: »Aye, aye«, und kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Und wie willst du das Ding da hinkriegen?« »Ich werde es ans Ufer schießen. Das heißt, nicht ich, sondern Al Conroy.« Ben Brighton starrten ihn ein paar Sekunden lang verblüfft an, bis sein etwas langsam arbeitendes Gehirn begriff, was der Kapitän meinte. Er setzte zu einem Grinsen an, aber es blieb bei dem Ansatz. »Und wenn die Iren das Ding in die Luft jagen?« fragte er besorgt. »Sie werden den Teufel tun. Falls sie nicht lebensmüde sind. Sowie die Ladung auf achtzig, hundert Yards heran ist, gehen sie selbst mit in die Luft.« »Aber noch ist es nicht auf hundert Yards heran«, wandte Ben 53
Brighton ein und warf einen raschen Blick auf das nähertreibende Floß. »Noch ist es knapp hundert Yards von der ›Isabella‹ entfernt.« Das Musketenfeuer der beiden Schiffe war ein regelmäßiges Stakkato geworden. Und dazwischen dröhnten die Schüsse der Drehbassen von ›Isabella‹ und ›Marygold‹. Aber selbst in diesem infernalischen Lärm war deutlich die Stimme von Ferris Tucker zu hören, der den Männern zuschrie, schneller nachzuladen und sie mit sämtlichen Strafen bedrohte, die das Leben an Bord, an Land oder in der Hölle bereit hatte. »Wir müssen sehen, daß wir das Floß in Feuerlee bekommen«, sagte Hasard und lief zum Niedergang. »Schick Conroy zu mir auf das Bugkastell.« Aber Ben Brighton brauchte ihn nicht zu suchen. Er war bereits bei der Bugdrehbasse und blickte Hasard erwartungsvoll an, als dieser den Niedergang hochenterte. »Soll ich das Floß absaufen lassen?« fragte er sofort. »Wenn ich eine Kugel auf den vorderen Querverband setze ...« »Ich habe etwas anderes mit dem Ding vor«, sagte Hasard und blickte auf Al Conroys verbundenen Arm. Die Lappen, mit denen der Kutscher sie umwickelt hatte, zeigten mehrere breite Blutflecken. »Wie geht’s deinem Arm, Al?« Al Conroy grinste, und sein Grinsen wirkte beinahe schuldbewußt, als ob man ihm vorwerfen könne, daß er nicht mehr voll einsatzfähig sei. »Zum Schießen reicht es, Sir. Aber das Laden müßte mir schon jemand abnahmen.« »Tu ich selbst«, sagte Hasard und warf einen raschen Blick auf die kleinen Vorräte an Pulver und Kugeln, die sich griffbereit neben der drehbaren Kanone befanden. »Also, paß auf. Wir müssen das Floß an unserer Steuerbordseite vorbei zum Ufer bringen. Verstanden?« Al Conroy nickte schweigend. Er hätte einiges dazu zu sagen gehabt, aber Conroy war ein Mann, der nur etwas sagte, wenn 54
man ihn ausdrücklich fragte. »Wir erledigen das so, wie wir als Kinder unsere Borkenschiffchen auf dem Mühlteich vorwärtsgebracht haben, wenn kein Wind war. Wir haben kleine Steine hinter ihr Heck geworfen, und die Wellen haben sie dann ein Stück vorwärtsgetrieben.« »Verstanden, Sir.« Al Conroy hatte zwar als Kind niemals Gelegenheit gehabt, mit Borkenschiffchen oder anderen Dingen zu spielen, an einem Mühlteich in Plymouth schon gar nicht, aber er begriff das Prinzip. »Ich werde also mit den Kugeln ...« Ein ohrenbetäubendes Krachen riß ihm den Satz entzwei. Die ›Marygold‹ hatte die erste Breitseite auf die Sperre abgefeuert. Drei schwere Gußkugeln fuhren in die Reste der Bordwand, zerfetzten sie und wirbelten die Trümmer hoch in die Luft. Das Dröhnen der Breitseite hatte die Männer an Bord und an Land so schockiert, daß mehrere Sekunden kein Schuß fiel. Es war so still, daß man sogar das Aufklatschen der Holz- und Steintrümmer im Wasser hörte. Doch dann röhrte Ferris Tucker: »Wollt ihr wohl schießen und nicht Maulaffen feilhalten, ihr Saftsäcke! Ihr denkt wohl, hier ist Kirmes, was?« Sofort setzte wieder das Feuer der Musketen ein. Mehrere Sekunden früher als auf der ›Marygold‹, stellte Hasard befriedigt fest. Und dann dröhnte die Drehbasse neben ihm. Ein Yard neben dem Floß sah Hasard die Kugel einschlagen. Das aufspritzende Wasser hob eine Ecke des Floßes leicht an, und wie auf einem Hang glitt es auf der Welle ein Stück voran. »Gut so, AI«, sagte Hasard ermunternd und begann, das Bronzerohr nachzuladen. Bevor er die Kanone wieder schußbereit hatte, dröhnten drei Schüsse von der ›Marygold‹. Sie fielen nicht als Salve, sondern in kurzen Abständen. Drake hatte befohlen, daß jeder 55
Vierpfünder sofort nach dem Laden feuern sollte, ohne auf die anderen zu warten, um die Schußfolge zu erhöhen. Eine Kugel nach der anderen verließ das Rohr der Drehbasse, und jede von ihnen landete einen Yard oder weniger vom Floß entfernt und trieb es immer weiter auf die Backbordseite der ›Isabella‹ zu. Es war jetzt nur noch knapp dreißig Yards entfernt querab vom Bug. Und nun begann die wirklich kritische Phase, wußte Hasard. Wenn jetzt einer der Iren die Nerven behielt und trotz des Dauerfeuers beider englischer Schiffe einen sorgfältig gezielten Schuß abgab, würde von der ›Isabella‹ nur noch Brennholz übrigbleiben. Wieder krachte die Drehbasse, und wieder wurde das Floß mit der tödlichen Ladung von der Einschlagwelle vorangetrieben. Zwanzig Yards querab. Al Conroy richtete das Rohr ein Yard hinter das langsam treibende Floß. Er mußte jetzt schon ziemlich steil feuern. »Letzter Schuß, Sir«, sagte er, »dann ist es außer Reichweite.« Er drückte ab. Hasard antwortete nicht. Er starrte auf das Floß, das jetzt knapp zehn Yards neben die ›Isabella‹ geschleudert worden war, nein, acht Yards, sieben, es trieb immer rascher auf die Bordwand zu. Das heißt, die Bordwand rückte auf das Floß zu. Während des Staus hatte der Wind das Heck der ›Isabella‹ in Richtung auf die Flußmündung gehalten. Jetzt begann die Flut aufzulaufen. Der Strömungsdruck war stärker als der Druck des Windes und ließ die Galeone langsam an ihrem Anker herumschwoien - genau auf das Floß mit den Pulverfässern zu. »Feuert, was aus den Rohren geht!« schrie Hasard ins Hauptdeck hinunter. Aber der Befehl war unnötig. Die Männer hatten selbst erkannt, um was es ging. Wenn jetzt eine einzige Kugel die 56
Pulverfässer traf ... Beide Breitseiten feuerten kurz hintereinander, als während der Drehung des Schiffes die gegnerischen Positionen sekundenlang ins Schußfeld gerieten. Und auch auf der ›Marygold‹ feuerten Drehbassen und Musketen noch rascher, um die Iren unten zu halten. Aber dennoch schossen sie immer wieder auf das Floß mit seiner Pulverladung. Es waren nur wild in die Gegend gefeuerte, ungezielte Schüsse, aber auch ein Zufallstreffer reichte, um die Pulverladung hochgehen zu lassen. »Hol dir jemand zum Laden und feuere auf die Stellungen der Iren.« Hasard riß sich die Jacke herunter. Aber bevor er sie abwerfen konnte, hörte er ein lautes Klatschen. Er sprang, die Jacke noch halb an, zum Schanzkleid und starrte aufs Wasser hinunter. Ein Mann tauchte hinter dem Floß auf und stieß es mit kräftigem Schwung von der Bordwand fort. Dann schwamm er ihm nach, hängte sich an seinen Rand und begann es mit energischen Beinstößen von der ›Isabella‹ weg zum linken Ufer zu treiben. »Bist du wahnsinnig geworden?« schrie Hasard ihm nach, ohne daran zu denken, daß er eben genau das gleiche vorgehabt hatte. Der Mann hinter dem Floß antwortete nicht. Er wandte nicht einmal den Kopf. Hinterher - falls es lebend zurückkehrte würde er behaupten, er hätte nichts gehört - wegen des Musketenfeuers und des Dröhnens der Vierpfünder der ›Marygold‹, die unaufhörlich den Steinwall hinter dem jetzt völlig zerschossenen Fischerboot beharkten. »Wer ist das?« rief Hasard zum Hauptdeck hinunter. Niemand antwortete. »Ich will wissen, welcher Idiot da ins Wasser gejumpt ist!« schrie er wütend. »Ben Brighton, Sir«, erwiderte Ferris Tucker widerwillig. 57
»Zielwechsel auf das linke Ufer!« Er war schon dabei, die Drehbasse nachzuladen. Die Männer von der Backbordseite huschten geduckt hinter das Steuerbordschanzkleid. Auch auf der ›Marygold‹ schienen sie gemerkt zu haben, was los war. Die Drehbasse im Bug feuerte auf die Stellungen der Iren, auf die Ben das Floß zusteuerte. Auch das Musketenfeuer konzentrierte sich jetzt fast völlig auf das linke Ufer. Immer noch fielen einzelne, ungezielte Schüsse der Iren. Als Hasard zum dritten Male nachlud, sagte Al Conroy: »Jetzt sind wir schon besser dran.« Das Floß war jetzt sechzig Yards querab voraus und dicht vor der überhängenden Klippe, auf der sich das Gros der Iren befand. »Wir schon, aber Ben noch nicht«, sagte Hasard hart. »Wenn die Iren einen Funken Grips haben, ballern sie nicht mehr auf das Floß«, sagte Al Conroy. »Ein Treffer wäre jetzt glatter Selbstmord.« »Das wird Ben trösten, wenn er zum Himmel auffährt.« Er hatte fertig geladen und statt wie vorher Al Conroy schießen zu lassen, feuerte er diesmal selbst und sah befriedigt, wie die einschlagende Kugel Steine, Dreck und abgefetzte Äste emporwirbelte. »Des Floß ist verschwunden«, sagte Al Conroy. »Das sehe ich auch.« Hasard griff mechanisch nach seinem Fernrohr und merkte erst jetzt, daß ihm die Jacke von den Schultern gerutscht und an Deck gefallen war. Seine Angst um Ben Brighton hatte ihn sogar die Kälte vergessen lassen. Er zog sich rasch an, nahm das Fernrohr aus der Jackentasche und blickte zu der überhängenden Uferklippe hinüber. Das Floß mußte unter der Klippe im tiefen Schlagschatten liegen. Jedenfalls war es nicht mehr zu sehen. »Dann ist Ben sicher schon auf dem Weg ...« Drüben fielen kurz hintereinander drei, vier Schüsse. Dann zerriß eine ungeheure Explosion die Nacht. Ein dicker, dunkler 58
Pilz aus Pulverqualm, Steintrümmern und hochgewirbelten Bäumen stand an der Stelle, wo eben noch die Klippe gewesen war. »Deckung!« schrie Hasard zum Hauptdeck hinunter und warf sich hinter das Schanzkleid, eine Sekunde, bevor der Segen herunterprasselte. Die wirklich schweren Brocken wurden glücklicherweise nicht so weit geschleudert, aber ein Haufen Kleinzeug klatschte wie ein Gewitterregen auf die ›Isabella‹ herunter. Einer der Männer auf der Kuhl stieß einen kurzen Schrei aus und kurz darauf einen saftigen Fluch. Dann war es still. Niemand sprach. Kein Schuß fiel mehr. Sogar das Feuer der Vierpfünder der ›Marygold‹ war verstummt. Hasard stand auf und blickte auf das von Steinen und Holztrümmern übersäte Deck hinunter. »Jemand verwundet?« »Smoky hat einen Ast an die Rübe gekriegt. Er wird’s überleben!« rief Ferris Tucker zurück. Hasard blickte zum Ufer hinüber. Die Klippe war verschwunden. An ihrer Stelle war jetzt eine kahle, helle Narbe im dunkel bewachsenen Ufer. »Armer Ben«, sagte Al Conroy leise und bekreuzigte sich. »Mist«, murmelte der Seewolf, aber es klang wie ein Amen. Er riß sich zusammen. Ben war tot, daran ließ sich nichts mehr ändern. »Warum schießt denn die ›Marygold‹ nicht mehr?« rief er und erkannte im selben Augenblick den Grund dafür. Es gab nichts mehr, worauf sie schießen konnte. Die auflaufende Flut hatte den Rest der Steinbarriere, die von der Ladung des Fischerbootes übriggeblieben war, bereits bedeckt. »Sieht nicht gut aus, Sir« sagte Al Conroy, der neben ihn getreten war und ebenfalls zu der Sperre hinüberblickte, die immer mehr von der Flut überspült wurde. 59
Hasard nickte schweigend und berechnete Fluthöhe und den Tiefgang der Galeonen. Es blieb eine Differenz von drei oder vier Fuß, und damit war die Barriere der Iren so effektiv, als ob sie nicht einen einzigen Schuß auf sie abgefeuert hätten. »Nein, es sieht wirklich nicht gut aus, Al«, sagte Hasard verbissen.
7. »Mister Killigrew!« Hasard fuhr aus seinem leichten Halbschlaf und trat ans Schanzkleid. Der Mond stand jetzt dicht über dem Horizont, eine riesige, blutrote Scheibe, vor der sich die Takelage der ›Marygold‹ wie ein zierliches Filigran abhob. »Ja, Sir?« rief er zur ›Marygold‹ hinüber, an deren Schanzkleid er die untersetzte Gestalt Kapitän Drakes erkannte, ein Teil der dunklen Filigrans vor der roten Scheibe des untergehenden Mondes. »Bei den Iren ist es verdächtig ruhig geworden!« rief Drake herüber. »Auch Iren müssen ab und zu mal schlafen«, rief Hasard zurück. Außerdem wird denen auch kalt sein, dachte der und zog fröstelnd die Jacke enger um sich. »Ich bin der Meinung ...« Zwei Schüsse krachten vom Ufer. Eine Kugel schlug mit dumpfem Laut in das Schanzkleid, das inzwischen mit Blei gespickt war wie ein Plumpudding mit Rosinen. »Sie sehen, die Herren sind noch da. Wir brauchen uns keineswegs um sie zu sorgen.« »Ich überlege mir, ob wir nicht ein Stück flußaufwärts kreuzen sollten!« rief Drake. »Und was soll das bringen?« »Zumindest wären wir für eine Weile aus der Schußlinie.« 60
»Für eine Weile. Bis die Iren nachgezogen sind. Und hier sind wir inzwischen mit der Lage vertraut. An einer anderen Stelle ...« »Verstehe!« rief Drake. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Vor allem besteht die Gefahr, daß die Iren dann eine zweite Sperre legen. Obgleich wir auch so hier wahrscheinlich nicht mehr herauskommen.« »Wir müßten morgen bei Ebbe noch einmal versuchen, die Steinsperre zu zerschießen«, sagte Hasard. »Wie sieht es bei Ihnen mit Munition aus?« »Etwas über hundert Kugeln für die Vierpfünder!« rief Drake. »Ich habe auch nur noch knapp über hundert. Die brauchen wir als Reserve, falls wir unterwegs irgendwelchen Spaniern vor die Rohre laufen.« »Zunächst einmal ist es wichtig, daß wir hier wegkommen!« rief Drake. »Von mir aus ohne eine einzige Kugel und ohne einen Fingerhut Pulver.« »Vielleicht hat die Flut die Steine teilweise abgeräumt!« rief Hasard. »Zumindest hat der Beschuß das Boot zerlegt, und das Zeug wird nicht mehr festgehalten.« »Sie sind immer ein Optimist, Killigrew.« Und bisher habe ich auch immer recht behalten. Aber das dachte er nur. »Wir könnten nach Einsetzen der Ebbe vielleicht durch Taucher ein Scherbrett hinter den Steinen ausbringen lassen und es mit dem Bratspill hereinziehen.« Der Gedanke war ihm eben erst gekommen. Aber er gefiel ihm immer mehr. Ja, so mußte es gehen. Ein breites Brett an zwei Trossen, mit dem man Schicht um Schicht abräumt wie mit einer breiten Schaufel. »Guter Einfall, Mister Killigrew«, sagte auch Drake, und seine Stimme klang wieder optimistischer. »In drei Stunden setzt die Ebbe ein. Also warten wir ab.« Warten. Das Schlimmste, was es in einer solchen Situation gibt. Warten angesichts des Ungewissen, ständig gemartert von 61
der Frage, ob es gelingen wird, noch einmal zu entwischen, oder ob morgen der letzte Tag ihres Lebens sein wird. Hasard gab sich keinen Illusionen über ihr Schicksal hin, falls sie den Iren in die Hände fallen sollten. Die Spanier ließen ihre Gefangenen meistens am Leben. Nicht aus Humanität, sondern weil das riesige Reich billige Arbeitskräfte brauchte - Sklaven für die Hafengaleeren des Mutterlandes und für die Minen der südamerikanischen Kolonien, in denen die Menschen verreckten wie die Fliegen. Bei den Iren gab es jedoch keinen Mangel an Menschen, und für ihre einfache Landwirtschaftskultur brauchten sie keine Sklaven. Vor allem aber war ihr Haß auf die Engländer - auf alle Engländer - so fanatisch, daß solche Erwägungen überhaupt keine Rolle spielten. »Wir werden mit den Leichen unserer Feinde die Felder Irlands düngen«, hatte einer der Rebellenführer geschworen. »Dan!« rief er leise zum Mars hinauf. Der Junge antwortete nicht. Hasard sah ihn als ein dickes, unförmiges Bündel auf seinem Posten hocken. Er hatte sich in mehrere Decken gewickelt - wie eine Insektenlarve in ihren Kokon. »Dan!« rief Hasard noch einmal, so gedämpft, daß er die Männer an Deck nicht weckte, die ebenso wie Dan auf ihren Posten schliefen. Sollte der Junge schlafen. Bei der Dunkelheit gab es ohnehin nichts zu sehen. Auch nicht für die scharfen Raubvogelaugen Dan O’Flynns. »Soll ich dich ablösen?« fragte Hasard Al Conroy, der am Fockmast lehnte und in das Dunkel hinausstarrte. Al schüttelte den Kopf. »Ich könnte sowieso nicht schlafen.« Er deutete auf seinen verbundenen Oberarm. »Wie du meinst. Ich will mal sehen, ob heißer Whisky da ist. Ich lasse dir einen Becher herauf bringen.« Hasard stieg den Niedergang hinunter und ging über das 62
Hauptdeck. Er trat so behutsam wie möglich auf, um die Männer nicht zu wecken, die sich unter Mänteln und Decken zusammengerollt hatten und schliefen. Aber Hasard hatte das Gefühl, daß sie so todmüde und erschöpft waren, daß selbst mittlerer Kanonendonner sie nicht aufwecken würde. »Hasard?« Die Stimme von Ferris Tucker klang ungewohnt, fast fremd, als er den Seewolf leise ansprach. »Hast du die Wachen kontrolliert?« fragte Hasard ebenso leise. »Vor zehn Minuten oder so.« »Gut. Du solltest auch schlafen, Ferris.« »Vielleicht haben wir morgen eine Menge Zeit zum Schlafen«, sagte Ferris Tucker sachlich. »Vielleicht. Aber wenn nicht, dann brauchen wir morgen unsere ganze Kraft, um das zu verhindern. Also geh schlafen, ich übernehme inzwischen die Wache.« »Aye, aye, Sir.« Der Schiffszimmermann ging wieder auf seinen Platz beim Großmast, rollte sich in seine Decke und schlug den Jackenkragen hoch. Hasard ging zum Heckkastell, auf dem Batuti und Smoky Wache gingen. Beide trugen dicke Kopfverbände, und diese Gemeinsamkeit schien sie für die Wache zusammengeführt zu haben. Der riesige Neger grinste Hasard verlegen an, als er auf ihn zutrat. »Danke, daß haben Batuti gerettet, Sir. Tut mir leid, daß Batuti toben wie Gorilla mit Jagdpfeil im Hintern. War Kopf von Batuti nicht richtig, bißchen kaputt.« »Aber jetzt ist er wieder in Ordnung?« erkundigte sich Hasard. »Brummt noch bißchen wie Bienenstock, wenn Bär kommt zu klauen Honig, aber geht.« Hasard klopfte ihm auf die Schulter. Er mußte dazu etwas hochreichen, und das hatte er nur bei sehr wenigen Menschen 63
nötig. »Und was ist mit dir?« wandte er sich an Smoky. »Ist die Wunde zu?« Er deutete auf den Fetzen, den Smoky um den Kopf gewickelt trug, und der feucht glänzte. »Ist nur eine Beule, Sir.« Smoky grinste. »Brummt nur ein bißchen. Anscheinend ist Batutis Bär auch bei mir am Honig.« »Und was soll der Verband?« Hasard fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Ja, er war deutlich feucht. »Nur Wasser, Sir«, sagte Smoky, immer noch grinsend, und deutete auf die Pütz neben dem Besanmast. »Wenn es zu schlimm wird mit dem Brummen, mache ich mir den Lappen wieder etwas naß.« Trotz allem mußte Hasard grinsen. Diese Burschen sind einfach nicht unterzukriegen, dachte er, als er den Niedergang hinabstieg. Auch die Iren werden es nicht schaffen. Wir werden einen Weg finden, dachte er weiter, und er spürte plötzlich eine neue Energie, einen neuen Lebenswillen. Er war es seinen Männern schuldig, sie hier herauszubringen. Er ging über die Kuhl wieder nach vorn. Auch hier schliefen die Männer bei ihren Waffen. Bis auf die beiden Posten, die auf der Backbord- und Steuerbordseite bei den offenen Geschützpforten standen und auf das Wasser hinausstarrten. Er winkte ab, als einer der beiden - es war Gary Andrews ihn ansprechen wollte und deutete auf die schlafenden Männer. In der winzigen Kombüse war es dunkel. Aber in dem Herd glomm noch dunkelrot Holzglut, und aus dem Kessel, der an Ketten darüber hing, stieg der Duft von Whisky. »Kutscher?« rief Hasard leise. Keine Antwort. Wahrscheinlich würde er im Mannschaftsquartier bei den Verwundeten sein, überlegte Hasard. Er trat an den Herd, legte ein paar Holzkohlen auf die Glut und blies sie an, bis eine helle Flamme emporzüngelte. Er nahm einen der Zinnbecher von der langen Reihe der 64
Holzhaken, schöpfte ihn voll und nahm einen langen Zug des heißen Gebräus. Als er den Becher geleert hatte, füllte er ihn noch einmal aus dem Kessel und trat wieder auf das Hauptdeck. »Al!« rief er leise am Fuß des Niedergangs zum Bugkastell. »Sir?« »Hier ist eine Muck heißer Whisky für dich.« Er stellte den Becher beim Niedergang ab und ging ins Mannschaftsquartier. Ein dicker Mief stand in dem engen, fensterlosen Raum, in dem die Männer husteten. Verschlimmert wurde der Gestank durch die Mixturen, mit denen der Kutscher die Verwundeten behandelt hatte. Der Kutscher hockte neben dem Strohsack, auf dem Lewis Pattern lag. Auf seinem Kinn klebte angetrocknetes Blut, sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Er schien zu schlafen. »Wie geht es ihm?« fragte Hasard leise. »Den Umständen entsprechend.« Auch diese Redewendung hatte der Kutscher von seinem ehemaligen Brotherrn, dem berühmten Arzt Sir Freemont, abgelauscht. »Laß den Unfug. Ich verlange eine klare Antwort.« Hasard kniete neben den Verwundeten und zog die Decke zurück. Der Brustkorb war mit mehreren Lagen nicht mehr sauberer Lappen umwickelt. Die Blutung schien aufgehört zu haben. Aber Stirn und Gesicht Patterns glänzten vor Schweiß. Wundfieber. »Ich habe nichts, um das Fieber ‘runterzubringen«, sagte jetzt auch der Kutscher. »Das Loch in der Lunge heilt schon wieder zu. Und wenn er ein bißchen Speck verliert, schadet das weiter nichts. Aber das Fieber.« Er zuckte mit den Schultern. »Lewis sollte möglichst bald an Land, in richtige Pflege, dann würde er bestimmt ...« Ein lauter Schrei von oben. 65
Hasard konnte nichts verstehen, erkannte aber deutlich Dan O’Flynns überschnappende Stimme. Er stürzte aus dem stickigen Raum auf das Hauptdeck. »Was ist, Dan?« »Masten über der Kimm! Drei Schiffe. Wahrscheinlich Galeonen. Halten genau auf die Flußmündung zu.« Hasard hastete auf das Bugkastell, riß das Fernrohr aus der Tasche, richtete es auf den Horizont und suchte den Sektor jenseits der Flußmündung ab. Nichts. »Wo stehen die Schiffe, Dan?« rief er. »Vier bis fünf Strich Backbord voraus!« rief Dan O’Flynn zurück. Hasard richtete das Glas in die angegebene Richtung, und jetzt erkannte er ein paar dunkle Striche vor dem matten Sternenlicht am Horizont. Er mußte eine halbe Minute lang angestrengt zu ihnen hinüberblicken, um zu erkennen, daß es neun Striche waren, je drei enger beisammen. Drei Schiffe, höchstwahrscheinlich Spanier, die ihre irischen Bundesgenossen versorgen wollten. Engländer waren hier, abseits der normalen Routen zum Kontinent und zur Neuen Welt, kaum zu erwarten. Blieb nur die Frage, ob es sich nur um Frachtschiffe handelte, die den Iren Nachschub brachten, oder um Kriegsfahrzeuge. Er trat ans Schanzkleid und rief: »Ho, ›Marygold‹! Kapitän der ›Isabella‹ an Kapitän Drake!« »Aye, aye, Sir!« schallte er herüber. Kaum eine Minute später sah Hasard Francis Drake ans Schanzkleid des Achterkastells treten. »Was gibt’s, Mister Killigrew?« »Drei Dreimaster mit Kurs auf den Blackwater, Sir«, meldete Killigrew. Er war sicher, daß die Leute der ›Marygold‹ den Verband noch nicht entdeckt hatten. Aber wahrscheinlich gab es in ganz 66
England keinen Menschen, der so scharfe Raubvogelaugen hatte wie Dan O’Flynn. »Wie weit entfernt?« fragte Drake sachlich. »Fünfzehn Meilen, laufen mit halbem Wind.« Der Wind hatte während der Nacht noch weiter aufgefrischt und wehte aus West bis Nordwest. In zwei bis drei Stunden konnten die Schiffe vor der Mündung des Blackwater liegen. Und dann war die Falle endgültig zugeschnappt. »Spanier wahrscheinlich!« rief Drake. »Melden Sie, sobald Sie Typ und Nationalität feststellen können.« »Aye, aye, Sir.« Hasard legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Mars hoch. »Dan!« »Sir!« »Hast du mitgehört?« »Ich bin doch nicht taub.« »Du treibst es noch mal so weit, daß ich dir ...« »War nur ein Versprecher. Ich wollte sagen: alles gehört und verstanden - Sir!« Irgendwann würde er dieser frechen Rübe doch noch eine gehörige Lektion erteilen, dachte Hasard. »Gut. Also behalte die Schiffe genau im Auge. Und sobald du irgend etwas bemerkst, möchte ich sofort Meldung haben, verstanden?« »Geht klar.« »Dan!« »Wollte sagen: aye, aye, Sir.«
8. Eine Stunde schleppte ihre Sekunden. Hasard konnte sich nicht erinnern, daß ihm jemals die Zeit so lang geworden wäre 67
wie diese sechzig Minuten. Wie ein gefangenes Tier schritt er auf dem Bugkastell hin und her, blieb immer wieder am Schanzkleid stehen und starrte durch das Glas zu den drei heransegelnden Schiffen hinüber. »Es sind Galeonen«, hatte Dan O’Flynn vor einer knappen halben Stunde gemeldet, und Hasard verstand, daß seine Stimme triumphierend klang. Kurz darauf waren die Rümpfe der Schiffe auch vom Bugkastell aus zu sehen. Deutlich hoben sich die beiden für diese Schiffsform typischen hochgezogenen Kastelle vor dem hellen Sternenhimmel ab. Und Galeonen waren meistens Kriegsschiffe, keine Kauffahrer. Noch blieb die winzige Hoffnung, daß es Briten waren, vielleicht auch Franzosen, die hier nur ihre Wasser- oder Lebensmittelvorräte ergänzen wollten. Aber Hasard ahnte, daß die Chancen dafür eins zu tausend standen. Es war weiter nichts als der berühmte Strohhalm, an den man sich in der Not klammerte. Er stützte die Ellbogen auf das Schanzkleid und hielt das Fernrohr mit beiden Händen fest, um jedes Verwackeln oder Verzerren zu verhindern. Wie scharfe Scherenschnitte standen die drei Galeonen gegen den Sternenhimmel. Sie hatten volles Zeug gesetzt und die Rahen auf halben Wind gebraßt. Wenn der Wind mehr auf Norden drehte, würden sie kreuzen müssen. Hasard konzentrierte sich ganz auf den Bugspriet des vordersten Schiffes und da eigentlich auch nur für den freien Raum unter der weit aus dem Bug ragenden Spiere. Jetzt war ein Stern von mittlerem Helligkeitsgrad genau vor dem Bug der Galeone und in der Höhe, daß die obere Hälfte des Rumpfes ihn in ein paar Sekunden verdecken würde. Hasard hielt fast die Luft an vor Anspannung. Jetzt war die Spitze des Bugspriets auf der gleichen Höhe mit dem Stern. Und jetzt - er war sich nicht sicher, aber ihm war, als habe er eine knappe Sekunde lang, bevor der Bug des 68
Schiffes den Stern verdeckte, einen diffusen, kaum erkennbaren Schatten unter dem Bugspriet gesehen. Etwa den Schatten eines großen Holzkreuzes, wie es alle spanischen Kriegsschiffe unter ihrem Bugspriet führten. Er war fast sicher, daß es Spanier waren. Sie hatten also nicht einmal mehr den Strohhalm der Hoffnung. Aber fast sicher war nicht genug. Er beugte den Kopf zurück und wollte Dan O’Flynn anrufen, um ihn zu fragen, ob er die Kreuze erkennen könne. Aber er sah ein, daß eine solche Frage unsinnig war. Selbst die scharfen Augen des Jungen genügten nicht, um etwas zu sehen, das sogar durch sein Fernrohr kaum zu erkennen war. Aber wenn er die scharfen Augen des Jungen und die Kraft der optischen Linsen kombinierte? »Al.« Er trat auf Conroy zu und streckte ihm sein Fernrohr entgegen. »Klettere zu Dan hoch ...« Der Verband am rechten Arm Al Conroys erinnerte ihn daran, daß dieser Mann nicht in der Lage war, die steilen Wanten hinaufzuentern. »Schon gut.« Er lief den Niedergang hinab, sprang auf das Schanzkleid und enterte zum Mars hoch. Dan O’Flynn blickte ihn erstaunt und etwas erschrocken an, aber bevor er diese Empfindungen in Worte kleiden konnte, drückte Hasard ihm das Fernglas in die Hand und sagte ernst: »Jetzt hast du Gelegenheit zu zeigen, ob du deine Heuer wert bist. Junge. Ich muß wissen, ob die drei Galeonen Kreuze unter den Bugspriets führen oder nicht. Ich muß es genau wissen und sofort.« Selbst der vorlaute Dan wußte, daß jetzt keine Zeit zu irgendwelchen Spaßen war. Wortlos nahm er dem Kapitän das Fernrohr aus der Hand, zog es aus und richtete es auf den SeeSektor jenseits der Flußmündung. Hasard starrte ihn an, als ob sein Blick Dan dazu zwingen könnte, schneller etwas zu erkennen, und er spürte, daß er vor Ungeduld zitterte. 69
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Dan das Glas wieder absetzte und schweigend nickte. »Was ist? Hast du Kreuze erkannt oder nicht?« »An der ersten Galeone. Ich mußte warten, bis ihr Bug vor einen Stern lief und ...« »Ich weiß selbst, wie man so was macht.« Ungeduld und Enttäuschung ließen ihn ungerecht werden. Er sah es ein, als er wieder hinabenterte und an Deck sprang. Aber was soll’s? dachte er wütend, mich behandelt das Leben schließlich auch oft ungerecht. »Ho, ›Marygold‹! Kapitän der ›Isabella‹ an Kapitän Drake!« Francis Drake trat sofort an das Schanzkleid des Achterkastells, das ausgezogene Fernglas in der Hand. Auch drüben hatten sie die drei Schiffe keine Minute aus den Augen gelassen. »Anlaufende Schiffe sind Spanier!« rief Hasard zu dem anderen Schiff hinüber. »Positiv, Mister Killigrew?« »Absolut.« Drake antwortete nicht. Hasard wußte, daß er jetzt nachdachte. Natürlich hatte er längst einen Plan für eben diesen Fall. Aber jetzt, da dieser Plan von der reinen Theorie in die Praxis und in Aktion umgesetzt werden mußte, in Risiken und Gefahren für Männer und Schiffe, nahm er sich noch einmal eine halbe Minute Zeit, um längst Gedachtes noch einmal zu testen und auf Fehler zu kontrollieren. »Wir brechen aus!« rief er schließlich. »Sofort!« »Aye, aye.Sir!« Der Seewolf hatte auf diese Entscheidung gehofft. Es war auch sein Plan gewesen. Genau genommen war es die einzige Möglichkeit, falls sie überhaupt noch irgendwie aus dieser Falle heraus wollten. »Ferris! Alle Mann auf Stationen! Klar zum Ankeraufgehen!« »Aye, aye, Sir! Wollt ihr wohl laufen, ihr müden Hammel! 70
Glaubt ihr, heute sei Sonntag?« Ferris Tuckers dröhnender Baß schallte noch lauter als sonst über die Decks. Auch er, wie alle anderen Männer, spürte eine unendliche Erleichterung, daß sie endlich wieder etwas tun konnten, daß endlich wieder etwas geschah. Sie lachten und riefen einander zu, als sie die Wanten hinaufenterten und die Segel klarierten. Drüben auf der ›Marygold‹ waren sie schon dabei, den Heckanker einzuholen. Hasard sah, wie die Männer sich in die Speichen des Bratspills legten. Aber Drake ging es anscheinend nicht schnell genug. Die Klinge eines Enterbeils blitzte im fahlen Sternenlicht, und dann schien ein Ruck durch den Schiffsrumpf zu laufen, als die gekappte Trosse des Heckankers ins Wasser klatschte. Die auflaufende Flut drehte das Heck stromauf und den Bug auf die Stelle zu, an der sie eine Bresche in die Sperre geschossen hatten. Gleichzeitig wurde drüben der Buganker gehievt und aus dem Grund gebrochen. Die Männer an Deck arbeiteten wie besessen. Carberrys Stimme klang wie die eines gereizten Bullen. Es konnte klappen, überlegte Hasard, als er sah, wie drüben die Segel fallengelassen wurden und der achterliche Wind hineinfuhr. Es war jetzt kurz vor Tagesanbruch. Erst in einer halben Stunde oder etwas weniger würde der Gezeitenstrom kippen und die Ebbe einsetzen. Die Kugeln der ›Marygold‹ hatten die Reste des Fischerbootes völlig zertrümmert und den Steinballast bis zur Wasseroberfläche bei Ebbe abgetragen. Hasard wußte nicht genau, wie hoch der Tidenhub in der Mündung des Blackwater war, aber bestimmt nicht ausreichend, um ein Schiff mit dem Tiefgang einer Galeone unbeschadet über die Sperre zu lassen. Sie konnten nur hoffen, daß der Beschuß den Verband der Steine so weit gelockert hatte, daß von der auflaufenden Flut 71
noch ein paar Lagen abgeräumt worden waren. Die ›Marygold‹ nahm Fahrt auf und steuerte genau auf die Stelle zu, die sie gestern beschossen hatten. Drake ließ sich nicht einmal Zeit, vorher den Anker ganz einzuholen, sondern lief über ihn hinweg und zog ihn an Bord, als der Bug der ›Marygold‹ schon an der Sperre war. Hasard hielt den Atem an. Auch die Männer der ›Isabella‹ starrten schweigend zu dem anderen Schiff hinüber, dessen Schicksal sich jetzt, in diesen Sekunden entscheiden würde. Und mit ihm auch das Schicksal der ›Isabella‹ und ihrer Männer. Ein dumpfes Poltern dröhnte herüber, als ob jemand mit einem riesigen Hammer an ein gigantisches Faß schlüge. »Jesus Maria«, murmelte Pete Ballie, der Rudergänger der ›Isabella‹. Ein paar andere bekreuzigten sich. Und Blacky sagte laut und deutlich: »Scheiße!« Das Poltern dauerte zwei, drei Sekunden, und es waren die längsten Sekunden, die Hasard und die Männer der ›Isabella‹ jemals erlebt hatten. Aber die ›Marygold‹ lief nicht auf. Das Poltern wurde nicht zu einem berstenden Krachen, mit dem der Schiffsboden aufgerissen wurde. Noch ein letzter, dumpfer Schlag, ein leichtes Scharren, dann war es vorbei. Mit vollen Segeln glitt die ›Marygold‹ auf die Mündung des Blackwater zu. Begeisterte Jubelrufe von der ›Marygold‹ Und dann schrien auch die Männer der ›Isabella‹ ihren Triumph und ihre Erleichterung in die Nacht hinaus. Jetzt wurde es auch an den Ufern wieder lebendig. Die Iren, die sich während der letzten Stunden ziemlich ruhig verhalten hatten, kapierten, daß ihnen die schon sicher geglaubte Beute im letzten Augenblick doch noch entkam und feuerten wütend ihre Musketen auf das ablaufende Schiff. 72
»Hoch mit dem Anker!« rief Hasard. »Setzt Blinde, Fockund Vormarssegel!« Die Männer sprangen an die Geitaue und Brassen, die Segel fielen und bauschten sich, als der Wind einfiel. Langsam nahm die ›Isabella‹ Fahrt auf und unterstützte das Ausbrechen des Bugankers. Ferris Tucker beobachtete den Stand der Ankertrosse. Nach einigen Sekunden hob er die Hand und schrie: »Aus dem Grund!« Hasard ließ Großmarssegel und Besan setzen. Das Großsegel war restlos verbrannt, einen Ersatz hatten sie noch nicht anschlagen können. Hasard gab Pete Ballie am Kolderstock präzise Ruderanweisungen, und die ›Isabella‹ steuerte genau auf den Punkt zu, über den eben die ›Marygold‹ gelaufen war. Wieder ein paar Sekunden der Anspannung, als der Bug die Stelle erreichte, an der sie den Steinwall wußten. Aber die ›Isabella‹ kratzte nicht einmal mit dem Kiel an. Entweder hatte sie ein paar Zoll weniger Tiefgang als die ›Marygold‹, oder diese hatte ihr eine Passage freigeräumt. Wieder ertönte lautes, befreites Jubeln. »Wir haben es geschafft!« schrie Dan O’Flynn aus dem Mars. »Noch nicht«, sagte Hasard leise und blickte zu den drei spanischen Galeonen voraus, die genau auf sie zuhielten und sich von Minute zu Minute deutlicher abzeichneten. Von beiden Ufern ballerten die enttäuschten, wütenden Iren mit Musketen und Pistolen hinter der ablaufenden ›Isabella‹ her. Einer segelte sogar mit einem winzigen Boot auf sie zu, sah Hasard. Es war ein Boot mit einem löcherigen, altersschwachen Segel, wie es die Bauern benutzten, um ihre Produkte zum anderen Ufer oder zum Markt zu bringen. Ein einzelner Mann stand im Boot und schüttelte beide Fäuste. Vielleicht schrie er auch etwas hinter ihnen her. »Der möchte uns am liebsten mit bloßen Händen die 73
Bordwand zerschlagen«, sagte Blacky grinsend. Hasard wandte den Kopf und schaute zu der pathetischen Gestalt in dem winzigen Boot hinüber, bis eine leichte Biegung des Flusses sie verdeckte. Er lehnte sich an das Schanzkleid und blickte zurück auf die dunklen Wasser des Blackwater, des Flusses, der ihnen beinahe zum Schicksal geworden wäre. Hinter der flachen Bergkette im Nordosten stand ein erster, rötlicher Schimmer. Ein neuer Tag hatte begonnen.
9. Als die fahle Wintersonne über die Kimm stieg, wußte Hasard, daß sie einer Auseinandersetzung mit den drei Spaniern nicht ausweichen konnten. Die spanischen Galeonen waren schneller als sie und hatten ihnen den Weg ins offene Meer verlegt. »Je Schiffsseite acht Stückpforten!« rief Dan O’Flynn aus dem Mars. Also waren sie auch noch stärker bewaffnet als die beiden englischen Schiffe. Und bestimmt hatten sie sich noch nicht leergeschossen wie die ›Isabella‹ mit knapp zehn Kugeln für jeden ihren Vierpfünder. Und ihre Besatzungen waren nicht so erschöpft und ausgelaugt wie die Männer der beiden englischen Schiffe, die seit fast einer Woche kaum zur Ruhe gekommen waren. »Dons öffnen Stückpforten!« rief Dan O’Flynn. »Gut. Komm an Deck.« Von jetzt an gab es kaum etwas, das er vom Mars aus besser sehen konnte. Aber jeder Treffer am Mast konnte ihn wie einen reifen Apfel an Deck schütteln. »Aber ich könnte doch ...« »Du sollst ‘runterkommen, verdammt noch mal! Hier unten 74
wird jetzt jede Hand gebraucht!« Man brauchte ihm nicht unbedingt zu sagen, daß es hauptsächlich die Sorge um ihn war, die diesen Befehl veranlaßt hatte. »Aye, aye, Sir.« Mit der Betonung auf Sir. Und jede der betont langsamen Bewegungen war eine Demonstration des Widerwillens, mit der Dan dem Befehl Folge leistete. »Schiff klar zum Gefecht!« rief Hasard zum Hauptdeck hinunter. »Klar zum Gefecht, ihr Helden!« folgte das Echo von Ferris Tucker. Hasard blickte zur ›Marygold‹ hinüber, die etwa zweihundert Yards voraus an Backbord lief. »Zwei Strich Backbord«, sagte er zu Pete Ballie am Ruder. »Zwei Strich Backbord, Sir«, antwortete Pete. Hasard zog die Brauen zusammen. Sonst hatte Ben Brighton bei Gefechten neben ihm auf dem Achterdeck gestanden. Er hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, daß Ben nicht mehr da war, daß er nie wieder an seiner Seite stehen würde. »Kurs liegt an«, sagte Pete Ballie. Hasard nickte. Er wollte die ›Isabella‹ in das Kielwasser der ›Marygold‹ bringen, damit sich keiner der Spanier, die in Dwarlinie segelten, zwischen sie setzen konnte. Der Spanier am Flügel mußte dann an beiden englischen Schiffen vorbeilaufen, konnte aber nur auf eins eine Breitseite abfeuern, während die Engländer ihn nacheinander beharken konnten. Noch eine knappe Meile, ein paar Minuten, bis die beiden Verbände aufeinanderstoßen würden. Die beiden Briten hatten wenigstens den taktischen Vorteil, daß sie vor dem Wind liefen. Die Spanier hielten im stumpfen Winkel von Steuerbord auf sie zu. Sie segelten mit halbern Wind. Wenn sie ihre Breitseiten einsetzen wollten, mußten sie kurz vor Erreichen des englischen Verbandes an den Wind gehen 75
und kreuzen. Noch sechshundert Yards. Er blickte auf die Kuhl hinunter. Die Männer hockten mit feuerbereiten Waffen hinter den Schanzkleidern. Noch wußten sie nicht, an welcher Seite die Spanier vorbeilaufen würden. Wahrscheinlich an beiden, überlegte Hasard. Wahrscheinlich würden die Spanier die beiden englischen Galeonen in die Zange nehmen. Nicht zu ändern. Auf jeden Fall würden die Dons nur je eine Breitseite abfeuern können, die beiden englischen Schiffe jedoch alle beide. Und beim Vorbeilaufen mußten die Dons ihre Segel scharf anbrassen, das heißt, fast parallel zur Mittschiffslinie stellen. Das gab erfreulich große Zielflächen. Besonders für Brandpfeile. Batuti schien zu der gleichen Erkenntnis gelangt zu sein. Hasard sah ihn mit einem kupfernen Kessel aus der Kombüse kommen. Er hatte den Kessel zweckentfremdet und trug darin ein flackerndes Holzfeuer zum Bug. Auf der Schulter trug er einen afrikanischen Langbogen und einen Köcher mit einem guten Dutzend Brandpfeilen. Noch dreihundert Yards. Hasard sah, wie das erste der drei spanischen Schiffe die Segel etwas anbraßte und den Kurs nach Steuerbord korrigierte. Kurz darauf schwenkten auch die beiden anderen ein und formierten sich zum Angriff. Er hatte die Absichten des Gegners richtig eingeschätzt, erkannte Hasard, als sich zwei der spanischen Galeonen in Kiellinie formierten und seitlich etwa fünfzig Yards von der dritten abliefen. Sie wollten die beiden Engländer in die Zange nehmen. »Al!« rief Hasard zum Bugkastell hinunter. »Sir?« Al Conroy stand an der Drehbasse und wartete auf den Moment, in dem der erste Spanier in seinen Feuerbereich 76
laufen würde. Der blonde Jim Maloney war bei ihm, um die Kanone zu laden. »Erst feuern, wenn du sicher bist, daß du triffst!« rief Hasard ihm zu. »Du weißt, daß wir kaum noch Kugeln haben.« »Aye, aye, Sir.« Al Conroy hätte dem Kapitän sagen können, daß er immer erst schoß, wenn er einen sicheren Treffer anbringen konnte. Aber er ließ es. Noch zweihundert Yards. Die beiden in Kiellinie laufenden Galeonen würden an der Steuerbordseite vorbeisegeln, soviel war sicher. Hasard schickte Ferris Tucker, der die beiden Drehbassen des Achterkastells schußklar gemacht hatte, an die Backbordkanone. Der erste Schuß dröhnte. Die Drehbasse auf dem Vordeck der Führungsgaleone hatte das Gefecht eröffnet. Etwas zu früh, dachte Hasard, als er sah, wie die Kugel kurz vor dem Bug der ›Marygold‹ ins Wasser klatschte. Jetzt dröhnte die Drehbasse der ›Marygold‹. Die Kugel traf den Bugspriet des Spaniers und zerfetzte ihn. Das große Holzkreuz, das vor dem Bug baumelte, klatschte ins Wasser. Die Blinde wurde vom Wind nach achtern gerissen und fegte den Mann an der Bugdrehbasse und mehrere Musketenschützen zu Boden. Jetzt krachte das Buggeschütz der ›Isabella‹. Al Conroy setzte seine Kugel in das Knäuel von Segeltuch, Kanone und Männern. »Die Vorderzähne haben wir ihm schon gezogen«, sagte Ferris Tucker grinsend. Dann starrte er wieder der Galeone entgegen, die auf seiner Seite heranrauschte. Die ersten Musketenschüsse krachten von dem Führungsschiff der Spanier und der ›Marygold‹. »Wehe, einer von euch ballert in die Gegend, bevor ich das Kommando gebe!« drohte Hasard den Mannern, die hinter den Schanzkleidern der ›Isabella‹ hockten, die Musketen im 77
Anschlag. »Wer vorher feuert, kriegt von mir persönlich den Hintern tätowiert! Verstanden?« »Und was ist mit schwarzem Hintern von Batuti?« Der Neger grinste zu Hasard hinüber. »Gibt auch weiße Tätowierung für schöne Muster auf schwarzen Hintern?« Er hatte sich auf Schnellfeuer eingerichtet, sah Hasard. Sechs Pfeile hatte er mit den lappenumwickelten Spitzen in das Feuer gelegt. Das sparte Zeit, wenn die spanischen Schiffe an der ›Isabella‹ vorbeizogen. Die erste Breitseite dröhnte und Sekunden später eine zweite. Eine Kugel zischte durch das Besansegel der ›Marygold‹ und riß ein riesiges Loch in die Leinwand. Das Führungsschiff der Spanier erhielt zwei Treffer in die Bordwand. Eine der Kugeln fuhr durch eine offene Stückpforte und schleuderte die Kanone mit ihrer Bedienung über das Deck. Wieder ein Zahn gezogen, dachte Hasard grimmig und griff nach der glimmenden Lunte. Jetzt setzte das Feuer der Galeone ein, die Backbord auf Gegenkurs lief. Und dann krachten wieder zwei Breitseiten, von dem Spanier und von der ›Marygold‹. Hasard hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, ob Treffer erzielt worden waren. Das Führungsschiff der Spanier lag jetzt querab vom Bug der ›Isabella‹. Die ersten Musketenschüsse krachten. Bleikugeln schlugen klatschend in die Bordwand, neben die Pocken, die der Beschuß der Iren hinterlassen hatte. »Feuer!« schrie Hasard, als der Bug des Spaniers sich fast mittschiffs befand. Er sah, wie die Spanier an den Heckdrehbassen ihre Rohre auf das Heckkastell der ›Isabella‹ richteten, und drückte die Lunte auf das Zündloch seines Dreipfünders. Krachend fuhr die Kugel aus dem Lauf und schlug drüben eins der beiden Geschütze über Bord. Diesmal hörten sie das Schreien der getroffenen Männer, die sterbend an Deck fielen oder mit der Kanone über Bord 78
gerissen wurden. Wieder ein Zahn gezogen. Hasard schob die Ladung Pulver in das Bronzerohr der Drehbasse und sah die ersten Brandpfeile zu dem Spanier hinüberfliegen. Der Langbogen aus Hickoryholz war so schwer, daß selbst Hasard Mühe hatte, ihn zu spannen. Für den Riesen aus Gambia aber schien es ein Kinderspiel zu sein. Die brennenden Pfeile wurden mit unwahrscheinlicher Wucht zu dem Spanier hinübergeschleudert. Zwei blieben in der Bordwand stecken. Flammen leckten an den dicken Bohlen empor. Ein Don beugte sich über das Schanzkleid nach dem Feuer. Smoky half ihm mit einer Kugel an Bord zurück. »Er brennt!« schrien plötzlich ein paar Männer gleichzeitig. Hasard hatte sich schon auf die beiden anderen Galeonen konzentriert, die fast auf gleicher Höhe liefen und sie in die Zange nahmen. Ein rascher Blick zurück zeigte ihm, daß einer von Batutis Brandpfeilen in das Besansegel gefahren war. Es brannte bereits lichterloh. Das Schiff hatte jetzt die Blinde und das Besansegel verloren, wurde merklich langsamer und lief aus dem Kurs. »Mit dem brauchen wir vorläufig nicht mehr zu ...« Das Krachen war ohrenbetäubend. Vier Breitseiten waren fast gleichzeitig gefallen. Zwei von der ›Isabella‹ und zwei von den beiden Spaniern, die jetzt an Back- und Steuerbord vorbeiliefen. Der Schiffsrumpf erzitterte. Vom Hauptdeck tönten laute Schreie, dicht vor dem Großmast klaffte ein wüstes, zackiges Loch. »Wassereinbruch mittschiffs!« schrie jemand. »Wahrschau! Der Mast!« Hasard sah, wie sich der Großmast unter dem Druck des Großmarssegels langsam nach vorn neigte wie ein gefällter Baum. Die Kugel mußte seine Verbände unter Deck 79
zerschlagen haben. »Hart Backbord!« schrie Hasard, um den Vorwärtsdruck aus dem Segel zu nehmen und den Mast über Bord stürzen zu lassen. Aber es war zu spät. Ein berstendes Krachen unter Deck, das harte Knallen von brechenden Wanten, dann schlug der schwere Mast auf das Bugkastell, zertrümmerte Fockmast, Drehbasse und Schanzkleid und begrub das Vorschiff unter dem Großmarssegel. Das Schiff lief aus dem Ruder, drehte sich langsam um die eigene Achse und begann vor dem Besansegel anzuluven. Es war nur ein schwacher Trost, daß es den Spanier noch schlimmer erwischt hatte. Die Kugeln der ›Isabella‹ hatten ihm das halbe Heck weggerissen. Aber das Ruderblatt hing noch wie ein halbamputierter Arm an den Trümmern, und drei oder vier Männer waren emsig dabei, es wieder einigermaßen festzulaschen. Sie wußten, daß ihr Schiff erledigt war, wenn sie es nicht wieder manövrierfähig kriegten. »Feuer auf das Achterkastell!« schrie Hasard zur Kuhl hinunter. Ein paar Musketen krachten. Ein großer Teil der Männer war verwundet und lag noch unter der schweren Segelleinwand begraben. Hasard stieß ein wütendes Knurren aus wie ein gereizter, wütender Wolf. Er sah, daß Ferris Tucker seine Kanone gerade nachgeladen hatte, schob ihn zur Seite und richtete das Rohr auf das Ruderblatt der spanischen Galeone. Er mußte sich beeilen, bevor die beiden havarierten Schiffe zu weit auseinandertrieben, und er keinen gezielten Schuß mehr anbringen konnte. Er hielt die Lunte auf das Zündloch. Der Schuß dröhnte, und die schwere Kugel zerfetzte das Ruderblatt des Spaniers. »Wieder ein Zahn gezogen«, murmelte Hasard, obwohl sie kaum Grund hatten, sich darüber besonders zu freuen. 80
»Du schießt genauso gut wie Al Conroy.« Das war aus dem Mund von Ferris Tucker ein großes Kompliment. Unwillkürlich blickte Hasard zu dem zerfetzten Bug, über den sich das Großmarssegel wie ein Leichentuch breitete. Auch hinter Al Conroys Namen konnten sie ein Kreuz setzen. Hinter wie viele noch, bevor dieser Tag zu Ende war? »Smoky!« Keine Antwort. Er starrte auf das zusammengefallene Segeltuch, unter dem es sich heftig bewegte. Er sah Männer, die sich unter der Leinwand hervorzwängten, Messer und Säbel, die Tuch und Takelage zerfetzten, um den darunter eingeklemmten Männern einen Weg ins Freie zu bahnen. Dicht hinter dem Bugkastell stieg ein dünner, blauer Rauch hoch. Batuti und sein Feuerkessel! Hasard flankte über die Balustrade auf die Kuhl hinunter, stolperte im Aufsprung über eine an Deck liegende Muskete, raffte sich auf und lief über Trümmer und zersplitterte Hölzer zum Bug. Im Laufen riß er das schwere Entermesser aus dem Gürtel, um sich einen Weg zu dem Schwelbrand freizuschlagen, bevor aus der Glut eine offene Flamme werden konnte. Doch als er das Entermesser hob, um in die Leinwand des Großmarssegels zu hacken, wurde diese plötzlich von unten aufgeschlitzt und Batutis schwarzer Kopf fuhr heraus. Dann drängten sich die breiten Schultern aus dem aufgeschlitzten Leinen, und vorsichtig hob Batuti den Kupferkessel heraus, aus dem jetzt nur noch eine weiße Dampfwolke aufstieg. »Wollen Feuer löschen mit Enterbeil, Sir?« sagte er grinsend und schleuderte den qualmenden Kessel über die Bordwand ins Wasser. »Batuti haben schon gelöscht.« Er knöpfte sich den Hosenlatz zu. »Spanier wendet und läuft vor dem Wind!« schrie Blacky 81
vom Achterkastell. Hasard blickte zum Bug, der jetzt im Wind lag. Die steuerlose Galeone trieb noch immer querab. Das andere Schiff, das seine Blinde und das Besansegel verloren hatte, stand im Wind und trieb ebenfalls, aber auf die beiden britischen Schiffe zu. Hasard sah, wie die Männer sich abmühten, die schlagende Blinde an der Nagelbank im Bug notdürftig zu befestigen. Das brennende Besansegel hatten sie gekappt und über Bord gehen lassen. Auf jeden Fall war auch diese Galeone nicht mehr voll einsatzfähig, dachte er befriedigt. Aber mit einem Krüppel wie der ›Isabella‹ würde sie noch immer fertig werden. Von der Kuhl ertönte jetzt das saugende Geräusch der Lenzpumpe, und Ferris Tucker schrie: »Nagelt zwei Planken über das Loch, ihr hirnkastrierten Säcke! Habe ich denn nur Säuglinge an Bord?« Es war gut, zu wissen, daß der eiserne Schiffszimmermann noch da war. Die Arbeit am Leck konnte Hasard getrost ihm überlassen. Er würde schon dafür sorgen, daß die ›Isabella‹ oben blieb. Die dritte Galeone der Spanier hatte das Gefecht bisher ohne Treffer überstanden. Jedenfalls rauschte sie jetzt unter vollem Tuch vor dem Wind auf die beiden englischen Schiffe zu. Hasard ahnte, was der spanische Kapitän vorhatte: Er wollte im Vorbeilaufen der waidwunden ›Isabella‹ den Gnadenschuß verpassen und sich anschließend die ›Marygold‹ vornehmen. Aber Drake hatte die Absicht des Dons ebenfalls erkannt, das heißt, er hatte von Anfang an mit dieser Taktik gerechnet. Sofort nachdem er gesehen hatte, wie der Großmast der ›Isabella‹ auf das Vordeck gestürzt war, hatte er gehalst und auf Hasards Schiff zugehalten. Es war jetzt ein Wettsegeln zwischen den beiden Galeonen. Welche der beiden würde zuerst bei der ›Isabella‹ sein? 82
Vor allen Dingen mußte die ›Isabella‹ wieder einigermaßen manövrierfähig werden, wußte Hasard. »Räumt den verdammten Mast von Bord!« schrie er den Männern zu und enterte den Niedergang zum Bugkastell hoch. Batuti war schon oben, aber selbst seine gewaltigen Armmuskeln waren nicht kräftig genug, um das Mastende zur Seite zu wuchten. »Vorsichtig, Batuti, sonst zerdrücks: du den Jungen«, ertönte eine Stimme unter Trümmern und Segeltuch. »Al?« rief Hasard. »Al, bist du es? Warte, wir holen dich heraus.« Die Klinge des Entermessers fuhr in die Leinwand. »Warum hast du dich nicht selbst befreit?« »Irgend etwas liegt auf meinem Bein, Sir. Ich kann mich nicht bewegen. Und die Lafette der Drehbasse hat Jim Maloney erwischt. Seid vorsichtig, wenn ihr das Zeug anlüftet. Ihr könntet ihm sonst ...« »Lebt er noch?« Hasards Messer hatte eine breite Bahn aus dem Segel gefetzt. Batuti riß es mit den bloßen Händen weiter auf. Sie sahen die Trümmer der Drehbasse - und unter der schweren Eichenlafette den Körper des blonden Jim Maloney. Mit gebrochenen Augen starrte er zu ihnen hoch. Eine Breitseite donnerte. Hasard richtete sich auf und sah sich nach den anderen Schiffen um. Der Spanier, dem sie das Ruder weggeschossen hatten, war mit geschickten Segelmanövern näher herangetrieben und hatte seine Steuerbordkanonen auf sie abgefeuert. Aber die Schüsse lagen zu kurz. Es war weniger taktische Überlegung als blinder Haß, der den Spanier zu diesem sinnlosen Angriff veranlaßt hatte. »Batuti, hol Al heraus und sorge dafür, daß der verdammte Mast von Bord kommt, egal wie.« Hasard lief über die Kuhl zum Heck. 83
»Ferris!« Der Riese kroch den steilen Niedergang vom Unterdeck hoch und blickte ihn fragend an. »Wie sieht’s unten aus?« »Wir haben das Leck abgedichtet. Zwei oder drei Fuß Wasser, aber die Pumpe schafft es jetzt.« »Gut, dann alle verfügbaren Männer an Oberdeck. Nur die Kanonen besetzt halten.« »Aye, aye!« »Sieh zu daß du am Bug irgendeinen Fetzen setzen kannst. Ich brauche wieder etwas Fahrt im Schiff, um halbwegs manövrieren zu können. Der Besan allein schafft nichts.« Das »Aye, aye, Sir« wartete er nicht mehr ab. Er war bereits auf dem Niedergang zum Heckkastell. Pete Ballie hatte das völlig wirkungslos gewordene Ruder festgelascht und stand jetzt an der Drehbasse an Backbord. »Wenn der noch näher rückt, können wir ihm schön eine verplätten«, sagte er und deutete mit dem Daumen zu der havarierten Galeone hinüber, die vorhin eine Breitseite abgefeuert hatte. »Mit den Drehbassen nicht«, sagte Hasard sachlich. Bevor die Dreipfünder den Spanier treffen konnten, hatte der sie mit den schwereren Kanonen seiner Deckgeschütze fertiggemacht. »Wir müssen ihm die Segel rasieren«, sagte Hasard halblaut. Dann stieß er Pete Ballie an. »Sag den Männern, sie sollen die Backbordgeschütze abfeuern, ob sie treffen oder nicht, und dann mit Ketten nachladen.« »Verstanden, Sir.« Pete Ballie hatte sofort begriffen, was der Seewolf plante, und sauste den Niedergang hinunter. Der spanische Kapitän war ein guter Seemann. Er hatte nur das Focksegel stehenlassen, um mit der treibenden ›Isabella‹ auf gleicher Höhe zu bleiben, und steuerte mit dem Besansegel. Es ging nur sehr langsam, aber er rückte ständig näher. Der andere Spanier rauschte jetzt vor dem Wind segelnd 84
heran. Auch die ›Marygold‹ näherte sich. Sie stieß aus südlicher Richtung vor. Hasard ahnte, was Drake vorhatte. Er konnte den Spanier nicht mehr abfangen, bevor er die ›Isabella‹ erreichte. Aber er konnte sich hinter sie setzen, so daß der Spanier an zwei Breitseiten vorbeilaufen mußte und selbst nur mit einer zum Schuß kam. Das schien jetzt auch der spanische Kapitän zu erkennen und einzusehen. Er mußte zuerst die noch intakte ›Marygold‹ erledigen, bevor er der ›Isabella‹ den Gnadenschuß verpassen konnte. Die flügellahme ›Isabella‹ konnte ihm ja nicht mehr weglaufen. Knapp dreihundert Yards hinter der ›Isabella‹ scherte er hart nach Steuerbord und lief direkt auf die ›Marygold‹ zu. Eine Breitseite der ›Isabella‹ donnerte. Hasard sah zwei Einschläge direkt vor der Bordwand des Spaniers. Die anderen Kugeln rissen klaffende Löcher dicht über der Wasserlinie. »Wie lange dauert das noch mit dem verdammten Mast?« schrie er zum Hauptdeck hinunter. Die Männer hatten Hebebäume und Spaken aus dem Segellager im Vorschiff geholt und wuchteten den schweren Mast stöhnend und fluchend nach Steuerbord auf das Schanzkleid. Der Kutscher half Verletzten, die sich nicht allein hatten befreien können, unter Segeltuch und Trümmern heraus und legte sie nebeneinander hinter das Backbord-Schanzkleid. »Helft mir mal, die Leute nach unten zu bringen!« rief er. »Keine Zeit, Kutscher! Wir haben zu tun.«
10. »Backbordkanonen mit Ketten geladen!« rief Pete Ballie herauf. Er grinste. »Wir haben den ganzen Schrott gleich mit 85
reingestopft. Und bei der vierten Kanone auch noch die alten Seestiefel von Matt Davies. Wer die an die Birne kriegt, geht allein vom Gestank kaputt!« Von Norden rollte der Donner von zwei Breitseiten über die See. Die ›Marygold‹ und die spanische Galeone hatten einander erreicht und das Gefecht eröffnet. »Aufpassen da hinten! Nimm die Quanten aus dem Kinken!« schrie Ferris Tucker über das Deck. Dan O’Flynn, der in seinem Arbeitseifer in ein abgefetztes Want getreten war, sprang erschrocken zurück, als der Mast mit einer widerwilligen Drehbewegung ankippte und dann außenbords glitt. Salzwasser spritzte bis zum Hauptdeck, als er ins Wasser klatschte. »Dan!« »Sir!« Es war dem Jungen peinlich, vor den Augen Hasards bei einer Unachtsamkeit ertappt worden zu sein, die eigentlich nur einem Anfänger passieren durfte. »Hilf dem Kutscher, die Verwundeten unter Deck zu bringen.« Diesmal wagte Dan keinen Widerspruch, obwohl er spürte, daß Hasard ihn aus dem Weg haben wollte. Er lief zum Bug, wo Ferris Tucker, Batuti und ein paar andere Männer gerade die schwere Lafette der Drehbasse vom Körper Jim Maloneys hoben. Stenmark zog den Toten hervor und blickte Ferris Tucker fragend an. »Über Bord mit ihm, was sonst? Oder willst du ihn etwa bis Weihnachten aufheben?« »Mach’s gut, Jim«, sagte der Schwede leise, als er den Toten ein paar Sekunden auf den Armen hielt, bis er ihn außenbords gleiten ließ. Dan O’Flynn half Al Conroy auf, dessen Bein von der Lafette eingeklemmt worden war. Er stöhnte laut, als er auftrat. »Scheint aber wenigstens nicht gebrochen zu sein«, murmelte er dann. »Irgendwie ist das nicht mein Tag heute.« 86
Er legte den Arm um Dans Schulter und humpelte mühsam den Niedergang hinab und über Deck zum Mannschaftslogis. Das enge Loch stank noch mehr als sonst. Acht oder mehr Verwundete lagen auf den Strohsäcken, sah Dan, als er Al Conroy hereinbrachte. Der Kutscher fummelte an ihnen herum, band blutende Gefäße ab, schmierte übelriechende Salben auf offene Wunden und wickelte alte Fetzen herum. »Noch einer?« Er blickte nervös auf. »Nun macht mal langsam Schluß da oben. Ich bin wirklich bald geschafft.« Das laute Stöhnen eines der Verwundeten ging in heiseres Röcheln über. »Jetzt geht das mit dem schon wieder los«, sagte der Kutscher gereizt und hockte sich neben den Strohsack, auf dem der fiebernde Lewis Pattern lag. »Leg ihm neue Umschläge auf Stirn und Brust, Dan. Ja, einfach aus der Seewasserpütz. Sonst haben wir ja nichts ...« Ein lautes Dröhnen riß seinen Satz ab. Im nächsten Moment zersplitterte die Bordwand dicht über dem Unterdeck. Die Vierpfünderkugel fegte Lewis Pattern von seinem Strohsack und schmetterte ihn als blutigen Klumpen an die gegenüberliegende Bordwand. Das Schiff holte über und ein Wasserschwall stürzte durch das Loch in den engen Raum. Dan hörte kaum die Entsetzensschreie der anderen. Er hatte nur den Wunsch, sofort herauszustürmen. Aber das wollten die anderen auch. Das Schiff erzitterte unter dem Abschuß der Breitseite, legte Sich über, und ein neuer Wasserschwall drang durch das Loch in der Bordwand. Dan stieß um sich, trampelte einen Mann, der ihn festhalten wollte, zu Boden und stürzte hinaus. Die Männer an den Backbordgeschützen hatten die Nerven behalten und gewartet. Selbst als die Spanier eine Breitseite feuerten und eine der Kugeln die Bordwand durchschlug, hatten sie noch gewartet. Erst als sie sicher waren, daß die 87
Schüsse im Ziel liegen würden hatten sie die Lunten auf die Zündlöcher gedrückt. Die Wirkung der Ladung aus alten Ketten, gehacktem Blei und Eisenschrott war verheerend. Alle drei Masten des Spaniers wurden dicht über dem Deck abrasiert, kippten über Bord und schleiften im Wasser. Die Galeone begann, sich langsam im Kreis zu drehen. Sie hörten das laute Schreien der Verwundeten, die von der Eisenladung, die wie grobes Schrot über Deck gefetzt war, verletzt worden waren. Jetzt dröhnte auch Ferris Tuckers Drehbasse vom Heck, und die Kugel grub sich dicht über der Wasserlinie in den Schiffsrumpf. »Sie treibt auf uns zu!« rief Matt Davies und deutete auf die spanische Galeone, die in langsamer Kreisbewegung auf die ebenfalls manövrierunfähige ›Isabella‹ zuschwenkte. Hasard blickte auf das Schiff. Es war schon so nah, daß er deutlich den Namen am Bug lesen konnte: ›Cordoba‹. Er versuchte, die Drift- und Kreisbewegungen des Spaniers abzuschätzen und erkannte, daß eine Kollision unvermeidlich war. »Matt, eine Breitseite voll in die Wasserlinie!« rief er Matt Davies zu und begann hastig, die Drehbasse wieder zu laden. »Ferris, wir müssen den Kahn anlüften!« rief er Ferris Tucker zu. Ein Schuß dröhnte vom Heck der ›Cordoba‹, und eine Kugel riß ein breites Loch in das Deck der ›Isabella‹. Dann krachten die ersten Musketenschüsse. »Männer! Feuer auf die Spanier! Vor allem auf das Achterkastell!« Er hatte seine Drehbasse fertig geladen, zielte auf die Wasserlinie direkt unter dem Achterkastell und feuerte. Das Krachen des Dreipfünders ging unter im Dröhnen der Breitseite. Sieben runde, ausgezackte Löcher wurden in die 88
Wasserlinie des Spaniers gestanzt. Wassermassen strömten in das Schiff, es kriegte Schlagseite, und die Drehbewegung wurde noch verstärkt. »Haltet auf die Stückpforten, wenn sie parallel dreht!« schrie Hasard. Vielleicht wollten die Spanier noch eine letzte Breitseite anbringen, wenn die Backbordseite auf die ›Isabella‹ gerichtet war. »Aye, aye!« rief Ferris Tucker zurück. »Beeilt euch mit dem Laden, ihr Hampelmänner!« Über das Wasser rollte das Grollen einer Breitseite. Hasard blickte über die See zu den anderen Schiffen. Die ›Marygold‹ und die spanische Galeone waren noch immer ineinander verbissen. Die ›Marygold‹ hatte nur noch die Hälfte ihres Großmastes, der obere Teil hing wie ein gebrochener Arm auf das Deck. Hasard fragte sich, warum die spanische Galeone Drakes Schiff nicht den Fangstoß gab, sondern sich in westliche Richtung absetzte. Doch dann sah er das Schiff, das die Galeone bis jetzt verdeckt hatte. Wieder dröhnte eine Breitseite, und Hasard sah Pulverqualm aus den Stückpforten des fremden Schiffes dringen. Ein Engländer? Ja, es mußte die ›Santa Cruz‹ sein, das dritte Schiff in Francis Drakes Verband, das jetzt wieder zu ihnen stieß. Er setzte hinter dem Spanier her, der mit vollen Segeln auf die sichere Küste Irlands zuhielt. Der zweite Spanier hatte einen Teil seiner zerschossenen Segel wieder notdürftig ersetzen können und stand auf halber Höhe zwischen der ›Marygold‹ und der ›Isabella‹, als ob er sich nicht entscheiden könne, in welchen Kampf er eingreifen solle. Das Auftauchen der ›Santa Cruz‹ half ihm zu dem Entschluß, sich lieber das schwächste Opfer, die angeschlagene ›Isabella‹, vorzunehmen. Er war nach Osten getrieben worden, während er seine Segel reparierte, und mußte jetzt mühsam 89
zurückkreuzen, wenn er an die ›Isabella‹ heranwollte. Mit dem brauchte Hasard vorerst nicht zu rechnen. Die Bordwand der ›Cordoba‹ war nur noch knapp fünfzehn Yards entfernt, als sie parallel zur ›Isabella‹ drehte. »Feuer!« brüllte Ferris Tucker, und die Musketen knallten Blei durch die offenen Stückpforten. »Klar zum Entern!« schrie Hasard und riß Pistole und Degen aus dem Gürtel. Er sah den spanischen Kapitän auf dem Heckkastell stehen, als die Galeone, mit dem Heck voran, auf die ›Isabella‹ zudrehte. Der Spanier hob eine Muskete hoch und richtete sie auf Hasard. Der Seewolf schoß ihm eine Kugel in den Kopf, bevor er abdrücken konnte. Der Abschußknall der Pistole ging unter im Dröhnen eines Kanonenschusses. Die Spanier hatten zwar keine volle Breitseite auf die ›Isabella‹ schießen können, aber einer der überlebenden Kanoniere hatte noch einen Vierpfünder gefeuert. Die Kugel bohrte sich in den Bug der ›Isabella‹. »Wasser im Vorschiff!« schrie sofort eine Stimme aus dem Vordeck. Hasard wußte, daß die ›Isabella‹ nicht mehr zu halten war. Und auch nicht das Wrack des Spaniers, das sich jetzt mit dem Heck voran auf die Bordwand des englischen Schiffes zudrehte. Hasard warf die leergeschossene Pistole an Deck, zog die sächsische Reiterpistole mit den zwei Schüssen und wartete auf die Kollision. Ferris Tucker verteilte gerade die letzten Waffen an die Männer, als das Heck der ›Cordoba‹ gegen die Bordwand der ›Isabella‹ krachte. Pete Ballie warf sofort einen Enterhaken über das achtere Schanzkleid des Spaniers und belegte das Ende der Leine am 90
Besanmast. Hasard sprang auf das Achterdeck der spanischen Galeone und stach einen Mann, der mit einem Enterbeil auf ihn zustürzte, mit dem Degen nieder. Eine Pistolenkugel schwirrte dicht an seinem Kopf vorbei. Hasard fuhr herum und wollte den Mann ebenfalls niederstechen, aber der hatte bereits die zweite Waffe auf ihn angelegt. Hasard feuerte mit der Reiterpistole. Der Mann griff sich an die Brust und sackte gurgelnd zusammen. Da waren immer noch zwei Spanier auf dem Achterkastell, und sie drangen mit langen Entermessern auf ihn ein. Unten auf der Kuhl kämpfte die Besatzung gegen den Rest der Dons. Mittelpunkt waren wie immer Batuti und Dan O’Flynn, die bei jedem Kampf unzertrennlich waren. Batuti hatte ein riesiges Entermesser mit einem Lederriemen an das rechte Handgelenk gebunden. Aber er benutzte es nur als Reserve. Seine gewaltigen, schwarzen Pranken waren viel wirksamere Waffen. Er pflückte einen langen, schmächtigen Don, der wie der Urtyp des Don Quichote aussah, von Smokys Rücken und schleuderte ihn auf einen anderen zu, der gerade vom Schanzkleid aus Matt Davies anspringen wollte. Sie gingen gemeinsam über Bord. Matt Davies fuhr herum und starrte Batuti wütend an. »Das war mein Don!« schrie er und streckte seine Armprothese mit dem dolchartigen Haken vor. »Wozu habe ich das Ding denn vorhin erst nachgeschliffen?« »Soll nicht wieder vorkommen, Matt«, sagte Dan O’Flynn und bohrte einem Spanier, der von hinten gerade über Ferris Tucker herfallen wollte, sein Entermesser in den Rücken. Hasard war gerade mit den beiden Spaniern fertig geworden, als Al Conroy den Niedergang hochenterte. »Sieht aus, als wäre ich zu spät dran«, murmelte er, als er die 91
Toten auf Deck liegen sah. »Woller doch mal sehen, was die hier für Kanonen haben.« Er trat an die Backborddrehbasse und überprüfte sie fachmännisch. »Das Ding ist ja noch geladen.« Er richtete das Rohr auf das Vorschiff, wo drei Dons gerade versuchten, den kämpfenden Engländern in den Rücken zu fallen. »Sogar Lunte haben sie uns dagelassen«, sagte er und grinste, als er das glimmende Ende über das Zündloch hielt. Der Schuß krachte. Die drei Spanier und ein Stück des zerfetzten Bugs gingen über Bord. Hasard sah sich nach den anderen Schiffen um. Die ›Santa Cruz‹ hielt sich dicht bei der ›Marygold‹, deren Männer dabei waren, das abgefetzte Ende des Großmastes abzutrennen. Die spanische Galeone kreuzte mühsam, wie eine angeschossene Ente, auf sie zu. Sie rückte nur sehr langsam näher. In ein paar Minuten würde sie auf Schußweite heran sein, falls es bis dahin noch etwas gab, auf das sich zu schießen lohnte. Warum kam ihnen die verdammte ›Santa Cruz‹ nicht zu Hilfe? »Lange schwimmt unsere alte ›Isabella‹ nicht mehr, Sir«, sagte Al Conroy und deutete auf das zerschossene Wrack, dessen Vorschiff immer tiefer absackte. »Geh an Bord zurück und hilf dem Kutscher, die Verwundeten an Deck zu bringen«, sagte Hasard. »Bindet sie auf irgend etwas fest, das schwimmt.« Er sprang auf das Hauptdeck. Aber hier gab es kaum noch etwas zu tun. Es war noch knapp ein halbes Dutzend Spanier auf den Beinen, und mit denen wurden seine Männer allein fertig. Er ging auf die Kapitänskammer zu. Vielleicht fand er dort wieder brauchbare Papiere, so wie damals, als er die Seekarten der Neuen Welt entdeckt hatte. Die Tür der Kapitänskammer war verschlossen. Er trat einen 92
Schritt zurück, um sie aufzurammen. »Vorsicht, Sir!« Ned Carter, ein blasser, etwas farblos wirkender Junge aus Dover, sprang ihn an und riß ihn gegen das Schanzkleid. Im selben Augenblick krachte ein Schuß. Der Junge stöhnte auf und sackte vor Hasards Füßen zusammen. Hasard wirbelte herum und sah den Spanier, der gerade die abgeschossene Pistole sinken ließ. Mit einem Wutschrei stürzte sich der Seewolf auf ihn. Aber bevor er ihn erreichen konnte, hatte Batuti den Spanier von hinten gepackt, hochgehoben und preßte ihn nun mit aller Kraft seiner gewaltigen Armmuskeln an seine Brust. Der Mann schrie und zappelte, und Hasard sah, wie ihm die Augen aus dem Kopf quollen und er verzweifelt nach Luft schnappte. Und dann hatte er nicht einmal mehr genug Luft zum Schreien, und auch zu sonst nichts mehr. Noch ein letzter, gewaltiger Druck, und die Rippen des Spaniers krachten. Jetzt waren nur noch drei Spanier übrig, die sich in panischer Angst zwischen den Trümmern verkrochen. Nein, es waren vier. Aber niemand bemerkte den verwundeten Mann, der sich zwischen den Leichen vor dem Schanzkleid der Backbordseite totgestellt hatte und jetzt zum Niedergang des Batteriedecks kroch. Und auch Tom Smith, der aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrzunehmen glaubte, war nicht sicher, ob er sich nicht geirrt hatte. Er wußte selbst nicht, ob es Vorsicht war oder reine Neugier, die ihn veranlaßte, den Niedergang hinunterzublicken, und als er dort niemanden sah, ins Batteriedeck zu steigen. Bei den Backbordkanonen lagen drei Tote. Wahrscheinlich Opfer des Musketenfeuers auf kürzeste Distanz. Tom Smith trat ein paar Schritte in das Deck, den langen, gekrümmten Dolch in der Hand, und schaute sich um. Niemand zu sehen. Also hatte er sich doch geirrt, dachte er und wollte sich 93
gerade wieder umdrehen, als er ein leises Geräusch hinter sich hörte. Er fuhr herum und riß das Messer hoch. Der Mann, der sich auf ihn stürzte, fiel förmlich in die Klinge, die ihm unter dem Brustkorb in den Leib drang. Er stieß einen gellenden Schrei aus, als er zu Boden stürzte und starrte Tom Smith mit angstgeweiteten Augen an. Smith war zurückgesprungen, das blutbeschmierte Messer stoßbereit in der Hand. Der Spanier blutete aus mehreren Wunden an Kopf und Schulter und es tat Tom Smith fast leid, ihm jetzt noch eine tödliche Wunde beigebracht zu haben. »Los, ich helfe dir an Deck, hier säufst du ab«, sagte Tom Smith und trat auf ihn zu. Der Spanier verstand seine Worte nicht. Er sah nur den Engländer mit dem blutigen Messer auf sich zugehen. Mit verebbender Kraft kroch er zurück, an den Lafetten der Backbordkanonen vorbei, bis er gegen ein offenes Pulverfaß stieß und es umkippte. »Nun komm schon, Junge«, sagte Tom Smith wie zu einem mißtrauischen Tier. Der sterbende Spanier starrte nur auf das Messer, und ein heiseres Knurren drang aus seinem Mund, ein Laut der Todesangst und der Wut. Sein Blick fiel auf die glimmende Lunte neben der Kanone. Mit letzter Kraft richtete er sich auf und griff nach ihr. »Nein!« schrie Tom Smith und stürzte sich auf ihn. Aber er schaffte es nicht. Die Angst in dem Gesicht des Spaniers wich einem triumphierenden Grinsen, als er die Lunte an seine Brust drückte und sich mit ihr auf das verschüttete Pulver warf.
11.
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Die Explosion im Batteriedeck der »Cordoba« riß die Galeone in der Mitte auseinander und sprengte auch ein riesiges Loch in die Bordwand der ›Isabella‹. Trümmer und Menschenleiber wurden in die Luft gewirbelt. Hasard fühlte sich von einer Riesenfaust gepackt und über das Schanzkleid in die Luft gewirbelt. Dann schnürte ihm eisiges Wasser sekundenlang die Luft ab, und als er, nach einer kleinen Ewigkeit, wieder an die Oberfläche kam, entdeckte er, daß ihn die Wucht der Explosion fast zwanzig Yards weit geschleudert hatte. Von der ›Cordoba‹ waren nur noch Trümmer zu sehen, und die ›Isabella‹ sackte rasch über den Bug weg. Um die Trümmer sah er die Köpfe der Überlebenden auf dem Wasser, Spanier und Engländer, die jetzt nur noch einen Gedanken hatten, sich an irgendwelche schwimmenden Holzteile zu klammern, bis jemand sie herausfischte. Für die Spanier war die Rettung auch fast zur Stelle. Die dritte Galeone des Verbandes hatte knapp hundert Yards querab einen Treibanker geworfen. Hasard sah, wie einige Spanier auf das Schiff zuschwammen. Er war auf die Untergangsstelle der Schiffe und seine überlebenden Männer zugeschwommen. Aber jetzt hielt er es doch für richtiger, die Richtung zu ändern. Er sah, wie auf dem Spanier ein Boot zu Wasser gelassen und dann auf die Untergangsstelle zugepullt wurde. Er war gut fünfzig Yards entfernt, als die Spanier begannen, die Männer aus dem Wasser zu ziehen - nicht nur die eigenen, sondern auch die Engländer. Er sah, wie seine Männer sich mit aller Kraft dagegen wehrten. Aber es nutzte ihnen nichts. Sie wurden überwältigt, teilweise mit Belegnägeln und Pistolenkolben bewußtlos geschlagen und an Bord des Bootes gezogen. Die Galeone trieb immer näher. Hasard bemerkte, wie die Männer aufmerksam zur Wasseroberfläche hinunterstarrten, 95
um niemanden zu übersehen. Ein Glück, daß das Wasser etwas bewegt war, dachte er. Die Wellen und die breiten Schaumstreifen schufen eine gewisse Tarnung, in der der Kopf eines Menschen nur schwer zu erkennen war. Aber trotzdem, er brauchte eine bessere Deckung und auch etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er fühlte, wie die Kälte des Wassers in ihm emporkroch und ihm den letzten Rest seiner Kraft nahm. Er blickte sich um. Etwa zwanzig Yards entfernt trieb ein großes Trümmerstück, wahrscheinlich ein zerfetztes Querschott der ›Cordoba‹. Ein Rand ragte hoch genug aus dem Wasser, um sich dahinter verstecken zu können. Er ließ sich absacken und tauchte auf das Schott zu. Fünf Yards davor kam er an die Oberfläche, holte noch einmal Luft und tauchte das letzte Stück, bis seine Hände gegen das Holz stießen. Vorsichtig blickte er über den Rand. Das Boot war jetzt auf dem Weg zur Galeone. Er sah, wie ein paar Männer auf dem Achterdeck etwas zum Boot hinüberriefen und heftig gestikulierend nach Osten deuteten. Hasard blickte in die Richtung und sah die ›Santa Cruz‹ gegen den Wind kreuzen. Zu spät, dachte er erbittert. Seine Männer waren von den Spaniern gefangengenommen worden. Aber ihn selbst konnte die ›Santa Cruz‹ noch retten, und er würde seine Leute wieder herausholen. Zunächst aber mußte er den Kopf einziehen. Die Spanier nahmen sich nicht die Zeit, das Boot an Bord zu hieven. Sowie es längsseits war, wurde der Treibanker eingeholt, das Schiff an den Wind gebracht, und während es Fahrt aufnahm, zogen die Spanier die Überlebenden an Bord. In knapp dreißig Yards Entfernung rauschte es an Hasard vorbei. Sie wuchteten gerade den schweren Körper des 96
bewußtlos geschlagenen Batuti an Bord. Am Bug sah er deutlich den Namen ›Santa Ana‹. Er wartete, bis der Spanier etwa zweihundert Yards entfernt war, dann stemmte er sich auf das Floß und blieb völlig ausgepumpt liegen. Als er Minuten später die Augen öffnete, war die ›Santa Cruz‹ auf eine halbe Meile herangesegelt. Hasard richtete sich auf und begann zu winken. Aber die Engländer bemerkten ihn nicht. Sie warfen nur einen kurzen Blick auf die Trümmer der beiden vernichteten Galeonen, entschieden, daß keine Überlebenden mehr da waren und folgten der ›Marygold‹, die bereits auf Ostkurs gegangen war. Hasard winkte und schrie voller Wut und Verzweiflung, bis er auch dazu keine Kraft mehr hatte. Er konnte sich später nicht mehr erinnern, ob er sich erst auf das Holz des Schotts fallen ließ und dann die Besinnung verlor, oder ob er einfach kraftlos zusammensackte. Aber im Endeffekt war es auch egal.
Es war die eisige Kälte, die ihn weckte. Er richtete sich auf und blickte sich nach allen Seiten um. Die Küste war außer Sicht, und auch sonst war nichts zu sehen, kein Land, kein Schiff, selbst die Trümmer waren von Wellen und Wind auseinandergetrieben worden. Hasard zog die Beine an und schlang die Arme um seinen Körper. Seine Kleider waren durchnäßt, und der Wind machte die eisige Kälte noch schlimmer. Aber immerhin war er noch am Leben und nicht in die Hände der Spanier gefallen wie seine Männer. Oder tot wie Ben Brighton, Jim Maloney, Carter, der ihm das Leben gerettet hatte, und wahrscheinlich noch andere, die die Explosion zerfetzt hatte. 97
Aber lange würde er nicht mehr durchhalten, spürte er. Die Kälte nahm ihm die Reste seiner Kraftreserven, und immer wieder spürte er, wie er in die Bewußtlosigkeit zurückzusinken drohte. Es kostete ihn alle seine Willenskraft, dagegen anzukämpfen, sich nicht einfach fallenzulassen in die Dunkelheit, in der es keine Kälte mehr gab. Vorher mußte er Bilanz ziehen. Dem Stand der Sonne nach mußte es kurz nach Mittag sein. Sein Floß wurde von der Küste weggetrieben. Es war ein zerfetztes Schott mit zwei Eisenriegeln und ein paar an Augbolzen befestigte Tampen. Die Tampen waren das einzig Wertvolle. Er rollte sich zwischen sie, zog zwei Enden durch seinen Gürtel und band sich fest. Zumindest konnte er jetzt nicht von einer Welle heruntergespült werden. Trotzdem waren seine Überlebenschancen nicht sehr gut. Sie waren miserabel. Der Wind hatte aufgefrischt, die Wellen gingen höher und zeigten bereits breite Schaumkronen. Im Osten stand eine breite, graue Wolkenfront. Ein Sturm zog herauf, ein Sturm mit hochgehenden Wellen und noch größerer Kälte. Und keine Aussicht auf Rettung. Selbst die winzige Hoffnung, daß der Wind ihn irgendwo an Land spülen oder ein Schiff ihn sichten und auffischen würde, war für ihn nichts Tröstliches. Im Gegenteil, er mußte hoffen, nicht an Land gespült und nicht gerettet zu werden. Das einzige Land in nächster Nähe war die irische Küste, und die einzigen Schiffe, denen er hier begegnen konnte, waren irische Fischer. Jeder Ire, der ihn fand, würde ihn totschlagen wie einen räudigen Hund. Er konnte sich nicht einmal dagegen wehren. Er besaß zwar noch seine sächsische Reiterpistole, aber mit nassem Pulver konnte selbst der Teufel nicht schießen - höchstens bluffen. Er krümmte sich zusammen, um seinen Körper vor der Kälte 98
zu schützen und ließ den Kopf auf die rohen Planken des Schotts sinken. Er hatte alles gedacht, was zu denken war, und als wieder der schwarze Schleier der Erschöpfung an ihm zerrte, wehrte er sich nicht mehr, sondern ließ sich einfach in das Dunkel fallen.
Wieder war es die schneidende Kälte, die ihn aus der Bewußtlosigkeit holte. Vielleicht aber auch die Gewalt des Sturms, der jetzt losgebrochen war, die Gewalt der Wellen, die das Schott wie einen Korken herumwirbelten und vorwärtstrieben. Der Gürtel schnitt tief in seinen Leib ein, wenn er von dem schrägliegenden Floß zu rutschen drohte und nur von den beiden Tampen festgehalten wurde. Philip Hasard Killigrew richtete sich auf und betrachtete den Himmel. Die Sonne war nur ein heller Fleck hinter den jagenden, grauen Wolken, ein heller Fleck tief am westlichen Horizont. In einer guten Stunde würde es dunkel sein. Er wandte den Kopf und blickte voraus, in die Richtung, auf die der Sturm das winzige Floß zutrieb. Auch dort eine dunkle Wolkenbank. Nein, keine Wolkenbank! Es war wie ein elektrischer Schock für ihn. Das war Land! Eine Insel! Er überlegte blitzschnell. Es gab nur ein einziges, winziges Eiland in dieser Gegend - die Capel-Insel. Hasard erinnerte sich, daß er als Junge einige Male auf dem Schiff seines Vaters, des alten John Killigrew, an diesem unbewohnten Felsen vorbeigeselt war. Die Capel-Insel war Nist- und Brutplatz von Tausenden von Seevögeln. Eine unbewohnte Einöde. Genau das, was er brauchte. Hasard starrte durch den wehenden Gischt, der wie ein feiner Nebel über dem Wasser lag, zu den schwarz aufragenden Felsklippen 99
hinüber und versuchte, die genaue Drift seines Floßes abzuschätzen. Ja, es wurde genau auf die winzige Insel zugetrieben. Nein, nicht ganz. Wenn er nichts unternahm, würde er eine Meile oder mehr rechts vorbeigetrieben werden. In einer Stunde würde es dunkel sein, eine mondlose, sternenlose Nacht, in der er wenige hundert Yards an den dunklen Felsen vorbeitreiben konnte, ohne sie zu sehen. Wenn er jetzt eine Art Segel aufziehen könnte, überlegte er. Ein Riemen mit einem Stück Tuch würden schon reichen. Aber er hatte nichts, gar nichts. Ein Paddel - eine Planke! Nicht so effektiv wie ein Segel, aber es würde reichen, um das Floß in die gewünschte Richtung zu lenken. Es mußte reichen! Das Schicksal hatte ihm noch eine einzige Chance gegeben, als der Wind ihn auf diese einzige, winzige Insel querab von Knockadoon Head, vor der irischen Küste, zutrieb. Wenn er sie verfehlte, wurde er auf das Meer hinausgetrieben und konnte jede Hoffnung auf Rettung aufgeben. Eine zweite Chance gab es nicht! Er begann, an den Planken zu zerren und sie nach lockeren Verbänden abzutasten. Aber es war solide Arbeit. Auch in Spanien bauten sie gute, feste Schiffe. Wenn ich wenigstens mein Messer noch hätte, dachte er verzweifelt. Die Riegel! Er griff nach einem der schweren, geschmiedeten Riegel und versuchte, ihn aus dem Holz zu brechen. Aber auch hier hatten die spanischen Schiffbauer nicht gepfuscht. Er saß unverrückbar fest. Er mußte das verdammte Ding abreißen! Er mußte! Wenn er an der Capel-Insel vorbeitrieb ... Hasard suchte einen festen Halt für seine Füße, um sich besser abstemmen zu können. Es gab auf der glatten Fläche des Schotts nur den zweiten Riegel. Er stemmte beide Füße fest 100
dagegen, atmete tief durch und hebelte mit aller Kraft. Ein reißendes Krachen, und der Widerstand gab nach. Aber nicht der Riegel war aus seiner Verankerung gebrochen, sondern sein Gürtel hatte dem Druck nicht standgehalten. Die nächste Welle spülte Hasard in die See. Er konnte gerade noch einen der Tampen packen und sich daran festhalten, bevor ein Brecher ihn unter Wasser drückte. Doch als er an die Oberfläche tauchte, wäre er beinahe von dem Floß erschlagen worden. Gerade noch rechtzeitig sah er, daß eine Welle die ihm zugewandte Kante hochgekippt hatte und das Floß nun herunterkrachte. Er tauchte weg. So erwischte ihn nur eine Ecke des heruntersausenden Floßes leicht an der rechten Schulter. Auch sein zweiter Versuch, sich wieder auf seine Rettungsinsel zu ziehen, schlug fehl. Ein Brecher stieß die Kante des Schotts hoch, als er danach griff. Um ein Haar wäre ihm das Ende des Tampens aus der Hand gerissen worden. Hasard ließ zwei, drei Wellen über sich hinwegrollen und zwang sich zur Ruhe. Der Gedanke, das Schott, seinen einzigen Halt am Leben in dieser sturmgepeitschten Wasserküste, zu verlieren, zwang ihn zu gründlicher, logischer Überlegung, bevor er handelte. Er band sich das Tampenende fest um das Handgelenk und nutzte die Kraft einer Welle aus, um sich wieder auf sein Floß zu werfen. Er packte den anderen Tampen, an dem sein zerrissener Gürtel hing und klammerte sich fest, um nicht wieder heruntergespült zu werden. Dann schlang er den zweiten Tampen um sein linkes Handgelenk und verknotete ihn ebenfalls. Jetzt war er zwar wie ein Galeerensträfling auf dem Floß festgebunden, aber die Wellen mußten ihm schon die Arme aus den Gelenken reißen, wenn sie ihn herunterwerfen wollten. Am liebsten wäre er auf dem Schott liegengeblieben, ohne sich zu rühren. Er spürte, daß sein Körper vor Unterkühlung 101
und Erschöpfung zitterte. Aber er hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Ein Blick voraus zeigte ihm, daß die Abdrift nach rechts stärker war, als er angenommen hatte. Wenn er nicht sofort etwas unternahm, würde er an der Insel vorbeigetrieben werden. Wieder packte er den Riegel und zerrte mit aller Kraft daran. Nichts. Er mußte eine kurze Pause einlegen. Jede Anstrengung zehrte jetzt an seinen winzigen Kraftreserven.
12. Er wartete, bis sich sein keuchender Atem wieder etwas beruhigt hatte und starrte zu der links voraus liegenden Insel hinüber. Sie war höchstens noch eine Meile entfernt. Deutlich zeichnete sich die typische Form der Capel-Insel ab: die beiden hochaufragenden Felsklippen an Nord- und Südspitze. Hasard stemmte sich wieder mit den Füßen gegen den unteren Riegel, packte den anderen und zerrte. Da hörte er ein leises Knirschen und spürte, wie der Riegel nachgab. Nein, nicht der Riegel, an dem er zog. Es war der andere, gegen den er sich mit den Füßen stemmte. Und auch nicht die Verschraubung dieses Riegels gab nach, sondern die Planke, an der er verschraubt war. Dunkle Punkte tanzten vor Hasards Augen, sein Atem rasselte und er spürte das Pumpen des Herzschlags in seinen Halsvenen. Aber er ließ sich nicht die Zeit zu einer Pause. Er sah zum ersten Mal Erfolg und mußte feststellen, ob das Brett sich weiterlockern ließ. Wieder stemmte er beide Beine dagegen und wollte gerade die Muskeln anspannen, als er plötzlich innehielt. Beinahe hätte er wieder einen Fehler begangen - in einer Situation, die keinen Fehler verzieh! Wenn es ihm gelang, das Brett 102
loszutreten, würde es sofort von den Wellen gepackt und abgetrieben werden. Hasard löste den Tampen von seinem linken Handgelenk, beugte sich vor und verknotete ihn fest an dem unteren Riegel. Dann stemmte er wieder die Füße gegen das Eisen und spannte die Muskeln an. Wieder ein knirschendes, brechendes Geräusch, und ein deutlich spürbares Nachgeben. Hasard mobilisierte die Reste seiner Kraft und stemmte sich noch einmal gegen den Riegel. Ein letzter Widerstand, dann brach die Planke aus dem Verband. Die eigene Kraftanstrengung warf Hasard bis an den unteren Rand des Schotts. Aber das war ihm gleichgültig. Das losgetretene Brett, das jetzt an seinem Tampen neben dem Floß auf den Wellen tanzte, war für ihn der schönste Anblick, den es gab. Hastig griff er nach dem Tampen und zog das kurze, schmale Brett heran. Er hielt es mit beiden Händen an seinen Körper gepreßt, als er sich hintenüber gleiten ließ und ein paar Minuten ausruhte, um neue Kräfte zu sammeln. Dann begann er nach links zu paddeln. Als eine halbe Stunde später die Sonne hinter der Kimm versank, war er noch gut eine halbe Meile von der Insel entfernt. Er starrte zu den schroffen Felsen hinüber, um sich ihre Lage genau einzuprägen, bis auch die letzten Konturen im Dunkel verschwammen. Die Dunkelheit war total. Die Wolkendecke ließ den Stand der Sterne nicht einmal ahnen. Er konnte sie also nicht als Navigationshilfe benutzen. Nur die Laufrichtung der Wellen gab ihm einen groben Anhaltspunkt. Aber eben nur einen groben, außerdem bestand ständig die Gefahr, daß Wind und Wellen unbemerkt ihre Richtung änderten. Eine Veränderung von nur einem halbem Grad würde ihn an der kleinen Insel vorbeitreiben lassen. 103
Die Drift veränderte sich nicht. Immer wieder starrte Hasard in das Dunkel, in der Hoffnung, wenigstens einen vagen Umriß der Felseninsel entdecken zu können. Aber es war vergebens. Die Finsternis blieb Absolut. Es war sein Gehör, das ihm schließlich verriet, daß er sich in unmittelbarer Nähe der Insel befand. Ein heiserer Schrei war es, den er hörte, und dann erklang ein ganzer Chor mißtönender Krächzstimmen. Die Bewohner der Insel verkündeten lautstark den Besitzanspruch auf ihre Nistplätze. Hasard stellte das Paddeln ein und lauschte, um die genaue Richtung festzustellen. Das Krächzen der Seevögel ertönte links voraus. Er mußte also noch härter paddeln, um nicht doch noch vorbeigetrieben zu werden. Ja, er mußte noch ein ziemliches Stück nach links. Jetzt hörte er auch das Tosen der Brecher an den Felsklippen. Während er sich wieder mit aller Kraft ins Zeug legte, überdachte er dieses neue Problem. Bis jetzt hatte er nur so weit denken können, die kleine Insel zu erreichen. Jetzt, da dieses Ziel greifbar nahegerückt war, mußte er sich auch mit dem Wie auseinandersetzen. Das Tosen der Brandung hatte ihm deutlich gemacht, daß seine Probleme noch längst nicht gelöst waren. Die Wahrscheinlichkeit, die Brecher lebend zu überstehen und nicht an den Klippen zerschmettert zu werden, war nicht sehr hoch. Hasard stieß das Ende des Bretts in die Wogen und zog es mit aller Kraft durch. Jetzt brauchte er sein Gehör nicht mehr anzustrengen, um das Schreien der Möwen und Tümmler zu hören - und das Brausen der Brandung an den Felsen. Unter normalen Umständen würde er sich auf keinen Fall an die Luvküste werfen lassen. Unter normalen Umständen würde er sich nahe an der Insel vorbeitreiben lassen und dann von Lee an Land paddeln oder schwimmen. Aber es waren eben keine 104
normalen Umstände. Um das zu riskieren brauchte er Licht und vor allem Kraft, viel mehr Kraft als er jetzt noch hatte. Nein, er konnte es nicht riskieren. Er konnte sich nicht der Gefahr aussetzen, an der Insel vorbeigetrieben zu werden. Das ftisiko war zwar nicht kleiner, wenn er sich von der Brandung auf die Felsen werfen ließ, aber wenigstens würde er einen raschen Tod sterben, wenn die Wellen ihn an den Klippen zerschmetterten. Jetzt war das Tosen der Brandung so laut, so nah, daß er das Schreien der Vögel kaum mehr hörte. Aber noch immer war es links von ihm. Ein lautes Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er noch einmal seine letzten Kräfte mobilisierte - Reserven, die er eigentlich gar nicht mehr hatte -, um sein winziges Floß nicht an der Insel vorbeitreiben zu lassen. Langsam, unendlich langsam wanderte das Tosen der Brandung von links nach voraus, und als er es endlich direkt von vorn hörte, war es ein ohrenbetäubendes Krachen tonnenschwerer Wassermassen auf den Felsen. Dann sah er unmittelbar vor sich ein vages, helles Fluoreszieren: die Gischtkronen der aufprallenden Brecher. Das Floß wurde von einer langen Woge gepackt und auf die Klippe zukatapultiert. Der Tampen! durchfuhr es Hasard. Er ließ das Brett fahren und begann hastig, den Knoten des Tampen an seinem rechten Handgelenk zu lösen. Zu spät. Bevor er ihn los hatte, schleuderte die Woge das Floß auf die vorgelagerten Riffe. Er hörte ein berstendes Krachen, dann wurde er von Wasser und Gischt herumgewirbelt, auf steinharte Klippen geschleudert und unter Wasser gedrückt. Er hatte keine Luft mehr und wußte, daß er in zwei, drei Sekunden ersticken würde. Nun gut, er hatte das Risiko gekannt. Wenigstens war es ein schneller Tod und kein 105
langsames Krepieren auf der Weite des Meeres. Ein plötzlicher, harter Ruck riß ihm fast das Armgelenk heraus. Dann war plötzlich sein Kopf aus dem Wasser. Nein, nicht nur sein Kopf, sein ganzer Körper. Die zertrümmerten Reste des Floßes waren von dem Brecher hoch in die Klippen geworfen worden und hatten sich hinter zwei scharfen Felszacken verhakt. Hasard hing an dem Tampen fast zehn Fuß über den vom zurückflutenden Wasser freigelegten Uferklippen. Sein Mangel an Voraussicht hatte ihm das Leben gerettet - bis jetzt. Noch hatte er es nicht geschafft. Er mußte höher an Land, bevor ihn der nächste Brecher erreichte. Der nächste Brecher war bereits herangerollt. Gischt und Wasser zerrten ihn zurück und schlugen ihn gegen die Felsen. Seine Hände krallten nach dem vom Wind und Wellen glattgeschliffenen Stein und suchten verzweifelt nach einem Spalt, nach einer winzigen Unebenheit, nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber seine Hände fanden nur glatten Fels, der wie poliert wirkte. Doch dann spürte er in seinem Rücken Widerstand. Er war zwischen zwei Felsen gedrückt worden und stemmte sich mit Rücken und Füßen gegen die glatten Wände, als er merkte, wie die Welle zurücklief. Bis die nächste Woge heranbrandete, hatte er sich in diesem Kamin ein Stück höher gestemmt, und die Zeit, in der er vom Wasser überflutet wurde, war merklich kürzer. Bei dem folgenden Brecher nutzte er dessen Kraft aus, um sich einen guten Yard hinaufspülen zu lassen. Jetzt befand er sich bereits über den eingeklemmten Floßtrümmern. Der Tampen führte straff gespannt schräg nach unten. Er mußte den Knoten lösen und tat es widerwillig. Es war, als ob er den letzten, sicheren Halt preisgeben mußte, und er stemmte sich noch fester mit Rücken und Füßen an die glatten Felswände. 106
Der übernächste Brecher warf nur noch sekundenlang eine Gischtwolke über ihn. Kurz darauf spürte er mit dem Rücken eine Kante im Fels. Er tastete mit den Händen und fühlte eine waagerechte Steinplatte. Vorsichtig stemmte er sich so weit hinauf, bis er die Kante unter seinem Rückgrat fühlte. Dann stieß er sich mit den Beinen ab und warf sich gleichzeitig hintenüber. Er hatte damit gerechnet, mit dem Kopf gegen eine Felswand zu prallen. Aber es geschah nichts. Als er vorsichtig weitertastete, erkannte er, daß er sich auf einem großen, schollenartigen Felsplateau befand. Jetzt war er wirklich gerettet. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er den Kopf auf die Arme fallen und sank sofort in einen totenähnlichen Schlaf der Erschöpfung.
Er erwachte von der schneidenden Kälte, vom Heulen des Windes und von dem Tosen der Brandung. Es war merklich heller geworden. Die Wolken bedeckten zwar immer noch den Himmel, aber sie waren nicht mehr ganz so dick und so dunkel. Das Licht des Mondes drang hindurch, und Hasard konnte jetzt wenigstens vage Umrisse und Konturen erkennen. Vor allem mußte er irgendeinen Platz finden, an dem er sich verkriechen konnte, um wenigstens vor dem eisigen Wind geschützt zu sein. Hasard erkannte, daß er sich auf einer etwas schräg liegenden Scholle unmittelbar neben der südlichen Felsspitze der Insel befand, die sich wie ein riesiges Ausrufezeichen gegen den fahlen Himmel abhob. Am Ende der Scholle entdeckte er eine breite Halde aus lockerem Geröll, die rings um den aufragenden Felsen zu führen schien. Hasard ging um die riesige, turmartige Klippe herum, in der 107
Hoffnung, auf der Lee-Seite vor dem Wind Schutz zu finden. Aber bevor er in den Windschatten gelangte, entdeckte er eine übermannshohe, dunkle Nische im Fels. Nein, keine Nische, es war eine Höhle, eine tiefe, geräumige Höhle, deren Ausdehung er nicht einmal erahnen konnte. Den Schutz vor dem Wind, dem er seit vielen Stunden ausgesetzt gewesen war, empfand er fast wie eine wärmende Decke. Er fand einen ebenen Platz auf dem Felsengrund, räumte ein paar aus der Decke gefallene Steine zur Seite und streckte sich aus. Das Jaulen des Sturms und das Tosen der Brandung wurden von Wänden und Decke der Höhle aufgefangen und als vielfaches Echo zurückgeworfen. Aber das Toben der Elemente berührte ihn jetzt nicht mehr. Als er die Augen schloß, fühlte er sich fast so wohl und geborgen wie einst als Junge, wenn er in seinem Bett lag und auf das Toben eines Unwetters lauschte, das ihm nichts anhaben konnte. Aber kurz bevor er sich in den Schlaf gleiten ließ, warnte ihn sein Instinkt, daß es nicht nur das Toben der Elemente war, das er vernahm, daß irgendein fremdes Geräusch dabei war, das nicht hierher gehörte. Er richtete sich auf und lauschte. Es klang wie ein Brummen, wie das leise Knurren eines Hundes, und es drang aus der Tiefe der Höhle. Hasard ging in die Hocke und tastete nach seiner Reiterpistole. Er hatte sie in den Stiefelschaft gesteckt, und da war sie noch. Er atmete auf. Jedenfalls hatte er eine handliche Schlagwaffe. Wieder lauschte er angespannt, um das Geräusch zu identifizieren, oder das Tier, von dem es ausging. Vorsichtig arbeitete er sich auf Händen und Knien näher heran, hielt immer wieder inne und lauschte. Und dann mußte er plötzlich grinsen. Es war kein wildes Tier, das er hörte. Da schnarchte einer! 108
Und wie der Kerl schnarchte! Er war also nicht allein auf der winzigen Felseninsel. Wenn diese Erkenntnis auch etwas Tröstliches hatte, so erkannte er doch auch die Gefahr. Der Mann konnte nur ein Fischer sein, der vom Sturm überrascht worden war und hier Schutz gesucht hatte. Und ein Fischer in dieser Gegend war immer ein Ire! Hasard mußte diesen Mann finden und ausschalten, um nicht zuletzt doch noch sein Leben zu verlieren. Außerdem, überlegte er, während er behutsam und lautlos immer näher an den Schnarcher herankroch, mußte der Mann ein Boot hierhaben, und das wollte er sich sichern, um wieder von der Insel herunterzukommen. Jetzt war er so dicht an dem Schnarcher, daß er das röchelnde Einatmen zwischen dem trompetenartigen Ausstoßen der Luft hörte. Vorsichtig tastete er mit der Hand vor, bevor er sich wieder ein Stück auf den Mann zuschob. Und dann fühlte seine Hand klammfeuchten Stoff. Hasard blieb ein paar Sekunden lang reglos. Der Rhythmus des Schnarchers lief ohne Stocken weiter. Der Seewolf richtete sich auf die Knie, wechselte die Pistole von der linken Hand in die rechte und rutschte noch etwas heran, bis er unmittelbar neben dem Mann kniete. Die rechte Hand bereit zum Zuschlagen tastete er wieder nach ihm. Seine Fingen fühlten eine rauhe, fast durchnäßte Wolljacke, und er erkannte, daß der Mann mit dem Rücken zu ihm lag. Vorsichtig fühlten seine Fingerspitzen weiter und tasteten über den Kragen der Jacke in feuchtsträhniges Haar. Das Schnarchen brach abrupt ab. Die Berührung am Kopf schien den Mann zu beunruhigen, und Hasard hatte den Eindruck, daß er aufwachte. Bevor das geschah, schlug er mit der Pistole zu. Der Mann 109
stöhnte leise und blieb reglos liegen. »Schlaf gut, mein Freund«, murmelte Hasard zufrieden, drehte den Mann auf den Rücken und begann, seine Kleidung zu durchsuchen. Die Jackentaschen waren leer, aber im Gürtel entdeckte er ein Messer. Es war gut, wieder eine Waffe in der Hand zu haben, fand er, und steckte es in den Hosenbund. Dann zog er dem Bewußtlosen den Gürtel aus der Hose und fesselte ihm damit die Hände. »Sicher ist sicher«, murmelte er dabei. »Morgen früh werde ich mir mal ansehen, wen ich da eingefangen habe, und dann werden wir uns in aller Ruhe unterhalten.«
Philip Hasard Killigrew erwachte, als das erste Tageslicht in die Höhle fiel. Er hatte sich dicht hinter dem Eingang gegen die Wand gelehnt, in sicherem Abstand von dem Fremden. Auch Fesseln waren niemals ein absolut sicherer Schutz. Noch im Halbschlaf hörte er das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung. Als er die Augen öffnete und zur rissigen Felsdecke der Höhle hinaufstarrte, brauchte er eine Weile, um sich zu erinnern, wo er sich befand. Die wenigen Stunden des Schlafes in unbequemer, verkrampfter Haltung hatten ihn kaum erfrischt. Aber vor allem verspürte er einen kräftigen Hunger, und das war schon ein sehr positives Zeichen. Bisher hatte die völlige Erschöpfung, das Verlangen des Körpers nach Ruhe alles andere überlagert. Aber zuerst mußte er jetzt nach dem Mann sehen, den er zusammengeschlagen hatte. Er war etwas beunruhigt, als er kein Schnarchen hörte. Vielleicht habe ich zu hart zugeschlagen, dachte er. Oder der Mann hatte seine Fesseln lösen können und war geflüchtet. Aber wohin? Bei dem Wetter 110
kam er auch mit einem Boot nicht von der Insel weg. Er war noch da, an derselben Stelle, an der Hasard ihn betäubt hatte, und jetzt, als er an ihn herantrat, hörte er den ruhigen, regelmäßigen Atem des Mannes. Hier im Inneren der Höhle, wo nur reflektierte Lichtstrahlen hereingelangten, herrschte ein schummeriges Halbdunkel, in dem nicht einmal Farben sichtbar wurden. Der Mann war nur eine dunkle Silhouette. Hasard überzeugte sich, daß das Messer griffbereit im Hosenbund steckte. Dann beugte er sich über den Mann und sagte: »He, du!« Der Mann rührte sich nicht. Dafür setzte das Schnarchen wieder ein. »He, aufwachen!« sagte Hasard lauter und trat dem Mann in den Hintern. Das Schnarchen brach jäh ab. Fluchend richtete der Mann sich auf und starrte Hasard wütend an. Und dann riß er die Augen auf. »Hasard?« Der Seewolf fuhr beim Klang der Stimme zusammen. Es war eine Stimme, die er nie wieder zu hören geglaubt hatte. »Ben! Ben Brighton!« Er ließ sich neben dem Mann auf die Knie fallen und blickte ihm ins Gesicht. »Bist du es wirklich, Ben, du altes Seepferd?«
ENDE
Die Insel der Vögel von William Garnett
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Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, erwacht aus tiefer Bewußtlosigkeit. In der wilden Irischen See treibt er auf einem Holzschott - schwer angeschlagen, frierend, hungrig, durstig. Sein Feind ist die See und die Küste. Entweder macht die See ihn fertig, oder die Iren schlagen ihn tot, sobald er festes Land erreicht. Doch .dann landet er auf einer Insel, die unbewohnt zu sein scheint. Für den Seewolf beginnt eine Robinsonade voller Gefahren ...
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