Die Pflegeversicherung Gaertner, Gansweid, Gerber, Schwegler, von Mittelstaedt (Hrsg.)
Die Pflegeversicherung Handbuch zur Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung Herausgeber Thomas Gaertner, Barbara Gansweid, Hans Gerber Friedrich Schwegler, Gert von Mittelstaedt 2., aktualisierte und erweiterte Auflage
de Gruyter Berlin . New York
Herausgeber Dr. med. Thomas Gaertner Leiter Stabs- und Servicebereich Wissen und Kommunikation MDK Hessen Zimmersmu¨hlenweg 23 61440 Oberursel
Dr. med. Friedrich Schwegler Leiter Referat Pflegeversicherung MDK Nordrhein Bismarckstraße 43 40210 Du¨sseldorf
Dr. med. Barbara Gansweid Leiterin des Fachreferates Pflege Leiterin der SEG 2 „Pflege“ MDK Westfalen-Lippe Hermannstraße 1 33602 Bielefeld
Dr. med. Gert von Mittelstaedt Leitender Arzt und kommissarischer Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Hessen Zimmersmu¨hlenweg 23 61440 Oberursel
Dr. med. Hans Gerber Leitender Arzt Leiter der SEG 2 „Pflege“ MDK Bayern Putzbrunner Straße 73 81739 Mu¨nchen Das Werk entha¨lt 11 Abbildungen und 40 Tabellen. Im Hinblick auf einen versta¨ndlichen und flu¨ssigen Sprachstil wurde an verschiedenen Stellen im Text auf die Ausformulierung in der weiblichen Sprachform verzichtet. ISBN 978-3-11-020709-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ª Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. – Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzula¨ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fu¨r Vervielfa¨ltigungen, ¢bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Der Verlag hat fu¨r die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mu¨he darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfa¨ltiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes ko¨nnen Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag u¨bernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden du¨rfen. Vielmehr handelt es sich ha¨ufig um gesetzlich geschu¨tzte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Projektplanung und Projektmanagement: Dr. Petra Kowalski. Herstellung: Marie-Rose Dobler. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Mu¨ntzer“, Bad Langensalza. Einbandgestaltung: deblik, Berlin.
Geleitwort
Die im Jahre 1994 beschlossene soziale Pflegeversicherung ist mit Blick auf die demografische Entwicklung, vera¨nderte Familienstrukturen und die Mo¨glichkeiten einer Hochleistungsmedizin, die auch a¨lteren Menschen zu Gute kommt, aus den sozialen Sicherungssystemen nicht mehr wegzudenken. Sie hat sich als fu¨nfte Sa¨ule der Sozialen Sicherung fest etabliert. Mit ihr war und ist die Ta¨tigkeit der Medizinischen Dienste fest verbunden. Anders als in anderen Sozialleistungsbereichen ist die Feststellung des sozialrechtlichen „Versicherungsfalles“ der Pflegebedu¨rftigkeit unabdingbar mit der Begutachtung durch den MDK verbunden. Ohne MDK-Begutachtung gibt es keine Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach SGB XI. Diese Sondersituation und die vielfa¨ltigen Aufgaben der Qualita¨tssicherung einer bedarfsgerechten Pflege stellen hohe Anspru¨che mit zugleich großer Verantwortung. Dass die Medizinischen Dienste diesen Anspru¨chen auch aus der Sicht des Gesetzgebers gerecht geworden sind, machen die MDK-bezogenen Aufgabenerweiterungen durch das am 01. 07. 2008 in Kraft getretene Pflegeweiterentwicklungsgesetz deutlich. Beispielhaft seien genannt: ¢ Begutachtung unter Beru¨cksichtigung besonderer Betreuungsbedarfe fu¨r Menschen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz ¢ spezielle Anforderungen fu¨r die Begutachtung von Kindern ¢ umfassende Beru¨cksichtigung eines etwa vorhandenen Rehabilitationspotentials ¢ umfassende, periodische Pru¨fung von ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen mit dem Schwerpunkt Ergebnis-Qualita¨t ¢ Qualita¨ts-Dokumentation als valide Grundlage fu¨r einrichtungsbezogene Transparenz gepru¨fter Pflegeeinrichtungen ¢ Verku¨rzung des Verwaltungs- und Begutachtungsverfahrens Ich bin sicher, dass die MDK-Gemeinschaft – unterstu¨tzt durch verdienstvolle systemische Vorarbeiten der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) und gemeinsam mit den Pflegekassen – auch diese neuen Herausforderungen souvera¨n bewa¨ltigen wird. Das vorliegende Werk stellt dazu auch aus der Sicht des GKV-Spitzenverbandes eine nahezu unverzichtbare theoretische und zugleich praxisorientierte Handlungsgrundlage dar. Es ist u¨ber den MDK hinaus eine ergiebige Wissensbo¨rse fu¨r alle mit der Pflege befassten Akteure: Pflege-Einrichtungen, Pflegekassen, Kommunen, Beratungs- und Sozialdienste und viele andere. K.-Dieter Voß Vorstand GKV-Spitzenverband zugleich Verband der Pflegekassen
„Die pflegerische Versorgung der Bevo¨lkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ (§ 8 SGB XI)
Vorwort
Im Jahre 1994 wurde das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedu¨rftigkeit verabschiedet. Um der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung Rechnung zu tragen, wurde die Pflegeversicherung als soziale Pflegeversicherung fu¨r die gesetzlich Krankenversicherten und als private Pflege-Pflichtversicherung fu¨r die bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen Versicherten geschaffen. Seit ihrem Bestehen hat sich die Pflegeversicherung als ein wichtiger Baustein bei der Absicherung sozialer Risiken erwiesen. Versicherte erhalten Leistungen bei ha¨uslicher Pflege seit dem 01. 04. 1995 und bei stationa¨rer Pflege seit dem 01. 07. 1996. Gegen Ende des Jahres 2008 erhielten u¨ber zwei Millionen Pflegebedu¨rftige Leistungen der Pflegeversicherung, davon mehr als zwei Drittel im ha¨uslichen Bereich. Neben den allgemeinen Grundsa¨tzen der Qualita¨t, Humanita¨t und Wirtschaftlichkeit gilt fu¨r die Pflegeversicherung der Vorrang von Pra¨vention und Rehabilitation sowie der Vorrang von ha¨uslicher Pflege. Durch geeignete Maßnahmen soll der Eintritt von Pflegebedu¨rftigkeit verhindert und Unterstu¨tzung gewa¨hrt werden, damit pflegebedu¨rftige Menschen so lange wie mo¨glich ein selbst bestimmtes und selbsta¨ndiges Leben in ihrer ha¨uslichen Umgebung fu¨hren ko¨nnen. Um diesen Anspru¨chen bedarfsgerechter entsprechen zu ko¨nnen, traten im Jahr 2002 das Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetz sowie das Gesetz zur Qualita¨tssicherung und zur Sta¨rkung des Verbraucherschutzes in der Pflege in Kraft. Damit konnte in einem ersten Schritt der Betreuungsaufwand von Menschen mit demenziellen Erkrankungen, mehr als dies bisher der Fall war, beru¨cksichtigt, die pflegenden Angeho¨rigen entlastet und die Qualita¨t in der Pflege weiter verbessert werden. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung im Jahr 2008 wurde der Vorrang von Pra¨vention und Rehabilitation gesta¨rkt. Die Leistungen der Pflegeversicherung, insbesondere auch fu¨r demenziell Erkrankte wurden erho¨ht. Die Beratung der Pflegebedu¨rftigen und ihrer Angeho¨rigen wurde institutionalisiert und deutlich ausgebaut. Die Frequenz der MDK-Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen wurde stark angehoben. Die Pru¨fergebnisse sind laienversta¨ndlich und vergleichbar sowohl im Internet als auch in anderer geeigneter Form zu vero¨ffentlichen. Fu¨r den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) stellt die Pflegeversicherung ein umfangreiches Aufgabengebiet dar. Bis 2009 hat der MDK anna¨hernd 20 Millionen Einzelfallbegutachtungen und mehr als 40.000 Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen durchgefu¨hrt. ¢ber die Jahre hat sich dadurch ein hohes Maß an Professionalita¨t in beiden Aufgabenfeldern herausgebildet. Ebenso gewinnt die Beratung der Pflegekassen und ihrer Verba¨nde durch den MDK, beispielsweise bei der
VIII
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Vorwort
Entwicklung neuer Konzepte, der Ausgestaltung der Leistungs- und Qualita¨tsvereinbarungen sowie in Form der Mitarbeit in Gremien, einen immer ho¨heren Stellenwert. Zur Gewa¨hrleistung des hohen Niveaus der aufgefu¨hrten Leistungen und zur Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung erfolgen regional und u¨berregional koordinierte Fortbildungsmaßnahmen. Um den gesamtgesellschaftlichen Auftrag zur Verbesserung der Situation der Pflegebedu¨rftigen zu erfu¨llen, erfolgte von Anfang an eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Pflege-Versicherungsgesetzes. Aktueller Ausdruck hierfu¨r ist die Neufassung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs. Um eine sta¨ndige Aktualita¨t der Ausfu¨hrungsbestimmungen, die Anpassung an den wissenschaftlichen Fortschritt sowie die Einheitlichkeit der sachversta¨ndigen Ta¨tigkeit des MDK sicherzustellen, hat die MDK-Gemeinschaft fu¨r den Bereich der Pflegeversicherung die sozialmedizinische Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) eingerichtet. Diese hat bei der notwendigen Neuauflage des vorliegenden Handbuchs das aktuelle Wissen zur Pflegeversicherung gebu¨ndelt. Das vorliegende Buch soll das Spektrum der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung sowie angrenzende Themenfelder der Pflege darstellen, Problembereiche deutlich machen und Lo¨sungsansa¨tze fu¨r eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung aufzeigen. Es richtet sich nicht nur an die Mitarbeiter des MDKs, sondern daru¨ber hinaus an mit der Thematik befasste Institutionen, Leistungserbringer und Kostentra¨ger, an ¥rzte, Pflegefachkra¨fte und Juristen, an die Experten in der Politik sowie weitere interessierte Leser. Thomas Gaertner Barbara Gansweid Hans Gerber Friedrich Schwegler Gert von Mittelstaedt
Inhalt
Abku¨rzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1
Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungspolitische Reformen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Gaertner
2 2.1
Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . Valentin Aichele Systemimmanente Prinzipien und Funktion der sozialen Pflegeversicherung Thomas Gaertner Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung im Auftrag der sozialen Pflegeversicherung . . . . Thomas Gaertner und Gert von Mittelstaedt Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Su¨ß
2.2 2.3
2.4
3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2
Leistungen der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Schwegler und Heinz Paul Buszello Leistungen fu¨r Pflegesettings bei ha¨uslicher Versorgung des Pflegebedu¨rftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungen fu¨r Pflegepersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungen fu¨r Pflegesettings bei stationa¨rer Versorgung des Pflegebedu¨rftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung der Pflegebedu¨rftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Diedrich Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versicherungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI . . Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid und Ulrich Heine
1
11 11 16
19 34
43
44 49 50 51 53 53 54 55 57 61 61 65
X
|
5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
5.8 5.9 5.10 5.11 6 6.1 6.2 6.3 7 7.1 7.2 7.3 7.4
8 8.1 8.2
Inhalt
Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid und Ulrich Heine Klassifizierung der Pflegebedu¨rftigkeit in Pflegestufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid und Ulrich Heine Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid und Ulrich Heine Typologie der Begutachtung nach SGB XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Erwachsenen unter besonderer Beru¨cksichtigung der Demenz . . . . . . . Sandra Bischof, Bernhard Fleer, Christoph Jonas Tolzin und Friedrich Schwegler Begutachtung von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid und Martina Stahlberg Erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Seitz und Hans-Christoph Vogel Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI . . . . . . . . . . . Friedrich Schwegler Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI . . . . . . . . . . Paul-Ulrich Menz und Dorit Bu¨chner Rehabilitation und Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Hagen und Barbara Gansweid Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Lu¨bke Rehabilitation bei Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Ro¨sler und Bernhard Fleer Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planung und Durchfu¨hrung des Modellprojektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Berg Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gansweid, Klaus Wingenfeld und Andreas Bu¨scher Anpassung des Verfahrens an die Begutachtung von Kindern . . . . . . . . . . . Volker Meintrup, Sieglinde Eckardt und Christa Bu¨ker Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias von Schwanenflu¨gel
66 68 72 87
93
103 106 112 115 123 123 128 132 139 139 140 149
155
Besonderheiten bei der Begutachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Begutachtung im Europa¨ischen Wirtschaftsraum (EWR) . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Friedrich Schwegler Pflegebegutachtungen bei Migrantinnen und Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Susanne Glodny, Yu¨ce Yilmaz und Sylke Butenuth-Tho¨r
Inhalt
| XI
8.3
Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Michalke und Wolfgang Seger
171
9 9.1
Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege . . . . . . . . Entwicklung der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen . . . . . . . . . . . . Hans Gerber und Friedrich Schwegler Gesetzliche Grundlagen der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen . . Hans Gerber Qualita¨tspru¨fungen in Einrichtungen der ambulanten und stationa¨ren Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Fischer und Hans Gerber Transparenz der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Gerber Qualita¨tsindikatoren in der ambulanten und stationa¨ren Pflege . . . . . . . . . Eckhart Schnabel
177 177
Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung der Pflegekassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Schwegler Beratung von Pflegeeinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Schwegler und Wolfgang Machnik
201 201
9.2 9.3
9.4
9.5 10 10.1 10.2 11
Kompetenz und Fortbildung des Medizinischen Dienstes im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert von Mittelstaedt und Thomas Gaertner
12 12.1
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen unter demografischepidemiologischen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Mueller Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Kasperbauer und Harold Engel
12.2 13
180
186
188 194
206
211 219 219 225
Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Seitz
235
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis des online-Zusatzmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255 259 261 275
Abku¨rzungsverzeichnis
A ABDEL ADL AEDL ¥ZQ ATL B BaFin BGB BIP BIVA BMA BMAS BMfSFJ BMG BMGS BRD BRi BSG BSHG BVerfG DAlzG DemTect DHL DIMDI DIN DIP DGSMP DNEbM DNQP DRV DV DZA EBM EbM EDV EFQM EG EN ET 6-6 EU
Anleitung (bei Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens) Aktivita¨ten, Beziehungen und existenziellen Erfahrungen des Lebens Activities of Daily Living Aktivita¨ten und existenzielle Erfahrungen des Lebens ¥rztliches Zentrum fu¨r Qualita¨t in der Medizin Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens Beaufsichtigung (bei Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens) Bundesanstalt fu¨r Finanzdienstleistungsaufsicht Bu¨rgerliches Gesetzbuch Bruttoinlandsprodukt Betreuungsangebote im Alter und bei Behinderung e. V. Bundesministerium fu¨r Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium fu¨r Arbeit und Soziales Bundesministerium fu¨r Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium fu¨r Gesundheit Bundesministerium fu¨r Gesundheit und Soziale Sicherung Bundesrepublik Deutschland Begutachtungs-Richtlinien Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Demenz-Detektion Deutsche Hochdruckliga Deutsches Institut fu¨r Medizinische Dokumentation und Information Deutsches Institut fu¨r Normung e. V. Deutsches Institut fu¨r angewandte Pflegeforschung e. V. Deutschen Gesellschaft fu¨r Sozialmedizin und Pra¨vention e. V. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin Deutsches Netzwerk fu¨r Qualita¨tsentwicklung in der Pflege Deutsche Rentenversicherung Deutscher Verein fu¨r o¨ffentliche und private Fu¨rsorge e. V. Deutsches Zentrum fu¨r Altersfragen Einheitlicher Bewertungsmaßstab Evidenzbasierte Medizin Elektronische Datenverarbeitung European Foundation for Quality Management Europa¨ische Gemeinschaft Europa Norm Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre Europa¨ische Union (European Union)
XIV
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Abku¨rzungsverzeichnis
EuGH EWR e. V. FIM FTDD FuWRi G-BA GdB GES GG GKV GKV-WSG GMG GSbG HeimG HRi IADL ICD ICD-10 ICF ICIDH ICIDH-2 ICN IfSG InfoMeD InfoMeD-KK IPP IPW IQWiG ISO IT KC KCG KCO KCPP KCQ
Europa¨ischer Gerichtshof (Gerichtshof der Europa¨ischen Gemeinschaften) Europa¨ischer Wirtschaftsraum eingetragener Verein Functional Independence Measure Test zur Fru¨herkennung der Demenz mit Depressionsabgrenzung Richtlinien u¨ber die Grundsa¨tze der Fort- und Weiterbildung im Medizinischen Dienst Gemeinsamer Bundesausschuss Grad der Behinderung Griffiths Entwicklungsskalen Grundgesetz fu¨r die Bundesrepublik Deutschland Gesetzliche Krankenversicherung GKV-Wettbewerbssta¨rkungsgesetz GKV-Modernisierungsgesetz Gesellschaft fu¨r Systemberatung im Gesundheitswesen Heimgesetz Ha¨rtefall-Richtlinien Instrumental Activities of Daily Living International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Behinderung und Gesundheit International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps – Internationale Klassifikation der Scha¨digungen, Fa¨higkeitssto¨rungen und Beeintra¨chtigungen International Classification of Impairments, Activities, and Participation – Internationale Klassifikation der Scha¨den, Aktivita¨ten und Partizipation International Council of Nursing Infektionsschutzgesetz Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste fu¨r die Krankenund Pflegekassen Institut fu¨r Public Health und Pflegeforschung der Universita¨t Bremen Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld Institut fu¨r Qualita¨t und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen International Organization for Standardization Informationstechnologie Kompetenz-Centrum (der MDK-Gemeinschaft) Kompetenz-Centrum Geriatrie Kompetenz-Centrum Onkologie Kompetenz-Centrum fu¨r Psychiatrie und Psychotherapie Kompetenz-Centrum Qualita¨tssicherung und Qualita¨tsmanagement
Abku¨rzungsverzeichnis
KDA K. d. o¨. R. KE KiBG KQP LA MBO-¥ MB/PPV MD MDK MDS MiMi MMSE NBA NOC NOG OECD PEDI PflEG PflegeZG PEA PflegeVG PflRi PfWG PPV PQsG PTVA PTVS PV PYLL QPR RAI RAI 2.0 RAI HC ROT RVO SEG SEG 2 SET SGB SGG SINDBAD SMD SPV TFDD
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Kuratorium Deutsche Altershilfe Ko¨rperschaft des o¨ffentlichen Rechts Kompetenz-Einheit (der MDK-Gemeinschaft) Kinder-Beru¨cksichtigungsgesetz Kontinuierliche Qualita¨tspru¨fung Lebensaktivita¨ten (Muster-) Berufsordnung fu¨r die deutschen ¥rztinnen und ¥rzte Musterbedingungen fu¨r die private Pflege-Pflichtversicherung Medizinische Dienste Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (vormals: Medizinischer Dienst der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen e. V.) Migranten fu¨r Migranten Mini-Mental State Examination Neues Begutachtungsassessment Nursing Outcomes Classififation GKV-Neuordnungsgesetz Organisation for Economic Cooperation and Developement Pediatric Evaluation of Disability Inventory Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetz Pflegezeitgesetz Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz Pflege-Versicherungsgesetz Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien Pflege-Weiterentwicklungsgesetz Private Pflege-Pflichtversicherung Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant Pflege-Transparenzvereinbarung stationa¨r Pflegeversicherung Potential Years of Life Lost Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien Resident Assessment Instrument Resident Assessment Instrument, Version 2.0 Resident Assessment Instrument – Home Care Realita¨tsorientierungstherapie Reichsversicherungsordnung Sozialmedizinische Expertengruppe (der MDK-Gemeinschaft) Sozialmedizinische Expertengruppe „Pflege“ Selbst-Erhaltungs-Therapie Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Sozialmedizinische Informationsdatenbank fu¨r Deutschland Sozialmedizinischer Dienst Soziale Pflegeversicherung Test zur Fru¨herkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung
XVI
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TQM T¢ U V¢ VVG WHO YLD ZePB
Abku¨rzungsverzeichnis
Total Quality Management Teilweise ¢bernahme (bei Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens) Unterstu¨tzung (bei Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens) Vollsta¨ndige ¢bernahme (bei Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens) Versicherungsvertragsgesetz World Health Organisation – Weltgesundheitsorganisation Years Lived with Disability Zentrum fu¨r Pflegeforschung und Beratung
1 Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungspolitische Reformen der Pflegeversicherung Thomas Gaertner
Eine allgemeingu¨ltige Bestimmung des Wesens des Menschen sto¨ßt in einer liberalen und multikulturell formierten Gesellschaft auf Schwierigkeiten. Keines der tradierten Deutungsmuster des Menschseins1 bleibt substantiell unwidersprochen, keines kann alleinige Geltung beanspruchen, keines kann daher in einem demokratischen und sozialen Staat2 zur ausschließlichen Legitimation des Sozialsystems dienen. Die Herausstellung der Hilfsbedu¨rftigkeit im Sinne eines umfassenden Angewiesenseins auf fremde – gegenseitige oder instrumentelle – Hilfe als wesenhaftes Merkmal des Menschen ist Ausdruck einer bestimmten Anschauung, na¨mlich der Interpretation des Menschen als Ma¨ngelwesen. Hilfsbedu¨rftigkeit kann somit nicht als allgemein verbindlich soziale Interventionen und Institutionen begru¨ndend herangezogen werden [Ladeur 2006]. Folgerichtig erscheint der Terminus Hilfsbedu¨rftigkeit weder im Grundgesetz (GG) noch im Sozialgesetzbuch (SGB). Demgegenu¨ber bietet der kontextabha¨ngig auszulegende Begriff der Hilfebedu¨rftigkeit – in sozialrechtlichen Verfu¨gungen operationalisiert als Hilfebedarf bzw. weiterhin spezifiziert als Pflegebedarf – grundgesetzkonforme, die Menschenwu¨rde verbu¨rgende Handlungsoptionen. Nur als unterstu¨tzendes Angebot tangiert wohlfahrtsstaatliche Hilfe nicht das Recht jedes Einzelnen „auf die freie Entfaltung seiner Perso¨nlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsma¨ßige Ordnung oder das Sittengesetz versto¨ßt“ (Art. 2 Abs. 1 GG). In diesem Sinne hat das Subsidiarita¨tsprinzip3 seine konstitutive Bedeutung als u¨bergeordnetes Wirkprinzip des Systems der sozialen Sicherung [Brennecke 2004, Gansweid 2005, Kesselheim 2000]. Im SGB XI findet dies seinen Niederschlag im § 6 Eigenverantwortung und § 8 Gemeinsame Verantwortung und dies in ¢bereinstimmung mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsfo¨rderung der Weltgesundheitsorganisation (World Health 1
Exemplarisch herausgegriffen seien: vernunftbegabtes Wesen – gemeinschaftgestaltendes Wesen (zoon logon echon – zoon politikon, Aristoteles), Ebenbild Gottes (ju¨disch-christliche Tradition), Pra¨destination (Johannes Calvin 1536), Maschinenmensch (L’Homme Machine, Julien Offray de La Mettrie 1748), Ma¨ngelwesen (Arnold Gehlen 1940). 2 „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG) 3 Das Subsidiarita¨tsprinzip erha¨lt seine Bedeutung gerade nicht ausschließlich dadurch, dass ihm zufolge bei ¢berforderung Einzelner oder gesellschaftlicher Gruppen staatliche Institutionen unterstu¨tzend oder ausgleichend eingreifen. Essentiell ist seine sozialphilosophische Intention, dass sowohl in Bezug auf das Individuum wie auch auf Gemeinschaften die Ausbildung perso¨nlicher Kompetenzen und der konstruktive Einsatz unmittelbaren Potentials den Vorrang haben vor kompensatorischen Eingriffen oder regulativer Einflussnahme beho¨rdlicher Instanzen.
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1 Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungspolitische Reformen
Organization – WHO) vom 21. November 1986. Sie bestimmt na¨mlich als zwei der fu¨nf priorita¨ren Handlungsfelder: gesundheitsgezogene Gemeinschaftsaktionen unterstu¨tzen sowie perso¨nliche Kompetenzen entwickeln. Erst in zweiter Instanz hat dann die gema¨ß dem Solidarprinzip4 gestaltete Sozialversicherung einzutreten. Deren Maximen werden im Sozialgesetzbuch einleitend wie folgt festgelegt: „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwu¨rdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen fu¨r die freie Entfaltung der Perso¨nlichkeit, insbesondere auch fu¨r junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schu¨tzen und zu fo¨rdern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewa¨hlte Ta¨tigkeit zu ermo¨glichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen“ (§ 1 Abs. 1 SGB I). Abha¨ngigkeit bedeutet, den Anforderungen des ta¨glichen Lebens selbststa¨ndig und aus eigener Kraft nicht mehr gewachsen zu sein.5 Anhaltende Abha¨ngigkeit von pflegerischen Maßnahmen kann den Perso¨nlichkeitsrechten entgegenstehen und Autonomieverlust besiegeln [Niehoff 2005]. Zur Absicherung des Pflegebedu¨rftigkeitsrisikos wurde daher als eigensta¨ndiger Zweig der Sozialversicherung die soziale Pflegeversicherung (SPV) geschaffen. Sie wurde organisatorisch der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angelehnt. Als Solidargemeinschaft ist somit auch die soziale Pflegeversicherung nach § 70 SGB V den allgemeinen Grundsa¨tzen der Qualita¨t, Humanita¨t6 und Wirtschaftlichkeit verpflichtet. Dem u¨bergeordnet fanden das Subsidiarita¨ts- sowie das Solidarprinzip unmissversta¨ndlich ihren Niederschlag in der sozialgesetzlich formulierten Zielsetzung der Pflegeversicherung (§ 2 SGB XI): „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedu¨rftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein mo¨glichst selbsta¨ndiges und selbstbestimmtes Leben zu fu¨hren, das der Wu¨rde des Menschen entspricht.“ Die soziale Pflegeversicherung ist Teil der deutschen Sozialversicherung, die in Etappen entstanden ist. So wurde zuna¨chst im Anschluss an vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert in England und Frankreich geleistete morbidita¨tsbezogene epidemiologische Untersuchungen und Entwicklungen eines paternalistischen Wohlfahrtsgedankens auch in Deutschland Krankheit als gesellschaftliches Problem medizinischwissenschaftlich betrachtet. In der Bewegung der „sozialen Medizin“ der Jahre 1848/49 fanden diese Erkenntnisse durch Vertreter wie Salomon Neumann
4 Der Ho¨he des Beitrags zur Sozialversicherung richtet sich nach den jeweiligen beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten. Unabha¨ngig davon haben alle Versicherten als Solidargemeinschaft den gleichen Anspruch auf angemessene Leistungen. 5 Demgegenu¨ber zeichnet sich eine autonome Person nach einer ga¨ngigen Auffassung gerade dadurch aus, nicht nur u¨ber den eigenen, mit selbsterwogenen Entwu¨rfen zur Deckung gebrachten Aktionsradius perso¨nlich frei entscheiden zu ko¨nnen, sondern auf der Grundlage solcher Erwa¨gungen außerdem handlungsfa¨hig zu sein [Beauchamp / Childress 1979/2008]. 6 Gerade dem Humanita¨tsaspekt wird im § 8 Abs. 2 SGB XI besonders Rechnung getragen: „Sie unterstu¨tzen und fo¨rdern daru¨ber hinaus die Bereitschaft zu einer humanen Pflege . . . wirken so auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hin.“
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(1819–1908) und Rudolf Virchow (1821–1902), von 1880–1893 Mitglied des Reichstags, politisch motivierten Ausdruck [Hurrelmann et al. 2006]. Zu Beginn des Jahres 1881 wurde dann ein erster Entwurf eines Sozialversicherungsgesetzes vorgelegt, in dem es hieß: „daß der Staat sich in ho¨herem Maße als bisher seiner hilfsbedu¨rftigen Mitglieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanita¨t und des Christentums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik“. Die sich daran anschließende Sozialgesetzgebung zur Absicherung der großen Lebensrisiken intendierte somit gerade auch die Herstellung des inneren Friedens. Zur Ero¨ffnung des 5. Deutschen Reichstags am 17. November 1881 verlas dann der damalige Reichskanzler Otto Fu¨rst von Bismarck die sogenannte und wohl auch von ihm redigierte Kaiserliche Botschaft Wilhelms I. Sie leitete die eigentliche deutsche Sozialgesetzgebung ein. Diesem staatlichen Fu¨rsorgeprogramm zur institutionellen Absicherung der Arbeiter gegen die Risiken und Folgen von Betriebsunfa¨llen, Krankheit sowie Alter oder Invalidita¨t wird in der kritisch-historischen Geschichtsschreibung nicht unwidersprochen der Charakter einer sozial-politischen magna charta zugestanden [Lu¨schen 2000]. Sie markiert aber eine deutliche Akzentverschiebung sozialstaatlichen Versta¨ndnisses, insbesondere im Vergleich zu den sozialpolitischen Entwicklungen in Großbritannien und Frankreich.7 Nach den Anku¨ndigungen in der Kaiserlichen Botschaft nahm dann wa¨hrend der Jahre 1883 bis 1891 die soziale Gesetzgebung im Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, im Unfallversicherungsgesetz und im Gesetz betreffend die Invalidita¨ts- und Altersabsicherung Gestalt an. Dies war auch fu¨r das Ausland vorbildlich. Im Verlauf von mehr als hundert wechselvollen Jahren fu¨hrte die Gesetzgebung u¨ber die Zusammenfassung in der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom Jahre 1911 zur Grundlage des gegenwa¨rtigen Wohlfahrtsstaates. Das System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) basiert als Teil eines gesellschaftlichen Netzwerks auf ¢ dem Prinzip der Versicherung, ¢ dem Prinzip der Verknu¨pfung von staatlicher Rahmengesetzgebung und sozialer Selbstverwaltung und ¢ dem Prinzip der organisatorischen Vielfalt der Versicherungsarten und -tra¨ger. Das bundesdeutsche Sozialversicherungssystem auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ist so zu einem konstitutiven Element unserer heutigen Gesellschaft geworden. Seine Zweige sind selbstverwaltete Institutionen mit der Intention einer solidarisch organisierten Selbsthilfe. Neben den Sozialleistungstra¨gern der Kommunen ruht das System der sozialen Sicherung der BRD somit auf den folgenden historisch gewachsenen fu¨nf Sa¨ulen:
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Auf den Erfahrungen mit der aufkommenden Industrialisierung beruhten die Annahmen der Planbarkeit von Zukunft, der rationalen Erfassbarkeit der Pha¨nomene und ihrer Rekonstruktion nach Zwecken. „Deutschland, genauer: Preußen mit seiner rigiden milita¨risch-bu¨rokratischen Staatlichkeit, ist folgerichtig zu dem Land geworden, das die Sozialpolitik im modernen Sinn ausgebildet hat: als sozialphilosophisches Konzept wie als politische Institution“ [Metz 2008].
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¢ gesetzliche Krankenversicherung (SGB V vom 20. 12. 1988) 1. 12. 1884 Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 ¢ gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII vom 7. 8. 1996) 1. 10. 1885 Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 ¢ gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI vom 18. 12. 1989) 1. 1. 1891 Gesetz betreffend die Invalidita¨ts- und Altersversicherung vom 28. Mai 1889 ¢ Arbeitsfo¨rderung (SGB III vom 24. 3. 1997) 16. 7. 1927 Gesetz u¨ber Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ¢ soziale Pflegeversicherung (SGB XI vom 26. 5. 1994) 1. 1. 1995 Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedu¨rftigkeit vom 26. Mai 1994 Nach heftigen parlamentarischen Debatten und za¨hen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss wurde das Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) am 24. Mai 1994 verabschiedet. Gegenstand der Kontroversen war nicht zuletzt die Finanzierungsfrage. Kontra¨re Positionen wurden vor allem im Hinblick auf die Lohnnebenkosten vertreten: Kapitaldeckungsverfahren versus Umlageverfahren, Privatversicherung versus Sozialversicherung, arbeitnehmerseitige versus parita¨tische Finanzierung. Ein Kompromiss wurde in einer umlagefinanzierten Sozialversicherung mit eingeschra¨nkt parita¨tischer Finanzierung gefunden. So wurde als sozialgeschichtliches Novum in der BRD erstmals nach dem Grundsatz vom Umbau des Sozialstaates mittels Kompensation vorgegangen. Als Ausgleich fu¨r die aus den Arbeitgeberbeitra¨gen entstehenden Belastungen der Wirtschaft haben die La¨nder mit dem Buß- und Bettag einen landesweiten gesetzlichen Feiertag aufgehoben, der stets auf einen Werktag fa¨llt. Lediglich in Sachsen wurde dieser Feiertag beibehalten; ausgleichend zahlen dort allerdings die Arbeitnehmer einen ho¨heren Eigenanteil. Mit Wirkung vom 1. Januar 1995 wurde die soziale Pflegeversicherung als vorerst letzte Sa¨ule der Sozialversicherung stufenweise etabliert [Jung 1997]. Einige organisationsrechtliche Vorschriften wurden bereits am 1. Juni 1994 wirksam, wie die Vorschriften u¨ber die Anschubfinanzierung fu¨r die Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesla¨ndern (Art. 52 PflegeVG) und die Vorschriften u¨ber die Erma¨chtigung der Krankenkassen zu vorbereitenden Arbeiten (Art. 46 PflegeVG). Das Pflege-Versicherungsgesetz sichert keine umfassende Versorgung im Sinne einer Vollversicherung gegen das Risiko individueller Hilfebedu¨rftigkeit. Es soll allerdings wesentlich dazu beitragen, einen Teil des pflegebedingten Hilfebedarfs zu kompensieren. Zudem sollen dadurch Privatpersonen wie kommunale Haushalte finanziell entlastet und die Beanspruchung von Sozialhilfe reduziert werden. In gemeinsamer Verantwortung zur Beteiligung leistet die Pflegeversicherung also nur einen erga¨nzenden Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der pflegerischen Versorgung der Versicherten (Teilabsicherung). Dazu geho¨rt auch, dass durch die unterstu¨tzenden Leistungen des Pflege-Versicherungsgesetzes die Mo¨glichkeiten zur ha¨uslichen Pflege besser ausgescho¨pft werden ko¨nnen. Die Anspruchsvoraussetzungen sind gebunden an Art und Ha¨ufigkeit der Verrichtungen, bei denen Hilfebedarf besteht, Zuordnung der Verrichtungen zum Tagesablauf und an den Zeitaufwand. Beru¨cksichtigungsfa¨hig ist nur der Hilfebedarf bei gesetzlich definierten Verrichtungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung.
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Das Pflege-Versicherungsgesetz entha¨lt als Artikel 1 das Sozialgesetzbuch (SGB) – Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung. Es umfasst die Regelungen sowohl zur sozialen Pflegeversicherung und als auch zur sogenannten privaten Pflege-Pflichtversicherung (PPV). In den Schutz der sozialen Pflegeversicherung sind kraft Gesetzes alle einbezogen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Wer bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert ist, muss gema¨ß § 1 Abs. 2 SGB XI eine private Pflegeversicherung abschließen, daher die Bezeichnung private Pflege-Pflichtversicherung. Die Leistungen der PPV mu¨ssen denen der SPV gleichwertig sein. Allerdings tritt an die Stelle der Sachleistungen die Kostenerstattung. Das Gesetz zur Qualita¨tssicherung und zur Sta¨rkung des Verbraucherschutzes in der Pflege (Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz – PQsG) vom 21. 06. 2001, das Gesetz zur Erga¨nzung der Leistungen bei der ha¨uslichen Pflege von Pflegebedu¨rftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetz – PflEG) vom 14. 12. 2001 und das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz – PfWG) vom 28. 05. 2008 sind wesentliche Eckpfeiler der Reformbestrebungen der Pflegeversicherung. Sie stellen ordnungspolitische Reaktionen auf Forderungen zur Qualita¨tsverbesserung, zur Sicherstellung der Versorgung sowie zur Transparenz dar. Einige wichtige Stationen zur dynamischen Entwicklung der SPV, ihrer gesetzlichen Grundlagen und Vorschriften werden nachfolgend im ¢berblick aufgefu¨hrt. 26. 05. 1994 Verabschiedung des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedu¨rftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) 07. 11. 1994 Beschluss der Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen u¨ber die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit (Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien – PflRi) gema¨ß § 17 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V als Grundlage der Begutachtung 01. 01. 1995 Beginn der Beitragszahlungen 01. 04. 1995 Beginn der Leistungen zur ha¨uslichen Pflege (1. Stufe) 29. 05. 1995 Beschluss der Begutachtungsanleitung „Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ als Richtlinie nach § 282 Satz 3 SGB V 10. 07. 1995 Richtlinien zur Anwendung der Ha¨rtefallregelungen des § 36 Abs. 4 und des § 43 Abs. 3 SGB XI (Ha¨rtefall-Richtlinien, gea¨ndert durch Beschlu¨sse vom 19. 10. 1995, 03. 07. 1996 und 28. 10. 2005) 10. 07. 1995 Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in der ambulanten Pflege 18. 08. 1995 Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in der Kurzzeitpflege 21. 12. 1995 Erga¨nzungsbeschluss zu den Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien 07. 03. 1996 Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen
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14. 06. 1996 Erstes Gesetz zur ¥nderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch: ¢ Schaffung eines Leistungsanspruchs fu¨r Pflegebedu¨rftige in vollstationa¨ren Einrichtungen der Behindertenhilfe gema¨ß § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB XI ¢ Festlegung des fu¨r die einzelnen Pflegestufen jeweils mindestens beno¨tigten Zeitaufwands in bezug auf die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung gema¨ß § 15 Abs. 3 SGB XI ¢ § 53a SGB XI Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste 01. 07. 1996 Beginn der Leistungen zur stationa¨ren Pflege (2. Stufe) mit Erga¨nzung der Begutachtungsanleitung durch eine „Vorla¨ufige Begutachtungshilfe zur Einfu¨hrung der 2. Stufe des Pflege-Versicherungsgesetzes“ 21. 03. 1997 Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) aufgrund der §§ 17, 53a Nr. 1, 2, 4 und 5 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V als Ersatz der Begutachtungsanleitung „Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ 12. 09. 1997 erste bundesweite verbindliche MDK-interne Qualita¨tssicherungsmaßnahme „ambulanter“ und „stationa¨rer“ Pflegegutachten zuna¨chst gema¨ß BRi Abschnitt E 29. 04. 1998 Gemeinsame Auslegungshinweise der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen, des Medizinischen Dienstes der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen e. V. und des Bundesministeriums fu¨r Arbeit und Sozialordnung (BMA) zur Anwendung der Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) 29. 05. 1998 Zweites Gesetz zur ¥nderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Die BRi ersetzen die vorla¨ufige Begutachtungshilfe; mit Einfu¨hrung der Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung fu¨r die Verrichtungen der Grundpflege zuna¨chst befristet bis zum 31. 12. 1999, einmal verla¨ngert bis zum 31. 12. 2002. Die zeitliche Befristung der Anwendung der Zeitorientierungswerte wurde vom Bundesministerium fu¨r Gesundheit mit Schreiben vom 23. 10. 2002 aufgehoben. 05. 06. 1998 Drittes Gesetz zur ¥nderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch Festschreibung der Leistungsbetra¨ge der Pflegekassen fu¨r die stationa¨re Pflege im § 43 SGB XI vom 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 1999. 01. 01. 1999 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen u¨ber die von den Medizinischen Diensten fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung zu u¨bermittelnden Berichte und Statistiken vom 08. 12. 1997 21. 07. 1999 Viertes Gesetz zur ¥nderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch: ¢ Unterhaltsrechlichte Beru¨cksichtigung des Pflegegeldes: Damit wird sichergestellt, dass die Pflegeperson das Pflegegeld mo¨glichst ungeschma¨lert erha¨lt. ¢ Zahlung des Pflegegeldes im Sterbemonat, damit wird sichergestellt, dass zu viel gezahltes Pflegegeld im Sterbemonat nicht zuru¨ckzufordern ist. Diese Regelung ist mit der Regelung bei den Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar. ¢ Finanzierung der Pflegeeinsa¨tze durch die Pflegekassen. Vom 01. 08. 1999 an werden die Kosten fu¨r die Pflegeeinsa¨tze, die bei Pflegegeldleistungen abgerufen werden mu¨ssen, von der Pflegekasse getragen.
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¢ Verhinderungspflege (z. B. bei Urlaub oder Krankheit der eigentlichen Pflegeperson) durch Familienangeho¨rige oder durch Personen, die mit dem Pflegebedu¨rftigen in ha¨uslicher Gemeinschaft leben. Unter bestimmten Voraussetzungen ko¨nnen auch Familienangeho¨rige bei Ausu¨bung der Verhinderungspflege Leistungen bis zum Ho¨chstbetrag von 1.432 Euro mit der Pflegekasse abrechnen. ¢ Erho¨hung der leistungsrechtlichen Ho¨chstbetra¨ge in der Tages- und Nachtpflege. ¢ Wegfall der Wartezeit bei Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege. Bisher musst fu¨r die Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege grundsa¨tzlich eine Pflege von einem Jahr vorausgegangen sein. Diese Voraussetzung ist nun entfallen. 24. 9. 1999 Genehmigung (bzw. Zustimmung) des „gestrafften“ Gutachtenformulars und der Ausfu¨llhinweise dazu durch das Bundesministerium fu¨r Gesundheit (BMG) in Erga¨nzung der BRi 22. 12. 1999 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz) 22. 08. 2001 Verabschiedung der neuen Richtlinien u¨ber die Grundsa¨tze der Fortund Weiterbildung im Medizinischen Dienst (Fort- und Weiterbildungsrichtlinien – FuWRi) vom 22. 08. 2001 23. 10. 2001 Gesetz zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vorschriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesens auf Euro (Achtes Euro-Einfu¨hrungssgesetz) 01. 01. 2002 Inkrafttreten des Gesetzes zur Qualita¨tssicherung und zur Sta¨rkung des Verbraucherschutzes in der Pflege (Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz – PQsG) vom 09. 09. 2001 01. 01. 2002 Inkrafttreten des Heimgesetzes (HeimG) in der Fassung vom 05. 11. 2001 (Drittes Gesetz zur ¥nderung des Heimgesetzes – Heimgesetz-Novelle) 01. 01. 2002 Inkrafttreten des Gesetzes zur Erga¨nzung der Leistungen bei ha¨uslicher Pflege von Pflegebedu¨rftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetz – PflEG) vom 14. 12. 2001 01. 01. 2002 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) in der Fassung vom 22. 08. 2001 10. 01. 2002 ¢bergangsregelung des Verfahrens zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz vom 10. 01. 2002 01. 08. 2002 Verfahren zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz vom 22. 03. 2002 vom Bundesministerium fu¨r Gesundheit (BMG) genehmigt 24. 07. 2003 Gesetz zur ¥nderung des Sozialgesetzes und anderer Gesetze 01. 01. 2004 Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14. 11. 2003 01. 01. 2005 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung in der Fassung vom 23. 09. 2004
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01. 01. 2005 Inkrafttreten des Gesetzes zur Beru¨cksichtigung von Kindererziehung im Beitragsrecht des sozialen Pflegeversicherung (Kinder-Beru¨cksichtigungsgesetz – KiBG) vom 15. 12. 2004 28. 10. 2005 Erga¨nzungsbeschlu¨sse zu den Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Anwendung der Ha¨rtefallregelungen (Ha¨rtefall-Richtlinien – HRi) vom 10. 07. 1995 (zuvor gea¨ndert durch Beschlu¨sse vom 19. 10. 1995 und vom 03. 07. 1996) 01. 04. 2008 soweit nichts Abweichendes bestimmt, Inkrafttreten des Gesetzes zur Sta¨rkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbssta¨rkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. 03. 2007 01. 07. 2008 Inkrafttreten des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz – PfWG) vom 28. 05. 2008: ¢ Anhebung des Beitragssatzes von 1,7 auf 1,95 Prozent ¢ schrittweise Anhebung von Sachleistungen in der ambulanten, teil- und vollstationa¨ren Pflege ¢ Erho¨hung des Pflegegeldes ¢ zusa¨tzlicher Betreuungsbetrag fu¨r Menschen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz und zwar auch fu¨r Personen, die nicht die Pflegestufe I erreichen ¢ Finanzierung zusa¨tzlichen Personals fu¨r Demenzkranke bei vollstationa¨rer Pflege ¢ Schaffung von Pflegestu¨tzpunkten ¢ Anspruch auf individuelle und umfassende Pflegeberatung (Fallmanagement) ¢ Fo¨rderung von betreuten Wohnformen und Wohngemeinschaften ¢ Pflegezeit: maximal sechsmonatige unbezahlte Freistellung von der Arbeit fu¨r Arbeitnehmer, die Angeho¨rige pflegen (nur in Betrieben mit mehr als 15 Bescha¨ftigten) ¢ verbindliche Standards fu¨r Pflegequalita¨t ¢ Intensivierung der Qualita¨tspru¨fungen in den Pflegeeinrichtungen mit Aufbereitung von Vero¨ffentlichung der Pru¨fberichte des Medizinischen Dienstes (MDK) in allgemein versta¨ndlicher Sprache ¢ Entscheidung u¨ber beantragte Pflegeleistungen innerhalb von fu¨nf Wochen (§ 18 Abs. 3 Satz 2 SGB XI) ¢ Portabilita¨t der Altersru¨ckstellungen in der privaten Pflegeversicherung ¢ Mo¨glichkeit zur Einstellung von Betreuungsassistenten ¢ Fo¨rderung niedrigschwelliger Angebote, ehrenamtlicher Strukturen und der Selbsthilfe 17. 12. 2009 Beschluss der Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI u¨ber die Kriterien der Vero¨ffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualita¨tspru¨fungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Pru¨fergebnisse in der stationa¨ren Pflege – Pflege-Transparenzvereinbarung stationa¨r (PTVS) 29. 01. 2009 Beschluss der Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI u¨ber die Kriterien der Vero¨ffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualita¨tspru¨fungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Pru¨fergebnisse von ambulanten Pflegediensten – Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant (PTVA) 29. 01. 2009 Vorlage des Berichts des Beirats zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs (einschließlich der Vorstellung des neuen Begutachtungsverfahrens)
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13. 07. 2009 Inkrafttreten der gea¨nderter Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08. 06. 2009 Gema¨ß § 10 SGB XI hat die Bundesregierung den gesetzgebenden Ko¨rperschaften des Bundes im Abstand von drei und ab 2011 im Abstand von vier Jahren u¨ber die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in Deutschland zu berichten. Am 16. Januar 2008 billigte das Kabinett den vom Bundesministerium fu¨r Gesundheit (BMG) erstellten „Vierten Bericht u¨ber die Entwicklung der Pflegeversicherung“. Der Bericht zieht auf der Grundlage der Leistungsdaten und wegen Schaffung von 300.000 Arbeitspla¨tzen in der Pflege ein durchweg positives Resu¨mee. Wegen der im Rahmen der Pflegereform vorgesehenen Leistungsverbesserungen wurde schon zu diesem Zeitpunkt mit der Anhebung des Beitragssatzes kalkuliert. ¢ber die Interpretation von Leistungsdaten hinaus bedu¨rfen funktionelle und struktur-innovative Modifikationen des Sozialsystems allerdings eines kritischen Bewusstseins, einer sorgfa¨ltigen Planung und einer unabha¨ngigen Versorgungsforschung. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung leisten dazu mit ihren Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen einen maßgeblichen Beitrag. Die Ergebnisse werden im Abstand von drei Jahren zusammengefasst dargestellt. Im August 2007 wurde bereits der 2. Bericht des MDS nach § 118 Abs. 4 SGB XI den Spitzenverba¨nden der Pflegekassen und dem BMG vorgelegt. Daraus geht deutlich und nachvollziehbar hervor, „dass die Pflege nach wie vor ein Qualita¨tsproblem hat, aus dem sich ein erheblicher Optimierungsbedarf in den ambulanten Pflegediensten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen ergibt“ [MDS 2007a]. Erga¨nzt werden diese Erhebungen durch gezielte Analysen einzelner Medizinischer Dienste, wie beispielsweise zur Erna¨hrungssituation der Pflegebedu¨rftigen [Deitrich et al. 2003]. Die o¨konomischen und politischen Rahmenbedingungen fu¨r den Erhalt und die Weiterentwicklung des Sozialstaates werden aus vielen Gru¨nden als sich zunehmend verschlechternd beurteilt. Aufgrund der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen wird die Finanzierbarkeit des medizinischen, zunehmend aber auch des pflegerischen o¨ffentlichen Versorgungssystems einer kritischen Bewertung unterzogen sowie Alternativen der Steuerung und Finanzierung ero¨rtert, insbesondere da die in den letzten Jahrzehnten erlassenen Gesetze und Einzelbestimmungen zur Reform, Strukturverbesserung und Neuordnung des Gesundheitswesens die kontinuierlich steigenden Ausgaben nicht dauerhaft beeinflussen konnten. Mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz (2. NOG) wurden die Grundlagen fu¨r Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der ambulanten medizinischen Versorgung geschaffen. Bei der ¥nderung des SGB XI per Gesetz vom 14. 12. 2001 ist ein entsprechender Passus auch fu¨r die SPV als § 8 Abs. 3 eingefu¨gt worden. Fu¨r diese Modellvorhaben ist eine wissenschaftliche Begleitung und Auswertung vorzusehen. Das GKV-Wettbewerbssta¨rkungsgesetz vom 26. Ma¨rz 2007 ermo¨glicht zudem, dass Pflegekassen mit zugelassenen Pflegeeinrichtungen und weiteren Vertragspartnern nach § 140b Abs. 1 SGB V Vertra¨ge zur integrierten Versorgung schließen oder derartigen Vertra¨gen mit Zustimmung der Vertragspartner beitreten ko¨nnen (§ 92b SGB XI). Am 1. November 1993 trat der von den zwo¨lf Regierungschefs der Europa¨ischen Gemeinschaft (EG) geschlossene Vertrag von Maastricht u¨ber die Schaffung einer Europa¨ischen Union (EU) mit einer einheitlichen Wa¨hrung in Kraft. Die nationalen Sys-
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teme der sozialen Sicherung werden vom Prozess der europa¨ischen Einigung nicht unbeeinflusst bleiben. Grenzu¨berschreitende Versorgungsprojekte, beispielsweise zu akut-stationa¨ren und rehabilitativen Versorgung in der Oberrheinregion, werden bereits durchgefu¨hrt und unter Beteiligung des MDK begleitet und ausgewertet [Simoes et al. 2009]. Im Rahmen sogenannter „EU-Twinning-Projekte“ entstehen staatsu¨bergreifenden Partner-/Patenschaften zwischen den Beho¨rden zum Aufbau von o¨ffentlichen Strukturen im Einklang mit vorbildlicher europa¨ischer Verwaltungspraxis. Bei dem Projekt „Enhancing Anticorruption Activities in Poland“ ist auch der MDK maßgeblich im Expertengremium beteiligt. ¢ber die Regelungen der EU und des europa¨ischen Wirtschaftsraums (EWR) hinaus hat Deutschland bereits jetzt mit weiteren Staaten Europas sowie Afrikas, Asiens und Amerikas Vereinbarungen zur sozialen Absicherung ausla¨ndischer Arbeitnehmer und Touristen getroffen. Die durch die sogenannte Globalisierung der Ma¨rkte notwendig gewordene internationale Ausrichtung der Sozialversicherungssysteme ist schon jetzt mit gesundheitspolitischen Anpassungsbestrebungen zur Harmonisierung der Verfahren und Vereinheitlichung der Anspru¨che verbunden. Eine Distanzierung von den oben genannten Grundprinzipien nach dem Motto vom „Umbau des Sozialstaates“ jedoch, etwa im Sinne einer Kommerzialisierung des Gesundheitswesens nach dem amerikanischen Muster des managed care mit Steuerung der medizinischen Versorgung nach marktwirtschaftlichen Regeln der Gewinn-Maximierung (health care industry) bedeutete Systembruch und Abkehr von der sozialpolitischen Ausrichtung solidarischer Pra¨gung [Gaertner et al. 1999]. In Anbetracht der internationale Finanzmarkt-Krise du¨rfte das Vertrauen in die Selbstregulierungs- und Selbstheilungskra¨fte des Marktes erschu¨ttert sein.8 Damit ist evident, dass gerade die pflegerische Versorgung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bleiben muss.
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„Der Markt ist keine ewige Naturordnung, sondern eine immer wieder neu geschaffene Illusion, deren Schein sich in periodischen Zusammenbru¨chen von Volkswirtschaften und diversen Crashs zeigt“ [Brodbeck 2000].
2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
2.1 Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung Valentin Aichele Menschenrechte bieten als Fundamentalnormen Orientierung fu¨r menschliches und organisatorisches Handeln. Mit dieser Funktion haben sie Relevanz in allen Lebensund Arbeitsbereichen. Dies gilt auch fu¨r den ambulanten, teilstationa¨ren und stationa¨ren Bereich der Altenpflege (einschließlich der Kurzzeitpflege) mit den dort ta¨tigen Personen. Insbesondere werden damit die Fu¨hrungskra¨fte und Mitarbeitenden der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) angesprochen. Beziehen sie menschenrechtliche Normen bewusst in das professionelle Handeln ein, ero¨ffnet das große Chancen fu¨r die Pflege, insbesondere fu¨r Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung. Die Lebenslage „Pflegebedu¨rftigkeit“ ist gekennzeichnet durch einseitige Abha¨ngigkeitsverha¨ltnisse der pflegebedu¨rftigen Person. Auch wenn in dieser Lebenssituation die Geltung der Menschenrechte zwar theoretisch eine Selbstversta¨ndlichkeit ist, stellt ihre angemessene Beachtung die Praxis jedoch immer wieder vor große Herausforderungen. Gerade die Achtung und Gewa¨hrleistung der fundamentalen Rechte des Menschen erfordert an den Orten, an denen Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf leben, besondere Anstrengungen aller Beteiligten.
2.1.1 Menschenrechtliche Grundlagen Alle, die mit Menschen in der Pflege thematisch oder praktisch zu tun haben, verfu¨gen u¨ber ein Vorversta¨ndnis dessen, was Menschenwu¨rde und Menschenrechte sind. Dennoch seien an dieser Stelle die menschenrechtlichen Grundlagen kurz in Erinnerung gerufen. Die Menschenrechte finden ihren Grund in der Menschenwu¨rde [Bielefeldt 2008]. Die Menschenwu¨rde erhebt den gleichen grundlegenden Achtungsanspruch fu¨r alle Menschen und ist in jedem Menschen gleichermaßen zu respektieren. Der Respekt fu¨r die Menschenwu¨rde zeigt sich im Allgemeinen darin, dass jeder Mensch als Subjekt freier Selbstbestimmung und freier Mitbestimmung geachtet wird. Die Menschenrechte gelten gemeinhin als Ausdruck des grundlegenden inha¨renten Achtungsanspruchs des Menschen als Wu¨rdentra¨ger. Die Menschenrechte gelten fu¨r alle Menschen gleichermaßen. Das Geschlecht einer Person, ihre ethnische Herkunft, ihre Religion oder ihr Alter beispielsweise, insbesondere ob oder in welchem Umfang sie Hilfe- oder Pflegebedarf hat, macht fu¨r die Anerkennung dieser Rechte keinen Unterschied. Die Menschenrechte stehen fu¨r die fundamentalen Rechte eines Menschen, die er unabha¨ngig von sozialen Rollen oder Leistungen allein aufgrund seines Menschseins hat.
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Die Menschenrechte haben mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erkla¨rung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 sowie in zahlreichen internationalen ¢bereinkommen und auch in Verfassungen eine fortschreitende rechtliche Ausgestaltung und damit auch Konkretisierung erfahren.9 Gerade die menschenrechtlichen ¢bereinkommen verbriefen die Menschenrechte und erzeugen in diesem Zuge auch staatliche Verpflichtungen fu¨r ihren Schutz. Nichtstaatliche Akteure stehen, vermittelt u¨ber diese ¢bereinkommen, nicht direkt in der rechtlichen Pflicht, sind aber nach allgemeiner Auffassung von der moralischen Verantwortung gegenu¨ber den Menschenrechten nicht entbunden. Die Achtung der Menschenwu¨rde und das damit gekoppelte Bekenntnis zu den unverletzlichen und unvera¨ußerlichen universellen Menschenrechten bilden auch die Grundlage der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz bringt das bereits im Artikel 1 unmissversta¨ndlich zum Ausdruck: 1. Die Wu¨rde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schu¨tzen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. 2. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unvera¨ußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Auf dieser Grundlage entfaltet sich die gesamte Rechtsordnung mit den einschla¨gigen gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften auf den Ebenen von Bund und La¨ndern. Das Gesetzesrecht buchstabiert – wenn auch nicht explizit und auch nicht immer hinreichend – die menschenrechtlichen Rechtsanspru¨che in Bezug auf unterschiedliche Rechtsverha¨ltnisse aus.10 Hinter all diesen Regelungen steht im Grunde der Anspruch, den Menschen immer auch als Subjekt freier Selbstbestimmung und Mitbestimmung zu erkennen und zu achten. Die staatliche Gewalt ist u¨ber die Verfassung und aufgrund menschenrechtlicher ¢bereinkommen an diesen grundlegenden Achtungsanspruch gegenu¨ber den Menschenrechten gebunden. Gerade wenn ein Mensch hilfe- und pflegebedu¨rftig ist, kann es aufgrund seiner Lebenssituation erforderlich sein, zusa¨tzliche und spezifische Maßnahmen zu ergreifen, um seine allgemeinen Rechte zu sichern. Insbesondere ist die so genannte menschenrechtliche Schutzpflicht des Staates darauf gerichtet, dass gerade nichtstaatliche Akteure wie Angeho¨rige, Nachbarn, Pfle9 Zentral fu¨r die vo¨lkerrechtliche Absicherung sind der „Internationale Pakt u¨ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ und der „Internationale Pakt u¨ber bu¨rgerliche und politische Rechte“. Beide ¢bereinkommen sind im Zusammenhang der Vereinten Nationen entstanden und 1966 von der Generalversammlung verabschiedet worden. Mit der Ratifikation durch Deutschland ist die deutsche Staatsgewalt mit seinen Organen, insbesondere auch die Ko¨rperschaften des o¨ffentlichen Rechts, an diese Normen gebunden. 10 So gibt es hierzulande zahlreiche Regelungen in Bezug auf a¨ltere Personen, die wegen des speziellen lebensalterlichen Bezugs als „Recht der a¨lteren Menschen“ zusammengefasst werden ko¨nnen. Das Recht a¨lterer Menschen bezieht sich beispielsweise auf die Bereiche Unterhalt, Familie, Betreuung, Gesundheit und Pflege. Es geho¨ren außerdem dazu die Regelungen zum Schutz der ko¨rperlichen Integrita¨t (etwa des Strafrechts) oder zum Schutz personenbezogener Daten (nach den Datenschutzgesetzen), um hier nur einige wesentliche Regelungsbereiche zu nennen [Igl / Klie 2007].
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gekra¨fte oder Leiterinnen und Leiter von Pflegeeinrichtungen in die fundamentalen Rechte a¨lterer Personen nicht eingreifen. So kann beispielsweise die staatliche Befugnis, private Leistungstra¨ger im Bereich der ambulanten sowie stationa¨ren Pflege zu kontrollieren – etwa auch in Form unangemeldeter beratungsorientierter Pru¨fungen –, unmittelbar auf die staatliche Schutzpflicht zuru¨ckgefu¨hrt werden. Die Rechtsgewa¨hrleistungen halten den Staat u¨berdies an, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Menschenrechte von pflegebedu¨rftigen Personen in all ihren unterschiedlichen Lebenslagen hinreichend zum Tragen kommen beziehungsweise praktisch gelebt werden ko¨nnen. So geht es bei der Pflege deshalb nicht allein darum, was gema¨ß des Pflege-Versicherungsgesetzes, insbesondere des Sicherstellungsauftrages der Pflegeversicherung, an Leistungen erwartet werden kann. Es geht vielmehr um die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Systems, das hinreichend gewa¨hrleistet, den fundamentalen Rechten aller hilfe- und pflegebedu¨rftigen Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation Geltung zu verschaffen.
2.1.2 Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen Seit einiger Zeit ist die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen“ (Charta) in der fachlichen und o¨ffentlichen Diskussion [BMfSFJ/BMG 2006]. Die Charta ist ein Dokument, das die fundamentalen Rechte von hilfe- und pflegebedu¨rftigen Personen in allgemein versta¨ndlicher Sprache zusammenfasst. Sie informiert hilfe- und pflegebedu¨rftige Personen u¨ber ihre Rechte. Fu¨r andere ermo¨glicht sie, sich die Perspektive eines pflegebedu¨rftigen Menschen – wie durch die „Rechtsbrille“ – schnell und themenbezogen zu vergegenwa¨rtigen. Mit den von ihr angesprochenen Inhalten zu Fragen der ko¨rperlichen Integrita¨t, Wohnen, Gesundheit, Privat- und Intimspha¨re, Nichtdiskriminierung etc. weist die Charta enge Bezu¨ge zu den international verbrieften Menschenrechten auf [Schneider 2006]. Sie soll deshalb in den Mittelpunkt der weiteren Ausfu¨hrungen gestellt werden. Gerade fu¨r die Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung bietet die Charta vielfa¨ltige Ansatzpunkte. Die Charta geht auf eine Arbeitsgruppe des „Runden Tisches Pflege“ zuru¨ck, der im Herbst 2003 von zwei Bundesministerien einberufen worden war [BMfSFJ/BMG 2006]. Ziel des Runden Tisches Pflege war, die Lebenssituation hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen in Deutschland zu verbessern. An der Ausarbeitung der Charta haben Vertreterinnen und Vertreter aus Verba¨nden der Leistungserbringer und Kostentra¨ger, aus La¨ndern und Kommunen, aus Verbraucher- und Selbsthilfeorganisationen, Berufsverba¨nden sowie aus Praxis und Wissenschaft mitgewirkt. Als Ergebnis dieses Arbeitsprozesses wurde die Charta im Herbst 2005 der ¤ffentlichkeit vorgestellt [Sulmann / Tesch-Ro¨mer 2007]. Der Charta kommt im Wesentlichen eine Erinnerungs- und Kla¨rungsfunktion zu. Sie schafft keine neuen Rechte, sondern sie erinnert an den Bestand der anerkannten Rechte und kla¨rt u¨ber die mit den Rechten verbundenen Verpflichtungen anderer Akteure auf. Artikel fu¨r Artikel stellt sie dar, welche Erwartungen hilfe- und pflegebedu¨rftige Menschen von Rechts wegen an ihre soziale Umwelt herantragen und damit auch einfordern ko¨nnen. Sie verfolgt nicht den Anspruch auf Vollsta¨ndigkeit, sondern bleibt auf der Verpflichtungsseite vielfach exemplarisch. Artikel 1 der Charta bekra¨ftigt das Recht eines jeden hilfe- und pflegebedu¨rftigen Menschen auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf Unterstu¨tzung, um ein mo¨glichst selbst-
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bestimmtes und selbsta¨ndiges Leben fu¨hren zu ko¨nnen; Artikel 2 besta¨tigt das fundamentale Recht von hilfe- und pflegebedu¨rftigen Menschen, vor Gefahren fu¨r Leib und Seele geschu¨tzt zu werden; Artikel 3 der Charta ruft das Recht eines jeden hilfeund pflegebedu¨rftigen Menschen auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimspha¨re in Erinnerung; Artikel 4 buchstabiert das Recht auf eine an dem perso¨nlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfo¨rdernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung aus; Artikel 5 bezieht sich auf das Recht auf umfassende Informationen u¨ber Mo¨glichkeiten und Angebote der Beratung, der Hilfe und Pflege sowie der Behandlung; Artikel 6 stellt fest, dass jeder hilfe- und pflegebedu¨rftige Mensch das Recht auf Wertscha¨tzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat; Artikel 7 betrifft das Recht, entsprechend der eigenen Kultur und Weltanschauung zu leben und seine Religion auszuu¨ben; Artikel 9 unterstreicht das Recht eines jeden hilfe- und pflegebedu¨rftigen Menschen, in Wu¨rde zu sterben. Zwar ist die Charta als Dokument rechtlich nicht verbindlich, sie verweist aber in weiten Teilen auf unmittelbar geltendes Recht, mit dessen Hilfe die fundamentalen Rechte – wenn vielleicht auch fu¨r die Praxis nicht hinreichend – bereits verbindlich abgesichert sind. Vor diesem Hintergrund hat die unter den Fachverba¨nden o¨ffentlich diskutierte Frage, ob die Charta gezeichnet und damit als wichtiger Maßstab akzeptiert werden kann, in der ¤ffentlichkeit zu Recht große Irritationen ausgelo¨st. Denn diese Akteure sind bereits heute – im Rahmen des geltenden Rechts und im Rahmen ihrer Zusta¨ndigkeiten – rechtlich gebunden, die in der Charta dargestellten Rechte zu gewa¨hrleisten. Soweit die Charta menschenrechtliche Aspekte abdeckt, die im deutschen Recht auf die einfachgesetzliche oder untergesetzliche Ebene herunter gebrochen sind, scheint die Vorstellung grundsa¨tzlich problematisch, die Verantwortung fu¨r diese Rechte ins eigene Belieben stellen zu wollen. Menschenrechte stehen grundsa¨tzlich nicht zur Disposition. Eine Entscheidung gegen die Charta ist damit nicht denkbar.
2.1.3 Konkrete Anwendungsbeispiele Die Charta dient hilfe- und pflegebedu¨rftigen Personen, sich u¨ber ihre fundamentalen Rechte einen schnellen ¢berblick zu verschaffen. Einrichtungen ziehen sie bereits zur Beratung und zum Beschwerdemanagement als Instrument heran. Daru¨ber hinaus sind fu¨r ambulante, teilstationa¨re und stationa¨re Pflegeeinrichtungen (eingeschlossen Kurzzeitpflege) konkrete Anwendungsansa¨tze denkbar. Diese Ansa¨tze werden teilweise auch schon in die Praxis umgesetzt. So kann die Charta beispielsweise als Instrument der Organisations- und Personalentwicklung genutzt werden. Im Rahmen von Qualita¨tsmanagement kann sie Anstoß und Grundlage wichtiger Fortentwicklungen sein. Hieraus ergibt sich etwa die Mo¨glichkeit, die eigenen Strukturen und Prozesse zu optimieren und mit Blick auf die Ergebnisse konkrete Anforderungen zu bekra¨ftigen oder auch Priorita¨ten neu zu setzen. Ambulante, teilstationa¨re und stationa¨re Einrichtungen sollten die Charta als Gegenstand fu¨r Aus-, Fort- und Weiterbildungen fu¨r die Mitarbeitenden sowie Fu¨hrungskra¨fte verwenden. Sie kann u¨berdies dem individuellen Heim- oder Leistungsvertrag als Anhang angefu¨gt werden. Auch die Leitbilder ko¨nnen im Anschluss an entsprechende personale und organisatorische Vera¨nderungen auf die Inhalte der Charta hin ausgerichtet und fortentwickelt werden. Die Arbeit mit der Charta kann nachgewiesenermaßen zu vielfa¨ltigen Vera¨nderungen in der Organisation fu¨hren und insbesondere zum Aufbau einer an den fun-
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damentalen Rechten der Person ausgerichteten Organisation beitragen. Um Wege und Methoden hinsichtlich der Anwendung der Charta in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen systematisch zu erarbeiten und konkrete Handlungsansa¨tze zu sammeln, wurde in Deutschland ein Praxisprojekt durchgefu¨hrt, dessen Ergebnisse nunmehr in einem Projektbericht zusammengestellt sind [KCR 2008a]. Aus diesem Projekt ist zudem eine Arbeitshilfe hervorgegangen [KCR 2008b]. Ein gutes Beispiel fu¨r den „rechtebasierten Ansatz in der Altenpflege“ (unabha¨ngig von der Charta) entwickelte beispielsweise das Alterszentrum Kehl (Baden). Dort fu¨hrten gemeinsame Lern- und Arbeitsprozesse zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern, Bescha¨ftigten und Besucherinnen und Besuchern zu einem „Fragen-Antwort-Katalog“, mit dem die Achtung des Selbstbestimmungsrechts und die Wahrung des Perso¨nlichkeitsrechts der Bewohnerinnen und Bewohner in verschiedenen Themenfeldern, beispielsweise in Bezug auf Gesundheit, Erna¨hrung oder ko¨rperliche Integrita¨t, exemplarisch auf den Punkt gebracht werden. Diese Fragen und Antworten wurden auf Plakate u¨bertragen, die allen vorgestellt worden sind und im Haus ausha¨ngen. Beispielsweise stellt Eva Hasier (88 Jahre) auf einem Plakat fest: „Ich nehme heute meine Medikamente nicht ein!“ Darauf lautet die allgemein akzeptierte Antwort: „Wir respektieren Ihren Wunsch, weil wir davon ausgehen, dass Sie selber fu¨r Ihre Gesundheit verantwortlich sind.“ Oder Herbert Kenz (90 Jahre) sagt: „Nehmen Sie doch bitte dieses schreckliche Bettgitter weg, so was brauche ich nicht!“. Die Antwort darauf: „Die Entscheidung, ob Sie diese Gitter wollen oder nicht, treffen Sie selber. Wir zeigen Ihnen die Vor- und Nachteile beider Lo¨sungen auf. Ihre Entscheidung respektieren wir ohne Vorbehalte.“ Der Prozess im Alterszentrum Kehl, der zu den Plakaten fu¨hrte, war sehr wichtig, um im Ergebnis eine nachhaltige „bewohnerorientierte Haltung“ im Hause aufzubauen. Der Katalog dient heute allen im Haus als Handlungsorientierung [Wernli 2008]. Solche Entwicklungen ko¨nnen von den MDKs aufgegriffen werden. Der Medizinische Dienst der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen e. V. (MDS) hat seinerzeit beispielsweise angeku¨ndigt, die Charta bei der Bewertung von Qualita¨t in der Pflege einzubeziehen [MDS 2007a]. So ist sicherlich von hoher Relevanz, ob eine Einrichtung – gegebenenfalls durch die Umsetzung der Charta – begonnen hat, die fundamentalen Rechte von pflegebedu¨rftigen Frauen und Ma¨nnern zum Ausgangspunkt seiner Arbeitsabla¨ufe und zur Bezugsgro¨ße seiner Organisation zu machen, um so diesen Rechten in der Praxis besser Rechnung zu tragen. Im Rahmen der Beratung durch die MDKs kann beispielsweise auch auf die oben exemplarisch skizzierten Ansa¨tze Bezug genommen werden. Deshalb ist es erforderlich, dass sich Mitarbeitende und Fu¨hrungskra¨fte der MDKs und der Kranken- und Pflegekassen mit den Inhalten der Charta und den Umsetzungsfragen vertraut machen und auch Schulungs- und Fortbildungskonzepte fu¨r diesen Personenkreis auf der Basis der Charta entwickelt und als sta¨ndiges Programm angeboten werden. Die Umsetzung eines rechtebasierten Ansatzes in der Altenpflege erfordert aber auch auf der konzeptionellen Ebene weitere Schritte. Noch wenig erkannt ist beispielsweise die Anforderung, das vorherrschende Versta¨ndnis von Pflegequalita¨t in Deutschland aus der menschenrechtlichen Perspektive fortzuentwickeln [Aichele 2006]. Die derzeit fu¨r die Begutachtung und Qualita¨tspru¨fung genutzten Indikatoren geben bislang nicht hinreichend u¨ber die menschenrechtliche Dimension in der Pfle-
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ge Auskunft.11 Beispielsweise spiegeln die Indikatoren die Selbstbestimmungsaspekte hinsichtlich Wohnen, Essen, Gesundheit und Mobilita¨t oder auch gender-Gesichtspunkten in der Pflege nicht angemessen wider [Backes 2005]. Es gilt deshalb, die Liste der Indikatoren in Bezug auf Struktur, Prozess und Ergebnis – auf der Grundlage der verbindlich vorgegebenen Normstruktur der Menschenrechte – um solche Indikatoren zu erweitern oder zu erga¨nzen, die aus menschenrechtlicher Sicht aussagekra¨ftig sind. Es geht – um es kurz zu sagen – um die Entwicklung menschenrechtsbasierter Indikatoren fu¨r die Altenpflege.
2.1.4 Zusammenfassende Bemerkungen Menschenrechte sind Grundsa¨tze zur positiven Orientierung fu¨r menschliches und organisatorisches Handeln. Menschenrechte prinzipiell haben diese Orientierungsfunktion. Die Herausforderung fu¨r alternde Gesellschaften besteht darin, die fundamentalen Rechte der hilfe- und pflegebedu¨rftigen Frauen und Ma¨nner in ihrer konkreten Situation mit Leben zu erfu¨llen und konsequent zur Geltung zu bringen. Instrumente wie die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen“ beispielsweise unterstreichen die Wichtigkeit, den Menschen mit seinen fundamentalen Rechten in den Mittelpunkt der Pflege zu stellen. Die aktuellen Entwicklungen hinsichtlich der Charta zeigen fu¨r die Praxis der ambulanten, teilstationa¨ren und stationa¨ren Pflege (einschließlich Kurzzeitpflege) in Deutschland vielfa¨ltige Handlungsansa¨tze auf. Hiermit verbinden sich große Chancen fu¨r das zentrale Anliegen der Menschenrechte.
2.2 Systemimmanente Prinzipien und Funktion der sozialen Pflegeversicherung Thomas Gaertner Das Pflege-Versicherungsgesetz soll die pflegerische Versorgung der Bevo¨lkerung als eine rechtlich festgeschriebene gemeinschaftliche Aufgabe den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vera¨nderungen angepasst sicherstellen. Das SGB XI als dessen Kernstu¨ck entha¨lt die grundlegenden Regelungen fu¨r die Pflegeversicherung (PV), unterschieden nach sozialer Pflegeversicherung (SPV) und nach privater Pflege-Pflichtversicherung (PPV). Die SPV ist aber nicht nur fu¨r die Bereit- bzw. Sicherstellung, sondern ebenso fu¨r die Qualita¨tssicherung der ambulanten und stationa¨ren pflegerischen Versorgung verantwortlich. Sie hat zudem zur Verhu¨tung des Eintritts von Pflegebedu¨rftigkeit der Versicherten und zur sozialen Sicherung der nicht erwerbsma¨ßig Pflegenden beizutragen. Zur Aufrechterhaltung und Optimierung der Pflege der Versicherten ist sowohl die Koordination pflegerischer Maßnahmen der einzelnen Leistungstra¨ger als auch die Kooperation aller Berufsgruppen des Gesundheits- und Sozialsystems einschließlich der Beratung der Beteiligten unabdingbar. Die damit 11 Siehe beispielsweise die „Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien“ der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen (MDS) mit den dazugeho¨rigen Erhebungsbo¨gen fu¨r die Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege.
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zusammenha¨ngende integrative Funktion soll die Pflegeversicherung u¨bernehmen. Sie hat somit in der ihr u¨bertragenen Verantwortung den Auftrag mit Aspekten zur Vorbeugung, Versorgung, Planung, Gestaltung, Sicherstellung, Pru¨fung, Steuerung und Beratung. Dem Subsidiarita¨tsprinzip entsprechend ist in gemeinsamer Verantwortung die pflegerische Versorgung der Bevo¨lkerung eine u¨bergeordnete gesamtgesellschaftliche Aufgabe (§ 8 SGB XI). So erga¨nzen bei ha¨uslicher und teilstationa¨rer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die Pflege und Betreuung des Pflegebedu¨rftigen durch das soziale Umfeld und entlasten bei teil- und vollstationa¨rer Pflege die Pflegebedu¨rftigen von pflegebedingten Aufwendungen (Teilabsicherung). Dabei haben die Pflegekassen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegebedu¨rftigen nach § 4 SBG XI darauf hinzuwirken, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht werden und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden (Wirtschaftlichkeitsgebot). Die soziale Pflegeversicherung wurde zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedu¨rftigkeit“ nach dem Solidarprinzip konzipiert. Unter den Schutz der SPV fallen verpflichtend alle gesetzlich Krankenversicherten. Tra¨ger der SPV sind die Pflegekassen. Ihre Aufgaben werden von den gesetzlichen Krankenkassen wahrgenommen. Die Pflegeversicherung hat die Aufgabe, denjenigen Versicherten Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedu¨rftigkeit auf solidarische Unterstu¨tzung angewiesen sind (§ 1 SGB XI). Die zu bemessenden Beitra¨ge der versicherungspflichtig Bescha¨ftigten werden in der Regel jeweils zur Ha¨lfte von ihnen selbst und ihren Arbeitgebern getragen (parita¨tische Umlagefinanzierung). Das erste Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB I) hat die sozialen Rechte zum Gegenstand. Es ist als allgemeinverbindlicher Teil den anderen Bu¨chern vorangestellt. Dort werden die sozialen Leistungsarten unterschieden in Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Sie werden als Sozialleistungen bezeichnet. Die Abgrenzung der Zusta¨ndigkeit der Leistungstra¨ger ergibt sich aus den besonderen Teilen des Gesetzbuches. Zu nennen ist hier beispielsweise die Unterscheidung der ha¨uslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe durch die gesetzliche Krankenversicherung gema¨ß SGB V gegenu¨ber den Leistungen bei ha¨uslicher Pflege durch die soziale Pflegeversicherung gema¨ß SGB XI. Als Leistungen der sozialen Pflegeversicherung werden nach § 21a SGB I aufgefu¨hrt: 1. Leistungen bei ha¨uslicher Pflege a) Pflegesachleistung b) Pflegegeld fu¨r selbst beschaffte Pflegehilfen c) ha¨usliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson d) Pflegehilfsmittel und technische Hilfen 2. teilstationa¨re Pflege und Kurzzeitpflege 3. Leistungen fu¨r Pflegepersonen, insbesondere a) soziale Sicherung b) Pflegekurse 4. vollstationa¨re Pflege Nach den allgemeinen Vorschriften des SGB XI sollen die Leistungen der Pflegeversicherung „den Pflegebedu¨rftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein mo¨glichst selbsta¨ndiges und selbstbestimmtes Leben zu fu¨hren, das der Wu¨rde des Menschen ent-
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spricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, ko¨rperliche, geistige und seelische Kra¨fte der Pflegebedu¨rftigen wieder zu gewinnen und zu erhalten“ (Selbstbestimmung). Dabei ist auf die religio¨sen Bedu¨rfnisse der Pflegebedu¨rftigen Ru¨cksicht zu nehmen. Die Versicherten sollen eigenverantwortlich dazu beitragen, Pflegebedu¨rftigkeit zu vermeiden (Eigenverantwortung). Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen vorrangig dafu¨r eingesetzt werden, dass die Pflegebedu¨rftigen mo¨glichst lange in ihrer ha¨uslichen Umgebung bleiben ko¨nnen (Vorrang der ha¨uslichen Pflege). Dies wird unterstu¨tzt durch Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen, zusa¨tzliche Leistungen bei Pflegezeit sowie Pflegekurse fu¨r Angeho¨rige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§§ 44–45 SGB XI). Es ist darauf hinzuwirken, den Eintritt von Pflegebedu¨rftigkeit zu vermeiden (Vorrang von Pra¨vention und medizinischer Rehabilitation). Als Tra¨ger der Pflegeversicherung ist bei jeder Krankenkasse eine Pflegekasse eingerichtet. Pflegekassen sind rechtsfa¨hige Ko¨rperschaften des o¨ffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, deren Organe mit denen der gesetzlichen Krankenkassen identisch sind. Die Landesverba¨nde der Krankenkassen nehmen die Aufgaben auf Landesebene wahr. Die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen tragen je die Ha¨lfte der Umlagefinanzierung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen nimmt die Aufgaben des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen wahr (§§ 46, 52–53 SGB XI). Er erla¨sst gema¨ß § 53a SGB XI nach Zustimmung des BMG verbindliche Richtlinien 1. 2. 3. 4.
u¨ber die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten, zur Durchfu¨hrung und Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung, u¨ber die von den Medizinischen Diensten zu u¨bermittelnden Berichte und Statistiken, zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung sowie u¨ber das Verfahren zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen, 5. u¨ber Grundsa¨tze zur Fort- und Weiterbildung.
Das Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung ist hinsichtlich der Grundlagen der Beitragsberechnung im Wesentlichen dem der gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen. Jedoch wurde der Beitragssatz durch den Gesetzgeber festgesetzt. Seit der Pflegereform betra¨gt der bundeseinheitliche Beitragssatz mit Ausnahme einiger Personenkreise unter Beru¨cksichtigung der Bemessungsgrenze vom 01. 07. 2008 an 1,95 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (§§ 54–55 SGB XI). Im Gegensatz zum Risikostrukturausgleich der Krankenkassen werden u¨ber den bundesweiten Finanzausgleich zwischen den gesetzlichen Pflegekassen die tatsa¨chlichen Ausgaben ausgeglichen. Dies ist Ausdruck des politischen Willens, einen Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Pflegekassen zu vermeiden und verleiht dem Wirtschaftlichkeitsgebot besondere Bedeutung (§ 66 SGB XI). Die Pflegekassen haben die Aufgabe zur Beratung und Aufkla¨rung der Versicherten hinsichtlich ihrer Eigenverantwortung fu¨r eine der Pflegebedu¨rftigkeit vorbeugende Lebensfu¨hrung sowie hinsichtlich der mit der Pflegebedu¨rftigkeit zusammenha¨ngenden Fragen. Auf eine Teilnahme an gesundheitsfo¨rdernden Maßnahmen haben die Pflegekassen hinzuwirken. Vom 1. Januar 2009 an haben Personen, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten, Anspruch auf individuelle Pflegeberatung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstu¨tzung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind (§ 7a SGB XI).
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Weiterhin sind die Pflegekassen fu¨r die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ihrer Versicherten verantwortlich. Sie sind dabei zur engen Zusammenarbeit mit allen an der pflegerischen, gesundheitlichen und sozialen Versorgung Beteiligten verpflichtet. Sie haben darauf hinzuwirken, dass Ma¨ngel der pflegerischen Versorgung beseitigt werden und stellen insbesondere sicher, dass im Einzelfall a¨rztliche Behandlung, medizinische Behandlungspflege, rehabilitative Maßnahmen, Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung nahtlos und sto¨rungsfrei ineinandergreifen (Koordination). Besondere Bedeutung erhalten in diesem Zusammenhang mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes zusa¨tzlich zur Pflegeberatung die integrierte Versorgung sowie die Pflegestu¨tzpunkte (§§ 92b–c SGB XI).
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung, Beratung und Fortbildung im Auftrag der sozialen Pflegeversicherung Thomas Gaertner und Gert von Mittelstaedt Das Sozialgesetzbuch entha¨lt die rechtlichen Grundlagen der Obliegenheiten des Medizinischen Dienstes (MDK) als der sozialmedizinischen Sachversta¨ndigeninstitution der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung. Nach dem jeweiligen Bundesland ist er in der Rechtsform einer Ko¨rperschaft des o¨ffentlichen Rechts (K. d. o¨. R.) bzw. eines eingetragenen Vereins (e. V.) organisiert. Vom Gesetzgeber werden dem MDK in funktionaler Hinsicht die Aufgaben der sozialmedizinischen Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung und Beratung im Auftrag der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie ihrer Verba¨nde u¨bertragen. Hinzu kommen die vom MDK durchgefu¨hrten Fortbildungsmaßnahmen, insbesondere die fu¨r die Sozialleistungstra¨ger [Gaertner et al. 2001]. Unter strukturellen Aspekten ist der MDK also an der Mitgestaltung des staatlichen Systems der sozialen Sicherung beteiligt und verantwortlich fu¨r die Struktur-, Prozessund Ergebnisqualita¨t des sozialmedizinischen sachversta¨ndigen Leistungsgeschehens. Der Medizinische Dienst ist Teil der GKV mit der ihr organisatorisch angelehnten SPV, die als Solidargemeinschaft somit auch nach § 70 SGB V den allgemeinen Grundsa¨tzen der Qualita¨t, Humanita¨t und Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist. Der MDK erfu¨llt eigenverantwortlich seine sozialmedizinischen Aufgaben im Auftrag der als Beho¨rden geltenden gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, die nach folgenden Untersuchungsgrundsa¨tzen arbeiten (§ 20 SGB X). „(1) Die Beho¨rde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisantra¨ge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. (2) Die Beho¨rde hat alle fu¨r den Einzelfall bedeutsamen, auch die fu¨r die Beteiligten gu¨nstigen Umsta¨nde zu beru¨cksichtigen. (3) Die Beho¨rde darf die Entgegennahme von Erkla¨rungen oder Antra¨gen, die in ihren Zusta¨ndigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erkla¨rung oder den Antrag in der Sache fu¨r unzula¨ssig oder unbegru¨ndet ha¨lt.“ Die gesetzliche Pflegekasse bedient sich als Beho¨rde der Beweismittel, die sie nach pflichtgema¨ßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts fu¨r erforderlich ha¨lt. Der
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MDK bezieht sich als ihr Sachversta¨ndigendienst auf durch die gesetzliche Pflegekasse zur Verfu¨gung gestellte Beweismittel wie Ausku¨nfte jeder Art, Anho¨rungen von Beteiligten, Vernehmungen von Zeugen und Sachversta¨ndigen, schriftliche ¥ußerung von Beteiligten, Sachversta¨ndigen und Zeugen, Urkunden und Akten, Einnahme des Augenscheins (§ 21 SGB X). Die grundlegenden Regelungen fu¨r die Aufgaben des MDK beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit finden sich in § 18 Abs. 1 SGB XI: „Die Pflegekassen haben durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung pru¨fen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit erfu¨llt sind und welche Stufe der Pflegebedu¨rftigkeit vorliegt. Im Rahmen dieser Pru¨fungen hat der Medizinische Dienst durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschra¨nkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 SGB XI festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedu¨rftigkeit und das Vorliegen einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI zu ermitteln. Daru¨ber hinaus sind auch Feststellungen daru¨ber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; insoweit haben Versicherte einen Anspruch gegen den zusta¨ndigen Tra¨ger auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.“ Diesen Anspru¨chen wird durch ein ausfu¨hrliches Formulargutachen Rechnung getragen (siehe Kapitel 5.5). Die zu treffenden Empfehlungen ko¨nnen im Einzelfall in die Zusta¨ndigkeit anderer Sozialleistungstra¨ger fallen. Daher muss das Gutachten sozialmedizinisch derart erstellt werden, dass es auch fu¨r deren Zwecke verwertbar ist. Fu¨r die Zusammenarbeit der Sozialleistungstra¨ger untereinander gilt (§ 96 Abs. 1 SGB X): „Veranlasst ein Leistungstra¨ger eine a¨rztliche Untersuchungsmaßnahme oder eine psychologische Eignungsuntersuchungsmaßnahme, um festzustellen, ob die Voraussetzungen fu¨r die Sozialleistung vorliegen, sollen die Untersuchungen in der Art und Weise vorgenommen und deren Ergebnisse so festgehalten werden, dass sie auch bei der Pru¨fung der Voraussetzungen anderer Sozialleistungen verwendet werden ko¨nnen. Der Umfang der Untersuchungsmaßnahmen richtet sich nach der Aufgabe, die der Leistungstra¨ger, der die Untersuchung veranlasst hat, zu erfu¨llen hat. Die Untersuchungsbefunde sollen bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen einer anderen Sozialleistung vorliegen, verwertet werden.“ Die fu¨r die wissenschaftlich fundierte, interdisziplina¨r angelegte Expertenta¨tigkeit verantwortlichen Gutachterinnen und Gutachter des MDK sind aufgrund des auf die medizinische und pflegerische Versorgung ausgerichteten Aufgabenspektrums dem Bereich der praktischen Sozialmedizin zuzuordnen. Als Hauptaufgaben des MDK werden grundsa¨tzlich unterschieden: Begutachtungen von Versicherten sind einzelfallbezogene sachversta¨ndige Stellungnahmen mit abschließender Beantwortung einer Frage, mit Bezug zum SGB XI unter anderem zu folgenden Anlassgruppen: Pflegebedu¨rftigkeit, wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, Hilfsmittelversorgung, Heilmittel als Einzelleistung, pra¨ventive Maßnahmen, medizinische Rehabilitation, Anspru¨che gegenu¨ber Dritten einschließlich Behandlungsfehlern. Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen basieren in der Regel auf standardisierten Stichprobenerhebungen. Deren fachkundige Analysen mit Beratungsansatz
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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fu¨hren zur Abgabe von Empfehlungen. Die Ergebnisse der vom MDK bundesweit durchgefu¨hrten Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten Pflegediensten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen werden im Abstand von drei Jahren in einem Qualita¨tsbericht zusammengefasst. Beratungen zu Grundsatz- und Versorgungsfragen sind grundsa¨tzliche Stellungnahmen mit Abgabe von Empfehlungen hinsichtlich der Gestaltung der medizinischen bzw. pflegerischen Versorgung. Zu den Beratungen za¨hlen auch die Mitwirkung bei der Entwicklung von Richtlinien, die sozialmedizinisch fach- und sachkundige Vertretung der Positionen der Pflegekassen sowie ihrer Verba¨nde in Gremien und Ausschu¨ssen auf Landes- und Bundesebene sowie die Herausgabe von Schriften. Fortbildungen fu¨r Sozialleistungstra¨ger dienen in erster Linie der Koordinierung, Standardisierung und Harmonisierung des Leistungsgeschehens im Rahmen des Sicherstellungsauftrags gema¨ß § 12 SGB XI und der richtlinienkonformen Zusammenarbeit nach § 53a SGB XI. Mit den sozialmedizinischen sachversta¨ndigen Stellungnahmen unterstu¨tzt der MDK die gesetzlichen Pflegekassen und deren Verba¨nde. Diese Beziehung wird erla¨utert in einem von der MDK-Gemeinschaft miterarbeiteten Positionspapier, in dem die Spitzenverba¨nde der Krankenkassen „Rolle und Funktion des Medizinischen Dienstes im Verha¨ltnis zu seinen Tra¨gern“ in 11 Thesen darlegen. Danach begleitet und unterstu¨tzt der MDK als (sozial-)medizinische Sachversta¨ndigeninstitution in Dienstleistungsfunktion die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie ihre Verba¨nde bei ihren Entscheidungsprozessen. Dies erfordert die Identifikation des Medizinischen Dienstes mit dem umfassenden Auftrag der GKV und SPV im gesundheitlichen Versorgungssystem, angefangen bei der Auftragsgestaltung bis hin zur Sicherstellung eines bedarfsgerechten pflegerischen Versorgungssystems. Der MDK arbeitet in seiner Funktion prima¨r auftragsbezogen, ist jedoch in seiner medizinisch fachlichen Bewertung unabha¨ngig und frei von Anbieterinteressen [von Mittelstaedt / Gaertner 2001]. Durch gestufte Prozesse ko¨nnen Begutachtungen und Beratungen, letztere insbesondere in Form der schriftlichen Grundsatzstellungnahmen, strukturiert und weitgehend standardisiert werden, so dass sie einen hohen Wirkungsgrad der praktischen sozialmedizinischen Leistungen gewa¨hrleisten (siehe Abb. 2.1). Qualita¨tspru¨fungen und die Durchfu¨hrung von Fortbildungsmaßnahmen ko¨nnen methodologisch als Sonderformen der Beratung angesehen werden. Insbesondere die Durchfu¨hrung der MDK-Qualita¨tspru¨fungen in den Pflegeinrichtungen sind im Sinne von Ausfu¨hrungsbestimmungen verbindlich geregelt. Die la¨nderu¨bergreifenden sozialmedizinischen Expertengruppen (SEG), Kompetenz-Centren (KC) sowie sozialmedizinische Foren der MDK-Gemeinschaft fo¨rdern bundesweit Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Qualita¨tssicherung dieser Arbeit einschließlich ihrer Evaluation. Zu ihnen geho¨rt auch die SEG 2 „Pflege“, die federfu¨hrend beim MDK Bayern und beim MDK Westfalen-Lippe angesiedelt ist (siehe Kapitel 11).
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung Auftragserteilung durch eine der gesetzlichen Kranken- bzw. Pflegekassen oder einer ihrer Verbände
SFB Einzelfall
Grundsatz
Kurzmitteilung
Kurzmitteilung
sozialmedizinische Begutachtung
sozialmedizinische Beratung
fallbezogene Fragestellung
grundsätzliche Problemlage
Untersuchung
Nachforschung/ Probe
Bewertung/ Erläuterung
Bewertung/ Erläuterung
Beurteilung + Feststellung
Einschätzung/ Ratschlag
sonstige Empfehlung(en)
sonstige Empfehlung(en)
Stellungnahme (i.d.R. schriftlich) Gutachten
Stellungnahme (mündlich oder schriftlich) z. B. Grundsatzgutachten
Mitteilung
Mitteilung
Abb. 2.1: Schritte zur Erstellung einer sozialmedizinischen sachversta¨ndigen Stellungnahme des MDKs („Erstattung eines Gutachtens“). Sie dient der rechtskonformen Darstellung einer anlassbezogenen Pru¨fung und der sozialgesetzlich geforderten Mitteilung vom Ergebnis (ergebnisorientierter „Dienstleistungsprozess“ als „Kuppelprodukt“ eines leistungsrechtlichen Verfahrens). SFB = Sozialmedizinische Fallberatung im Sinne einer „Steuernden Fachlichen Bearbeitung“.
2.3.1 Sozialmedizinisch-methodologische Grundlagen des Verfahrens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit Die Hilfebedu¨rftigkeit eines Menschen nimmt bei seiner physiologischen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen ab und dann im Alter allma¨hlich wieder zu. Das allgemeine Risiko der Zunahme des Hilfebedarfs und damit des Eintretens von Pflegebedu¨rftigkeit besteht jedoch schicksalsbedingt grundsa¨tzlich fu¨r jede Altersgruppe. Dem Pflegebedarf bei alten und hochbetagten Menschen wurde bei der Konzeption des Pflege-Versicherungsgesetzes sowie des auf dem SGB XI basierenden Verfahrens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit Rechnung getragen. Aufgrund dieser initialen Zielsetzung der SPV wurde ihm die Typologie der Alterskrankheiten zu Grunde gelegt. Daraus ergibt sich, dass bei der Begutachtung von Versicherten nicht-geriatrische krankheitsspezifische und behinderungstypische Folgeerscheinungen aus sozialmedi-
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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zinischer Sicht einer entsprechenden Beachtung bedu¨rfen. Das Begutachtungsverfahren ist durch Begutachtungs-Richtlinien pra¨zisiert und konkretisiert [BRi 2009]. Dadurch wird die vielschichtige Konstellation der Hilfebedu¨rftigkeit auf einen normativ beschra¨nkten Katalog zu erhebender Tatsachen reduziert, um sozialgesetzlich konform das Konstrukt der Pflegebedu¨rftigkeit beurteilen zu ko¨nnen. Mustergu¨ltig wa¨re ein Verfahren, methodisch allerdings nur eingeschra¨nkt durchfu¨hrbar, dass den Situationen in ihrer Mannigfaltigkeit gerecht wu¨rde und gleichzeitig mit vertretbarem Aufwand durchfu¨hrbar wa¨re (siehe Kapitel 7). Ein solches standardisiertes Begutachtungsverfahren mu¨sste die folgende Qualita¨tskriterien erfu¨llen [Braatz / Gansweid 2005]: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Reliabilita¨t (Reproduzierbarkeit der Untersuchung mit gleichem Ergebnis) Validita¨t (tatsa¨chliche Messung des Hilfebedarfs) Sensitivita¨t (Erfassung Betroffener) Spezifita¨t (Ausschluss Nichtbetroffener) ¥nderungssensitivita¨t (Nachweis wichtiger Vera¨nderungen)
In besonderen Fa¨llen kann bei der Analyse der Hilfebedu¨rftigkeit, der Bewertung des Hilfebedarfs und der Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit medizinisch-interdisziplina¨re Zusammenarbeit bzw. zusa¨tzlich fachspezifische Kompetenz („geeignete Fachkra¨fte“) unverzichtbar sein. Insbesondere das interdisziplina¨r angelegte Fachgebiet der Pa¨diatrie nimmt hinsichtlich der Hilfebedu¨rftigkeit von Kindern eine Sonderstellung bei der Pflegebegutachtung ein [Arbeitsgruppe Kinderpflege 2000]. Dem wurde im PflegeWeiterentwicklungsgesetz durch eine Erga¨nzung im § 18 Abs. 7 SGB XI besonders Rechnung getragen: „Die Pru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kindera¨rztin oder Kinderarzt vorzunehmen“ (siehe Kapitel 5.8). Der u¨ber den Hilfebedarf bei den gesetzlich definierten Verrichtungen der Grundpflege hinausgehende Betreuungsaufwand ist grundsa¨tzlich kein Bestandteil der Teilabsicherung durch das Pflege-Versicherungsgesetz. Allerdings ko¨nnen Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (PEA) in ha¨uslicher Pflege zusa¨tzliche finanzielle Betreuungsleistungen zur Inanspruchnahme aktivierender und qualita¨tsgesicherter Betreuungsangebote erhalten, wenn neben dem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gegeben ist. Analog haben vollstationa¨re Pflegeeinrichtungen fu¨r die zusa¨tzliche Betreuung und Aktivierung der pflegebedu¨rftigen Heimbewohner mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung Anspruch auf Vereinbarung leistungsgerechter Zuschla¨ge zur Pflegevergu¨tung. Leistungsberechtigt sind zu Pflegende mit demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen der MDK als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens festgestellt hat, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschra¨nkung der Alltagskompetenz gefu¨hrt haben. Das Verfahren zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz und zur Bewertung des Hilfebedarfs ist durch eine spezielle Begutachtungsrichtlinie geregelt (siehe Kapitel 5.7 und 5.9). Gema¨ß § 14 SGB XI sind pflegebedu¨rftig diejenigen Personen, die wegen einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung fu¨r die gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens auf
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Krankheit oder Störung
Schädigung
Fähigkeitsstörung
Beeinträchtigung
Abb. 2.2: Krankheitsfolgenmodell der ICIDH (1980).
Dauer in erheblichem oder ho¨herem Maße der Hilfe bedu¨rfen. Gema¨ß den §§ 15 und 18 SGB XI hat der MDK die Voraussetzungen und das Vorliegen von Pflegebedu¨rftigkeit nach Stufen entsprechend qualitativ und quantitativ festgesetzter Merkmale zu pru¨fen. Die Pru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit wird im Bedarfsfall erga¨nzt um Feststellungen u¨ber angemessene Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Die Referenz fu¨r die Operationalisierung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs bildete die ICIDH12 [Niehoff / Braun, WHO 1980]. In Fortsetzung und Erga¨nzung der ICD,13 der Kernklassifikation der WHO, war sie im Jahre 1980 unter Zugrundelegung des strukturellen und funktionalen Zusammenhangs des Behinderungspha¨nomens als Krankheitsfolge eingefu¨hrt worden (siehe Abb. 2.2). Der ICIDH lag bereits in Ansa¨tzen das biopsycho-soziale Krankheitsfolgenmodell der WHO zugrunde. In weiten Bereichen der sozialmedizinischen Begutachtung insbesondere a¨lterer Menschen liegen Erfahrungen mit der Anwendung der ICIDH als dem konzeptionellen Bezugssystem vor [Nu¨chtern 2001]. Dementsprechend werden bei der Pflegebegutachtung die krankheits- und / oder behinderungsbedingten Folgeerscheinungen, na¨mlich Scha¨digungen, Fa¨higkeitssto¨rungen, Ressourcen und Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten, als einzelne Elemente betrachtet, als Dimensionen des ICIDH objektiviert und erlauben so bedarfsorientiert deren Einordnung, Beschreibung und Abscha¨tzung. Als Ausdruck der wissenschaftlichen Konsensbildung und aktuellen Revision der ICIDH wurde die ICF14 verabschiedet und vero¨ffentlicht [WHO 2001]. Das bio-psycho-soziale Kranhkeitsfolgenmodell wurde erweitert und auf den Lebenshintergrund der Betroffenen (Kontext) ausgedehnt (siehe Abb. 2.3). Die ICF ist mittlerweile weithin Grundlage der sozialmedizinischen Begutachtung, insbesondere bei der sachversta¨ndigen Beurteilung von Fragen zur medizinischen Vorsorge und (geriatrischen) Rehabilitation (siehe auch Kapitel 6.1) [Ewert et al. 2008, Grotkamp / Viol 2008]. Nach der ICF wird die Funktionsfa¨higkeit eines Menschen als dynamische Interaktion zwischen den Gesundheitsproblemen und den Kontextfaktoren angesehen. Mittels einer ressourcen- und defizitorientierten funktionellen Betrachtungsweise werden positive und ne12 International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH): Der Titel der deutsprachigen Version lautet: „Internationale Klassifikation der Scha¨digungen, Fa¨higkeitssto¨rungen und Beeintra¨chtigungen“ [Matthesius et al. 1995]. 13 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD): Deren aktuelle und ausfu¨hrlichere Fassung ist die „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision“ (ICD-10) [WHO 1992]. Die deutsche ¢bertragung tra¨gt den Titel „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision“ [www.dimdi.de]. 14 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF): Die Endfassung der deutschsprachigen ¢bersetzung (Stand Oktober 2005) tra¨gt den Titel „Internationale Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Behinderung und Gesundheit“ [www.dimdi.de].
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Umweltfaktoren
Aktivitäten
Partizipation [Teilhabe]
personenbezogene Faktoren
Abb. 2.3: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten nach der ICF (2001).
gative Leistungsbilder erstellt und in Beziehung zu umweltbedingten sowie perso¨nlichen Kontextfaktoren gesetzt. Auf diese Weise werden Mo¨glichkeiten der Beta¨tigung (Aktivita¨t) und Einschra¨nkungen der Teilhabe (Partizipation) an der konkreten Lebenssituation objektiviert. Gema¨ß § 14 SGB XI sind pflegebedu¨rftig diejenigen Personen, die wegen einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung fu¨r die gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens auf Dauer in erheblichem oder ho¨herem Maße der Hilfe bedu¨rfen. Gema¨ß den §§ 15 und 18 SGB XI hat der MDK die Voraussetzungen und das Vorliegen von Pflegebedu¨rftigkeit nach Stufen entsprechend qualitativ und quantitativ festgesetzter Merkmale zu pru¨fen. Im Rahmen dieser Pru¨fung hat der Medizinische Dienst auch indizierte Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der medizinischen Rehabilitation zu empfehlen. Die sozialmedizinische Begutachtung von Versicherten gesetzlicher Pflegekassen zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI basiert sozialgesetzlich festgelegt wesentlich auf der Analyse der Hilfebedu¨rftigkeit, der Bewertung des Hilfebedarfs sowie konkludierend der Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit. Dies entspricht einer logischen Operation mit Erweis einer pragmatisch ausgerichteten Konsequenzrelation, also einer Folgerungsbeziehung mit Untersuchung und Feststellung der Voraussetzungen sowie abschließendem Fa¨llen eines Schlussurteils. Die sozialmedizinische Pru¨fung der Voraussetzungen beruht auf der umfa¨nglichen Analyse der Bedingungen und der Bewertung der Folgen im Sinne eines Kausalnexus, also dem folgerichtigen Begru¨ndungszusammenhang. Der zentrale Teil der Analyse selbst besteht aus der Erhebung und plausiblen Darstellung eines entsprechenden Verursachungsverha¨ltnisses nach dem Ursache-Wirkungsprinzip (siehe Tab. 2.1). Dieses deskriptiv-analytische Verfahren ist nicht prima¨r diagnoseorientiert, sondern ermo¨glicht eine Abscha¨tzung individueller erkrankungs- bzw. behinderungsbedingter Auswirkungen. Die selektiv finale Betrachtungsweise einzelner Folgeerscheinungen, insbesondere des Schweregrads der Fa¨higkeitssto¨rung allein, erlaubt allerdings keine Beurteilung der Beeinflussbarkeit des Hilfebedarfs bzw. der Indikation medizinischer, insbesondere rehabilitativer Maßnahmen, so wie es ausdru¨cklich im Sozialgesetz vorgesehen ist. Nur die umfassende Interpretation der Komplexita¨t und Mehrdimensionalita¨t des Erkrankungsgeschehens von den Grundlagen der Krankheitsursachen bis
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Tabelle 2.1: Bio-psycho-soziales Krankheitsfolgenmodell und Konsequenzrelation beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI. ICIDHDimension
ICFManifestationsKomponenten ebene
Konsequenz- Bezeichnung laut relation Gutachtenformular
Umweltfaktoren
Kontext Einfluss (Lebenshintergrund)
Derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation Ambulaten Wohnsituation
personenbezogene Faktoren
Disposition (Person)
Einfluss
Anamnese, Allgemeinzustand/Befund
Krankheit Gesundheits- Konstitution oder Sto¨rung problem (Versicherter)
Grund
Pflegebegru¨ndende Diagnose(n) ICD-10
Scha¨digung
Struktur (Soma/Psyche) Funktion (Individuum)
Ursache
Scha¨digungen und Ressourcen in Bezug auf den Stu¨tz- und Bewegungsapparat, die Inneren Organe, die Sinnesorgane und Nervensystem/Psyche sowie Alltagskompetenz
Aktion (Subjekt)
Wirkung
Beeintra¨chtigung der Aktivita¨ten in Bezug auf den Stu¨tzund Bewegungsapparat, die Inneren Organe, die Sinnesorgane und Nervensystem/ Psyche sowie Alltagskompetenz
allenfalls implizit: personenbezogene Faktoren
Fa¨higkeitssto¨rung
Ko¨rperstrukturen Ko¨rperfunktionen
Beeintra¨chti- Aktivita¨ten gung
Auswirkungen auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens: Bewegungen, Waschen/Kleiden, Erna¨hren, Ausscheiden (Selbstpflege) Graduierung: 0 bis 3 Partizipation Integration [Teilhabe] (Situation)
Einschra¨nkung der Alltagskompetenz
Kompensation (Gesellschaft)
Folge
Mobilita¨t (Grundpflege) sowie hauswirtschaftliche Versorgung Zeitaufwand pro Tag in Minuten
Substitution (Solidargemeinschaft)
Schlussurteil Pflegebedu¨rftigkeit nein, Pflegestufe I–III, außergew. hoher Pflegeaufwand
hin zu den o¨kologischen, sozialen und individuellen Kontextfaktoren, wie z. B. auch sogenannter Nebenerkrankungen, gestatten eine medizinisch fundierte Einscha¨tzung des Interventionspotentials und eine plausible Indikationsstellung. Von der Zielsetzung her sind diese Anforderungen, wie sie in der ICIDH in den Kategorien zur
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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Einscha¨tzung der Prognose und auch in der ICF ihren Ausdruck finden, im Gesetzestext und in den Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit enthalten. Beim gegenwa¨rtigen Begutachtungsverfahren mu¨ssen auf dieser Grundlage sowohl das erhaltene Aktivita¨tspotential als auch die individuelle Aktivita¨tseinbußen gepru¨ft und benannt werden. In Abha¨ngigkeit von deren ¥tiologie und Pathogenese sowie von deren Prognose werden folglich auch die Empfehlungen pflegerelevanter Maßnahmen entscheidend mitbestimmt. Der Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit nach SGB XI zielt auf eine an gewisse Bedingungen geknu¨pfte, anhaltende sowie erhebliche bis hochgradige Hilfebedu¨rftigkeit und die dadurch hervorgerufene Beeintra¨chtigung von Aktivita¨t und Partizipation (Teilhabe). Relevanz besitzen die Beeintra¨chtigungen, die sich bei den im § 14 SGB XI definierten „gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens“ in den Bereichen der Grundpflege sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung ergeben. Bemessungsgro¨ße sind dabei folglich nicht Art und Schwere der vorliegenden Krankheiten und Behinderungen, sondern das zeitliche Ausmaß des daraus resultierenden Fremdhilfebedarfs. Art und Umfang der Hilfe bei den Verrichtungen sind die im Rahmen der Begutachtung festzustellenden Tatsachen und die Bewertung des Hilfebedarfs anhand des Zeitaufwandes fu¨hrt zur Klassifizierung in Pflegestufen. Bei der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI werden im Formulargutachten die Krankheiten und/oder Behinderungen in Form der pflegebegru¨ndenden Diagnosen aufgefu¨hrt und nach der ICD-10 klassifiziert. Ihr Vorhandensein stellt die notwendige Grund(-bedingung) des Kausalnexus dar. Die Diagnosen mit ihrem pathognomonischen Hintergrund sind zwar bedeutsam fu¨r die Prognostizierung von Hilfebedu¨rftigkeit, erlauben allein aber keine ausreichende Objektivierung der Erscheinungsformen zur graduellen Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit. Die Problematik der Differenzierung zwischen Hilfebedarf und Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf, zum Beispiel bei Menschen mit demenziellen bzw. psychischen Erkrankungen, veranschaulicht das [Braatz / Gansweid 2005]. Die daraus hervorgehenden, erhobenen Scha¨digungen (und Fa¨higkeitssto¨rungen) bezeichnen die Ursachen. Die insofern abzuleitenden Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Ressourcen im Hinblick auf mo¨gliche wiederherzustellende Fa¨higkeiten entsprechen der Wirkung. Ihre Beschreibung nach strukturell-funktionalen Entita¨ten erfolgt in Bezug auf Stu¨tz- und Bewegungsapparat, innere Organe, die Sinnesorgane sowie Nervensystems / Psyche. Die Auswirkungen der Funktionseinschra¨nkungen bestimmen das Abha¨ngigkeitsprofil von fremder bzw. instrumenteller Hilfe als Ausdruck des Verlustes an individueller Selbsta¨ndigkeit (Hilfebedu¨rftigkeit). Gema¨ß SGB XI werden beru¨cksichtigt die Auswirkungen auf die prima¨r die physische Unabha¨ngigkeit bzw. Mobilita¨t beeinflussenden, zusammenfassend als Selbstpflege bezeichneten folgenden Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens (ATL):15 Bewegen, Waschen/Kleiden, Erna¨hren und Ausscheiden. 15
Die ersten relevante Arbeiten zur Aufwandserhebung und Bewertung des Assistenzbedarfs bei den basalen Alltagsaktivita¨ten erschienen in den 1960er Jahren: Activities of Daily Living – ADL (Katz et al. 1963) und Instrumental Activities of Daily Living – IADL (Lawton / Brody 1969). Diese Konzepte zur Bestandsanalyse wurde weiterentwickelt und im Kompetenzmodell zur Pflege erweitert, um Kreativita¨t, soziales Rollenverhalten, Umweltfaktoren und Selbstwahrnehmung beru¨cksichtigen zu ko¨nnen (Katz et al. 1970, Lawton 1999). Auf gerontologischen Analysen gestu¨tzt wurden
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Bei demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung wird zusa¨tzlich hinsichtlich der Beeintra¨chtigungen der Orientierung und der sozialen Integration qualitativ das Maß ihrer Auffa¨lligkeit sowie daraus resultierender Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf ermittelt. Dies dient als Voruntersuchung zur Feststellung erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (Screening). Bei positivem Ergebnis wird anschließend mittels einer neuro-psychischen Beurteilung und qualitativen Bewertung des allgemeinen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarfs schematisiert anhand von 13 Kriterien gutachterlich die dauerhafte Erheblichkeit der eingeschra¨nkten Alltagskompetenz gepru¨ft (Assessment). Die getroffenen Feststellungen haben keinen Einfluss auf die Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit, sondern dienen der Abkla¨rung eines Anspruchs auf zusa¨tzliche finanzielle Betreuungsleistungen. Aus den Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Ressourcen resultieren notwendige Hilfeleistungen. Unter Beru¨cksichtigung umfeldbedingter und perso¨nlicher Faktoren werden sie als Hilfebedarf bewertet. Somit ist nicht die Hilfebedu¨rftigkeit, die sich aus den somato-psychischen Beeintra¨chtigungen ergibt, sondern der Hilfebedarf, der zusa¨tzlich durch spezifisch-variable Kontextfaktoren mitbestimmt wird, Folge des Kausalnexus. Er wird bei den einzelnen Verrichtungen der Grundpflege (Ko¨rperpflege, Erna¨hrung, Mobilita¨t) sowie der hauswirtschaftliche Versorgung nach Form der Hilfe, Ha¨ufigkeit und Zeitdauer als Gesamtergebnis der Untersuchung veranschlagt. Im Formulargutachten wird er im Anschluss an die tabellarische Darstellung von PEA-Screening und -Assessment ausgewiesen. Die Beschaffenheit des Hilfebedarfs wird durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst und ist weder eine statische Gro¨ße noch ein unidirektionaler Prozess. In Anlehnung an das bio-psycho-soziale Krankheitsfolgenmodell der WHO ist der Hilfebedarf als Resultante einer dynamisch-spezifischen Wechselwirkung und komplexen Beziehung zwischen den Gesundheitsproblemen sowie den umweltbezogenen und perso¨nlichen Kontextfaktoren verstanden eine funktionale Gro¨ße. Interventionen bezu¨glich dieser Faktoren ko¨nnen diese selbst, das Gesundheitsproblem, die anderen Komponenten, Ko¨rperfunktionen und -strukturen sowie Aktivita¨ten und Partizipation (Teilhabe), also folglich auch Erheblichkeit der Pflegebedu¨rftigkeit beeinflussen. Die Pflegebedu¨rftigkeit ist ein sozialgesetzlicher Begriff mit leistungsrechtlicher Konsequenz. Ihre Beurteilung ergibt sich aus dem gutachtlichen Nachweis eines festgelegten Ausmaßes notwendigen perso¨nlichen Hilfebedarfs. Pflegebedu¨rftigkeit bezeichnet die daraus abzuleitende, nach dem Ausschlusskriterien der Erheblichkeit zu kategorisierende, systembedingte leistungsrechtliche Konklusion. Der Pflegebedu¨rftigkeitsstatus nach SGB XI ist das Ergebnis der zeitlichen Bewertung des Hilfebedarfs und wird im Hinblick auf die drei Pflegestufen bzw. einen außergewo¨hnlich hohen Pflegeaufwand gutachterlich als Schlussurteil festgestellt.
in der Folge drei funktionelle Bereiche unterschieden: die Grundaktivita¨ten des ta¨glichen Lebens, die Hauswirtschaft und der kognitive Komplex [Wolinsky et al. 1992, 1993]. Im Hinblick auf ihre Funktion als standardisierbare Assessmentverfahren des Pflegebedarfs sind die darauf aufbauenden Prozeduren zu unterscheiden von Modellen zur Planung pflegerischer Maßnahmen. Einzelheiten finden sich im Kapitel: „Pflegetheorie und Bewertung des Hilfebedarfs“.
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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2.3.2 Die Funktion des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit Die Beteiligung des MDK am Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit („Pflegebegutachtung“) ist, wie aus § 18 Abs. 1 SGB XI hervorgeht, gesetzlich vorgeschrieben. Das Verfahren wird gema¨ß § 17 SGB XI durch die Begutachtungs-Richtlinien konkretisiert. Sie sind fu¨r die Medizinischen Dienste als Begutachtungsgrundlage bundeseinheitlich verbindlich. So wie die Gesetze werden auch die Richtlinien durch ho¨chstrichterliche Urteile ausgelegt. In den Richtlinien u¨ber die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung liegt eine auch auf den Geltungsbereich des SGB XI u¨bertragbare Arbeitsgrundlage vor [MDS 2000]. Das Verfahren wird durch einen Antrag der Pflegebedu¨rftigen bei der gesetzlichen Pflegekasse eingeleitet. Der Antrag kann formlos und, wenn der Versicherte selbst dazu nicht mehr in der Lage ist, durch Bevollma¨chtigte und Betreuer gestellt werden. Dabei ist das Datum der Antragstellung maßgeblich mitentscheidend u¨ber den Leistungsbeginn. Nach Erhalt des Antrags werden die Anspruchsvoraussetzungen durch die gesetzliche Pflegekasse „von Amts wegen“ gepru¨ft. Gema¨ß § 7 SGB XI haben der behandelnde Arzt, das Krankenhaus, die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungstra¨ger mit Einwilligung des Versicherten unverzu¨glich die zusta¨ndige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedu¨rftigkeit abzeichnet oder voraussichtlich vorliegt. Die rechtsverbindliche Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit, der Pflegestufe und sonstiger daraus resultierender Anspru¨che ist grundsa¨tzlich Aufgabe der Pflegekasse. Nach § 18 SGB XI hat sie zuvor vom Medizinischen Dienst pru¨fen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit erfu¨llt sind. Bei der Bearbeitung eines Antrags auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung versetzt die sozialmedizinische sachversta¨ndige Stellungnahme („Pflegegutachten“) die gesetzliche Pflegekasse in die Lage, eine Leistungsentscheidung zu treffen. Zielsetzung des Gutachtens ist eine fu¨r die Sachbearbeiterin bzw. den Sachbearbeiter der Pflegekasse versta¨ndlich formulierte Beurteilung des Zustands sowie der Prognose des individuellen Hilfebedarfes in den Bereichen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Entsprechend des leistungsrechtlich relevanten Vorrangs von Pra¨vention und medizinischer Rehabilitation gegenu¨ber Pflegemaßnahmen gema¨ß § 31 SGB XI pru¨ft der Medizinische Dienst auf der Grundlage des § 18 SGB XI zudem auch die Indikationen pra¨ventiver, kurativer und rehabilitativer Maßnahmen und die Notwendigkeit der Versorgung mit Hilfsmitteln und technischen Hilfen. Auf der Grundlage von Anamnese, Befund, Diagnose, Therapie und Prognose sowie der Versorgungs- und Betreuungssituation des Pflegebedu¨rftigen hat der MDK Empfehlungen zum individuellen Pflegeplan abzugeben. In Form des sogenannten Pflegegutachtens teilt der MDK der Pflegekasse seine Beurteilung einschließlich der Empfehlungen mit. Die Indikationsstellung zur medizinischen Rehabilitation trifft der MDK nach den medizinischen Kriterien Rehabilitationsbedu¨rftigkeit, -fa¨higkeit, -ziele und -prognose [MDS 2005]. Wenn offensichtlich ist, dass die Anspruchsvoraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit nicht vorliegen, kann die Pflegekasse ausnahmsweise auf eine Beauftragung des MDK zur Begutachtung verzichten. Im Sinne des weitergehenden Pru¨fauftrages entbindet dies aber die gesetzliche Pflegekasse nicht von der Beteiligung des Medizinischen Dienstes hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit der oben aufgefu¨hrten inter-
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
ventionellen und versorgungstechnischen Maßnahmen sowie inhaltlicher Fragen der Pflege. Die zentrale Funktion des MDK im Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit beruht also im wesentlichen auch darauf, dass entsprechend des gesetzlich geforderten Vorrangs pra¨ventiver und rehabilitativer Maßnahmen zur Vermeidung des Eintritts von Pflegebedu¨rftigkeit der Auftrag der Pflegekasse u¨ber die reine Beurteilung des Hilfebedarfs hinausgeht und die Empfehlungen in den Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes gegenu¨ber der Pflegekasse Auswirkungen auf die Leistungspflicht anderer Sozialleistungstra¨ger haben. Der Zielbereich der sozialmedizinischen Stellungnahmen des MDK ist somit der gesetzlich oder satzungsma¨ßig festgelegte Leistungsauftrag aller Tra¨ger der sozialen Sicherung [Mu¨ller-Held et al. 1992]. Der MDK hat die Erstuntersuchung, aber auch die in angemessenen Zeitabsta¨nden zu wiederholenden Folgeuntersuchungen im Wohnbereich des Versicherten vorzunehmen, da der kontextbedingte Hilfebedarf in betra¨chtlichem Ausmaß von der Ausgestaltung des Wohnumfelds abha¨ngt. Neben der Pru¨fung des gesundheitlichen Zustands des Versicherten und der Mo¨glichkeiten seiner medizinischen Rehabilitation dient die Untersuchung in der ha¨uslichen Umgebung der Pru¨fung der Notwendigkeit des Einsatzes von Hilfsmitteln, technischen Hilfen, der Prognose des Hilfebedarfes sowie der Feststellung des Zeitpunktes einer eventuell erforderlichen Wiederholungsbegutachtung. Eine Vera¨nderung des Wohnumfeldes kann Einfluss auf den zu beru¨cksichtigenden Hilfebedarf haben. Ausnahmsweise kann aus sozialmedizinischer Sicht eine Folgeuntersuchung des Pflegebedu¨rftigen in dessen Wohnbereich entfallen und eine Beurteilung des Hilfebedarfs aufgrund der Aktenlage erfolgen, wenn z. B. die ¥nderung des Hilfebedarfs aufgrund der Prognose krankheitsbedingter Behinderungen, wie bei progressiv verlaufenden Erkrankungen, gutachterlich plausibel erscheint (§ 18 Abs. 2 SGB XI). Befindet sich ein Antragsteller voru¨bergehend in einer kurativen oder rehabilitativen Einrichtung und liegen Hinweise vor, dass zur Sicherstellung der ambulanten oder stationa¨ren Weiterversorgung und Betreuung eine Begutachtung in der Einrichtung erforderlich ist, ist die Untersuchung unverzu¨glich, spa¨testens jedoch innerhalb einer Woche dort durchzufu¨hren. Etwa ein Viertel der Antra¨ge bei der gesetzlichen Pflegekasse bezieht sich auf Leistungen der vollstationa¨ren Pflege. Beim ¢bergang von ha¨uslicher in vollstationa¨re Pflege beha¨lt der Pflegebedu¨rftige die ihm zuerkannte Pflegestufe bei. Bei der Begutachtung im ha¨uslichen Umfeld sind dessen Gegebenheiten Grundlage der Pflegestufenempfehlung. Befindet sich der Antragsteller zum Zeitpunkt der Begutachtung bereits in der vollstationa¨ren Pflegeeinrichtung und verfu¨gt nicht mehr u¨ber eine eigene Wohnung, so dient die in den Richtlinien definierte Standardwohnsituation, die sogenannte durchschnittliche ha¨usliche Wohnsituation, als Bemessungsgrundlage. Dies soll, unabha¨ngig von der Ausstattung der Pflegeeinrichtung, eine vergleichbare Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit und deren Einstufung gewa¨hrleisten (§ 18 Abs. 3 SGB XI). Der Gutachter des Medizinischen Dienstes hat durch eigene Untersuchung mit kritischer Pru¨fung medizinischer Unterlagen den Status der Pflegebedu¨rftigkeit zu erheben und deren Prognose abzuscha¨tzen. Dies betrifft Einschra¨nkungen bei gewo¨hnlich und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens. Sofern der Antragsteller nicht schon mit seinem Antrag entsprechende a¨rztliche Atteste vorgelegt hat, soll der MDK mit schriftlicher Einwilligung des Versicherten a¨rztliche Ausku¨nfte und Unterlagen u¨ber die fu¨r die Begutachtung der Pflegebedu¨rftigkeit wichtigen Vorerkrankungen sowie Art, Umfang und Dauer des Hilfebedarfs einholen. Die
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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Antragsformulare der Pflegekassen enthalten in der Regel bereits einen Passus hinsichtlich der Einwilligungserkla¨rung zur Auskunftserteilung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach sozialgesetzlich festgelegt ist, dass ¢ Pflege- und Krankenkassen sowie Leistungserbringer § 18 Abs. 5 SGB XI verpflichtet sind, dem MDK die fu¨r die Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Ausku¨nfte zu erteilen, ¢ Unterlagen, die der Versicherte u¨ber seine Mitwirkungspflicht nach den §§ 60 und 65 SGB I hinaus seiner Krankenkasse selbst u¨berlassen hat, an den MDK nur weitergegeben werden, soweit der Versicherte eingewilligt hat und ¢ das Recht des Pflegebedu¨rftigen zur Akteneinsicht und deren Umfang gema¨ß § 25 SGB X geregelt ist. Nach § 18 Abs. 7 SGB XI gilt: Die Aufgaben des Medizinischen Dienstes werden durch ¥rzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkra¨ften und anderen geeigneten Fachkra¨ften wahrgenommen“. Der MDK kann auch externe Kra¨fte einsetzen, muss aber bei der Beauftragung fu¨r den notwendigen Schutz personenbezogener Daten Sorge tragen. Fu¨r die „jeweilige Beteiligung“ von Pflegefachkra¨ften beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit antwortete die Bundesregierung im Oktober 1996 auf eine Anfrage der SPD im Bundestag: „Im Mittelpunkt des Begriffes Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des SGB XI steht der Hilfebedarf bei den regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens . . . Die hier notwendigen Hilfeleistungen ko¨nnen Pflegekra¨fte ha¨ufig besser begutachten als die a¨rztlichen Mitarbeiter in den Medizinischen Diensten . . . Allerdings geho¨rt zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit auch die Kla¨rung der Frage, ob der Hilfebedarf als Folge einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung entstanden ist und ob der Hilfebedarf auf Dauer in erheblichem oder ho¨herem Maße bestehen wird. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist die Beteiligung von ¥rzten notwendig. Der Medizinische Dienst entscheidet im Einzelfall unter Beru¨cksichtigung der ihm vorliegenden Unterlagen, welcher Gutachter den Versicherten in seinem Wohnbereich untersucht. Die Zusammenarbeit von ¥rzten und Pflegekra¨ften bei der Aufgabenerfu¨llung des Medizinischen Dienstes ist auch von der Bundesregierung gewollt.“ Einer seinerzeit fu¨r den Medizinischen Dienst der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen e. V. erstellten juristischen Expertise wu¨rde idealerweise sicherlich am ehesten entsprochen, wenn Arzt und Pflegefachkraft gemeinsam die Besuche bei den Antragsstellern durchfu¨hren wu¨rden [Igl 1995]. Bezu¨glich der Bedeutung des Gutachtens als wissenschaftlich fundierte und theoretisch zu verantwortende Leistung soll auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Arzt und Pflegefachkraft sowohl hinsichtlich der Legitimation als auch der Kompetenz sowie der daraus erwachsenen Konsequenzen auf folgenden Gebieten hingewiesen werden [Piechowiak 1997]: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Begutachtung als Bestandteil der beruflichen Ausbildung Durchfu¨hren der Untersuchung Stellen von Diagnosen Erheben kurativer Defizite Feststellen pflegerischer Ma¨ngel Stellen von Indikationen Aussagen zur Prognose
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Bei fachu¨bergreifenden Fragestellungen kann es notwendig sein, neben der fu¨r das Gutachten konstitutiven a¨rztlichen Kernkompetenz additiv weiterfu¨hrende Sachkenntnis hinzuzuziehen. In der medizinischen gutachtlichen Praxis wird dies durch Veranlassung von und Bezugnahme auf Konsiliargutachten bzw. erga¨nzende Stellungnahmen sichergestellt. Die Begutachtung selbst ist jedoch kein Ausbildungsbestandteil fu¨r Pflegekra¨fte, d. h. als genuin medizinisches Gutachten kann auch das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI auf der Grundlage einer medizinischen Untersuchung (§ 18 Abs. 2 SGB XI) nur a¨rztlich verantwortet werden.
2.3.3 Die Rolle des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe Die spezifische Aufgabe des MDK als Begutachtungs- und Beratungsinstitution besteht in der Analyse bzw. Ero¨rterung medizinischer und/oder hilfebedarfsadaptierter Frage oder Problemstellungen in Form sozialmedizinischer sachversta¨ndiger Stellungnahmen. Diese dienen als Grundlage fu¨r fundierte sozialrechtliche Entscheidungen [Lotz-Schu¨rmann / Rebscher 1992]. Im Hinblick auf den einzelfallbezogenen Charakter der Begutachtung und die grundsa¨tzliche Bedeutung der Beratung kann man Qualita¨tspru¨fungen und Fortbildungen als Sonderformen der Beratung betrachten. Mit den ja¨hrlich mittlerweile mehr als 1,3 Millionen Pflegebegutachtungen, den mittlerweile mehr als 4.000 Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen, den mehreren Tausend Beratungsleistungen einschließlich der Mitwirkung bei der Erstellung von Richtlinien sowie den Fortbildungs- bzw. Schulungsveranstaltungen nimmt der MDK einen maßgeblichen und umfassenden Versorgungsauftrag im sozialen Gefu¨ge der BRD wahr [Gaertner et al. 2006, Gerber 2005, Gerber / Gansweid 2008]. Einzelheiten werden im Kapitel 5.10 dargestellt. All diese Stellungnahmen sind sachversta¨ndige Leistungen mit auftragsbezogener Anwendung fachwissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrung (Kernkompetenz). Am Anfang eines Vorgangs, einem Bestandteil eines mehrstufigen Entscheidungsprozesses des Auftraggebers, steht die anlassbezogene Pra¨zisierung des Auftrags. Abgeschlossen wird das Sachversta¨ndigenverfahren durch die (Ergebnis-)Mitteilung als eigentlichem Resultat der gesamten Stellungnahme. Diese ist nach den Maßgaben des Sozialgesetzbuches sowie den Anforderungen an Dokumentations- und Geheimhaltungspflicht, insbesondere bei den Gutachten mit konkretem Versichertenbezug, zu erstellen. Durch Aufkla¨rung und Beratung u¨ber eine gesunde, der Pflegebedu¨rftigkeit vorbeugende Lebensfu¨hrung haben die Pflegekassen die Eigenverantwortung ihrer Versicherten zu unterstu¨tzen und auf die Teilnahme an gesundheitsfo¨rdernden Maßnahmen hinzuwirken (§ 6 SGB XI). Der MDK nimmt dabei eine wesentliche Funktion im Rahmen der Planung zur Durchfu¨hrung der Pflege ein, indem er notwendige grund- und / oder behandlungspflegerische Maßnahmen anregt und ggf. weitere Maßnahmen wie die der medizinischen Rehabilitation empfiehlt. Dabei handelt er im Auftrag der Pflegekassen. Wie bereits dargestellt, sind aktive Eingriffe in die Behandlung den Gutachterinnen und Gutachtern des MDK nicht gestattet. Diese mu¨ssen jedoch therapeutische Defizite eindeutig dokumentieren. In diesem Zusammenhang weist der MDK die Pflegekassen fallspezifisch auf die Notwendigkeit professioneller ambulanter, teilstationa¨rer und stationa¨rer Pflegeleistungen hin und empfiehlt Hilfestellungen fu¨r pflegende Angeho¨rige.
2.3 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualita¨tspru¨fung
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Die pflegerische Versorgung der Bevo¨lkerung ist im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (§ 8 SGB XI). Unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes sollen La¨nder, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen eng zusammenwirken, um eine leistungsfa¨hige pflegerische Versorgung der Bevo¨lkerung zu gewa¨hrleisten. Dazu geho¨ren Ausbau notwendiger pflegerischer Versorgungsstrukturen sowie die Sta¨rkung der Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch Pflegekra¨fte sowie Angeho¨rige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen. So soll auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hingewirkt werden. Verantwortlich fu¨r die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Versicherten sind die Pflegekassen (§ 12 SGB XI). Zur Durchfu¨hrung der Ihnen gesetzlich u¨bertragenen Aufgaben sollen sie o¨rtliche und regionale Arbeitsgemeinschaften bilden. Der MDK bera¨t diese Arbeitsgemeinschaften zum Problem der pflegerischen Versorgung, Vertragsgestaltung mit Leistungsanbietern, grundsa¨tzlicher Versorgung mit Pflegehilfsmitteln und technischen Hilfen. Eine wichtiges Aufgabengebiet der Medizinischen Dienste betrifft die Qualita¨tssicherung und den Schutz der Pflegbedu¨rftigen gema¨ß §§ 112–120 SGB XI. Dazu geho¨ren im Einzelnen: ¢ Beratung der Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualita¨tssicherung ¢ Beteiligung bei der Vereinbarung von Maßsta¨ben und Grundsa¨tzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t ¢ Beteiligung bei der Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards ¢ Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen in den Pflegeeinrichtungen bezu¨glich Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualita¨t ¢ Berichterstattung zur Entwicklung der Pflegequalita¨t und der Qualita¨tssicherung Beteiligung des ¢ Beteiligung bei der Erstellung von Richtlinien u¨ber die Pru¨fung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualita¨t Die Bundesregierung ist nach § 109 Abs. 2 SGB XI erma¨chtigt, ja¨hrlich eine Bundesstatistik zur Situation Pflegebedu¨rftiger und ehrenamtlich Pflegender anzuordnen. Auskunftspflichtig ist der Medizinische Dienst gegenu¨ber den statistischen ¥mtern der La¨nder. Die Erhebungen ko¨nnen folgende Sachverhalten umfassen: 1. Ursachen von Pflegebedu¨rftigkeit 2. Pflege- und Betreuungsbedarf der Pflegebedu¨rftigen 3. Pflege- und Betreuungsleistungen durch Pflegefachkra¨fte, Angeho¨rige und ehrenamtliche Helfer 4. Maßnahmen zur Pra¨vention und medizinischen Rehabilitation 5. Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Pflegequalita¨t 6. Bedarf an Pflegehilfsmitteln und technischen Hilfen 7. Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes Außerdem hat der MDK die Sachverhalte gleichzeitig den fu¨r die Planung und Investitionsfinanzierung der Pflegeeinrichtungen zusta¨ndigen Landesbeho¨rden mitzuteilen. Die La¨nder ko¨nnen zusa¨tzliche Erhebungen u¨ber Sachverhalte des Pflegewesens als Landesstatistik anordnen. Nach den Richtlinien gema¨ß § 53a SGB XI erstattet der
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MDK Berichte, die auf den Auswertungen der im Rahmen der Pflegebegutachtung und der Qualita¨tssicherung gewonnenen Daten basieren. Diese sozialmedizinischen sachversta¨ndigen Stellungnahmen unterstu¨tzen gesundheitspolitische Entscheidungen zur Sicherstellung der Versorgung Pflegebedu¨rftiger in Deutschland. Weiterhin u¨bernimmt der MDK Aufgaben bei der regionalen Planung und Koordination einer wirtschaftlichen pflegerischen Infrastruktur, z. B. als Mitglied von Pflegekonferenzen auf Bundes-, Landes- und Regionalebene. So bera¨t er die Entscheidungstra¨ger unter anderem bei der Festsetzung von Kapazita¨ten fu¨r die ambulante, teilstationa¨re und stationa¨re pflegerische Versorgung. Dabei unterstu¨tzt der MDK beratend die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassen bei der Vertragsgestaltung mit Leistungsanbietern durch sachversta¨ndige Stellungnahmen zur fachlichen Eignung der Leistungserbringer, wie ambulante Pflegedienste, Pflegeheime, Pflegetagessta¨tten etc. In den einzelnen Bundesla¨ndern sind bereits Modellprojekte unter Beteiligung des MDK initiiert. Ihre Auswertungen sollen die Grundlagen fu¨r die Weiterentwicklung der pflegerischen Infrastrukturen sowie fu¨r individuelle leistungsrechtlich relevanter Entscheidungen bilden. Der MDK ist zudem bei der Beratung der Pflegekassen bei sogenannten Pflegesatzverhandlungen beteiligt. In diesen Teilbereichen des Aufgabenspektrums des MDK kommt so die initiative und interventive Komponente der praktischen Sozialmedizin im Rahmen des sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags zur Entfaltung. Als moderne Dienstleistungsinstitution des Solidarsystems unterstu¨tzt der MDK dem Wirtschaftlichkeitsgebot folgend die bedarfsgerechte Versorgung der Pflegebedu¨rftigen und den verantwortungsvollen Einsatz finanzieller Mittel der Versichertengemeinschaft [Gaertner et al. 2001]. In diesem Zusammenhang mu¨ssen mit dem Hinweis auf mo¨gliche Qualita¨tsverbesserungen der Versorgung Forderungen nach der auf Evidenzbasierter Medizin (EbM) gestu¨tzten Vorgehensweise unter o¨konomischen und erkenntnistheoretischen Gesichtpunkten kritisch erwogen werden [Niehoff 2001, Rogler / Scho¨lmerich 2000]. Insbesondere fu¨r eine evidenzbasierte Pflege stellt der Mangel an verfu¨gbaren Forschungsergebnissen eine noch ungelo¨ste Aufgabe dar [Schiemann / Bu¨scher 2000].
2.4 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs Martina Su¨ß Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in die theoretischen Grundlagen der Pflege als wissenschaftliche Fachdisziplin. Nach Skizzierung ihrer Entwicklung und Systematisierung wird der aktuelle Kenntnisstand am Beispiel von vier ausgewa¨hlten, auch in Deutschland etablierten, Pflegemodellen zusammengefasst. Nach einem Blick auf den aktuellen Stand in Deutschland wird abschließend die Bedeutung der Pflegetheorien bei der Bewertung des Hilfebedarfs gema¨ß den Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches im Kontext der Begutachtungspraxis herausgearbeitet.
2.4.1 Theorieentwicklung in der Pflege Die erste theoriegeleitete Betrachtungsweise auf Pha¨nomene in der Pflege ist mit dem Namen der britischen Krankenpflegerin Florence Nightingale verknu¨pft. Sie wurde in
2.4 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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den Kaiserswerther Anstalten in Deutschland ausgebildet. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte sie als Aufgabe der Pflege die Unterstu¨tzung natu¨rlicher Heilungsprozesse und die Einflussnahme auf Umweltbedingungen mit dem Ziel, die Gesundheit des Patienten zu fo¨rdern. Die Sorge fu¨r Sauberkeit, frische Luft und ausreichende Erna¨hrung wurde Kernelement des pflegerischen Auftrags. Die grundlegende Bedeutung dieser gesundheitsfo¨rdernden Aspekte wird unter Beru¨cksichtigung gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen um die Jahrhundertwende nachvollziehbar. Die weitere Entwicklung theoretischer Fundamente in der Pflege war in der Folge kein linearer Prozess. Vielmehr war sie, gleichermaßen wie andere humanwissenschaftliche Disziplinen, abha¨ngig von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie dem Stand fachlicher Erkenntnisse und Visionen. Zur Systematisierung unterschiedlicher Pflegemodelle hat sich die Betrachtung von Afaf I. Meleis weitgehend durchgesetzt [Meleis 1997, Meleis 1999]. Die Professorin fu¨r Pflegewissenschaften in San Francisco unterscheidet zwischen Bedu¨rfnistheorien, Interaktionstheorien, humanistischen sowie ergebnisorientierten Theorien. Theoriebildung ist ein dynamisches Prozessgeschehen. Zwangsla¨ufig weist diese Systematik daher ¢berschneidungen auf und spiegelt verschiedene, zeitlich parallel verlaufende, Entwicklungsphasen wider.
2.4.1.1 Bedu¨rfnistheorien Bedu¨rfnistheoretische Ansa¨tze in der Pflege haben bis heute, zumindest im deutschsprachigen Raum, den ho¨chsten Stellenwert. Sie haben ihren Ursprung in der von Virginia Henderson begru¨ndeten Denkschule der „14 Grundbedu¨rfnisse“ des Menschen [Henderson 1960]. Ihre Definition der Pflege aus dem Jahre 1960 ist die wohl weltweit bekannteste: „Die einzigartige Aufgabe der Krankenpflege ist es, den einzelnen, krank oder gesund, bei der Durchfu¨hrung jener Ta¨tigkeiten zu helfen, die zur Gesundheit oder Rekonvaleszenz (oder zum friedlichen Tod) beitragen, die er ohne Hilfe selbst durchfu¨hren wu¨rde, wenn er die dazu notwendige Kraft, den Willen oder das Wissen ha¨tte. Dieses ist auf eine Weise zu tun, die dem Patienten die schnellstmo¨gliche Wiedererlangung seiner Unabha¨ngigkeit erlaubt.“ Das International-Council of Nursing (ICN) u¨bernahm diese Definition des Fachgebiets und leitete sie an die Mitgliedsorganisationen in den verschiedenen La¨ndern weiter [Henderson 1977].
2.4.1.2 Interaktionstheorien Die Protagonistinnen der Interaktionsmodelle definieren Pflege prima¨r als eine dynamische Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient. Danach wird der Heilungs- und Pflegeprozess unmittelbar durch die Qualita¨t der aufgebauten Beziehung beeinflusst. Hildegard E. Peplau ist die wohl bekannteste Vertreterin dieser Richtung [Peplau 1994]. Die enge Anlehnung ihrer Theorie an die in den 50er Jahren modernen Denkschulen in Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie ist deutlich. Peplaus Beitrag, insbesondere zur psychiatrischen Pflege, war und ist groß. Ihre konsequente Betrachtung von Pflege als zielorientiertem Problemlo¨sungs- und Interaktionsprozess hat weit u¨ber die unmittelbaren Versorgungssysteme psychiatrisch erkrankter Menschen hinaus an Bedeutung gewonnen. Peplaus Pflegetheorie dient in modifizierter Form noch heu-
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
te zahlreichen psychiatrischen Einrichtungen außerhalb Deutschlands als pflegerische Arbeitsgrundlage.
2.4.1.3 Humanistische Theorien Modelle dieser Richtung beschreiben Pflege als eine Einheit aus Betreuung, Fu¨rsorge und Versorgung. Die deutliche Anlehnung an moralische Grundwerte und philosophische Betrachtungen, insbesondere aus der Pha¨nomenologie, ist unverkennbar. Auch der Einfluss des Psychologen Carl Rogers ist deutlich. Pflegerisches Handeln erfa¨hrt seine Pra¨gung durch Kongruenz, Empathie und gegenseitiger Wertscha¨tzung. Eine auch in Deutschland bekannte Vertreterin dieser Denkschule ist Patricia Benner. Sie bescha¨ftigt sich u. a mit dem systematischen Erwerb von Pflegekompetenz im praktischen Handlungsbezug [Benner 1984].
2.4.1.4 Ergebnisorientierte Theorien Charakteristisch fu¨r diese Denkschule ist die Beschreibung von Pflegeergebnissen mit Begriffen wie Anpassung, Gleichgewicht, ausgewogenes Verhaltenssystem, Stabilita¨t, Energieerhalt und harmonisches Zusammenspiel mit der Umgebung. Das Ziel von Pflege wird in diesem Kontext als die Wiederherstellung einer harmonischen Beziehung zwischen dem (kranken) Individuum und seiner Umwelt betrachtet. Bekannteste Vertreterinnen sind Martha E. Rogers sowie Myra E. Levine [Schaeffer et al. 2008]. Da die Evaluation der Pflegeergebnisqualita¨t in diesen Modellen besonders problematisch ist, sind sie bislang kaum von praktischer Relevanz.
2.4.2 Pflegeprozess als theoretisches Kernelement Das Versta¨ndnis von Pflege als Problemlo¨sungsprozess begann sich in Deutschland erst seit Mitte der 80er Jahre allma¨hlich durchzusetzen. Prozessorientiertes Handeln setzt systematisches Vorgehen bei der Einscha¨tzung der subjektiven Bedu¨rfnislage eines Patienten voraus. Dieser Einscha¨tzung, dem Assessment, folgen in weiteren Schritten Zielsetzung, Planung und Ausfu¨hrung von Pflegemaßnahmen sowie die Evaluation. Die Betrachtung der Pflege als Prozess korrespondiert mit dem Regelkreismodell der Kybernetik. Als fa¨cheru¨bergreifende Methode bezeichnet Kybernetik im weitesten Sinne die Wissenschaft von sich selbst regulierenden Systemen, die fu¨r ihre Funktion relevante Daten erheben und zur Planung weiterer Schritte auswerten. Die Anwendung des Regelkreismodells im Pflegealltag dient der Systematisierung und Professionalisierung pflegerischen Handels. Entscheidende Merkmale des Pflegeprozesses sind: 1. Beru¨cksichtigung der aktuellen Situation des Patienten 2. Flexibilita¨t in der Regulierung des Geschehens unter Beru¨cksichtigung von Rahmenbedingungen, Zielvorgaben und Ergebnissen Voraussetzung fu¨r die sinnvolle Umsetzung des Regelkreismodells sind die nachfolgenden Grundannahmen: ¢ Pflege ist planbar ¢ Pflege ist zielorientiert
2.4 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
¢ ¢ ¢ ¢
Pflege Pflege Pflege Pflege
ist ist ist ist
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systematisch durchfu¨hrbar problemlo¨sungsorientiert nachvollziehbar, begru¨ndbar und dokumentierbar u¨berpru¨fbar und vera¨nderbar
Die Implementierung des Pflegeprozesses als elementares Instrumentarium zur Sicherstellung professioneller Pflege ist mittlerweile auch in Deutschland weit fortgeschritten. Alle nachfolgend ausgewa¨hlten und beschriebenen Theorien und Modelle basieren auf der Betrachtung von Pflege als steuerbarem Prozessgeschehen.
2.4.3 Bedu¨rfnisorientierte Modelle Die nachfolgend aufgefu¨hrten, besonders im deutschsprachigen Raum verbreiteten, Modelle sind den Bedu¨rfnistheorien zuzuordnen.
2.4.3.1 Modell des Lebens – LA (Lebensaktivita¨ten) Das Modell von Nancy Roper, Winifred W. Logan und Alison J. Tierney wurde in Edinburg, Schottland erarbeitet und ist damit eines der wenigen nicht in den USA entwickelten Pflegemodelle [Roper et al. 1987]. Danach ist es Aufgabe der Pflege, den Patienten bei der Wiederherstellung oder dem Erhalt gro¨ßtmo¨glicher Unabha¨ngigkeit in der individuellen Lebensgestaltung zu unterstu¨tzen. Fu¨r die Gestaltung des Pflegeprozesses ist es daher von großer Wichtigkeit die Lebensweise, Erfahrungen und Erwartungen des Patienten zu kennen. Das Modell beru¨cksichtigt fu¨nf Komponenten: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Lebensaktivita¨ten Lebensspanne Abha¨ngigkeits-/Unabha¨ngigkeits-Kontinuum Faktoren, welche die Lebensaktivita¨ten beeinflussen Individualita¨t im Leben
Die Lebensaktivita¨ten stehen unter dem Einfluss ko¨rperlicher, psychologischer, soziokultureller, umgebungsabha¨ngiger und politisch-o¨konomischer Faktoren. Die Gesamtheit der Lebensaktivita¨ten wird als Raster fu¨r die Einscha¨tzung sowie zur Struktur fu¨r Planung, Durchfu¨hrung und Auswertung der Pflege verwendet. Die einzelnen 12 Lebensaktivita¨ten sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Fu¨r eine sichere Umgebung sorgen Kommunizieren Atmen Essen und Trinken Ausscheiden Sich Sauberhalten und Kleiden Ko¨rpertemperatur regulieren Sich bewegen Arbeiten und spielen Sich als Mann oder Frau fu¨hlen und verhalten Schlafen Sterben
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Jede einzelne Lebensaktivita¨t wird bei dem Patienten unter dem Aspekt der Abha¨ngigkeit/Unabha¨ngigkeit betrachtet. Der Grad der Abha¨ngigkeit steht in unmittelbarer Beziehung zur Lebensspanne (Alter) sowie den genannten Faktoren, die die Lebensaktivita¨t beeinflussen. ¢bergeordnetes Pflegeziel ist es, Abha¨ngigkeiten zu reduzieren und maximale Unabha¨ngigkeit des Patienten wieder herzustellen. Ist dies z. B. aufgrund chronischer Erkrankungen, Behinderungen oder in der Sterbephase nicht mehr mo¨glich, so gilt es, den Patienten zu unterstu¨tzen, die Individualita¨t im Leben unter den besonderen, unaba¨nderlichen Gegebenheiten, weiterhin zu erfahren und zu gestalten. Das Modell ist in der Praxis gut anwendbar und weit verbreitet. Oft werden jedoch lediglich die 12 Lebensaktivita¨ten als Strukturierungshilfe der Pflegeplanung herausgegriffen. Die dialektische Beziehung der fu¨nf Komponenten wird ha¨ufig nicht ausreichend gewu¨rdigt und in konkretes Pflegehandeln eingebunden.
2.4.3.2 Modell der Aktivita¨ten, Beziehungen und existenziellen Erfahrungen des Lebens – ABEDL Das Strukturmodell der fo¨rdernden Prozesspflege wurde von Monika Krohwinkel aus ihrem Modell der Aktivita¨ten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) weiterentwickelt. In Untersuchungen zur ha¨uslichen Pflegesituation in den Jahren 1995 bis 1999 konstatiert sie die herausragende Bedeutung der Beziehungen und Kontakte in Pflegesituationen. Diesem Aspekt hat sie in ihrem modifizierten Modell mehr Gewicht gegeben [Krohwinkel 2007]. Weiterhin orientiert sie sich aber deutlich an dem Modell des Lebens nach Roper, Logan und Tierney [Roper et al. 1987]. Das ABEDLStrukturierungsmodell entha¨lt folgende Kategorien mit aktuell angepassten Begriffen [Krohwinkel 2007]: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Kommunizieren ko¨nnen Sich bewegen ko¨nnen Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten ko¨nnen Sich pflegen ko¨nnen Sich kleiden ko¨nnen Ausscheiden ko¨nnen Essen und trinken ko¨nnen Ruhen, schlafen, entspannen ko¨nnen Sich bescha¨ftigen, lernen, sich entwickeln zu ko¨nnen Die eigene Sexualita¨t leben ko¨nnen Fu¨r eine sichere/fo¨rdernde Umgebung sorgen ko¨nnen Soziale Kontakte, Beziehungen und Bereiche des Lebens sichern und gestalten ko¨nnen 13. Mit existenziellen Erfahrungen des Lebens umgehen ko¨nnen Das urspru¨ngliche Modell ist im Rahmen des ersten pflegespezifischen Forschungsprojektes in Deutschland entstanden. Grundlage war die Pflege von Patienten mit Hemiparese [Krohwinkel 1992]. Das Modell der A(B)EDL ist heute in Deutschland vergleichsweise weit verbreitet. ¥hnlich wie bei dem Modell des Lebens werden aber auch hier gelegentlich Einzelelemente isoliert verwendet und das Gesamtprofil des Modells nicht hinreichend in die Praxis transferiert.
2.4 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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2.4.3.3 Modell der Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens – ATL Das Pflegekonzept der Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens (ATL) wurde von Liliane Juchli entwickelt [Juchli 1973]. Sie hat Assessments aus der Gerontologie in die Pflege u¨bertragen und aufbereitet. Basis ihrer ATL sind die „Acitvities of Daily Living – ADL“ [Katz et al. 1963] sowie die „Self-Maintaining and Instrumental Activities of Daily Living – IADL“ [Lawton / Brody 1969]. Beide Instrumente dienen der standardisierten Erfassung und Bewertung von Fa¨higkeiten in Bezug auf Alltagsaktivita¨ten. Juchlis Anliegen war prima¨r die inhaltliche und didaktische Aufbereitung theoretischer und praktischer Anforderungen in der Pflege zur Verbesserung der Ausbildung. Die Entwicklung einer Pflegetheorie war nie ihre Absicht. Sie bezieht sich explizit auf die Arbeiten von Virginia Henderson, Nancy Roper sowie auf die Bedu¨rfnistheorie des Psychologen Abraham H. Maslow. Pflege wird als Beziehungs- und Problemlo¨sungsprozess beschrieben. Pflegerische Aufgabe ist die Unterstu¨tzung des Patienten bei den Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens orientiert an seinen individuellen Bedu¨rfnissen und Wu¨nschen. Die Bezeichnungen der ATL wurden seit dem Jahr 1973 mehrmals sprachlich u¨berarbeitet. Die aktuelle Terminologie lautet [Kellnhauser et al. 2004]: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Wach sein und Schlafen Sich bewegen Sich waschen und kleiden Essen und Trinken Ausscheiden Ko¨rpertemperatur regulieren Atmen, Puls und Blutdruck Sich sicher fu¨hlen und verhalten Raum und Zeit gestalten – arbeiten und spielen Kommunizieren Kind, Frau, Mann sein Sinn finden im Werden-Sein-Vergehen
Die ATL dienen als Hilfe zur systematisierten Erfassung von pflegerischem Hilfebedarf und damit als Grundlage zur Pflegeplanung. Die enge Verknu¨pfung von theoretischen Kenntnissen und Pflegepraxis sowie die Verbreitung des von Juchli erarbeiteten Standardwerks als Lehrbuch fu¨r die Ausbildung in den Pflegeberufen fu¨hrten zu einem hohen Bekanntheitsgrad dieses Modells im deutschsprachigen Raum.
2.4.3.4 Theorie der Selbstpflege Dorothea E. Orem publizierte erstmals im Jahre 1971 ihre „Self-care deficit nursing theory“. In den deutschen ¢bersetzungen wird von „Selbstfu¨rsorgedefizit-Theorie“ oder auch von „Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit- Theorie“ gesprochen. Sie stu¨tzt sich auf handlungs- und systemtheoretische Hintergru¨nde [Dennis 2001]. Dementsprechend sei autonomes menschliches Handeln darauf gerichtet, den individuellen Selbstpflegebedarf zu erfu¨llen. Der Mensch strebt innerhalb seines Bezugssystems ein Gleichgewicht zwischen Selbstpflegebedu¨rfnissen und Selbstpflegefa¨higkeit an. Gesundheitliche Beeintra¨chtigungen ko¨nnen zu einer Erho¨hung der Selbstpflegebedu¨rfnisse oder / und zu einer Reduzierung der Selbstpflegefa¨higkeit fu¨hren.
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Zur Wiederherstellung des angestrebten Gleichgewichtes ist das Defizit in der Selbstpflegefa¨higkeit zu kompensieren und die Anpassung/Wiederherstellung der Selbstpflegefa¨higkeit des Patienten zu fo¨rdern. Dies geschieht durch Familienangeho¨rige, Freunde oder Pflegekra¨fte. Dabei richtet sich professionelles Pflegehandeln auf die Sicherstellung der therapeutisch notwendigen Pflege und in diesem Kontext gleichermaßen auf die Beratung und Unterstu¨tzung der Bezugspersonen des Patienten sowie die Koordination und Gestaltung des erforderlichen systemischen Bezugsrahmens. Orems Pflegetheorie wurde vergleichsweise gut akzeptiert und hat einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Die Theorie ist unspezifisch und damit vielseitig anwendbar. Terminologie und einzelne Elemente dieser Theorie sind auch in pflegerischen Handlungsfeldern in Deutschland vereinzelt implementiert worden. Die umfassende Anwendung dieser Theorie erfordert allerdings eine hohe Transferleistung von Pflegenden, da hier anders als bei den drei zuvor beschriebenen Modellen keine konkrete Strukturierungshilfe in Form eines Kriterienkataloges zur Erfassung des Hilfebedarfs sowie zur Ableitung pflegerischer Ziele und Maßnahmen vorgegeben wird.
2.4.4 Aktueller Stand der Theorieentwicklung in Deutschland Ru¨ckblickend auf die letzten fu¨nf Jahre stehen folgende Themen zunehmend im Fokus pflegewissenschaftlicher Diskussionen: ¢ Pflegediagnosen ¢ Klassifikation von Pflegepha¨nomenen und Pflegehandlungen (ICNP = Internationale Klassifikation fu¨r die Pflegepraxis) ¢ Organisationsentwicklung z. B. zur Ableitung des Bedarfs an Pflege- und Betreuungsleistungen, der Schaffung von Qualita¨tsindikatoren oder der Gestaltung von Arbeitsprozessen ¢ Entwicklung von Kennzahlen ¢ Anwendbarkeit von Methoden aus anderen Disziplinen (qualitative Sozialforschung Systemtheorie, Pha¨nomenologie) ¢ Pflegekonzepte zu verschiedenen klinischen Themen wie z. B. Thromboseprophylaxe, chronische Wunden und Demenz ¢ Curriculumentwicklung fu¨r Aus- und Weiterbildung ¢ Gestaltung von pflegewissenschaftlichen Studienga¨ngen Zu diesen Fragestellungen haben sich zahlreiche Projekte und Modellvorhaben auf unterschiedlichen Handlungsebenen etabliert. Parallel wurden in Einrichtungen der ambulanten und stationa¨ren Altenpflege insbesondere bedu¨rfnisorientierte Modelle, wenn auch mit unterschiedlicher Komplexita¨t in der konkreten Umsetzung, weitgehend implementiert. Die Pflege in Krankenha¨usern hat in dieser Hinsicht Nachholbedarf. Elemente der Prozessgestaltung, z. B. die Pflegeplanung, werden hier noch nicht regelhaft im Arbeitshandeln umgesetzt. Selbst die Einfu¨hrung der nationalen Expertenstandards des Deutschen Netzwerks fu¨r Qualita¨tsentwicklung in der Pflege (DNQP) ist in diesen Arbeitsfeldern noch weitgehend Zukunftsvision. Der wissenschaftliche Diskurs zu Pflegetheorien und -modellen mit hohem Abstraktionsgrad als Basis fu¨r praxisrelevante und evaluierbare Handlungskonzepte hat im gleichen Zeitraum, zumindest im deutschsprachigen Raum, einen Bedeutungsverlust zu verzeichnen. Schwerpunkte aktueller Anstrengungen sind zu Evidence-based Nur-
2.4 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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sing and Practice deutlich geworden. Hier geht es prima¨r um die Entwicklung und Einfu¨hrung von Leitlinien oder Standards mit konkretem praktischen Nutzen fu¨r die Pflegebedu¨rftigen sowie die damit verbundene Etablierung zielfu¨hrender Methoden. In diesem Zusammenhang stehen auch die nationalen Expertenstandards [DNQP 2007]. Der Weiterentwicklung und Implementierung von wissenschaftlich evaluierten Standards in die pflegerische Praxis ist mit der ju¨ngsten Novellierung des SGB XI im Juli 2008 (§ 113a) auch durch den Gesetzgeber ein hohes Maß an Verbindlichkeit zugeschrieben worden.
2.4.5 Pflegetheorien in der Begutachtungspraxis Im Kontext fortschreitender Theorieentwicklung hat ein grundsta¨ndiger Paradigmenwechsel in Pflegeversta¨ndnis und Selbstbild stattgefunden. Professionelle Pflege hat sich Aufgabenfelder, beispielsweise im Bereich der Gesundheitsfo¨rderung, Pra¨vention, Rehabilitation und Beratung erschlossen. Entgegen dieser Entwicklung wird in der Sozialgesetzgebung Pflege weiterhin als eine Art finale Dienstleistung definiert, die dann einsetzt, wenn Maßnahmen zur Pra¨vention, Krankenbehandlung und Rehabilitation den Eintritt der Pflegebedu¨rftigkeit nicht mehr verhindern ko¨nnen. Weiterhin wird gema¨ß § 14 Abs. 4 SGB XI zur Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit der Hilfebedarf lediglich bei definierten Verrichtungen in vier Bereichen des ta¨glichen Lebens, na¨mlich Ko¨rperpflege, Erna¨hrung, Mobilita¨t und hauswirtschaftlicher Versorgung, bewertet. Durch diese Verengung fließen grundlegende pflegetheoretische Erkenntnisse nicht in die Begutachtung ein. Der Verzicht, Lebenswirklichkeit und reale Bedu¨rfnislage des Pflegebedu¨rftigen umfassend widerzuspiegeln, ist gesundheitspolitisch und leistungsrechtlich begru¨ndet. So fokussieren dann auch folgerichtig die „Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ auf die Erhebung und Bewertung des Hilfebedarfes bei den oben genannten vier Bereichen. In der urspru¨nglichen Version des Gutachtenformulars war noch die Beschreibung der „Fa¨higkeiten in Bezug auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens“ in Anlehnung an Juchli vorgesehen. Der Auspra¨gungsgrad von Selbsta¨ndigkeit bei 11 Aktivita¨ten wurde unter Beru¨cksichtigung von im Gutachtenformular vorab beschriebener funktioneller Einschra¨nkungen als „pflegebegru¨ndende Befunde“ festgestellt. Abschließend war der individuelle Hilfebedarf in Zusammenhang mit den vom Gesetzgeber vorgegebenen Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 SGB XI vom Gutachter unter Beru¨cksichtigung des erforderlichen Zeitaufwandes zu bewerten. Als Ergebnis der Pru¨fung wurde das Vorliegen von Pflegebedu¨rftigkeit beurteilt und eine Zuordnung hinsichtlich der Pflegestufen vorgenommen. Aktuell wird bei der Begutachtung ein Formular eingesetzt, das im weitesten Sinne den Begriff der „Selbstpflege“, in Anlehnung an die Theorie von Dorothea E. Orem, verwendet. Die Erfassung und Beurteilung von Scha¨digungen, Beeintra¨chtigungen und ausdru¨cklich auch der Ressourcen wird durchga¨ngig in ihren Auswirkungen auf die relevanten Verrichtungen in Zusammenhang mit Bewegen, Waschen und Kleiden, Erna¨hren sowie Ausscheiden, bezogen. In einem folgenden Schritt wird der Zeitbedarf fu¨r konkrete Verrichtungen unter Beru¨cksichtigung der erforderlichen Hilfeform sowie mo¨glicher individueller Faktoren bewertet und die Pflegestufe entsprechend den gesetzlichen Kriterien empfohlen.
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2 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Zur Feststellung der Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI wendet der Gutachter ein strukturiertes Screening mit nachfolgendem Assessment an. Bei diesem Verfahren wird festgestellt, ob die Alltagskompetenz des Versicherten in erheblichem oder erho¨htem Maße eingeschra¨nkt ist. Auch wenn der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, hat der Versicherte bei positivem Ergebnis des Assessments Anspruch auf zusa¨tzliche Betreuung in Form von Sachleistungen. Zusammenfassend wird mit dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI im Kontext des Pflegeprozesses ein Beitrag zum pflegerischen Assessment geleistet. Ausgehend von den im Gutachten beschriebenen Pha¨nomenen kann eine individuelle Pflegeplanung vorgenommen werden. Die Festlegung von Pflegezielen und die Auswahl geeigneter Maßnahmen unter Beru¨cksichtigung der individuellen Auspra¨gung von Selbstpflegefa¨higkeit und Bedu¨rfnissen sind weitere Schritte im Pflegeprozesses, die aber im Gutachten nicht abgebildet werden ko¨nnen. Die gutachterliche Empfehlung an die Pflegekassen in Form des sogenannten „individuellen Pflegeplans“ unter Punkt 6 des Formulars ist kein Ersatz fu¨r eine differenzierte individuelle Pflegeplanung. Hier werden mo¨gliche Maßnahmen zur Reduzierung des Hilfebedarfs oder zur Verbesserung der Pflegesituation insgesamt genannt. Die prozessorientierte, individuelle Pflegeplanung aber soll alle Lebensbereiche des Menschen und die Biographie umfassend beru¨cksichtigen. Sie bezieht sich auf eine pflegetheoretische Basis und kann nur von Pflegefachkra¨ften geleistet werden. Voraussetzung ist jedoch neben der pflegefachlichen Kompetenz vor allem auch die Kontinuita¨t in der pflegerischen Beziehung. Nur damit ist das Erkennen von individuellen Bedu¨rfnissen und die Einscha¨tzung der Ressourcen des zu pflegenden Menschen mo¨glich. Bei der Erstellung eines Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI bleiben daher fu¨r die Gestaltung des Pflegeprozesses wichtige Detailinformationen sowie die Analyse vorliegender Probleme und Pha¨nomene zwangsla¨ufig unberu¨cksichtigt. Die Begutachtung hat keine individuelle Pflegeplanung zum Ziel, sondern beantwortet die Frage, ob und in welchem Umfang dem Versicherten Leistungen aus dem SGB XI oder ggf. auch SGB V zustehen und aus fachlicher Sicht empfohlen werden.
3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung Friedrich Schwegler und Heinz Paul Buszello
Zentrales Thema in der Sozialpolitik vieler Wohlfahrtsstaaten in Europa und ¢bersee war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Absicherung des Risikos der Pflegebedu¨rftigkeit. In vielen Staaten wurden hierfu¨r gesetzliche Regelungen getroffen, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur als „Soziale Bu¨rgerrechte“ definiert werden und die in der Regel Geldleistungen, die zur Verfu¨gung Stellung von professionellen ambulanten Diensten oder eine institutionalisierte Versorgung vorsahen. Die steuerfinanzierten oder wie in Deutschlang durch eine Sozialversicherung aufgebrachten Finanzmittel dienen dem Ausgleich von privaten Pflegerisiken und Ressourcenausstattungen. Die Geldmittel sollen die Lebenschancen angleichen bei dem Risiko Pflegebedu¨rftigkeit, das ha¨ufig die Leistungspotentiale der Einzelnen u¨bersteigt. Die Versorgung der Pflegebedu¨rftigen ha¨ngt damit weniger von privaten bzw. familia¨ren „Zufa¨lligkeiten“ ab [Dallinger / Theobald 2008]. Mit dem Vorhandensein einer Pflegeversicherung ist die Versorgung Pflegebedu¨rftiger nicht mehr allein der Familie zugewiesen, sondern ist Gegenstand o¨ffentlich-sozialpolitischer Regulation. In der sozialwissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema wird unterscheiden zwischen formeller Pflege durch ambulante und stationa¨re Dienstleistungen sowie informeller Pflege im Rahmen der Familie mit finanzieller Unterstu¨tzung durch Leistungen der Pflegeversicherung. In Deutschland werden die zur Verfu¨gung gestellten Finanzmittel u¨berwiegend als Geldleistungen fu¨r die informelle Pflege genutzt (siehe hierzu auch Kapitel 5.10). Die zur Verfu¨gung Stellung von Finanzmitteln der Pflegeversicherung fu¨r informelle Pflegesettings und damit die Sta¨rkung von familialen Pflegeformen [Leitner 2003] ist eine bewusste Entscheidung des deutschen Gesetzgebers bei Einfu¨hrung der Pflegeversicherung gewesen. Sie steht im Gegensatz zu skandinavischen Versorgungssystemen, die ganz u¨berwiegend durch Leistungen der formellen Pflege gepra¨gt sind und dadurch einen deutlich defamilialisierten Charakter erhalten. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass durch die Vergabe von Finanzmitteln fu¨r die informelle Pflege in Deutschland auch die Entwicklung eines „grauen Pflegemarktes“ mo¨glich war, auf dem Pflegekra¨fte aus dem mittel- und osteuropa¨ischen La¨ndern unter den Bedingungen von neuen Arbeitsformen eingesetzt werden [Kondratowitz 2005]. Interessant bei der Betrachtung der Leistungen der Pflegeversicherung ist auch deren volkswirtschaftliche Bedeutung in Deutschland. Hierzu wird die sogenannte Bruttowertscho¨pfungsquote der Pflegeleistungen berechnet [Haller 1997]. Die Wertscho¨pfungsquote der Pflege ist seit 1992 von 1,4 Prozent auf rund 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2004 angewachsen [Gu¨ntert / Thiele 2008]. Er lag damit nur knapp unter der Wertscho¨pfungsquote der Chemischen Industrie (2,25 Prozent des BIP), die allgemein als Konjunkturlokomotive der Volkswirtschaft angesehen wird.
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3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Die Leistungen der Pflegeversicherung sind erga¨nzende Leistungen fu¨r die Versorgung der Pflegebedu¨rftigen gestaffelt nach dem Ausmaß der Pflegebedu¨rftigkeit (pflegebedingte Aufwendungen). Die Aufwendungen fu¨r Unterkunft und Verpflegung tragen die Pflegebedu¨rftigen sowohl bei ha¨uslicher als auch bei teilstationa¨rer und vollstationa¨rer Pflege immer selbst. Im teilstationa¨ren und stationa¨ren Pflegesettings umfassen die Leistungen auch die soziale Betreuung des Pflegebedu¨rftigen und die Behandlungspflege. Das Ausmaß der Pflegebedu¨rftigkeit und damit die Ho¨he der Leistungen wird durch die Einstufung des Pflegebedu¨rftigen in eine Pflegestufe nach § 18 SGB XI durch Gutachter des MDK festgestellt (siehe Kapitel 2.3.2). Die Pflegestufe ist somit ein Faktor fu¨r die Ho¨he des Leistungsbetrages. Ein weiterer Faktor fu¨r die Ho¨he der Leistungen ist neben der Pflegestufe auch, ob die Pflege in ha¨uslicher Umgebung oder in einer stationa¨ren bzw. teilstationa¨ren Einrichtung erfolgt. Mit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung 1995 wurde der gesellschaftliche Beitrag, den erwachsene pflegende Angeho¨rige leisten, erstmalig zur Kenntnis genommen und honoriert [Metzing / Schnepp 2008]. Beim Ausgleich der durch die Pflege eines Pflegebedu¨rftigen entstehenden Aufwendungen im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung werden im SGB XI die beiden folgenden Leistungsarten unterschieden: Geldleistungen und Sachleistungen. Geldleistung bedeutet informelle Pflege im Rahmen der Familie, d. h. der Pflegebedu¨rftige erha¨lt den der festgestellten Pflegestufe entsprechenden Geldbetrag und organisiert und bezahlt damit seine Pflege selbst. Fu¨r pflegende Angeho¨rige werden Beitra¨ge zur Renten- und Unfallversicherung u¨bernommen. Zusa¨tzlich wurden Entlastungsangebote geschaffen fu¨r Erholungs- bzw. Urlaubszeiten. Sachleistung bedeutet formelle Pflege, d. h. die Versorgung erfolgt durch einen ambulanten Pflegedienst, mit dem die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat. Die vom Leistungserbringer geleistete Pflege wird bis zur Ho¨he der festgestellten Pflegestufe direkt mit der Pflegekasse abgerechnet. Neben den Leistungen fu¨r Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung ko¨nnen Personen mit mindestens erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz zusa¨tzliche Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen. Diese werden ausschließlich als Sachleistungen gewa¨hrt. Die Ho¨he der Leistungsbetra¨ge in den einzelnen Pflegestufen ist gesetzlich festgelegt. Die mit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung (ambulant 01. 04. 1995, stationa¨r 01. 07. 1996) festgelegten Betra¨ge waren bis zum 30. 06. 2008 gu¨ltig, in diesem Zeitraum erfolgte keine Anpassung der Betra¨ge. Dieser Sachverhalt fu¨hrte zu einer Unterfinanzierung der Pflegeleistungen [Ha¨cker 2007]. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) am 01. 07. 2008 wurden die Leistungsbetra¨ge erstmalig angehoben. Nach den gesetzlichen Vorgaben sollen 2010 und 2012 weitere Anhebungen erfolgen. Ab 2014 ist eine Dynamisierung der Leistungsbetra¨ge vorgesehen.
3.1 Leistungen fu¨r Pflegesettings bei ha¨uslicher Versorgung des Pflegebedu¨rftigen 3.1.1 Pflegesachleistungen (§ 36 SGB XI) Sind die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des SGB XI erfu¨llt, besteht bei ha¨uslicher Pflege Anspruch auf Sachleistung (ha¨usliche Pflegehilfe) zur Durchfu¨h-
3.1 Leistungen fu¨r Pflegesettings bei ha¨uslicher Versorgung des Pflegebedu¨rftigen
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Tabelle 3.1: Pflegesachleistungen bei ha¨uslicher Pflege nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07.2 008
420
980
1.470
1.918
ab 01. 01. 2010
440
1.040
1.510
1.918
ab 01. 01. 2012
450
1.100
1.550
1.918
rung grundpflegerischer und hauswirtschaftlicher Leistungen (siehe Tab. 3.1). Leistungserbringer sind ambulante Pflegeeinrichtungen. Bei Pflege in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in Einrichtungen der sozialen und beruflichen Rehabilitation sowie Krankenha¨usern ist ein Bezug von Pflegesachleistungen ausgeschlossen. In seltenen Fa¨llen ko¨nnen auch Einzelpersonen Leistungserbringer sein, mit denen die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat. Solche Vertra¨ge mit Einzelpersonen (§ 77 SGB XI) sind in der Praxis noch selten, sollen jedoch in Zukunft deutlich an Bedeutung zunehmen.
3.1.2 Pflegegeld fu¨r selbst beschaffte Pflegehilfen (§ 37 SGB XI) Anstelle der Pflegesachleistung ko¨nnen Pflegebedu¨rftige Pflegegeld beantragen, sofern der Pflegebedu¨rftige hierdurch die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen kann. Anspruchsvoraussetzungen der Pflegebedu¨rftigen fu¨r den Bezug von Pflegegeld ist also nicht allein eine ha¨usliche Versorgungssituation, sondern zusa¨tzlich eine dem erforderlichen Pflegeumfang gerecht werdende pflegerische Versorgungsqualita¨t. Der Pflegebedu¨rftige muss die ha¨usliche Versorgungsqualita¨t durch Abrufen einer Beratung nachweisen (§ 37 Abs. 3 SGB XI). Im Regelfall erfolgt sie durch einen Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes, der einen Versorgungsvertrag mit der Pflegekasse hat. Die Beratung muss bei Pflegestufe I und II halbja¨hrlich, bei Pflegestufe III viertelja¨hrlich erfolgen. Der Gutachter ist verpflichtet, bei Antra¨gen auf Geldleistungen, die ausreichende Sicherung der ha¨uslichen Pflegesituation zu beurteilen und gegebenenfalls auf Vera¨nderungen und Hilfen hinzuwirken. Der Anspruchsumfang staffelt sich entsprechend der festgestellten Pflegestufe (siehe Tab. 3.2). Im Gegensatz zu den Pflegesachleistungen wird die Zahlung des Pflegegeldes oder des anteiligen Pflegegeldes bei Bezug von Kombinationsleistungen (siehe folgender Abschnitt) in den ersten vier Wochen einer stationa¨ren Krankenhausbehandlung oder einer stationa¨ren medizinischen Rehabilitationsmaßnahme fortgefu¨hrt. Tabelle 3.2: Pflegegeldleistungen fu¨r selbst beschaffte Pflegehilfen nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008
215
420
675
¢
ab 01. 01. 2010
225
430
685
¢
ab 01. 01. 2012
235
440
700
¢
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3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
3.1.3 Kombination von Geldleistung und Sachleistung: Kombinationsleistung (§ 38 SGB XI) Wird der Gesamtwert der einem Pflegebedu¨rftigen zustehenden Pflegesachleistung (Pflegeeinsa¨tze) nur teilweise in Anspruch genommen, kann daneben ein anteiliges Pflegegeld bezogen werden. Der Entscheid des Pflegebedu¨rftigen u¨ber die Anteilsverha¨ltnisse ist sechs Monate bindend.
3.1.4 Ha¨usliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson (§ 39 SGB XI) Fu¨r la¨ngstens vier Wochen im Kalenderjahr gewa¨hrt die Pflegekasse bei Verhinderung der Pflegeperson einem Pflegebedu¨rftigen die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson den Pflegebedu¨rftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens sechs Monate in seiner ha¨uslichen Umgebung gepflegt hat. Erfolgt diese Ersatzpflege durch nahe Angeho¨rige (bis zum 2. Grad verwandt oder verschwa¨gert), entsprechen die Leistungen dem Betrag des Pflegegeldes der festgestellten Pflegestufe (siehe Tab. 3.3). Entstehen fu¨r diesen Personenkreis zusa¨tzliche Kosten, die den Betrag des Pflegegeldes u¨bersteigen (z. B. durch Anreise von einem anderen Wohnort oder durch ¢bernachtungskosten in einem Hotel), ko¨nnen diese Kosten bis zu einem Ho¨chstbetrag von 1.470 Euro erstattet werden. Wird die Ersatzpflege durch andere Personen durchgefu¨hrt, ko¨nnen Kosten, die der Pflegeperson nachweislich entstehen, bis zu einem Ho¨chstbetrag von 1.470 Euro von der Pflegekasse u¨bernommen werden (siehe Tab. 3.4). Tabelle 3.3: Verhinderungs-Pflege durch nahe Angeho¨rige (bis zum 2. Grad verwandt oder verschwa¨gert): Geldleistungsbetra¨ge nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008 pro Jahr
215
420
675
¢
ab 01. 01. 2010 pro Jahr
225
430
685
¢
ab 01. 01. 2012 pro Jahr
235
440
700
¢
Tabelle 3.4: Pflege durch andere Personen: Geldleistungsbetra¨ge nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008 pro Jahr
bis 1.470
bis 1.470
bis 1.470
¢
ab 01. 01. 2010 pro Jahr
bis 1.510
bis 1.510
bis 1.510
¢
ab 01. 01. 2012 pro Jahr
bis 1.550
bis 1.550
bis 1.550
¢
3.1 Leistungen fu¨r Pflegesettings bei ha¨uslicher Versorgung des Pflegebedu¨rftigen
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3.1.5 Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (§ 40 SGB XI) und Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 33 SGB V) Pflegebedu¨rftige haben Anspruch auf eine Versorgung mit Pflegehilfsmitteln. Sie dienen der Erleichterung der Pflege, der Linderung von Beschwerden des Pflegebedu¨rftigen oder der Ermo¨glichung einer selbsta¨ndigeren Lebensfu¨hrung. Pflegehilfsmittel sind im Hilfsmittelverzeichnis unter den Produktgruppen 50 bis 54 gelistet. Es werden fu¨r den Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel und technische Pflegehilfsmittel unterschieden. Aufwendungen fu¨r zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel (z. B. Inkontinenzartikel) du¨rfen 31 Euro pro Monat nicht u¨berschreiten. Technische Pflegehilfsmittel sollen vorrangig leihweise u¨berlassen werden, ansonsten werden 90 Prozent der Kosten u¨bernommen, der Rest muss als Eigenbeteiligung vom Pflegebedu¨rftigen u¨bernommen werden (jedoch ho¨chstens 25 Euro). Eine Eigenbeteiligung ist bei Pflegebedu¨rftigen unter 18 Jahren nicht erforderlich. Pflegebedu¨rftige haben Anspruch auf eine Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 33 SGB V). Sie dienen dem Erfolg der Krankenbehandlung, der Vorbeugung einer drohenden Behinderung oder dem Ausgleich einer Behinderung. Hilfsmittel sind im Hilfsmittelverzeichnis unter den Produktgruppen 01 bis 33 gelistet. Hilfsmittel haben ha¨ufig auch den Effekt einer Erleichterung der Pflege. Die Versorgung mit Hilfsmitteln zu Lasten der Krankenversicherung hat jedoch immer Vorrang vor der Versorgung mit Pflegehilfsmitteln zu Lasten der Pflegeversicherung. Wenn allerdings ein Hilfsmittel der Produktgruppen 04, 10, 11, 15, 18, 19, 20, 22 oder 33 ausschließlich oder ganz u¨berwiegend der Erleichterung der Pflege dient, kann es zu Lasten der Pflegeversicherung verordnet werden. Die Pflegekasse kann Maßnahmen zur Verbesserung des ha¨uslichen Wohnumfeldes des Pflegebedu¨rftigen unterstu¨tzend finanzieren, wenn hierdurch die ha¨usliche Pflege ermo¨glicht, erheblich erleichtert oder eine mo¨glichst selbsta¨ndige Lebensfu¨hrung des Pflegebedu¨rftigen wieder hergestellt wird. Dabei sind alle Maßnahmen, die zum Zeitpunkt der Zuschussgewa¨hrung (und damit auf der Grundlage des zu diesem Zeitpunkt bestehenden Hilfebedarfs) zur Wohnumfeldverbesserung erforderlich sind, als eine Verbesserungsmaßnahme anzusehen. Zur Berechnung des Zuschussbetrages, der 2.557 Euro je Maßnahme nicht u¨bersteigen darf, werden die Kosten der Maßnahme sowie ein angemessener Eigenanteil in Abha¨ngigkeit vom Einkommen des Pflegebedu¨rftigen herangezogen. Einen ¢berblick u¨ber den mo¨glichen Umfang von Wohnumfeld verbessernden Maßnahmen gibt das gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen und des GKV-Spitzenverbandes zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 17. 07. 2008 zu § 40 Abs. 4 SGB XI.
3.1.6 Leistungen fu¨r Pflegebedu¨rftige bei teilstationa¨rer Pflege: Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI) Eine Versorgung in einer teilstationa¨ren Pflegeeinrichtung ist angezeigt, wenn Pflegebedu¨rftige tagsu¨ber oder auch nachts der Pflege bedu¨rfen und sie im ha¨uslichen Umfeld tageweise nicht sichergestellt werden kann oder eine tageweise Entlastung der Pflegeperson erforderlich ist. Neben den pflegebedingten Aufwendungen, den Aufwendungen der sozialen Betreuung und den Aufwendungen fu¨r die in der Einrichtung
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3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Tabelle 3.5: Geldleistungsbetra¨ge bei teilstationa¨rer Pflege (Tages- und Nachtpflege) nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008
420
980
1.470
¢
ab 01. 01. 2010
440
1.040
1.510
¢
ab 01. 01. 2012
450
1.100
1.550
¢
notwendigen Leistungen der medizinischen Behandlungspflege ist auch die notwendige ta¨gliche Befo¨rderung der Pflegebedu¨rftigen von der Wohnung zur Einrichtung und zuru¨ck mit den Leistungen zur teilstationa¨ren Pflege abgegolten. Die teilstationa¨re Pflege ist – im Gegensatz zur Verhinderungspflege oder Kurzzeitpflege – nicht befristet. Der Anspruchsumfang staffelt sich entsprechend der festgestellten Pflegestufe (siehe Tab. 3.5). Bei voller Ausscho¨pfung der Leistungen der Tages- und Nachtpflege ko¨nnen nach den Vorgaben des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes zusa¨tzlich 50 Prozent an ambulanter Pflegsachleistung oder Kombileistung in Anspruch genommen werden. Neben der vollen in Anspruchnahme von Pflegegeld ko¨nnen 50 Prozent der Leistungen an Tages- und Nachtpflege in Anspruch genommen werden.
3.1.7 Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI) Kann die ha¨usliche Pflege fu¨r einige Wochen nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht fu¨r Pflegebedu¨rftige ein bis auf vier Wochen pro Kalenderjahr befristeter Anspruch auf vollstationa¨re Pflege. Dies gilt fu¨r eine ¢bergangszeit im Anschluss an eine stationa¨re Behandlung des Pflegebedu¨rftigen oder aber in sonstigen Krisensituationen, wie z. B. bei Erkrankung der ha¨uslichen Pflegeperson. Kurzzeitpflege ist im Gegensatz zur Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI) auch ohne vorherige sechsmonatige ha¨usliche Pflege mo¨glich. Der Anspruchsumfang betra¨gt maximal 1.470 Euro pro Jahr und beinhaltet neben den pflegebedingten auch die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die in der Einrichtung notwendigen Leistungen der medizinischen Behandlungspflege (siehe Tab. 3.6). Tabelle 3.6: Geldleistungsbetra¨ge bei Kurzeitpflege nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008 pro Jahr
bis 1.470
bis 1.470
bis 1.470
¢
ab 01. 01. 2010 pro Jahr
bis 1.510
bis 1.510
bis 1.510
¢
ab 01. 01. 2012 pro Jahr
bis 1.550
bis 1.550
bis 1.550
¢
3.2 Leistungen fu¨r Pflegepersonen
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3.1.8 Leistungen fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in ambulanter und teilstationa¨rer Pflege (§ 45b SGB XI) Nach dem Inkrafttreten des Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetzes (PflEG) am 01. 04. 2002 erhielten seit diesem Zeitpunkt Pflegebedu¨rftige der Stufen I bis III in ambulanter und teilstationa¨rer Pflege zusa¨tzliche Betreuungsleistungen in Ho¨he von bis zu 460 Euro pro Jahr, wenn zusa¨tzlich zum Hilfebedarf in der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung aufgrund einer demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rung, einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung gutachterlich festgestellt ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gema¨ß den Kriterien nach § 45a SGB XI gegeben war. Dieser Betreuungsbetrag fu¨r Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (PEA) ist zweckgebunden fu¨r qualita¨tsgesicherte Betreuungsleistungen einzusetzen und dient der Erstattung von Aufwendungen im Zusammenhang mit Inanspruchnahme von Leistungen 1. der Tages- und Nachtpflege, 2. der Kurzzeitpflege, 3. der zugelassenen Pflegedienste hinsichtlich besonderer Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung oder 4. der nach Landesrecht anerkannten niedrig schwelligen Betreuungsangebote, die nach § 45c SGB XI gefo¨rdert oder fo¨rderungsfa¨hig sind. Mit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 01. 07. 2008 wurden die Leistungen fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in ambulanter und teilstationa¨rer Pflege deutlich angehoben und sind nicht mehr vom Vorliegen einer Pflegestufe abha¨ngig. Fu¨r Versicherte mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (§ 45a SGB XI) sind seit dem 01. 07. 2008 zusa¨tzliche Betreuungsleistungen bis zu einem Grundbetrag von 100 Euro pro Monat vorgesehen. Bei ho¨hergradiger Auspra¨gung des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs (siehe Kapitel 5.7) sind Leistungen bis zu einem erho¨hten Betrag von 200 Euro pro Monat vorgesehen.
3.2 Leistungen fu¨r Pflegepersonen 3.2.1 Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegeperson (§ 44 SGB XI) Bei ha¨uslicher Pflege eines Pflegebedu¨rftigen durch eine selbst beschaffte Pflegeperson werden fu¨r sie von den Pflegekassen Leistungen gewa¨hrt. Die Pflegekasse des Pflegebedu¨rftigen entrichtet Beitra¨ge an den fu¨r die Pflegeperson zusta¨ndigen Tra¨ger der gesetzlichen Rentenversicherung, sofern gema¨ß § 44 SGB XI die Pflegeperson regelma¨ßig nicht mehr als 30 Stunden pro Woche erwerbsta¨tig ist und die Pflegeperson einen Pflegebedu¨rftigen wenigstens 14 Stunden lang wo¨chentlich in dessen ha¨uslicher Umgebung pflegt. Die Ho¨he der Beitra¨ge ist in § 166 SGB VI na¨her geregelt (siehe Tab. 3.7). Fu¨r die Beitragsbemessung ist der wo¨chentliche zeitliche Pflegeaufwand der Pflegeperson(en) in Stufen von mindestens 14, 21 und 28 Pflegestunden pro Woche gegliedert. Die Pflegeperson, fu¨r die nach diesen Maßgaben Beitra¨ge entrichtet werden, ist wa¨hrend ihrer pflegerischen Ta¨tigkeit gesetzlich unfallversichert.
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3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Tabelle 3.7: Ho¨he der Rentenversicherungsbeitra¨ge fu¨r Pflegepersonen in Euro. alte Bundesla¨nder
neue Bundesla¨nder
Pflegestufe wo¨chentlicher Zeitaufwand
Ausgangswert in Prozent der Bezugsgro¨ße
I
mindestens 14 Stunden
26,7
662,67
131,87
560,00
111,44
II
mindestens 14 Stunden mindestens 21 Stunden
35,6
883,55
175,83
746,67
148,59
53,3
1.325,33
263,74
1.120,00
222,88
mindestens 14 Stunden mindestens 21 Stunden mindestens 28 Stunden
40
994,00
197,81
840,00
167,16
60
1.491,00
296,71
1.260,00
250,74
80
1.988,00
395,61
1.680,00
334,32
III
Bemessungsgrundlage 2008
Beitra¨ge 2008
Bemessungsgrundlage 2008
Beitra¨ge 2008
3.2.2 Leistungen fu¨r Pflegepersonen wa¨hrend der Pflegezeit (§ 44a SGB XI) Bei Bescha¨ftigten, die nach § 3 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) vollsta¨ndig von der Arbeitsleistung freigestellt werden, wird die Zahlung von Zuschu¨ssen zur Kranken- und Pflegeversicherung geleistet.
3.2.3 Pflegekurse fu¨r Angeho¨rige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§ 45 SGB XI) Zur Fo¨rderung und Sta¨rkung des sozialen Engagements, zur Verbesserung und Erleichterung der Pflege und Betreuung zur Verminderung der aus der Pflegeta¨tigkeit resultierenden ko¨rperlichen und seelischen Belastungen und zur Vermittlung eigensta¨ndiger pflegerischer Fertigkeiten bieten die Pflegekassen Schulungskurse fu¨r Angeho¨rige und ehrenamtliche Pflegepersonen an.
3.3 Leistungen fu¨r Pflegesettings bei stationa¨rer Versorgung des Pflegebedu¨rftigen 3.3.1 Vollstationa¨re Pflege (§ 43 SGB XI) Pflegebedu¨rftige haben Anspruch auf Pflege in vollstationa¨ren Einrichtungen, wenn ha¨usliche oder teilstationa¨re Pflege nicht mo¨glich ist oder wegen der Besonderheit des einzelnen Falles nicht in Betracht kommt. Die Pflegekasse u¨bernimmt die pflegebedingten Aufwendungen, die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die Aufwendungen fu¨r Leistungen der medizinischen Behandlungspflege (siehe Tab. 3.8).
3.4 Beratung der Pflegebedu¨rftigen
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Tabelle 3.8: Geldleistungsbetra¨ge bei vollstationa¨rer Pflege nach Pflegestufe in Euro. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Ha¨rtefall
ab 01. 07. 2008
1.023
1.279
1.470
1.750
ab 01. 01. 2010
1.023
1.279
1.510
1.825
ab 01. 01. 2012
1.023
1.279
1.550
1.918
3.3.2 Leistungen in vollstationa¨ren Einrichtungen der Hilfe fu¨r behinderte Menschen (§ 43a SGB XI) Diese Einrichtungen dienen der beruflichen und sozialen Eingliederung, der schulischen Ausbildung und der Erziehung behinderter Personen. Die Pflegekasse u¨bernimmt fu¨r Pflegebedu¨rftige in diesen Einrichtungen die pflegebedingten Aufwendungen bis in Ho¨he von 10 Prozent des vereinbarten Heimentgeltes, ho¨chstens jedoch monatlich 256 Euro.
3.3.3 Leistungen fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in stationa¨rer Pflege (§ 87b SGB XI) Mit dem Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am 01. 07. 2008 werden auch Leistungen fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in stationa¨rer Pflege gewa¨hrt. Die Voraussetzungen fu¨r die Gewa¨hrung sind auch im stationa¨ren Bereich die in § 45a SGB XI aufgefu¨hrten Kriterien. Die Ho¨he der Vergu¨tungszuschla¨ge, die die Pflegeeinrichtungen fu¨r Betreuungsleistungen von Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz erhalten, wird bei den Vergu¨tungsverhandlungen zwischen den Leistungserbringern und den Kostentra¨gern vereinbart.
3.4 Beratung der Pflegebedu¨rftigen Neben den in Punkt 3.1 bis 3.3 dargestellten finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung fu¨r die Pflegebedu¨rftigen und die Pflegepersonen bestehen seit dem Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am 01. 07. 2008 auch weitreichende Beratungs- und Koordinierungspflichten durch Mitarbeiter der Pflegekassen.
3.4.1 Pflegeberatung (§ 7a SGB XI) Pflegebedu¨rftige, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, haben Anspruch auf Beratung durch einen Pflegeberater. Die Beratung umfasst vor allem folgende Punkte: 1. Systematische Erfassung und Analyse des Hilfebedarfs unter Beru¨cksichtigung der Feststellungen im Pflegegutachten des MDK 2. Erstellung eines individuellen Versorgungsplans mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und sonstigen Hilfen 3. Hinzuwirken auf die Durchfu¨hrung der im Versorgungsplan festgelegten Maßnahmen 4. ¢berwachung der Durchfu¨hrung des Versorgungsplanes 5. Auswertung von komplexen Fallgestaltungen des Hilfeprozesses
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3 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Die Pflegeberater sind Mitarbeiter der Pflegekassen. Ihre Qualifizierung wird entsprechend den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes im zweiten Halbjahr 2007 und 2008 durchgefu¨hrt. Der Anspruch auf Pflegeberatung fu¨r die Versicherten besteht nach den gesetzlichen Vorgaben ab dem 01. 01. 2009.
3.4.2 Pflegestu¨tzpunkte (§ 92c SGB XI) Zur wohnortnahen Beratung, Versorgung und Betreuung der Versicherten richten die Pflegekassen und Krankenkassen Pflegestu¨tzpunkte ein, sofern die zusta¨ndige obersten Landesbeho¨rde dies bestimmt. Aufgaben der Pflegestu¨tzpunkte sind: 1. Umfassende und unabha¨ngige Auskunft und Beratung zu den Rechten und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch und zur Auswahl und Inanspruchnahme der vorgesehenen Sozialleistungen und sonstigen Hilfen 2. Koordinierung der Hilfs- und Unterstu¨tzungsangebote 3. Vernetzung aufeinander abgestimmter pflegerischer und sozialer Versorgungs- und Betreuungsangebote Im Regierungsentwurf zum Pflegeweiterentwicklungsgesetz war die Einrichtung von Pflegestu¨tzpunkten pro 20.000 Versicherten vorgesehen. Die Regierungsparteien konnten sich nicht auf die Umsetzung dieses Vorschlags einigen. Nach dem Kompromiss der Regierungsparteien „sofern die oberste Landesbeho¨rde dies bestimmt“ ist vorgesehen, dass entsprechend den La¨ndervorgaben und abgestimmt auf die Situation in den einzelnen Bundesla¨ndern Pflegestu¨tzpunkte von den Pflegekassen errichtet werden. An den Pflegestu¨tzpunkten ko¨nnen kommunale Tra¨ger, Pflegeeinrichtungen, Tra¨gerverba¨nde und private Anbieterverba¨nde beteiligt werden. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches waren die Verhandlungen in den einzelnen Bundesla¨ndern noch nicht abgeschlossen, so dass noch keine Darstellung der Ta¨tigkeit der Pflegestu¨tzpunkte erfolgen kann.
4 Besonderheiten der privaten PflegePflichtversicherung Ulrike Diedrich
4.1 Gesetzliche Grundlagen Mit der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die gesamte Bevo¨lkerung gegen das finanzielle Risiko bei Pflegebedu¨rftigkeit abzusichern. Diese Absicherung erfolgte nicht ausschließlich in o¨ffentlich rechtlicher Form sondern – neben der Errichtung eines weiteren eigensta¨ndigen Zweiges der Sozialversicherung – durch die Schaffung einer privaten Pflege-Pflichtversicherung. Personen, die eine private Krankenversicherung abgeschlossen haben, die mindestens den Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen umfasst, oder die ab 01. 01. 2009 zur Erfu¨llung der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) einer privaten Krankenversicherung beigetreten sind, mu¨ssen sich bei demselben oder einem anderen privaten Krankenversicherungsunternehmen gegen das finanzielle Risiko bei Pflegebedu¨rftigkeit absichern (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 und § 23 Abs. 1 SGB XI). Daru¨ber hinaus wurden dem System der privaten PflegePflichtversicherung Personen zugewiesen, die ihren Krankenversicherungsschutz nicht zwangsla¨ufig aus einer privaten Krankenversicherung herleiten. Dazu geho¨rt, wer nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsa¨tzen Anspruch auf Beihilfe oder durch ein Dienstverha¨ltnis z. B. als Berufssoldat(in) oder Polizeibeamte(r) Anspruch auf freie Heilfu¨rsorge hat, sofern nicht eine Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung besteht. Ebenso wurden die Mitglieder der Postbeamtenkrankenkasse und der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten zum Abschluss einer Pflegeversicherung verpflichtet. Fu¨r die ¢bernahme des Pflegerisikos dieser ehemals bundeseigenen Sozialeinrichtungen wurde eigens eine „Gemeinschaft privater Versicherungsunternehmen“ gegru¨ndet. Die Pflicht zum Abschluss einer Versicherung kannte man bis dahin nur aus dem Bereich der Sachversicherung, z. B. als Haftpflichtversicherung fu¨r Halter eines Kraftfahrzeuges. Fu¨r die privaten Krankenversicherungsunternehmen war sie deshalb auch mit einer besonderen kalkulatorischen Herausforderung verbunden. Fu¨r ausnahmslos alle privat krankenversicherten Personen mussten bei der Einfu¨hrung der privaten Pflege-Pflichtversicherung einheitliche Versicherungsleistungen zur Verfu¨gung stehen, unabha¨ngig von Alter, Geschlecht oder Krankheitszustand, auch fu¨r diejenigen, die bereits pflegebedu¨rftig waren, ohne bislang Beitragzahlungen entrichtet zu haben. Dieser Kontrahierungszwang ergibt sich aus § 110 SGB XI, wonach es den Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung untersagt ist, Vorerkrankungen auszuschließen, la¨ngere Wartezeiten als in der sozialen Pflegeversicherung zu verlangen, Pra¨mien nach Geschlecht zu staffeln und den Ho¨chstbeitrag der sozialen Pflegeversicherung zu u¨berschreiten.
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4 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
In der sozialen Pflegeversicherung werden einkommensabha¨ngige Beitra¨ge erhoben, die unmittelbar im Umlageverfahren fu¨r die Finanzierung der laufenden Leistungsausgaben verwendet werden. Bei der privaten Pflege-Pflichtversicherung handelt es sich dagegen um ein Kapital- oder auch Anwartschaftsdeckungsverfahren. Maßgeblich dafu¨r ist das Eintrittsalter in die Versicherung. Weitere Risikofaktoren durften bei Einfu¨hrung der Pflegeversicherung nicht beru¨cksichtigt werden. Um den bei Eintritt festgelegten Beitrag lebenslang konstant halten zu ko¨nnen, sehen die Kalkulationsvorschriften der privaten Pflege-Pflichtversicherung neben dem altersabha¨ngigen Risikobeitrag einen zusa¨tzlichen Sparbeitrag vor. Dieser wird verzinslich angelegt und dient dazu, den Beitrag trotz des sich wa¨hrend der Laufzeit der Versicherung statistisch sta¨ndig verschlechternden Risikos konstant zu halten. Anders als in der sozialen Pflegeversicherung bilden die Versicherten der privaten Pflege-Pflichtversicherung durch diese Zusatzbeitra¨ge eine Alterungsru¨ckstellung fu¨r spa¨ter eintretende Pflegekosten. Die Beitra¨ge enthalten daru¨ber hinaus noch einen Umlageanteil, aus dem die Pflegekosten der bereits Pflegebedu¨rftigen und pflegenahen Jahrga¨nge sowie die Beitragsbegrenzungen und die Beitragsfreiheit der Kinder finanziert werden. Der in § 111 SGB XI vorgeschriebene branchenu¨bergreifende Risikoausgleich ist der unterschiedlichen Alters- und Risikostruktur privat versicherter Personen geschuldet und versetzt auch die Unternehmen mit einem vergleichsweise „alten“ Versichertenbestand in die Lage, ihren vertraglichen Verpflichtungen auf Dauer nachzukommen. Zur Abwicklung dieses Ausgleichs wurde unter der Gescha¨ftsfu¨hrung des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V. eine Gesellschaft bu¨rgerlichen Rechts („Pflege-Pool“) errichtet, der jedes Versicherungsunternehmen beizutreten hat, das die private Pflege-Pflichtversicherung betreiben will. Einzelheiten des Ausgleichsverfahrens sind im Gesellschaftervertrag geregelt und unterliegen der Zustimmung der Bundesanstalt fu¨r Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) [Besche 2009].
4.2 Systemunterschiede Durch die gesetzlich vorgegebenen sozialen Elemente wie Kontrahierungszwang und Risikoausgleich sind die Bedingungen der privaten Pflege-Pflichtversicherung denen einer Sozialversicherung in erheblichem Umfang angena¨hert worden. Anders als in der sozialen Pflegeversicherung bedarf es in der privaten Pflege-Pflichtversicherung aber des Abschlusses eines Versicherungsvertrages. Dieser muss Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gleichwertig sind (vgl. §§ 22 Abs. 1 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB XI, Art. 42 Abs. 1 Satz 3 und 3 PflegeVG). Wenngleich der Vertragsabschluss gesetzlich vorgeschrieben ist, erfolgt er dennoch nach allgemein zivilrechtlichen Grundsa¨tzen. Die Bestimmungen fu¨r die Leistungsgewa¨hrung der privaten Pflege-Pflichtversicherung sind demzufolge im Versicherungsschein und den dazugeho¨rigen Versicherungsund Tarifbedingungen niedergelegt. Sie finden sich in den vom Verband der privaten Krankenversicherung e. V. vorgegeben „Musterbedingungen fu¨r die private PflegePflichtversicherung“ (MB/PPV) und dem Tarif PV und werden von allen Versicherern einheitlich verwendet. Der Tarif PV hat zwei Tarifstufen. Die Tarifstufe PVN umfasst den Leistungsanspruch fu¨r Personen ohne, die Tarifstufe PVB den Leistungsanspruch fu¨r Personen mit Beihilfeanspruch.
4.3 Versicherungsleistungen
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4.3 Versicherungsleistungen 4.3.1 Vertragliche Grundlagen Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes regelt § 1 der Versicherungsbedingungen (MB/PPV). Danach leistet der Versicherer „im Versicherungsfall in vertraglichem Umfang Ersatz von Aufwendungen fu¨r Pflege oder ein Pflegegeld sowie sonstige Leistungen“ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 MB/PPV). „Versicherungsfall ist die Pflegebedu¨rftigkeit der versicherten Person“ (§ 1 Abs. 2 Satz 1). Tabelle 4.1: Vertragliche Grundlagen der Leistungsvoraussetzungen sowie des Leistungsumfanges fu¨r Versicherte der privaten Pflege-Pflichtversicherung und entsprechende gesetzlichen Regelung fu¨r die soziale Pflegeversicherung im SGB XI.
A
MB/PPV 2009 und Tarif PV
SGB XI
§ 1 Abs. 2–5 § 1 Abs. 6–8
§ 14 § 15
Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit Stufen der Pflegebedu¨rftigkeit
§ 4 Abs.1 (Tarif PV Nr. 1) § 4 Abs. 2 und 4 (Tarif PV Nr. 2.1 und 2.2) § 4 Abs. 6 (Tarif PV Nr. 1 und 2) § 4 Abs. 7 (Tarif PV Nr. 4)
§ 36
Pflegesachleistungen
§ 37 Abs. 1 Abs. 3 § 38
Pflegegeld fu¨r selbst beschaffte Pflegehilfen Beratungseinsatz Kombination von Geldleistung und Sachleistungen (Kombinationsleistung) Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen
§ 40
B
§ 4 Abs. 8 und 9 (Tarif PV Nr. 1 und 5)
§ 41
Tagespflege und Nachtpflege
C
§ 4 Abs. 10 (Tarif PV Nr. 6)
§ 42
Kurzzeitpflege
D
§ 4 Abs.11 und 12 (Tarif PV Nr. 7.1 bis 7.3)
§ 43
Vollstationa¨re Pflege
§ 87a § 43a
Berechnung und Zahlung des Heimentgeltes Pflege in vollstationa¨ren Einrichtungen der Hilfe fu¨r behinderte Menschen
E
§ 4 Abs. 13 (Tarif PV Nr. 8)
§ 44
Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegeperson
F
§ 4 Abs. 14 (Tarif PV Nr. 9)
§ 44a
zusa¨tzliche Leistungen bei Pflegezeit
G
§ 4 Abs. 15 (Tarif PV Nr. 10)
§ 45
Pflegekurse fu¨r Angeho¨rige und ehrenamtliche Pflegepersonen
H
§ 4 Abs. 16 und 17 (Tarif PV Nr. 11.1 und 11.2)
§ 45a–b § 87b
Leistungen fu¨r Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsaufwand Vergu¨tungszuschla¨ge fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsaufwand in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen
§ 4 Abs. 18
§ 7a
Pflegeberatung
I
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4 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
In § 1 Abs. 2–5 MB/PPV werden die Kriterien von „Pflegebedu¨rftigkeit“ als „Versicherungsfall“ und die Abgrenzung der Pflegestufen analog zum Gesetzestext definiert. Weitere Anspruchsvoraussetzungen (Beginn des Versicherungsschutzes und Wartezeit) regeln die §§ 2 und 3 MB/PPV. Alle in § 28 Abs. 1 SGB XI aufgefu¨hrten Leistungsarten sowie der zusa¨tzlich in § 28 Abs. 1a genannte Anspruch auf Pflegeberatung finden sich wieder unter § 4 Abs. 1–18 MB/PPV. Die Gegenu¨berstellung in Tabelle 4.1 setzt die vertraglichen Grundlagen der Leistungsvoraussetzungen und des Leistungsumfanges fu¨r Versicherte der PPV in Beziehung zu der jeweiligen gesetzlichen Regelung im SGB XI.
4.3.2 Leistungsrechtliche Besonderheiten An Stelle des Sachleistungsprinzips in der sozialen Pflegeversicherung tritt in der privaten Pflege-Pflichtversicherung bei Inanspruchnahme eines nach § 72 SGB XI anerkannten Pflegedienstes oder bei vollstationa¨rer Pflege in einer anerkannten Einrichtung die Kostenerstattung gegen Vorlage entsprechender Rechnungen. Die Kostenerstattung fu¨r ha¨usliche Pflege erstreckt sich auch auf anerkannte Einzelpflegekra¨fte gema¨ß § 77 Abs. 1 SGB XI. Letztere ko¨nnen auch von Tra¨gern der privaten Pflege-Pflichtversicherung zugelassen werden. An das Pflegehilfsmittelverzeichnis der sozialen Pflegeversicherung sind die Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung nicht gebunden. Das Pflegehilfsmittelverzeichnis der privaten Pflege-Pflichtversicherung beruht auf einer Vereinbarung der beteiligten Versicherungsunternehmen. Vor dem Hintergrund einer uneinheitlichen Vertragsgestaltung im Leistungsbereich der privaten Krankenversicherung dient es dem Ziel, die ha¨usliche Versorgung pflegebedu¨rftiger Versicherter durch die Bereitstellung von Hilfsmitteln sicherzustellen, sofern sie die Pflege erleichtern, zur Linderung von Beschwerden des Pflegebedu¨rftigen beitragen oder ihm eine selbsta¨ndigere Lebensfu¨hrung ermo¨glichen. Die Pflegeberatung gema¨ß § 7a SGB XI soll in der privaten Pflege-Pflichtversicherung regelma¨ßig dort erfolgen, wo die Pflege durchgefu¨hrt wird. Zur Sicherstellung des Anspruchs auf Pflegeberatung gru¨ndete der Verband der privaten Krankenversicherung e. V. eigens ein Beratungsunternehmen, die COMPASS Private Pflegeberatung GmbH, auf dessen Angebote die Versicherten bereits bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Versicherer hingewiesen werden sollen. Die Inanspruchnahme ist fu¨r die Versicherten kostenlos. Versicherten, die Pflegestu¨tzpunkte im Sinne von § 92c SGB XI in Anspruch nehmen, ko¨nnen die durch den PKV-Verband mit den Tra¨gern der Pflegestu¨tzpunkte vereinbarten Vergu¨tungssa¨tze erstattet werden. Kosten anderer Anbieter sind dagegen nicht erstattungsfa¨hig. Ein weiterer in § 28 SGB XI definierter Leistungsanspruch betrifft das tra¨geru¨bergreifende Perso¨nliche Budget im Sinne von § 35a SGB XI. Es wurde vor dem Hintergrund der Leistungsanspru¨che behinderter Menschen gegenu¨ber mehreren Kostentra¨gern mit dem Ziel der Schaffung eines einzigen Ansprechpartners eingefu¨hrt. Das perso¨nliche Budget wird von den (Sozial-)Leistungstra¨gern tra¨geru¨bergreifend als Komplexleistung erbracht. Der Bescheid wird von einem der Beteiligten im Auftrag und Namen der anderen beteiligten Leistungstra¨ger erlassen. Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung ko¨nnen aber weder derartige Verwaltungsakte erlassen noch ko¨nnen sie per Verwaltungsakt zu einer Leistung verpflichtet werden. Dennoch brauchen PPV-
4.4 Verfahrensfragen
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Versicherte nicht auf das Perso¨nliche Budget zu verzichten, sondern mu¨ssen lediglich einen beteiligten Sozialversicherungstra¨ger als Beauftragten fu¨r den Verwaltungsakt wa¨hlen. Die Leistungen der PPV ko¨nnen dann bei der Ermittlung des Budgets beru¨cksichtigt und nach dem Kostenerstattungsprinzip zur Verfu¨gung gestellt oder mit Genehmigung des Versicherten an Beauftragte ausgezahlt werden.
4.4 Verfahrensfragen 4.4.1 Begutachtung Fu¨r die Begutachtungen von Antragstellern der privaten Pflege-Pflichtversicherung ist der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nach dem Gesetz nicht zusta¨ndig. In § 23 Abs. 6 SGB XI findet sich lediglich die Vorgabe: „Das private Krankenversicherungsunternehmen oder ein anderes die Pflegeversicherung betreibendes Versicherungsunternehmen sind verpflichtet, fu¨r die Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit sowie fu¨r die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßsta¨be wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen (. . .). Wer diese Feststellung zu treffen hat ist zuna¨chst ausschließlich in den Versicherungsbedingungen unter § 6 Abs. 2 Satz 1 und 3 MB / PPV geregelt. Danach sind „Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedu¨rftigkeit, die Eignung, Notwendigkeit und Zumutbarkeit zur Beseitigung, Minderung und Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit, die Voraussetzungen des zusa¨tzlichen Betreuungsbedarfs und die Notwendigkeit der Versorgung mit beantragten Pflegehilfsmitteln (. . .) durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt festzustellen“ und weiter: „Mit der Durchfu¨hrung kann der medizinische Dienst der privaten Pflegepflichtversicherung beauftragt werden“. Die gesetzlichen Regelungen nach § 23 Abs. 6 SGB XI sowie § 111 SGB XI in Verbindung mit § 110 SGB XI erfordern jedoch mo¨glichst einheitliche Feststellungen der Leistungsvoraussetzungen. Vor dem Hintergrund des Risiko-Ausgleichs wurde deshalb im November 1994 ein eigener medizinischer Dienst, die Medicproof GmbH – Gesellschaft fu¨r medizinische Gutachten – gegru¨ndet und die Gesellschafter der PflegePool-GbR dazu verpflichtet, die Medicproof GmbH mit den Feststellungen von Leistungsvoraussetzungen in der privaten Pflege-Pflichtversicherung zu beauftragen. Damit ist gewa¨hrleistet, dass die Feststellungen nach einheitlichen Standards und durch von den Versicherungsunternehmen unabha¨ngige Gutachter erfolgen. Hauptaufgabe der Medicproof GmbH ist demzufolge die Organisation und Abwicklung aller in der privaten Pflege-Pflichtversicherung anfallenden Begutachtungen mit dem Ziel einer bundesweit und versicherungsu¨bergreifend einheitlichen Beurteilung. Diese Beurteilung erfolgt auf der Grundlage der diesbezu¨glichen Vorgaben in den Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi). Zur Erstellung der Gutachten bedient sich das Unternehmen eines bundesweiten Netzes freiberuflich ta¨tiger ¥rztinnen und ¥rzte. Aufgrund der Bestimmung in § 6 Abs. 2 MB/PPV ko¨nnen Pflegefachkra¨fte nicht mit der Feststellung von Leistungsvoraussetzungen beauftragt werden. Der in § 18 Abs. 7 SGB XI fu¨r das Verfahren zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit in der sozialen Pflegeversicherung geltenden Regelung, wonach die Aufgaben des Medizinischen Dienstes durch ¥rzte in enger Zu-
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4 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
sammenarbeit mit geeigneten Pflegefachkra¨ften wahrgenommen werden sollen, wird im Bereich der privaten Pflege-Pflichtversicherung durch die Mo¨glichkeit der Einholung einer erga¨nzenden pflegefachlichen Stellungnahme entsprochen. Dafu¨r wird bei der Medicproof GmbH zusa¨tzlich ein bundesweites Netz von Pflegefachkra¨ften vorgehalten. ¥rztliche Gutachterinnen und Gutachter und Pflegefachkra¨fte haben sich bezu¨glich der Beurteilung von Leistungsvoraussetzungen vertraglich auf die Beachtung der Begutachtungs-Richtlinien verpflichtet. Eine vertragliche Vereinbarung besteht auch in Bezug auf die Bearbeitungszeit, so dass die in § 18 Abs. 3 SGB XI geregelten Fristen auch im Begutachtungsverfahren der privaten Pflege-Pflichtversicherung einzuhalten sind. Inhalt und Gliederung des Medicproof-Gutachtenformulars sind dem „Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) angepasst. Die Bearbeitung durch die Gutachter erfolgt mit einer eigens dafu¨r entwickelten Software. Die Unterschiede zum Begutachtungsverfahren in der sozialen Pflegeversicherung ergeben sich im Wesentlichen aus der Rechtsform des Gutachtens. Das private Versicherungsverha¨ltnis unterliegt den Regeln des Zivilrechts, insbesondere dem Versicherungsvertragsgesetz. Die fu¨r die private Pflege-Pflichtversicherung erstellten Gutachten wertet das Bundessozialgericht demzufolge als Schiedsgutachten im Sinne von § 84 Versicherungsvertragsgesetz (vgl. BSG-Urteile vom 22. 08. 2001, Az.: B 3 P 21 / 00 R und B 3 P 4 / 01 R). Durch ein Schiedsgutachten soll außergerichtlich und dennoch rechtsverbindlich die fu¨r zwei Vertragsparteien verbindliche gutachtliche Kla¨rung eines bestimmten Sachverhaltes herbeigefu¨hrt werden. In Bezug auf die private Pflege-Pflichtversicherung geht es um Kla¨rung des Sachverhaltes, ob und wenn ja, in welchem Umfang Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß MB/PPV vorliegt. Ein Schiedsgutachten gilt als verbindlich, außer wenn dargestellt werden kann, dass es offenbar erheblich von der wirklichen Sachlage abweicht. Diese Entscheidung des Bundessozialgerichts steht im Zusammenhang mit der Auslegung einer Leistungszusage im Bereich der privaten Pflege-Pflichtversicherung als „deklaratorisches Schuldanerkenntnis“. Hier ist das Bundessozialgericht der Auffassung, dass die Erkla¨rung eines privaten Versicherungsunternehmens, Leistungen gema¨ß den Feststellungen im a¨rztlichen Gutachten zu erbringen, bindend ist, weil dadurch die beim Antragsteller bis dahin bestehende Unsicherheit u¨ber den Leistungsanspruch beseitigt wurde. Die Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung sind demnach sowohl an die gutachterliche Feststellung als auch an ihre einmal ergangene Leistungszusage gebunden. Das gilt grundsa¨tzlich auch fu¨r den Versicherungsnehmer.
4.4.2 Einwendungen Die Durchfu¨hrung eines fo¨rmlichen Widerspruchsverfahrens als Voraussetzung fu¨r eine Klage ist in der privaten Pflege-Pflichtversicherung, anders als in der Sozialversicherung, nicht vorgeschrieben. Versicherte ko¨nnen daher gegen die Leistungsmitteilung des Versicherungsunternehmens sofort Klage erheben. Durch die Einholung einer „zweiten Meinung“ in Form eines „zweiten“ Schiedsgutachtens, la¨sst sich die gerichtliche Auseinandersetzung allerdings oft vermeiden und Kla¨rung herbeifu¨hren. Die Parteien einigen sich in solch einem Fall darauf, ein weiteres Schiedsgutachten einzuholen, welches das vorherige ersetzt. Eine vom Vorgutachten abweichende
4.4 Verfahrensfragen
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Entscheidung erfordert aber immer eine eingehende Auseinandersetzung mit den Einwa¨nden des Versicherten und mit den Feststellungen des Vorgutachters im Vorgutachten. Zweitbegutachtungen erfolgen regelma¨ßig im Rahmen eines weiteren Besuchs vor Ort und nicht nach Aktenlage.
4.4.3 Sozialgerichtsbarkeit Die Kla¨rung der Frage, welcher Rechtsweg fu¨r Streitigkeiten zwischen Versicherten der privaten Pflege-Pflichtversicherung und den Versicherungsunternehmen zusta¨ndig sind, war nach Einfu¨hrung des Pflege-Versicherungsgesetzes nicht unproblematisch. Da die Versicherten in der privaten Pflegeversicherung mit Blick auf Leistungsumfang und Versicherungsbedingungen im Wesentlichen den Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung gleichgestellt sind, ergeben sich bei der Auslegung und Anwendung des Pflege-Versicherungsgesetzes identische Fragen. Ein einheitlicher Rechtsweg erleichterte die Herausbildung einer einheitlichen Rechtsprechung fu¨r beide Bereiche. Die urspru¨ngliche nicht ganz eindeutige Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), nach der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch u¨ber Streitigkeiten entscheiden, die „in Angelegenheiten nach dem SGB XI entstehen“ wurde deshalb zum 2. Januar 2002 konkretisiert durch § 51 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, nach der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zusta¨ndig sind fu¨r „o¨ffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflegeversicherung (SGB XI), auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen werden“. Zur schnellen Durchsetzung von Beitragsanspru¨chen gegenu¨ber Versicherten wurde außerdem mit §182a SGG die Mo¨glichkeit eines Mahnverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit geschaffen. Zu beachten ist jedoch, dass bei Streitigkeiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung das Verfahrensrecht der Sozialversicherung keine Anwendung findet. Es gelten die zivilrechtlichen Grundsa¨tze des Bu¨rgerlichen Gesetzbuches (BGB) und das Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Es gibt folglich auch kein Widerspruchsverfahren (s. o.) und die Anspru¨che verja¨hren innerhalb von drei Jahren, gerechnet vom Ende des Jahres der Rechnungsstellung (Entstehung des Anspruchs) [Besche 2009].
5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
5.1 Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Die Pflegebegutachtung ist zentraler Bestandteil des Verfahrens zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI. Die Begutachtung umfasst: ¢ die Ermittlung der Bedingungen des unmittelbaren Umfeldes, ¢ die Pru¨fung der Voraussetzungen mit einfacher Untersuchung und Inaugenscheinnahme des Versicherten im Hinblick auf seine Beeintra¨chtigungen und Ressourcen sowie Bewertung des Hilfebedarfs bezu¨glich Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung, ¢ als Ergebnis die Beurteilung von Pflegebedu¨rftigkeit samt deren Feststellung mit Zuordnungsempfehlung von Pflegestufen durch den MDK sowie ¢ das Vorliegen einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI, ¢ Feststellungen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind. Die Pru¨fung der Voraussetzungen folgt in Anlehnung an die ICIDH und ICF nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsfolgenmodell von Gesundheit und Krankheit der WHO. Der terminologische Bezugsrahmen ergibt sich aus dem Sozialgesetzbuch, den Begutachtungs-Richtlinien bzw. der Rechtsprechung. Dabei bezeichnet Hilfebedu¨rftigkeit, die objektivierbare Abha¨ngigkeit von instrumenteller oder Fremdhilfe bei den fu¨r die gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens. Hilfebedarf ist die quantifizierte Hilfebedu¨rftigkeit, d. h. die gutachtliche Bewertung der Fremdhilfe nach Zeitaufwand, der auf Dauer bestehen wird. Die Begriffe – Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung, Tagesstrukturierung, Eingliederung, Pflege, Unterbringung, Versorgung und Verpflegung – bezeichnen Erscheinungsformen das Angewiesensein auf Fremdhilfe. Dazu geho¨rt neben der perso¨nlich erbrachten Hilfe auch der Ausgleich durch Hilfsmittel und behindertengerechte Ausstattung. Die Leistungen des SGB XI sollen gema¨ß den §§ 4 und 8 SGB XI familia¨r, nachbarschaftlich, ehrenamtlich und durch Selbsthilfegruppen erbrachte Leistungen der Pflege und Betreuung erga¨nzen und dazu beitragen, „eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung“ zu schaffen. Begrifflich gefasst wird dies als das informelle Netz der Hilfe durch das soziale Umfeld. (Grund-)Pflegebedarf ist der Teil des Hilfebedarfs, der sich auf die Grundpflege erstreckt. Entsprechend der Begutachtungs-Richtlinien gilt: „Der fu¨r die Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit und die Zuordnung zu einer Pflegestufe maßgebliche Hilfebedarf“
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
bei den u. g. Verrichtungen nach Art, Ha¨ufigkeit, zeitlichem Umfang und Prognose ergibt sich aus ¢ der individuellen Auspra¨gung von Scha¨digungen und Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten durch Krankheit oder Behinderung, ¢ den individuellen Ressourcen, ¢ der individuellen Lebenssituation (z. B. umweltbezogene Kontextfaktoren wie Wohnverha¨ltnisse, soziales Umfeld), ¢ der individuellen Pflegesituation (z. B. personenbezogene Kontextfaktoren wie Lebensgewohnheiten) unter Zugrundelegung der Laienpflege. Es ist ausschließlich auf die Individualita¨t des Pflegebedu¨rftigen abzustellen. Die Individualita¨t der Pflegeperson bzw. -personen wird nicht beru¨cksichtigt. Fu¨r die Feststellung des individuellen Hilfebedarfs ist eine Gesamtbetrachtung durch den Gutachter notwendig. Dabei werden die erbrachte Hilfeleistung und der individuelle Hilfebedarf ins Verha¨ltnis gesetzt und zusammenfassend bewertet, d. h., es wird ermittelt, ob die erbrachte Hilfeleistung dem individuellen Hilfebedarf entspricht.“ Weiterhin gilt nach § 14 SGB XI: 1. Pflegebedu¨rftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung fu¨r die gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich fu¨r mindestens 6 Monate, in erheblichem oder ho¨herem Maße (§ 15) der Hilfe bedu¨rfen. 2. Krankheiten oder Behinderungen im Sinne des Absatzes 1 sind: a) Verluste, La¨hmungen oder andere Funktionssto¨rungen am Stu¨tz- und Bewegungsapparat, b) Funktionssto¨rungen der inneren Organe oder der Sinnesorgane, c) Sto¨rungen des Zentralnervensystems wie Antriebs-, Geda¨chtnis- oder Orientierungssto¨rungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen. 3. Die Hilfe im Sinne des Absatzes 1 besteht in der Unterstu¨tzung, in der teilweisen oder vollsta¨ndigen ¢bernahme der Verrichtung im Ablauf des ta¨glichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigensta¨ndigen ¢bernahme dieser Verrichtungen. 4. Gewo¨hnliche und regelma¨ßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1 sind: a) Im Bereich der Ko¨rperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Ka¨mmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung, b) im Bereich der Erna¨hrung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, c) im Bereich der Mobilita¨t das selbsta¨ndige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, Anund Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, d) im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spu¨len, Wechseln und Waschen der Wa¨sche und Kleidung oder das Beheizen.
5.1 Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI
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Im SGB XI werden die Bereiche der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung und der Mobilita¨t als Grundpflege zusammengefasst [Gerber / Gansweid 2008]. Sie sind zu differenzieren vom Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Entsprechend der BSG-Rechtsprechung bedeutet Regelma¨ßigkeit, dass ein Hilfebedarf mindestens einmal pro Woche besteht. Die Dauer des Hilfebedarfs ist unter Beru¨cksichtigung des Einsatzes kurativer und rehabilitativer Maßnahmen auf mindestens 6 Monate zu prognostizieren, es sei denn die verbleibende Lebensspanne ist voraussichtlich ku¨rzer. Fu¨r die Leistungsgewa¨hrung im Sinne einer solidarischen Unterstu¨tzung nach dem SGB XI mu¨ssen Pflegebedu¨rftige hinsichtlich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung den Zustand der Schwere gema¨ß § 1 Abs. 4 SGB XI erfu¨llen. Er wird nach § 15 SGB XI der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedu¨rftige), der Pflegestufe II (Schwerpflegebedu¨rftige) oder die der Pflegestufe III (Schwerstpflegbedu¨rftige) zugeordnet. Daru¨ber hinaus ko¨nnen nach dem § 36 Abs. 4 bzw. § 43 Abs. 3 SGB XI in besonderen Situationen bei Vorliegen eines außergewo¨hnlich hohen Pflegeaufwandes, der das u¨bliche Maß der Pflegestufe III u¨bersteigt, als Ausnahmeregelung Pflegebedu¨rftige zur Vermeidung von Ha¨rten als Ha¨rtefall anerkannt werden. Daru¨ber hinaus werden noch nach § 45a–b SGB XI zusa¨tzliche Betreuungsleistungen fu¨r Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (PEA) in ambulanter und teilstationa¨rer Pflege erbracht. Dies betrifft Menschen mit demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen im Rahmen der Begutachtung nach § 18 SGB XI als Folge der oben genannten Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens festgestellt wurden, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschra¨nkung der Alltagskompetenz gefu¨hrt haben. Dabei haben auch Personen, die diese Kriterien aufweisen, einen Anspruch auf zusa¨tzliche Betreuungsleistungen, selbst wenn ihr Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung noch nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht hat. Zur Bewertung der Erheblichkeit der Einschra¨nkungen der Alltagskompetenz wurde ein Assessment-Verfahren entwickelt, das im Rahmen der Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach SGB XI zur Anwendung kommt. Dieses Verfahren bildet auch die Grundlage fu¨r Vergu¨tungszuschla¨ge fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen nach § 87 b SGB XI. Pflegepersonen im Sinne nach § 19 SGB XI sind Personen, die nicht erwerbsma¨ßig einen Pflegebedu¨rftigen in seiner ha¨uslichen Umgebung pflegen. Ambulante Pflegeeinrichtungen (Pflegedienste) sind selbststa¨ndig wirtschaftende Einrichtungen, die unter sta¨ndiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft Pflegebedu¨rftige in ihrer Wohnung pflegen und hauswirtschaftlich versorgen (§ 71 Abs. 1 SGB XI). Stationa¨re Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime) sind selbststa¨ndig wirtschaftende Einrichtungen, in denen Pflegebedu¨rftige unter sta¨ndiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft gepflegt werden, ganzta¨gig (vollstationa¨r) bzw. nur tagsu¨ber oder nur nachts (teilstationa¨r) untergebracht und verpflegt werden ko¨nnen (§ 71 Abs. 2 SGB XI). Als Pflegefachkra¨fte gelten nach den jeweiligen rechtlichen Ausbildungs- und Rahmenbestimmungen Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger, Altenpfleger sowie unter bestimmten Bedingungen Heilerzieher. Na¨heres regelt § 71 Abs. 3 SGB XI. Verfu¨gt der Antragssteller zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht mehr u¨ber eine eigene Wohnung und soll dauerhaft stationa¨r gepflegt werden, ist gema¨ß den Begut-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
achtungs-Richtlinien bei der Bemessung des zeitlichen Mindestaufwandes fu¨r den festgestellten Hilfebedarf eine durchschnittliche ha¨usliche Wohnsituation zu Grunde zulegen. Sie ist wie folgt gekennzeichnet: 1. Lage der Wohnung in der 1. Etage, ohne Aufzug und nicht ebenerdig erreichbar, 2. Anzahl von 4 Ra¨umen je Wohnung aufgeteilt in zwei Zimmer, Ku¨che, Diele und Bad, 3. Zweipersonenhaushalt sowie 4. keine „behindertengerechte Ausstattung“ mit Zentralheizung, Standardku¨che oder Kochnische mit Elektro- oder Gasherd, Standard-WC, Bad und Waschmaschine. Bei der Erfassung von Art und Ha¨ufigkeit des Hilfebedarfs bei den Verrichtungen sind die tatsa¨chlichen Verha¨ltnisse maßgebend, die Beurteilung des zeitlichen Umfangs orientiert sich an der Laienpflege. Die Beziehung auf diese Referenzsituation soll bei der Ermittlung des individuellen pflegerischen Hilfebedarfs eine einheitliche Begutachtung stationa¨r versorgter Pflegebedu¨rftiger gewa¨hrleisten. Der Begriff medizinische Behandlungspflege umfasst Maßnahmen der a¨rztlichen Behandlung, die dazu dienen, Krankheiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhu¨ten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern und die u¨blicherweise an Pflegefachkra¨fte delegiert werden ko¨nnen [Gerber / Gansweid 2008]. Im ambulanten Bereich sind diese Leistungen zu Lasten der Krankenkasse verordnungsfa¨hig nach § 37 SGB V, sofern sie nicht von einer im Haushalt lebenden Person u¨bernommen werden ko¨nnen. In voll- und teilstationa¨ren Pflegeeinrichtungen sind gema¨ß §§ 41–43 SGB XI die Aufwendungen fu¨r Leistungen der medizinischen Behandlungspflege in den pauschalen Leistungsbetra¨gen zu Lasten der Pflegekasse enthalten. Im Ausnahmefall besteht gema¨ß § 37 Abs. 2 SGB V auch in zugelassenen Pflegeeinrichtungen nach § 43 SGB XI ein Anspruch gegenu¨ber der Krankenkasse, wenn auf Dauer ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege besteht. Der Begriff soziale Betreuung wird im SGB XI in leistungsrechtlichem Zusammenhang mit der teilstationa¨ren, Kurzzeit- und vollstationa¨ren Pflege gema¨ß den §§ 41–43 SGB XI genannt. So ist z. B. die Beru¨cksichtigung des Kommunikationsbedarfs vom Gesetzgeber nicht in den Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI aufgenommen worden, bei der stationa¨ren Pflege geho¨rt er aber als Bestandteil der sozialen Betreuung zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Der Begriff erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf ist von Bedeutung bei der Feststellung von erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz. In der ambulanten Pflege ko¨nnen gema¨ß § 45b SGB XI Pflegebedu¨rftige mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusa¨tzliche Betreuungsleistungen als Erstattungsleistungen bis zu 100 Euro monatlich (Grundbetrag) oder bis zu 200 Euro monatlich (erho¨hter Betrag) in Anspruch nehmen. Fu¨r Pflegebedu¨rftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf ko¨nnen vollstationa¨re Pflegeeinrichtungen Vergu¨tungszuschla¨ge nach § 87b SGB XI vereinbaren. Entsprechend den Begutachtungs-Richtlinien ist unter aktivierender Pflege eine Pflegepraxis zu verstehen, die die Selbsta¨ndigkeit und Unabha¨ngigkeit des Menschen fo¨rdert (ressourcenorientierte Selbstpflege). Aktivierende Pflege soll dazu beitragen, trotz des Hilfebedarfs mo¨glichst weitgehend Selbsta¨ndigkeit zu fo¨rdern, zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
5.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen
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5.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen Barbara Gansweid und Ulrich Heine Nach § 53a SGB XI erla¨sst der Spitzenverband Bund der Pflegekassen vom BMG zustimmungspflichtige, verbindliche Richtlinien fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung 1. u¨ber die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten, 2. zur Durchfu¨hrung und Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung, 3. u¨ber die von den Medizinischen Diensten zu u¨bermittelnden Berichte und Statistiken (siehe Kapitel 5.10), 4. zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung sowie u¨ber das Verfahren zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen (siehe Kapitel 5.11), 5. u¨ber Grundsa¨tze der Fort- und Weiterbildung. (siehe Kapitel 11). Die „Richtlinien u¨ber die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung“ wurden nach § 282 Satz 3 SGB V am 27. August 1990 beschlossen. Sie bilden das Fundament und die verbindliche Norm fu¨r die Effizienz und Effektivita¨t der Begutachtung und Beratung des MDK im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen und somit seit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung auch der Pflegekassen. Ausfu¨hrungen zur Durchfu¨hrung und Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung sind in den Begutachtungs-Richtlinien (BRi) enthalten. Hinsichtlich des Leistungsanspruches nach dem SGB XI sind § 14 „Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit“ und § 15 „Stufen der Pflegebedu¨rftigkeit“ zentrale Bestandteile des Pflege-Versicherungsgesetzes, die u. a. durch die Vorschriften zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 und durch die Ha¨rtefallreglung des § 36 erga¨nzt werden. Nach § 17 SGB XI erla¨sst im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung der Spitzenverband Bund der Pflegekassen Richtlinien ¢ ¢ ¢ ¢
zur na¨heren Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit, zur na¨heren Abgrenzung der Merkmale der Pflegestufen, zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit, zur Anwendung der Ha¨rtefallregelung.
Sie werden erst durch die Genehmigung des Bundesministeriums fu¨r Gesundheit (BMG) wirksam. Die Richtlinien zur Abgrenzung und zum Verfahren wurden zusammengefasst und am 07. 11. 1994 als Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen u¨ber die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit (Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien – PflRi) beschlossen und mehrfach angepasst. Die Richtlinien zur Anwendung der Ha¨rtefallregelungen des § 36 Abs. 4 und § 43 Abs. 3 SGB XI wurden durch die Spitzenverba¨nde der Pflegekassen vom 09. 10. 1995 und 03. 07. 1996 beschlossen und vom damals zusta¨ndigen Bundesministerium fu¨r Arbeit und Sozialordnung (BMA) genehmigt. Die Ha¨rtefallregelung darf fu¨r nicht mehr als 3 Prozent aller versicherten Pflegebedu¨rftigen der Pflegestufe III, die ha¨uslich gepflegt werden, und nicht mehr als 5 Prozent aller versicherten Pflegebedu¨rftigen der Pflegestufe III, die stationa¨r gepflegt werden, Anwendung finden.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Die Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien wurden zuna¨chst durch die Begutachtungsanleitung „Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ vom 29. 05. 1995 konkretisiert. Diese wurde zum 01. 06. 1997 durch die „Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi)“ vom 21. 03. 1997 ersetzt. In weitere Fassungen flossen die in der Begutachtungspraxis bis dato gewonnenen Erfahrungen und die BSGRechtsprechung ein. Mit dem Ziel, eine bundeseinheitliche Begutachtungspraxis zu gewa¨hrleisten, wurden einzelne Begutachtungskriterien pra¨zisiert. Nach Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes zum 01. 07. 2008 wurde eine erneute Anpassung der BRi erforderlich (Fassung vom 08. 06. 2009). Die Begutachtungs-Richtlinien dienen der Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzugs und sind Grundlage fu¨r die gutachterlichen Feststellungen. Sie unterliegen jedoch der ¢berpru¨fung durch die Gerichte. Das BSG hat die jeweiligen Richtlinien mit ihren Regelungen in der bisherigen Rechtsprechung in wesentlichen Punkten besta¨tigt. An einzelnen Punkten erfolgten Konkretisierungen/Erga¨nzungen und ¥nderungen, die Beru¨cksichtigung in der jeweiligen ¢berarbeitung der Richtlinien fanden. Auf relevante BSG-Entscheidungen wird im Kapitel „Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI“ dieses Buches eingegangen.
5.3 Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit Barbara Gansweid und Ulrich Heine
5.3.1 Verrichtungen des ta¨glichen Lebens nach SGB XI Bei der Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI ist der Hilfebedarf bei den 21 im § 14 SGB XI definierten gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen des ta¨glichen Lebens zu beru¨cksichtigen. Die Verrichtungen werden eingeteilt in die drei Bereiche Ko¨rperpflege, Erna¨hrung und Mobilita¨t (Grundpflege), sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (siehe Tab. 5.1). ¢ber diesen Katalog hinausgehende Hilfestellungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens, wie z. B. die Fo¨rderung der Kommunikation oder allgemeine Betreuung, die nicht auf eine Verrichtung bezogen ist, finden bei der Hilfebedarfsbemessung keine Beru¨cksichtigung. Behinderungen, die durch Hilfsmittel ausgeglichen werden, begru¨nden keinen beru¨cksichtigungsfa¨higen Hilfebedarf im Sinne des SGB XI. Auch Hilfebedarf bei den Verrichtungen nach § 14 SGB XI, der zwar nicht ta¨glich aber „regelma¨ßig“, d. h. mindestens einmal pro Woche anfa¨llt, wird zeitlich beru¨cksichtigt und auf den Tagesdurchschnitt umgerechnet. Weniger als einmal pro Woche anfallender Hilfebedarf kann bei der Feststellung nicht beru¨cksichtigt werden. Folgende Aktivita¨ten za¨hlen u. a. nicht zu den beru¨cksichtigungsfa¨higen Verrichtungen des ta¨glichen Lebens: ¢ Fahrten zur Schule oder Behindertenwerkstatt ¢ Spazierga¨nge oder Besuch kultureller Veranstaltungen ¢ Maßnahmen zur Durchfu¨hrung der beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung
5.3 Merkmale der Pflegebedu¨rftigkeit
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Tabelle 5.1: Gewo¨hnliche und regelma¨ßig wiederkehrende Verrichtungen des ta¨glichen Lebens nach § 14 SGB XI. Ko¨rperpflege
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Waschen Duschen Baden Zahnpflege Ka¨mmen Rasieren Darm-/Blasenentleerung
Erna¨hrung
8. Mundgerechte Zubereitung der Nahrung 9. Nahrungsaufnahme
Mobilita¨t
10. 11. 12. 13. 14. 15.
Aufstehen/Zubettgehen An-/Auskleiden Gehen Stehen Treppensteigen Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung
Hauswirtschaftliche Versorgung
16. 17. 18. 19. 20. 21.
Einkaufen Kochen Reinigung der Wohnung Spu¨len Wechseln/Waschen der Wa¨sche/Kleidung Beheizen der Wohnung
¢ Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation ¢ allgemeine Beaufsichtigung Anzumerken ist, dass ein unabha¨ngig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlicher allgemeiner Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf (z. B. eines Menschen mit geistiger Behinderung) zur Vermeidung einer mo¨glichen Selbstoder Fremdgefa¨hrdung bei der Feststellung des Hilfebedarfs ebenso wenig zu beru¨cksichtigen ist wie Maßnahmen der Behandlungspflege mit Ausnahme der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen.
5.3.2 Formen der Hilfeleistung Entsprechend § 14 Abs. 3 SGB XI wird die Hilfe bei den Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens unterschieden in: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Unterstu¨tzung (U) teilweise ¢bernahme (T¢) vollsta¨ndige ¢bernahme (V¢) Anleitung (A) Beaufsichtigung (B)
Die Form und das Ausmaß notwendiger Hilfeleistungen lassen sich aus den Ressourcen bzw. den Beeintra¨chtigungen der zu begutachtenden Person ableiten. Dem Erhalt oder der Wiederherstellung verloren gegangener Fa¨higkeiten dient die aktivierende
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Pflege. Diese kann mehr Zeit in Anspruch nehmen als die vollsta¨ndige ¢bernahme der jeweiligen Verrichtung durch die Pflegeperson. Die gutachterliche Feststellung des Hilfebedarfes richtet sich nach dem medizinisch und pflegerisch notwendigen Umfang der Pflege, der nicht immer mit der tatsa¨chlich durchgefu¨hrten Leistung u¨bereinstimmt. Eventuelle ¢ber- bzw. Unterversorgungen sind im Gutachten entsprechend zu kommentieren. Wird nachweislich aktivierend gepflegt, ist der daraus resultierende Pflegeaufwand als Bestandteil des medizinisch und pflegerisch Notwendigen zu werten. Bei der Beaufsichtigung steht zum einen die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der Verrichtungen im Vordergrund. Beaufsichtigung ist z. B. beim Rasieren erforderlich, wenn durch unsachgema¨ße Benutzung der Klinge oder des Stroms eine Selbstgefa¨hrdung gegeben ist. Zum anderen kann es um die Kontrolle daru¨ber gehen, ob die betreffenden Verrichtungen in der erforderlichen Art und Weise durchgefu¨hrt werden. Anleitung bedeutet, dass die Pflegeperson bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren muss. Dies kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn der Antragsteller trotz vorhandener motorischer Fa¨higkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchfu¨hren kann. Zur Anleitung geho¨rt auch die Motivierung des Antragstellers zur selbsta¨ndigen ¢bernahme der regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen des ta¨glichen Lebens. Unterstu¨tzung bedeutet, den Antragsteller durch die Bereitstellung sa¨chlicher Hilfen in die Lage zu versetzen eine Verrichtung selbsta¨ndig durchzufu¨hren. Teilweise ¢bernahme bedeutet, dass die Pflegeperson den Teil der Verrichtungen des ta¨glichen Lebens u¨bernimmt, den der Antragsteller selbst nicht ausfu¨hren kann. Vollsta¨ndige ¢bernahme bedeutet, dass die Pflegeperson die gesamte Verrichtungen ausfu¨hrt, da der Antragsteller diese selbst nicht ausfu¨hren kann.
5.4 Klassifizierung der Pflegebedu¨rftigkeit in Pflegestufen Barbara Gansweid und Ulrich Heine Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung haben zu pru¨fen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI erfu¨llt sind und welche Stufe der Pflegebedu¨rftigkeit vorliegt. Die wichtigsten Abgrenzungskriterien sind die Ha¨ufigkeit der Pflegeeinsa¨tze im Tagesablauf und der Mindestzeitaufwand. Geringfu¨gige Hilfeleistungen oder voru¨bergehender Hilfebedarf unter sechs Monaten ko¨nnen nicht zur Anerkennung von Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des SGB XI fu¨hren. Hinsichtlich der Bemessung des Zeitaufwandes bei den einzelnen Verrichtungen wird der zeitliche Umfang der Laienpflege als Maßstab selbst dann zugrunde gelegt, wenn die Pflege in der Verantwortung von Pflegefachkra¨ften durchgefu¨hrt wird. Die Erfassung von Art und Ha¨ufigkeit des Hilfebedarfes erfolgt aufgrund der tatsa¨chlichen Gegebenheiten. Nicht maßgebend ist, wo der Hilfebedarf anfa¨llt und wer die Hilfeleistungen erbringt. Da der Zeitaufwand der pflegerischen Maßnahmen durch den Einsatz von Pflegehilfsmittel oder auch durch bauliche Besonderheiten beeinflusst werden kann, sind diese Umsta¨nde im Einzelfall entsprechend zu beru¨cksichtigen. Grundlage fu¨r die gutachterliche Entscheidung zum Vorliegen einer Pfle-
5.4 Klassifizierung der Pflegebedu¨rftigkeit in Pflegestufen
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gestufe ist der § 15 SGB XI. Je nach Ausmaß der Pflegebedu¨rftigkeit wird der Pflegebedu¨rftige einer von drei Pflegestufen zugeordnet. Bei einem Hilfebedarf unterhalb der Pflegestufe I sind die Voraussetzungen von Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des SGB XI nicht erfu¨llt.
5.4.1 Pflegestufen gema¨ß § 15 SGB XI (1) Fu¨r die Gewa¨hrungen von Leistungen nach diesem Gesetz sind pflegebedu¨rftige Personen (§ 14) einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen: Pflegebedu¨rftige der Stufe I (erheblich Pflegebedu¨rftige) sind Personen, die bei der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung und der Mobilita¨t fu¨r wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal ta¨glich der Hilfe bedu¨rfen und zusa¨tzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung beno¨tigen. Pflegebedu¨rftige der Stufe II (Schwerpflegebedu¨rftige) sind Personen, die bei der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung und der Mobilita¨t mindestens dreimal ta¨glich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedu¨rfen und zusa¨tzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung beno¨tigen. Pflegebedu¨rftige der Stufe III (Schwerstpflegebedu¨rftige) sind Personen, die bei der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung oder Mobilita¨t ta¨glich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedu¨rfen und zusa¨tzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung beno¨tigen. (2) Der wo¨chentliche Zeitaufwand, den ein Familienangeho¨riger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson fu¨r die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung beno¨tigt, muss im Tagesdurchschnitt ¢ in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei mu¨ssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, ¢ in der Pflegestufe II mindestens 3 Stunden betragen; hierbei mu¨ssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen, ¢ in der Pflegestufe III mindestens 5 Stunden betragen; hierbei mu¨ssen auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen. Eine Voraussetzung fu¨r die Zuerkennung aller Pflegestufen ist, dass der Antragsteller mehrfach in der Woche Hilfen bei hauswirtschaftlicher Versorgung beno¨tigt. Der hierbei anfallende Zeitaufwand kann in Pflegestufe I mit bis zu 45 Minuten und bei der Pflegestufe II und III mit bis zu je 1 Stunde fu¨r die Pflegestufenfindung beru¨cksichtigt werden. Dennoch ist Zeitaufwand fu¨r den tatsa¨chlich anfallenden Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung individuell abzuscha¨tzen und ggf. auch ein ho¨herer Aufwand im Gutachten anzugeben, da dieser fu¨r die Ermittlung des rentenversicherungsrelevanten Pflegeaufwandes fu¨r die jeweiligen Pflegepersonen ausschlaggebend sein kann. Dass fu¨r die Zuerkennung der Pflegestufe I Hilfebedarf mindestens bei zwei Verrichtungen jeden Tag anfallen muss, ist zwischenzeitlich ho¨chstrichterlich besta¨tigt worden. Diese Bedingung muss auch bei in Schu¨ben verlaufenden Erkrankungen erfu¨llt sein. Wenn wa¨hrend des Schubes zwar ein hoher Hilfebedarf besteht, außerhalb des Schubes ta¨glicher Hilfebedarf jedoch nicht gegeben ist, liegt Pflegebedu¨rftigkeit nicht
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
vor. Bei ta¨glich vorliegendem, jedoch vom Ausmaß her schwankendem Hilfebedarf muss der wo¨chentliche Zeitaufwand im Mittel pro Tag u¨ber den oben genannten Grenzen liegen. Fu¨r die Anerkennung einer Pflegestufe muss der entsprechende Hilfebedarf auf Dauer bestehen, das heißt voraussichtlich fu¨r mindestens 6 Monate vorliegen. „Voraussichtlich“ weist darauf hin, dass der Gutachter eine Pflegestufe empfehlen kann, wenn er prospektiv abscha¨tzen kann, dass der Hilfebedarf der jeweiligen Pflegestufe mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens fu¨r 6 Monate bestehen wird. Pflegebedu¨rftigkeit auf Dauer ist auch gegeben, wenn der Hilfebedarf deshalb nicht 6 Monate andauert, weil die verbleibende Lebensspanne voraussichtlich weniger als 6 Monate betra¨gt. Bei der Abscha¨tzung des 6-Monatszeitraums ist der medizinische Eintritt der Pflegebedu¨rftigkeit, bezu¨glich der Pflegestufe maßgebend und nicht der Zeitpunkt der Antragstellung oder der Begutachtung. Ist zum Zeitpunkt der Begutachtung prognostisch abzuscha¨tzen, dass z. B. der Hilfebedarf der Pflegestufe I mit großer Wahrscheinlichkeit nur voru¨bergehend, z. B. fu¨r die Dauer von etwa drei Monaten wegen einer Mobilita¨tsbeeintra¨chtigung nach einem Knochenbruch vorliegen wird, hat der Gutachter der Pflegekasse die Ablehnung des Antrages zu empfehlen. Personen, die bis zum 31. 03. 1995 Leistungen der Schwerpflegebedu¨rftigkeit nach § 53ff SGB V erhalten hatten, wurden ohne erneute Antragstellung mit Wirkung vom 01. 04. 1995 der Pflegestufe II zugeordnet. Der Schwerpflegebedu¨rftigkeitsbegriff des § 53 SGB V beruhte auf einer anderen Grundlage als der des SGB XI. Hieraus ergab sich vor allem in der Anfangszeit die Notwendigkeit bei einer abweichenden Pflegestufenempfehlung im Rahmen einer Wiederholungsbegutachtung zu pru¨fen, ob im Vergleich zur Vorbegutachtung eine wesentliche ¥nderung des Befundes und/oder des Hilfebedarfs eingetreten war und dies gutachterlich zu dokumentieren und zu begru¨nden. Wenn keine ¥nderungen des Hilfebedarfs nachweisbar waren, bestand im Sinne einer Besitzstandswahrung weiterhin der Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe II, auch wenn nach den Kriterien des SGB XI nur die Voraussetzungen fu¨r Pflegestufe I vorlagen. Hinsichtlich der Schwerstpflegebedu¨rftigkeit hat die Vorgabe im Gesetz: „rund um die Uhr“ mehrfach zu ho¨chstrichterlichen Entscheidungen gefu¨hrt. Die grundsa¨tzlichen Vorgaben der Begutachtungs-Richtlinien wurden besta¨tigt. Fu¨r den „na¨chtlichen Hilfebedarf“ gilt: „Es muss bei der Pflegestufe III Hilfebedarf aus dem grundpflegerischen Bereich jederzeit gegeben sein“, wobei der Tag mit 06.00 Uhr bis 22.00 Uhr und die Nacht von 22.00 Uhr bis 06.00 Uhr definiert wird. Die Verrichtungen mu¨ssen grundsa¨tzlich jede Nacht anfallen, wobei Ausnahmen bis zu zweimal wo¨chentlich zugelassen werden. Die sta¨ndige Einsatzbereitschaft (Rufbereitschaft) von Pflegepersonen reicht nicht aus. Es muss tatsa¨chlich Hilfe geleistet werden, wie z. B. Umlagern. Der Gutachter hat zudem zu beurteilen, ob eine in der Nacht durchgefu¨hrte Pflegehandlung auch zwingend zu diesem Zeitpunkt erforderlich ist oder ggf. auch am Tag durchgefu¨hrt werden ko¨nnte, wie z. B. manche Leistungen der Ko¨rperpflege.
5.4.2 Ha¨rtefallregelung Bei der gutachterlichen Feststellung eines außergewo¨hnlich hohen Pflegeaufwandes, der das u¨bliche Maß der Pflegestufe III weit u¨bersteigt, ko¨nnen bei Pflegesachleistungen oder vollstationa¨rer Pflege Pflegebedu¨rftige zur Vermeidung von Ha¨rten als Aus-
5.4 Klassifizierung der Pflegebedu¨rftigkeit in Pflegestufen
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nahmeregelung zusa¨tzliche Leistungen erhalten (§ 36 Abs. 4, § 43 Abs. 3 SGB XI). Gema¨ß den Ha¨rtefall-Richtlinien besteht ein außergewo¨hnlich hoher Pflegeaufwand, wenn neben dem Hilfebedarf der Pflegestufe III alternativ mindestens eines der beiden folgenden Merkmale erfu¨llt wird: ¢ die Grundpflege kann fu¨r den Pflegebedu¨rftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekra¨ften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden oder ¢ die Hilfe bei der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung oder der Mobilita¨t ist mindestens 6 Stunden ta¨glich erforderlich , dabei mindestens dreimal in der Nacht. Bei Pflegebedu¨rftigen in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen ist auch die auf Dauer bestehende medizinische Behandlungspflege zu beru¨cksichtigen. Der Gutachter hat festzustellen, ob ein außergewo¨hnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, wobei jedes der beiden Merkmale fu¨r sich bereits die Voraussetzungen einer qualitativ und quantitativ weit u¨ber das u¨bliche Maß der Grundvoraussetzungen der Pflegestufe III hinausgehenden Pflegeaufwandes erfu¨llt. Die Entscheidung, ob der Pflegebedu¨rftige zur Vermeidung von Ha¨rten als Ausnahmeregelung zusa¨tzliche Leistungen erha¨lt, trifft die Pflegekasse. Zum Beispiel kommen solche Leistungen in vollstationa¨rer Pflege nur in Betracht, wenn der Bewohner zur Deckung seines Hilfebedarfs zusa¨tzliche Kosten aufbringen muss. Das kann der Fall sein, wenn sich eine Einrichtung auf Bewohner mit besonders hohen Pflegebedarf spezialisiert und z. B. fu¨r Menschen im Wachkoma den mit der Versorgung verbundenen personellen Mehraufwand von vorneherein einkalkuliert und der Pflegesatz daher deutlich u¨ber dem der Pflegestufe III liegt. Diese Regelung gilt auch fu¨r eine wirtschaftlich getrennt gefu¨hrte, selbsta¨ndige Abteilung einer Pflegeeinrichtung. Befristung von Leistungen Versicherte erhalten die Leistungen der Pflegeversicherung auf Antrag. Die Leistungen werden ab Antragstellung gewa¨hrt, fru¨hestens jedoch von dem Zeitpunkt an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Wird der Antrag spa¨ter als einen Monat nach Eintritt der Pflegebedu¨rftigkeit gestellt, werden die Leistungen vom Beginn des Monats der Antragstellung an gewa¨hrt. Eine Befristung der Leistungen ist mo¨glich, wenn nach der Einscha¨tzung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zu erwarten ist, dass sich der Hilfebedarf, z. B. durch therapeutische oder rehabilitative Maßnahmen, pflegestufenrelevant verringert. Die Befristung kann wiederholt werden und schließt ¥nderungen bei der Zuordnung zu einer Pflegestufe, bei der Anerkennung als Ha¨rtefall sowie bei bewilligten Leistungen im Befristungszeitraum ein. Der Befristungszeitraum darf insgesamt die Dauer von drei Jahren nicht u¨berschreiten. Um eine nahtlose Leistungsgewa¨hrung sicherzustellen, hat die Pflegekasse vor Ablauf einer Befristung rechtzeitig zu pru¨fen und dem Pflegebedu¨rftigen sowie der ihn betreuenden Pflegeeinrichtung mitzuteilen, ob Pflegeleistungen weiterhin bewilligt werden und welcher Pflegestufe der Pflegebedu¨rftige zuzuordnen ist“ (§ 33 Abs. 1 SGB XI). Pflegestufena¨nderung Im Sinne eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung kann die Pflegekasse bei ¥nderung der Verha¨ltnisse den Versicherten auf der Grundlage eines Gutachtens einer an-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
deren Pflegestufe zuordnen (§ 48 Abs. 1 SGB X). Bei der gutachtlichen Beurteilung der Pflegestufen sind bei Minderung oder Erho¨hung des Hilfebedarfs, die wesentlichen ¥nderungen der die Pflegestufe begru¨ndenden Voraussetzungen nachvollziehbar darzulegen. Auch fu¨r die Pflegestufena¨nderung gilt der Grundsatz, dass der der jeweiligen Pflegestufe entsprechende Hilfebedarf auf Dauer, das heißt fu¨r mindestens sechs Monate, vorliegen muss. Insbesondere bei der Empfehlung einer niedrigeren Pflegestufe ist im Abgleich zum Vorgutachten zu beschreiben, welche Scha¨digungen oder Beeintra¨chtigungen sich verbessert haben, so dass der Pflegebedu¨rftige selbsta¨ndiger geworden ist. Eine Verringerung des Hilfebedarf kann auch durch Adaptation, Hilfsmittelnutzung oder Wohnumfeldverbessernde Maßnahmen begru¨ndet sein.
5.4.5 Pflegestufenfeststellung bei Kindern „Bei Kindern ist fu¨r die Zuordnung der zusa¨tzliche Hilfebedarf gegenu¨ber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend“ (§ 15 Abs. 2 SGB XI). Es wird dementsprechend zwischen altersgema¨ßem Hilfebedarf und krankheitsbedingtem Mehrbedarf unterschieden. Der altersu¨bliche Pflegeaufwand ist jedoch keine feste Gro¨ße, da auch die Entwicklung gesunder Kinder eine große Variationsbreite aufweist. Eine Pauschalierung ist zur Sicherstellung einer Begutachtung nach einheitlichen Maßsta¨ben notwendig. In den Begutachtungs-Richtlinien wird deshalb eine Tabelle mit dem Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen vorgegeben, den erfahrungsgema¨ß fast alle der altersentsprechend entwickelten Kinder in den verschiedenen Altersstufen beno¨tigen. Den Besonderheiten der Feststellung des Hilfebedarfs bei Kindern ist in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet.
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit Barbara Gansweid und Ulrich Heine Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit Die Pflegekassen haben gema¨ß § 18 Abs. 1 SGB XI durch den MDK pru¨fen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit erfu¨llt sind und welche Stufe der Pflegebedu¨rftigkeit vorliegt. Im Rahmen dieser Pru¨fung hat der Medizinische Dienst durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschra¨nkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 SGB XI festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedu¨rftigkeit zu ermitteln. Daru¨ber hinaus sind auch Feststellungen daru¨ber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind . . .“ Nach Antragsstellung auf Leistungen der Pflegeversicherung durch den Versicherten kla¨rt die Pflegekasse die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, zum Beispiel ausreichende Vorversicherungszeiten. Die Pflegekasse stellt fu¨r die Begutachtung erforderliche Unterlagen und Ausku¨nfte bereit und erteilt dem zusta¨ndigen MDK den Auftrag, eine Begutachtung nach § 18 SGB XI durchzufu¨hren. Grundsa¨tzlich erfolgt diese
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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Begutachtung anhand des Formulars „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“. Im Regelfall soll dem Antragsteller spa¨testens fu¨nf Wochen nach Eingang des Antrags bei der zusta¨ndigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse mitgeteilt werden. Fu¨r bestimmte Fallgestaltungen gelten gesetzliche Begutachtungsfristen fu¨r den MDK. Eine unverzu¨gliche Begutachtung, spa¨testens innerhalb einer Woche nach Eingang des Antrages bei der zusta¨ndigen Pflegekasse ist erforderlich, wenn ¢ sich der Antragsteller im Krankenhaus oder in einer stationa¨ren Rehabilitationseinrichtung befindet und Hinweise vorliegen, dass zur Sicherstellung der ambulanten oder stationa¨ren Weiterversorgung und Betreuung eine Begutachtung in der Einrichtung erforderlich ist oder die Inanspruchnahme von Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz gegenu¨ber dem Arbeitgeber der pflegenden Person angeku¨ndigt wurde, ¢ sich er Antragsteller in einem Hospiz befindet oder ¢ der Antragsteller ambulant palliativ versorgt wird. Eine Begutachtung innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei der zusta¨ndigen Pflegekasse ist erforderlich, wenn der Antragsteller sich in ha¨uslicher Umgebung befindet, ohne palliativ versorgt zu werden, und die Inanspruchnahme von Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz gegenu¨ber dem Arbeitgeber der pflegenden Person angeku¨ndigt wurde. In diesen Fa¨llen muss die Empfehlung des MDK zuna¨chst nur die Feststellung beinhalten, ob Pflegebedu¨rftigkeit nach dem SGB XI vorliegt. Wird vollstationa¨re Pflege beantragt ist zusa¨tzlich eine Aussage zur Heimnotwendigkeit abzugeben. Professionen der Gutachter Bei der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit nach SGB XI sind sowohl a¨rztliche als auch pflegerische Fragestellungen zu beantworten. Der Besuch in der ha¨uslichen Umgebung wird in der Regel von einem Gutachter durchgefu¨hrt. Vor jeder Begutachtung ist festzulegen, welcher Gutachter das Gutachten erstellt. Je nach Informationsstand kann das gutachterliche Zusammenwirken von Arzt und Pflegefachkraft unterschiedliche Erscheinungsformen aufweisen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Professionen ist erforderlich. Wenn keine oder nur ungenu¨gende Informationen u¨ber rein a¨rztliche Sachverhalte vorliegen, wird eher ein Arzt beauftragt, ansonsten kann sowohl ein Arzt als auch eine Pflegefachkraft den Besuch durchfu¨hren. Die teilweise erhobene Forderung nach einem facha¨rztlichen Gutachter ist zu relativieren, da es prima¨r um die Feststellung des individuellen Hilfebedarfs bei den definierten Verrichtungen geht und weniger um diagnostische oder therapeutische Maßnahmen. Begutachtungsort Der Versicherte ist nach § 18 Abs. 2 SGB XI grundsa¨tzlich in seinem Wohnbereich zu untersuchen. Die besonderen ha¨uslichen Gegebenheiten, die Auswirkungen auf den Hilfebedarf haben, sind zu beru¨cksichtigen. Der Besuch ist vorher anzuku¨ndigen. Wenn sich der Versicherte zum Zeitpunkt der Antragstellung noch im Krankenhaus
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
oder einer Rehabilitationsklinik befindet und aufgrund einer nicht sichergestellten Weiterversorgung eine Begutachtung im Krankenhaus erforderlich wird, kann in dieser Situation das ha¨usliche Umfeld nicht mit beru¨cksichtigt werden. Auch kann das Maß an Hilfebedu¨rftigkeit im Rahmen der akuten Behandlungsphase in der ungewohnten „Umgebung Krankenhaus“ erho¨ht sein, so dass eine exakte Festlegung der Pflegestufe erheblich erschwert ist. Desweiteren ist es in dieser akuten Phase manchmal schwierig abzuscha¨tzen, ob Pflegebedu¨rftigkeit auf Dauer vorliegt. In diesen Fa¨llen muss zuna¨chst nur die Feststellung getroffen werden, ob mindestens erhebliche Pflegebedu¨rftigkeit besteht. Die Ermittlung der Pflegestufe erfolgt dann nach der Krankenhausentlassung mittels Haus- bzw. Heimbesuchs.
Formulargutachten Das Formulargutachten besteht – neben einigen verwaltungs- und verfahrenstechnischen Angaben – aus drei sozialmedizinisch-pflegefachlichen Abschnitten, die inhaltlich aufeinander aufbauen: Erhebung der Ist-Situation, gutachterliche Wertung und Empfehlungen. Diese sind gegliedert in 8 Unterpunkte. In den Punkten 1–3 werden 1. die derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation aufgenommen und erla¨utert, 2. die pflegerelevante Vorgeschichte erhoben und Fremdbefunde ausgewertet, 3. Krankheiten bzw. Behinderungen und ihre Auswirkungen auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens beschrieben, die pflegebegru¨ndenden Diagnosen festgelegt und ggf. Screening und Assessment zur Feststellung der eingeschra¨nkten Alltagskompetenz angeschlossen. In den Punkten 4–5 erfolgen die Festlegung des Hilfebedarfs und die Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit sowie die Angabe der Pflegestufe. Die Punkte 6–8 sind Empfehlungen vorbehalten. Im Erhebungsabschnitt (derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation und pflegerelevante Vorgeschichte) werden zuna¨chst Angaben aus der Sicht des Antragstellers, der Angeho¨rigen, der Pflegeperson und / oder der zusta¨ndigen Pflegefachkraft sowie Fremdbefunde dokumentiert. Sodann erhebt der Gutachter eigene Befunde (Krankheiten bzw. Behinderungen und ihre Auswirkungen auf die Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens). Aus der Bewertung von erhaltenen Informationen und selbst erhobenen Befunden leitet er den individuellen Hilfebedarf nach Form, Ha¨ufigkeit und zeitlichem Umfang ab. Im Anschluss wird das Ergebnis der Pru¨fung mitgeteilt mit Aussagen ¢ zum Vorliegen der Voraussetzungen fu¨r Pflegebedu¨rftigkeit und Beginn, ¢ zur Pflegestufe, ¢ zum Vorliegen einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz, deren Abstufung und Zeitpunkt des Eintritts, ¢ zum Umfang der Pflegeta¨tigkeit der jeweiligen Pflegeperson(en). Im Empfehlungsteil des Pflegegutachtens werden im Sinne einer sozialmedizinischen Stellungnahme auf der Grundlage erkannter Probleme Aussagen ¢ zu sinnvollen pra¨ventiven und therapeutischen Maßnahmen, ¢ zum Vorliegen einer Rehabilitationsindikation
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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¢ zu notwendigen Hilfs- / Pflegehilfsmitteln und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen ¢ zur Verbesserung / Vera¨nderung der Pflegesituation getroffen. Das Gutachten schließt mit allgemeinen Empfehlungen und Erla¨uterungen fu¨r die Pflegekasse und einer Aussage zur Prognose u¨ber die weitere Entwicklung der Pflegebedu¨rftigkeit und zur Notwendigkeit sowie zum Zeitpunkt der Wiederholungsbegutachtung ab. Die Strukturierung der Begutachtung soll nun im Folgenden am Aufbau des „Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ erla¨utert werden. Die erste Seite entha¨lt Angaben zum Antragsteller, zur Untersuchung und zur beantragten Leistung. 1 Derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation 1.1 ¥rztliche / Medikamento¨se Versorgung Erhoben werden u. a. Angaben ¢ zur Frequenz der haus- und facha¨rztlichen Haus- und / oder Praxisbesuche, ¢ zur medizinischen Notwendigkeit der Begleitung des Versicherten durch die Pflegenden zu Arztbesuchen, ¢ zur aktuellen medikamento¨sen Therapie und zu Besonderheiten bei ihrer Verabreichung, ggf. durch Fremdhilfe. Die Angaben zu diesem Punkt sind insofern von entscheidender Bedeutung, da im Verlauf der Begutachtung zu pru¨fen ist, ob die a¨rztliche Betreuung und ggf. medizinische Versorgung ausreichend ist bzw. welche Maßnahmen der Pflegekasse zu empfehlen sind, damit diese sichergestellt werden kann. 1.2 Verordnete Heilmittel Zu diesem Punkt sind ebenfalls die Ha¨ufigkeit a¨rztlich verordneter Heilmittel (physikalische Therapien, Ergotherapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, podologische Therapie) zu erheben. Es ist zu beurteilen, inwieweit der Versicherte in der Lage ist, diese selbsta¨ndig bzw. mit Fremdhilfe wahrzunehmen. Mo¨gliche Auswirkungen auf den Hilfebedarf lassen sich hieraus im Hinblick auf Wege- und Wartezeiten ableiten. 1.3 Hilfsmittel / Nutzung Alle vorhandenen Pflege-/Hilfsmittel einschließlich der technischen Hilfen und Verbrauchsgu¨ter sind anzugeben. Es ist darzustellen, ob der Antragsteller durch Hilfsmittel in die Lage versetzt wird, Verrichtungen ganz oder teilweise selbsta¨ndig durchzufu¨hren. 1.4 Umfang der pflegerischen Versorgung und Betreuung Differenziert nach ha¨uslicher Krankenpflege gema¨ß § 37 SGB V, der Pflege durch Angeho¨rige/Bekannte, der Pflege durch ambulante Pflegeeinrichtungen bzw. der Pflege durch stationa¨re Pflegeeinrichtungen sind alle Pflege- und Betreuungsleistungen nach Angaben der Betroffenen zu dokumentieren. Es ist auch anzugeben, ob eine Betreuung in tagesstrukturierenden Einrichtungen erfolgt. Fu¨r die Pru¨fung der rentenrechtlichen Voraussetzungen seitens der Pflegekasse ist die Selbsteinscha¨tzung des zeitlichen Pflegeaufwandes der einzelnen Pflegeper-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
sonen in Stunden pro Woche zu erheben. Die wo¨chentlichen Pflegezeiten sind wie folgt zu verschlu¨sseln: 1 2 3 4
= = = =
Pflegezeit Pflegezeit Pflegezeit Pflegezeit
unter 14 Stunden, 14 bis unter 21 Stunden, 21 bis unter 28 Stunden, 28 Stunden und mehr.
2 Pflegerelevante Vorgeschichte und Befunde Das Pflegegutachten ist hinsichtlich seiner Aussagekraft ein eigensta¨ndiges Dokument. Die fu¨r die Pflegebegutachtung entscheidenden Fakten aus der Anamnese, den medizinischen Berichte, den Pflegedokumentationen und der Befunderhebung mu¨ssen daher angemessen dokumentiert werden. Bei Folgebegutachtungen sind die wesentlichen Angaben des Vorgutachtens zusammenzufassen und durch eine ausfu¨hrliche Zwischenanamnese zu erga¨nzen, dabei ist insbesondere darzulegen, worauf Vera¨nderungen im Hilfebedarf zuru¨ckgefu¨hrt werden. 2.1 Pflegerelevante Aspekte der ambulanten Wohnsituation Eine aussagekra¨ftige Beschreibung des Wohnumfeldes ist erforderlich, da dieses den Hilfebedarf sowohl hinsichtlich der Grundpflege als auch der hauswirtschaftlichen Versorgung beeinflussen kann. Insbesondere ist anzugeben, ob der Antragsteller allein bzw. in Gemeinschaft mit anderen Personen lebt. Der Umfang der Darstellung der Wohnsituation kann sich an den offensichtlichen Aktivita¨tseinschra¨nkungen orientieren. Obligat sind Angaben zu: Art und Lage der Wohnung (z. B. Einfamilienhaus, 3-Zimmerwohnung im 2. Stockwerk), Lage von Bad / Toilette / benutzte Ra¨ume (z. B. nur u¨ber Treppen erreichbar). Befund- bzw. situationsbezogene Erschwernisse, wie Ausstattung des Bettes, Schwellen, Tu¨rbreiten, beengte ra¨umliche Verha¨ltnisse, Erreichbarkeit von Lichtschaltern, lose Teppiche, Heizungsanlage, Fahrstuhl, sind zu beschreiben. 2.2 Fremdbefunde Im Falle professioneller Pflege bildet die Einsichtnahme in die Pflegedokumentation fu¨r den Gutachter eine wichtige Informationsquelle. Neben a¨rztlichen Berichten stellen insbesondere die Berichte von Rehabilitationseinrichtungen und die Entwicklungsberichte fu¨r behinderte Kinder und Jugendliche aussagekra¨ftige Dokumente dar. 2.3 Pflegerelevante Vorgeschichte (Anamnese) Der Verlauf der pflegebegru¨ndenden Krankheiten und Behinderungen soll im ¢berblick geschildert werden. Erkrankungen, die sich nicht auf den Hilfebedarf auswirken, sollen entsprechend ihrer Bedeutung fu¨r die Gesamteinscha¨tzung der Situation und eventueller Rehabilitationsmo¨glichkeiten dargestellt werden. Nach bereits erfolgten Rehabilitationsmaßnahmen und ihrem Erfolg aus Sicht des Betroffenen sowie nach den wesentlichen aktuellen Probleme in der Selbstversorgung ist zu fragen. Bei Kindern ist darzulegen, seit wann der Hilfebedarf das altersu¨bliche Maß u¨bersteigt, denn nicht bei jeder Erkrankung oder Behinderung im Kindesalter ist der Hilfebedarf bereits mit Erkrankungsbeginn erho¨ht.
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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3 Gutachterlicher Befund 3.1 Allgemeinzustand / Befund Die Schilderung des ersten Eindrucks wird erga¨nzt durch entsprechende Angaben zu Allgemeinzustand, Bewusstseinslage, Ko¨rpergro¨ße, Ko¨rpergewicht und Kra¨fteverfassung des Patienten. Anhand der Untersuchung zum Erna¨hrungs- und Pflegezustand sowie des Verhaltens des Versicherten bei der Kontaktaufnahme ko¨nnen bereits zu Beginn der Begutachtung wichtige Informationen gewonnen werden. Hier sind auch eventuell freiheitseinschra¨nkende Maßnahmen zu beschreiben, die der Gutachter feststellt. 3.2 Beschreibung von Scha¨digungen / Beeintra¨chtigungen, der Aktivita¨ten in Bezug auf Stu¨tz- und Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane, Nervensystem und Psyche In Abha¨ngigkeit von den geklagten Beschwerden, von den Angaben zum Hilfebedarf und vom Allgemeinzustand des Antragstellers ist vom Gutachter der notwendige Untersuchungsumfang bei der Erhebung der speziellen ko¨rperlichen Befunde einzuscha¨tzen. Der Gutachter muss sich von den Scha¨digungen, Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und den vorhandenen Ressourcen selbst ein Bild machen. Eine Untersuchung ist nur in dem Umfang erforderlich, wie sie fu¨r die Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit notwendig ist. Eine Scha¨digung ist charakterisiert durch einen beliebigen Verlust oder eine Normabweichung in der psychischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion. Sie ist unabha¨ngig von der ¥tiologie und umfasst die Existenz oder das Auftreten einer Anomalie, eines Defektes oder Verlustes eines Gliedes, Organs, Gewebes oder einer anderen Ko¨rperstruktur, auch eines Defektes in einem funktionellen System oder Mechanismus des Ko¨rpers einschließlich des Systems der geistigen Funktionen. Scha¨digungen am Stu¨tz- und Bewegungsapparat sind z. B. ¢ Verlust von Gliedmaßen / Kontrakturen / Gelenkfehlstellungen/Paresen (schlaff/ spastisch), ¢ Bewegungssto¨rungen wie z. B. Athetosen/Akinesien/Gleichgewichtssto¨rungen / Sensibilita¨tssto¨rungen / Tremor. Scha¨digungen an den Inneren Organen sind z. B. ¢ Scha¨digung der Herzkreislauf- und Atmungsfunktion (z. B. Zyanose / Luftnot in Ruhe oder unter Belastung / Oedeme/Herzrhythmussto¨rungen / Brustschmerz / Husten/Auswurf), ¢ Scha¨digung der Magen-Darm-Funktion (z. B. ¢belkeit/Erbrechen / Verstopfung / Durchfall / Stuhlinkontinenz / Schlucksto¨rungen / Sto¨rungen der Nahrungsverwertung), ¢ Scha¨digung der Harnausscheidungsfunktion (z. B. Miktionsto¨rung / Inkontinenz). Eine große Bedeutung erha¨lt die sorgfa¨ltige Befundbeschreibung eventuell vorliegender Druckgeschwu¨re (Dekubitalulzera), z. B. als Indikator fu¨r die Qualita¨t und Sicherstellung der Pflege. Im Empfehlungsteil des Gutachtens sind ggf. zur Entstehung und Behandlung Aussagen zu treffen.
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Scha¨digungen an den Sinnesorganen sind z. B. Sehkraftminderung / Blindheit oder Schwerho¨rigkeit / Taubheit. Neurologische Scha¨digungen sind z. B. Bewegungssto¨rungen, Tremor, Paresen sowie Vera¨nderungen der Stamm- und Extremita¨tenmuskulatur. Daneben sollte der Gutachter aber auch beurteilen, ob Sto¨rungen wie z. B. Aphasie, Apraxie, Agnosie oder Neglect vorliegen. Grundlage der Beschreibung der Scha¨digungen bildet der psychopathologische Befund, ggf. erga¨nzt durch Elemente aus psychometrischen Testverfahren (z. B. MMSE, FTDD, DemTect). Psychische Scha¨digungen a¨ußern sich z. B. in Sto¨rungen des Bewusstseins, der Perzeption und Aufmerksamkeit, des Erinnerungsvermo¨gens, der emotionalen Funktion und Willensfunktion oder der Intelligenz und des Denkens. Eine Beeintra¨chtigung der Aktivita¨ten ist Folge einer Scha¨digung und stellt jede Einschra¨nkung oder jeden Verlust der Fa¨higkeit, Aktivita¨ten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszufu¨hren, die fu¨r einen Menschen als normal angesehen werden kann, dar. Sie betrifft komplexe oder integrierte Aktivita¨ten, wie sie von einer Person oder dem Ko¨rper als Ganzem erwartet werden und wie sie sich als Aufgabe, Fa¨higkeit und Verhaltensweise darstellt. Die Beeintra¨chtigung der Aktivita¨ten stellt eine Normabweichung dar, die sich in der Leistung der Person, im Gegensatz zu der des Organs oder des Organismus, ausdru¨ckt. Ressourcen sind vorhandene Fa¨higkeiten, Kra¨fte und Mo¨glichkeiten, die einem kranken, behinderten oder alten Menschen helfen, sein Leben und seine Krankheit oder Behinderung zu bewa¨ltigen. Ressourcen sollen bei der Pflege erkannt und gefo¨rdert werden, um die Selbsta¨ndigkeit so lange und so weit wie mo¨glich zu erhalten. Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Ressourcen beziehen sich immer auf den ganzen Menschen. Durch eine genaue Befunderhebung sind die sich aus den Scha¨digungen ergebenden Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Ressourcen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Verrichtungen des ta¨glichen Lebens aufzuzeigen. Es ist zu pru¨fen, inwieweit der Antragsteller selber Angaben machen kann, ob er sich in seiner Wohnung zurechtfindet, ob er Aufforderungen erfassen und umsetzen kann. Hilfreich ist es, den Antragsteller den Tagesablauf schildern zu lassen und sich einzelne alltagrelevante Verrichtungen exemplarisch demonstrieren zu lassen. Im Rahmen der Begutachtung im ambulanten Bereich sollte der Gutachter gemeinsam mit dem zu untersuchenden Antragsteller alle Ra¨ume aufsuchen, in denen regelma¨ßig grundpflegerische Verrichtungen durchgefu¨hrt werden. Die in diesem Zusammenhang festgestellten Ressourcen sind ebenso zu dokumentieren. Bei Folgebegutachtungen mu¨ssen diese Befunde die Beurteilung des Erfolgs von Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen ermo¨glichen. Falls sich hieraus ein vera¨nderter Hilfebedarf ergibt, dienen diese Befunde als Beleg fu¨r die Begru¨ndung einer vera¨nderten Pflegeeinstufung. Aus diesem Vorgehen ergibt sich fu¨r den Gutachter ein positives / negatives Leistungsbild des Antragstellers hinsichtlich dessen Hilfebedarfs, der unter Punkt 4 nach Art und Umfang zu bewerten ist. Bei Vorliegen von demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung muss das Screening- und ggf. Assessment-Verfahren durchgefu¨hrt werden (siehe Kapitel 5.7 und 5.9).
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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3.3 Pflegebegru¨ndende Diagnose(n) Die fu¨r die Pflegebedu¨rftigkeit relevanten Diagnosen sind in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit fu¨r die Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Teilhabe unter Angabe der resultierenden Funktionssto¨rung aufzufu¨hren und nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) zu verschlu¨sseln. Daru¨ber hinaus sind diejenigen klinischen Diagnosen zu erwa¨hnen, die fu¨r eventuell notwendige Maßnahmen gema¨ß der Empfehlungen unter Punkt 6 des Gutachtenformulars bedeutsam sind. 4 Pflegebedu¨rftigkeit Im Gutachtenformular wird die Grundpflege entsprechend dem § 14 SGB XI in folgende Bereiche unterteilt: ¢ Ko¨rperpflege ¢ Erna¨hrung ¢ Mobilita¨t In tabellarischer Form wird der Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege strukturiert erfasst bezu¨glich: ¢ des Vorhandenseins des Hilfebedarfs ¢ der Form der Hilfe differenziert nach den Kriterien Unterstu¨tzung, teilweise ¢bernahme, vollsta¨ndige ¢bernahme, Beaufsichtigung und Anleitung ¢ der Ha¨ufigkeit, pro Tag bzw. Woche ¢ des daraus resultierenden Zeitaufwands in Minuten pro Tag Dabei sind die Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung fu¨r die Verrichtungen der Grundpflege bei vollsta¨ndiger ¢bernahme zugrunde zu legen. Fu¨r die Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit ist zwar allein der im Einzelfall bestehende individuelle Hilfebedarf des Versicherten maßgeblich. Zur Vereinheitlichung wurden fu¨r die im SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege die Zeitorientierungswerte in den Begutachtungs-Richtlinien festgesetzt. Sie sind keine verbindlichen Vorgaben, sondern haben Leitfunktion. Der Gutachter ist daher nicht davon entbunden, bei jedem Antragsteller den individuellen Zeitaufwand festzustellen. Insbesondere sind Abweichungen durch die Pflege erschwerende oder erleichternde Faktoren zu beru¨cksichtigen. Bei der Festsetzung der Zeitorientierungswerte wurde eine vollsta¨ndige ¢bernahme der jeweiligen Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft zugrunde gelegt. So ko¨nnen z. B. Maßnahmen im Sinne einer aktivierenden Pflege einen deutlich ho¨heren Zeitaufwand erfordern als die teilweise oder vollsta¨ndige ¢bernahme der jeweiligen Verrichtung durch die pflegende Person. Abweichungen von den Zeitorientierungswerten oder außergewo¨hnlich hohe Frequenzen einzelner Pflegeverrichtungen bedu¨rfen der Erla¨uterung. Die Vor- und Nachbereitung zu den Verrichtungen ist als Hilfeleistung im Sinne des SGB XI bei den Zeitorientierungswerten bereits beru¨cksichtigt. Die Pflege erschwerende oder erleichternde Faktoren sind aufzufu¨hren und bei den Verrichtungen entsprechend zu beru¨cksichtigen. Als Auszug aus den Begutachtungs-Richtlinien seien beispielhaft aufgefu¨hrt:
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Pflege erschwerende Faktoren: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
hohes Ko¨rpergewicht Kontrakturen / Einsteifung großer Gelenke hochgradige Spastik Erforderlichkeit der mechanischen Harnlo¨sung oder der digitalen Enddarmentleerung Schlucksto¨rungen / Sto¨rungen der Mundmotorik Atemsto¨rungen Abwehrverhalten/fehlende Kooperation mit Behinderung der ¢bernahme (z. B. bei geistigen Behinderungen/psychischen Erkrankungen) pflegebehindernde ra¨umliche Verha¨ltnisse, die durch wohnumfeldverbessernde Maßnahmen nicht zu beheben sind zeitaufwendiger Hilfsmitteleinsatz (z. B. bei fahrbaren Liftern, Decken-, WandLiftern) verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen
Pflege erleichternde Faktoren: ¢ pflegeerleichternde ra¨umliche Verha¨ltnisse ¢ Hilfsmitteleinsatz Auch verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind als Erschwernisfaktoren zu werten, wenn sie bei bestehendem Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege nach § 14 Abs. 4 SGB XI zusa¨tzlich notwendig sind. Der Zeitaufwand fu¨r die Grundpflege einschließlich verrichtungsbezogene(r) krankheitsspezifische(r) Pflegemaßnahmen ist als Summenwert fu¨r die jeweilige(n) Verrichtung zu erfassen. Im Rahmen der Feststellung des na¨chtlichen Hilfebedarfs bei der Grundpflege sind diejenigen Verrichtungen der Grundpflege zu dokumentieren, bei denen nachts, das heißt zwischen 22.00 und 06.00 Uhr, Hilfe erforderlich ist. Der Gutachter hat die Angaben des Versicherten bzw. der pflegenden Person auf Plausibilita¨t zu pru¨fen. Bei Feststellung der Pflegestufe III in vollstationa¨rer Pflege ist auch der Umfang der regelma¨ßig und auf Dauer anfallenden behandlungspflegerischen Maßnahmen zu pru¨fen, der bei der Ermittlung des Zeitaufwandes zur Feststellung eines außergewo¨hnlich hohen Pflegeaufwandes mitberu¨cksichtigt werden kann. Auch der Hilfebedarf, der sich aus den Einschra¨nkungen bei den einzelnen Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung ergibt, ist zu ermitteln. Er ist bezu¨glich seines Vorhandenseins und seiner Ha¨ufigkeit wo¨chentlich unter Angabe von Hinweisen oder Bemerkungen anzugeben. Es ist der tatsa¨chlich anfallende individuelle Hilfebedarf zu bewerten und der Zeitaufwand in Stunden pro Woche abzuscha¨tzen. Besonderheiten der Feststellung des Hilfebedarfs und Beispiele bei einigen Verrichtungen Maßstab fu¨r die Feststellung des Hilfebedarfs sind die Fa¨higkeiten zur Ausu¨bung der Verrichtungen und nicht Art oder Schwere vorliegender Erkrankungen oder Scha¨digungen. Entscheidungen in einem anderen Sozialbereich u¨ber das Vorliegen einer
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Behinderung (z. B. GdB) haben keine bindende Wirkung fu¨r die Feststellung des Hilfebedarfs und die sich daraus ergebende Pflegebedu¨rftigkeit. Angaben des Antragstellers und der Pflegeperson(en) zur Pflegesituation werden durch den Gutachter aufgenommen. Widerspru¨che in den Angaben machen eine differenzierte Befragung erforderlich. Getrennte Befragungen ko¨nnen sinnvoll sein. Die Beziehung von Krankheit / Behinderung zu feststellbaren Beeintra¨chtigungen und zum Hilfebedarf ist in der Regel wenig problematisch. Die Ermittlung kann im Einzelfall schwierig sein, wenn sich der Hilfebedarf nicht direkt beobachten la¨sst z. B. bei na¨chtlicher Hilfe wegen Unruhezusta¨nden. Teilweise kann sich der Gutachter den Ablauf von Verrichtungen aus ethischen Gru¨nden nicht demonstrieren lassen. Bei Pflegebedu¨rftigen mit zerebralen Abbauprozessen bestehen ha¨ufig Dissimulationstendenzen. Aus Schamhaftigkeit oder Fehleinscha¨tzung werden Defizite nicht zugegeben. Stellungnahmen von Hausa¨rzten oder Krankenhausberichte geben in der Regel nur geringe Hinweise auf den konkreten Hilfebedarf bei den gesetzlich definierten Verrichtungen. Krankenhausberichte sind zumeist sehr diagnosebezogen. Bei Stellungnahmen von Hausa¨rzten fa¨llt auf, dass der Rollenwechsel vom Behandler zum objektiven Sachversta¨ndigen manchen behandelnden ¥rzten schwerfa¨llt. Auch ko¨nnen Interessenkollisionen auftreten. Der Hausarzt sollte in seinem Attest objektive Befunde angeben und Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten beschreiben, sich aber nicht auf eine Pflegestufe festlegen. Die Ermittlung des Zeitaufwandes Bei der Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit ist die sachversta¨ndige Scha¨tzung des Zeitaufwandes fu¨r die notwendigen Pflegeleistungen bei den definierten Verrichtungen von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist der Zeitaufwand zugrunde zu legen, den eine durchschnittliche nicht als Pflegefachkraft ausgebildete Laienpflegeperson beno¨tigen wu¨rde. Die Individualita¨t der Pflegeperson darf keine Beru¨cksichtigung finden. Da eine Vielzahl von Variablen zu bedenken ist, kann es sich bei der Festlegung des Zeitaufwandes nur um eine Abscha¨tzung handeln. Wissenschaftlich abgesicherte Standards fu¨r Pflegezeiten existieren nicht. Pflege durch Laien muss auch gegenu¨ber der professionellen Pflege nicht verla¨ngert sein. Viele Pflegezeiten (z. B. beim Essen) sind eher von der Kooperation des Pflegebedu¨rftigen und den Behinderungen (z. B. Schlucksto¨rung) abha¨ngig, als von der Person die pflegt. Im Jahr 1997 wurden zur Vereinheitlichung der Begutachtungen „Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung“ in die Begutachtungs-Richtlinien aufgenommen. Durch das Bundesministerium fu¨r Arbeit (BMA) wurden zwei Studien zur Evaluation der Orientierungswerte fu¨r die Pflegezeitbemessung in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse haben gezeigt, dass in der ha¨uslichen Pflege eine u¨beraus große Variabilita¨t der Zeitdauer gleich benannter Handlungen zu finden ist. Sie haben daru¨ber hinaus gezeigt, dass es wenige systematische Einflussfaktoren auf die Variabilita¨t gibt. Es lassen sich weder eindeutige haushaltsspezifische, noch von der Pflegeperson abha¨ngige Einflu¨sse auf die Zeiten klar identifizieren. Auch innerhalb des Haushalts sind die Zeiten bei gleichen Pflegehandlungen unterschiedlich lang. Die Zeitdauer ist also nicht nur von Haushalt zu Haushalt, sondern auch von Situation zu Situation unterschiedlich [MDS 2002].
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Die Ha¨ufigkeit der Verrichtungen ist neben der Pflegezeit je Verrichtung ein entscheidendes Merkmal fu¨r den Hilfeumfang. Es gibt keine allgemein gu¨ltigen Standards daru¨ber, wie ha¨ufig man sich am Tage wa¨scht, ka¨mmt oder Mahlzeiten zu sich nimmt bzw. die Toilette aufsucht. Nach den Begutachtungs-Richtlinien sind die Ha¨ufigkeiten fu¨r die Verrichtungen abha¨ngig von individuellen Lebensgewohnheiten und Mindesthygieneanforderungen. Der Gutachter hat sich nach allgemeiner Lebenserfahrung sowie kulturell bedingten und letztlich gesellschaftlich akzeptierten Normen zu richten, die die mo¨gliche Bandbreite der beru¨cksichtigungsfa¨higen Anzahl der einzelnen ta¨glichen Verrichtungen eingrenzen. 4.1 Ko¨rperpflege Beim Waschen / Duschen / Baden sind Vor- und Nachbereitungszeiten sowie die Hautpflege als integraler Bestandteil mit zu beru¨cksichtigen. Das ta¨gliche Pflegebad wegen einer Hauterkrankung ist ebenso wie die anschließend notwendige Hautbehandlung zu beru¨cksichtigen, da die Durchfu¨hrung dieser krankheitsspezifischen Pflegemaßnahme objektiv notwendig im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Verrichtung vorgenommen werden muss. Das Haarewaschen ist als Bestandteil einer Ganzko¨rperwa¨sche, des Duschens oder des Badens zu beru¨cksichtigen, auch wenn es nicht ta¨glich erfolgt. Die Zahnpflege umfasst die Vorbereitung und Durchfu¨hrung der Reinigung der gesamten Mundho¨hle und ggf. des Zahnersatzes. Maßnahmen zur Fo¨rderung der Darmentleerung sowie die Stomaversorgung sind bei der Hilfebedarfsbemessung unter dem Punkt Darmentleerung ebenso zu beru¨cksichtigen wie die Einmalkatheterisierung unter dem Punkt Blasenentleerung. 4.2 Erna¨hrung Alle Hilfestellungen bei der Nahrungsaufnahme einschließlich notwendiger Aufforderungen zur bedarfsgerechten Aufnahme der Nahrung in fester, breiiger und flu¨ssiger Form (Essen und Trinken), die eine ¢berwachung und/oder Erledigungskontrolle erfordern, sind beim Hilfebedarf zu beru¨cksichtigen, wenn der Antragsteller aufgrund fehlender Einsichtsfa¨higkeit dazu nicht in der Lage ist. Die Vorbereitungen der Mahlzeiten sind nicht der Erna¨hrung zuzuordnen, sie sind Teil des Bereiches der hauswirtschaftlichen Versorgung wie das Zubereiten von Dia¨ten, einschließlich des anhand der Dia¨tvorschriften vorzunehmenden Messens und Zuteilens der zubereiteten Nahrung. Das Zubereiten belegter Brote geho¨rt somit auch nicht zur mundgerechten Zubereitung sondern zur Hauswirtschaft. Beaufsichtigung bei u¨berma¨ßiger Nahrungsaufnahme ist ebenfalls nicht zu beru¨cksichtigen. Die regelma¨ßigen Insulingaben sowie die Blutzuckermessungen sind Bestandteil der Behandlungspflege. Die erforderliche mundgerechte Zubereitung der Nahrung ist anrechnungsfa¨hig. Sie ist auf jene Maßnahmen beschra¨nkt, die der essfertigen Zubereitung nachfolgen und den Zweck haben, die zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass der Pflegebedu¨rftige sie greifen, zum Mund fu¨hren, zerkauen und schlucken kann. 4.3 Mobilita¨t Hilfestellung beim selbsta¨ndigen Aufstehen und Zubettgeben umfasst auch die eigensta¨ndige Entscheidung zeitgerecht das Bett aufzusuchen bzw. zu verlassen. Ebenso sind Lagerungsmaßnahmen oder das Wiederzubettbringen orientierungs-
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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loser Menschen beru¨cksichtigungsfa¨hig. Wenn es erforderlich ist, die Kleidung bereitzulegen, z. B. aufgrund geistiger Behinderung oder Blindheit, ist dieses als Unterstu¨tzung zu beru¨cksichtigen. An- und Auskleiden im Zusammenhang mit einer Erwerbsta¨tigkeit ist nicht einzubeziehen. Das Gehen, Stehen und Treppensteigen ist nur innerhalb der Wohnung im Zusammenhang mit den definierten Verrichtungen dem Hilfebedarf nach SGB XI zuzuordnen. In stationa¨ren Einrichtungen kann das Treppensteigen allerdings nicht gewertet werden, da sich die Bedarfsfeststellung an einer „durchschnittlichen ha¨uslichen Wohnsituation“ orientiert. Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nur im Zusammenhang mit Maßnahmen beru¨cksichtigt werden, die unmittelbar fu¨r die Aufrechterhaltung der Lebensfu¨hrung zu Hause notwendig sind und das perso¨nliche Erscheinen erfordern, wie z. B. bei Maßnahmen der medizinischen Versorgung. Voraussetzung, das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung anrechnen zu ko¨nnen, ist, dass solche Maßnahmen in der Gesamtheit regelma¨ßig (mindestens einmal wo¨chentlich) und auf Dauer (mindestens fu¨r 6 Monate) anfallen und aus physischen und psychischen Gru¨nden personelle Hilfe notwendig ist. Wenn ein Beaufsichtigungsbedarf besteht sind neben den Fahrzeiten auch die zwangsla¨ufig anfallenden Warte- und Begleitzeiten der Begleitperson anzurechnen, sofern diese durch die Wartezeit zeitlich und o¨rtlich gebunden ist. Wenn ein Hilfe- oder Beaufsichtigungsbedarf besteht ist dieser zu beru¨cksichtigen, unabha¨ngig davon, wer diese Hilfen erbringt bez. ob die Kosten von einem Sozialversicherungstra¨ger getragen werden (z. B. Hilfe beim Treppensteigen, Ein- oder Aussteigen durch den Taxifahrer oder durch das Personal bei Krankenfahrten). 4.4 Hauswirtschaftliche Versorgung Das Einkaufen, auch fu¨r die Beschaffung spezieller Dia¨tnahrungsmittel, ist Bestandteil der hauswirtschaftlichen Versorgung. Hilfe beim Einkaufen wird bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen und nicht beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung beru¨cksichtigt. Das Kochen umfasst den gesamten Vorgang der Nahrungszubereitung. Portionsgerechte Vorgabe bzw. Portionieren ist nicht unter der Grundpflege (mundgerechte Zubereitung der Nahrung) zu subsumieren, sondern unter der Zubereitung von Lebensmitteln im Bereich der Hauswirtschaft. Unter der Hauswirtschaft ist auch das Reinigen der Wohnung, das Spu¨len, das Wechseln und Waschen der Kleidung sowie das Beheizen individuell nach den Gegebenheiten zu beru¨cksichtigen. Es sind dabei nur die Ta¨tigkeiten anzurechnen, die sich auf den Antragsteller selbst beziehen. 5 Ergebnis Der Ergebnisabschnitt des Pflegegutachtens bildet die fu¨r die Pflegekasse relevante Entscheidungsgrundlage zu Art und Umfang der Leistungsgewa¨hrung fu¨r den Pflegebedu¨rftigen und ggf. die Pflegeperson. Es ist unter Punkt 5.1 anzugeben, ob der von den Pflegepersonen unter Punkt 1.4 geltend gemachte zeitliche Pflegeaufwand mit dem gutachterlich festgestellten Zeit-
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aufwand des Hilfebedarfs nach den Maßgaben des SGB XI u¨bereinstimmt. Dabei ist bei mehreren Pflegepersonen eine gutachterliche Bewertung des wo¨chentlichen Pflegeaufwandes fu¨r jede einzelne Pflegeperson vorzunehmen und Unstimmigkeiten zwischen angegebenem und festgestelltem Pflegeaufwand zu kommentieren, sodass die Pflegekasse gema¨ß § 44 SGB XI die leistungsrechtliche Voraussetzung zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen pru¨fen kann. Als zentrales Ergebnis der analysierenden und bewertenden Begutachtung erfolgen unter Punkt 5.2 die Angaben zur Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI. Sind die festgelegten Voraussetzungen erfu¨llt, ist auf der Grundlage der entsprechenden sozialgesetzlichen Kriterien die Pflegestufe I, II oder III und ggf. das Vorliegen eines außergewo¨hnlich hohen Hilfebedarfes anzugeben. Weiterhin ist festzustellen, seit wann Pflegebedu¨rftigkeit vorliegt. Bei nicht eindeutig die Pflegebedu¨rftigkeit auslo¨senden Ereignissen ist eine gutachterlich begru¨ndete Abscha¨tzung des Beginns der festgestellten Pflegestufe notwendig. Die Beurteilung bedarf einer sachversta¨ndigen Begru¨ndung und / oder Erla¨uterung. Die Beantwortung der Frage unter Punkt 5.3, ob Hinweise auf Ursachen der Pflegebedu¨rftigkeit aufgrund eines Unfalls, einer Berufserkrankung oder eines Versorgungsleidens vorliegen, ermo¨glichen es der Pflegekasse, bei einem anderen Leistungstra¨ger Ersatzanspru¨che geltend zu machen. Die Beantwortung der Frage unter Punkt 5.4, ob die ha¨usliche Pflege in geeigneter Weise sichergestellt sei, ist von nicht zu unterscha¨tzender Bedeutung. Bei der begru¨ndeten Feststellung eines Defizits der ha¨uslichen Pflege hat sich der Gutachter an Folgendem zu orientieren: ¢ ¢ ¢ ¢
der Situation des Pflegebedu¨rftigen den Belastungen und der Belastbarkeit der Pflegeperson dem sozialen Umfeld der konkreten Pflegesituation der Wohnsituation einschließlich mo¨glicher Wohnumfeldverbesserungen des Antragstellers
Der Gutachter hat zu bedenken, dass er bei der Begutachtung des Antragstellers unter Beru¨cksichtigung der Qualita¨t der ha¨uslichen Pflege die familia¨ren Verha¨ltnisse einer tiefgreifenden Bewertung unterzieht. Er darf jedoch trotz der gesetzlich verbrieften Bedeutung der ha¨uslichen Pflege das Wohl des Pflegebedu¨rftigen nicht aus den Augen verlieren. Ist dies nach den oben dargestellten Kriterien durch die ha¨usliche Pflege nicht in geeigneter Weise sichergestellt, kann der Gutachter durch Angabe entsprechender Empfehlungen der Pflegekasse Hinweise geben, durch geeignete Maßnahmen Abhilfe zu leisten. Solche Maßnahmen sind z. B. das Angebot von Pflegekursen fu¨r Pflegende, der Hinweis auf erga¨nzende Hilfen oder die Unterstu¨tzung der Laienpflege durch professionelle Pflege (Kombinations- / Sachleistung). Daraus ergibt sich, dass die gutachterlichen Empfehlungen weitreichende Konsequenzen fu¨r den Pflegebedu¨rftigen in Form eines Entzugs der gewohnten Geldleistung und fu¨r die Pflegeperson in Form versagter Rentenversicherungsanspru¨che haben ko¨nnen. Die Beantwortung der Frage unter Punkt 5.5 nach der Erfordernis der vollstationa¨ren Pflege ist nur dann zu pru¨fen und dezidiert zu begru¨nden, wenn ein Antrag auf vollstationa¨re Pflegeleistung gestellt wurde und Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des
5.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit
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SGB XI vorliegt. Sind die Mo¨glichkeiten der ambulanten Pflege, der teilstationa¨ren oder Kurzzeitpflege erscho¨pft, kann vollstationa¨re Pflege nach den BegutachtungsRichtlinien insbesondere erforderlich sein bei: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Fehlen einer Pflegeperson fehlender Pflegebereitschaft mo¨glicher Pflegepersonen drohender oder bereits eingetretener ¢berforderung von Pflegepersonen drohender oder bereits eingetretener Verwahrlosung des Pflegebedu¨rftigen Eigen- und Fremdgefa¨hrdungstendenzen des Pflegebedu¨rftigen ra¨umlichen Gegebenheiten im ha¨uslichen Bereich, die keine ha¨usliche Pflege ermo¨glichen und durch Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes nicht verbessert werden ko¨nnen.
Die Pru¨fung der Notwendigkeit kann entfallen bei: ¢ Vorliegen von Schwerstpflegebedu¨rftigkeit (Pflegestufe III) ¢ Versicherten, die bereits vor dem 01. 04. 1996 in einer vollstationa¨ren Pflegeeinrichtung lebten. Besonderheiten bei der Begutachtung in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen Fu¨r die Begutachtung von Versicherten in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen gelten im Wesentlichen die fu¨r die Begutachtung in der Privatwohnung ausgefu¨hrten Grundsa¨tze. Auch hier sollen die Informationen durch Angeho¨rige und Pflegende ggf. Betreuer beru¨cksichtigt und die Angaben in der Pflegedokumentation gewu¨rdigt werden. Besonders zu beachten ist jedoch, dass nicht die tatsa¨chlichen ra¨umlichen Gegebenheiten in der Pflegeeinrichtung Grundlage der gutachterlichen Hilfebedarfsermittlung sind, sondern die „durchschnittliche ha¨usliche Wohnsituation“ als fiktiver Maßstab zugrunde zu legen ist (siehe Kapitel 5.1). 6 Empfehlungen an die Pflegekasse/individueller Pflegeplan Pflegebedu¨rftigkeit ist regelma¨ßig kein unvera¨nderbarer Zustand, sondern ein Prozess, der durch aktivierende Pflege, Maßnahmen der Krankenbehandlung, Leistungen mit pra¨ventiver und rehabilitativer Zielsetzung oder durch medizinische Rehabilitation beeinflussbar ist. Hier hat der Gutachter unter Wu¨rdigung der Ergebnisse der Pflegebegutachtung fu¨r den ha¨uslichen und stationa¨ren Bereich in den Punkten 6.1 bis 6.4 Stellung zu nehmen, ob u¨ber die derzeitige Versorgungssituation hinaus pra¨ventive Maßnahmen, Heilmittel als Einzelleistungen oder eine Leistung der medizinischen Rehabilitation oder sonstige Therapien erforderlich sind. (siehe Kapitel 6) 6.5 Hilfsmittel- / Pflegehilfsmittelversorgung In jedem Einzelfall ist die Mo¨glichkeit der Verbesserung der Versorgung zu pru¨fen. Ausgehend von der derzeitigen Versorgung sind differenzierte Empfehlungen abzugeben. Die leistungsrechtliche Abgrenzung, ob es sich bei der vorgeschlagenen Versorgung durch den Gutachter um ein Hilfsmittel nach § 33 SGB V oder um ein Pflegehilfsmittel nach § 40 SGB XI handelt, obliegt der Kranken- bzw. Pflegekasse. Fu¨r die leistungsrechtliche Entscheidung beno¨tigt die Kranken- / Pflegekasse detaillierte
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Angaben, bei welchen Aktivita¨ten und zu welchem Zweck das vorgeschlagene Produkt genutzt werden soll. Es ist darzustellen, in welcher Art und in welchem Umfang der Antragsteller das Produkt selbstbestimmt und selbsta¨ndig nutzen kann oder ob die Nutzung ausschließlich durch die Pflegeperson erfolgen muss. 6.6 Technische Hilfen und bauliche Maßnahmen (Wohnumfeld) Die Pflegekassen ko¨nnen finanzielle Zuschu¨sse fu¨r Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedu¨rftigen gewa¨hren. Beispielsweise fu¨r technische Hilfen im Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die ha¨usliche Pflege ermo¨glicht oder erheblich erleichtert oder eine mo¨glichst selbsta¨ndige Lebensfu¨hrung des Pflegebedu¨rftigen wiederhergestellt wird. Der Gutachter hat hierzu Empfehlungen auszusprechen. Einzelheiten ergeben sich aus dem „Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen und des GKV-Spitzenverbandes zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des PflegeVG vom 15. 07. 2008 zu § 40 Abs. 4 SGB XI“. 6.7 Verbesserung / Vera¨nderung der Pflegesituation Der Gutachter hat konkrete Maßnahmen vorzuschlagen (z. B. hauswirtschaftliche Versorgung, Grundpflege, Behandlungspflege). So ko¨nnen sich Empfehlungen zur Vera¨nderung der pflegerischen Situation des Antragstellers sowohl ¢ auf die organisatorische (z. B. Gestaltung des Tagesablaufes, Essenszeiten, Weckzeiten), ¢ auf die ra¨umliche (z. B. Anordnung des Bettes und der Mo¨bel im Zimmer, lose Teppiche) und ¢ inhaltliche Aspekte bezu¨glich einzelner Pflegeleistungen (z. B. Prinzip der „aktivierenden Pflege“), ¢ aber auch auf bestimmte Personengruppen (z. B. altersverwirrte, hemiplegische, inkontinente Menschen) beziehen. Dabei ist den individuellen Wu¨nschen der Antragsteller Rechnung zu tragen. Liegt eine ¢berforderungssituation der Pflegeperson oder -personen vor oder droht diese, sind Vorschla¨ge zur Entlastung zu machen (z. B. Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, vollstationa¨re Pflege, Pflegekurs). Liegen Hinweise auf eine defizita¨re Pflege vor, sind diese darzustellen und geeignete Maßnahmen zu empfehlen. Werden „freiheitseinschra¨nkende“ Maßnahmen notwendig, so erwachsen daraus besondere Sorgfaltspflichten (z. B. aufgrund erho¨htem Dekubitusrisiko, Aspirations- und Verletzungsgefahr). In jedem Fall hat der Gutachter besonders sorgfa¨ltig zu pru¨fen, ob eine defizita¨re Pflegesituation vorliegt bzw. droht, auch wenn – wie im stationa¨ren Bereich erforderlich – eine richterliche Genehmigung vorliegt und ggf. andere geeignetere Maßnahmen zu empfehlen. 7 Zusa¨tzliche Empfehlungen / Erla¨uterungen fu¨r die Pflegekasse In diesem Abschnitt ko¨nnen fu¨r die Situation des Antragstellers relevante Sachverhalte erwa¨hnt werden, die u¨ber die eigentliche, der Begutachtung zugrunde liegende
5.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI
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Fragestellung hinausgehen oder die aufgrund der Systematik an anderer Stelle im Gutachten nicht aufgenommen werden ko¨nnen. 8 Prognose / Wiederholungsbegutachtung Die Begutachtung des Pflegebedu¨rftigen ist in angemessenen Absta¨nden zu wiederholen. Dem Gutachter kommt die wichtige Aufgabe zu, die weitere Entwicklung der Hilfebedu¨rftigkeit auf Grundlage der festgestellten Erkrankungen und Behinderungen prognostisch einzuscha¨tzen und daraus Notwendigkeit und Termin fu¨r eine Wiederholungsuntersuchung abzuleiten.
5.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit umfasst nach § 18 SGB XI den gesamten Verwaltungsakt 1. von der Antragstellung des Versicherten bei der Pflegekasse 2. und der Weiterleitung des Antrags zur Beauftragung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung 3. u¨ber seine Pru¨fung der Leistungsvoraussetzungen 4. und mittels seiner Stellungnahme die ¢bermittlung der Ergebnisse und Empfehlungen an die Pflegekasse 5. bis hin zur Entscheidung u¨ber den Antrag seitens der Pflegekasse unter maßgeblicher Beru¨cksichtigung des Gutachtens des MDK 6. und Mitteilung ihrer Leistungsentscheidung an den Versicherten (rechtsmittelfa¨higer Bescheid). Ein solcher Verwaltungsakt wird fu¨r die Beteiligten bindend, wenn nicht erfolgreich dagegen Rechtsbehelf eingelegt wird. Fu¨r die fo¨rmlichen Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte gelten, wenn der Sozialrechtsweg gegeben ist, das Sozialgerichtsgesetz (SGG), wenn der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist, die Verwaltungsgerichtsordnung. Rechtsbehelfe sind der Widerspruch und die Klage. Die Begutachtung des Versicherten dient der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit sowie der Feststellung einer mo¨glichen Einschra¨nkung der Alltagskompetenz. Das Pflegegutachten wird in der Regel als ausfu¨hrliches Formulargutachten erstattet. Zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit geho¨rt die Pru¨fung von deren Voraussetzungen und die Empfehlung der Stufe. Weiterhin entha¨lt das Gutachten die sozialgesetzlich geforderte Mitteilung vom Ergebnis der Pru¨fung. Sie basiert auf der pflegerelevanten Erhebung der Eigen- und Fremdanamnese sowie der Inaugenscheinnahme des Versicherten in seinem Wohnbereich. Die Untersuchung dient der 1. Feststellung des ursa¨chlichen Zusammenhangs des vorliegenden Hilfebedarfs mit Krankheit und Behinderung
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
2. Feststellung des Hilfebedarfs bei den gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens unter Beru¨cksichtigung vorliegender Krankheiten oder Behinderungen, 3. Ermittlung von Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedu¨rftigkeit, 4. Ermittlung des Vorliegens einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz, 5. Erfassen von Hinweisen auf Maßnahmen zur Pra¨vention von Pflegebedu¨rftigkeit und der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Zu den Ergebnissen der Begutachtung za¨hlen die 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
8. 9. 10. 11.
Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit mit Empfehlung der Pflegestufe, Feststellung einer Einschra¨nkung der Alltagskompetenz, Angabe, ob die ha¨usliche Pflege in geeigneter Weise sichergestellt ist, Angabe, ob ggf. vollstationa¨re Pflege notwendig ist, Empfehlung zu Art und Umfang von Pflegeleistungen, Empfehlung eines individuellen Pflegeplans, Feststellungen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind, Empfehlungen zu technischen Hilfen und baulichen Maßnahmen (Wohnumfeld), Empfehlungen zu Verbesserung / Vera¨nderung der Pflegesituation, Aussagen zu Prognose / Wiederholungsbegutachtung, Stellungnahme zum Umfang der pflegerischen Ta¨tigkeit der Pflegeperson(en).
Gema¨ß § 36 SGB X muss der Bescheid eine schriftliche Belehrung u¨ber „den Rechtsbehelf und die Beho¨rde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren Sitz, die einzuhaltende Frist und die Form“ enthalten. In der Regel betra¨gt diese Frist einen Monat. Fehlt die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid, verla¨ngert sich die Einspruchsfrist auf ein Jahr nach Erteilung des Bescheids.
5.6.1 Arten der Begutachtung In Abha¨ngigkeit vom Auftrag der gesetzlichen Pflegekasse werden die Arten der Begutachtung nach dem der Fragestellung zu Grunde liegenden Anlass differenziert. Erstbegutachtung Die Erstbegutachtung dient prinzipiell der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit oder der Feststellung der erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz aufgrund eines Antrages des Versicherten. In diesem Fall hat das Recht, Leistungen der Pflegekasse in Anspruch zu nehmen, noch nicht vorgelegen. Als Erstgutachten gelten demnach auch erneut erstattete Gutachten bei solchen Versicherten, die zwar schon einmal begutachtet wurden, bei denen aber keine Pflegebedu¨rftigkeit und keine erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz im Sinne von SGB XI festgestellt wurde und die damit bislang noch keine Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhalten haben.
5.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI
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Folgebegutachtung Hierbei handelt es sich im Anschluss an und unter Bezugnahme auf ein bereits erstattetes Gutachten um eine zusa¨tzliche, erga¨nzende oder weiterfu¨hrende Begutachtung. Entsprechend der Begutachtungs-Richtlinien wird der Begriff Folgebegutachtung – in Abgrenzung zu Erstbegutachtung – auch als Oberbegriff fu¨r die nachfolgend genannten Begutachtungen nach ¥nderungsantra¨gen, Wiederholungs- sowie Widerspruchsbegutachtungen fu¨r Personen verwendet, die bereits Leistungen nach dem SGB XI beziehen. Bei Folgebegutachtungen gibt die Pflegekasse außerdem Hinweise auf vorhergehende Begutachtungen, zur Pflegestufe und Alltagskompetenz sowie zu den Ergebnissen der Beratungseinsa¨tze gema¨ß § 37 Abs. 3 SGB XI. (a) Wiederholungsbegutachtung. Eine Wiederholungsbegutachtung dient der ¢berpru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit hinsichtlich des Bestandes bzw. des Wechsels der festgestellten Pflegestufe aufgrund der Empfehlung des MDK im Vorgutachten, der Sachkenntnis der Pflegekasse oder gema¨ß der Vorschrift des § 18 Abs. 2 SGB XI, die Untersuchung in angemessenen Zeitabsta¨nden zu wiederholen. Grundsa¨tzlich erfolgt eine Wiederholungsbegutachtung durch den MDK nach Auftrag durch die gesetzliche Pflegekasse. In der Regel richtet sich die Pflegekasse bei der Beauftragung zu einer Wiederholungsbegutachtung nach dem vom MDK empfohlenen Termin im Vorgutachten. Sie ist jedoch verpflichtet, bei Anzeichen einer pflegestufenrelevanten ¥nderung des Hilfebedarfes den MDK zur Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit zu beauftragen. Hinweise erha¨lt sie aufgrund der Benachrichtigungspflicht gema¨ß § 7 Abs. 2 SGB XI mit Einwilligung des Versicherten vom behandelnden Arzt, vom Krankenhaus, von den Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie von den Sozialleistungstra¨gern. Weitere Hinweise zur Pflegesituation erha¨lt die Pflegekasse vom Pflegedienst, dessen Einsatz der Pflegebedu¨rftige zur Sicherung der Qualita¨t der ha¨uslichen Pflege und der regelma¨ßigen Hilfestellung und Beratung der ha¨uslich Pflegenden im Rahmen des § 37 Abs. 3 SGB XI abzurufen hat. Weiterhin kann z. B. eine erneute Begutachtung im Anschluss an eine rehabilitative Maßnahme sinnvoll sein, wenn deren erfolgreiche Durchfu¨hrung eine richtungsweisende Verringerung des Hilfebedarfs herbeigefu¨hrt haben ko¨nnte. (b) Begutachtung bei ¥nderungsantrag. Diese Begutachtung dient der Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit hinsichtlich der festgestellten Pflegestufe bei bereits anerkannter Pflegebedu¨rftigkeit aufgrund eines Ho¨herstufungs- bzw. Ru¨ckstufungsantrags (Ho¨herstufungsbegutachtung bzw. Ru¨ckstufungsbegutachtung) des Versicherten. Dieser Antrag kann jederzeit unabha¨ngig vom Zeitpunkt der Vorbegutachtung gestellt werden, wenn die Ansicht vertreten wird, dass der Hilfebedarf seitdem richtungsweisend zuoder abgenommen hat. Fu¨r die Darstellung der Pru¨fung der Voraussetzungen gelten die bereits fu¨r die Wiederholungsbegutachtung formulierten Anforderungen. (c) Begutachtung im Widerspruchsverfahren. Diese Begutachtung dient der ¢berpru¨fung des Widerspruchs gegen die Entscheidung der gesetzlichen Pflegekasse (Widerspruchsbegutachtung). Zum Widerspruch ist grundsa¨tzlich nur der Versicherte, dessen gesetzlicher Betreuer oder eine bevollma¨chtigte Person seines Vertrauens berechtigt. Werden aufgrund der Einwa¨nde des Versicherten im Anho¨rungs- oder im
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Widerspruchsverfahren Sachverhalte deutlich, die ggf. eine erneute Begutachtung erforderlich machen, beauftragt die Pflegekasse damit den zusta¨ndigen MDK. Dieser hat unter Wu¨rdigung der vorgebrachten Einwa¨nde zu entscheiden, ob ggf. unter Beteiligung weiterer Fachkra¨fte der Sachverhalt auf der Grundlage der Aktenlage entschieden werden kann oder aber eine erneute Untersuchung des Versicherten notwendig ist. Die Bemessung des Hilfebedarfes und die Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit haben, wie bereits im Abschnitt Wiederholungsbegutachtung beschrieben, unter Beru¨cksichtigung des Vorgutachtens plausibel ero¨rternd und begru¨ndend erla¨uternd zu geschehen. Sollte sich zwischen Vorbegutachtung, Widerspruch und erneuter Begutachtung eine Verschlechterung ergeben haben, so ist darzulegen, ab wann ggf. die Voraussetzung einer ho¨heren Pflegestufe gegeben war. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen haben zuna¨chst die beteiligten Gutachter zu beurteilen, ob sie aufgrund neuer Aspekte zu einem anderen Ergebnis als im Vorgutachten kommen. Revidieren diese Gutachter ihre Entscheidung nicht, ist ein Zweitgutachten von einem anderen Gutachter zu erstellen. Bei der Zweitbegutachtung ist die zwischenzeitliche Entwicklung zu wu¨rdigen, der Zeitpunkt eventueller ¥nderungen der Pflegesituation gegenu¨ber dem Erstgutachten zu benennen und ggf. auf die jeweilige Begru¨ndung des Widerspruchs einzugehen [BRi 2009]. Den Arten der Begutachtung entsprechend werden in die folgenden Gutachtenarten unterschieden: Erst-, Folge-, Wiederholungs-, ¥nderungs- und Widerspruchsgutachten.
5.6.2 Formen der Begutachtung Bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit werden in Abha¨ngigkeit von der Entscheidungsgrundlage nach Art und Umfang der Tatsachenerhebung die folgenden Formen der Begutachtung unterschieden („Erledigungsart“). Begutachtung mit Hausbesuch Die Begutachtung erfolgt im Regelfall durch umfassende Untersuchung mit perso¨nlicher Befunderhebung im Wohnbereich des Antragstellers. Dies gilt fu¨r Antra¨ge auf ha¨usliche und vollstationa¨re Pflege gleichermaßen. Die Gesamtheit der eigenermittelten und der fremderhobenen Fakten bilden die Grundlage der gutachterlichen Stellungnahme. Fu¨r diese Form der Begutachtung ist das Formulargutachtens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI vorgegeben [BRi 2009]. Die Begutachtung zur Analyse entscheidender medizinischer und pflegerischer Befunde wird erga¨nzt um die Aufnahme der Versorgungs- und Betreuungssituation. Dazu geho¨rt wesentlich eine Begehung des Wohnumfeldes zur Ermittlung pflegerelevanter Aspekte der Wohnsituation (Kontext – Umweltfaktoren). Die Begutachtung des Antragstellers in seinem Wohnumfeld stellt die Norm dar. Davon kann nur in begru¨ndeten Fa¨llen abgewichen werden. In besonderen Fa¨llen kann eine Einschra¨nkung des Untersuchungsumfangs indiziert sein, wenn aufgrund der Erkrankung oder des Allgemeinzustandes des Antragstellers insbesondere eine umfassende ko¨rperliche Untersuchung nicht zuzumuten ist und eine Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit mit ausreichender Sicherheit auf der Grundlage
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der festgestellten Fakten sowie ggf. einer orientierenden Untersuchung gewa¨hrleistet ist bzw. nur bestimmte Leistungen (isolierter Antrag auf Feststellung einer Einschra¨nkung der Alltagskompetenz) beantragt wurden. Begutachtung nach Aktenlage Begutachtungen nach Aktenlage ko¨nnen in den Fa¨llen durchgefu¨hrt werden, in denen eine perso¨nliche Untersuchung des Antragstellers im Wohnbereich ¢ nicht mo¨glich ist (insbesondere, wenn der Antragsteller vor der perso¨nlichen Befunderhebung verstorben ist) ¢ im Einzelfall nicht zumutbar ist (z. B. ggf. bei stationa¨rer Hospizversorgung, ambulanter Palliativpflege) ¢ im Einzelfall bei Folgebegutachtungen, wenn ausnahmsweise bereits aufgrund einer eindeutigen Aktenlage feststeht, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit erfu¨llt sind und welche Pflegestufe vorliegt, ob und ggf. in welchem Maße eine erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz vorliegt und ob und in welchem Umfang geeignete therapeutische bzw. rehabilitative Leistungen in Betracht kommen. Die sogenannte „Aktenlage“ bildet immer nur einen Ausschnitt von dokumentierten Fakten im Sinne einer fremden (Vor-)Auswahl und muss vom erfahrenen Gutachter hinsichtlich ihrer Verwertbarkeit kritisch analysiert werden. Zur gutachtlichen Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß § 18 Abs. 2 SGB XI auf Grund einer eindeutigen Aktenlage ohne Untersuchung des Pflegebedu¨rftigen im Wohnbereich bedarf es daher in der Regel aussagekra¨ftiger Informationen zum Hilfebedarf, einer eindeutigen Dokumentation pflegerischer Maßnahmen und umfassender a¨rztlicher Berichte zu den vorliegenden, den Hilfebedarf begru¨ndenden Erkrankungen. Zur Vervollsta¨ndigung der Unterlagen ist ggf. seitens des MDK eine Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller, den Angeho¨rigen, den Pflegepersonen, den Pflegeinstitutionen und den behandelnden ¥rzten notwendig. Bei einem Erstantrag auf Leistungen der Pflegeversicherung wird eine Begutachtung auf Grundlage der Akten nur selten in Betracht kommen, da fu¨r die Beurteilung von Pflegebedu¨rftigkeit die Ausgestaltung des Wohnumfelds beru¨cksichtigt werden muss. Daru¨ber hinaus sind im Gutachten Feststellungen zu treffen zur Sicherstellung der Pflege, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind. Des Weiteren sind Empfehlungen abzugeben, ob technische Hilfen und bauliche Maßnahmen (Wohnumfeld) bzw. Maßnahmen zu Verbesserung / Vera¨nderung der Pflegesituation notwendig sind. Ohne Kenntnisse der aktuellen Pflegesituation ko¨nnen diese Feststellungen in der Regel nicht geta¨tigt werden.
5.6.3 Typen der Gutachten Formulargutachten Hierbei handelt es sich um das nach den Begutachtungs-Richtlinien erstellte Formulargutachten „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“, so wie
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
es bereits ausfu¨hrlich im vorausgegangenen Kapitel erla¨utert wurde [BRi 2009]. Dieses Gutachten wird generell bei Begutachtung im Hausbesuch verwendet. Bei speziellen Fragestellungen oder besonderen Sachverhalten kann es angezeigt sein, die Abfassung des Gutachtens nach der oben aufgefu¨hrten Systematik zu modifizieren, wenn die Aussagekraft und die Nachvollziehbarkeit des erstellten Gutachtens dadurch nicht beeintra¨chtigt werden. Gutachten nach Aktenlage Gutachten nach Aktenlage werden auf Basis des „Formulargutachtens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ erstellt, mu¨ssen jedoch nicht alle Gutachtenfelder beru¨cksichtigen. Fu¨r die unterschiedlichen Situationen der Aktenlagebegutachtung sind in den Begutachtungs-Richtlinien Mindestinhalte fu¨r Gutachten nach Aktenlage definiert worden. Gutachten bei isolierter Feststellung einer Einschra¨nkung der Alltagskompetenz In den Fa¨llen der beantragten isolierten Feststellung einer Einschra¨nkung der Alltagskompetenz kann sich der Gutachter – auf Basis des „Formulargutachtens zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI“ – auf die Beschreibung von Scha¨digungen/Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten / Ressourcen insbesondere in Bezug auf Nervensystem und Psyche, die Benennung der Diagnosen und das Screening und Assessment zur Feststellung einer eingeschra¨nkten Alltagskompetenz beschra¨nken. Bei Antragstellern, die nicht bereits als pflegebedu¨rftig mindestens im Sinne der Pflegestufe I anerkannt sind, reicht die Angabe aus, ob ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung besteht. Gutachten in Fa¨llen mit verku¨rzter Bearbeitungs- / Begutachtungsfrist Im Regelfall soll dem Antragsteller spa¨testens fu¨nf Wochen nach Eingang des Antrags bei der zusta¨ndigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse mitgeteilt werden. Fu¨r bestimmte Fallgestaltungen, z. B. zur Sicherstellung der weiteren Pflege beim ¢bergang aus einer Krankenhausbehandlung, bei Beantragung von Pflegezeit oder bei palliativmedizinischer Versorgung gelten verku¨rzte Begutachtungsfristen. In diesen Fa¨llen muss zuna¨chst nur die Feststellung getroffen werden, ob mindestens erhebliche Pflegebedu¨rftigkeit besteht. Diese gutachterliche Stellungnahme ist mit in den Begutachtungs-Richtlinien definierten Mindestangaben zum medizinisch-pflegerischen Sachverhalt und zum Hilfebedarf zu begru¨nden, die aus den Fremdbefunden abgeleitet werden. Sonstige Gutachtentypen Fu¨r andere Fragestellungen im Zusammenhang mit Leistungen der Pflegeversicherung finden andere Gutachtenformen Verwendung zum Beispiel bei der ¢ ¢ ¢ ¢
Beurteilung der Indikation wohnumfeldverbessernder Maßnahmen, Beurteilung der Indikation von Pflegehilfsmitteln, Beurteilung zu Fragen der Abgrenzung von ha¨uslicher Krankenpflege gema¨ß SGB V, Beurteilung zu gezielten Fragen im Widerspruchs- oder Sozialgerichtsverfahren.
5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz
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5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Erwachsenen unter besonderer Beru¨cksichtigung der Demenz Sandra Bischof, Bernhard Fleer, Christoph Jonas Tolzin und Friedrich Schwegler Beim Inkrafttreten der Pflegeversicherung 1995 waren Versicherte als pflegebedu¨rftig definiert worden, die „wegen einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung . . . der Hilfe bedu¨rfen“. Als Beispiele fu¨r geistige und seelische Erkrankungen wurden im Gesetzestext aufgefu¨hrt: „Sto¨rungen des Zentralnervensystems wie Antriebs-, Geda¨chtnis- oder Orientierungssto¨rungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen.“ Auf Grund dieses Gesetzestextes musste davon ausgegangen werden, dass neben den somatischen Krankheitsbildern die psychiatrischen Erkrankungen und Behinderungen gleichermaßen von den Leistungen der Pflegeversicherung partizipieren wu¨rden. In der Begutachtungspraxis zeigte sich, dass bei dem gewa¨hlten verrichtungsbezogenen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff des SGB XI, trotz des Einschlusses der psychiatrischen Erkrankungen im Gesetzestext, Leistungen der Pflegeversicherung bei somatischen Erkrankungen und Behinderungen leichter zu erlangen waren als bei (geronto-) psychiatrischen Erkrankungen. Es zeigte sich weiter, dass bei bestimmten Krankheitsund Behinderungskonstellationen, wie z. B. bei Formen von leichter oder mittelschwerer Demenz Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht zu erlangen waren, obwohl auf Grund der Zunahme dieser Erkrankungen immer deutlicher die gesellschaftliche Notwendigkeit zur Unterstu¨tzung der Folgen dieser Krankheitsbilder gesehen wurde. Der Gesetzgeber hat deshalb mit dem Inkrafttreten des Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetzes (PflEG) am 01. 04. 2002 den Begriff der „Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz“ in die Pflegeversicherung eingefu¨hrt und Leistungen bereitgestellt fu¨r einen vom Verrichtungsbegriff (siehe Kapitel 5.3.1) unabha¨ngigen Beaufsichtigungsund Betreuungsbedarf dieses Personenkreises. Er umfasst Personen mit demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen. Mit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) am 01. 07. 2008 wurden die Leistungen der Pflegeversicherung fu¨r Personen mit erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkter Alltagskompetenz deutlich angehoben. Die gewa¨hrten Leistungen wurden geteilt fu¨r niedrigeren (erheblich eingeschra¨nkt) in einen Grundbetrag und fu¨r ho¨heren Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf (in ho¨herem Maße eingeschra¨nkt) in einen erho¨hten Betrag (siehe Kapitel 3.3). Fu¨r Pflegebedu¨rftige in stationa¨ren Einrichtungen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz ko¨nnen die Pflegeeinrichtungen seit dem 01. 07. 2008 nach § 87b SGB XI Vergu¨tungszuschla¨ge aus der Pflegeversicherung erhalten, wobei jedoch nicht zwischen Grundbetrag und erho¨htem Betrag unterschieden wird. Die Ho¨he des Betrages, der den Pflegeeinrichtungen zur Verfu¨gung gestellt wird fu¨r Betreuungsleistungen von Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz, wird bei den Vergu¨tungsverhandlungen zwischen Kostentra¨gern und Leistungserbringern ausgehandelt. Der weitaus gro¨ßte Teil der Personen mit erheblich oder in ho¨herem Maße eingeschra¨nkter Alltagskompetenz leidet an demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen. Der sehr viel kleinere Teil dieses Personenkreises umfasst die Pflegebedu¨rftigen mit psychiatrischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen. Es sollen deshalb zuna¨chst die Demenzerkrankungen und deren Bedeutung fu¨r die Pflegebegutachtung dargestellt werden.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
5.7.1 Demenz Der Gesetzgeber hat in § 45a SGB XI als krankheitsbedingte Voraussetzung nicht „Demenz“ im Sinne einer a¨rztlich diagnostizierten und ausbehandelten Krankheit definiert, sondern spricht ausdru¨cklich von „demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen“. Dies tra¨gt dem Umstand Rechnung, dass bei sehr vielen Patienten mit demenziellen Symptomen wegen der eingeschra¨nkten Therapiemo¨glichkeiten keine weitere a¨rztliche Diagnostik durchgefu¨hrt wird und somit auch keine Therapie erfolgt. Um daher nicht einen Großteil der Versicherten mit dieser Symptomatik von einem Leistungsbezug auszuschließen, ist nach den Vorgaben des SGB XI das Vorliegen von demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen ausreichend, es muss keine a¨rztlich abgesicherte Diagnose und/oder Therapie vorliegen. Ungeachtet dieses gesetzgeberischen Pragmatismus sollten Patienten mit einer demenziellen Symptomatik immer einer facha¨rztlichen Diagnostik zugefu¨hrt werden, um eine mo¨glichst fru¨hzeitige Diagnostik der Erkrankung zu erreichen und eine Ausscho¨pfung der zur Zeit noch in geringem Umfang, aber immerhin vorhandenen Therapieoptionen nicht zu versa¨umen. Zur Diagnostik der Demenz, den verschiedenen Demenzformen und Demenzstadien wird auf die einschla¨gigen Lehrbu¨cher der Psychiatrie und Gerontopsychiatrie verwiesen. Fu¨r den Gutachter von Bedeutung ist die Unterscheidung von akuten organischen Psychosyndromen von chronisch organischen Psychosyndromen. Die akut organischen Psychosyndrome zeichnen sich aus durch eine rasch einsetzende und wieder abklingende Symptomatik, die meist reversibel ist. Von einem akuten organischen Psychosyndrom spricht man beispielsweise bei einem Delir oder bei einem affektiven Durchgangssyndrom nach einer Operation. Demgegenu¨ber zeichnen sich chronisch organische Psychosyndrome durch einen schleichenden Beginn der Symptomatik aus. Sie verlaufen andauernd, fortschreitend und sind meist nicht reversibel. Zu den chronisch organischen Psychosyndromen za¨hlen die Demenzen. Das Demenzsyndrom ist charakterisiert durch eine erworbene Beeintra¨chtigung des Geda¨chtnisses, vor allem der Lernfa¨higkeit fu¨r neue Informationen und Reproduktion von Erinnerungen sowie dem zunehmenden Verlust fru¨herer intellektueller Fa¨higkeiten, hierbei vor allem der Verlust des abstrakten Denkens, des Urteilsvermo¨gens und der Konzentrationsfa¨higkeit. Das Demenzsyndrom zeigt keine Bewusstseinseintru¨bungen. Im Verlauf der Entwicklung eines Demenzsyndroms kommt es zu Perso¨nlichkeitsvera¨nderungen bezu¨glich der Motivation, der emotionalen Kontrolle und des Sozialverhaltens. Der Demenzbegriff ist sehr weit und umfassend und zeichnet sich aus durch ein vielgestaltiges Symptomenbild. Der heutige Begriff Demenz ist weitgehend deckungsgleich mit dem traditionellen Begriff „hirnorganisches Psychosyndrom“. Um von einer Demenz sprechen zu ko¨nnen, mu¨ssen Sto¨rungen des Geda¨chtnisses, des Denkvermo¨gens, der Urteilsfa¨higkeit und des Ideenflusses u¨ber eine Mindestdauer von sechs Monaten bestehen. Die Symptomatik muss so ausgepra¨gt sein, dass dadurch Alltagsaktivita¨ten deutlich beeintra¨chtigt sind. Das Bewusstsein ist in der Regel nicht getru¨bt. Die wichtigsten Demenzformen (Jellinger / Ro¨sler) sind die Alzheimer Demenz mit rund 80 Prozent der Fa¨lle sowie die zerebrovaskula¨re Demenz mit etwa 16 Prozent der Fa¨lle. Auf die verbleibenden 4 Prozent fallen seltene Formen der Demenz. Es werden verschiedene Subtypen der Demenz unterschieden: die kortikale Demenz, frontotemporale Demenz und subkortikale Demenz. Bei einer vorrangig kortikalen Demenz treten Symptome wie Sto¨rung von Geda¨chtnis und Denkvermo¨gen,
5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz
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Sprachsto¨rungen, Sto¨rung in der Ausfu¨hrung von Bewegung und Handlungen sowie ra¨umliche Leistung bei geringer Vera¨nderung der Perso¨nlichkeit auf. Demgegenu¨ber kommt es bei einer eher frontal betonten Demenz zu einem ausgepra¨gten Wandel der Perso¨nlichkeit und zu Beeintra¨chtigungen des Sozialverhaltens sowie des planenden und organisierenden Denkens. Vergleichsweise gut sind bei diesen Betroffenen die Fa¨higkeit des Geda¨chtnisses, die Orientierungsfa¨higkeit und die ra¨umliche Leistung erhalten. Wenn die Verlangsamung des psychischen Tempos (inklusive Denktempo und geistige Flexibilita¨t) im Vordergrund steht, handelt es sich in der Regel um eine vorrangig subkortikale Demenz. Leitsymptome einer demenziellen Erkrankung sind zuna¨chst uncharakteristische Anfangssymptome wie Konzentrationsschwa¨che, Vergesslichkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Abnahme von Initiative und Interesse sowie Vernachla¨ssigung von Routineta¨tigkeiten. Unbehandelt und im Weiteren dann obligat liegen ausgepra¨gte Merkfa¨higkeitssto¨rungen des Kurz- und spa¨ter auch des Langzeitgeda¨chtnisses vor. Beispielsweise werden Fragen ha¨ufig wiederholt, Antworten schnell vergessen. Ein sehr gravierendes Merkmal ist auch das Verlegen von Gegensta¨nden. Im weiteren Verlauf kann es dazu kommen, dass eine Desorientiertheit zu Ort, Zeit und spa¨ter auch zu Personen besteht. Es ko¨nnen neuropsychologische Symptome wie Agnosie, Apraxie, spa¨ter auch Agraphie oder Alexie hinzutreten. Ha¨ufig beobachtet man Denksto¨rungen mit Verlangsamung, Umsta¨ndlichkeit, za¨hflu¨ssigen Gedankenablauf, inhaltliche Einengung, Beeintra¨chtigung der Urteils- und Abstraktionsfa¨higkeit und Konzentrationssto¨rungen. Bei einem Großteil der Patienten, die klinisch auffa¨llig werden und ha¨ufig eine akute Krankenhauseinweisung zur Folge haben, sind Symptome wie Antriebslosigkeit, Unruhe, Wahnsto¨rungen und Halluzinationen vordergru¨ndig. Auch eine zunehmende Vernachla¨ssigung der perso¨nlichen Hygiene wird beobachtet und die Zuspitzung von charakterlichen Eigentu¨mlichkeiten.
5.7.2 Psychische Erkrankungen Unter diese Personengruppe fallen alle Pflegebedu¨rftigen, die an Folgen von psychischen Erkrankungen leiden, in § 14 SGB XI werden genannt endogene Psychosen und Neurosen. Diese Erkrankungen sind im Gegensatz zu den demenziellen Erkrankungen in der Regel a¨rztlich diagnostiziert und u¨ber lange Zeit therapiert. Meist kommt es erst nach la¨ngerer Krankheits- und Behandlungsdauer zu Beeintra¨chtigungen bei der Alltagsbewa¨ltigung, die dann einen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf im Sinne des SGB XI auslo¨sen.
5.7.3 Geistige Behinderungen Unter diese Personengruppe fallen alle Pflegebedu¨rftigen, die an den Folgen einer angeborenen oder fru¨h erworbenen Minderung der intellektuellen Leistungsfa¨higkeit leiden, die zu einer verzo¨gerten oder unvollsta¨ndigen Entwicklung der geistigen Fa¨higkeiten fu¨hrt. Auch diese Erkrankungen sind im Gegensatz zu den demenziellen Erkrankungen in der Regel a¨rztlich diagnostiziert und u¨ber lange Zeit therapiert. In diesen Fa¨llen kann es schon im Kindesalter zu einem deutlich erho¨hten Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf im Vergleich zu einem gleichaltrigen, altersentsprechend entwickelten gesunden Kind kommen.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
5.7.4 Begutachtung von Personen mit erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkter Alltagskompetenz Bei demenzbedingten Fa¨higkeitssto¨rungen, psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung muss im Rahmen der Pflegebegutachtung zuna¨chst das sogenannte Screening durchgefu¨hrt werden. Hierbei mu¨ssen Auffa¨lligkeiten bei den folgenden psychosozialen Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens gepru¨ft werden: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Orientierung Antrieb / Bescha¨ftigung Stimmung Geda¨chtnis Tag- / Nachtrhythmus Wahrnehmung und Denken Kommunikation/Sprache Situatives Anpassen Soziale Bereiche des Lebens wahrnehmen
Besteht in einem oder mehreren der Punkte eine Auffa¨lligkeit, die jedoch nicht zu einem regelma¨ßigen und dauerhaften Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung fu¨hrt, wird die Begutachtung zur eingeschra¨nkten Alltagskompetenz an diesem Punkt beendet und gutachterlich ein Bedarf verneint. Regelma¨ßig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass grundsa¨tzlich ein ta¨glicher Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf besteht, dessen Auspra¨gung sich unterschiedlich darstellen kann. So kann bei bestimmten Krankheitsbildern in Abha¨ngigkeit von der Tagesform zeitweilig eine Beaufsichtigung ausreichen oder auch eine intensive Betreuung erforderlich sein. Ein Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung kann auch aus der Unfa¨higkeit resultieren, ko¨rperliche und seelische Gefu¨hle oder Bedu¨rfnisse, wie Schmerzen, Hunger, Durst, Frieren und Schwitzen wahrzunehmen oder zu a¨ußern, z. B. bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz oder im Wachkoma. Besteht hingegen aufgrund von Auffa¨lligkeiten in einem oder mehreren der Punkte ein regelma¨ßiger Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf u¨ber mehr als sechs Monate, muss an das Screening die Durchfu¨hrung des sogenannten Assessments angeschlossen werden. In diesem Assessment werden die in § 45a SGB XI vom Gesetzgeber festgelegten Kriterien gepru¨ft: 1. Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz); 2. Verkennen oder Verursachen gefa¨hrlicher Situationen; 3. Unsachgema¨ßer Umgang mit gefa¨hrlichen Gegensta¨nden oder potenziell gefa¨hrdenden Substanzen; 4. Ta¨tlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation; 5. Im situativen Kontext inada¨quates Verhalten; 6. Unfa¨higkeit, die eigenen ko¨rperlichen und seelischen Gefu¨hle oder Bedu¨rfnisse wahrzunehmen; 7. Unfa¨higkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schu¨tzenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststo¨rung; 8. Sto¨rungen der ho¨heren Hirnfunktionen (Beeintra¨chtigungen des Geda¨chtnisses, herabgesetztes Urteilsvermo¨gen), die zu Problemen bei der Bewa¨ltigung von sozialen Alltagsleistungen gefu¨hrt haben;
5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz
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Tabelle 5.2: Liste der 13 gesetzlich festgeschriebenen Items des PEA Assessments und ihre Erla¨uterungen in den Begutachtungs-Richtlinien (BRi). 1.
Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz)
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller seinen beaufsichtigten und geschu¨tzten Bereich ungezielt und ohne Absprache verla¨sst und so seine oder die Sicherheit anderer gefa¨hrdet. Ein Indiz fu¨r eine Weglauftendenz kann sein, wenn der Betroffene z. B.: ¢ aus der Wohnung heraus dra¨ngt, ¢ immer wieder seine Kinder, Eltern außerhalb der Wohnung sucht bzw. zur Arbeit gehen mo¨chte, ¢ planlos in der Wohnung umherla¨uft und sie dadurch verla¨sst
2.
Verkennen oder Verursachen gefa¨hrlicher Situationen
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ durch Eingriffe in den Straßenverkehr, wie unkontrolliertes Laufen auf der Straße, Anhalten von Autos oder Radfahrern sich selbst oder andere gefa¨hrdet, ¢ die Wohnung in unangemessener Kleidung verla¨sst und sich dadurch selbst gefa¨hrdet (Unterku¨hlung).
3.
Unsachgema¨ßer Umgang mit gefa¨hrlichen Gegensta¨nden oder potentiell gefa¨hrdenden Substanzen
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ Wa¨sche im Backofen trocknet, Herdplatten unkontrolliert anstellt ohne diese benutzen zu ko¨nnen/wollen, Heißwasserboiler ohne Wasser benutzt, ¢ Gasanschlu¨sse unkontrolliert aufdreht, ¢ mit kochendem Wasser Za¨hne putzt, ¢ unangemessen mit offenem Feuer in der Wohnung umgeht, ¢ Zigaretten isst, ¢ unangemessen mit Medikamenten und Chemikalien umgeht (z. B. Za¨pfchen oral einnimmt), ¢ verdorbene Lebensmittel isst.
4.
Ta¨tlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ andere schla¨gt, tritt, beißt, kratzt, kneift, bespuckt, sto¨ßt, mit Gegensta¨nden bewirft, ¢ eigenes oder fremdes Eigentum zersto¨rt, ¢ in fremde Ra¨ume eindringt, ¢ sich selbst verletzt, ¢ andere ohne Grund beschimpft, beschuldigt.
5.
Im situativen Kontext inada¨quates Verhalten
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ in die Wohnra¨ume uriniert oder einkotet (ohne kausalen Zusammenhang mit Harn- oder Stuhlinkontinenz), ¢ einen starken Beta¨tigungs- und Bewegungsdrang hat (z. B. Zerpflu¨cken von Inkontinenzeinlagen, sta¨ndiges An- und Auskleiden, Nesteln, Zupfen, waschende Bewegungen), ¢ Essen verschmiert, Kot isst oder diesen verschmiert, ¢ andere Personen sexuell bela¨stigt, z. B. durch exhibitionistische Tendenzen, ¢ Gegensta¨nde auch aus fremdem Eigentum (z. B. benutzte Unterwa¨sche, Essensreste, Geld) versteckt / verlegt oder sammelt, ¢ permanent ohne ersichtlichen Grund schreit oder ruft. Hinweis: Hier ist auszuschließen, dass das inada¨quate Verhalten in Zusammenhang mit mangelndem Krankheitsgefu¨hl, fehlender Krankheitseinsicht oder therapieresistentem Wahnerleben und Halluzinationen steht, da dies unter Item 11 dokumentiert wird.
6.
Unfa¨higkeit, die eigenen ko¨rperlichen und seelischen Gefu¨hle oder Bedu¨rfnisse wahrzunehmen
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ Hunger und Durst nicht wahrnehmen oder a¨ußern kann oder aufgrund mangelndem Hunger- und Durstgefu¨hl bereit stehende Nahrung von sich aus nicht isst oder trinkt oder u¨berma¨ßig alles zu sich nimmt, was er erreichen kann, ¢ aufgrund mangelndem Schmerzempfinden Verletzungen nicht wahrnimmt, ¢ Harn- und Stuhldrang nicht wahrnehmen und a¨ußern kann und deshalb zu jedem Toilettengang aufgefordert werden muss, ¢ Schmerzen nicht a¨ußern oder nicht lokalisieren kann.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Tabelle 5.2 (Fortsetzung) 7. Unfa¨higkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schu¨tzenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststo¨rung
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ den ganzen Tag apathisch im Bett verbringt, ¢ den Platz, an den er z. B. morgens durch die Pflegeperson hingesetzt wird, nicht aus eigenem Antrieb wieder verla¨sst, ¢ sich nicht aktivieren la¨sst, ¢ die Nahrung verweigert. Hinweis: Die Therapieresistenz einer Depression oder Angststo¨rung muss nervena¨rztlich / psychiatrisch gesichert sein.
8. Sto¨rungen der ho¨heren Hirnfunktionen (Beeintra¨chtigungen des Geda¨chtnisses, herabgesetztes Urteilsvermo¨gen), die zu Problemen bei der Bewa¨ltigung von sozialen Alltagsleistungen gefu¨hrt haben
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ vertraute Personen (z. B. Kinder, Ehemann / -frau, Pflegeperson) nicht wieder erkennt, ¢ mit (Wechsel-)Geld nicht oder nicht mehr umgehen kann, ¢ sich nicht mehr artikulieren kann und dadurch in seinen Alltagsleistungen eingeschra¨nkt ist, ¢ sein Zimmer in der Wohnung oder den Weg zuru¨ck zu seiner Wohnung nicht mehr findet, ¢ Absprachen nicht mehr einhalten kann, da er schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage ist sich daran zu erinnern.
9. Sto¨rung des Tag-/NachtRhythmus
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ nachts stark unruhig und verwirrt ist, verbunden mit Zunahme inada¨quater Verhaltensweisen, ¢ nachts Angeho¨rige weckt und Hilfeleistungen (z. B. Fru¨hstu¨ck) verlangt (Umkehr bzw. Aufhebung des Tag- / Nacht-Rhythmus).
10. Unfa¨higkeit, eigensta¨ndig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B. aufgrund zeitlicher, o¨rtlicher oder situativer Desorientierung ¢ eine regelma¨ßige und der Biografie angemessene Ko¨rperpflege, Erna¨hrung oder Mobilita¨t nicht mehr planen und durchfu¨hren kann, ¢ keine anderen Aktivita¨ten mehr planen und durchfu¨hren kann. Hinweis: Hier sind nur Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten zu beru¨cksichtigen, die nicht bereits unter Item 7 oder 8 erfasst worden sind.
11. Verkennen von Alltagssituationen und inada¨quates Reagieren in Alltagssituationen
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ Angst vor seinem eigenen Spiegelbild hat, ¢ sich von Personen aus dem Fernsehen verfolgt oder bestohlen fu¨hlt, ¢ Personenfotos fu¨r fremde Personen in seiner Wohnung ha¨lt, ¢ aufgrund von Vergiftungswahn Essen verweigert oder Gift im Essen riecht/schmeckt, ¢ glaubt, dass fremde Personen auf der Straße ein Komplott gegen ihn schmieden, ¢ mit Nichtanwesenden schimpft oder redet, ¢ optische oder akustische Halluzinationen wahrnimmt. Hinweis: Hier geht es um Verhaltenssto¨rungen, die in Item 5 nicht erfasst und durch nicht-kognitive Sto¨rungen bedingt sind. Solche Sto¨rungen ko¨nnen vor allem bei Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis sowie auch bei demenziell erkrankten und (seltener) depressiven Menschen auftreten. Das Verkennen von Alltagssituationen und inada¨quates Reagieren in Alltagssituationen muss die Folge von mangelndem Krankheitsgefu¨hl, fehlender Krankheitseinsicht, therapieresistentem Wahnerleben und therapieresistenten Halluzinationen sein, welche nervena¨rztlich / psychiatrisch gesichert sind.
12. Ausgepra¨gtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ ha¨ufig situationsunangemessen, unmotiviert und plo¨tzlich weint, ¢ Distanzlosigkeit, Euphorie, Reizbarkeit oder unangemessenes Misstrauen in einem Ausmaß aufzeigt, das den Umgang mit ihm erheblich erschwert.
5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz
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Tabelle 5.2 (Fortsetzung) 13. Zeitlich u¨berwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit auf Grund einer therapieresistenten Depression
Ein „Ja“ ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ¢ sta¨ndig „jammert‘‘ und klagt, ¢ sta¨ndig die Sinnlosigkeit seines Lebens oder Tuns beklagt. Hinweis: Die Therapieresistenz einer Depression muss nervena¨rztlich / psychiatrisch gesichert sein.
9. Sto¨rung des Tag- / Nacht-Rhythmus; 10. Unfa¨higkeit, eigensta¨ndig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren; 11. Verkennen von Alltagssituationen und inada¨quates Reagieren in Alltagssituationen; 12. Ausgepra¨gtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten; 13. Zeitlich u¨berwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit auf Grund einer therapieresistenten Depression. Eine erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz liegt dann vor, wenn mindestens zwei Items mit ja beantwortet werden, davon mindestens ein ja aus den Bereichen 1–9. Bei Vorliegen dieser Konstellation besteht Anspruch auf den Grundbetrag. Eine in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz liegt vor, wenn zusa¨tzlich zu den oben genannten Voraussetzungen mindestens bei einem der Items 1, 2, 3, 4, 5, 9 oder 11 ein ja angegeben wird. Bei Vorliegen dieser Konstellation besteht Anspruch auf den erho¨hten Betrag. Die Leistungen bei erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkter Alltagskompetenz erhalten auch Personen, die einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung haben, der nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht. Zu den Leistungen im Einzelnen siehe Kapitel 3.
5.7.5 Besonderheiten der Begutachtungspraxis bei Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz Die Begutachtung von Menschen mit psychischen Sto¨rungen oder mit geistigen Behinderungen weist Besonderheiten im Vergleich zur Begutachtung von anderen Antragstellern auf. Diese Besonderheiten sind eine Herausforderung fu¨r den Gutachter sowohl im Hinblick auf die Vorbereitung der Begutachtung als auch auf die Gestaltung der Begutachtungssituation. Menschen mit psychischen Sto¨rungen bzw. geistigen Behinderungen sind ha¨ufig noch motorisch in der Lage, Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens ganz oder teilweise selbst durchzufu¨hren. Die psychischen bzw. geistigen Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten fu¨hren im Lebensalltag der Betroffenen aber dazu, dass die Verrichtungen – trotz vorhandener motorischer Fa¨higkeiten – nicht mehr selbsta¨ndig durchgefu¨hrt bzw. koordiniert werden ko¨nnen. So ko¨nnen z. B. Menschen mit einer Demenzerkrankung bestimmte Abla¨ufe nicht mehr bzw. nur noch eingeschra¨nkt koordinieren. Dies fu¨hrt u. a. dazu, dass Aktivita¨ten wie die Ko¨rperpflege zwar begonnen, aber nicht oder nur mit mehrfachen Unterbrechungen zu Ende gefu¨hrt werden. Daru¨ber hinaus wird bei vielen psychischen Sto¨rungen die Notwendigkeit der Durch-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
fu¨hrung von Verrichtungen nicht mehr erkannt; ein zielgerichtetes Handeln ist oft nicht mehr mo¨glich. Verhaltenssto¨rungen und kognitive Einbußen beeinflussen die Alltagskompetenz des Menschen oft weit vor dem Vorliegen einer Pflegestufe. Der Hilfebedarf liegt dabei vorrangig im Bereich der so genannten allgemeinen Beaufsichtigung und Betreuung, ohne dass dies sich zuna¨chst pflegestufenrelevant auswirkt. In Kombination mit einer teilweise fehlenden Krankheitseinsicht haben die o. g. Einschra¨nkungen mitunter drastische Folgen fu¨r den Pflege- und Betreuungsalltag und fu¨hren zu einer erheblichen Belastung der pflegenden Angeho¨rigen. Hierzu geho¨ren zum Beispiel na¨chtliche Unruhe, Wanderungstendenz (Weglaufen), abwehrendes Verhalten und andere herausfordernde Verhaltensweisen, die besonders belastend fu¨r die Betroffenen selbst sind, aber auch fu¨r die pflegenden Angeho¨rigen. Die beschriebenen typischen kognitiv-psychischen Einbußen fu¨hren zum Teil sehr fru¨h zu einem spezifischen Hilfebedarf bei der Kommunikation, beim Beziehungsaufbau sowie bei der Gewa¨hrleistung von Sicherheit und erfordern spezielle Formen der Betreuung und Pflege.
5.7.5.1 Besonderer Unterstu¨tzungs- und Hilfebedarf Menschen mit psychischen Sto¨rungen bzw. geistigen Behinderungen beno¨tigen besonders ha¨ufig Hilfeleistungen wie Unterstu¨tzung, Beaufsichtigung und Anleitung fu¨r die Durchfu¨hrung der Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens. Ohne ausreichende Kenntnis der unterschiedlichen Inhalte dieser Hilfeformen kann es zu Missversta¨ndnissen bei Pflegepersonen oder Pflegekra¨ften im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach SGB XI kommen. Die genannten Hilfeformen sind in den Begutachtungs-Richtlinien wie folgt definiert. Unterstu¨tzung bedeutet, dass sich der Pflegebedu¨rftige z. B. selbsta¨ndig waschen kann, die Pflegeperson aber das Waschwasser / die Waschutensilien bereit stellen und die Materialien nach erfolgtem Waschvorgang wieder wegra¨umen muss. Auch das Bereitlegen geeigneter Kleidungsstu¨cke geho¨rt in die Kategorie der Unterstu¨tzung, wenn der Pflegebedu¨rftige sich ansonsten selbsta¨ndig anziehen kann. Bei der Beaufsichtigung steht zum einen die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der Verrichtungen im Vordergrund; z. B. zur Verhinderung einer Selbstgefa¨hrdung beim Umgang mit dem Nassrasierer. Zum anderen kann hierbei aber auch die Kontrolle daru¨ber erfolgen, ob die betroffenen Verrichtungen in der erforderlichen Art und Weise ausgefu¨hrt werden. Bei der Beaufsichtigung sind notwendige Hilfeleistungen auf Grund z. B. schwankender Tagesform meist in unterschiedlichem Umfang erforderlich. Laut Begutachtungs-Richtlinien reicht eine Aufsicht mit gelegentlicher Aufforderung zur Durchfu¨hrung der Verrichtung nicht aus. Es muss eine konkrete ¢berwachung und/oder Erledigungskontrolle erforderlich sein, die die Pflegeperson zeitlich und o¨rtlich bindet, wie bei unmittelbarer personeller Hilfe (z. B. wenn der Pflegebedu¨rftige den Waschvorgang oder seine Mahlzeit unterbricht und weggeht oder sich abwehrend gegenu¨ber der Pflegeperson verha¨lt, die Pflegeperson ein Gespra¨ch mit ihm fu¨hrt und ihn evtl. beruhigt, damit er die Ko¨rperpflege oder die Nahrungsaufnahme fortsetzt). Anleitung bedeutet, dass die Pflegeperson bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren muss. Dies kann dann erforderlich sein, wenn der Pflegebe-
5.7 Erheblich oder in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz
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du¨rftige trotz vorhandener motorischer Fa¨higkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchfu¨hren kann. Zur Anleitung geho¨rt laut BegutachtungsRichtlinien auch die Motivierung des Antragstellers zur selbsta¨ndigen ¢bernahme der regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen des ta¨glichen Lebens. Beaufsichtigung und Anleitung zielen darauf, dass die Verrichtungen im Ablauf des ta¨glichen Lebens in sinnvoller Weise vom Pflegebedu¨rftigen selbst durchgefu¨hrt werden. Damit sollen ¢ ko¨rperliche, psychische und geistige Fa¨higkeiten gefo¨rdert und erhalten werden, ¢ Selbst- oder Fremdgefa¨hrdung vermieden werden, ¢ ¥ngste, Reizbarkeit oder Aggressionen abgebaut werden. Beaufsichtigung und Anleitung sind somit wichtige Bestandteile einer aktivierenden Pflege. Hierbei muss beru¨cksichtigt werden, dass diese Hilfeformen nur dann sinnvoll sind, wenn der Pflegebedu¨rftige noch u¨ber entsprechende Ressourcen (z. B. in den Bereichen Kommunikations- und Kooperationsfa¨higkeit) verfu¨gt, damit keine ¢berforderungssituationen entstehen. So kann beispielsweise eine „intensive Anleitung“ eines Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz eine solche ¢berforderungssituation hervorrufen, die dann zu einer Versta¨rkung abwehrenden oder unruhigen Verhaltens des zu Pflegenden fu¨hren kann. Laut Begutachtungs-Richtlinien mu¨ssen die Hilfeformen in Verbindung mit den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten gewo¨hnlichen und regelma¨ßig wiederkehrenden Verrichtungen stehen, damit der entsprechende Zeitbedarf zur Bestimmung der Pflegebedu¨rftigkeit Beru¨cksichtigung finden kann.
5.7.5.2 Vorbereitung der Begutachtung Bei Menschen mit psychischen Sto¨rungen bzw. geistigen Behinderungen ist es besonders wichtig, dass zur Vorbereitung der Begutachtung vor Ort in den Unterlagen alle begutachtungsrelevanten Informationen vorliegen (z. B. Diagnose, Behandlungszeitraum, Angaben zu Pflegeperson bzw. Betreuer). Die Anwesenheit einer Pflegeperson bzw. eines Betreuers spielt in der Begutachtung dieser Menschen eine wichtige Rolle. Jeder Pflegebedu¨rftige hat laut Begutachtungs-Richtlinien ein Anrecht auf die Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der Begutachtung. Dies hat fu¨r Menschen mit psychischen Sto¨rungen eine besondere Bedeutung, da diese aufgrund der charakteristischen Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten gerade im Bereich der Kommunikation oft hilflos sind und deshalb Beistand zur Wahrnehmung ihrer Interessen beno¨tigen. Daru¨ber hinaus ist es fu¨r den Gutachter besonders bei Menschen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz sehr wichtig, eine Pflegeperson/Pflegekraft anzutreffen, die verla¨ssliche Angaben zur Pflegesituation machen kann. Der Betroffene selbst kann dies ha¨ufig nicht. Dies resultiert zum einen aus kognitiven Beeintra¨chtigungen, aber auch aus dem Versuch, gegenu¨ber der ihm fremden Begutachtungsperson, die Fassade eines aktiv handelnden und selbsta¨ndigen Menschen aufrecht zu erhalten. So scha¨men sich Menschen mit Demenz ha¨ufig fu¨r ihre Defizite und geben Selbsta¨ndigkeit in Bereichen an, obwohl sie Hilfe beno¨tigen. Andere u¨berscha¨tzen ihre Fa¨higkeiten und fu¨hlen sich selbsta¨ndiger, als sie es tatsa¨chlich in der Realita¨t sind. Hinzu kommt eine ha¨ufig wechselnde Tagesform. Zusa¨tzlich kann die Begutachtungssitu-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
ation erschwert werden durch abwehrendes Verhalten des Pflegebedu¨rftigen, weil die Begutachtungssituation nicht richtig eingescha¨tzt werden kann und eine Konfrontation mit den eigenen Defiziten angstauslo¨send wirkt.
5.7.5.3 Durchfu¨hrung der Begutachtung Voraussetzung zur Beurteilung und Begutachtung einer Person mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz ist ein solides Fachwissen u¨ber die entsprechenden Krankheitsbilder / Behinderungen sowie u¨ber den angemessenen pflegefachlichen Umgang damit. Zudem beno¨tigt der Gutachter ein gutes Einfu¨hlungsvermo¨gen in die jeweilige Situation vor Ort. Die Gestaltung einer entspannten Begutachtungssituation ist von besonderer Bedeutung, wobei eine gelungene Kommunikation und Beziehungsaufnahme zwischen allen Beteiligten hier an erster Stelle steht. Grundsa¨tzlich sollten Pflegeperson und Pflegebedu¨rftiger gemeinsam angesprochen werden und nicht etwa ausschließlich die Pflegeperson. Hierbei ist zu beachten, dass sowohl dem Pflegebedu¨rftigen als auch der Pflegeperson die Mo¨glichkeit zu einem vertraulichen Gespra¨ch mit dem Gutachter gegeben werden sollte. Dies ist mitunter in der Praxis schwierig umzusetzen, da Angst und Misstrauen gegenu¨ber fremden Personen auch zur Symptomatik einer Demenzerkrankung geho¨ren ko¨nnen. Hilfreich kann fu¨r den Gutachter die Anwendung einer validierenden Kommunikationsform sein, indem er z. B. desorientierten Menschen mit Respekt und Einfu¨hlungsvermo¨gen entgegentritt und sich auf ihre Realita¨t einla¨sst. Hiermit ist nicht etwa das inhaltliche Eingehen auf Wahninhalte gemeint, sondern das Eingehen auf die emotionalen Aspekte der wahrgenommenen Realita¨t.
5.7.5.4 Typische Konfliktsituationen bei der Begutachtung Es ist zu beachten, dass bei einer validierenden Gespra¨chshaltung beim Angeho¨rigen der falsche Eindruck entstehen kann, der Gutachter glaube dem Pflegebedu¨rftigen, der angibt, selbsta¨ndig zu sein und wolle den Hilfebedarf nicht beachten, den die Angeho¨rigen schildern. Zu ha¨ufigen Missversta¨ndnissen und Diskussionen fu¨hrt auch der oben dargestellte verrichtungsbezogene Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff des SGB XI. Angeho¨rige von Menschen mit Demenz beschreiben den Pflege- und Betreuungsaufwand oft im Sinne einer 24-Stunden-Pflege. Der Gutachter des MDK sieht in der Begutachtungssituation sehr wohl den hohen Gesamtaufwand fu¨r die ha¨usliche Pflege und Betreuung, kann aber – wie oben beschrieben – aufgrund der gesetzlichen Grundlagen und auf der Basis der Begutachtungs-Richtlinien nur einen Teil davon beru¨cksichtigen. Fu¨r die Angeho¨rigen kann dabei gerade in einer ha¨ufig emotional angespannten Pflegesituation an der Grenze der eigenen Belastbarkeit der Eindruck entstehen, der Gutachter wolle oder ko¨nne den hohen Gesamtbedarf der Pflege und Betreuung nicht wahrnehmen oder beurteilen. Pflegende Angeho¨rige haben ha¨ufig den unausgesprochenen und mo¨glicherweise uneingestandenen Wunsch, vom Gutachter als Experten fu¨r die Pflege ihrer Angeho¨rigen wahrgenommen und wertgescha¨tzt zu werden. Der Gutachter sollte sensibel fu¨r diese Wu¨nsche sowie insbesondere auch ¢berforderungssituationen sein, in denen sich pflegende Angeho¨rige immer wieder oder sogar fortwa¨hrend befinden. Dem Gutachter kommt hier die Aufgabe zu, Selbsthilfegruppen und Mo¨glichkeiten der Entlastung zu empfehlen. Das setzt jedoch voraus, dass der Gutachter informiert ist u¨ber
5.8 Begutachtung von Kindern
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die o¨rtliche Pflege- und Unterstu¨tzungsinfrastruktur. Der sensible und wu¨rdigende Umgang mit Angeho¨rigen ist auch geeignet, bereits im Vorfeld des schriftlichen Bescheides der Pflegekasse viele Missversta¨ndnisse und Unklarheiten auszura¨umen.
5.8 Begutachtung von Kindern Barbara Gansweid und Martina Stahlberg
5.8.1 Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs Die Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI gelten auch fu¨r Kinder. Die zeitliche Bewertung des Hilfebedarfs bezieht sich daher auch bei Kindern ausschließlich auf die gesetzlich definierten Verrichtungen des ta¨glichen Lebens in den Bereichen Ko¨rperpflege, Erna¨hrung, Mobilita¨t und Hauswirtschaft [Braun et al. 2006]. Die Begutachtung von Kindern unterscheidet sich von der bei Erwachsenen u. a. dadurch, dass der altersentsprechende Hilfebedarf, den auch ein gesundes Kind gleichen Alters beno¨tigt, keine Beru¨cksichtigung findet. Grundlage zur Beurteilung der Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne des SGB XI ist der Vergleich zur Versorgungssituation eines gleichaltrigen gesunden Kindes. Beru¨cksichtigungsfa¨hig ist dabei nur der krankheits- oder behinderungsbedingte zeitliche Mehraufwand fu¨r die Hilfestellungen bei der Ko¨rperpflege, Erna¨hrung, Mobilita¨t und hauswirtschaftlicher Versorgung. Im ersten Lebensjahr liegt Pflegebedu¨rftigkeit nur ausnahmsweise vor, da auch gesunde Sa¨uglinge einen sehr hohen Hilfebedarf haben. Es ist besonders zu begru¨nden, wenn dennoch eine Pflegestufe festgestellt wird. Ein solcher Ausnahmefall kann z. B. bei Sa¨uglingen mit multiplen Fehlbildungen vorliegen, bei denen vor allem die Nahrungsaufnahme erheblich erschwert und um Stunden zeitaufwendiger sein kann und/oder zusa¨tzliche Ko¨rperpflege bzw. Lagerungsmaßnahmen anfallen.
5.8.2 Vorbereitung des Besuchs Eltern von chronisch kranken oder behinderten Kindern sind in der Regel sehr gut u¨ber die Erkrankung ihrer Kinder informiert. Daher sollte der Gutachter in der Lage sein, auch seltene Krankheitsbilder bezu¨glich Auswirkungen, Therapiemo¨glichkeiten und Prognose einordnen und den Eltern als kompetenter Gespra¨chspartner begegnen zu ko¨nnen. Um ein mo¨glichst vollsta¨ndiges Bild vom Entwicklungsstand, von der Behinderung oder der chronischen Erkrankung zu bekommen, ist anzustreben, dass bereits im Vorfeld a¨rztliche Befundberichte angefordert werden oder zumindest bei der Begutachtung zur Einsicht zur Verfu¨gung stehen.
5.8.3 Durchfu¨hrung der Begutachtung Die Pru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kindera¨rztin oder Kinderarzt vorzunehmen. Der Gutachter erhebt vor Ort von den Eltern / Pflegepersonen die Angaben zur Anamnese und Versorgungssituation. Hier sind Empathie und Fingerspit-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
zengefu¨hl erforderlich, um im Gespra¨ch den Eltern einerseits das Gefu¨hl zu vermitteln, dass ihre Leistungen als sinnvoll und notwendig anerkannt werden, andererseits aber auch klar abzugrenzen, dass nicht alles im Rahmen der Pflegeversicherung anerkannt werden kann. Der Gutachter muss aber auch Zugang zu dem Kind finden, um sich ein eigenes Bild u¨ber dessen Scha¨digungen, Beeintra¨chtigungen und Ressourcen machen zu ko¨nnen. Auch hier ist eine einfu¨hlsame Vorgehensweise erforderlich, da kleine und insbesondere kranke Kinder oft sehr a¨ngstlich auf fremde Personen reagieren und sich gegen eine Untersuchung wehren, weil sie bereits unangenehme oder schmerzhafte Erfahrungen gemacht haben. Es empfiehlt sich einen spielerischen Zugang zu suchen, sich je nach Alter des Kindes anhand des Umgangs mit einem Spielzeug, mit Malutensilien oder Schulsachen einen Eindruck von den geistigen und manuellen Fa¨higkeiten des Kindes zu verschaffen. Exemplarische grundpflegerische Verrichtungen sollte sich der Gutachter demonstrieren lassen, um ein eigenes Bild vom zeitlichen Umfang der pflegerischen Versorgung zu gewinnen. Bei geistig behinderten Kindern muss man sich in der Begutachtungssituation ein Bild u¨ber das Ausmaß der Retardierung sowie u¨ber die Minderung der Intelligenz machen. Vieles davon la¨sst sich aus den Schilderungen der Eltern zur Vorgeschichte und zum Verhalten des Kindes ableiten. Bei Kleinkindern la¨sst sich der Entwicklungsstand mit dem standardisierten Denver-Test beurteilen, der auch bei nicht behinderten Kindern zur Anwendung kommt.
5.8.4 Besonderheiten bei der Beurteilung von Pflegebedu¨rftigkeit bei Kindern Zur Zeitbemessung des Hilfebedarfs sind bei Kindern Besonderheiten zu beachten. Der altersgema¨ße Hilfebedarf, den auch ein gesundes Kind gleichen Alters beno¨tigt, darf keine Beru¨cksichtigung finden. Bei kranken oder behinderten Kindern erfolgt im Bereich der Grundpflege und der Hauswirtschaft nur die Erfassung und Dokumentation des krankheits- bzw. behinderungsbedingten Mehrbedarfs fu¨r die jeweiligen Verrichtungen. Gesunde und altersentsprechend entwickelte Kinder erlernen im Laufe ihrer Entwicklung die einzelnen Verrichtungen in unterschiedlichem Alter und mit einer teils sehr großen Variationsbreite. Gleichwohl ist aus Gru¨nden der Begutachtung nach einheitlichen Maßsta¨ben eine Pauschalierung notwendig. Deshalb wird in einer Tabelle der Begutachtungs-Richtlinien fu¨r die einzelnen Verrichtungen (§ 14 SGB XI) der Hilfebedarf angegeben, den erfahrungsgema¨ß fast alle der altersentsprechend entwickelten und gesunden Kinder bei diesen Verrichtungen beno¨tigen. Ausgehend von diesem pauschalierten Maßstab des altersgema¨ßen Hilfebedarfs kann bei kranken oder behinderten Kindern der krankheits- bzw. behinderungsbedingte Mehrbedarf fu¨r die jeweiligen Verrichtungen im Bereich der Grundpflege und der Hauswirtschaft erfasst und dokumentiert werden. Der grundpflegerische Hilfebedarf bei den definierten Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist streng zu trennen von Behandlungspflege, medizinisch indizierten therapeutischen und pa¨dagogisch-fo¨rdernden Maßnahmen, die zeitlich nicht beru¨cksichtigt werden du¨rfen. Bei kranken und behinderten Kindern muss zusa¨tzlich zur Pflege ha¨ufig viel Zeit fu¨r therapeutische Maßnahmen wie Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage (nach Bobath/Vojta), Bescha¨ftigungstherapie und Logo-
5.8 Begutachtung von Kindern
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pa¨die aufgebracht werden. So ist es erkla¨rlich, dass Eltern, die „rund um die Uhr“ mit in pa¨dagogische und therapeutische Maßnahmen involviert sind, die Feststellung der ho¨chsten Pflegestufe erwarten. Um Missversta¨ndnissen vorzubeugen, ist dann ein ruhiges ausfu¨hrliches erkla¨rendes Gespra¨ch in der Begutachtungssituation erforderlich. Bei den belasteten und oft sehr engagierten Eltern sollte nicht der Eindruck entstehen, ihr Einsatz wu¨rde nicht entsprechend anerkannt, gewu¨rdigt oder gar seine Notwendigkeit in Frage gestellt werden. ¢berschneidungen zwischen Therapie und beru¨cksichtigungsfa¨higer aktivierender Pflege kann es z. B. bei Gehu¨bungen geben, die als Training nicht beru¨cksichtigt werden ko¨nnen, wenn sie unabha¨ngig von den definierten Verrichtungen des ta¨glichen Lebens ausgefu¨hrt werden. Diese Maßnahmen gehen auch dann nicht in die Bewertung ein, wenn dadurch im Laufe der Zeit eine Minderung des Hilfebedarfs erreicht werden ko¨nnte. Gehen zum Waschen, zur Toilette oder zu den Mahlzeiten hingegen kann im Sinne der aktivierenden Pflege vollsta¨ndig bewertet werden, auch wenn es u¨bend und damit zeitaufwendig und ggf. pflegestufenrelevant ist. Grundsa¨tzlich sind verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen anzurechnen, die zwangsla¨ufig im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit den nach § 14 Abs. 4 SGB XI aufgefu¨hrten Verrichtungen anfallen und in den Richtlinien bei den einzelnen Verrichtungen konkret genannt sind. Viele Kinder erhalten u¨ber lange Zeit regelma¨ßige vertragsa¨rztlich verordnete Heilmittel, wie Krankengymnastik, Ergotherapie und logopa¨dische Behandlung. Dies kann zur Anrechnung von Wegezeiten bei der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“ fu¨hren, sofern derartige Wege regelma¨ßig voraussichtlich fu¨r die Dauer von mindestens 6 Monaten einmal pro Woche oder o¨fter anfallen. Neben den Wegezeiten sind bei kleinen oder geistig behinderten Kindern meist auch die Warte- und Begleitzeiten wa¨hrend der Behandlung zu beru¨cksichtigen. Hinzukommen regelma¨ßige Arztbesuche, die zeitlich zu Buche schlagen, wenn weiter entfernte Spezialambulanzen aufgesucht werden mu¨ssen. Die regelma¨ßigen Wege und Wartezeiten zu Therapien und Arztbesuchen ko¨nnen an den einzelnen Tagen mehrere Stunden in Anspruch nehmen, dies relativiert sich jedoch bei der Umrechnung auf den Tagesdurchschnitt. In manchen Fa¨llen ko¨nnen die Wegezeiten jedoch auch stufenrelevant sein. Wege zum Kindergarten, in die Schule oder Wege zur Freizeitgestaltung du¨rfen bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit keine Beru¨cksichtigung finden, auch wenn fu¨r diese Wege regelma¨ßiger Hilfebedarf gegeben ist. Ein ganz wesentlicher Faktor bei der Betreuung eines gesunden, altersgema¨ß entwickelten Kindes und noch viel mehr eines kranken oder behinderten Kindes stellt die allgemeine Beaufsichtigung dar. Oft ist diese Beaufsichtigungsnotwendigkeit durchaus aus medizinischen Gru¨nden gegeben, wie zum Beispiel bei an Epilepsie oder Diabetes mellitus erkrankten Kindern. Laut den Begutachtungs-Richtlinien ist die allgemeine Beaufsichtigung und Pra¨senznotwendigkeit außerhalb der definierten Verrichtungen der Grundpflege bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit jedoch nicht zu beru¨cksichtigen. Der Hilfebedarf von Kindern in der Hauswirtschaft ist individuell festzustellen. Hierbei kann es sich um die hauswirtschaftlichen Leistungen handeln, die unmittelbar aus der Krankheit / Behinderung resultieren (ha¨ufigeres Waschen der Kleidung z. B. wegen Erbrechen oder vermehrtem Schwitzen). Es kann sich auch um Leistungen handeln, die u¨blicherweise ein gesundes Kind im Haushalt leisten ko¨nnte, durch das kranke
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
oder behinderte Kind aber nicht erbracht werden ko¨nnen (z. B. Abtrocknen des Geschirrs, Tisch decken). Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass gesunde Kinder bis zur Vollendung des 8. Lebensjahres keine nennenswerten hauswirtschaftlichen Leistungen erbringen. Dennoch zeigen die Erfahrungen bei der Begutachtung, dass ein Mehrbedarf in der Hauswirtschaft in aller Regel erfu¨llt ist. Dies rechtfertigt es, bei bestehendem Mehrbedarf mit Hinweis auf das Alter des Kindes (unter 8 Jahre) nicht im Einzelnen den Mehrbedarf im Gutachten zu dokumentieren. In diesem Fall kann bei bestehendem Grundpflegemehrbedarf, der die Kriterien der Pflegestufe I erfu¨llt, ein hauswirtschaftlicher Mehrbedarf von wenigstens 45 Minuten pro Tag zugrunde gelegt werden. Bei einem Grundpflegemehrbedarf, der die Kriterien der Pflegestufen II oder III erfu¨llt, kann ein hauswirtschaftlicher Mehrbedarf von wenigstens 60 Minuten zugrunde gelegt werden. Bei Kindern u¨ber 8 Jahren kann unter den oben genannten Voraussetzungen ein Grundbedarf an Haushaltsaufwand von 30 Minuten bei der Pflegestufe I und von 45 Minuten bei Pflegestufe II und III unterstellt werden. Daru¨ber hinaus gehender Mehraufwand im Haushalt muss konkret zeitlich nachgewiesen und begru¨ndet werden, damit dieser Zeitaufwand zur Erfu¨llung der Voraussetzungen fu¨r die jeweilige Pflegestufe herangezogen werden kann. Fu¨r die Anerkennung der Rentenversicherungszeiten der Pflegeperson ist der gesamte krankheits- und behinderungsbedingte Haushaltsmehrbedarf beru¨cksichtungsfa¨hig. Bei Kindern sollen aufgrund der entwicklungsbedingten Vera¨nderung in der Regel Wiederholungsbegutachtungen nach zwei Jahren durchgefu¨hrt werden. Wenn die altersgema¨ß erwarteten Entwicklungsfortschritte nur zo¨gernd oder gar nicht eintreten, wird die Diskrepanz zu gleichaltrigen gesunden Kindern deutlich gro¨ßer. Es ist von der Prognose abha¨ngig, in welchem Abstand ein Termin fu¨r eine Folgebegutachtung empfohlen wird. Bei malignen Erkrankungen ist im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung entscheidend, a¨rztliche Befundberichte und Behandlungsprotokolle der geplanten zytostatischen, operativen oder Strahlentherapie einzusehen, um einen sinnvollen Zeitpunkt fu¨r eine Wiederholungsbegutachtung abscha¨tzen zu ko¨nnen. Unabha¨ngig von der gutachterlichen Beurteilung liegt es im Ermessen der Pflegekasse aus gegebenem Anlass auch vorzeitig eine Wiederholungsbegutachtung festzusetzen. Auch ko¨nnen die Angeho¨rigen einen Antrag auf Ho¨herstufung stellen, wenn sich der Pflegeaufwand signifikant vera¨ndert hat.
5.9 Erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Kindern Brigitte Seitz und Hans-Christoph Vogel Die zur Feststellung einer eingeschra¨nkten Alltagskompetenz gu¨ltigen Kriterien gelten fu¨r Erwachsene wie Kinder gleichermaßen. Die 13 Items des Assessments (siehe Kapitel 5.7) zielen jedoch prima¨r auf eine im Laufe des Lebens erworbene Alltagskompetenz und damit auf Erwachsene ab. Grundsa¨tzlich ist die im Laufe des Lebens erworbene Alltagskompetenz, die aufgrund einer Demenzerkrankung, einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung eingeschra¨nkt ist oder verloren geht, nicht mit der erheblich eingeschra¨nk-
5.9 Erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Kindern
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ten Alltagskompetenz eines behinderten / kranken Kindes vergleichbar. Dennoch kann auch bei Kindern aufgrund von geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder schnellem geistigem Abbau z. B. durch neurodegenerative Erkrankungen ein u¨ber das u¨bliche Maß an Beaufsichtigung und Betreuung hinausgehender Aufwand fu¨r die Eltern entstehen, der sehr belastend sein kann. Bei der Beurteilung der erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz von Kindern muss daher der Vergleich mit einem gesunden gleichaltrigen Kind erfolgen. Dies setzt Kenntnisse der normalen Entwicklungsschritte eines Kindes voraus. Dabei sind die Spannbreiten in der Entwicklung gesunder Kinder zu beru¨cksichtigen. Bei der Adaptierung des Assessments wurde davon ausgegangen, dass ¢ auch bei Kindern eine im Vergleich zu Gleichaltrigen erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz vorliegen kann. ¢ eine erheblich eingeschra¨nkte nicht kindgerechte Alltagskompetenz fu¨r die Eltern sehr belastend sein kann. ¢ in Ausnahmefa¨llen die Kriterien der erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz auch bei einem geistig schwer behinderten Sa¨ugling vorliegen ko¨nnen. Das ist z. B. der Fall bei speziellen Syndromen wie Pa¨tau-, Edwards-, Cri-du-chat-Syndrom, bei schweren Perinatalscha¨den, bei schnellem geistigem Abbau durch neurodegenerative Erkrankungen. ¢ im Entwicklungsverlauf auftretende voru¨bergehende Auffa¨lligkeiten bei geistig altersgerecht entwickelten Kindern nicht beru¨cksichtigt werden ko¨nnen (z. B. Schlafsto¨rungen, Trotzverhalten im Vorschulalter, soziale und/oder familia¨re Interaktionssto¨rungen, die im Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung auftreten). Die nachstehenden Ausfu¨hrungen zu den einzelnen Assessment-Merkmalen sind wissenschaftlich nicht untermauert, sondern basieren auf langja¨hrigen praktischen Erfahrungen von Pa¨diatern und Kinderkrankenschwestern/-pflegern. Es wurde eine Hilfestellung fu¨r die in der Kinderbegutachtung ta¨tigen Gutachter erarbeitet, wohl wissend, dass es bei wissenschaftlicher Pru¨fung zu graduellen Abweichungen bezu¨glich der Einscha¨tzung der Entwicklungsschritte kommen kann.
5.9.1 Anwendung des Assessment nach § 45a SGB XI bei Kindern unter 12 Jahren Bei der Anwendung der Hilfestellung ist in jedem Einzelfall zu pru¨fen, ob ein Verhalten, das als krankheitswertig oder pathologisch anzusehen ist, einen zusa¨tzlichen Beaufsichtigungs- oder Betreuungsbedarf im Sinne des Pflegeleistungs-Erga¨nzungsgesetzes nach sich zieht. Maßgebend ist dabei der Vergleich mit einem gleichaltrigen altersnormal entwickelten Kind. Es ist folgendes zu beru¨cksichtigen: ¢ Kinder unter 1 Jahr entwickeln zwar keine Alltagskompetenz im eigentlichen Sinne, ko¨nnen aber aufgrund eines von der altersgerechten Entwicklung abweichenden Verhaltens einen erheblich gesteigerten Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf haben. ¢ Kinder unter 3 Jahren mu¨ssen praktisch dauernd beaufsichtigt werden, weil sie noch keinerlei Gefahrenversta¨ndnis besitzen. ¢ Kinder zwischen 3 und 6 Jahren ko¨nnen kurzfristig (etwa 15–60 Minuten) in entsprechend vorbereiteten Bereichen ohne direkte Aufsicht spielen, beno¨tigen aber zeitnah einen Ansprechpartner.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
¢ Kinder im Schulalter ko¨nnen je nach Alter mehrere Stunden ta¨glich eigenverantwortlich allein bleiben. Sie brauchen zu festen Zeiten oder per Telefon einen Ansprechpartner, um schwierige Situationen zu beherrschen. Folgende Entwicklungsschritte eines altersgerecht entwickelten Kindes bzw. Besonderheiten sollte der Gutachter bei der Beurteilung der Assessment-Merkmale beru¨cksichtigen, wobei die Aufza¨hlung anhand der 13 Bereiche nicht als abschließend betrachtet werden kann: 1. Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz) ab 3 Jahren: Einfache, eingeu¨bte Regeln ko¨nnen befolgt werden. 2. Verkennen oder Verursachen gefa¨hrdender Situationen ab 4 Jahren: Gefa¨hrdungen, die von Treppen und Fenstern ausgehen ko¨nnen, sind bekannt. ab 6 Jahren: Der in einer la¨ngeren Anlaufphase trainierte Schulweg wird allein bewa¨ltigt. Das Kind kennt grundlegende Regeln im Straßenverkehr. Situationsabha¨ngig kann unu¨berlegtes, impulsives Verhalten vorkommen. 3. Unsachgema¨ßer Umgang mit gefa¨hrlichen Gegensta¨nden oder potenziell gefa¨hrdenden Substanzen ab 3 Jahren: Das Kind kennt grundlegende Gefahren im Alltag (Backofen, Herdplatte). Es lernt aus Erfahrung, es kann abstrahieren und lernt abha¨ngig von der Anleitung. Gefa¨hrliche Gegensta¨nde oder potenziell gefa¨hrdende Substanzen sind ihm zunehmend bekannt. ab 6 Jahren: Das Kind kennt die Gefahren beim Einsatz/Verwendung von z. B. kochendem Wasser, elektrischen Gera¨ten, Werkzeugen, Feuer. 4. Ta¨tlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation unter 1 Jahr: Selbststimulationen und Bewegungsstereotypien sind als pathologisch zu werten, wenn sie nicht regelma¨ßig durch a¨ußere Reize unterbrochen werden ko¨nnen. Jede Art von Autoaggression ist als pathologisch anzusehen. ab 2 Jahren: Geha¨ufte aggressive ¢bergriffe Personen gegenu¨ber und / oder immer wiederkehrendes Zersto¨ren von Gegensta¨nden haben Krankheitswert. 5. Im situativen Kontext inada¨quates Verhalten unter 1 Jahr: Pausenloses unbegru¨ndetes Schreien („zerebrales“ schrilles Schreien) verursacht mehr als altersu¨blichen Beaufsichtigungsbedarf. ab 1 Jahr: Sta¨ndige motorische Unruhe und / oder umtriebiges Verhalten sind pathologisch. ab 2 Jahren: Gesunde Kinder spielen bereits la¨ngere Zeit ohne sta¨ndige Anleitung. ab 3 Jahren: Der bestimmungsgema¨ße Gebrauch von Gegensta¨nden des ta¨glichen Lebens ist dem gesunden Kind bekannt und wird im Spiel imitiert. Als pathologisch anzusehen ist ein inada¨quates Spielverhalten: Spielzeug wird z. B. nur zersto¨rt, Rollenspiele oder ein Nachahmen von Alltagssituationen finden nicht statt. Einna¨ssen und Einkoten in die Wohnra¨ume sind nicht mehr zu erwarten. ab 5 Jahren: Fortbestehende Distanzlosigkeit Fremden gegenu¨ber ist als pathologisch zu werten.
5.9 Erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Kindern
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Hinweis: Hier ist auszuschließen, dass das inada¨quate Verhalten in Zusammenhang mit mangelndem Krankheitsgefu¨hl, fehlender Krankheitseinsicht oder therapieresistentem Wahnerleben und Halluzinationen steht, da dies unter Item 11 dokumentiert wird. 6. Unfa¨higkeit, die eigenen ko¨rperlichen und seelischen Gefu¨hle oder Bedu¨rfnisse wahrzunehmen unter 1 Jahr: Der gesunde Sa¨ugling dru¨ckt Grundbedu¨rfnisse und Stimmungen u¨ber Gestik und Mimik aus, verbale Interaktionen kommen schrittweise im Kleinkindalter hinzu. Bereits bei geistig behinderten Sa¨uglingen kann Selbstverstu¨mmelung aufgrund mangelnden Schmerzempfindens auftreten (z. B. heredita¨re sensomotorische Neuropathie Typ IV). ab 2 Jahren: Unma¨ßige bzw. unkontrollierte Nahrungsaufnahme (außerhalb der Mahlzeiten) bei fehlendem Sa¨ttigungsgefu¨hl (z. B. Prader-Willi-Syndrom) erfordert erho¨hte Beaufsichtigung. ab 5 Jahren: Die eigenen ko¨rperlichen Bedu¨rfnisse werden z. B. nicht wahrgenommen, wenn das Kind die Toilette nur dann aufsucht, wenn es ausdru¨cklich dazu aufgefordert wird. 7. Unfa¨higkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schu¨tzenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststo¨rung Da sich das Item ausschließlich auf die benannten Diagnosen und deren Therapieresistenz bezieht, muss eine entsprechende Stellungnahme eines Kinder- und Jugendpsychiaters vorliegen. 8. Sto¨rungen der ho¨heren Hirnfunktionen (Beeintra¨chtigungen des Geda¨chtnisses, herabgesetztes Urteilsvermo¨gen), die zu Problemen bei der Bewa¨ltigung von sozialen Alltagsleistungen gefu¨hrt haben ab 2 Jahren: Einfache Gebote und Verbote ko¨nnen verstanden und befolgt werden. Bei geistig behinderten Kindern ist das Antrainieren sozialer Alltagsleistungen zeitintensiv, mu¨hsam und nur durch sta¨ndig wiederholendes ¢ben mo¨glich. Erfolg stellt sich mit deutlicher Zeitverzo¨gerung im Vergleich zu gesunden Kindern ein. ab 3 Jahren: Gesunde Kinder sind in Kindertageseinrichtungen zunehmend gruppenfa¨hig und ko¨nnen la¨ngere Zeit unter Aufsicht mit Gleichaltrigen spielen. Sie ko¨nnen sich einordnen und Konflikte austragen. ab 4 Jahren: Gesunde Kinder u¨bernehmen unter Anleitung kleine Hilfen im Haushalt, z. B. Abra¨umen des Tisches, Aufra¨umen der Spielsachen. ab 6 Jahren: Hinweise auf Einschra¨nkungen der sozialen Kompetenz geben z. B. die Betreuungs- und Schulform und Schulzeugnisse insbesondere aus Einrichtungen der Hilfe fu¨r behinderte Menschen. Der Umgang mit Geld z. B. bei kleineren Einka¨ufen kann bewa¨ltigt werden. ab 8 Jahren: Eigene Taschengeldverwaltung ist mo¨glich. Das Kind kennt die Uhrzeit; es kann o¨ffentliche Verkehrsmittel nach entsprechendem Einu¨ben selbsta¨ndig nutzen. Verabredungen mit und Aufsuchen von Freunden erfolgen selbsta¨ndig. ab 10 Jahren: Selbsta¨ndige Orientierung im weiteren Wohnumfeld (Stadt) ist nach entsprechender ¢bung mo¨glich.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
9. Sto¨rungen des Tag- / Nacht-Rhythmus unter 1 Jahr: Es entwickelt sich ein fester Rhythmus mit/ohne Mittagsschlaf mit verla¨sslichen Durchschlafperioden (90 Prozent der gesunden Sa¨uglinge schlafen nachts mit 5 Monaten durch). Lediglich phasenhafte Schlafsto¨rungen, z. B. bei akuten Erkrankungen, Umgebungswechsel oder psychosozialen Belastungen ko¨nnen bei behinderten Kindern nicht beru¨cksichtigt werden. 10. Unfa¨higkeit, eigensta¨ndig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren ab 10 Jahren: Gesunde Kinder ko¨nnen ihren Tagesablauf eigenverantwortlich nach entsprechender Anleitung strukturieren, z. B. Ko¨rperpflege durchfu¨hren, Essenszeiten einhalten. Hinweis: Hier sind nur Fa¨higkeitssto¨rungen zu beru¨cksichtigen, die nicht bereits unter Item 7 oder 8 erfasst worden sind. 11. Verkennen von Alltagssituationen und inada¨quates Reagieren in Alltagssituationen Hinweis: Hier geht es um Verhaltenssto¨rungen, die in Item 5 nicht erfasst und durch nicht-kognitive Sto¨rungen bedingt sind. Solche Sto¨rungen ko¨nnen vor allem bei Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis sowie auch bei demenziell erkrankten und (seltener) depressiven Menschen auftreten. Das Verkennen von Alltagssituationen und inada¨quates Reagieren in Alltagssituationen muss die Folge von mangelndem Krankheitsgefu¨hl, fehlender Krankheitseinsicht, therapieresistentem Wahnerleben und therapieresistenten Halluzinationen sein, welche nervena¨rztlich / psychiatrisch gesichert sind. Unter Beru¨cksichtigung dieser Ausfu¨hrungen trifft Item 11 fu¨r Kinder kaum zu. 12. Ausgepra¨gtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten ab 6 Jahren: Mit Erreichen des Schulalters ist ein emotional angepasstes Verhalten in Anforderungssituationen zu erwarten. Pathologisch sind Verhaltensweisen wie z. B. dauerhaft u¨berschießende Trotzreaktionen, u¨berma¨ßige Ru¨ckzugstendenzen, Vermeidungsverhalten oder unkontrolliertes Weinen. 13. Zeitlich u¨berwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression Da sich das Item ausschließlich auf die benannte Diagnose und deren Therapieresistenz bezieht, muss eine entsprechende Stellungnahme eines Kinder- und Jugendpsychiaters vorliegen.
5.9.2 Anwendung und Bewertung des Assessments anhand von Beispielen Zu beachten ist, dass wenn das entsprechende Item auf Grund des Alters noch nicht zu beru¨cksichtigen ist, mit »nein« zu schlu¨sseln ist. Grenzbereiche zwischen den Altersgruppen sollten im Hinblick auf die voraussichtliche Entwicklung bei definierten Krankheitsbildern prospektiv-kritisch gewertet werden.
5.9 Erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz bei Kindern
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Beispiel 1 Fallbeschreibung: 2-ja¨hriges Kind mit Down-Syndrom, psychomotorische Entwicklungsverzo¨gerung, kaum kooperativ, motorische Unruhe, das Kind muss mehr als altersu¨blich beaufsichtigt werden, es reagiert wenig auf Verbote und Gebote, Essprobleme mit rezidivierendem Erbrechen bei operierter Duodenalstenose, gelegentliche Ein- und Durchschlafsto¨rungen. Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlu¨sseln bei Item 5 und Item 8, da eine sta¨ndige motorische Unruhe besteht und kaum auf Gebote und Verbote reagiert wird. Somit besteht bei dem Kind eine erheblich eingeschra¨nkte Alltagskompetenz. Beispiel 2 Fallbeschreibung: 11-ja¨hriges ehemaliges Fru¨hgeborenes mit geistiger Behinderung, Sehbehinderung bei retrolentaler Fibroplasie, Ess-Sto¨rung mit Polyphagie bei Kurzdarmsyndrom, stark impulsgesteuert, aggressiv, zum Teil distanzlos, unberechenbares Verhalten in Alltagssituationen, besucht die Schule fu¨r lernbehinderte Kinder, zu der sie begleitet werden muss (Einscha¨tzung im Zeugnis: keine Gruppenfa¨higkeit). Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlu¨sseln bei Item 1, Item 2, Item 3, Item 4, Item 5, Item 6, Item 8 und Item 10, da auch einfache Regeln nicht befolgt werden, Gefa¨hrdungen und grundlegende Gefahren im Alltag nicht erkannt werden und ein unberechenbares Verhalten in Alltagssituationen besteht, aggressives Verhalten vorkommt, eine Distanzlosigkeit Fremden gegenu¨ber gezeigt wird, eine Esssto¨rung vorhanden ist, eine Einschra¨nkung der sozialen Kompetenz besteht (nicht gruppenfa¨hig) und der Tagesablauf nicht eigenverantwortlich strukturiert werden kann. Es besteht bei dem Kind eine in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz. Beispiel 3 Fallbeschreibung: 8 Monate altes Ma¨dchen, infantile Zerebralparese bei Gehirnfehlbildung, ausgepra¨gte optische und akustische Wahrnehmungssto¨rungen, reagiert ausschließlich auf taktile Reize, Schreiphasen tags und nachts, gesto¨rte Mundmotorik mit gravierenden Essproblemen, ha¨ufiges Spucken und Erbrechen, keine Fa¨higkeit zur selbsta¨ndigen Bescha¨ftigung, autoaggressiv, persistierende Stereotypien. Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlu¨sseln bei Item 4, Item 5, Item 6 und Item 9, da persistierende Stereotypien und autoaggressives Verhalten vorhanden sind, Wahrnehmungssto¨rungen bestehen, unbegru¨ndete Schreiphasen auftreten und der Tag- / Nacht-Rhythmus gesto¨rt ist. Es besteht bei dem Kind eine in erho¨htem Maße eingeschra¨nkte Alltagskompetenz.
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
5.10 Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI Friedrich Schwegler In Deutschland ist die Zahl der Pflegebedu¨rftigen in der sozialen Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland ist seit deren Einfu¨hrung kontinuierlich angestiegen. Die folgenden Angaben sind dem Statistischen Jahrbuch 2008 des Statistischen Bundesamts entnommen.
Tabelle 5.3: Anzahl der Leistungsbezieher in den Jahren 1996, 1999, 2005 und 2007. Jahr
Anzahl
1996 1999 2005 2007
1,55 Millionen 1,83 Millionen 1,95 Millionen 2,03 Millionen
Tabelle 5.4: Verteilung der Pflegestufen in der sozialen Pflegeversicherung in den Jahren 2005 bis 2007 in Prozent. Jahr
Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
2005 2006 2007
52 52 53
35 35 34
13 13 13
Tabelle 5.5: Verteilung der Leistungen in der sozialen Pflegeversicherung in den Jahren 2005 bis 2007 in Prozent. Jahr
Ambulante Versorgung (einschließlich teilstationa¨rer und Kurzzeitpflege)
Stationa¨re Versorgung
2005 2006 2007
67 67 67
33 33 33
Tabelle 5.6: Ambulante Versorgung von Pflegebedu¨rftigen durch Angeho¨rige bzw. durch Pflegedienste im Jahr 2005 in Prozent. Ausschließliche Versorgung durch Angeho¨rige
Versorgung durch Pflegedienste (einschließlich Kombinationsleistungen)
68
32
5.10 Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI
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Tabelle 5.7: Anteile der Versorgung von Pflegebedu¨rftigen in ha¨uslicher Umgebung bzw. in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen in Abha¨ngigkeit vom Alter der Versicherten im Jahr 2005 in Prozent. Altersspanne
Versorgung in ha¨uslicher Umgebung
Versorgung in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen
65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 90 Jahre und mehr
75 75 71 65 60 52
25 25 29 35 40 48
Von den Medizinischen Diensten durchgefu¨hrte Begutachtungen Im Gegensatz zu den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die alle Leistungsbezieher in einem Jahr umfassen, beziehen sich die Zahlen der MDK auf die Anzahl der pro Jahr durchgefu¨hrten Begutachtungen. Die folgenden Angaben sind den Pflegeberichten des MDS entnommen. Die Jahre 1995 bis 1998 spiegeln im ambulanten Bereich die Einfu¨hrungsphase der Pflegeversicherung wider. Seit 1999 hat sich die Anzahl der Begutachtungen in diesem Bereich bei knapp einer Million eingependelt bzw. im Jahr 2007 leicht u¨berschritten. Im stationa¨ren Bereich spiegelt das Jahr 1996 die Einfu¨hrung der Pflegeversicherung wider. In den Folgejahren hat sich die Anzahl der Begutachtungen in diesem Bereich auf etwa 300.000 pro Jahr eingependelt. Tabelle 5.8: Anzahl der vom MDK durchgefu¨hrten Pflegebegutachtungen in den Jahren 1995 bis 2007. Jahr
Begutachtungen
davon ambulant
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Gesamt
stationa¨r
1.705.617 1.661.115 1.370.409 1.339.749 1.248.282 1.271.580 1.267.989 1.280.718 1.301.025 1.261.544 1.306.653 1.305.745 1.335.317
1.705.617 1.007.583 1.074.955 1.056.903 988.601 984.024 975.996 979.324 981.071 947.010 996.234 987.590 1.006.061
¢ 653.532 295.454 282.846 259.681 287.556 291.993 301.394 319.954 314.534 310.419 318.155 319.776
17.655.743
13.690.969
3.955.294
114
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Bei den Begutachtungen werden grundsa¨tzlich Erst- und unterschiedliche Arten der Folgebegutachtung unterschieden (siehe Kapitel 5.6.1). Zu den Erstbegutachtungen za¨hlen alle Begutachtungen von Versicherten, die erstmals begutachtet werden sowie Begutachtungen von Antragstellern, bei denen in einer vorherigen Begutachtung keine Pflegebedu¨rftigkeit festgestellt werden konnte. Ho¨herstufungsbegutachtungen sind Begutachtungen von Versicherten, die bereits eine Pflegestufe haben und bei ihrer Pflegekasse einen Antrag auf eine ho¨here Pflegestufe gestellt haben. Wiederholungsbegutachtungen sind solche, bei denen der MDK-Gutachter eine erneute Begutachtung zu einem spa¨teren Zeitpunkt empfohlen hat, weil es wahrscheinlich ist, dass sich die Pflegestufe in absehbarer Zeit vera¨ndern wird. Widerspruchsbegutachtungen sind Begutachtungen von Versicherten, die gegen den Bescheid der Pflegekasse (Ergebnis der Begutachtung) einen Widerspruch eingelegt haben und deshalb erneut begutachtet werden. Die Gesamtzahl von mehr als 17 Millionen seit 1995 durchgefu¨hrten Begutachtungen nach § 18 SGB XI zeigt einerseits, dass es sich bei der Pflegebegutachtung nach § 18 SGB XI um einen umfangreichen und umfassenden Versorgungsauftrag handelt. Die Qualita¨tssicherung der Begutachtung hat deshalb in den MDK einen sehr hohen Stellenwert (siehe Kapitel 5.11). Andererseits wurde durch die hohe Zahl von durchgefu¨hrten Begutachtungen ein immenser Erfahrungsschatz in der Pflegebegutachtung nach SGB XI angesammelt, sodass – trotz des erst wenig mehr als zehnja¨hrigen Bestehens der Pflegeversicherung – eine gefestigte Begutachtungspraxis erreicht worden ist. Tabelle 5.9: Begutachtungen der MDK fu¨r die soziale Pflegeversicherung im Jahr 2007 nach Begutachtungsarten. Begutachtungsart
Anzahl
Erstbegutachtungen Ho¨herstufungs-/Wiederholungsbegutachtungen Widerspruchsbegutachtungen Gesamt
in Prozent
702.543 541.715 91.059
52,6 40,6 6,8
1.335.317
100
Tabelle 5.10: Ergebnisse der Erstbegutachtungen der MDK fu¨r die soziale Pflegeversicherung im Jahr 2007 in Prozent. Beantragte Leistung
nicht pflegebedu¨rftig
Pflegestufe 1
Pflegestufe 2
Pflegestufe 3
Ambulante Pflege Stationa¨re Pflege
32,2
49,6
15,0
3,2
15,1
47,4
31,4
6,1
Gesamt
29,2
49,2
17,9
3,7
5.11 Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI
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5.11 Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI Paul-Urich Menz und Dorit Bu¨chner Die rechtliche Grundlage fu¨r eine Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) in den Bundesla¨ndern und des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) von Knappschaft-Bahn-See – nachfolgend zusammenfassend bezeichnet als Medizinische Dienste (MD) – innerhalb der Pflegeversicherung bildet § 53a SGB XI. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung am 01. Juli 2008, der sogenannten Pflegereform, erla¨sst hiernach der Spitzenverband Bund der Pflegekassen fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung Richtlinien zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung sowie u¨ber das Verfahren zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen. Diese Aufgabe fiel zuvor den Spitzenverba¨nden der Pflegekassen zu. Bis zum Inkrafttreten eigensta¨ndiger Richtlinien am 1. Januar 2005 erfolgte die Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung der Medizinischen Dienste nach den Regelungen des Abschnittes E „Qualita¨tssicherungsverfahren“ in den Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 21. 03. 1997 in der jeweils gu¨ltigen Fassung. Seit dem Jahr 2005 wird sie entsprechend den Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung vom 23. 09. 2004 durchgefu¨hrt. Qualita¨tsbegriff Anhand welcher Kriterien kann die Qualita¨t der Begutachtung und Beratung der Medizinischen Dienste im Rahmen des SGB XI beurteilt werden? Unter der Qualita¨t einer Sach- oder Dienstleistung versteht man deren Gu¨te bezu¨glich ihrer Eignung fu¨r den Empfa¨nger. Deshalb definiert die DIN EN ISO 8402 Qualita¨t als die Gesamtheit von Merkmalen und Merkmalswerten einer Einheit im Hinblick auf deren Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfu¨llen. Dieser wertneutrale und positivistische Qualita¨tsbegriff ist auch fu¨r eine Qualita¨tsbeurteilung von Dienstleistungen beziehungsweise Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI geeignet [Lorenz 2000]. Die Notwendigkeit fu¨r eine ¢berpru¨fung der Praxis der Pflegebegutachtung wurde schon fru¨h gesehen [Seger 1997]. Deshalb bescha¨ftigten sich schon kurz nach Inkrafttreten des SGB XI mehrere Vero¨ffentlichungen mit Ansa¨tzen fu¨r Maßnahmen zur Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung. [Kliebsch et al. 1997, Michel et al. 1997].
5.11.1 Interne und u¨bergreifende Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung Meilensteine der Entwicklung des aktuellen Pru¨fverfahrens Bereits im Jahr 1996 gab es erste Ansa¨tze zur Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung. Diese wurden mit dem Inkrafttreten der Begutachtungs-Richtlinien im Jahr 1997 in ein strukturiertes Pru¨fverfahren u¨berfu¨hrt. Hiermit sollte eine einheitliche Begutachtungspraxis der Medizinischen Dienste gema¨ß geltenden Richtlinien gewa¨hrleistet werden. Seither sind die MD-internen und MD-u¨bergreifenden bundesweiten Quali-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
ta¨tssicherungsmaßnahmen in einer abgestimmten Konzeption verknu¨pft und erfolgen damit nach denselben Pru¨fkriterien. Der Schwerpunkt der Pru¨fungen liegt dabei auf einer MD-internen Qualita¨tssicherung. Die korrekte und einheitliche Umsetzung der vereinbarten Pru¨fkonzeption sowie der darin definierten Qualita¨tsanforderungen wird in diesem Verfahren durch eine u¨bergreifende Qualita¨tssicherung der Dienste untereinander sichergestellt. Zur internen Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung bildete jeder Medizinische Dienst eine eigene Arbeitsgruppe mit in der Pflegebegutachtung besonders qualifizierten Pflegefachkra¨ften und ¥rzten. Diese Arbeitsgruppen pru¨fen seither ja¨hrlich entsprechend den fu¨r alle Medizinischen Dienste verbindlichen Vorgaben des bundesweiten Pru¨fverfahrens MD-intern in einem zuvor festgelegten Umfang bereits erstellte und an die Pflegekassen u¨bersandte Pflegegutachten. Ein Teil der intern gepru¨ften Gutachten fließt danach zusa¨tzlich in eine MD-u¨bergreifende Qualita¨tspru¨fung ein, die nach denselben Pru¨fkriterien erfolgt. Nachfolgend werden die Qualita¨tsbeurteilungen der internen und externen Qualita¨tspru¨fungen gegenu¨bergestellt und jedem Medizinischen Dienst zuru¨ckgemeldet. Auf der Bundesebene wurde außerdem unter Leitung des Medizinischen Dienstes der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen eine MD-u¨bergreifende Arbeitsgruppe „Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung“ gebildet. Diese setzt sich aus den Leitern oder hierfu¨r explizit benannten Mitgliedern der Arbeitsgruppen der Medizinischen Dienste sowie Vertretern der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zusammen. Die Aufgabe dieser u¨bergreifenden Gruppe besteht in der Festlegung einheitlicher Pru¨fkriterien und inhaltlicher Schwerpunkte der internen und u¨bergreifenden Qualita¨tspru¨fung. Daru¨ber hinaus wertet sie die ja¨hrlich von den Medizinischen Diensten u¨ber ihre interne Qualita¨tssicherung zu erstellenden Berichte aus. Sie erstellt einen zusammenfassenden Jahresbericht u¨ber die MD-internen und MD-u¨bergreifenden Qualita¨tssicherungsmaßnahmen sowie die Ergebnisse der internen und externen Pru¨fung der Pflegegutachten. Dabei wird ebenfalls u¨ber die hieraus gewonnen Erkenntnisse berichtet. Diese Berichte liegen seit 1997 vor und ko¨nnen u¨ber den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund bezogen werden, auf den mit der Pflegereform 2008 die Leitung der bundesweiten Arbeitsgruppe u¨berging. Durch die gezielte Auswertung von zahlreichen Einzelfragen zu qualita¨tsrelevanten Aspekten der Pflegebegutachtung konnten mit Hilfe der ja¨hrlichen Qualita¨tspru¨fungen seit 1997 viele wichtige Erkenntnisse fu¨r eine Verbesserung des Pru¨fverfahrens und der Pflegebegutachtung gewonnen werden. Mit nachweisbarem Erfolg wurden entsprechende Erkenntnisse durch Schulungen oder andere organisatorische Maßnahmen nachfolgend in das Pru¨fverfahren beziehungsweise die ta¨gliche Begutachtungspraxis der Medizinischen Dienste eingebracht. Bis zum Jahr 2000 war die Qualita¨tspru¨fung der Pflegebegutachtung auf die formale Korrektheit der Pflegebegutachtung ausgerichtet. Aufgrund der hiermit erreichten und dokumentierten Qualita¨tsverbesserungen und der so gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen konnte das zugrunde liegende Pru¨fverfahren im Jahr 2001 auf eine prima¨r inhaltliche Qualita¨tsbewertung umgestellt werden. Seither verfolgt die Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung das Ziel im Sinne eines umfassenden Qualita¨tsmanagements die Ergebnisqualita¨t der Pflegebegutachtung bundesweit noch weiter zu entwickeln. Dieser Modifikation des Pru¨fverfahrens ging auch eine Analyse der Anforderungen, die Versicherte, deren Angeho¨rige, Juristen, Kassenmitarbeiter oder
5.11 Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI
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Gutachter anderer Institutionen an ein Pflegegutachten gema¨ß SGB XI stellen, voraus. Die Qualita¨tsbewertung der Pflegegutachten ist seither auf die folgenden drei Qualita¨tsaspekte ausgerichtet: ¢ Transparenz der gutachterlichen Darstellung ¢ Kompetenz der gutachterlichen Bewertung ¢ Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen des Gutachters in der Bestimmung der individuellen Pflegebedu¨rftigkeit Dabei wird im Pru¨fbereich Transparenz die Anschaulichkeit der gutachterlichen Darstellung in den wesentlichen Punkten des Gutachtens betrachtet. Im Pru¨fbereich Kompetenz werden demgegenu¨ber die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Gutachters u¨ber alle Punkte des Gutachtens zusammenfassend bewertet. Kompetenz meint die Fa¨higkeit des Gutachters, die pflegerelevanten Sachverhalte richtig und vollsta¨ndig zu erfassen, darzustellen, zu werten und daraus logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Unter dem Punkt Nachvollziehbarkeit wird das gepru¨fte Gutachten abschließend dahingehend beurteilt, ob die Entscheidungen des Gutachters zur Bestimmung der Pflegebedu¨rftigkeit in ihrer Gesamtheit nachvollziehbar und korrekt sind. Im Jahr 2003 wurde die Qualita¨tspru¨fung im Pru¨fbereich Nachvollziehbarkeit daru¨ber hinaus dahingehend modifiziert, dass nun auch eine abgestufte Bewertung der Ableitung des festgestellten Hilfebedarfes bezu¨glich seiner Notwendigkeit und seines Zeitaufwandes erfolgte. Diese ¥nderung wurde no¨tig, da die Analyse der Qualita¨tspru¨fungen der beiden vorherigen Jahre gezeigt hatte, dass die Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Bestimmung der individuellen Pflegebedu¨rftigkeit im wesentlichen davon abha¨ngig ist, ob der Hilfebedarf des Antragstellers und der hieraus resultierende individuelle pflegerische Zeitaufwand vom Gutachter richtig erkannt, bewertet und dokumentiert wurde. Im selben Jahr erforderte eine zwischenzeitliche ¥nderung im SGB XI ebenfalls eine Erweiterung des Pru¨fverfahrens um ein Item zur Beurteilung der sachgerechten Anwendung des Verfahrens zur Feststellung von Personen mit einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz. Im folgenden Jahr wurde der Pru¨fmodus auf ein kontinuierliches Verfahren mit einer mindestens quartalsweisen Gutachtenpru¨fung umgestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt war fu¨r die Qualita¨tspru¨fungen eine ja¨hrliche Stichprobenziehung mit definierten Einund Ausschlusskriterien zu einem zufa¨llig ausgewa¨hlten vorgegebenen Zeitraum von vier Wochen praktiziert worden. Die Pru¨fgutachten mussten hierbei aus abgeschlossenen und den Pflegekassen bereits u¨bersandten Pflegegutachten gezogen werden. Die Stichprobenziehung in den Medizinischen Diensten erfolgte dabei jeweils nach Verfahren, die eine Randomisierung gewa¨hrleisteten. Der Umfang dieser Stichprobe lag hierbei fu¨r die MD-interne Qualita¨tspru¨fung bei jeweils 0,5 Prozent des Begutachtungsaufkommens des Vorjahres. Mit der Umstellung auf ein kontinuierliches Pru¨fverfahren folgte der u¨bergreifende Pru¨fmodus der Weiterentwicklung der internen Qualita¨tspru¨fung in mehreren Medizinischen Diensten, die zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Weiterentwicklung ihres eigenen Qualita¨tsmanagements und aufgrund verbesserter technischer Mo¨glichkeiten bereits auf eine ho¨here Pru¨ffrequenz umgestellt hatten. Zum Teil erfolgte dabei eine EDV-basierte ta¨gliche Gutachtenpru¨fung. Die bundesweit geforderte minimale ja¨hrliche Stichprobengro¨ße von 0,5 Prozent blieb bei dieser Modifikation unvera¨ndert. Eine ho¨here Stichprobengro¨ße war jedoch mo¨glich. Seither pru¨fen viele Medizinische Dienste intern eine wesentlich ho¨here Anzahl
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
von Pflegegutachten. Vereinzelt u¨bersteigt der ja¨hrliche Stichprobenumfang hierbei die geforderte Mindestmenge um das vier- bis fu¨nffache. Die Stichprobenziehung obliegt seither dem einzelnen Medizinischen Dienst, die Festlegung der Mindestgro¨ße der Stichprobe weiterhin dem MDS. Diese Mindestgro¨ße der ja¨hrlichen Stichprobe wird dabei auf Grundlage der Meldungen der Medizinischen Dienste laut Pflegestatistik-Richtlinie berechnet. Die Koordinierung des Verfahrens erfolgt weiterhin durch den MDS. Durch die viertelja¨hrliche Pru¨fung wurde eine zeitnahere Reaktion auf die Pru¨fergebnisse mo¨glich. Das gea¨nderte Verfahren bewa¨hrte sich bei den folgenden Pru¨fungen, weshalb es seither, bis auf geringe organisatorische Modifikationen, bis heute unvera¨ndert durchgefu¨hrt wird. Ein Vorreiter fu¨r diese Entwicklung war der MDK Westfalen-Lippe, der ab dem Jahr 2000 einen EDVbasierten automatisierten Pru¨falgorithmus zur kontinuierlichen Qualita¨tspru¨fung der Pflegegutachten (KQP) entwickelte und testete. Dieser basierte auf den Anforderungen der MD-u¨bergreifenden Qualita¨tspru¨fung und erleichterte die Ziehung der Stichprobe erheblich. Der zugrunde liegende Ziehungsalgorithmus wird seither von immer mehr Medizinische Diensten genutzt. Ende 2008 pru¨fte u¨ber dreiviertel aller Medizinischen Dienste ihre Pflegegutachten auf diese Weise. Bis zum Jahr 2006 flossen lediglich Pflegegutachten nach einem Einrichtungs- oder Hausbesuch in die u¨bergreifende Qualita¨tspru¨fung ein. Ab dem Jahr 2007 konnten aufgrund verbesserter EDV-technischer Mo¨glichkeiten der Stichprobenziehung auch Pflegegutachten nach Aktenlage in diese Qualita¨tspru¨fungen mit einbezogen werden. Konzeption des Pru¨fverfahrens 2009 Im Rahmen der ¢berarbeitung der Pru¨fkonzeption fu¨r das Jahr 2009 wurde der in der Pflegereform enthaltenen weiteren Differenzierung und Ausweitung der Sachleistungen fu¨r Personen mit einer eingeschra¨nkten Alltagskompetenz Rechnung getragen, indem die Qualita¨tsbeurteilung der Nachvollziehbarkeit um ein drittes Item erweitert wurde. In diesem findet nun, im Gegensatz zum bisherigen Pru¨fverfahren, nicht nur eine Qualita¨tspru¨fung der korrekten Anwendung des Verfahrens zur Identifikation dieses Personenkreises statt, sondern auch eine differenzierte Bewertung des Ergebnisses dieser Pru¨fung. Der Schwerpunkt der Pru¨fung liegt auch 2009 auf der MD-internen Qualita¨tspru¨fung. Jeder Medizinische Dienst pru¨ft hierzu im Kalenderjahr 2009 mindestens 0,5 Prozent seines Begutachtungsvolumens an ambulanten und stationa¨ren Pflegegutachten des Jahres 2008. Diese Pru¨fungen erfolgen im monatlichen oder viertelja¨hrlichen Rhythmus mittels einer randomisierten Stichprobe. Von diesen intern qualita¨tsgepru¨ften Pflegegutachten werden viertelja¨hrlich in Abha¨ngigkeit von der Stichprobengro¨ße des einzelnen Medizinischen Dienstes 24 respektive 12 zufa¨llig ausgewa¨hlte Gutachten zusammen mit ihrer internen Qualita¨tsbewertung an den MDS gesandt. Der MDS versendet anschließend diese Gutachten ohne die interne Bewertung nach dem Zufallsprinzip an Gutachter anderer Medizinischer Dienste, die fu¨r diese Qualita¨tsbeurteilung zuvor gemeldet wurden. Diese Gutachter nehmen eine erneute Qualita¨tsbewertung des u¨bermittelten Gutachtens vor, ohne die Erstbeurteilung zu kennen. Eine Verblindung dieses Untersuchungsteiles ist somit sichergestellt. Im MDS werden die Daten der Pru¨fungen zusammengefu¨hrt und ausgewertet. Die Ergebnisse aller Pru¨fungen werden von der Arbeitsgruppe „Qualita¨ts-
5.11 Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI
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Ablaufprogramm der Qualitätssicherung von Pflegegutachten MD-interne Prüfung
Pflegegutachten für die MD-interne Prüfung Anzahl
MD-übergreifende Prüfung Anzahl
Januar Februar März
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
April Mai Juni
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
Juli August September
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
Oktober November Dezember Januar Februar März April Mai
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
24 (12)
Abschlussbericht
Abb. 5.1: Ablauf des Pru¨fverfahrens zur Qualita¨tssicherung von Pflegegutachten.
sicherung der Pflegebegutachtung“ nachfolgend analysiert und bewertet. Unter Beru¨cksichtigung der Erkenntnisse aus dieser Pru¨fung erstellt die Arbeitsgruppe danach die Pru¨fkonzeption und die Pru¨fkriterien fu¨r das folgende Jahr. Sie erarbeitet außerdem zur abgeschlossenen Pru¨fung einen zusammenfassenden Bericht. Jeder Medizinische Dienst wird u¨ber die externe Qualita¨tsbewertung seiner Gutachten zusa¨tzlich informiert. Auf diese Weise wird das Pru¨fverfahren permanent evaluiert und eine einheitliche Umsetzung der Pru¨fkonzeption sichergestellt. In Abbildung 5.1 ist der Ablauf des Pru¨fverfahrens schematisch dargestellt. Bewertungsschema Bei der Qualita¨tspru¨fung der Pflegebegutachtung wird fu¨r jedes Gutachten der Stichprobe vom Pru¨fer fu¨r jedes Pru¨f-Item auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens gu¨ltigen Pru¨fanleitung eine graduierte Bewertung abgeben. Das Bewertungsschema ist dabei 4-stufig und unterteilt sich in die Bewertungsstufen A bis D. Die zugrundeliegende Bewertungssystematik ist der Tabelle 5.11 zu entnehmen. Ergebnisse und Evaluation Das Verfahren der Qualita¨tssicherung der Pflegebegutachtung im Rahmen des SGB XI war von Beginn an methodisch und organisatorisch so gestaltet, dass es nach wissenschaftlich anerkannten Verfahren evaluiert werden konnte. Dieses Prozedere verfolgte die Zielsetzung, das neue Pru¨finstrument so fortzuentwickeln, dass dessen Pru¨fkrite-
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Tabelle 5.11: Vier-stufiges Bewertungsschema der Pru¨fkriterien der Qualita¨tspru¨fung von Pflegegutachten gema¨ß SGB XI. Stufe
Bewertung
A B C D
Qualita¨tsanforderungen Qualita¨tsanforderungen Qualita¨tsanforderungen Qualita¨tsanforderungen Ma¨ngel
umfassend erfu¨llt noch erfu¨llt, Verbesserungsmo¨glichkeiten bestehen nicht ausreichend erfu¨llt, es bestehen Unklarheiten bzw. Defizite nicht erfu¨llt, es bestehen grundsa¨tzliche und/oder gravierende
rien personenunabha¨ngig (reliabel) einsetzbar sind. Die ja¨hrlichen Qualita¨tspru¨fungen beinhalteten deshalb mehrfach eine Reliabilita¨tspru¨fung. So bildeten zum Beispiel 19 Pflegegutachten, die bereits im Vorjahr in eine entsprechende Pru¨fung eingeflossen waren, im Jahr 2003 die Basis fu¨r eine erneute Pru¨fung der Reliabilita¨t. Hierbei wurden diese Gutachten parallel von zehn Pru¨fern beurteilt, wobei eine „Verblindung“ der Untersuchung sichergestellt war. Gegenstand dieser Pru¨fung war die Frage, ob bei identischen Pflegegutachten mehrere Pru¨fer zur selben Beurteilung gelangen. Es zeigte sich, dass es den Pru¨fern mit dem Pru¨fverfahren mo¨glich war, Gutachten von guter (Qualita¨tsanforderungen erfu¨llt) und von schlechter Qualita¨t (Qualita¨tsanforderungen nicht bzw. nicht ausreichend erfu¨llt) eindeutig zu unterscheiden. Fu¨r diese Entscheidung war das Pru¨finstrument somit reliabel. Die Analyse der Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen im Jahr 2003 belegte außerdem eine Einheitlichkeit in der Anwendung des Pru¨finstrumentariums. Mit einer Ausnahme, dem Pru¨f-Item fu¨r das Verfahren zur Identifikation von Personen mit einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz, stimmten bei dieser Untersuchung in u¨ber 85 Prozent der gepru¨ften Gutachten die Ergebnisse der internen und der u¨bergreifenden Qualita¨tsbeurteilung u¨berein. Die Pru¨fung ergab außerdem in allen Bereichen positive Qualita¨tsaspekte, da bei allen vergleichbaren Items im Vorjahresvergleich jeweils Qualita¨tsverbesserungen dokumentiert wurden. Diese Tendenz hatte sich bereits in den Vorjahren gezeigt. Sie setzte sich auch in den folgenden fu¨nf Jahren unvera¨ndert fort. Dabei ergab sich ebenfalls eine verbesserte ¢bereinstimmung fu¨r das Pru¨fItem bezu¨glich der Identifikation von Personen mit einer erheblich eingeschra¨nkten Alltagskompetenz, nachdem aufgrund der Erkenntnisse aus der Pru¨fung 2003 hierzu in allen Medizinischen Diensten noch einmal eine entsprechende Schulung erfolgte. Aktuell weist der im Jahr 2008 vero¨ffentlichte Bericht des MDS zu den Ergebnissen der bundesweiten Qualita¨tspru¨fungen der Pflegebegutachtung fu¨r den Pru¨fzeitraum 2007 fu¨r alle Pru¨f-Items eine positive interne Qualita¨tsbewertung von mindestens 96 Prozent aus. Außerdem ist diesem Bericht eine diesbezu¨gliche ¢bereinstimmungsquote in der u¨bergreifenden Pru¨fung von 91 bis 98 Prozent fu¨r alle Pru¨f-Items in der Qualita¨tsbeurteilung von Pflegegutachten nach einem Hausbesuch dokumentiert. Die Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen belegen somit eine kontinuierliche Verbesserung der Gutachtenqualita¨t. Die Ergebnisse der Qualita¨tsbeurteilung im erstmals durchgefu¨hrten Pru¨fverfahren fu¨r Pflegegutachten nach Aktenlage fielen erwartungsgema¨ß etwas schlechter aus. Die differenzierten Ergebnisse der ja¨hrlichen Pru¨fungen sowie der Reliabilita¨tspru¨fungen ko¨nnen den vorliegenden Jahresberichten entnommen werden.
5.11 Qualita¨tssicherungsverfahren der Begutachtung gema¨ß SGB XI
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Ausblick Die Qualita¨tsparameter des Pru¨fverfahrens lassen methodisch gesichert Aussagen u¨ber die Qualita¨t der Pflegebegutachtung zu. Das Pru¨fkonzept von Transparenz, Kompetenz und Nachvollziehbarkeit wird deshalb voraussichtlich auch weiterhin im Bereich des SGB XI Grundlage der Qualita¨tssicherung sein. Die Ergebnisse der Pru¨fung werden regelma¨ßig analysiert. Diese Analyse wird auch in Zukunft Ausgangspunkt fu¨r Qualita¨tsverbesserungen in der Pflegebegutachtung sein oder im Sinne einer Defizitbzw. Optimierungsanalyse inhaltliche Felder, in denen angestrebten Qualita¨tsstandards noch nicht vo¨llig entsprochen wird, benennen ko¨nnen. Das etablierte Pru¨fverfahren bietet außerdem die Grundlagen fu¨r ein weiteres internes und u¨berreifendes Benchmarking. Schon jetzt steht fest, dass die mit der Pflegereform einhergehenden ¥nderungen im Leistungsrecht eine inhaltliche Modifikation der Pru¨fsystematik erfordern werden. Da aktuell auch eine ¢berarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien erfolgt, die sich ebenfalls auf den bisherigen Pru¨fmodus auswirken kann, ist derzeit nicht konkret absehbar, in welchem Umfang hier Modifikationen notwendig werden. Soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt zu beurteilen ist, werden sich Neuerungen fu¨r die Qualita¨tssicherung der Begutachtung nach Aktenlage sowie fu¨r die Bewertung der Notwendigkeit von Rehabilitationsleistungen fu¨r die Pflegebedu¨rftigen in der Pflegebegutachtung ergeben.
5.11.2 Zusa¨tzliche interne Qualita¨tssicherungsmaßnahmen Die Qualita¨tspru¨fung von Pflegegutachten ist lediglich ein Teilaspekt eines umfassenderen Qualita¨tsmanagements der Medizinischen Dienste mit dem Ziel eine Pflegebegutachtung von hoher Qualita¨t sicherzustellen und weiter zu fo¨rdern. Deshalb flankieren die Medizinischen Dienste die zuvor beschriebenen Aktivita¨ten durch zahlreiche weitere interne Maßnahmen. Da diese sehr vielfa¨ltig sind und unter Beru¨cksichtigung struktureller und regionaler Besonderheiten erheblich variieren ko¨nnen, soll an dieser Stelle hierzu nur eine orientierende stichpunktartige und exemplarische ¢bersicht gegeben werden, um das Spektrum der diesbezu¨glichen Aktivita¨ten zu illustrieren: ¢ strukturierte Einarbeitung neuer Pflegegutachter anhand von verbindlich fixierten Konzepten ¢ zentrale Einfu¨hrungsseminare und Hospitationen zur Heranfu¨hrung an die Pflegebegutachtung ¢ regelma¨ßige fachspezifische Fortbildungen der in die Pflegebegutachtung eingebundene ¥rzte und Pflegefachkra¨fte ¢ Durchfu¨hrung von Qualita¨tszirkeln zu aktuellen oder kontrovers diskutierten Fragestellungen in der Pflegebegutachtung ¢ Pflegebegutachtung von Kindern durch fachlich hierfu¨r besonders qualifizierte Gutachter ¢ Einsatz eines vom MDK Sachsen-Anhalt e. V. entwickelten EDV-Programms zur inhaltlichen Plausibilita¨tspru¨fung von Pflegegutachten, mit dem noch vor Abschluss des Gutachtens Plausibilita¨tsversto¨ße erkannt und einer Korrektur zugefu¨hrt werden ko¨nnen. ¢ Aufbau und Pflege spezifischer Literatur- und Wissensdatenbanken
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¢ ¢ ¢ ¢
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5 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach § 18 SGB XI
Sicherstellung der Einhaltung der Ha¨rtefall-Richtlinien durch ein Review Qualifizierung von Pflegegutachtern zu Qualita¨tsmanagern und TQM-Auditoren strukturierte Ru¨ckmeldung der Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen an die Gutachter Implementierung eines Qualita¨tsmanagementsystems nach dem EFQM-Modell fu¨r Excellence oder der DIN EN ISO 9001 ¢ Kundenbefragungen zur Zufriedenheit mit der Pflegebegutachtung durch den MDK bei Versicherten und Pflegekassen
6 Rehabilitation und Pflegeversicherung
6.1 Medizinische Rehabilitation Thomas Hagen und Barbara Gansweid Die medizinische Rehabilitation ist eine wesentliche, unverzichtbare Komponente des medizinischen Versorgungssystems. Das moderne Versta¨ndnis von Rehabilitation geht u¨ber das biomedizinische Krankheitsversta¨ndnis d. h. einen an der ¥tiologie, Pathogenese und Diagnose orientierten Ansatz hinaus. Rehabilitation beru¨cksichtigt die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Gesundheitsproblemen einer Person – beschrieben in Form von Scha¨digungen, Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten sowie der Teilhabe – und den maßgeblichen Lebensumsta¨nde dieser Person – beschrieben als Kontextfaktoren. Ihr Ziel ist die bestmo¨gliche Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben fu¨r die von Krankheit und deren Auswirkungen betroffenen Menschen. Dieser Rehabilitationsansatz erfordert die Anwendung von komplexen Maßnahmen auf medizinischen, pa¨dagogischen, beruflichen und sozialen Sektoren unter Beachtung der jeweils individuellen Erfordernisse. Fortschrittlicher medizinischer Rehabilitation liegt – wie bei zeitgema¨ßer Pflege und der Pflegebegutachtung auch – das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell der WHO von Funktionsfa¨higkeit und Behinderung zu Grunde (siehe Kapitel 2.3). Danach sind Gesundheit und Krankheit als Ergebnis der Wechselwirkungen nicht nur biologischer, sondern auch psychischer und sozialer Vorga¨nge zu verstehen. Die Gesundheitsprobleme einer Person und deren Auswirkungen in einer konkreten Lebenssituation werden nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Gesundheit und Behinderung der WHO (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) erfasst. Ihr allgemeines Ziel ist es, in einheitlicher und standardisierter Form eine Sprache und einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheits- und mit Gesundheit zusammenha¨ngenden Zusta¨nden zur Verfu¨gung zu stellen. Sie ermo¨glicht eine Beschreibung von Krankheitsauswirkungen unter den Gesichtspunkten des Ko¨rpers (Funktion und Struktur), des Individuums (Aktivita¨ten) und der Gesellschaft (Teilhabe) unter Beru¨cksichtigung von Lebensumsta¨nden und personbezogenen Merkmalen, die mit diesen Komponenten der Gesundheit in Wechselwirkung stehen (Kontextfaktoren). Mit Hilfe der ICF ko¨nnen verschiedene Aspekte eines Gesundheitsproblems systematisch miteinander verknu¨pft werden (Modell der Wechselwirkung). Damit ist die ICF fu¨r die Rehabilitation ein unverzichtbares konzeptionelles und begriffliches Bezugssystem geworden. Zu den Beeintra¨chtigungen der Teilhabe geho¨rt auch die Pflegebedu¨rftigkeit. Diese ist dabei nicht grundsa¨tzlich als ein unvera¨nderlicher Zustand anzusehen, sondern als ein Prozess, der mo¨glicherweise durch aktivierende Pflege, Maßnahmen der Krankenbehandlung, Leistungen mit pra¨ventiver und rehabilitativer Zielsetzung oder durch medizinische Rehabilitation zu beeinflussen ist. Im Rahmen der Pflegebegutachtung nach SGB XI ist daher unter Wu¨rdigung der Befunde dazu Stellung zu nehmen, ob
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6 Rehabilitation und Pflegeversicherung
u¨ber die derzeitige Versorgungssituation hinaus pra¨ventive Maßnahmen, rehabilitative Einzelleistungen der Krankenbehandlung (physikalische Therapie, Ergotherapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, a¨rztliche Therapie) oder Leistungen der medizinischen Rehabilitation (ambulant oder stationa¨r) erforderlich sind. Die Indikation der medizinischen Rehabilitation nach § 40 SGB V in Abgrenzung zu anderen Leistungen ist gegeben, wenn alle der folgenden vier Kriterien erfu¨llt sind. ¢ ¢ ¢ ¢
Rehabilitationsbedu¨rftigkeit Rehabilitationsfa¨higkeit Rehabilitationsziel Rehabilitationsprognose
Rehabilitationsbedu¨rftigkeit besteht, wenn aufgrund einer ko¨rperlichen, geistigen oder seelischen Scha¨digung voraussichtlich nicht nur voru¨bergehende alltagsrelevante Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨t vorliegen, durch die in absehbarer Zeit eine Beeintra¨chtigung der Teilhabe droht oder Beeintra¨chtigungen der Teilhabe bereits eingetreten sind und u¨ber die kurative Versorgung hinaus der mehrdimensionale und interdisziplina¨re Ansatz der medizinischen Rehabilitation erforderlich ist. Rehabilitationsfa¨higkeit liegt dann vor, wenn ein Versicherter aufgrund seiner somatischen und psychischen Verfassung die fu¨r die Durchfu¨hrung und Mitwirkung bei der Leistung zur medizinischen Rehabilitation notwendige Belastbarkeit und Motivation oder Motivierbarkeit besitzt. Rehabilitationsziele bestehen darin, mo¨glichst fru¨hzeitig voraussichtlich nicht nur voru¨bergehende alltagsrelevante Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten zu beseitigen, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhu¨ten oder drohende Beeintra¨chtigungen der Teilhabe abzuwenden, manifeste Beeintra¨chtigungen der Teilhabe zu beseitigen, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhu¨ten. Realistische, fu¨r den Versicherten alltagsrelevante Rehabilitationsziele leiten sich vor allem aus den Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten oder Teilhabe ab. Bei der Formulierung der Rehabilitationsziele ist der Versicherte zu beteiligen. Allgemeine Ziele der Rehabilitation ko¨nnen sein: ¢ Vollsta¨ndige Wiederherstellung der urspru¨nglichen Struktur und Funktion oder des urspru¨nglichen Niveaus der Aktivita¨ten (Restitutio ad integrum) ¢ Gro¨ßtmo¨gliche Wiederherstellung der urspru¨nglichen Struktur / Funktion oder des Ausgangsniveaus der Aktivita¨ten (Restitutio ad optimum) ¢ Ersatzstrategien bzw. Nutzung verbliebener Funktionen oder Aktivita¨ten (Kompensation) ¢ Anpassung von Umweltbedingungen und Lebensbereichen an die bestehenden Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten oder der Teilhabe (Adaptation) ¢ Einleitung einer Anpassung und Umstellung personbezogener Faktoren, die die Beeintra¨chtigungen negativ beeinflussen (Umstellung von Lebensgewohnheiten, Verhaltens- und Einstellungsa¨nderungen, positive Krankheitsverarbeitung, Selbsthilfe) ¢ Einleitung von Maßnahmen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Rehabilitation Aus den bei der Pflegebegutachtung festgestellten Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten ko¨nnen im Einzelfall realistische, alltagsrelevante Rehabilitationsziele zur Verbesserung der Selbsta¨ndigkeit bzw. zur Verminderung des personellen Hilfebedarfs formuliert werden, wie beispielsweise: ¢ Erreichen der Stehfa¨higkeit ¢ Erreichen des Bett-Rollstuhl-Transfers
6.1 Medizinische Rehabilitation
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Verbesserung der Rollstuhlfa¨higkeit Erreichen des Toilettenganges / perso¨nliche Hygiene Selbststa¨ndige Nahrungsaufnahme Selbststa¨ndiges An- und Auskleiden Gehfa¨higkeit u¨ber mehrere Treppenstufen Gehfa¨higkeit innerhalb und außerhalb der Wohnung Tagesstrukturierung
Im Rahmen der Begutachtung kommt diesen Zielen eine besondere Bedeutung im Hinblick darauf zu, eine drohende Pflegebedu¨rftigkeit zu vermeiden, eine bestehende Pflegebedu¨rftigkeit zu beseitigen oder zu mindern oder einer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Dabei kann es sowohl um die Reduktion des Hilfebedarfs innerhalb der festgestellten Pflegestufe als auch um eine Verringerung des Hilfebedarfs von einer ho¨heren zu einer niedrigeren Pflegestufe gehen. Rehabilitationsprognose ist eine medizinisch begru¨ndete Wahrscheinlichkeitsaussage fu¨r den Erfolg der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf der Basis der Erkrankung oder Behinderung, des bisherigen Verlaufs, des Kompensationspotentials oder der Ru¨ckbildungsfa¨higkeit unter Beachtung und Fo¨rderung individueller Kontextfaktoren u¨ber die Erreichbarkeit eines festgelegten Rehabilitationsziels durch eine geeignete Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einem notwendigen Zeitraum. Voraussetzung fu¨r eine Leistung der Rehabilitation ist die Zustimmung des Versicherten. Der Rehabilitand soll durch die Rehabilitation wieder befa¨higt werden, gleichberechtigte Teilhabe mo¨glichst in der Art und dem Ausmaß auszuu¨ben, die fu¨r diesen Menschen als fu¨r seinen perso¨nlichen Lebenskontext typisch erachtet werden. Dies geschieht vor allem durch das Zuru¨ckdra¨ngen alltagsrelevanter Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten (Interventionsebene). Die Wu¨nsche des Rehabilitanden sind dabei zu beru¨cksichtigen und mit den professionellen Zielen der Rehabilitation abzugleichen. Da im Rahmen der Pflegebegutachtung der Wunsch Pflegeleistungen zu erhalten im Vordergrund steht, kann im Einzelfall auch die Motivation der Antragsteller und der Pflegepersonen negativ beeinflusst sein, wenn sie befu¨rchten mu¨ssen, dass nach erfolgreicher Rehabilitation die erhoffte Pflegestufe wieder entzogen werden ko¨nnte. Diesbezu¨glich ist auf die Mitwirkungspflicht der Versicherten nach § 6 SGB XI hinzuweisen. Rehabilitation wird nach rehabilitationswissenschaftlichen Konzepten erbracht. Dabei werden die Prinzipien Komplexita¨t, Interdisziplinarita¨t und Individualita¨t zugrunde gelegt. Das Konzept hat den spezifischen Anforderungen der zu behandelnden Rehabilitanden zu entsprechen. Es umfasst insbesondere die Rehabilitationsdiagnostik, die die Scha¨digungen der Ko¨rperfunktionen und Ko¨rperstrukturen, Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Teilhabe sowie die Kontextfaktoren mit ihrem fo¨rdernden oder hemmenden Einfluss beschreibt und bewertet, den Rehabilitationsplan mit Beschreibung des Rehabilitationsziels, die Rehabilitationsdurchfu¨hrung und ihre ¢berpru¨fung und die Dokumentation des Rehabilitationsverlaufs und der -ergebnisse. Um dem Anspruch auf Komplexita¨t und Interdisziplinarita¨t in der Praxis gerecht zu werden, ist ein Rehabilitationsteam erforderlich. Dieses setzt sich entsprechend den spezifischen Anforderungen aus ¥rzten und nicht-a¨rztlichen Fachkra¨ften, wie z. B. Physiotherapeuten/Krankengymnasten, Masseuren und Medizinischen Bademeistern, Ergotherapeuten, Logopa¨den/Sprachtherapeuten, Klinischen Psychologen, Sozialarbei-
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tern/Sozialpa¨dagogen, Sportlehrern/Sport-Therapeuten, Dia¨tassistenten, Gesundheitsund Krankenpflegern und Medizintechnikern zusammen. In regelma¨ßigen Teamsitzungen werden die individuellen Rehabilitationsziele und -prozesse u¨berpru¨ft und angepasst. Vor Beginn der Rehabilitation sollten die akut-medizinische Diagnostik abgeschlossen und eine ada¨quate Diagnostik der Begleiterkrankungen erfolgt sein. Der Arzt in der Rehabilitationseinrichtung muss u¨ber die Ergebnisse der Voruntersuchungen informiert sein. Die Rehabilitationseinrichtung muss neben einer Basisdiagnostik auch eine indikationsspezifische Scha¨digungsdiagnostik vorhalten. Spezifisch ist die Durchfu¨hrung der so genannten Rehabilitationsdiagnostik zur Erfassung der nicht nur voru¨bergehenden alltagsrelevanten Beeintra¨chtigungen von Aktivita¨ten und Teilhabe. Zur standardisierten Messung o. g. Beeintra¨chtigungen ko¨nnen validierte Assessments zum Einsatz kommen, wie der Barthel-Index oder die Functional Independence Measure (FIM). Fu¨r jeden Rehabilitanden ist ein detaillierter individueller Rehabilitationsplan zu erstellen, der die Zielsetzungen der verschiedenen Therapiebereiche mit einschließt und sich an einer langfristigen Strategie zur Bewa¨ltigung der (chronischen) Erkrankung / des Gesundheitsproblems orientiert. Der Rehabilitationsplan muss den regionalen Gegebenheiten bezu¨glich der Therapieangebote Rechnung tragen. Er ist vom Arzt unter Mitwirkung der anderen Mitglieder des Rehabilitationsteams zu erstellen und im Laufe der Behandlung der aktuellen Situation anzupassen. Der Rehabilitand und ggf. seine Angeho¨rigen/Bezugsperson sind bei der Erstellung des Rehabilitationsplans bzw. dessen Anpassung zu beteiligen. Zum Rehabilitationsplan geho¨ren auch weiterfu¨hrende Maßnahmen, d. h., neben der ggf. erforderlichen Anregung von Leistungen zur Teilhabe auch die Beratung bei einer notwendigen Wohnungsumgestaltung, bei der Auswahl von Hilfsmitteln und bei der Gestaltung der ha¨uslichen Versorgung. Daru¨ber hinaus sollte Kontakt zu relevanten Selbsthilfegruppen hergestellt werden. Im Bedarfsfalle sind Besuche im Wohnumfeld durchzufu¨hren. Die Pflegepersonen sind, soweit erforderlich, in die Rehabilitation einzubeziehen, ggf. ist eine regelma¨ßige Einbeziehung einer Bezugsperson erforderlich. Zeigt sich wa¨hrend der Therapie, dass bestimmte Sto¨rungen von Ko¨rperfunktionen/-strukturen nicht behandelbar sind, ist eine Verminderung bzw. Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten durch Kompensation, Erwerben von neuen Kenntnissen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen anzustreben. Abzugrenzen ist die Rehabilitation als komplexe interdisziplina¨re Leistung von der Krankenbehandlung, insbesondere von Einzelleistungen der Heilmittelverordnung im ambulanten Bereich, und von der Vorsorge. Heilmittel als ein Bestandteil der Krankenbehandlung werden gema¨ß Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) u¨ber die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsa¨rztlichen Verordnung, untergliedert in die einzelnen Maßnahmen der physikalischen Therapie, der podologischen Therapie, der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und der Ergotherapie. Heilmittel ko¨nnen unter bestimmten Voraussetzungen zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden, sie sind nur nach Maßgabe der Richtlinien verordnungsfa¨hig. Sie ko¨nnen auch mit einer rehabilitativen Zielsetzung verordnet werden, ersetzen aber nicht das komplexe interdisziplina¨re Angebot der Rehabilitation. Vorsorge beinhaltet die Prima¨rpra¨vention und Sekunda¨rpra¨vention. Prima¨rpra¨vention zielt darauf ab, die Neuerkrankungsrate (Inzidenzrate) von Krankheiten zu sen-
6.1 Medizinische Rehabilitation
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ken. Sie dient der Fo¨rderung und Erhaltung der Gesundheit durch Maßnahmen, die Individuen und Personengruppen betreffen, wie gesunde Erna¨hrung, ko¨rperliche Aktivita¨t, Impfungen gegen Infektionskrankheiten und Beseitigung von Gesundheitsrisiken im umwelt- und personenbezogenen Kontext. Krankheiten liegen noch nicht vor, Risikofaktoren ko¨nnen erkennbar sein. Sekunda¨rpra¨vention zielt darauf ab, die Krankenbestandsrate (Pra¨valenzrate) durch Verku¨rzung der Krankheitsdauer, d. h. durch Krankenbehandlung zu verringern. Ihr dienen Fru¨hdiagnostik und Fru¨htherapie mit dem Ziel, das Fortschreiten des Krankheitsprozesses zu verhindern bzw. dessen Umkehr zu bewirken sowie die Beschwerden zu verringern. Dadurch sollen Scha¨digungen beseitigt bzw. verringert und Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten oder Teilhabe vermieden werden. Krankheiten liegen bereits vor, Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Teilhabe sind jedoch noch nicht eingetreten. Im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit ist gema¨ß § 18 Abs. 6 SGB XI in jedem Einzelfall zu pru¨fen, ob eine Indikation fu¨r Leistungen der medizinischen Rehabilitation besteht, um Pflegebedu¨rftigkeit zu vermeiden, eine bestehende Pflegebedu¨rftigkeit zu beseitigen oder zu mindern oder einer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Der pflegeversicherungsrechtliche Grundsatz des § 31 SGB XI „Rehabilitation vor Pflege“ bedarf der gesetzes- und richtlinienkonformen Bewertung im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit. Der gemeinsamen Verantwortung von ¥rzten und Pflegefachkra¨ften fu¨r das Gutachtenergebnis wird im MDK durch eine strukturierte Kooperation der beteiligten Gutachter Rechnung getragen. Wird im Pflegegutachten eine medizinische Rehabilitation empfohlen, so ist der Pflegekasse dazu eine Mitteilung u¨ber die realistischen alltagsrelevanten Rehabilitationsziele sowie eine Zuweisungsempfehlung (geriatrische oder indikationsspezifische Rehabilitation; ambulante einschließlich mobile oder stationa¨re Rehabilitation) zu geben. Sofern erkennbar ist, dass Leistungen der Teilhabe anderer Rehabilitationstra¨ger erfolgreich sein ko¨nnten, ist dies zu dokumentieren. Auf Empfehlungen zur Rehabilitation wird verzichtet, wenn sich bei der Begutachtung keine entsprechenden Hinweise ergeben, z. B. weil ¢ keine realistischen Mo¨glichkeiten zur Verbesserung der Aktivita¨ten und der Teilhabe durch medizinische Rehabilitation erkennbar sind, ¢ schwerwiegende Einschra¨nkungen der Rehabilitationsfa¨higkeit einschließlich der Motivation oder Motivierbarkeit bestehen, die der Durchfu¨hrung einer solchen Maßnahme entgegen stehen, ¢ der Antragsteller eine Rehabilitation ablehnt, ¢ die Wirkung einer gerade abgeschlossenen Rehabilitationsmaßnahme abgewartet werden soll, ¢ andere Maßnahmen, wie die Fortfu¨hrung laufender Heilmitteltherapien ausreichend erscheinen. Ein zentrales Anliegen bei der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung war der Grundsatz „Vorrang von medizinischer Rehabilitation vor Pflege“ (§§ 5 und 31 SGB XI). Die Pru¨fung der Indikation zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 SGB V ist daher Teil jeder Pflegebegutachtung. Der Umfang, in dem Rehabilitationsmaßnahmen bei manifester oder drohender Pflegebedu¨rftigkeit durchgefu¨hrt werden, ist jedoch hinter den Erwartungen zuru¨ck geblieben. Als Erkla¨rung dieses Sachverhalts werden u. a. ge-
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nannt: das Fehlen von Anreizen zur Inanspruchnahme von Rehabilitationsangeboten, die Zuru¨ckhaltung von Gutachtern bei der Empfehlung von Rehabilitationsmaßnahmen, ein ebenfalls verhaltenes Agieren der niedergelassenen ¥rzte, ein mangelhafter Ausbau wohnortnaher, auf pflegebedu¨rftige a¨ltere Menschen zugeschnittener Leistungsangebote sowie unzureichend gelo¨ste Schnittstellenprobleme. Die Gesundheitsreform des Jahres 2007 und das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz aus dem Jahr 2008 aber auch die vorliegenden Entwu¨rfe zur Reform der Pflegeversicherung (siehe Kapitel 7) haben die Thematik aufgegriffen mit dem Ziel, Hu¨rden fu¨r die Nutzung von Rehabilitationsmaßnahmen abzubauen und dem Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ sta¨rker zur Durchsetzung zu verhelfen [Wingenfeld et al. 2008, Wolf / Matthesius 1998].
6.2 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation Norbert Lu¨bke Das Merkmal „geriatrisch“ la¨sst sich im Sinne der ICF als ein personbezogener Kontextfaktor verstehen. Dieser Faktor beschreibt den Umstand erheblich eingeschra¨nkter Reservekapazita¨ten eines Menschen. Hauptursache dieser eingeschra¨nkten Reserven sind einerseits normale, altersphysiologische Organ- und Gewebevera¨nderungen, andererseits durch Vorerkrankungen bereits bestehende Scha¨digungen und Beeintra¨chtigungen [Lu¨bke 2009]. Hierdurch unterliegt dieser Personenkreis einem hohen Risiko, bereits durch vergleichsweise geringfu¨gige zusa¨tzliche Gesundheitsprobleme dauerhaft wesentliche Beeintra¨chtigungen bisher noch mo¨glicher alltagsrelevanter Aktivita¨ten bis hin zur Pflegebedu¨rftigkeit zu erleiden bzw. diese zu vergro¨ßern. In der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation wurde versucht, den Begriff des „geriatrischen Patienten oder Rehabilitanden“ noch genauer zu operationalisieren [MDS 2005]. Als Kriterien fu¨r den „geriatrischen Patienten“ wurde dort die Kombination eines ho¨heren Lebensalters und einer geriatrietypischen Multimorbidita¨t festgelegt. Als ho¨heres Lebensalter wurden in der Regel 70 Jahre festgelegt, wobei Abweichungen nach unten bei ausgepra¨gter geriatrietypischer Multimorbidita¨t zula¨ssig sind. Als Multimorbidita¨t wird das Vorliegen verschiedener Scha¨digungen von Ko¨rperstrukturen oder -funktionen bei mindestens zwei behandlungsbedu¨rftigen Erkrankungen gewertet. Als weitere Konkretisierung gilt die Geriatrietypik dieser Multimorbidita¨t. Diese liegt nach der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation bei Kombination eines gegenu¨ber nicht-geriatrischen Patienten relativ hohen Risikos einer Einschra¨nkung der Selbststa¨ndigkeit im Alltag bis hin zur Pflegebedu¨rftigkeit mit Scha¨digungen und Beeintra¨chtigungen im Sinne eines geriatrischen Syndroms vor. Als Scha¨digungen und Beeintra¨chtigungen im Sinne eines geriatrischen Syndroms werden konkret benannt: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Immobilita¨t Sturzneigung und Schwindel Kognitive Defizite Inkontinenz (Harninkontinenz, selten Stuhlinkontinenz) Dekubitalulzera Fehl- und Mangelerna¨hrung Sto¨rungen im Flu¨ssigkeits- und Elektrolythaushalt
6.2 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation
¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
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Depression, Angststo¨rung Chronische Schmerzen Sensibilita¨tssto¨rungen Herabgesetzte ko¨rperliche Belastbarkeit / Gebrechlichkeit Starke Sehbehinderung Ausgepra¨gte Schwerho¨rigkeit
Ferner werden als weitere fu¨r ein geriatrisches Syndrom relevante Sachverhalte alternativ genannt: ¢ Mehrfachmedikation ¢ Herabgesetzte Medikamententoleranz ¢ Ha¨ufige Krankenhausbehandlung (Drehtu¨reffekt) Wenngleich fachlich auch der spezifisch geriatrische Gehalt einiger dieser Merkmale hinterfragt werden ko¨nnte, ist es das Verdienst dieser Operationalisierung, erstmals Kriterien fu¨r den Begriff „geriatrisch“ entwickelt und zwischen Kostentra¨gern, Medizinischen Diensten und Fachgesellschaften fu¨r die sozialmedizinische Begutachtung zumindest im Teilbereich der medizinischen Rehabilitation konsentiert zu haben. Zusammenfassend kann umso eindeutiger von einem geriatrischen Patienten ausgegangen werden, je a¨lter, multimorbider und vielfa¨ltiger geriatrietypisch beeintra¨chtigt er ist. Betrachtet man die Altersstruktur sowie Art und Umfang der Beeintra¨chtigungen der Versicherten, die fu¨r die soziale Pflegeversicherung zu begutachten sind, so ist zum ganz u¨berwiegenden Teil von geriatrischen Patienten auszugehen.
6.2.1 Geriatrische Rehabilitation Auch fu¨r die geriatrische Rehabilitation mu¨ssen grundsa¨tzlich die Kriterien der Rehabilitationsbedu¨rftigkeit, -fa¨higkeit, eines alltagsrelevanten Rehabilitationsziels sowie einer positiven Rehabilitationsprognose erfu¨llt sein. Die Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation spezifiziert diese Kriterien fu¨r die geriatrische Rehabilitation allerdings [Penz 2009]. So benennt sie als geriatrietypische Indikatoren fu¨r Rehabilitationsbedu¨rftigkeit bspw. Einschra¨nkungen beim Essen und Trinken, in der perso¨nlichen Hygiene, in der Mobilita¨t, in der Kommunikation, in der Gestaltung einer angemessenen Bescha¨ftigung und der Gestaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Integration. Das Vorliegen einer Pflegestufe, der Aufenthalt in einem Pflegeheim, eine amtlich bestellte Betreuung oder die Verwendung von Hilfsmitteln stellen keine Ausschlusskriterien dar, sondern belegen sogar eher die Rehabilitationsbedu¨rftigkeit. Fu¨r die Rehabilitationsfa¨higkeit gelten in der Geriatrie niedrigschwelligere Einschlusskriterien als in der indikationsspezifischen Rehabilitation. Es genu¨gen im Kern die Stabilita¨t der Vitalparameter, die medizinische, pflegerische und therapeutische Behandelbarkeit der Erkrankungen des Patienten durch die Rehabilitationseinrichtung und eine physische und psychische Belastbarkeit des Patienten, die die mehrmals ta¨gliche aktive Beteiligung an den Rehabilitationsmaßnahmen ermo¨glicht. Begleiterkrankungen und Komplikationen einschließlich kognitiver Beeintra¨chtigungen gelten nur insoweit als Ausschlusskriterien als sie diese aktive Teilnahme verhindern. Auch fu¨r alltagsrelevante Rehabilitationsziele entha¨lt die Richtlinie konkrete Beispiele wie das Erreichen der Stehfa¨higkeit, des Bett-Rollstuhl-Transfers, der Rollstuhlfa¨-
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higkeit etc. Hierbei ist zu beachten, dass bisweilen markant erscheinende Rehabilitationsziele keine Alltagsrelevanz haben ko¨nnen, wie z. B. das Erlernen des Treppensteigens bei einem Patienten der im Pflegeheim mit entsprechenden Fahrstu¨hlen lebt. Andere, relativ gering erscheinende Ziele ko¨nnen jedoch von gro¨ßter Alltagsrelevanz sein. So kann die Mo¨glichkeit des Bett-Stuhl-Transfers mit einer statt zwei Hilfskra¨ften daru¨ber entscheiden, ob der Betroffene unter realen Versorgungsbedingungen fu¨r den Rest seines Lebens faktisch ans Bett gebunden bleibt oder nicht. Eine positive Rehabilitationsprognose gilt auch als gegeben, wenn das alltagsrelevante Rehabilitationsziel „lediglich“ durch Kompensation, also das Erlernen von Umwegstrategien bzw. den Ausbau verbliebener Teilfunktionen oder die Einleitung von Adaptationsmaßnahmen z. B. durch Hilfsmittel erreichbar scheint.
6.2.2 Sonderform: Mobile geriatrische Rehabilitation Grundsa¨tzlich ist auch in der Geriatrie die Vorrangigkeit ambulanter vor stationa¨ren Rehabilitationsmaßnahmen zu pru¨fen. Im Wesentlichen setzt eine ambulante Erbringung die notwendige Mobilita¨t des Rehabilitanden, die Erreichbarkeit der Einrichtung in einer zumutbaren Fahrtzeit, sowie die Sicherstellung der notwendigen medizinischen und pflegerischen Versorgung zu Hause voraus. Ferner muss die Scha¨digung bzw. Beeintra¨chtigung mit den Mitteln der ambulanten Einrichtung ada¨quat behandelbar sein. Eine Sonderform der ambulanten Rehabilitation stellt die mobile geriatrische Rehabilitation dar, fu¨r die spezifische Indikationskriterien gelten. Hierunter versteht man die Erbringung der Rehabilitationsmaßnahme im gewohnten Lebensumfeld der Rehabilitanden, d. h. das Rehabilitationsteam sucht fu¨r die Therapien den Rehabilitanden auf. Sie ist nach den entsprechenden Rahmenempfehlungen der Spitzenverba¨nde der GKV vom 1. 05. 2007 bisher ausschließlich fu¨r geriatrische Patienten gedacht, die in den etablierten ambulanten oder stationa¨ren Rehabilitationsstrukturen nicht rehabilitierbar sind und somit unterversorgt wa¨ren [Spitzenverba¨nde der gesetzlichen Krankenkassen 2007]. Es handelt sich hierbei insbesondere um kognitiv beeintra¨chtigte Patienten, die sich in einer nicht gewohnten ra¨umlichen und sozialen Umgebung nicht zurechtfinden und daher dort rehabilitativ nicht fu¨hrbar sind. Diese Personengruppe zeichnet sich somit dadurch aus, dass fu¨r sie die notwendige Rehabilitationsfa¨higkeit und eine positive Rehabilitationsprognose lediglich bei Erbringung der Rehabilitationsmaßnahme im gewohnten Lebensumfeld (das im Einzelfall auch das Pflegeheim sein kann) bestehen. Des Weiteren nennen die Rahmenempfehlungen Patienten mit erheblichen Scha¨digungen der Sprech- und Sprach- bzw. Seh- und Ho¨rfunktion, bei denen im ha¨uslichen Bereich durch Anwesenheit von Angeho¨rigen oder durch technische Hilfen etablierte Kompensations- und Adaptationsmo¨glichkeiten als Voraussetzung fu¨r eine positive Rehabilitationsprognose zur Verfu¨gung stehen. Als zusa¨tzliche Vorteile dieser Rehabilitationsform lassen sich das Training unter den konkreten Bedingungen des Lebensumfeldes und der unmittelbare Einbezug von Angeho¨rigen oder Bezugspersonen in die notwendigen Unterstu¨tzungs- resp. Pflegemaßnahmen nennen. Limitierend kann das begrenzte Setting rehabilitativer Behandlungsmo¨glichkeiten durch fehlende Transportabilita¨t mancher in der Rehabilitation zum Einsatz kommender Gera¨te oder Verfahren sein. Wenngleich sich der Ausbau mobiler Rehabilitationsangebote derzeit bundesweit noch zo¨gerlich gestaltet, ko¨nnte dieser Sonderform der geriatrischen Rehabilitation bei
6.2 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation
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der Rehabilitationsabkla¨rung im Rahmen der Pflegebegutachtung nach SGB XI aufgrund der kognitiven Beeintra¨chtigungen vieler dieser Antragsteller eine besondere Bedeutung zukommen.
6.2.3 Geriatrische Rehabilitationsindikation im Rahmen der Pflegebegutachtung ¢ber die formalen Besonderheiten geriatrischer Rehabilitation, wie sie in der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation ausgefu¨hrt sind, hinaus gibt es einige weitere Aspekte, die typischerweise im Hinblick auf eine Rehabilitationsempfehlung bei geriatrischen Patienten bedacht werden mu¨ssen. So entwickeln sich z. B. Scha¨digungen mit Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Teilhabe bei dieser Patientengruppe oft schleichend und u¨ber viele Jahre. Selbst wenn ein akutes Krankheitsereignis auftritt, ko¨nnen nachfolgend verbliebene Beeintra¨chtigungen oft nicht allein diesem Ereignis zugeschrieben werden, sondern es u¨berlagern sich ha¨ufig bereits vorbestehende und durch das Akutereignis hinzugekommene Behinderungen. Der Bezugspunkt fu¨r das im gu¨nstigsten Fall wieder erreichbare Maß an Selbsta¨ndigkeit nach einer akuten Erkrankung ist bei geriatrischen Patienten oft nicht ein unbeeintra¨chtigter funktionaler Vorstatus, sondern ein mitunter schon jahrelang eingeschra¨nkter Aktivita¨ts- und Teilhabestatus. Um die Chancen rehabilitativer Maßnahmen realistisch einscha¨tzen zu ko¨nnen, sind daher in der Regel Zusatzinformationen erforderlich, welche Beeintra¨chtigungen in welchem Umfang seit wann bestehen. Ferner ist gegebenenfalls zu kla¨ren, welche Maßnahmen mit rehabilitativer Zielsetzung etwa als (Fru¨h-) Rehabilitationsmaßnahme oder Heilmittelerbringung wann und mit welchem Erfolg durchgefu¨hrt worden sind. Der Wunsch nach Erhalt von Pflegeleistungen oder andere Gru¨nde ko¨nnen im Einzelfall die Motivation der Versicherten zu rehabilitativen Maßnahmen mindern. Hiervon sollten aber Depressionen, mit denen in dieser Patientengruppe ebenfalls in nicht unerheblichem Umfang zu rechen ist [Fischer et al. 2002], als Ursache einer Rehabilitationsverweigerung abgegrenzt bzw. bei entsprechendem Verdacht eine Abkla¨rung angeregt werden. Eine erste Abkla¨rung kann auch begleitend im Rahmen einer geriatrischen Rehabilitation erfolgen, wenn die depressiven Sto¨rungen nicht so schwer sind, dass sie die aktive Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen verhindern.
6.2.4 Geriatrische Rehabilitation bei Demenz Des Weiteren ist im Rahmen einer Pflegebegutachtung geha¨uft mit begleitenden kognitiven Beeintra¨chtigungen zu rechnen. Grundsa¨tzlich ist auch dies in der geriatrischen Rehabilitation eher ein ha¨ufiges als ein Ausnahmepha¨nomen. Erhebungen hierzu gehen von bis zu 40 Prozent kognitiv beeintra¨chtigter Rehabilitanden in geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen aus. Hierbei stellen allerdings nahezu immer Beeintra¨chtigungen durch andere Gesundheitssto¨rungen die rehabilitationsbegru¨ndende Hauptdiagnose und die Demenz eine Nebendiagnose dar. Dennoch konnten auch fu¨r diese Gruppen deutliche Rehabilitationserfolge nachgewiesen werden, die zumindest fu¨r Patienten mit leicht- bis mittelschwerer Demenz kaum hinter denen nicht kognitiv beeintra¨chtigter Rehabilitanden zuru¨ckstehen [Gassmann 2007]. Vertiefend zu diesem Aspekt sei auf den nachfolgenden Beitrag (Kapitel 6.3) verwiesen.
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6.2.5 Erfolge geriatrischer Rehabilitation Abschließend sei angemerkt, dass es entgegen vielfacher Meinung durchaus Daten fu¨r Erfolge geriatrischer Rehabilitationsmaßnahmen gibt. So konnte Nosper beispielsweise in einer Untersuchung in Rheinland-Pfalz nachweisen, dass die geriatrische Rehabilitation bei Schlaganfallpatienten nicht nur signifikante Verbesserungen in der Selbsta¨ndigkeit (gemessen mit dem FIM) erzielte, sondern hierbei trotz a¨lterer und sta¨rker beeintra¨chtigter Patienten ihre Ergebnisse in ku¨rzerer Zeit und damit effizienter erbrachte als dies in einem Vergleichskollektiv der neurologischen Rehabilitation der Fall war [Nosper et al 2003]. Die Zwischenergebnisse einer noch nicht abschließend auswerteten Studie der Universita¨t Bielefeld unter Beteiligung des MDK Westfalen-Lippe weisen darauf hin, dass der Effekt einer Rehabilitation weniger in der unmittelbaren Minderung bzw. Vermeidung einer Pflegestufe als vielmehr in einer deutlichen Verzo¨gerung einer Erho¨hung der Pflegestufe zu liegen scheint [Wingenfeld 2003a]. Die Schleswig-Holstein-Studie konnte im Rahmen einer 15-monatigen Nachbeobachtung die Nachhaltigkeit geriatrischer Behandlung gegenu¨ber einer nicht geriatrisch behandelten Kontrollgruppe im Hinblick auf die Vermeidung von Hospitalisierung in Pflegeheimen nachweisen und hierbei auch deren erhebliche gesundheitso¨konomische Kosteneffizienz trotz ho¨herer Kosten fu¨r den initial rehabilitativen Behandlungsmehraufwand belegen [GSbG 1995]. Daru¨ber hinaus konnte der Nutzen und die Wirksamkeit geriatrischer Interventionsprogramme auch in vielen internationalen randomisiert kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Meier-Baumgartner et al. 2002, Stuck et al 1993].
6.2.6 Fazit Der ganz u¨berwiegende Teil der Antragsteller auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erfu¨llt die Kriterien des Merkmals „geriatrisch“. Eine ggf. bestehende Rehabilitationsindikation ist daher auch unter den niedrigschwelligeren Kriterien fu¨r eine geriatrische Rehabilitation und – insbesondere bei kognitiv eingeschra¨nkten Patienten – unter Erbringung der Leistung im gewohnten Lebensumfeld (mobile geriatrische Rehabilitation) zu pru¨fen. Entscheidend bleibt aber auch fu¨r die geriatrische Rehabilitation die Frage, ob ein alltagsrelevantes Rehabilitationsziel erkennbar ist, das nur durch die Erbringung einer solchen komplexen Rehabilitationsmaßnahme in dem in der Regel hierfu¨r zur Verfu¨gung stehenden Zeitraum mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreichbar erscheint. Ist ein solches Ziel allerdings erkennbar, sollte der Versicherte nach Ausschluss etwaiger sonstiger Hindernisse zu einer solchen Maßnahme motiviert und eine entsprechende Empfehlung abgegeben werden.
6.3 Rehabilitation bei Demenz Norbert Ro¨sler und Bernhard Fleer In der gesellschaftlichen Diskussion hat das Thema Demenzerkrankungen und Pflegebedu¨rftigkeit angesichts der demografischen Entwicklung zunehmende Relevanz. Wenngleich in der ¤ffentlichkeit viel u¨ber diese Krankheitsgruppe berichtet wird, be-
6.3 Rehabilitation bei Demenz
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stehen weiterhin erhebliche Informationsdefizite der betroffenen Menschen und ihrer Angeho¨rigen hinsichtlich Krankheitsverlauf, Behandlung, ada¨quatem Umgang mit den Problemen der Angeho¨rigen und Hilfe- und Unterstu¨tzungsmo¨glichkeiten. Viele pflegende Angeho¨rige wenden sich ha¨ufig erst dann an Institutionen oder Beratungsstellen, wenn sich die Situation im ha¨uslichen Umfeld krisenhaft zugespitzt hat und die Angeho¨rigen an ihrer Belastbarkeitsgrenze angelangt sind. Daru¨ber hinaus ist die Versorgungsrealita¨t in den Pflegeheimen vielerorts zu wenig auf Menschen mit Demenz ausgerichtet, obwohl u¨ber die Ha¨lfte der in Pflegeheimen lebenden Bewohner an einer Demenz leidet. Hinweise auf Defizite in der Versorgung von Menschen mit Demenz finden sich bezogen auf das medizinische, pflegerische und soziale Versorgungssystem. Einerseits liegen vielfa¨ltige Erkenntnisse u¨ber eine fru¨hzeitige und angemessene Diagnostik, Differentialdiagnostik und Therapie vor, andererseits mangelt es ha¨ufig an der Umsetzung dieses Wissens in die Versorgungsrealita¨t. Eine Verbesserung der Versorgungssituation wird daher gefordert, wobei auch Fragen zur Rehabilitation bei Demenz wachsende Bedeutung erlangen.
6.3.1 Neuromedizinische Grundlagen Nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) ist Demenz ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Sto¨rungen vieler ho¨herer kortikaler Funktionen einschließlich Geda¨chtnis mit Sto¨rungen u. a. bei der Aufnahme und Wiedergabe neuerer Informationen, Auffassung, Denken, Orientierung, Lernfa¨higkeit, Rechnen, Sprache und Urteilsvermo¨gen. Das Bewusstsein ist nicht getru¨bt. Die kognitiven Beeintra¨chtigungen werden gewo¨hnlich von Vera¨nderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf. Die Sto¨rung muss seit mindestens sechs Monaten und nicht nur im Rahmen eines Delirs bestehen. Die Symptomatik ist so ausgepra¨gt, dass dadurch Alltagsaktivita¨ten deutlich beeintra¨chtigt sind. Klinisch la¨sst sich der kortikale vom subkortikalen Demenztyp unterscheiden. Die kortikale Demenz geht typischerweise mit Sto¨rungen der kortikalen Hirnleistungen wie deklaratives Geda¨chtnis, Sprache, Handeln, visuospatiale Leistungen einher. Der wichtigste Vertreter dieses Subtyps ist die Alzheimer-Krankheit. Bei der subkortikalen Demenz, die z. B. bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie vorkommt, stehen Verlangsamung, Aufmerksamkeits- und Antriebssto¨rung im Vordergrund [Wallesch / Fo¨rstl 2005]. Es werden folgende Demenzstadien unterschieden, die fließend ineinander u¨bergehen: ¢ leicht: mit leichten, aber messbaren Schwierigkeiten beim Lernen, gesteigerter Vergesslichkeit, Schwierigkeiten in der Organisation komplexerer Leistungen, aber erhaltener Fa¨higkeit, unabha¨ngig zu leben. ¢ mittelgradig: mit schweren Defiziten des Neugeda¨chtnisses sind die betroffenen Menschen nicht mehr imstande, weitgehend unabha¨ngig zu leben, wobei einfache, gewohnte Leistungen immer noch erbracht werden ko¨nnen. ¢ schwer: mit aufgehobenem Neugeda¨chtnis, fragmentiertem Altgeda¨chtnis und der Unfa¨higkeit, auch einfache Ta¨tigkeiten selbstverantwortlich auszufu¨hren [Fo¨rstl 2006].
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Neben dieser kognitiven Symptomatik sind nicht-kognitive Hirnfunktionsbereiche wie Affektivita¨t, Wahrnehmung und Perso¨nlichkeitsmerkmale betroffen. Deshalb treten ha¨ufig Angst, Aggressivita¨t, depressive Symptome, Halluzinationen, Schlafsto¨rungen, Unruhe und Wahninhalte auf, die sowohl eine starke Belastung fu¨r die betreuenden Angeho¨rigen als auch eine Verschlechterung der Lebensqualita¨t der betroffenen Menschen bedeuten. Die Alzheimer-Krankheit ist die ha¨ufigste Ursache einer Demenz im ho¨heren Lebensalter (u¨ber 60 Prozent). Die neurobiologischen Korrelate der Alzheimer-Krankheit mit Amyloidablagerungen, Neurofibrillenvera¨nderungen, immunologischen Prozessen und Beeintra¨chtigungen mehrerer Neurotransmittersysteme sind hochkomplex und fu¨hren u¨ber einen ausgepra¨gten Synapsenverlust zur Unterbrechung kortikokortikaler, limbischer und kortikosubkortikaler Verbindungen [Jellinger / Ro¨sler 2000], zudem lassen sich Bezu¨ge zwischen psychosozialer Umwelt, Biographie und neuronaler Funktion beschreiben [Bauer 2002]. Der hinsichtlich seiner prima¨ren Ursache bisher letztlich ungekla¨rte Prozess beginnt Jahre bis Jahrzehnte vor der klinischen Manifestation der Erkrankung, wobei das Lebensalter der wichtigste Risikofaktor ist. Nach ICD-10 ist fu¨r die wahrscheinliche Diagnose einer Alzheimer-Krankheit neben der Erfu¨llung der allgemeinen Demenzkriterien ein schleichender Beginn der Symptomatik mit langsamer Verschlechterung, der Ausschluss von Hinweisen auf andere Ursachen des Demenzsyndroms sowie das Fehlen eines plo¨tzlichen Beginns oder neurologischer Herdsymptome in der Fru¨hphase der Erkrankung erforderlich. Andere Erkrankungen mit demenziellem Syndrom sind frontotemporale Demenzformen, Lewy-Ko¨rperchen-Krankheit sowie Demenz bei Parkinson-Syndrom, vaskula¨re Demenzen (subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, Multiinfarkt-Demenz, strategischer Hirninfarkt), infektio¨se und nicht-infektio¨se entzu¨ndliche Erkrankungen (Vaskulitiden, HIV-Demenz, Multiple Sklerose), nutritiv-toxisch, metabolisch oder traumatisch bedingte Demenzen. Die Erkennung so genannter sekunda¨rer Demenzformen (etwa 10 Prozent) ist bei meist behandelbarer Ursache sehr wichtig. Neuronale Plastizita¨t bezeichnet die Fa¨higkeit des Gehirns, funktionelle und morphologische Modifikationen als Reaktion auf Strukturla¨sionen oder vera¨nderte Umweltbedingungen zu entwickeln. Dabei wirksame Mechanismen sind u.a. Vikariation, wobei die Funktion eines gescha¨digten Hirnareals durch eine andere Hirnregion u¨bernommen wird, Plastizita¨t kortikaler Repra¨sentationsfelder durch Stimulation, Erfahrung und Lernen sowie synaptische Plastizita¨t mit Steigerung der synaptischen ¢bertragungssta¨rke oder in Form der Langzeitpotenzierung als Grundlage fu¨r die Geda¨chtnisbildung [Nelles 2004]. Auch bei ¢berlegungen hinsichtlich nicht-medikamento¨ser Therapiekonzepte fu¨r Demenzkranke ist dabei stadienabha¨ngig die Hypothese von Bedeutung, dass sich die Reparatur- und Regenerationsmechanismen im Gehirn durch gezielte Aktivierung, positive psychosoziale Interaktion und Stimulation anregen lassen [Stief / Schreiter-Gasser 2004], wobei es Hinweise fu¨r die ¢berlegenheit einer multimodalen gegenu¨ber einer unimodalen Aktivierung gibt [Oswald 2004].
6.3.2 Sozialmedizinische ¢berlegungen Derzeit ist von etwa einer Million demenzkranker Menschen in Deutschland und von ja¨hrlich etwa 200.000 Neuerkrankungen auszugehen. Inzidenz und Pra¨valenz steigen mit zunehmendem Lebensalter steil an; so leiden unter den 65- bis 69-ja¨hrigen Men-
6.3 Rehabilitation bei Demenz
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schen weniger als 2 Prozent, bei den 90-ja¨hrigen und a¨lteren Menschen u¨ber 30 Prozent an einer Demenz. Demenz ist die wichtigste Ursache fu¨r Pflegebedu¨rftigkeit im Alter und der wichtigste Grund fu¨r eine Heimaufnahme; u¨ber 60 Prozent der Heimbewohner sind von einer Demenz betroffen. Die durchschnittliche Krankheitsdauer vom Beginn der klinischen Symptomatik an gerechnet wird mit 4,7 bis 8,1 Jahren fu¨r die Alzheimer-Krankheit und mit etwa einem Jahr weniger fu¨r vaskula¨re Demenzen angegeben [Weyerer 2005]. Nach § 11 Abs. 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedu¨rftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhu¨ten oder ihre Folgen zu mildern, wobei die Leistungen unter Beachtung des SGB IX erbracht werden. In § 40 SGB V wird festgelegt, dass die Krankenkasse aus medizinischen Gru¨nden erforderliche ambulante oder stationa¨re Rehabilitationsleistungen erbringt, wenn bei Versicherten eine ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht. Nach § 18 SGB XI haben die Pflegekassen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) pru¨fen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedu¨rftigkeit erfu¨llt sind und welche Stufe der Pflegebedu¨rftigkeit vorliegt; im Rahmen dieser Pru¨fungen sind auch Feststellungen daru¨ber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhu¨tung einer Verschlimmerung der Pflegebedu¨rftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; in § 31 SGB XI wird der Vorrang der Rehabilitation vor Pflege beschrieben. Aus Sicht der Deutschen Alzheimer Gesellschaft muss der Begriff der Rehabilitation demenzspezifisch definiert werden. Das Ziel dabei ist, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und noch vorhandene Fa¨higkeiten zu stabilisieren; letztendlich soll durch eine rehabilitative Leistung eine Verzo¨gerung des Eintritts der Pflegebedu¨rftigkeit erreicht werden [von Lu¨tzau-Hohlbein 2004]. Demenz kann nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsfolgenmodell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als ein funktioneller, interaktiver und prozesshafter Vorgang auf den Ebenen Gehirn, Perso¨nlichkeit und Umwelt verstanden werden [Hirsch 2008]. Rehabilitative Ansa¨tze bei Demenz lassen sich dabei als Teile eines Prozesses auffassen, der sowohl Defizite als auch Ressourcen der betroffenen Menschen beru¨cksichtigt [Stief / Schreiter-Gasser 2004]. Rehabilitation nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schließt dabei alle Maßnahmen ein, die darauf gerichtet sind zu verhu¨ten, dass eine Fa¨higkeitssto¨rung eine Beeintra¨chtigung verursacht sowie alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, das Ausmaß von Fa¨higkeitssto¨rungen oder Beeintra¨chtigungen zu verringern. In der Rehabilitations-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses finden sich Definitionen zu den Begriffen der Rehabilitationsbedu¨rftigkeit, Rehabilitationsfa¨higkeit und Rehabilitationsprognose, die bei bei der sozialmedizinischen Begutachtung rehabilitativer Leistungen fu¨r demenzkranke Menschen Anwendung finden [G-BA 2008]. Eine positive Rehabilitationsprognose kann beispielsweise dann vorliegen, wenn Adaptations- oder Kompensationsmo¨glichkeiten oder eine alltagsrelevante Besserung der Selbsthilfefa¨higkeit erreichbar erscheinen. Die sozialmedizinische Indikationsstellung ergibt sich aus der zusammenfassenden individuellen Bewertung der Scha¨digungen sowie der resultierenden Beeintra¨chtigungen der Aktivita¨ten und Teilhabe unter
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6 Rehabilitation und Pflegeversicherung
Beru¨cksichtigung der Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren) nach ICF [Leistner / Matthesius 2005].
6.3.3 Gegenwa¨rtig diskutierte nicht-medikamento¨se Therapieansa¨tze Derzeit liegt kein nach den Maßsta¨ben der evidenzbasierten Medizin umfassend evaluiertes Rehabilitationskonzept fu¨r Demenzkranke vor. Das Institut fu¨r Qualita¨t und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat in einer Nutzenbewertung (Januar 2009) Hinweise fu¨r sowohl nu¨tzliche als auch scha¨dliche Effekte einzelner nichtmedikamento¨ser Strategien (Angeho¨rigentraining, emotions-, aktivierungsorientierte, kognitive Verfahren) beschrieben, den langfristigen Nutzen der untersuchten Behandlungsstrategien als nicht belegt eingescha¨tzt und zusa¨tzliche randomisierte Studien fu¨r wu¨nschenswert erachtet [IQWiG 2009]. Vor diesem einschra¨nkenden Hintergrund kann eine Reihe nicht-medikamento¨ser Therapieansa¨tze benannt werden, die einerseits als Elemente der ambulanten Behandlung im Wohnumfeld und andererseits auch in einem rehabilitativen Kontext aktuell diskutiert werden [Stief / Schreiter-Gasser 2004, Romero 2005, Schmitt / Fro¨lich 2007, Bo¨hme 2008]. Hauptziele nichtmedikamento¨ser Therapie bei Menschen mit einer Demenz sind dabei: ¢ ¢ ¢ ¢
bestmo¨gliche Erhaltung alltagspraktischer Fa¨higkeiten bestmo¨gliche Erhaltung kognitiver Kompetenz bestmo¨gliche Erhaltung sozialer Kompetenz psychisches Wohlbefinden mit bestmo¨glicher Reduktion neuropsychiatrischer Symptomatik ¢ physisches Wohlbefinden. Beim Konzept der kognitiven Rehabilitation werden neben individuellen kognitiven Zielen (z. B. Lernen alltagsrelevanter Personennamen) andere individuelle Bedu¨rfnisse beru¨cksichtigt. Da es keine Studie gibt, die einen anhaltenden Nutzen von Geda¨chtnisu¨bungen bei Demenzkranken nachweist, werden keine vorgegebenen Trainingsprogramme verwendet, vielmehr werden kognitive und emotionale Reaktionen der betroffenen Menschen und ihres sozialen Umfeldes in holistischer Weise integrativ beru¨cksichtigt, wobei das ¢ben alltagspraktischer Fa¨higkeiten wichtig ist, um die Selbsta¨ndigkeit so lange wie mo¨glich wie zu erhalten. Zu den Zielen psychotherapeutischer Hilfen geho¨rt es, stressgenerierende Erfahrungen (z. B. ¢berforderung oder interpersonelle Konflikte) zu reduzieren. Beispiele sind Gruppenpsychotherapie und kognitive bewa¨ltigungsorientierte Verhaltenstherapie zur Modifikation dysfunktionaler Kognitionen und zur Beeinflussung spezieller Verhaltensprobleme. Die Realita¨tsorientierungstherapie (ROT) dient der Fo¨rderung der Orientierungsfa¨higkeit und der sozialen Kompetenzen. Sie nutzt direkt u¨bende Verfahren in Kombination mit allgemeiner kognitiver Stimulation und der Einfu¨hrung externer Hilfen, z. B. akustische und visuelle Orientierungshilfen. Das Konzept der Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) empfiehlt individuelle Auswahl von Erinnerungen, systematische Bescha¨ftigung mit diesen Erinnerungen ohne Trainingscharakter und Hilfen zur subjektiven Stimmigkeit der Erinnerungen. SET beinhal-
6.3 Rehabilitation bei Demenz
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tet die Erwartung, dass Erfahrungen, die im Einklang mit den jeweiligen Selbst-Strukturen des betroffenen Menschen bleiben und damit diese besta¨tigen und stabilisieren, zum Wohlbefinden und zur Reduktion der psychopathologischen Symptome beitragen. Das in diesem Zusammenhang vorgeschlagene multimodale Gesamtprogramm umfasst daru¨ber hinaus Schwerpunkte zur Diagnoseu¨berpru¨fung, fu¨r medikamento¨se Behandlung, Entspannung, erlebnisorientierte Freizeitgestaltung, Gymnastik, Kunsttherapie, Musiktherapie, soziale Aktivita¨ten, Sportspiele, stu¨tzende Gespra¨che sowie Hilfen zur Wissensvermittlung und Entlastung der Angeho¨rigen [Romero 2004]. Das Verfahren der Validationstherapie, das verbale und nonverbale Kommunikationstechniken beinhaltet, wird vorrangig bei Menschen mit schwerer Demenz eingesetzt. Im Mittelpunkt der ¢berlegungen steht die Gu¨ltigkeit der subjektiven Welt des dementen Menschen, wodurch die interpersonelle Kommunikation erleichtert werden kann. Als weitere nicht-medikamento¨se Therapieelemente werden Biographiearbeit, Ergotherapie, Kunsttherapie, Logopa¨die, Milieutherapie, Musiktherapie, Physiotherapie, multisensorische Stimulation, Tanztherapie, therapeutischer Humor und tierunterstu¨tzte Therapie genannt. Interventionen, bei denen Hilfen fu¨r betreuende Angeho¨rige mit Informationen u¨ber die Krankheit und die Versorgungsangebote vermittelt werden, ko¨nnen dazu beitragen, mit dem dementen Menschen besser zu kommunizieren und die Aufnahme in ein Pflegeheim zu verzo¨gern. Angeho¨rigen-Interventionsprogramme ko¨nnen dabei Dysstress-Reaktionen von Angeho¨rigen verringern, gu¨nstige Auswirkungen auf die Befindlichkeit der dementen Menschen entwickeln und eine erweiterte Inanspruchnahme ambulanter und sozialer Hilfen unterstu¨tzen [Romero et al. 2007].
6.3.4 Fazit und Perspektive Von zentraler Bedeutung bei demenziellen Erkrankungen ist neben der Nutzung pra¨ventiver Mo¨glichkeiten die fru¨hzeitige Diagnosestellung und Therapieeinleitung. Erforderlich ist die Koordination und Kooperation der verschiedenen Bereiche der kurativen Medizin, der medizinischen Rehabilitation und der Pflege sowie weiterer Angebote (z. B. Selbsthilfegruppen), um eine Verbesserung der Versorgungssituation von Menschen mit demenziellen Erkrankungen zu erreichen. Ein nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin umfassend evaluiertes Rehabilitationskonzept fu¨r Demenzkranke liegt bisher nicht vor, so dass an der ICF orientierte wissenschaftliche Studien zu diesem Thema erforderlich sind.
7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
7.1 Planung und Durchfu¨hrung des Modellprojektes Holger Berg Im Rahmen der Vorbereitungen zur Reform der Pflegeversicherung hat das Bundesministerium fu¨r Gesundheit (BMG) im November 2006 einen Beirat mit der Aufgabe betraut, den aktuellen sozialrechtlichen Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit zu u¨berpru¨fen und eine Empfehlung zu dessen Neufassung zu erarbeiten. Bereits im Vorfeld versta¨ndigten sich das BMG und die Spitzenverba¨nde der Pflegekassen darauf, eine wissenschaftliche Studie zu initiieren, die zur Begleitung dieses Prozesses die beno¨tigten Beratungs- und Entscheidungsgrundlagen bereitstellen sollte. Ein entsprechender Projektauftrag erging an das Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld (IPW), das seinen Ergebnisbericht zum 28. Februar 2007 vorlegte [Wingenfeld et al. 2007]. Dem IPW-Projekt kam die Funktion einer Vorstudie zu, der zwei weitere Arbeitsphasen folgen sollten. In einer sich anschließenden ersten Hauptphase sollte ein neues Begutachtungsinstrument erarbeitet und in einer zweiten Hauptphase praktisch erprobt werden. Vor diesem Hintergrund hatten die Spitzenverba¨nde der Pflegekassen ein Projekt „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit nach dem SGB XI“ ausgeschrieben, das die Entwicklungs- und Erprobungsaufgaben fu¨r die oben genannten Hauptphasen des Prozesses konkretisiert. Aufgrund der gemeinsamen Einscha¨tzung, dass die Bewa¨ltigung dieser Aufgaben die Einbeziehung unabha¨ngiger pflegewissenschaftlicher Expertise ebenso wie der Beru¨cksichtigung des breiten Erfahrungshintergrundes der Medizinischen Dienste bedurfte, haben sich das Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld, der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL), der Medizinische Dienst der Spitzenverba¨nde der Krankenkassen e. V. (MDS) und das Institut fu¨r Public Health und Pflegeforschung der Universita¨t Bremen (IPP) gemeinsam an dieser Ausschreibung beteiligt und den Zuschlag erhalten. Im Zeitraum vom 01. 08. 2007 bis zum 29. 02. 2008 haben das IPW und der MDL WL das neue Begutachtungsverfahren erarbeitet. Die Hauptphase 1 endete am 29. 02. 2008 mit der Abgabe des Abschlussberichtes [Wingenfeld et al. 2008]. Die anschließende Erprobung des neuen Instrumentes erfolgte unter der Leitung des MDS in acht Medizinischen Diensten bei insgesamt etwa 1.500 erwachsenen Antragstellern und bei 240 Kindern. Die Daten der Studie wurden vom IPP ausgewertet. Die Ergebnisse flossen in den gemeinsamen Abschlussbericht der Hauptphase 2 ein, der am 31. 10. 2008 vorgelegt wurde [Windeler et al. 2008]. Hauptziel der zweiten Hauptphase war es, die Gu¨tekriterien Reliabilita¨t und Validita¨t des neuen Begutachtungsassessments und seine praktische Eignung fu¨r die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit zu u¨berpru¨fen. In Anbetracht der Tat-
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
sache, dass es sich um vo¨llig neu entwickeltes Instrument handelte, wurden hervorragende Ergebnisse erzielt. Der Grad der Zuverla¨ssigkeit (Reliabilita¨t) wurde ermittelt, indem bei einem Teil der Probanden zeitnah eine zweite Begutachtung durch einen anderen Gutachter durchgefu¨hrt wurde. Dabei wurde eine gute ¢bereinstimmung der Ergebnisse festgestellt. Die Pru¨fung der Validita¨t bezog sich auf die Zuverla¨ssigkeit des Instrumentes, kognitive Beeintra¨chtigungen erfassen zu ko¨nnen. Ein Vergleich mit dem anerkannten Referenzverfahren zur Erfassung kognitiver Sto¨rungen TFDD (Test zur Fru¨herkennung von Demenz mit Depressionsabgrenzung) ergab sehr gute Werte. Damit erreicht das neue Instrument eines der angestrebten Ziele, die Beeintra¨chtigungen von Menschen mit demenziellen Erkrankungen zuverla¨ssig abzubilden. Die Studie der Hauptphase 2 war allerdings auf Personen beschra¨nkt, die Leistungen nach SGB XI beantragt hatten. Daher konnte in dieser Studie nicht ermittelt werden, wie sich das neue Begutachtungsverfahren und ein neuer Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff auf die Personen auswirkt, die bislang keinen Antrag nach dem SGB XI gestellt hatten, weil sie nach dem bisherigen Verfahren keine Erfolgsaussichten sahen, Leistungen aus der Pflegeversicherung zu erhalten. Unterrepra¨sentiert waren außerdem Bezieher von Eingliederungshilfe und Bewohner von Einrichtungen der Hilfe fu¨r behinderte Menschen. Die Frage nach den Auswirkungen fu¨r die Sozialhilfetra¨ger war nicht Gegenstand der zweiten Hauptphase. Um diese Fragen beantworten zu ko¨nnen, wurde im Sommer 2008 ein Erga¨nzungsprojekt entwickelt und vereinbart. In diesem Zusammenhang wurde das neue Begutachtungsverfahren vom MDK WL bei 242 Bewohnern von Einrichtungen der Hilfe fu¨r behinderte Menschen durchgefu¨hrt. Die Ergebnisse der Hauptphase 2 und der Erga¨nzungsstudie [Rothgang et al. 2009] wurden in die weiteren Beratungen und Empfehlungen des Beirats einbezogen (siehe Kapitel 7.4).
7.2 Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments Barbara Gansweid, Klaus Wingenfeld und Andreas Bu¨scher In diesem Beitrag wird das neue Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit („neues Begutachtungsassessment“ – NBA) vorgestellt und erla¨utert, das im Rahmen des Modellprojekts „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit nach dem SGB XI“ gemeinsam vom Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld (IPW) und vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL) entwickelt wurde. Da zum Zeitpunkt der Entwicklung des NBA noch keine Festlegung u¨ber den neuen Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit getroffen war, orientierten sich die Entwicklungsarbeiten an den pflegewissenschaftlich erarbeiteten „Elementen eines Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs“ aus der IPW-Studie, die vom BMG-Beirat zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs akzeptiert worden waren. Danach ist eine Person „als pflegebedu¨rftig zu bezeichnen, wenn sie infolge fehlender personaler Ressourcen, mit denen ko¨rperliche oder psychische Scha¨digungen, die Beeintra¨chtigung ko¨rperlicher oder kognitiver / psychischer Funktionen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder
7.2 Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments
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Anforderungen kompensiert oder bewa¨ltigt werden ko¨nnten, dauerhaft oder voru¨bergehend zu selbsta¨ndigen Aktivita¨ten im Lebensalltag, selbsta¨ndiger Krankheitsbewa¨ltigung oder selbsta¨ndiger Gestaltung von Lebensbereichen und sozialer Teilhabe nicht in der Lage und daher auf personelle Hilfe angewiesen ist“ [Wingenfeld et al. 2007]. Das Instrument beru¨cksichtigt dementsprechend sowohl ko¨rperliche Beeintra¨chtigungen als auch kognitive / psychische Einbußen und Verhaltensauffa¨lligkeiten, die einen spezifischen Unterstu¨tzungsbedarf nach sich ziehen. Es tra¨gt somit dazu bei, die fu¨r das heutige Begutachtungsverfahren und die geltenden Vorschriften des SGB XI charakteristische Engfu¨hrung auf Hilfebedarf bei ausgewa¨hlten Alltagsverrichtungen zu u¨berwinden. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied zum bisherigen Begutachtungsverfahren besteht darin, dass als Maßstab zur Einscha¨tzung von Pflegebedu¨rftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbsta¨ndigkeit bei der Durchfu¨hrung von Aktivita¨ten oder der Gestaltung von Lebensbereichen verwendet wird.
7.2.1 Aufbau des neuen Begutachtungsassessments Mit dem NBA werden verschiedene Informationen erfasst, die fu¨r die Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit, aber auch aus anderen formalen und inhaltlichen Gru¨nden beno¨tigt werden. Entsprechend ist das neue Begutachtungsinstrument in vier Abschnitte untergliedert: 1. Informationserfassung: Dieser erste Abschnitt des NBA weist viele Gemeinsamkeiten mit dem gegenwa¨rtigen Begutachtungsverfahren auf. Zur Informationserfassung geho¨ren allgemeine Angaben zur Person des Antragstellers und zur Begutachtungssituation, Informationen zur Versorgungssituation und zur Pflegeperson bzw. den Pflegepersonen sowie Angaben zu Erkrankungen, Funktionseinschra¨nkungen und bisherigen gesundheitlichen Problemen. Die begutachteten Personen sollen hier darum gebeten werden, ihre Situation in ihren eigenen Worten zu schildern und die aus ihrer Sicht vorrangigen Problemstellungen und notwendigen Maßnahmen darzustellen. 2. Befunderhebung: Ebenfalls a¨hnlich wie im derzeitigen Verfahren erfolgt eine Befunderhebung, bei der die Gutachter sich neben der Pru¨fung verfu¨gbarer Vorbefunde oder anderer Informationen ein eigenes Bild von den Scha¨digungen und Beeintra¨chtigungen des Pflegebedu¨rftigen machen. Dazu wird eine perso¨nliche Untersuchung des Antragstellers mit Beobachtung alltagspraktischer Ta¨tigkeiten durchgefu¨hrt. Bei Bedarf wird die Befunderhebung durch standardisierte Testverfahren oder Elemente daraus erga¨nzt und abgerundet. 3. Einscha¨tzung der Pflegebedu¨rftigkeit: Die eigentliche Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit erfolgt im dritten Teil des NBA. Darin wird der Grad der Selbsta¨ndigkeit bei der Durchfu¨hrung von Aktivita¨ten und der Gestaltung von Lebensbereichen in insgesamt acht Bereichen („Modulen“) erhoben, einschließlich der Selbsta¨ndigkeit bei außerha¨uslichen sozialen Aktivita¨ten und der Haushaltsfu¨hrung. Diese beiden Bereiche werden jedoch nicht zur Feststellung der Pflegestufe herangezogen. Die Module bilden den Kern des neuen Begutachtungsverfahrens und enthalten alle Merkmale, die in die Bestimmung des Grades der Pflegebedu¨rftigkeit einfließen.
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
Dieser Teil umfasst ferner Fragen zu besonderen pflegerischen Bedarfskonstellationen, zur Einscha¨tzung des Rehabilitationsbedarfs und zu pra¨ventionsrelevanten Risiken. 4. Empfehlungen: Der abschließende Teil des NBA bietet Raum fu¨r Empfehlungen zur Versorgungssituation. In zusammenfassender Form werden hier Empfehlungen zur Pra¨vention und Rehabilitation sowie zu anderen Fragen, beispielsweise zur Stabilisierung der ha¨uslichen Versorgungssituation oder zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung ausgesprochen.
7.2.2 Anforderungen an das NBA Die Entwicklung des NBA war von verschiedenen Anforderungen gepra¨gt, die sich im Aufbau und der Art der Darstellung niedergeschlagen haben. Der vorrangige Zweck des Instruments besteht in der Ermittlung von Leistungsanspru¨chen. Aus dieser zentralen Funktion lassen sich verschiedene Anforderungen wie z. B. die quantifizierende Darstellung von Pflegebedu¨rftigkeit ableiten. Entsprechend wird das Ergebnis der Einscha¨tzung durch das NBA in Form eines Punktwerts ausgedru¨ckt. Daneben sollen die Ergebnisse des neuen Begutachtungsverfahrens als Grundlage fu¨r die individuelle Pflegeplanung Anwendung finden ko¨nnen. Schließlich war bei der Instrumentenentwicklung die Vorgabe zu beachten, dass die Dauer der Begutachtung (Dauer des Hausbesuchs) sich im Rahmen von 60 Minuten bewegen sollte. All diese Anforderungen hatten Konsequenzen fu¨r die inhaltliche und formale Gestaltung des neuen Instruments. So wa¨re es im Hinblick auf die Nutzung der Einscha¨tzungsergebnisse fu¨r die individuelle Pflegeplanung wu¨nschenswert, wenn das Instrument Pflegebedu¨rftigkeit mo¨glichst detailliert erfassen und beschreiben wu¨rde. Dies ist im vorgegebenen Zeitrahmen von maximal 60 Minuten ha¨ufig jedoch nicht mo¨glich. Abgesehen davon, dass der fu¨r die Einscha¨tzung selbst tatsa¨chlich verfu¨gbare Zeitumfang niedriger liegt, haben die Gutachter die Selbsta¨ndigkeit, die Pflegeprobleme, die Ressourcen, die Versorgungsmerkmale und weitere Aspekte des Lebens einer Person zu beurteilen, die ihnen fremd ist. Dabei sind auch spezifische Aspekte der Versorgungssituation zu beru¨cksichtigen, etwa die Hilfsmittelversorgung oder ein ggf. ungedeckter Rehabilitations- oder Pra¨ventionsbedarf. Eine Erfassung sa¨mtlicher Aspekte der individuellen Pflegebedu¨rftigkeit kann daher im vorgegebenen Zeitrahmen nicht erfolgen. Fu¨r die prima¨re Funktion des Begutachtungsinstruments, der Zuordnung von Leistungsanspru¨chen, ist eine solch detaillierte Erfassung auch nicht erforderlich. Hierfu¨r sind lediglich diejenigen Aspekte von Interesse, die fu¨r den Grad der Beeintra¨chtigung von Selbsta¨ndigkeit von wesentlicher Bedeutung sind. Darin liegt auch ein Unterschied zum gegenwa¨rtigen Begutachtungsverfahren: Da dieses mit dem Maßstab „notwendiger Zeitaufwand“ operiert, ist es unbedingt erforderlich, sa¨mtliche Aspekte der jeweiligen Alltagsverrichtung zu beru¨cksichtigen. Blieben Teilaspekte außer Betracht, ka¨me dies der Vernachla¨ssigung eines bestehenden Bedarfs zum Nachteil des Antragstellers gleich, da ein fu¨r die Versorgung notwendiger Zeitaufwand unberu¨cksichtigt bliebe. Weil dieser Unterschied fu¨r das Versta¨ndnis des neuen Verfahrens von großer Bedeutung ist, sei er anhand eines Beispiels illustriert. Bei der Alltagsverrichtung „Waschen“ werden im derzeitigen Begutachtungsverfahren neun Teilhandlungen differenziert (Ganzko¨rperwa¨sche, Teilwa¨sche Oberko¨rper, Teilwa¨sche Unterko¨rper, Teilwa¨sche
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Ha¨nde/Gesicht, Duschen, Baden, Zahnpflege, Ka¨mmen, Rasieren). Das neue Instrument beschra¨nkt sich hingegen auf vier Merkmale, es fasst die Teilhandlungen der Aktivita¨t „sich waschen“ sta¨rker zusammen. So wird etwa die Selbsta¨ndigkeit beim Rasieren, Ka¨mmen und bei der Zahnpflege oder Prothesenreinigung mit einem einzigen Merkmal erfasst. Dies ist mo¨glich, weil die genannten Handlungen einen vergleichbaren Schwierigkeitsgrad aufweisen und weil es bei der Einscha¨tzung eben nicht um die Frage nach dem notwendigen Zeitaufwand, sondern um die Frage nach der selbsta¨ndigen Ausfu¨hrung dieser Handlungen geht. Der Einscha¨tzungsteil des neuen Begutachtungsinstruments entha¨lt rund 90 Merkmale („Items“). Damit wird ein Differenzierungsgrad erreicht, der eine Kompromisslo¨sung zwischen den beiden zentralen Funktionen (Feststellung von Leistungsanspru¨chen, Ergebnisnutzung bei der Hilfe-/Pflegeplanung) und der vorgegebenen Begutachtungsdauer von einer Stunde darstellt.
7.2.3 Die modulare Struktur des NBA Die Aktivita¨ten, Fa¨higkeiten und Lebensbereiche, anhand derer der Grad der individuellen Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit ermittelt wird, finden sich als acht Module im neuen Begutachtungsinstrument wieder: 1. Mobilita¨t: Dieses Modul bezieht sich auf die Selbsta¨ndigkeit bei der Fortbewegung u¨ber kurze Strecken und bei Lagevera¨nderungen des Ko¨rpers. 2. Kognitive und kommunikative Fa¨higkeiten: In diesem Modul geht es weniger um Aktivita¨ten als um Funktionen, die jedoch fu¨r eine selbsta¨ndige Lebensfu¨hrung von hoher Wichtigkeit sind. Dazu geho¨ren: Geda¨chtnis, Wahrnehmung, Denk- und Urteilsvermo¨gen sowie Kommunikation. 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: Dieser Bereich ist Bestandteil eines jeden Assessments zur Erfassung von Pflegebedu¨rftigkeit, da die hier angesprochenen Problemlagen mit einem hohen Maß an personeller Abha¨ngigkeit einhergehen. Angesprochen sind u. a. selbst- und fremdgefa¨hrdendes Verhalten sowie psychische Probleme wie ¥ngstlichkeit, Panikattacken oder Wahnvorstellungen. 4. Selbstversorgung: In diesem Modul wird die Selbsta¨ndigkeit bei der Durchfu¨hrung von Aktivita¨ten zur Selbstversorgung wie z. B. Ko¨rperpflege, sich kleiden, Essen und Trinken sowie Ausscheidungen erhoben. 5. Umgang mit krankheits- / therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: Krankheitsbewa¨ltigung bei chronischer Krankheit wird in diesem Modul verstanden als Aktivita¨t, die fu¨r die autonome Lebensfu¨hrung entscheidende Bedeutung hat. Dazu za¨hlen Anforderungen und Belastungen infolge von Krankheit oder Therapiemaßnahmen, z. B. Medikamenteneinnahme, Wundversorgung, Umgang mit ko¨rpernahen Hilfsmitteln oder Durchfu¨hrung zeitaufwa¨ndiger Therapien innerhalb und außerhalb der ha¨uslichen Umgebung. 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: Dazu geho¨ren die Einteilung von Zeit, Einhaltung eines Rhythmus von Wachen und Schlafen, die Gestaltung verfu¨gbarer Zeit und die Pflege sozialer Beziehungen. 7. Außerha¨usliche Aktivita¨ten: Teilnahme an sozialen und im weitesten Sinne kulturellen Aktivita¨ten einschließlich der außerha¨uslichen Mobilita¨t.
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8. Haushaltsfu¨hrung: Hauswirtschaftliche Ta¨tigkeiten und Regelung der fu¨r die allta¨gliche Lebensfu¨hrung notwendigen gescha¨ftlichen Belange wie die Nutzung von Dienstleistungen, der Umgang mit Beho¨rden und die Regelung finanzieller Angelegenheiten. Diese modulare Struktur spiegelt ein modernes Versta¨ndnis von Pflegebedu¨rftigkeit wider, welches auch in anderen pflegewissenschaftlichen Assessmentinstrumenten und Klassifikationssystemen angelegt ist. Der Bereich der Mobilita¨t wird in nahezu allen komplexeren Assessmentinstrumenten als eigensta¨ndiger Bereich beru¨cksichtigt. Beeintra¨chtigungen der Mobilita¨t sind ha¨ufig auslo¨send fu¨r die Abha¨ngigkeit von personeller Hilfe und daher zentral bei der Bestimmung von Pflegebedu¨rftigkeit. In der Logik der auf Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens basierenden Pflegetheorien finden sich entsprechende Aspekte unter der Bezeichnung „Bewegung“ bzw. „sich bewegen“. Auch in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [WHO 2002] oder der Systematik der Pflegeergebnisklassifikation hat die Mobilita¨t eine zentrale Bedeutung [Johnson et al. 2005]. Das Modul 2 umfasst die fu¨r die selbsta¨ndige Lebensfu¨hrung ebenfalls zentralen kognitiven und kommunikativen Fa¨higkeiten. Als Funktionen bzw. Fa¨higkeiten sind sie in etablierten Modellen, Klassifikationen und Instrumenten ebenfalls ausgewiesen. Das Minimum Data Set des RAI HC 2.0 beispielsweise subsumiert solche Fa¨higkeiten unter dem Titel „Kognitive Fa¨higkeiten“ [Garms- Homolova´ 2002]. In der ICF sind sie Bestandteil der Klassifikation der Ko¨rperfunktionen (Funktionen der Orientierung, des Geda¨chtnisses, der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und des Denkens). Bei einer Beru¨cksichtigung der wesentlichen Aspekte von Pflegebedu¨rftigkeit ist die Erfassung von Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (Modul 3) unabdingbar. Sie findet sich auch in anderen Einscha¨tzungsinstrumenten. Die Selbstversorgung (Modul 4) ist ebenfalls ein wichtiger Bereich fu¨r die Einscha¨tzung von Pflegebedu¨rftigkeit. Die dazu geho¨rigen Aspekte finden sich in anderen Instrumenten zum Teil als „Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens“ oder „ADL“ wieder oder werden ha¨ufig ebenfalls unter der Bezeichnung „Selbstversorgung“ („self care“) ausgewiesen. Die Inhalte dieses Moduls weisen eine hohe ¢bereinstimmung mit den Inhalten anderer Instrumente und auch der ICF auf. Neu und fu¨r die Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit bislang ungewo¨hnlich sind die Inhalte des Moduls 5, die auf den ersten Blick ¥hnlichkeit mit den verordnungsfa¨higen Leistungen der ha¨uslichen Krankenpflege nach dem SGB V aufweisen. Intendiert ist hier jedoch ebenfalls die Erfassung von Selbsta¨ndigkeit bei der Durchfu¨hrung der krankheitsbedingt notwendigen Aktivita¨ten. Andere pflegerische Assessmentverfahren erfassen in diesem Bereich in der Regel die Perspektive der professionellen Pflege, indem die einzelnen Aspekte nicht im Sinne der Selbsta¨ndigkeit einer Person, sondern als professionell anzugehende Problemlagen aufgefasst werden, z. B. als Hautprobleme oder Sto¨rungen vitaler Funktionen. Die Selbsta¨ndigkeit im Bereich der krankheitsbedingten Anforderungen und Belastungen kann auch durch fehlendes Wissen der erkrankten Person beeintra¨chtigt sein, worauf u. a. in der Pflegeergebnisklassifikation Nursing Outcomes Classififation (NOC) hingewiesen wird [Johnson et al. 2005]. Im Modul 6 werden zentrale Aspekte der Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte thematisiert, ein Bereich, der im Rahmen der Kritik am geltenden Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff regelma¨ßig als wichtig benannt wurde.
7.2 Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments
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Das Modul 7 befasst sich mit der Teilnahme an sozialen und im weitesten Sinne kulturellen außerha¨uslichen Aktivita¨ten. In den Begrifflichkeiten der ICF geho¨rt dieser Aspekt zu den „bedeutenden Lebensbereichen“ (z. B. Bildung oder Arbeit) oder zum Gemeinschafts-, sozialen und staatsbu¨rgerlichen Leben. Das Modul umfasst nur wenige Items, da die Fa¨higkeit zur Teilnahme an oder zur Durchfu¨hrung von außerha¨uslichen Aktivita¨ten gro¨ßtenteils nicht vom Charakter dieser Aktivita¨t, sondern vom Grad der Selbsta¨ndigkeit zur Durchfu¨hrung der Aktivita¨t abha¨ngt. Die Haushaltsfu¨hrung in Modul 8 umfasst sowohl hauswirtschaftliche Ta¨tigkeiten als auch die Fa¨higkeit, im Bedarfsfall Dienstleistungsangebote nutzen zu ko¨nnen. In den meisten pflegetheoretischen Arbeiten spielt dieser Aspekt, sofern er u¨berhaupt beru¨cksichtigt wird, nur eine randsta¨ndige Rolle. Tatsa¨chlich geht es bei den notwendigen Hilfen in diesem Bereich nicht in erster Linie um pflegerische, sondern um hauswirtschaftliche oder soziale Hilfen. Aus der Perspektive des Pflegebedu¨rftigen handelt es sich allerdings um elementare Aspekte, weil von der Fa¨higkeit zur selbsta¨ndigen Haushaltsfu¨hrung in hohem Maße abha¨ngt, ob eine Person in der Lage ist, weiterhin in der eigenen Wohnung zu verbleiben.
7.2.4 Bewertung der Selbsta¨ndigkeit Im Gegensatz zum bisherigen Begutachtungsverfahren wird das Ausmaß der Pflegebedu¨rftigkeit nicht mehr nach dem Zeitaufwand bemessen, „den ein Familienangeho¨riger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson fu¨r die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung beno¨tigt“ (§ 15 Abs. 3 SGB XI). Neuer Maßstab fu¨r die Einscha¨tzung von Pflegebedu¨rftigkeit ist der Grad der Selbsta¨ndigkeit bei den ausgewa¨hlten Aktivita¨ten und Lebensbereichen, die in den einzelnen Modulen festgelegt sind. Es wird eingescha¨tzt, ob eine Person grundsa¨tzlich in der Lage ist, eine Aktivita¨t selbsta¨ndig durchzufu¨hren (z. B. Treppen steigen). Dabei ist es unerheblich, ob diese Aktivita¨t tatsa¨chlich notwendig ist (z. B. wenn das Haus oder die Wohnung keine Treppen hat). Selbsta¨ndigkeit ist im NBA definiert als die Fa¨higkeit einer Person, die jeweilige Handlung bzw. Aktivita¨t allein, d. h. ohne personelle Hilfe durchzufu¨hren. Wer in der Lage ist, eine Aktivita¨t mit technischer oder anderer materieller Hilfe durchzufu¨hren, gilt als selbsta¨ndig. Die Bewertung des Grades der Selbsta¨ndigkeit bei Aktivita¨ten erfolgt in den Modulen 1, 4, 6 und 8 mittels einer vierstufigen Skala mit den Auspra¨gungen: ¢ selbsta¨ndig: Die Person kann eine Aktivita¨t in der Regel selbsta¨ndig durchfu¨hren, wobei die Durchfu¨hrung erschwert, verlangsamt oder nur unter Nutzung von Hilfsmitteln mo¨glich sein kann. Entscheidend ist, dass die Person (noch) keine personelle Hilfe beno¨tigt. Voru¨bergehende oder nur vereinzelt auftretende Beeintra¨chtigungen werden dabei nicht beru¨cksichtigt. ¢ u¨berwiegend selbsta¨ndig: Dabei kann die Person den gro¨ßten Teil der Aktivita¨t selbsta¨ndig durchfu¨hren. Personelle Hilfe ist nur in geringem Maße erforderlich, z. B. in Form von motivierenden Aufforderungen, Impulsgebung, Richten / Zurechtlegen von Gegensta¨nden oder punktueller ¢bernahme von Teilhandlungen der Aktivita¨t. ¢ u¨berwiegend unselbsta¨ndig: Die Person kann eine Aktivita¨t nur zu einem geringen Anteil selbsta¨ndig durchfu¨hren, ist aber aufgrund vorhandener Ressourcen in der
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
Lage, sich zu beteiligen. Die personelle Hilfe kann in Form sta¨ndiger Anleitung oder aufwa¨ndiger Motivation auch wa¨hrend der Aktivita¨t notwendig sein, wobei Teilschritte der Handlung u¨bernommen werden mu¨ssen. ¢ unselbsta¨ndig: Die Person kann eine Aktivita¨t in der Regel nicht selbsta¨ndig durchfu¨hren oder steuern, auch nicht in Teilen. Es sind kaum oder keine Ressourcen vorhanden. Die Abha¨ngigkeit von personeller Hilfe bezieht sich auf nahezu alle Aktivita¨ten und Handlungen. Fu¨r die Module 2, 3, 5 und 7 wurden modifizierte Formen dieser vierstufigen Skala entwickelt. Im Modul 2 ist einzuscha¨tzen, ob die entsprechenden Fa¨higkeiten vorhanden, gro¨ßtenteils vorhanden, in geringem Maße vorhanden oder nicht vorhanden sind. Im Modul 3 ist die Ha¨ufigkeit des Auftretens von bestimmten Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen einzuscha¨tzen. Die vierstufige Auspra¨gung ist hier: nie, selten (ein- bis zweimal innerhalb von zwei Wochen), ha¨ufig (zweimal oder mehrmals wo¨chentlich, aber nicht ta¨glich) und ta¨glich. Die Ha¨ufigkeit des Vorkommens einer Aktivita¨t spielt auch im Modul 5 eine wesentliche Rolle. Hier wird bei den einzelnen Items zuerst gefragt, ob die Aktivita¨t vorkommt. Wenn eine Aktivita¨t vorkommt, wird die Ha¨ufigkeit der erforderlichen Hilfe durch eine andere Person erfragt (Ha¨ufigkeit pro Tag, Woche oder Monat). Im Modul 7 erfolgt die Einscha¨tzung anhand vorgegebener Antwortmo¨glichkeiten, die inhaltlich der vierstufigen Standardskala zur Selbsta¨ndigkeit entsprechen. Um der Anforderung Rechnung zu tragen, das Instrument fu¨r Gutachter und Versicherte gleichermaßen anwendungsfreundlich zu gestalten, wurden kurze und unkomplizierte Formulierungen sowie gleichfo¨rmige Skalen gewa¨hlt. Sowohl der Pretest als auch die breiter angelegte Praxiserprobung des Instruments haben gezeigt, dass die Einscha¨tzung mit dem NBA gut durchfu¨hrbar ist [Windeler et al. 2008].
7.2.5 Bewertungssystematik Um als Grundlage fu¨r die Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit und die darauf basierende Zuordnung von Leistungsanspru¨chen Anwendung zu finden, beno¨tigt ein Begutachtungsinstrument eine zusammenfassende Bewertung der erhobenen Informationen. Im Falle des NBA liefert die Begutachtung zuna¨chst fu¨r jedes Modul ein Teilergebnis. Dieses Teilergebnis ergibt sich aus der Einscha¨tzung anhand der im vorhergehenden Abschnitt erla¨uterten Skalen. Die Ergebnisse der Einscha¨tzung werden fu¨r jedes Modul gesondert, aber einheitlich anhand einer fu¨nfstufigen Skala dargestellt. Diese Skala bildet je nach Modul entweder den Grad der Beeintra¨chtigung von Selbsta¨ndigkeit, von kognitiven Fa¨higkeiten oder von Selbststeuerungskompetenz ab. Unterschieden werden die Abstufungen: 0 1 2 3 4
= = = = =
selbsta¨ndig (keine Beeintra¨chtigung) geringe Beeintra¨chtigung erhebliche Beeintra¨chtigung schwere Beeintra¨chtigung vo¨lliger / weitgehender Verlust der Selbsta¨ndigkeit oder Fa¨higkeit
Die Teilergebnisse der Module werden zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit anschließend in einem Gesamtergebnis zusammengefu¨hrt und als Punktwert auf einer
7.2 Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments
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Skala zwischen 0 und 100 dargestellt. Unter Bezug auf die bereits erwa¨hnten „Elemente eines Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs“ aus der IPW-Studie ist Pflegebedu¨rftigkeit im NBA definiert als „gesundheitlich bedingte Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit, die personelle Hilfe in den Bereichen ¢ ¢ ¢ ¢
Mobilita¨t, Bewa¨ltigung psychischer Anforderungen und Problemlagen, Selbstversorgung (regelma¨ßige Alltagsverrichtungen), Bewa¨ltigung krankheits- / behandlungsbedingter Anforderungen und Belastungen sowie ¢ Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte
erforderlich macht“ [Wingenfeld et al. 2008]. Fu¨r das Vorliegen von Pflegebedu¨rftigkeit sind also die Module 1 bis 6 des NBA maßgeblich (der Bereich „Bewa¨ltigung psychischer Anforderungen und Problemlagen“ spricht die in den Modulen 2 und 3 erfassten Merkmale an). Die Module 7 und 8 bleiben bei der Ermittlung der Pflegebedu¨rftigkeit und einer Differenzierung von Pflegestufen außer Betracht, da es sich bei den dabei notwendigen personellen Hilfen vom Charakter her nicht notwendigerweise um pflegerische Hilfen handelt. Beeintra¨chtigungen in diesen Bereichen weisen außerdem eine starke Korrelation mit den anderen Merkmalen auf. Sie liefern daher keine Mehrinformation fu¨r die Unterscheidung von Graden der Selbsta¨ndigkeit. Die einzelnen Module fließen nicht zu gleichen Anteilen in die Gesamtbewertung ein, sondern werden gewichtet (siehe Tab. 7.1). Tabelle 7.1: Anteilige Gewichtung der einzelnen Module des neuen Begutachtungsassessments in Prozent. Modul 1 Module 2 & 3 Modul 4 Modul 5 Modul 6
Mobilita¨t Kognition und Verhalten Selbstversorgung Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen Gestaltung des Alltagslebens, soziale Kontakte
10 15 40 20 15
Das Modul 1 liefert maximal 10 Punkte, die Module 2 und 3 zusammen 15 Punkte usw. Es ist also ein maximaler Wert von 100 Punkten zu erreichen, wobei dieser Wert bei einer Person ermittelt wu¨rde, die in allen Bereichen die ho¨chst mo¨gliche Beeintra¨chtigung zeigt. In die Gewichtung sind verschiedene ¢berlegungen eingeflossen: ¢ Der Bereich der Selbstversorgung (Modul 4) deckt viele der Aktivita¨ten ab, die derzeit im SGB XI fu¨r die Bemessung von Leistungsanspru¨chen relevant sind. Es handelt sich allerdings auch unabha¨ngig davon um einen fu¨r die Auspra¨gung von Pflegebedu¨rftigkeit zentralen Bereich, der entsprechend hoch zu gewichten ist. ¢ Beeintra¨chtigungen der Mobilita¨t (Modul 1) durchziehen a¨hnlich wie kognitive Einbußen alle anderen Lebensbereiche und sind auch unabha¨ngig von anderen allta¨glichen Verrichtungen Auslo¨ser fu¨r Unterstu¨tzungsbedarf. Die Ergebnisse einer Studie zur Leistungsstruktur in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen [Wingenfeld / Schnabel 2002] zeigen ein Verha¨ltnis von in etwa 4 : 1 des Leistungsaufwands fu¨r Hilfen bei der Selbstversorgung (Modul 4) und des Aufwands fu¨r Unterstu¨tzung bei der Mobilita¨t.
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
¢ Die Module 2, 3 und 6 werden mit einem Anteil von zusammen 30 Prozent gewichtet. Diese auf der Grundlage eines durchgefu¨hrten Pretest vorgenommene Festlegung hat sich bei der praktischen Erprobung des Instruments als angemessen herausgestellt. Dadurch ist gewa¨hrleistet, dass die in diesen Modulen angesprochenen Aspekte in Zukunft ada¨quat bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit beru¨cksichtigt werden, ohne gleichzeitig eine zu starke Verschiebung zu Lasten von Personen, die ausschließlich unter ko¨rperlichen Einbußen leiden, vorzunehmen. ¢ Die Selbsta¨ndigkeit im Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen fließt mit 20 Prozent in das Gesamtergebnis ein. Sie betra¨gt damit die Ha¨lfte des Punktwertes des Moduls 4. Damit kann die Bedeutung chronischer Krankheiten fu¨r pflegebedu¨rftige, meist a¨ltere Menschen angemessen beru¨cksichtigt werden. Eine ho¨here Gewichtung erscheint schon allein aufgrund des Umstandes, dass Pflegebedu¨rftige in diesem Bereich sehr heterogene Bedarfslagen zeigen und damit mo¨glicherweise schwer begru¨ndbare Unterschiede entstehen wu¨rden, nicht angezeigt. Entsprechend der Darstellung des Grades der Beeintra¨chtigung von Selbsta¨ndigkeit auf einer fu¨nfstufigen Skala je Modul haben die Entwickler des NBA aus inhaltlichen und methodischen Erwa¨gungen vorgeschlagen, bei der Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit in Zukunft fu¨nf Bedarfsgrade zu unterscheiden: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Grad 1: Grad 2: Grad 3: Grad 4: Grad 5:
geringe Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit erhebliche Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit schwere Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit schwerste Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit besondere Bedarfskonstellation
Der niedrigste Grad ist u. a. fu¨r Personen vorgesehen, die im derzeitigen System die Pflegestufe I oft nicht erreichen, obwohl sie aus fachlicher Sicht als pflegebedu¨rftig gelten mu¨ssen. Der ho¨chste Grad der Pflegebedu¨rftigkeit ist fu¨r jene Personen vorgesehen, die nicht nur weitreichende Selbsta¨ndigkeitsverluste, sondern gleichzeitig einen Bedarf an ungewo¨hnlich intensiver pflegerischer Versorgung haben. Die Darstellung des Begutachtungsergebnisses in Form eines Punktwerts erlaubt jedoch auch andere Festlegungen auf eine ho¨here oder geringere Anzahl von Graden der Pflegebedu¨rftigkeit.
7.2.6 Weitere Verwendungsmo¨glichkeiten des NBA Neben dem prima¨ren Ziel der Ermittlung von Leistungsanspru¨chen ko¨nnen die auf der Grundlage des NBA erhobenen Informationen auch fu¨r andere Zwecke genutzt werden: ¢ Aussagen zur Rehabilitationsbedu¨rftigkeit: Das Instrument sieht eine ¢berpru¨fung der Rehabilitationsbedu¨rftigkeit und weitere Schritte zur Abkla¨rung des Bedarfs an medizinischer Rehabilitation vor. Diese Abkla¨rung erfolgt wesentlich systematischer als im Rahmen des heutigen Begutachtungsverfahrens. Die Gutachter werden durch einen formalisierten Fragenkatalog dazu angehalten, Hinweise zur Rehabilitationsbedu¨rftigkeit, Rehabilitationsfa¨higkeit und Rehabilitationsprognose zu erfassen. Dazu soll in den Modulen 1, 2, 4 und 5 die Entwicklungstendenz der Selbsta¨ndigkeit bzw. Fa¨higkeiten eingescha¨tzt werden, d. h. es soll angegeben werden,
7.3 Anpassung des Verfahrens an die Begutachtung von Kindern
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ob und ggf. wie ein ho¨herer Grad an Selbsta¨ndigkeit wiedererlangt werden kann (bzw. ob es Mo¨glichkeiten gibt, einer Verschlechterung entgegenzuwirken). Auf dieser Grundlage und unter Beru¨cksichtigung der Rehabilitationsfa¨higkeit soll eine explizite Empfehlung zur Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen formuliert werden. Bei negativer Entscheidung sind vom Gutachter entsprechende Begru¨ndungen gefordert. ¢ Bedarf an Pra¨vention: Neben den Informationen aus den einzelnen Modulen werden systematisch Risiken erfasst, die einen spezifischen Pra¨ventionsbedarf begru¨nden ko¨nnen. Dazu geho¨ren krankheitsbedingte Risiken, Umweltfaktoren und verhaltensbedingte Risiken. ¢ Hilfsmittelversorgung: ¥hnlich wie im heutigen Begutachtungsverfahren wird der Status der Hilfsmittelversorgung erfasst und eine explizite Einscha¨tzung vorgenommen, inwieweit der Hilfsmittelbedarf gedeckt ist. Dokumentiert wird daru¨ber hinaus, ob vorhandene Hilfsmittel tatsa¨chlich genutzt werden und ob ein Bedarf an Anleitung zur Hilfsmittelnutzung besteht. ¢ Aufstellung eines Pflege- oder Hilfeplans: Die Ergebnisse der Begutachtung lassen sich bei der Aufstellung eines Hilfe- oder Pflegeplans nutzen, obwohl, wie bereits erwa¨hnt, nicht alle relevanten Informationen erfasst werden. Allerdings werden u¨ber das NBA deutlich mehr Informationen erhoben als durch die heute vielfach u¨blichen Formen der pflegerischen Einscha¨tzung in Pflegeeinrichtungen.
7.2.7 Fazit Das NBA bedeutet in mehrerer Hinsicht eine qualitative Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung. Die vielfach diskutierten Probleme des eingeengten, vorwiegend somatisch fixierten Begriffs der Pflegebedu¨rftigkeit werden durch das umfassendere und pflegewissenschaftlich begru¨ndete Versta¨ndnis von Pflegebedu¨rftigkeit weitestgehend u¨berwunden und in einer praktikablen Form aufbereitet. Die Abkehr vom Faktor Zeit und die Hinwendung zur Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit als Maßstab fu¨hrt zu einer objektiveren Betrachtung der Pflegebedu¨rftigkeit, da der Zeitfaktor eine von vielen Faktoren beeinflusste Gro¨ße darstellt, die Beeintra¨chtigung der Selbsta¨ndigkeit hingegen ein weitgehend kontextunabha¨ngiges Pha¨nomen. Abschließend kann festgehalten werden, dass ein praktikables und methodischen Gu¨tekriterien entsprechendes Instrument entwickelt wurde, das sich fu¨r verschiedene Zwecke in der pflegerischen Versorgung in Deutschland nutzen la¨sst.
7.3 Anpassung des Verfahrens an die Begutachtung von Kindern Volker Meintrup, Sieglinde Eckardt und Christa Bu¨ker Die Einscha¨tzung der Pflegebedu¨rftigkeit bei Kindern folgt den Prinzipien der Erwachsenenbegutachtung. Auf die Entwicklung einer eigenen, modifizierten Version des Begutachtungsinstruments wurde verzichtet, da sich im Verlauf der Entwicklungsarbeiten herausstellte, dass die fu¨r Erwachsene relevanten Items mit nur wenigen Anpassungen auch Geltung fu¨r Kinder und Jugendliche beanspruchen ko¨nnen. Der wesentliche Unterschied besteht vielmehr darin, dass bei Kindern in der Bewertung allein die Abwei-
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
chung von der Selbststa¨ndigkeit gesunder Kinder zugrunde gelegt wird. Hierzu wird nach bestimmten Regeln der vorhandene Grad der Selbststa¨ndigkeit erfasst und mit der altersentsprechenden Entwicklung verglichen. Nach Darlegung einiger grundsa¨tzlicher Aspekte der kindlichen Entwicklung soll im Folgenden die Vorgehensweise in der Anpassung des Verfahrens an die Kinderbegutachtung sowie bei der Berechnung der Pflegestufe bei Kindern na¨her erla¨utert werden. Abschließend werden erste Erfahrungen in der Anwendung des neuen Verfahrens berichtet.
7.3.1 Grundsa¨tzliche Aspekte der kindlichen Entwicklung Ein wesentliches Merkmal der normalen kindlichen Entwicklung ist die Variabilita¨t aller Entwicklungsschritte. Dies erschwert es, altersgema¨ße Norm- oder Schwellenwerte festzulegen. Die Variabilita¨t eines Entwicklungsmerkmals wird sowohl durch die genetische Anlage als auch durch Umweltfaktoren bestimmt [Largo 2000]. Nach Michaelis et al. differenziert sich die Variabilita¨t in [Michaelis et al. 1993]: ¢ Interindividuelle Variabilita¨t: Nicht vorhersagbarer individueller Verlauf. ¢ Individuelle Variabilita¨t: Herausbildung einzelner Funktionen oder Entwicklungsbereiche zu unterschiedlichen Zeitpunkten (z. B. rasche motorische, aber langsame sprachliche Entwicklung). ¢ Inkonsistenzen: ¢berspringen von Entwicklungsschritten (z. B. Krabbeln) oder zeitlich begrenzter Ru¨ckfall in eine fru¨here Entwicklungsstufe (Regression). ¢ Interkulturelle Variabilita¨t: Entwicklungsunterschiede unterschiedlicher Kulturkreise. ¢ Geschlechtsunterschiede: schnellere Sprach- und Sozialentwicklung der Ma¨dchen, schnellere somatische Entwicklung der Jungen [Largo 2004]. Diese Variabilita¨ten sind bei der Festlegung altersentsprechender Fa¨higkeiten und Selbsta¨ndigkeiten zu beru¨cksichtigen, um nicht Gefahr zu laufen, Kinder ungerechtfertigt als auffa¨llig einzustufen und unno¨tige diagnostische, therapeutische oder pa¨dagogische Maßnahmen einzuleiten. Zur Entwicklungsbeurteilung von Kindern zwischen 0 und 6 Jahren stehen verschiedene methodische Ansa¨tze zur Verfu¨gung [Michaelis 2004]. Neben einer sorgfa¨ltigen Anamneseerhebung kommen diverse Screeningverfahren und Entwicklungstests zum Einsatz. Im Focus der Diagnostik stehen vor allem die Entwicklungsbereiche Ko¨rperund Handmotorik, kognitive Fa¨higkeiten, Sprach- bzw. Sprechfa¨higkeit und die soziale Kompetenz. In den letzten Jahren ru¨ckte außerdem die Bedeutung der emotionalen Kompetenz fu¨r die Gesamtentwicklung eines Kindes sta¨rker in den Focus der Entwicklungspa¨diatrie [Michaelis 2004]. Durch zahlreiche Untersuchungen ist belegt, dass die meisten Eltern ihre Kinder und deren entwicklungsabha¨ngige Fa¨higkeiten sehr gut beschreiben ko¨nnen, wenn ihnen die Fragen dazu pra¨zise und in laienversta¨ndlicher Form gestellt werden [Schlack 2004].
7.3.2 Vorgehensweise in der Anpassung des Verfahrens Bei der Anpassung des neuen Begutachtungsassessment galt es insbesondere, der kindlichen Entwicklung Rechnung zu tragen. Ausgangspunkt bildete eine Literatur-
7.3 Anpassung des Verfahrens an die Begutachtung von Kindern
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recherche und -analyse zur allgemeinen kindlichen Entwicklung und speziell zum Entwicklungsverlauf in den einzelnen Items des Begutachtungsinstruments. In einem na¨chsten Schritt erfolgte die Ermittlung und Festlegung von Altersgrenzen mit der jeweiligen Zuordnung zu einem Selbststa¨ndigkeitsgrad.
7.3.2.1 Literaturanalyse zum Entwicklungsverlauf in den einzelnen Items Zur Beantwortung der Frage, welche der im Begutachtungsinstrument enthaltenen Aktivita¨ten und Lebensbereiche in welchem Alter selbststa¨ndig durchgefu¨hrt werden ko¨nnen, erfolgte eine Recherche relevanter nationaler und internationaler Literatur in ausgewa¨hlten Datenbanken (Fachdatenbanken der Medizin, Psychologie und Pa¨dagogik sowie der Gesundheits-, Pflege- und Sozialwissenschaften). Die anschließende Literaturanalyse wurde erga¨nzt durch die Fachexpertise einiger Kindera¨rzte und Pflegefachkra¨fte aus verschiedenen Medizinischen Diensten im Rahmen einer Fokusgruppendiskussion zum neuen Instrument fu¨r die Kinderbegutachtung. Die Analyse zielte darauf ab, zu den im Begutachtungsassessment verwendeten Items eine auf empirischen Untersuchungen basierende Aussage zu treffen, wann die entsprechende Aktivita¨t u¨blicherweise selbststa¨ndig von einem Kind durchgefu¨hrt wird bzw. die entsprechende Fa¨higkeit ausgebildet ist. Ausnahmen bildeten die Module 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) und 5 (Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen), in denen eine Festlegung von Altersgrenzen nicht relevant ist. Ferner wurde das Modul 8 (Haushaltsfu¨hrung) ausgespart.
7.3.2.2 Ermittlung von Altersgrenzen Altersgrenzen wurden zu sa¨mtlichen Items der Module Mobilita¨t, kognitive Fa¨higkeiten und Kommunikation, Selbstversorgung und Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte festgelegt. Zur Festlegung dieser Grenzen wurde auf die aktuellen Erkenntnisse der Entwicklungspa¨diatrie zur „normalen“ Entwicklung von Kindern zuru¨ckgegriffen [u. a. Haug-Schnabel 2007, Largo 2004, Michaelis / Niemann 2004, Schlack 2004]. Anhand verschiedener etablierter Entwicklungstests und Screeninguntersuchungen, darunter die Denver Entwicklungsskala [Flehmig 2007], der Entwicklungstest ET 6-6 [Petermann et al. 2006] und die Griffith Entwicklungsskalen [Brandt / Sticker 2001], sowie unter Einbeziehung des Grenzsteinprinzips [Michaelis 2004] konnten zu zahlreichen Items entsprechende empirische Belege identifiziert werden, wann die meisten gesunden Kinder Selbststa¨ndigkeit in dem jeweiligen Item erlangen. Maßgebliche Belege lieferte auch das Pediatric Evaluation of Disability Inventory (PEDI) [Haley et al. 1998] als ein sehr umfassendes Assessmentverfahren mit engem Bezug zu kindlichen Alltagssituationen. Die Festlegung der jeweiligen Altersgrenzen im neuen Begutachtungsinstrument fu¨r Kinder gru¨ndet sich bis auf wenige Ausnahmen auf die Angaben, nach denen mindestens 75 Prozent (PEDI) bzw. 90 Prozent (sonstige Verfahren) der gesunden Kinder die jeweilige Fa¨higkeit erworben und den entsprechenden Entwicklungsschritt vollzogen haben.
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
7.3.2.3 Zuordnung der Altersgrenzen zum Selbststa¨ndigkeitsgrad Wie in der Erwachsenenbegutachtung erfolgt die Bewertung der Selbststa¨ndigkeit bei Kindern anhand der vierstufigen Skala mit den Auspra¨gungen „selbststa¨ndig“, „u¨berwiegend selbststa¨ndig“, „u¨berwiegend unselbststa¨ndig“ und „unselbststa¨ndig“. Dementsprechend musste fu¨r jedes Item des Erhebungsbogens in der Bewertungssystematik festgelegt werden, in welchem Alter diese Stufen der Selbststa¨ndigkeit erreicht werden. Die Festlegung erfolgte anhand einer dreischrittigen Vorgehensweise: Zuna¨chst wurde der „normale“ kindliche Entwicklungsverlauf herausgearbeitet und in einem zweiten Schritt im Hinblick auf markante Entwicklungsschritte mit ihrer jeweiligen Altersstufe u¨berpru¨ft. Anschließend erfolgte die Zuordnung dieser Altersstufen zu den vier Auspra¨gungsmerkmalen. Am Beispiel des Items „Stabile Sitzposition halten“ soll dieses Verfahren verdeutlicht werden.
7.3.2.4 Beispiel: Item „Stabile Sitzposition halten“ (Modul 1: Mobilita¨t) Fu¨r das Item stellt sich der Entwicklungsverlauf folgendermaßen dar: Als Voraussetzung fu¨r stabiles Sitzen muss zuna¨chst die Fa¨higkeit zur kontinuierlichen Aufrechterhaltung des Kopfes vorhanden sein (erste Entwicklungsstufe). Spa¨ter sitzt das Kind, indem es von einer Pflegeperson gestu¨tzt oder gehalten wird (zweite Entwicklungsstufe). Im na¨chsten Schritt sitzt das Kind schon relativ stabil, indem es sich selbst abstu¨tzt (dritte Entwicklungsstufe). Die Fa¨higkeit ist voll entwickelt, wenn das Kind sich ohne Hilfe aufsetzen kann und selbststa¨ndig mit stabiler Kopf- und Rumpfkontrolle sitzt (vierte Entwicklungsstufe). Nun wird das Alter ermittelt, in dem 90 Prozent der Kinder die jeweiligen Entwicklungsstufen erreichen: Eine stabile Kopfkontrolle auf Rumpfebene wird mit 6 Monaten beherrscht [Brandt / Sticker 2001, Michaelis 2004]. Das Kind muss beim Sitzen allerdings noch gehalten oder abgestu¨tzt werden [Flehmig 2007]. Mit 8 Monaten beugt ein Kind beim Hochziehen an zwei Ha¨nden den Kopf und die Schultern [Brandt / Sticker 2001]; es kann fu¨r kurze Zeit relativ stabil sitzen, indem es sich selbst abstu¨tzt [Flehmig 2007]. Mit 9 Monaten beherrscht ein Kind die stabile Kopf- und Rumpfkontrolle, es kann sich ohne Hilfestellung aufsetzen und selbststa¨ndig sitzen [Flehmig 2007, Michaelis / Niemann 2004, WHO 2006]. Im letzten Schritt erfolgt nun die Zuordnung der Altersstufen zu den vier Merkmalsauspra¨gungen. Diese zeigt sich wie folgt: ¢ Da erst mit 6 Monaten eine hinreichende Stabilita¨t der Kopfkontrolle erreicht wird, gilt ein Kind bis zu diesem Zeitpunkt (unter 6 Monate) als altersbedingt „unselbststa¨ndig“. ¢ Spa¨testens mit 6 Monaten zeigen sich erste Aktivita¨ten im Entwicklungsverlauf zum Sitzen. Das Kind kann an zwei Ha¨nden gehalten langsam zum Sitzen hochgezogen werden. Der Kopf wird dabei in der Rumpfebene gehalten. Beim Sitzen muss das Kind jedoch noch gestu¨tzt oder gehalten werden. Somit muss ein erheblicher Teil der Handlungsschritte durch eine Bezugsperson geleistet werden. Da der na¨chste Entwicklungsschritt sich mit 8 Monaten vollzieht, ist das Kind demzufolge von 6 Monaten bis unter 8 Monaten als „u¨berwiegend unselbststa¨ndig“ zu betrachten. ¢ Mit 8 Monaten kann ein Kind relativ stabil sitzen, indem es sich selbst abstu¨tzt. Es beno¨tigt lediglich noch Hilfe beim Aufsetzen sowie gelegentliche Hilfe beim Auf-
7.3 Anpassung des Verfahrens an die Begutachtung von Kindern
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Tabelle 7.2: Selbststa¨ndigkeitsgrade im Item „Stabile Sitzposition halten“ des neuen Begutachtungsassessments. Item
0 selbststa¨ndig
1 u¨berwiegend selbststa¨ndig
2 u¨berwiegend unselbststa¨ndig
3 unselbststa¨ndig
Stabile Sitzposition halten
ab 9 Monate
von 8 Monaten bis < 9 Monaten
von 6 Monaten bis < 8 Monaten
< 6 Monate
rechterhalten der Stabilita¨t im Sitzen. Damit kann es den gro¨ßten Teil der Aktivita¨t selbst durchfu¨hren. Fu¨r die Bezugsperson entsteht nur ein geringer Aufwand. Bis zum na¨chsten Entwicklungsschritt, der mit 9 Monaten erreicht ist, gilt das Kind demzufolge von 8 Monaten bis unter 9 Monaten als „u¨berwiegend selbststa¨ndig“. ¢ Mit 9 Monaten ko¨nnen 90 Prozent der Kinder sich ohne Hilfe aufsetzen und sitzen mit stabiler Kopf- und Rumpfkontrolle. Sie beno¨tigen keinerlei personelle Hilfe mehr und gelten in diesem Item nun als „selbststa¨ndig“. Nicht in allen Items liegen so kurze Zeitspannen zwischen bedeutsamen kindlichen Entwicklungsschritten. Vielmehr zeigen sich sehr unterschiedliche Altersspannen von teilweise nur wenigen Wochen oder Monaten bis hin zu einigen Jahren. In der Gesamtbetrachtung wird erkennbar, dass die meisten kindlichen Entwicklungsschritte bis zum Alter von 6 Jahren vollzogen sind. Die ho¨chste Altersgrenze der in dem neuen Begutachtungsverfahren beru¨cksichtigten Items liegt bei 11 Jahren.
7.3.3 Berechnung der Pflegestufe Die ermittelten Altersstufen der kindlichen Entwicklung finden sich im Begutachtungsinstrument automatisch hinterlegt wieder, so dass der Gutachter keine ¢berlegungen anstellen muss, ob ein Kind altersgema¨ß entwickelt ist oder nicht. Seine Aufgabe ist es lediglich, analog zur Erwachsenenbegutachtung die festgestellten Beeintra¨chtigungen und den Grad der Selbststa¨ndigkeit zu dokumentieren. Der Umgang mit den Altersstufen in der Bewertungssystematik zur spa¨teren Berechnung der Pflegestufe soll fu¨r den Bereich der Mobilita¨t anhand eines Beispiels erla¨utert werden: Ein zwo¨lf Monate altes Kind mit einer schweren ko¨rperlichen und geistigen Behinderung kann sich aus eigener Kraft kaum bewegen, es kann lediglich in Bauchlage den Kopf von der Unterlage anheben. Ansonsten muss es komplett gelagert, gehoben und getragen werden. ¢ Das Kind ist bei dem Item Stabile Sitzposition halten als „unselbststa¨ndig“ einzustufen. Altersgema¨ß mu¨sste es schon in der Lage sein, die stabile Sitzposition zu halten. Ebenso wie bei einem Erwachsenen werden bei diesem Kind 3 von 3 Punkten gewertet, da entwicklungsbedingt fu¨r dieses Item „selbsta¨ndig“ definiert und hinterlegt ist. ¢ Beim Positionswechsel im Bett kann das Kind schon geringfu¨gig mithelfen, da es hierbei den Kopf anheben kann und somit als „u¨berwiegend unselbststa¨ndig“ ein-
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
zustufen ist. Somit weicht sein Selbststa¨ndigkeitsgrad in der Bewertung um 2 Stufen vom altertypischen Entwicklungsstand „selbststa¨ndig“ ab. Es werden hier 2 von maximal 3 Punkten gewertet. ¢ Das Item Aufstehen aus sitzender Position wird als „unselbststa¨ndig“ und mit 3 Punkten bewertet, da ein Kind sich in der Regel mit 11 Monaten zum Stehen alleine hochziehen kann. ¢ Bei der Fortbewegung innerhalb des Wohnbereiches wa¨re ein „u¨berwiegend unselbststa¨ndig“ altersgema¨ß; da das Kind aber vo¨llig „unselbststa¨ndig“ ist, weicht sein Abha¨ngigkeitsgrad hier um eine Stufe vom altersgema¨ßen Level ab; es erha¨lt bei diesem Item 1 von maximal 3 Punkten. ¢ Beim Treppensteigen sind alle Kinder unter 15 Monaten unselbststa¨ndig, hier gibt es keine Abweichung in der Selbststa¨ndigkeit und demnach keinen Punkt. Insgesamt erha¨lt dieses Kind 9 Punkte im Bereich der Mobilita¨t, womit auf der fu¨nfstufigen Bewertung der Mobilita¨t das Ergebnis „schwerwiegende Beeintra¨chtigung“ (im Vergleich zu einem altersentsprechend entwickelten Kind) vorla¨ge. Wie erkennbar wird, handelt sich in der Ermittlung der Pflegestufe bei Kindern um ein durchaus kompliziertes Berechnungsverfahren. Dies fu¨hrt jedoch aufgrund der Hinterlegung der Altersstufen im Begutachtungsinstrument nicht zu einer Beeintra¨chtigung der Praktikabilita¨t des Instruments in der konkreten Begutachtungssituation.
7.3.4 Erste Erfahrungen in der praktischen Anwendung In einer ersten Anwendung bei 41 Kindern (Pretest) waren sowohl Pa¨diater als auch in der Kinderbegutachtung geschulte und langja¨hrig ta¨tige Pflegefachkra¨fte (u. a. eine Kinderkrankenschwester) als Gutachter / innen eingebunden. Die Eltern zeigten eine hohe Bereitschaft zur Durchfu¨hrung eines zusa¨tzlichen Begutachtungsverfahrens. Aus ihrer Sicht wurden im Vergleich zum bisherigen Verfahren relevante Aspekte insbesondere zur individuellen psychosozialen Situation und zu besonderen Problemlagen (z. B. ausgepra¨gte Spastik) in der Versorgung ihrer kranken und behinderten Kinder erfasst sowie die Belastungen durch die krankheitsbedingten Anforderungen angemessener beru¨cksichtigt. Die Umstellung auf das neue Begutachtungsverfahren und dessen praktische Anwendung verlangt von den Gutachtern neben fundierten Kenntnissen der kindlichen Entwicklung eine erhebliche Flexibilita¨t im Umgang mit der neuen Systematik. Der Blick auf den Status quo der kindlichen Entwicklung erleichtert die Abbildung der individuellen Selbststa¨ndigkeit und entla¨sst den Gutachter aus der Diskussion u¨ber einen Zeitmehraufwand als Grundlage einer Pflegeeinstufung. Es kann somit aufgrund umfangreicherer Kenntnis der individuellen Kontextfaktoren mehr Raum fu¨r Beratungsmo¨glichkeiten geschaffen werden. Deutlich wird die Notwendigkeit der Entwicklung eines kindspezifischen Anamnese- und Befundbogens, um dem individuellen Entwicklungsverlauf der verschiedenen Altersstufen und den besonderen Versorgungssituationen gerecht zu werden. Vera¨nderungen in der Erfassung kinderspezifischer Problemlagen im ju¨ngeren Kleinkindund Sa¨uglingsalter (z. B. Erna¨hrungssto¨rungen) sind zu u¨berdenken. Ebenso wie in dem bisherigen Verfahren bestehen erhebliche Unsicherheiten im Hinblick auf die Einscha¨tzung der Rehabilitationsprognose. Diese Unsicherheiten ha¨n-
7.4 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs
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gen insbesondere mit der Frage zusammen, welche Fortschritte durch den „natu¨rlichen“ Verlauf der kindlichen Entwicklung zu erwarten sind und welche Kinder von dem multiprofessionellen Ansatz einer Rehabilitation profitieren ko¨nnen. Dies unterstreicht nochmals deutlich die Notwendigkeit des Einsatzes von fachkompetenten und geschulten Gutachtern (siehe auch § 18 Abs. 7 SGB XI).
7.4 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens Matthias von Schwanenflu¨gel Der Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit im SGB XI und das darauf basierende Begutachtungsverfahren werden bereits seit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung kritisch diskutiert. Pflegebedu¨rftigkeit sei, so der Kern der Kritik, im SGB XI zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch definiert. Dadurch wu¨rden wesentliche Aspekte, wie beispielsweise die Kommunikation und soziale Teilhabe, ausgeblendet und der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung bei Menschen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz zu wenig beru¨cksichtigt. Diese Ausgrenzung anderer Problem- und Bedarfslagen fu¨hre insbesondere dazu, dass die wachsende Zahl Hilfebedu¨rftiger mit demenziellen Erkrankungen oder anders verursachten Einschra¨nkungen der Alltagskompetenz keine ada¨quate Unterstu¨tzung durch Leistungen der Pflegeversicherung erhalte. Vielmehr verursache der im SGB XI derzeit geltende Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff (§ 14 SGB XI) erhebliche Defizite bei der Versorgung dieser Personengruppe. Auch die Ermittlung des Pflegebedarfs bei Kindern gilt noch immer als unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund wurde im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 festgelegt, dass mittelfristig eine ¢berarbeitung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs vorbereitet werden soll.16 Erste Maßnahmen wurden durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG), das zum 1. Juli 2008 in Kraft getreten ist, auf dem Weg gebracht: So wurden die Leistungen fu¨r Menschen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz auf bis zu 100 bzw. 200 Euro im Monat erho¨ht (§ 45b SGB XI). Leistungsberechtigt sind nunmehr auch Personen, die zwar eine verminderte Alltagskompetenz haben und einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung, aber nicht im Ausmaß der Pflegestufe I (§ 45a Abs. 1 SGB XI). Ferner wurde geregelt, dass die Pru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit von Kindern in der Regel durch Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder durch Kindera¨rzte vorzunehmen ist. Die Komplexita¨t der ¢berarbeitung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs erlaubte es aber nicht, bereits im Rahmen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes einen neuen Begriff zu etablieren. ¢ber die Einfu¨hrung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs kann nur auf einer pflegewissenschaftlich fundierten Grundlage entschieden werden. Vor diesem Hintergrund hatte das Bundesministerium fu¨r Gesundheit (BMG) einen Beirat zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und des Begutachtungsverfahrens einberufen, der am 13. November 2006 konstituiert wurde. Auftrag des Beirats ist es, als Grundlage einer zuku¨nftigen politi16
Koalitionsvertrag vom 11. 11. 2005, Zeile 4519
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
schen Entscheidung u¨ber eine ¥nderung des geltenden Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und des damit verbundenen Begutachtungsverfahrens konkrete und wissenschaftlich fundierte Vorschla¨ge und Handlungsoptionen zu erarbeiten. Dabei ist auch die Frage zu kla¨ren, wie sich ¥nderungen finanziell auf die Pflegeversicherung und andere Sozialleistungsbereiche auswirken. Der Beirat wurde gebeten, bis Ende 2008 seine Vorschla¨ge dem Bundesministerium fu¨r Gesundheit zu unterbreiten. Vorsitzender des Beirats war am Anfang Wilhelm Schmidt (Pra¨sident des Deutschen Vereins17) und ab dem 29. April 2008 Dr. Ju¨rgen Gohde (Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe). Mitglieder im Beirat sind Vertreter der Betroffenenverba¨nde, Vertreter der Leistungs- und Kostentra¨ger, der Leistungserbringerverba¨nde, Wissenschaftler, Vertreter der La¨nder sowie Vertreter von Bundesministerien. Der Beirat hat auf Vorschlag des Vorsitzenden ein Pra¨sidium gebildet. Des Weiteren wurde eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs unter Leitung von Prof. Dr. Udsching (Vorsitzender Richter am BSG) eingerichtet. Die Arbeit des Beirats wurde unterstu¨tzt durch die im Rahmen von Modellvorhaben nach § 8 Abs. 3 SGB XI erarbeiteten pflegewissenschaftlichen Studien zu einem neuen Begutachtungs-Instrument. Die jeweiligen Projektnehmer wurden in o¨ffentlichen Ausschreibungsverfahren ermittelt. Die Erarbeitung dieser Studien wurde von einem Steuerungskreis unter Federfu¨hrung des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen begleitet. Der erste Diskussions- und Erkenntnisschritt war die Ero¨rterung des Berichtes „Recherche und Analyse von Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffen und Einscha¨tzungsinstrumenten“ des Instituts fu¨r Pflegewissenschaften der Universita¨t Bielefeld, vorgelegt am 28. Februar 2007. Ausgehend von den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Recherche sowie Analyse und Bewertung von Begutachtungs- bzw. Einscha¨tzungsinstrumenten und Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffen auf nationaler und internationaler Ebene werden Hinweise fu¨r die Neufassung eines Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs entwickelt, sowie die Frage, welche Instrumente oder welche Instrumentenkombinationen einen zielfu¨hrenden Beitrag zur Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstrument leisten ko¨nnen, ergebnisorientiert dargestellt. Daru¨ber hinaus werden inhaltliche und methodische Anforderungen benannt, die bei der Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments beachtet werden sollten. Auf der Grundlage dieser Studie hat sich der Beirat auf seiner Sitzung am 20. Ma¨rz 2007 entschieden, ein neues Begutachtungsinstrument zu entwickeln und zu erproben. Die Analyse und der Vergleich der bestehenden Begutachtungsverfahren haben gezeigt, dass keines dieser Verfahren in seiner derzeitigen Fassung geeignet ist, um einem weitgefassten Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff gerecht zu werden. Auf der Grundlage dieser Entscheidung wurden durch den Beirat Leitfragen fu¨r die Ausschreibung der Entwicklung und Erprobung eines neuen, modulhaft zu gestaltenden Begutachtungsinstruments formuliert. Die Erarbeitung des neuen Begutachtungsinstruments (Hauptphase 1) sowie dessen praktische Erprobung (Hauptphase 2) wurden europaweit ausgeschrieben und der Auftrag erging dann im Juli 2007 an das Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld (IPW), den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL), den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 17
Deutscher Verein fu¨r o¨ffentliche und private Fu¨rsorge e. V. – DV
7.4 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs
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(MDS) und das Institut fu¨r Public Health und Pflegeforschung der Universita¨t Bremen (IPP) die als Arbeitsgemeinschaft ein gemeinsames Angebot zu dieser Ausschreibung unterbreitet hatten. Zur Durchfu¨hrung des Auftrages hat die Arbeitsgemeinschaft folgende Aufgabenverteilung vereinbart: die Erarbeitung des neuen Begutachtungsintruments erfolgte gemeinsam durch das Institut fu¨r Pflegewissenschaft und den MDK Westfalen-Lippe, dessen praktische Erprobung (Hauptphase 2) wurde durch das Institut fu¨r Public Health und Pflegeforschung und dem MDS durchgefu¨hrt. Der Beirat hat den Abschlussbericht der Hauptphase 1 am 7. Ma¨rz 2008 ohne wesentliche ¥nderungen entgegen genommen. Das neue Begutachtungsinstrument beruht auf einer umfassenden Beru¨cksichtigung von Pflegebedu¨rftigkeit. Im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren ist der Maßstab zur Einscha¨tzung von Pflegebedu¨rftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbststa¨ndigkeit bei der Durchfu¨hrung von Aktivita¨ten oder der Gestaltung von Lebensbereichen. Das neue Begutachtungsinstrument umfasst acht Module. Neben diesen Modulen umfasst die Begutachtung auch Fragen zu besonderen pflegerischen Bedarfskonstellationen, zur Einscha¨tzung des Rehabilitationsbedarfs und zu pra¨ventionsrelevanten Risiken. Der Entwurf des Begutachtungsinstruments unterscheidet fu¨nf Abstufungen (Bedarfsgrade). Am 1. Ma¨rz 2008 begann die Hauptphase 2 des Gesamtprojektes. In dieser Phase sollten Eignung und mo¨gliche Konsequenzen des in der Hauptphase 1 entwickelten Begutachtungsinstruments mit wissenschaftlichen Methoden auf Grundlage empirischen Datenmaterials evaluiert werden. Die beiden Hauptzielsetzungen der Hauptphase 2 waren die wissenschaftliche Beurteilung der Gu¨te des neuentwickelten Begutachtungsinstrumentes und die Abscha¨tzung mo¨glicher inhaltlicher und finanzieller Folgen, die sich aus einer Neufassung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und der Neukonzeption des Begutachtungsinstruments erga¨ben. Der Abschlussbericht zur Hauptphase 2 wurde am 31. Oktober 2008 durch die Projektnehmer eingereicht und im Rahmen der Klausurtagung des Beirats am 6./7. November 2008 vorgelegt. Zusammenfassend empfehlen die Projektnehmer das entwickelte Instrument als zielfu¨hrend, geeignet und praktikabel zur Begutachtung von Menschen mit mo¨glicher Pflegebedu¨rftigkeit im Sinne eines erweiterten und pflegewissenschaftlich angemessenen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs. In der Arbeitsgruppe „Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff“ unter Leitung von Prof. Dr. Peter Udsching war Ausgangspunkt der Diskussion die Notwendigkeit einer ¥nderung des zurzeit im SGB XI festgelegten Begriffs der Pflegebedu¨rftigkeit, da dieser Begriff hilfebedu¨rftige Menschen ungleich erfasst. Die Arbeitsgruppe hat sich dafu¨r ausgesprochen, den Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff mo¨glichst weit zu fassen und ihn modulhaft aufzubauen, um fu¨r ein nachfolgendes Gesetzgebungsverfahren Entscheidungsalternativen zu ero¨ffnen. An die Stelle des Kriteriums Zeit soll eine detaillierte Analyse menschlicher Fa¨higkeiten und Verhaltungsweisen treten, bei der die jeweiligen Einschra¨nkungen je nach Schweregrad mit Punkten bewertet werden. Aus der gewichteten Gesamtzahl der Punkten ergibt sich das Ausmaß des Angewiesenseins auf personelle Hilfe und damit zugleich die Ho¨he des Anspruchs auf Leistungen der Pflegeversicherung. Der Grad der Einschra¨nkung der Selbststa¨ndigkeit soll bei den einzelnen Aktivita¨ten nach einer vierstufigen Skala erfasst werden. Ein begleitender Gutachtenauftrag zu den „Mo¨glichkeiten der Beru¨cksichtigung von RAI 2.0 und / oder RAI HC bei der Erarbeitung eines zuku¨nftigen Begutachtungsinstruments“ erging im Juli 2007 an Prof. Dr. Vjenka Garms-Homolova´. Der Auftrag sah vor, zwei Instrumente des interRAi-Assessmentsystems fachlich einzuscha¨tzen und die Fra-
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7 Weiterentwicklung des Begutachtungsverfahrens
gen zu beantworten, die sich aus dem Recherchebericht des IPW vom 23. Ma¨rz 2007 ergaben. Nach Auffassung des Steuerungskreises ergaben sich aus dem Gutachten jedoch keine neuen zu beru¨cksichtigenden Gesichtspunkte im Hinblick auf die Mo¨glichkeiten und Grenzen der Adaption oder Modifikation des interRAi-Assessmentsystems bei der Entwicklung eines neuen Begutachtungssystems. Im Rahmen der Fachkonferenz am 8. November 2007 wurde dieses Gutachten auch von Prof. Dr. Vjenka Garms-Homolova´ o¨ffentlich vorgestellt und diskutiert. Im weiteren Beratungs- und Diskussionsprozess innerhalb des Beirats kristallisierte sich die Notwendigkeit der zusa¨tzlichen Kla¨rung von strukturellen und finanziellen Folgen eines neues Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und Begutachtungsverfahrens fu¨r die Sozialhilfe heraus. Ausgangspunkt der Diskussion war, dass die Erprobung des neuen Assessmentsverfahrens bislang ausschließlich bei SGB XI-Antragsstellern erfolgte. Im Verlauf der Diskussion des Beirats wurde deutlich, dass einzelne Gruppen von mo¨glichen Leistungsbeziehern eines zuku¨nftigen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffes nicht bei den Berechnungen erfasst worden sind. Hier sind vor allem die potenziellen Antragsteller zu nennen, die bisher keinen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt hatten. Im ¢brigen wurde deutlich, dass die Auswirkungen auf die Sozialhilfetra¨ger bisher nicht thematisiert worden sind. Darauf hin versta¨ndigte sich der Beirat, der Beantwortung dieser Fragestellungen durch eine Erweiterung des laufenden Modellprojektes Rechnung zu tragen. Die Anfertigung einer Studie zu den fiskalischen Auswirkungen des neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs auf die Sozialhilfetra¨ger erfolgte durch die Vergabe eines Zusatzauftrags durch den GKV-Spitzenverband gema¨ß § 8 Abs. 3 SGB XI an den MDS. Der Erweiterungsauftrag zielte darauf ab, abzuscha¨tzen, in welchem Umfang mit zusa¨tzlichen Leistungsbeziehern zu rechnen ist, die bisher keinen Antrag nach dem SGB XI gestellt haben und davon erfasst sind. Weiterhin sollten die fiskalischen Auswirkungen fu¨r die Pflegeversicherung und die Sozialhilfetra¨ger untersucht werden. Die Projektnehmer haben die entsprechende Studie am 8. Januar 2009 vorgelegt. Die wissenschaftliche Diskussion im Beirat wurde im Rahmen von drei Fachkonferenzen sowie eines Workshops beim Deutschen Verein fu¨r o¨ffentliche und private Fu¨rsorge begleitet und fortgesetzt. Die erste Fachkonferenz fand unmittelbar nach der Einberufung des Beirats am 14. Dezember 2006 statt,18 die zweite am 8. November 2007. In diesem Rahmen fand – neben der Pra¨sentation der erwa¨hnten Studie von Prof. Dr. Garms-Homolova´ zu zwei Instrumenten des interRAI-Assessmentsystems – insbesondere auch eine Debatte u¨ber das die Arbeit des Beirats kritisch begleitende Memorandum „Die Quadratur des Kreises in der Begutachtung der Pflegebedu¨rftigkeit“ statt. Der Workshop wurde am 2. Juni 2008 zur Vorbereitung der weitergehenden Befassung des Beirats u¨ber die leistungsrechtlichen und systematischen Auswirkungen eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs durchgefu¨hrt. Die dritte Fachkonferenz erfolgte am 9. Ma¨rz 2009 nach ¢bergabe des ersten Berichts an Bundesministerin Ulla Schmidt. Es wurde eine erste Bilanz gezogen und ein Blick auf die weitere Arbeit geworfen. Nach einem Zwischenbericht des Vorsitzenden an Bundesministerin Ulla Schmidt zur Vorbereitung des Endberichts des Beirats bat diese den Beirat in der Sitzung vom 15. Oktober 2008 um einen erga¨nzenden Bericht bis Ostern 2009. Der Beirat wurde 18
Die Referate der Fachtagung sind im Archiv fu¨r Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 2/2007 vero¨ffentlicht.
7.4 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs
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beauftragt, auf der Grundlage der Ergebnisse und Empfehlungen des bisher geplanten Endberichts, mo¨gliche Strategien und konkrete Umsetzungsschritte der Einfu¨hrung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens in das SGB XI zu pru¨fen, mo¨gliche Alternativen zu bewerten und entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. In seinen Bericht an Bundesministerin Ulla Schmidt, den der Beirat am 26. Januar 2009 einstimmig beschlossen hat, hebt er hervor, dass sein wesentliches Ziel die Verbesserung und Vera¨nderung der Lebenslagen von Menschen mit Pflegebedarf, die in ihrer Selbsta¨ndigkeit beeintra¨chtigt sind, ist. Der Bericht betont, dass ¢ der geltende Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff im SGB XI pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht werde, ¢ ein differenzierter, an Lebenslagen orientierter, auf den Grad der Selbsta¨ndigkeit abstellender Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff notwendig sei, ¢ das von dem Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe entwickelte und vom Institut fu¨r Public Health und Pflegeforschung der Universita¨t Bremen und dem MDS erprobte neue Begutachtungsinstrument vom Beirat empfohlen werde, ¢ es der Arbeitsgruppe zur Formulierung eines Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs gelungen sei, fu¨r die gesetzliche Neuregelung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs einen geeigneten Formulierungsvorschlag vorzulegen, der das neue Begutachtungsinstrument umsetzt, ¢ die Notwendigkeit von gesetzlichen Anpassungen in leistungsrechtlichen Vorschriften bestehe, ¢ die Notwendigkeit der Pru¨fung leistungsrechtlicher Folgen eines erweiterten Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs auf andere Sozialleistungssysteme (z. B. Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe nach SGB XII) besteht. Im ¢brigen nimmt der Beirat die im Rahmen des Endberichts der Hauptphase 2 vorgelegten Modellrechnungen zur Kenntnis und sieht sie als hilfreiche Datengrundlage fu¨r die erforderlichen politischen Entscheidungen an. Der Bericht wurde am 29. Januar 2009 an Bundesministerin Ulla Schmidt u¨bergeben. Zur Erarbeitung des Zusatzauftrages hat der Beirat drei Arbeitsgruppen gebildet, die erste befasst sich mit mo¨glichen Szenarien zur Umsetzung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs, die zweite mit dem notwendigen Bestandsschutz fu¨r Leistungsbezieher und die dritte mit konkreten Umsetzungsfragen bei der Umsetzung eines neuen Begutachtungsverfahrens. Der zweite Bericht, der sog. Umsetzungsbericht des Beirats zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs vom 20. 05. 2009, wurde mittlerweile Bundesministerin Ulla Schmidt u¨bergeben werden. Die La¨nder haben auf der Grundlage eines Beschlusses der Arbeits- und Sozialministerkonferenz gemeinsam mit dem Bundesministerium fu¨r Gesundheit eine Bund-La¨nder-Arbeitsgruppe gebildet, die mo¨gliche Implikationen auf das SGB XII beleuchten und bewerten soll. Zusammenfassend zeichnet sich die Arbeit des Beirats durch ein hohes Maß an Transparenz und eine breite Diskussionskultur aus. Es wurden im Laufe der Diskussion neu aufkommende Probleme nicht ignoriert, sondern aktiv bearbeitet unter Zugrundelegung wissenschaftlicher Expertise. Es ist beachtlich, dass der Beirat trotz seiner Heterogenita¨t den ersten Bericht einstimmig verabschiedet hat. Beide Berichte des Beirats sollen nach Abschluss seiner Arbeiten dem Bundeskabinett sowie dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zugeleitet werden.
8 Besonderheiten bei der Begutachtung
8.1 Begutachtungen im Europa¨ischen Wirtschaftsraum (EWR) Friedrich Schwegler Mit dem Urteil des Europa¨ischen Gerichtshofs (EuGH) vom 5. Ma¨rz 1998 wurde den im EWR lebenden Anspruchsberechtigten das Recht auf Leistungen aus der deutschen sozialen Pflegeversicherung zugesprochen. Der EWR umfasst die Staaten der Europa¨ischen Union sowie Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein und Island. Die Pflegekassen wurden durch die Entscheidung des Europa¨ischen Gerichtshofs verpflichtet, die Begutachtung der im EWR lebenden Anspruchsberechtigten zu organisieren. Folgende Personengruppen geho¨ren zu den Anspruchsberechtigten: ¢ Deutsche Staatsbu¨rger, die ihren Wohnsitz im EWR außerhalb von Deutschland haben und pflegebedu¨rftig im Sinne des SGB XI werden. ¢ Bu¨rger aus Staaten des EWR, die durch ihre Ta¨tigkeit in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, nach Beendigung ihrer Ta¨tigkeit wieder in ihre Heimatla¨nder zuru¨ckgekehrt sind („Gastarbeiter“) und dort pflegebedu¨rftig im Sinne des SGB XI werden. Die im Ausland lebenden Versicherten bleiben weiter Mitglied in der Gescha¨ftsstelle ihrer Pflegekasse, die zuletzt wa¨hrend ihres Aufenthaltes in Deutschland fu¨r sie zusta¨ndig war. Lediglich drei Pflegekassen fu¨hren zentrale Gescha¨ftsstellen fu¨r im Ausland lebende Versicherte: die AOK in Bonn, die DAK in Ko¨ln und die KKH in Hannover. Im Ausland lebende Versicherte stellen ihre Antra¨ge auf Pflegeleistungen bei ihrer in Deutschland zusta¨ndigen Gescha¨ftsstelle. Von ihr werden alle Antra¨ge an die o¨rtlich fu¨r diese Gescha¨ftsstelle zusta¨ndige MDK-Dienststelle weitergeleitet. Erst von dort werden die Antra¨ge an den nach den MDS/MDK-Vereinbarungen fu¨r Auslandsbegutachtungen zusta¨ndigen MDK weitergeleitet. Durchfu¨hrung der Begutachtung In den Staaten des EWR gibt es keine Einrichtungen, die mit dem MDK in Deutschland vergleichbar wa¨ren. Um die Pflegebegutachtung in den Staaten des EWR nach den fu¨r die MDK in Deutschland verbindlichen Richtlinien sicherzustellen, wurden unter Federfu¨hrung des MDS und Beteiligung der MDK folgende Vereinbarungen fu¨r Auslandsbegutachtungen getroffen: In den an Deutschland angrenzenden La¨ndern Belgien, Da¨nemark, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, ¤sterreich (einschließlich Teile von Liechtenstein), Polen, Schweiz und Tschechien fu¨hrt ein MDK eines angrenzenden Bundeslandes die Begutachtung der Antragsteller durch (siehe Tab. 8.1). In nicht an Deutschland angrenzenden La¨ndern des EWR mit hohem Gutachtenaufkommen wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien werden ortsansa¨ssige beid-
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
Tabelle 8.1: Begutachtungen durch MDK-Gutachter in EWR-Staaten, die an Deutschland angrenzen. Land
MDK Gutachter aus
Belgien
MDK Nordrhein MDK Rheinland-Pfalz
Da¨nemark
MDK Nord
Frankreich
MDK Baden-Wu¨rttemberg MDK im Saarland
Luxemburg
MDK Rheinland-Pfalz
Niederlande
MDK Nordrhein MDK Westfalen-Lippe MDK Niedersachsen
¤sterreich, grenznahe Gebiete von Bayern und Teile von Liechtenstein
MDK Bayern
Polen
MDK Berlin-Brandenburg e. V. MDK Sachsen-Anhalt e. V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V.
Schweiz
MDK Baden-Wu¨rttemberg
Tschechien
MDK im Freistaat Sachsen e. V.
sprachige Gutachter als Kooperationspartner durch einen dem jeweiligen Land zugeordneten Partner-MDK in Deutschland mit der Pru¨fung der Pflegebedu¨rftigkeit betraut (siehe Tab. 8.2). Der Kooperationspartner erstellt nach einem Hausbesuch beim Antragsteller einen sogenannten Begutachtungsbericht. Auf der Basis dieses BegutachTabelle 8.2: Begutachtungen durch externe Vertragspartner in EWR-Staaten, die nicht an Deutschland angrenzen. Land
Externe Vertragspartner
Partner-MDK
Griechenland
Gutachter mit Wohnsitz in Griechenland
MDK BadenWu¨rttemberg
Italien (mittlerer und su¨dlicher Landesteil)
Gutachter mit Wohnsitz in Italien
MDK Bayern
Malta
Gutachter mit Wohnsitz in Italien
MDK Bayern
¤sterreich, grenzferne Gebiete von Bayern und Teile von Liechtenstein
Gutachter mit Wohnsitz in ¤sterreich
MDK Bayern
Portugal
Gutachter mit Wohnsitz in Spanien oder Portugal
MDK Hessen
Slowenien
Gutachter mit Wohnsitz in ¤sterreich
MDK Bayern
Spanien
Gutachter mit Wohnsitz in Spanien
MDK Hessen
Ungarn
Gutachter mit Wohnsitz in ¤sterreich
MDK Bayern
Zypern
Gutachter mit Wohnsitz in Griechenland
MDK BadenWu¨rttemberg
8.1 Begutachtungen im Europa¨ischen Wirtschaftsraum (EWR)
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Tabelle 8.3: Begutachtungen durch MDK-Gutachter in EWR-Staaten, die nicht an Deutschland angrenzen. Land
MDK-Gutachter vom
Estland
MDK Berlin-Brandenburg e. V. MDK Sachsen-Anhalt e. V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V.
Finnland
MDK Niedersachsen
Großbritannien
MDK Nordrhein MDK Westfalen-Lippe
Irland
MDK Nordrhein
Island
MDK Westfalen-Lippe
Italien (no¨rdlicher Landesteil)
MDK Bayern
Lettland
MDK Berlin-Brandenburg e. V. MDK Sachsen-Anhalt e. V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V.
Litauen
MDK Berlin-Brandenburg e. V. MDK Sachsen-Anhalt e. V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V.
Norwegen
MDK Nord
Schweden
MDK Berlin-Brandenburg e. V.
Slowakei
MDK im Freistaat Sachsen e. V.
tungsberichtes wird vom zusta¨ndigen Partner-MDK ein Pflegegutachten nach § 18 SGB XI erstellt. In nicht an Deutschland angrenzenden La¨ndern des EWR mit niedrigem Gutachtenaufkommen wie Großbritannien, Irland, Island, den skandinavischen La¨ndern, den baltischen La¨ndern, Malta, Zypern, Slowenien, Ungarn und Slowakei werden Gutachter aus dem MDK entsandt, der nach den gemeinsamen Regelungen MDS/MDK fu¨r eines der genannten La¨nder zusta¨ndig ist (siehe Tab. 8.3). Im Jahr 2007 erfolgten insgesamt 1.968 Begutachtungen gegenu¨ber 1.596 im Jahr 2005 von Antragstellern, die in EWR-Staaten außerhalb von Deutschland lebten. Zum Gutachtenaufkommen im Jahr 2007 aus den EWR-La¨ndern mit den meisten Gutachtenauftra¨gen siehe Tab. 8.4. In den u¨brigen La¨ndern des EWR lag die Anzahl der Gutachtenauftra¨ge im Jahr 2007 jeweils unter 20. Die Durchfu¨hrung der Begutachtungen in den Staaten des EWR ist gekennzeichnet durch stark ausgepra¨gte unterschiedliche landestypische Voraussetzungen. In einigen Staaten besteht ein dichtes Netz von Gesundheitseinrichtungen mit entsprechender engmaschiger a¨rztlicher Versorgung, wa¨hrend in anderen Staaten die Gesundheitseinrichtungen noch nicht fla¨chendeckend aufgebaut sind und die a¨rztliche Versorgung deshalb lu¨ckenhaft ist. Dementsprechend zeigen sich auch große Unterschiede in den pflegerischen Angebotsstrukturen und in der Versorgung mit Hilfsmitteln, die sich in diesen Gutachten widerspiegeln. Durch das weite Auseinanderliegen der Wohnorte der Antragsteller, die großen zuru¨ckzulegenden Entfernungen, die zur Durchfu¨hrung der Hausbesuche und den in
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
Tabelle 8.4: Anzahl der Pflegebegutachtungen in La¨ndern des EWR in den Jahren 2004 und 2007. Land
Spanien ¤sterreich Griechenland Italien Frankreich Niederlande Portugal Polen Ungarn Belgien Schweiz Schweden
Anzahl der Begutachtungen 2005
2007
516 399 181 100 95 59 50 40 31 29 27 9
620 478 299 111 113 23 87 44 30 59 27 20
Teilen anderen verwaltungstechnischen Abla¨ufen der Pflegebegutachtungen im Europa¨ischen Wirtschaftraum (siehe Erla¨uterungen oben) sind die Laufzeiten bei diesen Gutachten deutlich la¨nger als bei Begutachtungen in Deutschland. Als Schwierigkeiten bei den Begutachtungen in EWR-Staaten kommen ha¨ufig noch fehlende a¨rztliche / pflegerische Informationen hinzu bzw. die vorliegenden Informationen liegen in der Landessprache vor und mu¨ssen erst ins Deutsche u¨bersetzt werden. Die bei den Pflegegutachten in Deutschland gesetzlich vorgegebene Frist von fu¨nf Wochen vom Auftragseingang bis zur Bescheiderteilung der Pflegekasse kann bei den Begutachtungen in den EWR-Staaten nicht anna¨hernd erreicht werden.
8.2 Pflegebegutachtungen bei Migrantinnen und Migranten Susanne Glodny, Yu¨ce Yilmaz und Sylke Butenuth-Tho¨r Im Jahr 2005 lebten u¨ber 82,4 Millionen Menschen in Deutschland. Davon hatten 15,3 Millionen (18,6 Prozent) einen Migrationshintergrund. Laut Definition des Statistischen Bundesamtes handelt es sich bei diesen Menschen um „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausla¨nder und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausla¨nder in Deutschland geborenen Elternteil“ [Statistisches Bundesamt 2007]. Historisch gesehen lassen sich verschiedene Phasen der Zuwanderung feststellen. Aufgrund der Anwerbung ausla¨ndischer Arbeitskra¨fte zur Unterstu¨tzung der deutschen Wirtschaft kamen zwischen 1955 bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 vornehmlich Arbeitsmigrantinnen und -migranten, sogenannte „Gastarbeiter“, aus den Mittelmeeranrainerstaaten z. B. Spanien, Italien, Griechenland und der Tu¨rkei. Im Rahmen des Familiennachzugs folgten ihre Angeho¨rigen. Aussiedlerinnen und Aussiedler sowie ju¨dische Zuwanderer migrierten aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Ruma¨nien nach Deutschland. Bedingt durch die po-
8.2 Pflegebegutachtungen bei Migrantinnen und Migranten
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litische Situation im Herkunftsland (z. B. Krieg) kommen zudem Flu¨chtlinge und Asylsuchende nach Deutschland. Saisonarbeiter, aber auch IT-Fachkra¨fte und Bildungsausla¨nder stellen weitere Migrantengruppen dar. Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist folglich heterogen und umfasst viele Ethnien, unterschiedliche Kulturen wie auch verschiedene religio¨se Ausrichtungen. Zudem weist sie eine andere Altersstruktur als die Gruppe der Menschen ohne Migrationshintergrund auf. Das mittlere Alter von Menschen ohne Migrationshintergrund liegt bei 44,9 Jahren. Im Vergleich dazu betra¨gt das Durchschnittsalter von Migrantinnen und Migranten 33,8 Jahre. Etwa 8 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund sind 65 Jahre oder a¨lter (Menschen ohne Migrationshintergrund: 23 Prozent). Aufgrund der demografischen Situation sowie der gesundheitlichen Belastungen im Laufe des Arbeitslebens ist davon auszugehen, dass der Pflegebedarf in der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb der na¨chsten Jahre steigen wird [Razum et al. 2008].
8.2.1 Die Lebenssituation von Migranten Eine Migration in ein anderes Land kann Chancen bieten, aber auch Risiken beinhalten: auf gesundheitlicher wie auch auf sozioo¨konomischer Ebene. Migranten, die aus Ursprungsla¨ndern mit einer schlechteren Erna¨hrungs-, Umwelt- und Versorgungslage kommen, „importieren“ diesen Zustand in das Zielland, weisen aber ha¨ufig geringere Risiken (z. B. fu¨r Herzkreislauf-Erkrankungen) auf. Aufgrund der Auswahl gesunder Arbeitskra¨fte im Herkunftsland waren die Arbeitsmigrantinnen und -migranten der 1. Generation vergleichsweise gesu¨nder als die Bevo¨lkerung Deutschlands. Dieser als „Healthy migrant effect“ bezeichnete Selektionsvorteil nahm aufgrund schwerer Arbeitsbedingungen mit Schicht- und Akkordarbeit in Bezug auf die Morbidita¨t ab. Geriatrische wie auch psychische Erkrankungen, z. B. Demenzerkrankungen, manifestieren sich bei Migranten fru¨her als bei Deutschen [Dietzel-Papakyriakou / Olbermann 2001, Razum et al. 2004, Steinhoff / Wrobel 2004]. Migranten sind ha¨ufiger in a¨rztlicher Behandlung, wobei vornehmlich Herz-Kreislaufbeschwerden und Rheuma angegeben wurden. Zudem sinkt die Gesundheits- und Lebenszufriedenheit a¨lterer Migrantinnen und Migranten mit zunehmendem Alter, u. a. aufgrund von Einsamkeit und fehlender sozialer Integration. Ha¨ufig nehmen Migranten im Zielland einen niedrigeren sozialen Status ein. Dieser ist assoziiert mit schlechteren Wohn-, Arbeits- und Bildungsverha¨ltnissen. Eine Trennung von Familienangeho¨rigen, ggf. ein unsicherer Aufenthaltsstatus, Probleme der sprachlichen Versta¨ndigung und der kulturellen Adaption und die Nichtumsetzbarkeit urspru¨nglicher Ru¨ckkehrpla¨ne fu¨hren zu weiteren Belastungen [Fabian / Straka 1993, Razum et al. 2004]. Bindungen und Beziehungen zur Heimat werden in Form der Pendelmigration aufrecht erhalten. Besonders a¨ltere Migrantinnen und Migranten sind ha¨ufiger von Altersarmut betroffen, da sie sich aufgrund ku¨rzerer Beitragszeiten und geringerer Lo¨hne nur eine niedrige Rente erarbeiten konnten [Razum et al. 2008]. Die Pflege pflegebedu¨rftiger Angeho¨riger wird in Migrantenfamilien vornehmlich zu Hause durchgefu¨hrt. Allerdings wird die Betreuung pflegebedu¨rftiger Familienmitglieder langfristig vor Schwierigkeiten gestellt. Eine geografische Fragmentierung, die zu-
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
nehmende Zahl berufsta¨tiger Frauen und die sinkende Zahl ju¨ngerer Familienmitglieder fu¨hrt dazu, dass die Pflegesituation erschwert wird bzw. eine ada¨quate Pflege nicht mehr alleine durch die Angeho¨rigen geleistet werden kann. Allerdings werden Unterstu¨tzungsangebote, z. B. in Form von ambulanten Pflegediensten oder einer stationa¨ren Unterbringung, kaum genutzt [Korporal / Dangel 2006]. Inanspruchnahmebarrieren, die eine Nutzung von Hilfen erschweren, lassen sich sowohl auf Seiten der „Anbieter“ (professionelle Pflegekra¨fte, Krankenhauspersonal, ¥rzte, Angestellte bei Krankenkassen und dem MDK) als auch auf Seiten der „Nutzer“ (z. B. tu¨rkischsta¨mmige Pflegebedu¨rftige und ihre pflegenden Angeho¨rigen) finden. Im Folgenden wird speziell auf die Situation tu¨rkischsta¨mmiger Migrantinnen und Migranten eingegangen. Vorbehalte, subjektive Diskriminierung, ein divergierendes Gesundheits- bzw. Pflegeversta¨ndnis und mangelnde Zeit fu¨r die Umsetzung der Pflege ko¨nnen auf Seiten der tu¨rkischsta¨mmigen Pflegebedu¨rftigen bzw. der Pflegenden ebenso vorliegen, wie auf Seiten der professionell Pflegenden im Gesundheitswesen. Zudem werden tu¨rkischsta¨mmige Pflegebedu¨rftige und ihre Angeho¨rigen durch Informationsdefizite, gesellschaftliche Sanktionen und Schwellena¨ngste abgehalten Hilfsangebote zu nutzen. Seitens der Professionellen im Gesundheitswesen kann eine fehlende Kultursensibilita¨t den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund erschweren und zu Missversta¨ndnissen fu¨hren [Glodny / Razum 2008].
8.2.2 Interkulturelle ¤ffnung Im Rahmen der interkulturellen ¤ffnung soll Migrantinnen und Migranten ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem ermo¨glicht werden. Um diese Zielgruppe zu erreichen, wird von den Professionellen im Gesundheitssystem vermehrt ein „zugehender Ansatz“ statt der bisherigen „Komm-Struktur“ umgesetzt. Im Jahr 2002 hat erstmals der „Arbeitskreis Charta fu¨r kultursensible Altenpflege“ ein Memorandum fu¨r den Bereich der Altenhilfe formuliert und eine Handreichung zur kultursensiblen Altenpflege erstellt [Arbeitskreis Charta fu¨r eine kultursensible Altenpflege 2002]. Weitere Handbu¨cher und a¨hnliche Hilfen wurden im Bereich der kultursensiblen Aus-/Fort- und Weiterbildung von Pflegekra¨ften in den Folgejahren vero¨ffentlicht [Hielen / Tyll 2003, BMfSFJ 2005b]. Zudem hat die Zahl von Pflegekra¨ften mit Migrationshintergrund zugenommen, so dass die Pflegesituation zuku¨nftig nicht nur fu¨r die Migrantinnen und Migranten, sondern auch mit ihnen, gestaltet werden kann. Im MiMi-Projekt „Mit Migranten fu¨r Migranten“ werden z. B. Migrantinnen und Migranten zu Themen des deutschen Gesundheitssystems geschult und geben anschließend ihr Wissen als Gesundheitsmediatoren in ihrer Muttersprache im Rahmen von Vortra¨gen und Schulungen weiter. In einigen gro¨ßeren Sta¨dten Deutschlands gibt es bereits multikulturelle bzw. transkulturelle Pflegedienste, die sich vornehmlich um pflegebedu¨rftige Menschen mit Migrationshintergrund ku¨mmern. Als stationa¨re Einrichtung wurde 1997 das multikulturelle Seniorenheim „Haus am Sandberg“ in Duisburg gegru¨ndet und im Jahr 2006 das tu¨rkische Altenheim in Berlin „Tu¨rk Huzur“. Des Weiteren werden vereinzelt spezielle Angeho¨rigenpflegekurse fu¨r Migrantinnen und Migranten durchgefu¨hrt, allerdings ha¨ufig in deutscher Sprache [Glodny 2008]. Im Projekt saba werden pflegebedu¨rftige und pflegende tu¨rkischsta¨mmige Menschen u¨ber einen zugehenden Ansatz kontaktiert. Im Rahmen von Angeho¨rigentreffen
8.2 Pflegebegutachtungen bei Migrantinnen und Migranten
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in tu¨rkischer Sprache wird u¨ber einen Informations- und Erfahrungsaustausch eine Verbesserung der ha¨uslichen Pflege angestrebt und die Intervention anschließend evaluiert [Glodny / Razum 2008]. Fazit Trotz dieser Bemu¨hungen sind Migrantinnen und Migranten von der Altenhilfe schwer zu erreichen und es bestehen weiterhin Barrieren, die eine Inanspruchnahme von Hilfsangeboten und -leistungen verhindern oder erschweren. Im Bereich der interkulturellen ¤ffnung der Altenhilfe sollten weiterhin Projekte entwickelt werden, die zu einer verbesserten Erreichbarkeit von Migrantinnen und Migranten fu¨hren und Barrieren auf Seiten der beteiligten Akteure abbauen. Eine Evaluation zur Bewertung der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit sollte sich anschließen.
8.2.3 Migrantinnen und Migranten als Antragsteller und Leistungsempfa¨nger im Rahmen der Pflegeversicherung Aktuell liegen kaum Zahlen zum Pflegebedarf bzw. Pflegebedu¨rfnis von Migrantinnen und Migranten in Deutschland vor. Angaben zum Migrationshintergrund werden bisher weder fu¨r die Pflegekassen noch im Rahmen eines Begutachtungsverfahrens zur Feststellung einer Pflegebedu¨rftigkeit erfasst. In einer Pilotstudie zum Projekt saba wurden tu¨rkischsta¨mmige Antragstellerinnen und Antragsteller unter Anwendung eines Namensalgorithmus [Razum et al. 2000, 2001] aus einem Datensatz des MDK Westfalen-Lippe – unter Einhaltung der Datenschutzbestimmungen – eruiert. Im Zeitraum vom Januar 2001 bis einschließlich August 2005 wurden insgesamt 581.616 Begutachtungen in der Region Westfalen-Lippe durchgefu¨hrt, davon 1,4 Prozent an tu¨rkischsta¨mmigen Personen. Unterschiede zwischen tu¨rkischsta¨mmigen und nicht-tu¨rkischsta¨mmigen Antragstellern zeigten sich u. a. im Bereich der beantragten Leistungen, in der Altersverteilung und im Anteil der Ma¨nner unter den Antragstellern. Der Ma¨nneranteil unter den Begutachtungen an tu¨rkischsta¨mmigen Personen betrug 56 Prozent, wa¨hrend er bei nicht-tu¨rkischsta¨mmigen Personen bei 34 Prozent lag. Das mittlere Alter bei Eintritt in die Pflegebedu¨rftigkeit betrug 40,9 Jahre fu¨r tu¨rkischsta¨mmige Personen und 76,3 Jahre fu¨r nicht-tu¨rkischsta¨mmige Personen. Dieses la¨sst sich damit erkla¨ren, dass in den oberen Altersklassen kaum a¨ltere tu¨rkischsta¨mmige Pflegebedu¨rftige zu finden sind und folglich der Mittelwert stark durch pflegebedu¨rftige Kinder beeinflusst wird. Tu¨rkischsta¨mmige Versicherte beantragten in 91 Prozent der Begutachtungen Pflegegeld. Ein Antrag auf Pflegesachleistungen oder Kombinationsleistungen wurde von 7 Prozent gestellt. Nur 2 Prozent der tu¨rkischsta¨mmigen Personen stellten einen Antrag auf Leistungen zur vollstationa¨ren Unterbringungen. Im Gegensatz dazu beantragten die nicht-tu¨rkischsta¨mmige Personen in 42 Prozent der Fa¨lle Pflegegeld, zu 29 Prozent Pflegesachleistungen und Kombinationsleistungen und zu 29 Prozent Leistungen zur stationa¨ren Unterbringung [Okken 2007]. Diese Daten besta¨tigen, dass die Pflege tu¨rkischsta¨mmiger Pflegebedu¨rftiger vornehmlich zu Hause von den Angeho¨rigen ohne Hilfe durch professionelle Pflegedienste durchgefu¨hrt wird.
168
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
Erfahrungen des MDK bei Pflegebegutachtungen von Migrantinnen und Migranten Das herausragendste Problem in der Pflegebegutachtung von Menschen mit Migrationshintergrund ist die oft mangelhafte Kommunikation zwischen Migranten und Gutachtern. Dies erho¨ht das Stresspotential im Patienten-Gutachter-Verha¨ltnis und belastet die Begutachtungssituation, in der gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden sollte. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gutachter als Beho¨rdenvertreter angesehen werden und dadurch das Misstrauen erho¨ht ist. Zusa¨tzlich ko¨nnen sprachlich bedingte Versta¨ndigungsdefizite empfindliche Folgen, wie z. B. Versorgungsnachteile, fu¨r die Betroffenen nach sich ziehen. Daher ist der Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern in der Begutachtungssituation sinnvoll. Fu¨r die ¢bersetzung werden oft Familienmitglieder eingesetzt. Dies kann problematisch sein, wenn z. B. sehr intime Details zu u¨bersetzten sind und ein ma¨nnlicher Familienangeho¨riger fu¨r ein weibliches Familienmitglied dolmetschen muss. Des Weiteren sind den pflegenden Angeho¨rigen medizinische bzw. pflegerelevante Begriffe nicht unbedingt in Deutsch und in ihrer Muttersprache bekannt. Eine ada¨quate ¢bersetzung kann somit nicht erfolgen. Diese Probleme ließen sich durch den Einsatz von professionellen Dolmetscherinnen und Dolmetschern vermeiden. Jedoch ist ha¨ufig die Frage der Finanzierung bei einem Einsatz ungekla¨rt. In der Begutachtung ist es nicht nur wichtig eine sprachliche Basis zu finden. Eine Reflektion der eigenen Kultur sowie die der anderen oder „fremden“ kulturellen Einstellungen ist unabdingbar. Zur Verbesserung der interkulturellen Kommunikation sollten die Pflegegutachterinnen und -gutachter weiter qualifiziert werden. Notwendig ist jedoch auch die Sensibilisierung der Gutachter zum Thema. Da die Begutachtungssituation eine Momentaufnahme aus dem Leben der Migrantinnen und Migranten darstellt, kann nur ein kleiner Ausschnitt des Lebens wiedergegeben werden (pflegerelevante Angaben). Oftmals fehlen wertvolle migrationsspezifische Informationen. Dies resultiert auch durch eine gewisse Ratlosigkeit der Gutachter aufgrund unvertrauter Verhaltensweisen und Einstellungen der Migranten. Patienten mit Migrationshintergrund verfu¨gen ha¨ufig u¨ber falsche Informationen zu Krankheitsbildern. Vor allem bei Tabuthemen wie z. B. Demenz ist dies festzustellen. Hinzu kommt, dass Migranten u¨ber ein kulturell anderes Gesundheits- und Krankheitsversta¨ndnis verfu¨gen. Dies kann zu Missversta¨ndnissen und zu Unter- oder ¢berversorgung fu¨hren. Die Begutachtungserfahrung zeigt, dass Schmerzen von Menschen mit Migrationshintergrund anders wahrgenommen und artikuliert werden als von Personen ohne Migrationshintergrund. Eine Pflegebegutachtung wird dadurch ha¨ufig erschwert oder verzo¨gert, bzw. ist ggf. wesentlich zeitaufwa¨ndiger. Religio¨sen Pflichten werden sogar Lebenskonzepte (Beruf, Karriere) untergeordnet. Es wird vor allem von a¨lteren Migranten erwartet, dass die Familienangeho¨rigen die Pflege u¨bernehmen. Geschieht dies nicht, wird es als Pflichtverletzung angesehen und es entsteht ein hoher gesellschaftlicher Druck. Eine ha¨ufige chronische ¢berforderung der Pflegepersonen ist die Konsequenz. Unterstu¨tzungsangebote, wie ambulante Pflegedienste oder die stationa¨re Unterbringung, werden von Migranten bislang kaum genutzt. Andererseits bietet der ambulante Pflegemarkt nur sehr wenige private Pflegedienste, die sich auf die Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund spezialisiert haben. In der Pflegebegutachtung ist es oftmals schwierig, wertvolle migrationsspezifische Informationen zu erhalten. Es wird deutlich, dass im Bereich der Begutachtung von
8.2 Pflegebegutachtungen bei Migrantinnen und Migranten
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Migranten das Bewusstsein fu¨r deren besondere Lebenslagen noch weiter entwickelt werden muss. Eindru¨cke wa¨hrend der Hausbesuche im Rahmen von Pflegebegutachtungen fu¨r das Projekt „saba“ Im Rahmen des Projektes saba zur Verbesserung der ha¨uslichen Pflegesituation tu¨rkischer Migranten wurden von einer MDK-Gutachterin Pflegebegutachtungen bei dieser Personengruppe durchgefu¨hrt. Dieses geschah in Begleitung einer tu¨rkischsprachigen Mitarbeiterin, die eine ¢bersetzungsfunktion u¨bernahm. Hierdurch konnten Kommunikationsprobleme zwischen Patienten und der Gutachterin reduziert werden. Insgesamt 24 tu¨rkische Pflegebedu¨rftige waren zu einer Teilnahme am Projekt saba bereit und wurden im ha¨uslichen Umfeld begutachtet. Sie waren hinsichtlich ihres Alters und ihrer zugrundeliegenden Erkrankungen sehr heterogen. Die Gruppe umfasste sowohl a¨ltere Pflegebedu¨rftige als auch pflegebedu¨rftige Kinder. Wa¨hrend der Begutachtungsbesuche wurden verschiedene Problemlagen und Zugangsbarrieren fu¨r die Inanspruchnahme von zustehenden Leistungen beobachtet und identifiziert. Diese, so wie wesentliche Eindru¨cke, werden im Folgenden aus Sicht der tu¨rkischsprachigen Mitarbeiterin skizziert. Unsicherheit, Sorge und ¥ngste. Die begutachteten Personen wie auch ihre Angeho¨rigen zeigten wa¨hrend der Besuche eine unsichere und a¨ngstliche Haltung. Obwohl ihnen schriftlich versichert worden war, dass die Pflegebegutachtung ausschließlich zu Forschungszwecken durchgefu¨hrt wird, d.h. außerhalb der regula¨ren, rechtlich bindenden Begutachtung stattfindet und daher keinen Einfluss auf ihre aktuellen Leistungsbezu¨ge hat, fragten sie wa¨hrend der Begutachtungen in ihrer Muttersprache mehrmals, ob sie negative Auswirkungen auf ihre Pflegestufe erwarten mu¨ssten. Daru¨ber hinaus wurde die Angst gea¨ußert, dass die pflegebedu¨rftigen Angeho¨rigen dem heimischen Umfeld entrissen werden ko¨nnten. Sprache. Geringe Sprachkenntnisse werden in der Literatur oft als Problem fu¨r die formelle Pflege von tu¨rkischen Migranten genannt [Zielke-Nadkarni 1999; Raven / Huismann 2000]. Sprachbarrieren behindern manchmal die Kommunikation zwischen Gutachtern und tu¨rkischen Migranten in der Pflegesituation. Diese Problematik wurde auch bei den Begutachtungen im Rahmen des Projekts saba beobachtet, vor allem bei a¨lteren Pflegebedu¨rftigen und Angeho¨rigen. Obwohl viele Personen relativ gute Deutschkenntnisse hatten, antworteten sie zum Teil auf Tu¨rkisch. Dieses begru¨ndeten sie damit, dass sie ihre Anliegen besser in ihrer Muttersprache ausdru¨cken ko¨nnten. Kultur. Die ¥ußerungen der Angeho¨rigen zeigten, dass fu¨r sie die Pflege – in Analogie zur Literatur [Tu¨su¨n 2002] – eine selbstversta¨ndliche Aufgabe ist, die sie als gottgewollt ansehen und so lange wahrnehmen wollen, wie dies mo¨glich ist. Fehlende Informationen. Informationsdefizite wurden wa¨hrend der Begutachtungsbesuche sowohl im rechtlichen als auch im fachlichen Bereich der Pflege festgestellt. Anhand der Fragen und Aussagen der Pflegebedu¨rftigen wie auch der Pflegenden war
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
zu erkennen, dass der allgemeine Informationsstand in Bezug auf Leistungen, z. B. u¨ber das Erstellen eines Antrages auf Geldleistungen, relativ hoch war. Obwohl manche Personen sprachliche Probleme haben oder sogar Analphabeten sind, finden sie in ihrem Netzwerk kompetente Personen, die diese Prozeduren fu¨r sie durchfu¨hren ko¨nnen. Informationslu¨cken bestehen insbesondere im Wissen u¨ber den Anspruch auf Hilfsmittel. So wird der erste Schritt, d. h. die Beantragung einer Pflegestufe, meistens durchgefu¨hrt. Weitere Schritte allerdings, wie z. B. die Inanspruchnahme von Pflegekursen oder die Wahrnehmung professioneller Hilfe, unterbleiben. Dementsprechend verfu¨gten die begutachteten tu¨rkischsta¨mmigen Personen nicht u¨ber alle beno¨tigten Pflegehilfsmittel. Pflegerische Versorgung von Pflegebedu¨rftigen. Der Bereich der Grundpflege ist bei tu¨rkischen Migrantinnen und Migranten als gut zu bewerten. Es ist jedoch zu beachten, dass Versorgungsprobleme eher in der medizinischen Versorgung liegen, die als unzureichend beschrieben werden muss [Yilmaz 2008]. So wird besonders bei Wunden von Pflegebedu¨rftigen oft nicht die richtige Versorgungsmethode angewandt. Die Angeho¨rigen wissen dabei in der Regel nicht, wie sie mit dieser Problematik umgehen sollen. Dieses konnte vor allem bei a¨lteren pflegenden Angeho¨rigen beobachtet werden. Situation der pflegenden Angeho¨rigen. Bei allen Hausbesuchen war festzustellen, dass die Pflege von einer weiblichen Person u¨bernommen wird. Die anderen Familienangeho¨rigen hatten eher eine unterstu¨tzende Rolle. Pflegende Angeho¨rige, besonders Mu¨tter pflegebedu¨rftiger Kinder, u¨bernehmen nicht nur solche Ta¨tigkeiten, welche die pflegebedu¨rftige Person allein nicht mehr ausu¨ben kann. Auch Aufgaben, die von den Pflegebedu¨rftigen selbst erledigen werden ko¨nnten, werden von den pflegenden Personen u¨bernommen. Insgesamt war eine sehr starke emotionale Bindung zwischen den Pflegebedu¨rftigen und den pflegenden Angeho¨rigen zu beobachten. Die ¢bernahme aller Ta¨tigkeiten durch die pflegenden Angeho¨rigen fu¨hrt bei den Pflegebedu¨rftigen allerdings vermutlich zu einer starken Abha¨ngigkeit. Daru¨ber hinaus war festzustellen, dass insbesondere a¨ltere pflegende Angeho¨rige Unterstu¨tzung in der Pflegesituation beno¨tigen, da sie die Pflegeaufgaben aufgrund ihres Alters nicht bzw. nicht mehr alleine bewa¨ltigen ko¨nnen. Belastungen der pflegenden Angeho¨rigen. Die geschilderten Eindru¨cke besta¨tigen Ergebnisse aus der Literatur, dass die Pflege fu¨r die pflegenden Angeho¨rigen zu ko¨rperlichen und psychischen Belastungen fu¨hren kann [Raven / Huismann 2000; Tu¨su¨n 2002; Yilmaz 2008]. ¥ltere pflegende Angeho¨rige berichten, dass diese Belastungen bei ihnen zu gesundheitlichen Problemen fu¨hren. Außerdem kann angenommen werden, dass die durch die Pflegesituation bedingte permanente Vereinnahmung auf lange Sicht zur Isolation der Pflegenden fu¨hrt und als psychische Belastung empfunden wird. Die Situation ju¨ngerer pflegender Angeho¨riger scheint im Vergleich dazu weniger belastend zu sein. Aus den Beobachtungen ist zu schließen, dass sie die Pflege besser organisieren ko¨nnen und auch Unterstu¨tzung von anderen Angeho¨rigen bekommen. Daru¨ber hinaus nehmen Mu¨tter von pflegebedu¨rftigen Kindern, im Vergleich zu a¨lteren Pflegenden, Betreuungsleistungen sta¨rker in Anspruch, um Freira¨ume fu¨r sich zu schaffen.
8.3 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
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8.2.4 Fazit Pflegebegutachtungen von Migrantinnen und Migranten sind ha¨ufig gepra¨gt bzw. erschwert aufgrund von Kommunikationsschwierigkeiten. Diese betreffen Sprachbarrieren wie auch kulturelle Unterschiede. Informationsdefizite u. a. in rechtlichen wie auch in pflegerelevanten Bereichen erschweren Migrantinnen und Migranten ha¨ufig den Zugang zu Leistungen und Hilfsmitteln. Im Falle von geringen Deutschkenntnissen wu¨rde der Einsatz von zweisprachigen Dolmetscherinnen und Dolmetschern die Versta¨ndigung wa¨hrend einer Pflegebegutachtung erheblich vereinfachen und die Bildung einer Vertrauensbasis erleichtern. ¥ngste und Unsicherheiten ko¨nnten abgebaut und Fragen zur Pflegesituation direkt gekla¨rt werden. Eine spezielle Qualifizierung im Bereich der interkulturellen Kommunikation unter Beru¨cksichtigung kultureller Besonderheiten, z. B. im Bereich der Gesundheitsvorstellungen, wu¨rde es den Gutachterinnen und Gutachtern ermo¨glichen, sensibel auf die besondere Lebenslage der Versicherten mit Migrationshintergrund zu reagieren.
8.3 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern Cornelia Michalke und Wolfgang Seger
8.3.1 Einleitung Wa¨hrend in der Medizin umfangreiche wissenschaftliche Erhebungen zu unerwu¨nschten Ereignissen, Fehlern, Beinahe-Fehlern und Scha¨den existieren, werden Pflegefehler in der Regel nicht explizit als Fehler der Disziplin Pflege beschrieben und analysiert. Entweder werden sie u¨berhaupt nicht erwa¨hnt [Brennan et al. 1991, Thomas et al. 2000a, Thomas et al. 2000b, Vincent et al. 2001, Phillips et al. 2004, Baker et al. 2004, Aktionsbu¨ndnis Patientensicherheit 2006] oder aber keiner tiefergehenden Analyse unterzogen [Leape et al. 1991, Preuß et al. 2005, Sari et al. 2007, Aktionsbu¨ndnis Patientensicherheit 2007]. In medizinischen Glossaren werden Pflegefehler lediglich als Ursache fu¨r einen medizinischen „Behandlungsschaden“ erwa¨hnt [Sachversta¨ndigenrat 2003, ¥ZQ 2005]. Pflegefehler werden in Deutschland vorzugsweise im Zusammenhang mit Haftpflichtscha¨den und Gerichtsurteilen diskutiert. Hieraus und wohl auch aus einem defizita¨ren Pflegeversta¨ndnis heraus resultiert die Reduzierung vermeintlicher Pflegefehler auf nur wenige Gesundheitsscha¨den (Dekubitus, Exsikkose, Mangelerna¨hrung, Kontraktur) oder Ereignisse (Sturz). Erst ansatzweise entwickelt sich in Deutschland ein Forschungsinteresse, die Diskussion rund um Fehler,19 kritische Ereignisse20 oder unerwu¨nschte Vorkommnisse21 in der Pflege aber wa¨chst und wird fu¨r notwendig erachtet. Durch Pflegefehler verursachte Gesundheitsscha¨den werden dem MDK erst bekannt, wenn es zu einem Vorwurf und in der Regel zu einem ko¨rperlichen Gesund19
Zentrum fu¨r Pflegeforschung und Beratung der Hochschule Bremen: Pflegefehler, Fehlerkultur und Fehlermanagement in stationa¨ren Versorgungseinrichtungen (Laufzeit 2007–2010). 20 Kuratorium Deutsche Altershilfe: Aus kritischen Ereignissen lernen – ein Fehlerberichts- und Lernsystem fu¨r die Altenpflege. Start Oktober 2007. 21 Deutsches Institut fu¨r angewandte Pflegeforschung e. V.: Pflege-Thermometer 2007.
172
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
heitsschaden gekommen ist, d. h. sie sind nur die „Spitze des Eisbergs“. Ebenso wie in der Medizin bleiben unbeleuchtet: ¢ ¢ ¢ ¢
vom Versicherten vermutete, aber nicht verfolgte Scha¨den von Experten erkennbare ko¨rperliche, psychische oder soziale Scha¨den nicht erkannte ko¨rperliche Scha¨den nicht erkannte psychische oder soziale Scha¨den (vgl. Sachversta¨ndigenrat 2003, Seite 132, Abbildung 20)
Zudem ist davon auszugehen, dass insbesondere bei im Krankenhaus verursachten Gesundheitsscha¨den viele pflegerische Sorgfaltsma¨ngel der medizinischen Behandlungsfehlerbegutachtung (MDK, Schlichtungsstellen) zugefu¨hrt und hier als Organisations- und Kooperationsma¨ngel verbucht werden.
8.3.2 Begutachtungsverfahren und Gutachten Ein Vorwurf kann gema¨ß § 116 SGB X von der Kranken-/Pflegekasse und gema¨ß § 115 III S. 7 SGB XI vom Versicherten bzw. Bevollma¨chtigten erhoben werden. Nach § 116 SGB X gehen bei drittverursachten Gesundheitsscha¨den die Anspru¨che der gescha¨digten Versicherten gegenu¨ber den Verursachern auf die Krankenkassen u¨ber, wenn von ihnen aufgrund des Schadens Leistungen erbracht werden. Gema¨ß § 66 SGB V und § 115 Abs. 3 S. 7 SGB XI besteht fu¨r die Kranken- und Pflegekassen die Mo¨glichkeit, ihre Versicherten bei der Verfolgung der Schadenersatzanspru¨che zu unterstu¨tzen. Das Verfahren der Begutachtung vermeintlicher Pflegefehler ist mit dem Verfahren der Begutachtung vermeintlicher medizinischer Fehler (sogenannte Behandlungsfehler) identisch (siehe Abb. 8.1). Es wurde im Leitfaden fu¨r die Zusammenarbeit zwischen den Kranken- / Pflegekassen und MDK bei drittverursachten Gesundheitsscha¨den, insbesondere bei Behandlungs- und Pflegefehlern geregelt [MDS 2007b]. Fu¨r die Beschaffung der Unterlagen sind die Kranken- und Pflegekassen zusta¨ndig. Zu den erforderlichen Unterlagen za¨hlen: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Schweigepflichtentbindungserkla¨rung und Herausgabegenehmigung Stellungnahme des Versicherten/Betreuers zum Vorwurf und Verlauf Gezielte Fragestellung nach Art des Pflegefehlers Fallbezogene Dokumentation der Einrichtung in Kopie Besta¨tigung der Einrichtung u¨ber Vollsta¨ndigkeit der Unterlagen
Der Vorwurf wird in einer eigens eingerichteten MedJur-Fallberatung vorgepru¨ft. Sie erfolgt gemeinsam mit einem in der Behandlungs- und Pflegefehlerbegutachtung erfahrenen Gutachter und einem besonders geschulten Kassenmitarbeiter. Stellt sich heraus, dass der Vorwurf unbegru¨ndet ist oder kein Gesundheitsschaden vorliegt, wird der Vorgang abgeschlossen. Pflegefehler liegen beispielsweise nicht vor, wenn Mobilisierung oder Lagerung trotz Information und Motivation abgelehnt wurden, der Dekubitus auf krankheitsbedingt massiven Durchblutungssto¨rungen beruht oder eine medizinische Behandlung von massivem Erbrechen und Durchfall nach a¨rztlicher Konsultation erfolgte. Ergeben sich allerdings aus den Unterlagen Verdachtsmomente auf mo¨gliche Sorgfaltsma¨ngel (siehe unter 8.3.4), wird ein Gutachtenauftrag erteilt.
8.3 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
| 173
Pflegefehlervorwurf seitens des Versicherten bzw. der Kranken- / Pflegekasse
Kranken- / Pflegekasse beschafft: – Schweigepflichtentbindungserklärung – Herausgabegenehmigung – Krankenakten / Dokumentation ambulant / stationär Vorklärung SFB Weiterverfolgung sinnvoll: weitere Unterlagen beschaffen Geschäftsbereich Behandlungsfehler Weiterleitung an spezielle Ärzte / Pflegekräfte Erstellung eines Gutachtens – Gegenlesen (andere Profession) Gutachten an auftraggebende Kasse
Gutachtenkopie z. Kts. an Geschäftsbereich Behandlungsfehler
Abb. 8.1: Flussdiagramm zum Verfahren der Begutachtung bei vermeintlichen Pflegefehlern.
Zu den grundsa¨tzlichen Fragen eines Begutachtungsauftrages za¨hlen: 1. Liegt ein Gesundheitsschaden vor? 2. Liegt ein Sorgfaltsmangel / Pflegefehler vor? 3. Besteht zwischen Gesundheitsschaden und Sorgfaltsmangel / Pflegefehler ein kausaler Zusammenhang? 4. Welches sind die Schadensfolgen? Auch der Aufbau eines Gutachtens ist im Leitfaden zur Begutachtung vermeintlicher Behandlungs- und Pflegefehler geregelt: ¢ Benennung des Gutachtenauftrags. Dieser beinhaltet die von der Kasse gestellten Fragen ¢ Beschreibung der zur Begutachtung vorliegenden Unterlagen ¢ Darstellung des Sachverhalts: ¢ Aus Sicht des Versicherten (unkommentierte Wiedergabe des Vorwurfs) ¢ Nach Aktenlage (vorliegende Dokumentation) ¢ Auf der Basis ggf. vorliegender Fremdgutachten ¢ Beurteilung des Gutachters: kritische Wu¨rdigung des Sachverhalts ¢ Zusammenfassung und Beantwortung der gestellten Fragen ¢ Literaturverzeichnis
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
Aufgabe des Gutachters ist es, Dritte in den Stand zu versetzen, die Tatsachen und Zusammenha¨nge verstehen zu ko¨nnen. Eine rechtliche Bewertung ist zu vermeiden. Zur Begutachtung vermeintlicher Pflegefehler wurden von einzelnen Medizinischen Diensten Arbeitshilfen entwickelt. Aspekte der Beurteilung sind zum einen die nachvollziehbare Dokumentation des Problemlo¨sungsprozesses (Pflegeprozess), zum anderen die Beurteilung, ob der zum Zeitpunkt des Vorfalls gu¨ltige Sorgfaltsmaßstab eingehalten wurde. Die Beurteilung hat immer „ex ante“ zu erfolgen, d. h. der Gutachter „darf im Nachhinein nicht wissender sein wollen, als er selbst tatsa¨chlich in der damaligen Situation unter den gegebenen Umsta¨nden gewesen wa¨re“ [MDS 2007b]. Standards, Leitlinien, Qualita¨tsniveaus und Grundsatzstellungnahmen aktuelleren Datums ko¨nnen somit nicht zur Beurteilung a¨lterer Fa¨lle herangezogen werden. Nicht selten werden Gesundheitsscha¨den interdisziplina¨r verursacht. Um sicherzustellen, dass alle pflegerisch und medizinisch relevanten Aspekte sach- und fachgerecht beurteilt werden, wird ein Gutachten grundsa¨tzlich von der zweiten Profession gegengelesen.
8.3.3 Begutachtungsergebnisse des MDK Niedersachsen 2002–2007 In dem Zeitraum von 2002–2007 wurden insgesamt 409 Begutachtungsauftra¨ge mit zunehmender Tendenz abgeschlossen. Seit 2003 hat sich die Anzahl der Auftra¨ge verdoppelt (siehe Abb. 8.2). Nach wie vor ist der Dekubitus die herausragende Vorwurfsdiagnose (siehe Tab. 8.5 und Tab. 8.6). Eine leicht zunehmende Tendenz ist in Bezug auf den Vorwurf „Exsikkose“ zu erkennen. Auftra¨ge zur Begutachtung einer Sturzfolge wurden erst im Jahre 2007 vermehrt erteilt (siehe Tab. 8.6). Dieses la¨sst sich durch die Vero¨ffentlichung neuer Sorgfaltsmaßsta¨be erkla¨ren. Jeder Expertenstandard, jede Leitlinie, jedes Qualita¨tsniveau, jede Grundsatzstellungnahme fu¨hrt demzufolge dazu, dass der Blick sowohl vom Versicherten, gesetzlichen Betreuer und Angeho¨rigen, als auch von den Kranken- und Pflegekassen auf mo¨gliche Sorgfaltsma¨ngel in den Einrichtungen gerichtet wird. In 36,7 Prozent der Fa¨lle wurde ein Pflegefehler bejaht, in 59,9 Prozent der Fa¨lle verneint, in 3,4 Prozent der Fa¨lle wurden weitere Ermittlungen fu¨r notwendig erachtet (siehe Tab. 8.7). 120 100
100 80 60 40
79
78
2005
2006
67 50 35
20 0
2002
2003
2004
2007
Abb. 8.2: Anzahl der Pflegefehler-Begutachtungen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen.
8.3 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
| 175
Tabelle 8.5: Begutachtungsbegru¨ndende Vorwu¨rfe: Auftragszahlen der Jahre 2002–2007 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (n = 409). Vorwurfsgru¨nde
n
Dekubitus Exsikkose Sturzfolge Andere1
358 20 8 23
Gesamt
409
Prozent 87,5 4,9 2,0 5,6 100
1 Mangelerna¨hrung, Kontraktur, akzidentelle Katheterentfernung, Verbrennung (z. B. Wa¨rmflasche), falsche Medikamentengabe.
Tabelle 8.6: Entwicklung der begutachtungsbegru¨ndenden Vorwu¨rfe: Auftragszahlen der Jahre 2002–2007 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (n ¼ 409). Dekubitus 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Gesamt
Exsikkose
Sturzfolge
Andere
Gesamt
30 45 61 71 69 82
2 1 2 4 4 7
0 0 1 1 1 5
3 4 3 3 4 6
35 50 67 79 78 100
358
20
8
23
409
Tabelle 8.7: Begutachtungsergebnisse: Auftragszahlen der Jahre 2002–2007 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (n ¼ 409). Ergebnis
n
Prozent
Pflegefehler ja Pflegefehler nein Weitere Ermittlungen
150 245 14
36,7 59,9 3,4
Gesamt
409
100,0
8.3.4 Ausblick: Aus Fehlern lernen Es ist zu erwarten, dass die Auftra¨ge zur Begutachtung vermeintlicher Pflegefehler weiterhin ansteigen werden. Eine detaillierte Analyse bereits vorliegender Gutachten ko¨nnte helfen, Fehlerursachen und -arten zu identifizieren. Dieses ist geplant und wa¨re ein konstruktiv gemeinter Beitrag zur Unterstu¨tzung des Risikomanagements in den Einrichtungen. Nur wer die Fehler kennt, kann Vermeidungsstrategien entwickeln. Fu¨r das Risikomanagement der Einrichtungen wa¨re eine Differenzierung der Fehlerarten hilfreich, da hierdurch wesentlich gezielter und pra¨ziser in die Prozesse und Strukturen eingegriffen werden kann. Wo wurden die den Gesundheitsschaden auslo¨senden Sorgfaltsma¨ngel konkret identifiziert? In den USA werden Pflegefehler zu
176
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8. Besonderheiten bei der Begutachtung
Analysezwecken kategorisiert [Campazzi 1980, Beckmann 1996, Croke 2003]. Eine ¢bertragung auf die Pflege in Deutschland erscheint nur modifiziert sinnvoll. Eine Differenzierung der Fehlerarten wa¨re wie folgt mo¨glich: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Assessmentfehler / -mangel Informationsfehler / -mangel Planungsfehler / -mangel Durchfu¨hrungsfehler / -mangel Evaluierungsfehler / -mangel Dokumentationsfehler / -mangel Kooperationsfehler / -mangel und / oder Organisationsfehler / -mangel
Die haftungsrechtliche Relevanz von Standards und Leitlinien ist umstritten. Dennoch bilden sie selbst bei noch fehlender Evidenz den jeweils aktuellen Wissensbestand einer Disziplin, somit einen Sorgfaltsmaßstab ab. Wann immer also von diesem Sorgfaltsmaßstab abgewichen wird, ist eine fachgerechte Begru¨ndung erforderlich. Da ein Fehler-/Sorgfaltsmangelvorwurf immer nur retrospektiv anhand der Dokumentation beurteilt werden kann, ist es notwendig, diese Abweichungen nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Begutachtung vermeintlicher Pflegefehler durch den MDK wird sich auch in Zukunft auf jene Fa¨lle beschra¨nken, in denen es zu einem ko¨rperlichen Gesundheitsschaden gekommen ist. Es ist daher zu erwarten, dass Projekte wie die des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) und des Zentrums fu¨r Pflegeforschung und Beratung (ZePB) der Hochschule Bremen in Bezug auf (vermeidbare) Pflegefehler einen noch breiteren Erkenntnisgewinn liefern werden.
9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
9.1 Entwicklung der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber und Friedrich Schwegler Mit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung 1995 wurde den Medizinischen Diensten die Aufgabe u¨bertragen, als externe Qualita¨tssicherungsmaßnahme im Auftrag der Landesverba¨nde der Pflegekassen Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten Pflegediensten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen durchzufu¨hren. Als Grundlage zur Beurteilung der Qualita¨t der Pflege wurden nach den Vorgaben des SGB XI Vereinbarungen zwischen den Bundesverba¨nden der Kostentra¨ger und den Bundesverba¨nden der Leistungserbringer getroffen, die so genannten „Gemeinsamen Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung nach § 80 SGB XI“. Sie wurden fu¨r die ambulante Pflege abgeschlossen am 10. 07. 1995 und sind in der Fassung vom 31. 05. 1996 zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches immer noch gu¨ltig. Das gleiche gilt fu¨r die Vereinbarungen fu¨r die stationa¨re Pflege, abgeschlossen am 07. 03. 1996, und in der Fassung vom 21. 10. 1996 ebenfalls zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches nach wie vor gu¨ltig. Analoge Vereinbarungen wurden auch fu¨r die teilstationa¨re Pflege (18. 08. 1995) und die Kurzzeitpflege (18. 08. 1995) getroffen. Auf der Basis dieser „Gemeinsamen Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung nach § 80 SGB XI“ entwickelte die MDK-Gemeinschaft 1996 ein erstes „MDK-Konzept zur Qualita¨tssicherung der Pflege nach SGB XI“, auf dessen Grundlage ab dieser Zeit Qualita¨tspru¨fungen durch die Medizinischen Dienste durchgefu¨hrt wurden. In dieser Anfangsphase wurden durch die Landesverba¨nde der Pflegekassen vor allem Auftra¨ge fu¨r Anlasspru¨fungen nach Beschwerden und sonstigen Hinweisen erteilt. Insgesamt war die Anzahl der durch die Medizinischen Dienste durchgefu¨hrten Qualita¨tspru¨fungen im Vergleich zu heute gering. Unter Nutzung der Erfahrungen mit der Umsetzung des MDK-Konzeptes wurde in den darauf folgenden Jahren eine „MDK-Anleitung zur Pru¨fung der Qualita¨t nach § 80 SGB XI“, getrennt fu¨r die ambulante und die stationa¨re Pflege entwickelt, die im Jahr 2000 das bisherige MDK-Konzept ablo¨ste und eine erste Schwerpunktverlagerung von der Struktur- hin zur Prozess- und Ergebnisqualita¨t bedeutete. Daru¨ber hinaus war damit eine noch stringentere Ausrichtung der Qualita¨tspru¨fungen am allgemeinen Stand des medizinisch-pflegerischen Wissens verbunden. Mit dem zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t am 01. 01. 2002 in Kraft getretenen Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz (PQsG) wurde die Verantwortung der Pflegeeinrichtungen fu¨r die interne Qualita¨tssicherung und der Medizinischen Dienste fu¨r die externe Qualita¨tssicherung gesta¨rkt. Die Pru¨fanleitung wurde an die neuen umfangreicheren Pru¨fanforderungen angepasst. Nach umfangreichen Vorarbeiten der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen, der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ der MDK-Gemeinschaft (SEG 2) und mit Un-
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
terstu¨tzung von externen Pflegeexperten wurden in der Folgezeit Qualita¨tspru¨fungsRichtlinien (QPR) erarbeitet, die zum 01. 01. 2006 in Kraft traten und die bisherige MDK-Anleitung ersetzten. Als Richtlinien haben die QPR einen fu¨r alle am Pru¨fgeschehen Beteiligten verbindlichen Charakter und regeln im Detail die Pru¨fta¨tigkeit des MDK. In ihnen werden sowohl die allgemeinen Anforderungen an die Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen festgelegt, z. B. die Pru¨ffrequenz, die Zusammensetzung und Qualifikation der Pru¨fteams etc. als auch detaillierte inhaltliche Vorgaben zum Pru¨finstrumentarium gemacht. Die Schwerpunktsetzung wurde weiter auf die Ergebnisqualita¨t verlagert, jedoch auch Fragen zur hauswirtschaftlichen Versorgung integriert und die versta¨rkte Einbeziehung von Fragen zur sozialen Betreuung der Bewohner in stationa¨ren Einrichtungen sowie die vermehrte Beru¨cksichtigung von Fragen zur Hygiene sowohl in stationa¨ren als auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen vorgenommen. Die Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien hatten in den Medizinischen Diensten eine weitere Normierung und Vereinheitlichung der Pru¨finhalte und -abla¨ufe zur Folge und gingen mit der fla¨chendeckenden Einfu¨hrung einer EDV-gestu¨tzten Pru¨fta¨tigkeit und Bewertungssystematik einher. Die am 01. 01. 2006 in Kraft getretenen Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien mit den Erhebungsbo¨gen fu¨r Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen als Anlagen hatten nach Genehmigung durch das Bundesgesundheitsministerium erstmals Richtliniencharakter und gaben damit den Qualita¨tspru¨fungen der Medizinischen Dienste einen verbindlicheren Charakter. Mit Inkrafttreten der Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien mit den Erhebungsbo¨gen fu¨r Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen als Anlagen wurde auch eine EDV-gestu¨tzte Bewertungssystematik geschaffen, die erstmals eine Vergleichbarkeit der Pru¨fergebnisse der einzelnen Einrichtungen ermo¨glichte. Die Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 und spa¨ter nach § 114 SGB XI der Medizinischen Dienste dienten von Anbeginn als externe Qualita¨tssicherung fu¨r das einrichtungsinterne Qualita¨tsmanagement der ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen. Sie haben einen beratungsorientierten Pru¨fansatz, nach dem die externe Qualita¨tssicherung als eine Einheit von Pru¨fung, Empfehlung und Beratung gesehen und umgesetzt wird. Entsprechend diesem Pru¨fansatz unterstu¨tzen die durch den MDK durchgefu¨hrten externen Qualita¨tspru¨fungen nach § 80, spa¨ter nach § 114 SGB XI die internen Qualita¨tssicherungsmaßnahmen der Pflegeeinrichtungen und geben Impulse fu¨r ggf. erforderliche Qualita¨tsverbesserungen. Die Qualita¨tspru¨fungen umfassen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualita¨t. Nur durch diese Gesamtbetrachtung aller drei Dimensionen der Qualita¨t ist eine zutreffende Bewertung der Pru¨fergebnisse mo¨glich. Die mit den MDK-Anleitungen zur Verfu¨gung gestellten Erhebungsinstrumente ermo¨glichen die ¢berpru¨fung dieser drei Qualita¨tsdimensionen. Zur Beurteilung der Ursachen von Ma¨ngeln in der Ergebnisqualita¨t mu¨ssen wesentliche Elemente der Struktur- und Prozessqualita¨t mit in die Betrachtung einbezogen werden. Aus dem dargestellten Aufgabenversta¨ndnis ergeben sich fu¨r die Medizinischen Dienste besondere fachliche Anforderungen hinsichtlich der Kompetenz seiner Pru¨fteams. Die Akzeptanz der Qualita¨tspru¨fungen ha¨ngt ganz wesentlich von der Fachkompetenz sowie der Vorgehensweise der Pru¨fteams in diesem Aufgabenfeld ab. Bei der Auswahl der fu¨r diese Aufgabe einzusetzenden Mitarbeiter stehen Kriterien wie pflegefachliche Kompetenz, langja¨hrige Berufserfahrung, insbesondere in Leitungsfunktionen
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und Kenntnisse im Bereich des Qualita¨tsmanagements im Vordergrund. Neben fachspezifischen Fortbildungen ist eine Ausbildung zum TQM-Auditor erforderlich. Bis zum 30. 06. 2008 sah das SGB XI folgende Pru¨fungsarten vor: Stichprobenpru¨fungen, Anlasspru¨fungen und Wiederholungspru¨fungen. Wa¨hrend Anlasspru¨fungen, wie der Name sagt, nach Beschwerden oder anderen Hinweisen von den Landesverba¨nden der Pflegekassen beauftragt wurden, erfolgten die Stichprobenpru¨fungen nach einer Zufallsauswahl aus der Gesamtheit der im Zusta¨ndigkeitsbereich des jeweiligen MDK gelegenen zugelassenen Pflegeeinrichtungen. Die Wiederholungspru¨fungen bezogen sich auf die ¢berpru¨fung der Ergebnisse nach vorangegangenen Stichprobenoder Anlasspru¨fungen. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) zum 01. 07. 2008 wurde die Pru¨fta¨tigkeit des MDK ausgeweitet und neu geregelt. So sind sa¨mtliche Qualita¨tspru¨fungen seitdem unangemeldet durchzufu¨hren. Unterschieden wird zwischen Regelpru¨fungen, Anlasspru¨fungen und Wiederholungspru¨fungen (siehe Kapitel 9.2). Die Entwicklung der Anzahl der von den Medizinischen Diensten durchgefu¨hrten Qualita¨tspru¨fungen ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt. Zur internen Qualita¨tssicherung der von den Medizinischen Diensten durchgefu¨hrten Qualita¨tspru¨fungen, ist ein MDK-internes Qualita¨tsmanagment im Aufbau, das neben einer standardisierten, stichprobenartigen ¢berpru¨fung der Arbeitsergebnisse der Pru¨fteams folgende Elemente vorsieht: ¢ Besprechung von schwierigen oder unklaren Pru¨fsituationen im Rahmen von Dienstbesprechungen und Vereinbarung von Regelungen zur einheitlichen Vorgehensweise ¢ Hospitation der Pru¨fer im Rahmen der Qualita¨tspru¨fungen durch erfahrene Pru¨fer ¢ Gegenlesen der Pru¨fberichte ¢ Zufriedenheitsbefragungen der gepru¨ften Einrichtungen zur Durchfu¨hrung der Pru¨fungen ¢ Zufriedenheitsbefragungen der Landespflegekassen zum Pru¨fbericht Tabelle 9.1: Anzahl der durch den MDK durchgefu¨hrten Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen in Deutschland (Berechnung auf der Basis der bundesweit an den MDS gemeldeten Qualita¨tspru¨fungen). Jahr 1997 / 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Gesamt
Anzahl der Qualita¨tspru¨fungen 1.469 2.488 3.355 3.460 4.402 3.907 4.326 4.425 4.083 4.129 5.291 41.335
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¢ Anwendung eines Beschwerdemanagements ¢ Bedarfsorientierte gezielte Fortbildungsmaßnahmen der Pru¨fer Im Rahmen einer Pilotuntersuchung wurden im MDK Nordrhein zur Feststellung von Trends 2005/2006 Zufriedenheitsbefragungen von Pflegeeinrichtungen nach Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach §§ 112 ff SGB XI durchgefu¨hrt. Im Ergebnis zeigte sich eine hohe Akzeptanz und Nu¨tzlichkeit der MDK-Pru¨fungen bei den befragten Einrichtungen fu¨r Verbesserungen des einrichtungsinternen Qualita¨tsmanagements. Die Ergebnisse der Befragung wurden vorgestellt auf der 42. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft fu¨r Sozialmedizin und Pra¨vention am 28. 09. 2006 in Offenbach.
9.2 Gesetzliche Grundlagen der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber Die Vorschriften zur Sicherung und Entwicklung der Qualita¨t in der Pflege sind seit Inkrafttreten des Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetzes (PQsG) am 01. 01. 2002 im Elften Kapitel des SGB XI zusammengefasst. Mit dem zum 01. Juli 2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurden sie erga¨nzt und neu strukturiert. Damit werden Qualita¨tssicherung und Qualita¨tsentwicklung entsprechend ihrer Bedeutung fu¨r eine Leistungserbringung nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse sowie entsprechend ihrer Bedeutung fu¨r die Akzeptanz der Pflegeversicherung durch die pflegebedu¨rftigen Menschen umfassend geregelt. Die in den §§ 112 bis 115 SGB XI formulierten Vorschriften fu¨hren den mit dem Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz eingeleiteten Prozess der Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t fort und schaffen durch neue Instrumente und Verfahren gro¨ßere Nachhaltigkeit in der Qualita¨tsentwicklung. Die Regelungen tragen dazu bei, dass Qualita¨t nicht nur von Pflegekassen und Leistungserbringern gefordert wird, sie unterstu¨tzen und organisieren vielmehr die Qualita¨tsentwicklung auf der Grundlage von Fachlichkeit und Transparenz. In den Regelungen zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung werden Vorschla¨ge des Sachversta¨ndigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus seinem Gutachten von 2005 zur Koordination und Qualita¨t im Gesundheitswesen aufgegriffen. Darin wird beispielsweise gefordert, die Professionalita¨t in der Pflege zu erho¨hen und die Einrichtungen zu einer nutzerfreundlicheren Informationspolitik zu verpflichten. Die Weiterentwicklung von Pflegequalita¨t stu¨tzt sich hierbei insbesondere auf folgende drei Sa¨ulen: 1. die Entwicklung und Fortschreibung von Qualita¨tsinhalten in der Pflege durch Expertenstandards (§ 113a SGB XI), 2. die sta¨rkere Anerkennung des internen Qualita¨tsmanagements und eine gro¨ßere Transparenz der Ergebnisse (besonders §§ 114 Abs. 3 und 115 Abs. 1a SGB XI) und 3. die Weiterentwicklung der Pru¨fverfahren des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung und anderer Pru¨finstitutionen sowie die Transparenz der dabei gewonnenen Ergebnisse (§§ 114, 114a und 115 SGB XI). Im Einzelnen sind folgende Vorschriften zur Qualita¨tssicherung hervorzuheben:
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§ 112 SGB XI Qualita¨tsverantwortung Die Tra¨ger der Pflegeeinrichtungen bleiben, unbeschadet des Sicherstellungsauftrages der Pflegekassen, verantwortlich fu¨r die Qualita¨t der Leistungen ihrer Einrichtungen einschließlich der Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t. Die Pflegeeinrichtungen sind verpflichtet, Maßnahmen der Qualita¨tssicherung sowie ein Qualita¨tsmanagement auf der Basis der Maßsta¨be und Grundsa¨tze nach § 113 SGB XI durchzufu¨hren, Expertenstandards nach § 113a SGB XI anzuwenden sowie bei Qualita¨tspru¨fungen nach § 114 SGB XI mitzuwirken. Der MDK bera¨t die Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualita¨tssicherung mit dem Ziel, Qualita¨tsma¨ngeln rechtzeitig vorzubeugen und die Eigenverantwortung der Pflegeeinrichtungen und ihrer Tra¨ger fu¨r die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t zu sta¨rken. § 113 SGB XI Maßsta¨be und Grundsa¨tze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t Die fru¨her in § 80 enthaltene Regelung zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t durch die Vereinbarung von Maßsta¨ben und Grundsa¨tzen wurde mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz inhaltlich erweitert und in § 113 SGB XI eingefu¨gt, um den engen Zusammenhang mit den weiteren Vorschriften der Qualita¨tssicherung und Qualita¨tsentwicklung in den folgenden Paragrafen zu betonen. Gemeinsam und einheitlich haben der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der u¨bero¨rtlichen Tra¨ger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverba¨nde und die Vereinigungen der Tra¨ger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene bis zum 31. 03. 2009 Maßsta¨be und Grundsa¨tze fu¨r die Qualita¨t und die Qualita¨tssicherung in der ambulanten und stationa¨ren Pflege sowie fu¨r die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualita¨tsmanagements zu vereinbaren. Hierbei sind der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, der Verband der privaten Krankenversicherung e. V., die Verba¨nde der Pflegeberufe auf Bundesebene, die maßgeblichen Organisationen fu¨r die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedu¨rftigen und behinderten Menschen sowie unabha¨ngiger Sachversta¨ndiger zu beteiligen. Die Maßsta¨be und Grundsa¨tze sind fu¨r alle Pflegekassen und deren Verba¨nde sowie fu¨r die zugelassenen Pflegeeinrichtungen unmittelbar verbindlich. Die Grundsa¨tze und Maßsta¨be haben insbesondere auch Anforderungen zu regeln 1. an eine praxistaugliche, den Pflegeprozess unterstu¨tzende und die Pflegequalita¨t fo¨rdernde Pflegedokumentation, die u¨ber ein fu¨r die Pflegeeinrichtungen vertretbares und wirtschaftliches Maß nicht hinausgehen du¨rfen, 2. an Sachversta¨ndige und Pru¨finstitutionen nach § 114 Abs. 4 im Hinblick auf ihre Zuverla¨ssigkeit, Unabha¨ngigkeit und Qualifikation sowie 3. an die methodische Verla¨sslichkeit von Zertifizierungs- und Pru¨fverfahren nach § 114 Abs. 4, die den jeweils geltenden Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen u¨ber die Pru¨fung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualita¨t entsprechen mu¨ssen. § 113a SGB XI Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualita¨t in der Pflege Die Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualita¨t in der Pflege ist
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durch die Vertragsparteien nach § 113 SGB XI sicherzustellen. Die methodischen Anforderungen und die Sicherstellung der pflegefachlichen Qualita¨t des Verfahrens an die Entwicklung von Expertenstandards sind in einer Verfahrensordnung geregelt. Der Begriff „Expertenstandard“ ist in der pflegewissenschaftlichen Fachwelt und in der Pflegepraxis eingefu¨hrt. Seit langem zeichnet sich ab, dass in den Pflegeberufen dem verbindlichen Instrument „Standard“ der Vorzug gegeben wird, wa¨hrend die Medizin in der „Leitlinie“ das besser geeignete Instrument sieht. Beide Instrumente dienen der Qualita¨tsentwicklung in der Praxis und dem Theorie-Praxis-Transfer. Expertenstandards als Ergebnis eines fachlich organisierten und konsensorientierten Diskussionsprozesses stellen ein ausgesprochen wichtiges Instrument der internen Qualita¨tsentwicklung in der Pflege dar. Sie tragen fu¨r ihren Themenbereich zur Konkretisierung des allgemein anerkannten Standes der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse bei, der nach dem SGB XI dem pflegerischen Handeln und der Qualita¨tsverantwortung der Pflegeeinrichtungen und ihrer Tra¨ger (§ 11) und dem Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen (§ 69) zugrunde liegt. Die Beachtung des aktuellen Erkenntnisstandes ist von Bedeutung, z. B. bei Pflegefehlern, die zu haftungsrechtlichen Folgen fu¨hren ko¨nnen. Die Diskussion um die Qualita¨tsentwicklung in der Pflege und die Frage nach verla¨sslichen Grundlagen einer qualita¨tsgestu¨tzten Pflege hat gezeigt, dass in der Praxis wissenschaftlich fundierte und fachlich abgestimmte Expertenstandards dringend beno¨tigt werden. Die Expertenstandards sind im Bundesanzeiger vero¨ffentlicht und fu¨r alle Pflegekassen und deren Verba¨nde sowie fu¨r die zugelassenen Pflegeeinrichtungen unmittelbar verbindlich. § 113b SGB XI Schiedsstelle Qualita¨tssicherung Die Schiedsstelle Qualita¨tssicherung wurde von den Vertragsparteien nach § 113 SGB XI eingerichtet. Sie besteht aus Vertretern des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen und der Vereinigungen der Tra¨ger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene in gleicher Zahl sowie einem unparteiischen Vorsitzenden und zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern. Die unparteiischen Mitglieder sowie deren Stellvertreter werden von den Vertragsparteien gemeinsam bestellt. Der Schiedsstelle Qualita¨tssicherung obliegen folgende Aufgaben: ¢ Sie setzt den Inhalt von Vereinbarungen u¨ber Maßsta¨be und Grundsa¨tze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t fest, wenn sich die Vertragsparteien daru¨ber ganz oder teilweise nicht einigen ko¨nnen (§ 113 Abs. 3). ¢ Sie entscheidet im Streitfall, ob zu einem Thema ein Expertenstandard erarbeitet bzw. u¨berarbeitet werden soll und ob ein Expertenstandard als beschlossen gilt, wenn ein Beschluss von den Vertragsparteien nicht herbeigefu¨hrt werden konnte (§ 113a Abs. 1), und ¢ sie legt die Kriterien der Vero¨ffentlichung der Pru¨fergebnisse bezu¨glich der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualita¨t fest, wenn die Vertragspartner diese nicht bis zum 30. September 2008 festlegen (§ 115 Abs. 1a). Gegen die Entscheidung der Schiedsstelle ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben. Ein Vorverfahren findet nicht statt; die Klage gegen die Entscheidung der Schiedsstelle hat keine aufschiebende Wirkung. § 114 SGB XI Qualita¨tspru¨fungen In § 114 sind die grundsa¨tzlichen Anforderungen an das Pru¨fverfahren geregelt. Die Erteilung eines Auftrages zur Durchfu¨hrung einer Qualita¨tspru¨fung erfolgt durch die
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Landesverba¨nde der Pflegekassen an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder an einen von ihnen bestellten Sachversta¨ndigen. Der Pru¨fauftrag entha¨lt Angaben zur Pru¨fart, zum Pru¨fgegenstand und zum Pru¨fumfang. Die Pru¨fung erfolgt als Regelpru¨fung, Anlasspru¨fung oder Wiederholungspru¨fung. Die Pflegeeinrichtungen haben die ordnungsgema¨ße Durchfu¨hrung der Pru¨fungen zu ermo¨glichen. Die Landesverba¨nde der Pflegekassen veranlassen in zugelassenen Pflegeeinrichtungen bis zum 31. Dezember 2010 mindestens einmal und ab dem Jahre 2011 regelma¨ßig im Abstand von ho¨chstens einem Jahr eine Pru¨fung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder durch von ihnen bestellte Sachversta¨ndige (Regelpru¨fung). Zu pru¨fen ist, ob die Qualita¨tsanforderungen nach SGB XI und nach den auf dieser Grundlage abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarungen erfu¨llt sind. Die Regelpru¨fung erfasst insbesondere wesentliche Aspekte des Pflegezustandes und die Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen (Ergebnisqualita¨t). Sie kann auch auf den Ablauf, die Durchfu¨hrung und die Evaluation der Leistungserbringung (Prozessqualita¨t) sowie die unmittelbaren Rahmenbedingungen der Leistungserbringung (Strukturqualita¨t) erstreckt werden. Die Regelpru¨fung bezieht sich auf die Qualita¨t der allgemeinen Pflegeleistungen, der medizinischen Behandlungspflege, der sozialen Betreuung einschließlich der zusa¨tzlichen Betreuung und Aktivierung im Sinne des § 87b SGB XI, der Leistungen bei Unterkunft und Verpflegung (§ 87 SGB XI), der Zusatzleistungen (§ 88 SGB XI) und der nach § 37 SGB V erbrachten Leistungen der ha¨uslichen Krankenpflege. Sie kann sich auch auf die Abrechnung der genannten Leistungen erstrecken. Zu pru¨fen ist auch, ob die Versorgung der Pflegebedu¨rftigen den Empfehlungen der Kommission fu¨r Krankenhaushygiene und Infektionspra¨vention nach § 23 Abs. 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) entspricht. Die Landesverba¨nde der Pflegekassen haben den Pru¨fumfang der Regelpru¨fung in angemessener Weise zu verringern, soweit ihnen auf Grund einer Pru¨fung der zusta¨ndigen Heimaufsichtsbeho¨rde oder aus einem nach Landesrecht durchgefu¨hrten Pru¨fverfahren Erkenntnisse daru¨ber vorliegen, dass die Qualita¨tsanforderungen nach diesem Buch und den auf seiner Grundlage abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarungen erfu¨llt sind. Liegen den Landesverba¨nden der Pflegekassen Ergebnisse zur Prozess- und Strukturqualita¨t aus einer Pru¨fung vor, die von der Pflegeeinrichtung oder dem Einrichtungstra¨ger veranlasst wurde, so haben sie den Umfang der Regelpru¨fung in angemessener Weise zu verringern. Voraussetzung ist, dass die vorgelegten Pru¨fergebnisse nach einem durch die Landesverba¨nde der Pflegekassen anerkannten Verfahren zur Messung und Bewertung der Pflegequalita¨t durch unabha¨ngige Sachversta¨ndige oder Pru¨finstitutionen entsprechend den von den Vertragsparteien nach § 113 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 und 3 SGB XI festgelegten Anforderungen durchgefu¨hrt wurde, die Pru¨fung nicht la¨nger als ein Jahr zuru¨ckliegt und die Pru¨fungsergebnisse gema¨ß § 115 Abs. 1a SGB XI vero¨ffentlicht werden. Eine Pru¨fung der Ergebnisqualita¨t durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ist stets durchzufu¨hren. Bei Anlasspru¨fungen geht der Pru¨fauftrag in der Regel u¨ber den jeweiligen Pru¨fanlass hinaus; er umfasst eine vollsta¨ndige Pru¨fung mit dem Schwerpunkt der Ergebnisqualita¨t. Im Zusammenhang mit einer zuvor durchgefu¨hrten Regel- oder Anlasspru¨fung kann von den Landesverba¨nden der Pflegekassen auf Kosten der Pflegeeinrichtung eine Wiederholungspru¨fung veranlasst werden, um zu u¨berpru¨fen, ob die festgestellten Qualita¨tsma¨ngel durch die nach § 115 Abs. 2 SGB XI angeord-
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neten Maßnahmen beseitigt worden sind. Auf Antrag und auf Kosten der Pflegeeinrichtung ist eine Wiederholungspru¨fung von den Landesverba¨nden der Pflegekassen zu veranlassen, wenn wesentliche Aspekte der Pflegequalita¨t betroffen sind und ohne zeitnahe Nachpru¨fung der Pflegeeinrichtung unzumutbare Nachteile drohen. § 114a SGB XI Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen § 114a regelt das Pru¨fverfahren im Detail. Der MDK und die von den Landesverba¨nden der Pflegekassen bestellten Sachversta¨ndigen sind berechtigt und verpflichtet, an Ort und Stelle zu u¨berpru¨fen, ob die Pflegeeinrichtungen die Leistungs- und Qualita¨tsanforderungen erfu¨llen. Es wird klargestellt, dass alle Pru¨fungen grundsa¨tzlich unangemeldet durchzufu¨hren sind. Im Rahmen der Qualita¨tspru¨fungen hat eine Beratung der Pflegeeinrichtungen durch den MDK bzw. die bestellten Sachversta¨ndigen stattzufinden. Damit wird verdeutlicht, dass Qualita¨tspru¨fungen sich nicht in der Bestandsaufnahme der Qualita¨t der Pflege und in einer Auflistung potenzieller Defizite erscho¨pfen du¨rfen, sondern Sta¨rken und Schwa¨chen der Pflegeeinrichtungen darstellen und vor allem auch auf Verbesserungspotentiale hinweisen sollen, um die Qualita¨t in der Pflege kontinuierlich zu steigern. Der MDK ist berechtigt, zum Zwecke der Qualita¨tssicherung die Grundstu¨cke und Ra¨ume der Pflegeeinrichtungen jederzeit zu betreten, dort Pru¨fungen und Besichtigungen vorzunehmen, sich mit den Pflegebedu¨rftigen, ihren Angeho¨rigen, vertretungsberechtigten Personen und Betreuern in Verbindung zu setzen sowie die Bescha¨ftigten und die Interessenvertretung der Bewohnerinnen und Bewohner zu befragen. Pru¨fungen und Besichtigungen zur Nachtzeit sind nur zula¨ssig, wenn und soweit das Ziel der Qualita¨tssicherung zu anderen Tageszeiten nicht erreicht werden kann. Soweit Ra¨ume einem Wohnrecht der Heimbewohner unterliegen, du¨rfen sie ohne deren Einwilligung nur betreten werden, soweit dies zur Verhu¨tung drohender Gefahren fu¨r die o¨ffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist; das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschra¨nkt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung soll die zusta¨ndige Heimaufsichtsbeho¨rde an Pru¨fungen beteiligen, soweit dadurch die Pru¨fung nicht verzo¨gert wird. Bei der ambulanten Pflege sind der Medizinische Dienst der Krankenversicherung und die von den Landesverba¨nden der Pflegekassen bestellten Sachversta¨ndigen berechtigt, die Qualita¨t der Leistungen des Pflegedienstes mit Einwilligung des Pflegebedu¨rftigen auch in dessen Wohnung zu u¨berpru¨fen. Soweit ein Pflegebedu¨rftiger die Einwilligung nicht selbst erteilen kann, darf diese nur durch eine vertretungsberechtigte Person oder einen bestellten Betreuer erteilt werden. Die Pru¨fungen beinhalten auch die Inaugenscheinnahme von Pflegebedu¨rftigen im Hinblick auf deren gesundheitlichen und pflegerischen Zustand und die Befragung von Pflegebedu¨rftigen, Betreuern, Angeho¨rigen, Bescha¨ftigten von Pflegeeinrichtungen und von Mitgliedern der heimrechtlichen Interessensvertretungen. Die Teilnahme an Inaugenscheinnahmen und Befragungen sind freiwillig. Der MDK ist befugt, sich an ¢berpru¨fungen von zugelassenen Pflegeheimen zu beteiligen, soweit sie von der zusta¨ndigen Heimaufsichtsbeho¨rde nach Maßgabe heimrechtlicher Vorschriften durchgefu¨hrt werden. Der MDK hat in diesem Fall seine Mitwirkung auf den Bereich der Qualita¨tssicherung nach dem SGB XI zu beschra¨nken.
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Die private Pflege-Pflichtversicherung hat sich mit 10 Prozent an den Kosten der Qualita¨tspru¨fungen zu beteiligen, sofern diese ohne Beteiligung von Vertretern des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V. durchgefu¨hrt wurden. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung berichten dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zum 30. Juni 2011, danach in Absta¨nden von drei Jahren, u¨ber ihre Erfahrungen mit der Anwendung der Beratungsund Pru¨fvorschriften, u¨ber die Ergebnisse ihrer Qualita¨tspru¨fungen sowie u¨ber ihre Erkenntnisse zum Stand und zur Entwicklung der Pflegequalita¨t und der Qualita¨tssicherung. Der MDS fu¨hrt die Berichte der MDK und seine eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen zur Entwicklung der Pflegequalita¨t und der Qualita¨tssicherung zu einem Bericht zusammen und legt diesen innerhalb eines halben Jahres dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen, dem Bundesministerium fu¨r Gesundheit, dem Bundesministerium fu¨r Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium fu¨r Arbeit und Soziales und den zusta¨ndigen La¨nderministerien vor. Um ein einheitliches Vorgehen bei den Qualita¨tspru¨fungen und bei der Beratung der Pflegeeinrichtungen zu gewa¨hrleisten, beschließt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen unter Beteiligung des MDS Richtlinien u¨ber die Pru¨fung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualita¨t. Verschiedene im Gesetz benannte Organisationen und Verba¨nde sind im Vorfeld hierzu zu beteiligen. Diese Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien (QPR) traten am 01. Juli 2009 in Kraft. Sie bilden fu¨r alle Beteiligten eine wichtige Grundlage fu¨r die bundesweit einheitliche Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen. Die QPR sind regelma¨ßig an den medizinisch-pflegefachlichen Fortschritt anzupassen. § 115 SGB XI Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen Die MDK sowie die von den Landesverba¨nden der Pflegekassen fu¨r Qualita¨tspru¨fungen bestellten Sachversta¨ndigen haben das Ergebnis einer jeden Qualita¨tspru¨fung sowie die dabei gewonnenen Daten und Informationen den Landesverba¨nden der Pflegekassen und den zusta¨ndigen Tra¨gern der Sozialhilfe sowie bei stationa¨rer Pflege zusa¨tzlich den zusta¨ndigen Heimaufsichtsbeho¨rden und bei ha¨uslicher Pflege den zusta¨ndigen Pflegekassen mitzuteilen. Die Landesverba¨nde der Pflegekassen haben sicherzustellen, dass die von Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualita¨t, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualita¨t, fu¨r die Pflegebedu¨rftigen und ihre Angeho¨rigen versta¨ndlich, u¨bersichtlich und vergleichbar sowohl im Internet als auch in anderer geeigneter Form kostenfrei vero¨ffentlicht werden. Hierbei sind die Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen des MDK sowie gleichwertige Pru¨fergebnisse zugrunde zu legen (siehe Kapitel 9.4). Soweit bei einer Pru¨fung Qualita¨tsma¨ngel festgestellt werden, entscheiden die Landesverba¨nde der Pflegekassen nach Anho¨rung des Tra¨gers der Pflegeeinrichtung und der beteiligten Tra¨gervereinigung unter Beteiligung des zusta¨ndigen Tra¨gers der Sozialhilfe, welche Maßnahmen zu treffen sind, erteilen dem Tra¨ger der Einrichtung hieru¨ber einen Bescheid und setzen ihm darin zugleich eine angemessene Frist zur Beseitigung der festgestellten Ma¨ngel. Werden festgestellte Ma¨ngel nicht fristgerecht beseitigt, ko¨nnen die Landesverba¨nde der Pflegekassen den Versorgungsvertrag ku¨ndigen. Bei Feststellung schwerwiegender, kurzfristig nicht behebbarer Ma¨ngel in der stationa¨ren Pflege sind die Pflegekassen verpflichtet, den betroffenen Heimbewohnern auf deren Antrag eine andere geeignete Pflegeeinrichtung zu vermitteln, welche die
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
Pflege, Versorgung und Betreuung nahtlos u¨bernimmt. Bei schwerwiegenden Ma¨ngeln in der ambulanten Pflege kann die Pflegekasse dem Pflegedienst die weitere Betreuung des Pflegebedu¨rftigen vorla¨ufig untersagen. § 117 Zusammenarbeit mit der Heimaufsicht Die Landesverba¨nde der Pflegekassen und der MDK arbeiten mit den Heimaufsichtsbeho¨rden eng zusammen, um ihre wechselseitigen Aufgaben durch gegenseitige Information und Beratung, durch Terminabsprachen fu¨r eine gemeinsame oder arbeitsteilige ¢berpru¨fung von Heimen oder durch Versta¨ndigung u¨ber die im Einzelfall notwendigen Maßnahmen wirksam aufeinander abzustimmen. Dabei ist sicherzustellen, dass Doppelpru¨fungen nach Mo¨glichkeit vermieden werden. Zur Erfu¨llung der Aufgaben sind die Landesverba¨nde der Pflegekassen und der MDK verpflichtet, in den Arbeitsgemeinschaften nach den heimrechtlichen Vorschriften mitzuwirken. Erkenntnisse aus Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeheimen sind unverzu¨glich der zusta¨ndigen Heimaufsichtsbeho¨rde mitzuteilen, soweit sie zur Vorbereitung und Durchfu¨hrung aufsichtsrechtlicher Maßnahmen erforderlich sind.
9.3 Qualita¨tspru¨fungen in Einrichtungen der ambulanten und stationa¨ren Pflege Winfried Fischer und Hans Gerber Die Landesverba¨nde der Pflegekassen entscheiden u¨ber die Auftragserteilung an den MDK und die Art der Pru¨fung. Der Pru¨fauftrag wird schriftlich von den Landesverba¨nden der Pflegekassen der zusta¨ndigen Stelle des jeweiligen MDK erteilt. Fu¨r den Bereich der Regelpru¨fungen existieren in einigen La¨ndern bereits Sammelauftra¨ge, welche die Planung und notwendige Abstimmung der Pru¨ftermine mit der Heimaufsicht (§ 117 Abs. 1 SGB XI) erleichtern. Dem Pru¨fauftrag sind relevante Unterlagen wie Strukturdaten, vorliegende Maßnahmenbescheide, eventuelle Beschwerden u¨ber die zu pru¨fenden Pflegeeinrichtung, Versorgungsvertra¨ge, Leistungs- und Qualita¨tsmerkmale (§ 84 Abs. 5 SGB XI), Vergu¨tungsvereinbarung etc. beizufu¨gen. Die MDK-Pru¨fteams bestehen aus Pflegefachkra¨ften und ¥rzten. Der multidisziplina¨re Ansatz bei der Qualita¨tspru¨fung hat sich insbesondere im stationa¨ren Bereich und bei Pflegediensten mit spezifischen pflegefachlichen Schwerpunkten (z. B. Intensivpflege) bewa¨hrt. Mindestens ein Mitglied des Pru¨fteams verfu¨gt u¨ber eine Auditorenausbildung oder eine vergleichbare Qualifikation. Neben der klassischen pflegerischen und a¨rztlichen Grundqualifikation sowie Weiterbildung in Qualita¨tsmanagement verfu¨gen die Pru¨fer u¨ber pflegefachliche und sozialmedizinische Zusatzqualifikationen. Unter anderem sind Weiterbildungen aus den Bereichen Ana¨sthesie und Intensivmedizin, Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Pflegedienst- und Heimleitung sowie Studienabschlu¨sse in den Bereichen Pflegewissenschaft, -management und -pa¨dagogik vertreten. Die Auftra¨ge werden vom jeweiligen MDK in einer Datenbank erfasst und dem fu¨r die Koordination und Durchfu¨hrung der Pru¨fung verantwortlichen „Auditor Pflege“ zugeordnet. An ihn werden die Pru¨fungsunterlagen weitergeleitet. Der Bearbeitungsstatus des Auftrags wird durchgehend dokumentiert, um die Nachvollziehbarkeit des gesamten Bearbeitungsverlaufes zu gewa¨hrleisten. Zur Vorbereitung geho¨rt die
9.3 Qualita¨tspru¨fungen in Einrichtungen der ambulanten und stationa¨ren Pflege
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Zusammenstellung eines Pru¨fteams und die Terminfestlegung in Absprache mit dem Auftraggeber und der Heimaufsicht. Der fu¨r den Auftrag zusta¨ndige Auditor ist fu¨r die Durchfu¨hrung der Pru¨fung und fu¨r den Pru¨fbericht verantwortlich. Teilweise werden Pru¨fungen im stationa¨ren Bereich mit Beteiligung der Heimaufsicht durchgefu¨hrt. Aus Gru¨nden der Objektivita¨t und u¨bergreifenden Vergleichbarkeit der Pru¨fergebnisse empfiehlt sich die Bildung wechselnder Pru¨fteams. Pru¨fungen in Pflegeeinrichtungen erfolgen seit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 1. Juli 2008 grundsa¨tzlich unangemeldet. Zutrittsrechte zur Nachtzeit sind auf die Pru¨fungsgegensta¨nde beschra¨nkt, die tagsu¨ber nicht beurteilt werden ko¨nnen, wie zum Beispiel die personelle Besetzung in der Nacht. Soweit Ra¨ume einem Wohnrecht der Heimbewohner unterliegen, du¨rfen sie ohne deren Einwilligung nur betreten werden, soweit dies zur Verhu¨tung drohender Gefahren fu¨r die o¨ffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Bei der Pru¨fung ambulanter Pflegeeinrichtungen sind die Pru¨fer berechtigt, die Qualita¨t der Leistung des Pflegedienstes mit der Zustimmung des Pflegebedu¨rftigen in dessen Wohnung zu beurteilen. Die grundsa¨tzlich unangemeldete, ein- bis zweita¨gige Pru¨fung vor Ort, besteht im Wesentlichen aus fu¨nf Phasen, wobei die Pru¨fung der Ergebnisqualita¨t von zentraler Bedeutung ist. Im Rahmen eines Einfu¨hrungsgespra¨chs werden der Einrichtung Informationen u¨ber Anlass und Ablauf der Pru¨fung und die durch das Pru¨fteam geplante Vorgehensweise erla¨utert. In dieser Phase ist es besonders wichtig, der Einrichtung Versta¨ndnis fu¨r die Zusatzbelastung zu signalisieren und die Leitungskra¨fte und Mitarbeiter in eine verbindliche Tagesplanung einzubeziehen. Dabei hat die Sicherstellung der Pflege und Betreuung der Bewohner die ho¨chste Priorita¨t. Zu Beginn der Pru¨fung sind Fragen zu erforderlichen Unterlagen und Informationen genauso zu kla¨ren wie Pausenzeiten und der voraussichtliche Abschluss der Pru¨fung. Aufbau von Vertrauen und Schaffung von Klarheit und Struktur sind die wichtigsten Ziele dieser Phase. Die ¢berpru¨fung der versichertenbezogenen Prozess- und Ergebnisqualita¨t bildet den zentralen Bereich jeder Qualita¨tspru¨fung. Hierzu erfolgt eine Befragung und Inaugenscheinnahme des gesundheitlichen und pflegerischen Zustands einer Stichprobe von Pflegebedu¨rftigen. Bei der Auswahl der Stichprobe sind einige Regeln zu beachten. Die teilnehmenden Pflegebedu¨rftigen werden im Rahmen einer von der Gro¨ße der gepru¨ften Einrichtung abha¨ngigen Stichprobe ausgewa¨hlt. Im ambulanten Bereich werden Personen einbezogen, die SGB XI- und ggf. SGB V-Leistungen erhalten. Bei Einrichtungen von weniger als 50 Pflegebedu¨rftigen betra¨gt die Stichprobe 5 Bewohner. Bei mehr als 50 Pflegebedu¨rftigen betra¨gt die Stichprobe 10 Prozent, jedoch regelma¨ßig nicht mehr als 15 Personen. Die in die Pru¨fung einbezogenen Pflegebedu¨rftigen werden nach den Pflege-Transparenzvereinbarungen entsprechend der Verteilung der Pflegestufen in der Einrichtung und innerhalb der Pflegestufen zufa¨llig ausgewa¨hlt. Bei anlassbezogenen Pru¨fungen wird nach Mo¨glichkeit der Beschwerdefu¨hrer mit einbezogen. Die Inaugenscheinnahme des gesundheitlichen und pflegerischen Zustandes des Pflegebedu¨rftigen setzt das Einversta¨ndnis desselben bzw. seines gesetzlich bestellten Betreuers voraus. Informationen der Pflegefachkra¨fte sowie nonverbale Zeichen der Abwehr oder Zustimmung des Pflegebedu¨rftigen sind zu beachten. Nach Inaugenscheinnahme der Pflegebedu¨rftigen und Gespra¨ch mit den zusta¨ndigen Mitarbeitern der Einrichtung werden im Abgleich mit den Informationen aus den Pflegedokumentationen unter Anwendung der standardisierten Pru¨fkriterien die wesentlichen Ergebnisse einer Qualita¨tspru¨fung generiert.
188
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
Die Zufriedenheitsbefragung wird mit den auskunftsfa¨higen Pflegebedu¨rftigen der Stichprobe durchgefu¨hrt. Sofern Pflegebedu¨rftige z. B. auf Grund von Demenzerkrankungen nicht befragt werden ko¨nnen, sind andere Pflegebedu¨rftige mit der gleichen Pflegestufe nach dem Zufallsprinzip fu¨r die Befragung auszuwa¨hlen. Die Pru¨fung der einrichtungsbezogenen Struktur- und Prozessqualita¨t mit Befragung der Fu¨hrungsebene nimmt die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen fu¨r Qualita¨t in den Fokus. Nach Befragung der Leitungsebene mit Einsicht in qualita¨tsrelevante Unterlagen und Pru¨fung der Ergebnisqualita¨t kann der Pru¨fer gezielt Abla¨ufe und Strukturen hinterfragen und positive Ergebnisse sowie Verbesserungs- und Lo¨sungsmo¨glichkeiten im Dialog herausarbeiten. Im Abschlussgespra¨ch werden die wichtigsten Ergebnisse in zusammengefasster Form der Leitungsebene mitgeteilt. Dies schließt die Beurteilung der Entwicklung in Bezug zur Vorpru¨fung ein. Sta¨rken und Besonderheiten der Einrichtung wie auch ihre Schwa¨chen sind jeweils zu benennen und mit einer angemessenen Gewichtung und auch Begru¨ndung zu versehen. Dabei sollten der Einrichtung Entwicklungsperspektiven aufgezeigt werden – unter Hinweis auf vorhandene Ressourcen. Abschließend bittet der Pru¨fer um eine Stellungnahme der Einrichtung, wie der Verlauf und die Ergebnisse der Pru¨fung von den Mitarbeitern der Einrichtung wahrgenommen wurden. Neben anderen Ru¨ckmeldungen ist dies ein unverzichtbarer Bestandteil fu¨r die Weiterentwicklung der Pru¨fabla¨ufe wie auch des Pru¨finstruments. Nach Abschluss der Pru¨fung wird unter Federfu¨hrung des koordinierenden Auditors vom Pru¨fteam ein Pru¨fbericht unter Verwendung eines einheitlichen EDV-gestu¨tzten Berichtsformulars erstellt. Im Pru¨fbericht sind die personenbezogenen Daten automatisch anonymisiert. Der Bericht entha¨lt neben einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und einem Empfehlungsteil eine Anlage, in welcher die Bewertungen und Erla¨uterungen aller Pru¨fer detailliert nachvollzogen werden ko¨nnen. Neben der Einrichtung erhalten die Landesverba¨nde der Pflegekassen und die zusta¨ndigen Sozialhilfetra¨ger, bei stationa¨ren Einrichtungen auch die Heimaufsicht ein Exemplar des Pru¨fberichts. Die Landesverba¨nde der Pflegekassen entscheiden, ob und ggf. welche Maßnahmen zur Ma¨ngelbeseitigung erforderlich sind. Die Pflegeeinrichtung kann im Rahmen einer Anho¨rung durch die Landesverba¨nde der Pflegekassen eine Stellungnahme abgeben.
9.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes wurde der vielfach erhobenen Forderung nach mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen Rechnung getragen. Insbesondere fu¨r die Pflegebedu¨rftigen und ihre Angeho¨rigen aber auch fu¨r jeden interessierten Bu¨rger sollen im Internet und in anderer geeigneter Form die erbrachten Leistungen von Pflegeeinrichtungen und deren Qualita¨t versta¨ndlich, u¨bersichtlich und vergleichbar vero¨ffentlicht werden. Die Hauptgrundlage der Vero¨ffentlichungen bilden die Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen des MDK sowie gleichwertige Pru¨fergebnisse.
9.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen
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Die Vero¨ffentlichung der Pru¨fergebnisse haben nach § 115 Abs. 1a SGB XI die Landesverba¨nde der Pflegekassen sicherzustellen. Die einheitlichen Kriterien einer Vero¨ffentlichung einschließlich einer Bewertungssystematik sind dagegen durch den Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Vereinigungen der Tra¨ger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, die Bundesarbeitsgemeinschaft der u¨bero¨rtlichen Tra¨ger der Sozialhilfe und die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverba¨nde unter Beteiligung des MDS zu vereinbaren. Die maßgeblichen Organisationen fu¨r die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedu¨rftigen und der behinderten Menschen und Verbraucherorganisationen auf Bundesebene sowie der Verband der privaten Krankenversicherung und die Verba¨nde der Pflegeberufe auf Bundesebene sind zu beteiligen. Entsprechend diesen gesetzlichen Vorgaben wurden unter Leitung des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen die Pflege-Transparenzvereinbarungen stationa¨r (PTVS) vom 17. 12. 2008 und ambulant (PTVA) vom 29. 01. 2009 erarbeitet und mit den Vertragspartnern vereinbart unter Beteiligung des MDS und der im Gesetz genannten Institutionen [Grote 2008, PTVA 2009, PTVS 2008]. In den Transparenzvereinbarungen sind die Kriterien der Vero¨ffentlichung festgelegt, die Auswahl der in die Pru¨fungen einzubeziehenden Pflegebedu¨rftigen und weitere fu¨r die Bewertungssystematik und die Darstellung der Pru¨fergebnisse grundlegenden Vorgaben geregelt. Bestandteil der Vereinbarungen sind jeweils die vier folgenden Anlagen, in denen detaillierte Vorgaben zur Vero¨ffentlichung beschrieben sind: Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4
Kriterien der Vero¨ffentlichung Bewertungssystematik fu¨r die Kriterien Ausfu¨llanleitungen fu¨r die Pru¨fer Darstellung der Pru¨fergebnisse
Fu¨r die Vero¨ffentlichung der Pru¨fergebnisse in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen werden 82 Transparenzkriterien, fu¨r die Vero¨ffentlichung von Pru¨fergebnissen aus ambulanten Pflegediensten werden 49 Kriterien herangezogen. Bei stationa¨ren Pflegeeinrichtungen werden die 82 Transparenzkriterien in folgende fu¨nf Qualita¨tsbereiche aufgeteilt: 1. 2. 3. 4. 5.
Pflege und medizinische Versorgung Umgang mit demenzkranken Bewohnern Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene Befragung der Bewohner
Die 49 Transparenzkriterien aus Pru¨fungen in ambulanten Pflegeeinrichtungen gliedern sich in folgende vier Qualita¨tsbereiche: 1. 2. 3. 4.
Pflegerische Leistungen ¥rztlich verordnete pflegerische Leistungen Dienstleistung und Organisation Befragung der Kunden
Sa¨mtliche Transparenzkriterien wurden in die Erhebungsbo¨gen fu¨r die MDK-Qualita¨tspru¨fungen eingearbeitet. Der Schwerpunkt der Pru¨fungen wurde noch mehr als bisher auf die Ermittlung der Ergebnisqualita¨t gelegt. Die Grundlage der Pru¨fung der Ergeb-
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
nisqualita¨t bildet eine nach folgendem einheitlichen Vorgehen auszuwa¨hlende Stichprobe von Pflegebedu¨rftigen. Nach den Pflege-Transparenzvereinbarungen werden die in die Pru¨fung einzubeziehenden Pflegebedu¨rftigen entsprechend der Verteilung der Pflegestufen in der Pflegeeinrichtung und innerhalb der Pflegestufen zufa¨llig ausgewa¨hlt. Es werden 10 Prozent der Pflegebedu¨rftigen, jedoch mindestens fu¨nf und ho¨chstens 15 Pflegebedu¨rftige in die Pru¨fung einbezogen. Tabelle 9.2: Beispiel fu¨r eine Internetdarstellung einer gepru¨ften stationa¨ren Pflegeeinrichtung (Darstellungsebene 1). 1. Qualita¨t der Pflegeeinrichtung
12. Erla¨uterungen zum Bewertungssystem hier
2. Seniorenresidenz „Letzter Anker“
13. Vertraglich vereinbarte Leistungsangebote hier 14. Weitere Leistungsangebote und Strukturdaten hier
3. Seestr. 9
12345 Hafenstadt
4. Telefon: 02222/999999
Fax: 02222/899999
5. Email:
[email protected]
Internet:
6. Anzahl der versorgten Bewohner: 100 7. Anzahl der in die Pru¨fung einbezogenen Bewohner: 12 7.1 Anzahl der befragten Bewohner: 11
15. MDK-Qualita¨tspru¨fung: Datum 16. Gleichwertige Pru¨fung: Datum 17. Weitere Pru¨fergebnisse hier 18. Kommentar der Pflegeeinrichtung hier 19. Die Pflegeeinrichtung hat eine Wiederholungspru¨fung durch den MDK beantragt: Ja & Nein &
8. Qualita¨tsbereiche
9. MDK Ergebnis
10. Gleichwertige Pru¨fung
11. Vergleichswert im Bundesland
8.1 Pflege und medizinische Versorgung hier
9.1 2,4 gut
10.1
11.1 Anzahl der Pflegeheime im Bundesland 1.800
8.2 Umgang mit demenzkranken 9.2 4,2 Bewohnern hier ausreichend
10.2
8.4 Wohnen, Verpflegung, Haus- 9.4 2,2 gut wirtschaft und Hygiene hier
10.4
11.2 Anzahl der gepru¨ften Pflegeheime 411
8.5 Gesamtergebnis 9.5 2,4 (aus allen 64 Fragen der vier gut Qualita¨tsbereiche)
10.5
11.3 2,3 (gut)
8.6 Befragung der Bewohner hier
10.6
8.3 Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung hier
9.3 3,0 10.3 befriedigend
9.6 1,4 sehr gut
9.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen
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Die Vero¨ffentlichung der Pru¨fergebnisse erfolgt in einer bundesweit einheitlichen Darstellungsform in zwei Ebenen. In der 1. Darstellungsebene erscheinen die Pru¨fergebnisse der Qualita¨tsbereiche, das Gesamtergebnis, mo¨gliche Ergebnisse gleichwertiger Pru¨fungen sowie der Landesvergleichswert bereits gepru¨fter Einrichtungen (siehe Tab. 9.2). In der 2. Darstellungsebene werden die Pru¨fergebnisse zu den einzelnen Bewertungskriterien dargestellt (siehe Tab. 9.3). Von den Feldern der einzelnen Qualita¨tsbereiche gelangt der Benutzer u¨ber eine Verlinkung von der Darstellungsebene 1 zu den Einzelergebnissen dieses Qualita¨tsbereiches auf der Darstellungsebene 2. Sowohl die Qualita¨tsbereiche als auch die Einzelkriterien sind nach einem fu¨nfstufigen Notensystem von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ bewertet, wobei auch die erste Stelle nach dem Komma noch beru¨cksichtigt wird. Daru¨ber hinaus wird in der ersten Ebene eine Gesamtnote dargestellt, die einer Landesvergleichsnote aus bereits gepru¨ften Pflegeeinrichtungen gegenu¨ber gestellt wird und erstmalig dann ausgewiesen wird, wenn mindestens 20 Prozent aller ambulanten bzw. stationa¨ren Pflegeeinrichtungen im Bundesland durch den MDK gepru¨ft wurden. Die Bewertung der Kriterien der Bewohner- bzw. Pflegebedu¨rftigenbefragung wird separat dargestellt und fließt in die Gesamtnote nicht mit ein, da sich in wissenschaftlichen Untersuchungen zeigte, dass befragte Pflegebedu¨rftige ha¨ufig ihre eigene Situation zu positiv darstellen, woraus bei einer Miteinbeziehung dieser Noten eine zu positive Gesamtbewertung resultieren wu¨rde. Tabelle 9.3: Muster fu¨r die Darstellung des Qualita¨tsbereichs 2 (Umgang mit demenzkranken Bewohnern) einer stationa¨ren Pflegeeinrichtung (2. Darstellungsebene). 2. Darstellungsebene Beispiel: Qualita¨tsbereich „Umgang mit demenzkranken Bewohnern“ 36
Wird bei Bewohnern mit Demenz die Biographie des Heimbewohners beachtet und bei der Tagesgestaltung beru¨cksichtigt?
2,5
37
Werden bei Bewohnern mit Demenz Angeho¨rige und Bezugspersonen in die Planung der Pflege einbezogen?
3,0
38
Wird bei Bewohnern mit Demenz die Selbstbestimmung in der Pflegeplanung beru¨cksichtigt? Wird das Wohlbefinden von Bewohnern mit Demenz im Pflegealltag ermittelt und dokumentiert und werden daraus Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet?
1,8
39 40
3,0
Sind zielgruppengerechte Bewegungs- und Aufenthaltsfla¨chen vorhanden (auch nachts)?
5,0
41
Sind gesicherte Aufenthaltsmo¨glichkeiten im Freien vorhanden?
1,0
42
Gibt es identifikationserleichternde Milieugestaltung in Zimmern und Aufenthaltsra¨umen? Wird mit individuellen Orientierungshilfen, z. B. Fotos, gearbeitet?
1,0
44
Werden dem Bewohner geeignete Angebote gemacht, z. B. zur Bewegung, Kommunikation oder zur Wahrnehmung?
5,0
45
Gibt es bedarfsgerechtes Speisenangebot fu¨r Bewohner mit Demenz?
1,0
43
Bewertungsergebnis fu¨r den Qualita¨tsbereich
2,5
2,6
192
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
Tabelle 9.4: Ergebnisdarstellung der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen: Zuordnung der Noten zu den Skalenwerten. Bezeichnung der Note
Skalenwert
Sehr gut (1–1,4) Gut (1,5–2,4) Befriedigend (2,5–3,4) Ausreichend (3,5–4,4) Mangelhaft (4,5–5,0)
8,7–10 7,3–<8,7 5,9–<7,3 4,5–<5,9 0–<4,5
Mit der Entscheidung fu¨r das Notensystem wird auf eine fu¨r den Nutzer bekannte Systematik zuru¨ckgegriffen, die ha¨ufig auch anderen Test- und Bewertungsverfahren zugrunde liegt. Die Bewertung erfolgt fu¨r jedes einzelne Kriterium. Als Hilfsmittel wird eine Skala von 0 bis 10 herangezogen. Dabei wird unterschieden nach Kriterien, die nur eine dichotome Bewertung zulassen und solchen, bei denen eine Bewertungsgraduierung mo¨glich ist [Schma¨ing 2009]. Die Skalenwerte werden anhand einer Umrechnungstabelle in Noten u¨berfu¨hrt (siehe Tab. 9.4). Auf einer dritten Darstellungsseite kann die Pflegeeinrichtung nach einem einheitlichen Schema eigene Angaben zu Strukturdaten oder zu vertraglich vereinbarten Angeboten vero¨ffentlichen (Tab. 9.5). Kontrovers diskutiert wurden in der ¤ffentlichkeit insbesondere folgende Inhalte der Pflege-Transparenzvereinbarungen: Durch die Darstellung einer Gesamtnote wird befu¨rchtet, dass dieser Gesamtnote eine zu große Bedeutung beigemessen werden ko¨nnte und dies zu einer Nivellierung unterschiedlicher Noten bei den einzelnen Transparenzkriterien fu¨hrt. Beispielsweise ko¨nnten schlechte Noten im pflegerischen Bereich durch gute Strukturbewertungen teilweise kompensiert werden. Daher wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass in der ersten Ebene neben der Gesamtnote auch die einzelnen Bereichsnoten und die Note der Bewohnerzufriedenheit dargestellt werden. Erheblichen Diskussionsbedarf hat auch die Zuordnung der sich ergebenden Skalenwerte zu den Noten ausgelo¨st (Tab. 9.4). Vielfach wurde die Befu¨rchtung gea¨ußert, dass die auf diese Weise ermittelten Noten zu einer zu guten Darstellung der Situation in den Pflegeeinrichtungen fu¨hren werden. Dies kommt u. a. dadurch zum Ausdruck, dass ein Skalenwert von 4,5 noch der Note „ausreichend“ zugeordnet wird. Ein weiterer Kritikpunkt besteht in der Vorgabe, dass die Pflegebedu¨rftigen nach dem Zufallsprinzip fu¨r die Stichprobe auszuwa¨hlen sind. Dadurch ist nicht immer gewa¨hrleistet, dass Personen mit pflegerischen Problemkonstellationen wie Dekubitus oder Sondenerna¨hrung in die Stichprobe eingehen und daher der Umgang einer Pflegeeinrichtung mit solchen Problemen nicht ausreichend gepru¨ft und dargestellt werden kann. Bei der Entwicklung des Transparenzkonzepts flossen Anregungen und Vorerfahrungen aus verschiedenen La¨ndern ein. In Australien werden z. B. Pru¨fergebnisse der zusta¨ndigen Akkreditierungsagentur schon seit mehreren Jahren im Internet vero¨ffentlicht. Eine wichtige Anregung fu¨r das deutsche Transparenzkonzept war, dass bereits auf der ersten Seite des vero¨ffentlichten Berichtes ein Gesamtergebnis dargestellt wird. So erha¨lt der Verbraucher auf den ersten Blick eine Einscha¨tzung und kann sich bei Bedarf daru¨ber hinaus u¨ber Detailergebnisse informieren. Allerdings zeigt sich, dass
9.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen
| 193
Tabelle 9.5: Darstellung von Eigenangaben der Pflegeeinrichtung zu Leistungsangeboten und Strukturdaten (3. Darstellungsebene). Ansprechpartner: Besonderheiten
Leistungsangebot __ Einzelzimmer, davon mit __ mit eigener / m Dusche / WC / Waschbecken __ mit eigenem WC / Waschbecken __ Doppelzimmer, davon mit __ mit eigener / m Dusche / WC / Waschbecken __ mit eigenem WC/Waschbecken & Eigene Mo¨bel ko¨nnen mitgebracht werden & Haustiere ko¨nnen mitgebracht werden:
Pflegerische Schwerpunkte & ____________________ & ____________________ & ____________________ Kooperationen mit medizinischen Einrichtungen & niedergelassene ¥rzte: ______________ & Krankenha¨user: ____________________ & __________________________________
Preise (durchschnittlicher Gesamtpreis/Monat)
Mitarbeiterinnen & Mitarbeiter
Pflegestufe 0: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 1: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 2: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 3: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Ha¨rtefall: ____, davon Anteil Pflegekasse ______
Gesamtmitarbeiteranzahl in Vollzeitstellen: __________ Fachkra¨fteanteil in Pflege und Betreuung: __________ Weitere Fachkra¨fte mit Zusatzqualifikationen (Art & Anzahl): & __________________________________ & __________________________________ & __________________________________ Auszubildende (alle Berufe): _____________________________________
Pru¨ftiefe und Pru¨fbreite bei den australischen Pru¨fungen deutlich geringer ausfallen als beim deutschen System. Die Pru¨fungen dort konzentrieren sich im Wesentlichen auf Zufriedenheitsbefragungen der Pflegebedu¨rftigen. So erkla¨rt es sich, dass die Mehrzahl der gepru¨ften Pflegeeinrichtungen in Australien sehr gute Ergebnisse ausweisen. Ein weiterer Grund fu¨r die u¨berwiegend guten bis sehr guten Ergebnisse mag darin liegen, dass die Pru¨fkriterien maßgeblich von den Tra¨gern der Pflegeeinrichtungen festgelegt wurden. In den USA werden seit langem die Ergebnisse von Pflegeheimvergleichen vero¨ffentlicht. Es wird die Qualita¨t einer stationa¨ren Pflegeeinrichtung in Relation zu den anderen Heimen desselben Bundesstaates und zu den gesamten USA dargestellt. Der Nutzer kann dadurch erkennen, ob eine Pflegeeinrichtung u¨ber oder unter dem Durchschnitt liegt. Diese Anregung wurde im deutschen Transparenzkonzept mit auf-
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
genommen. In Großbritannien werden ebenfalls die Pru¨fergebnisse vero¨ffentlicht und in Form einer Vierergraduierung dargestellt. Dieses Vorgehen ermo¨glicht eine Darstellung der Pflegequalita¨t im Sinne eines Sterne- oder Ampelsystems. Diese Darstellungsweise wurde auch fu¨r das deutsche Transparenzkonzept erwogen, jedoch nach eingehender Diskussion zu Gunsten eines Notensystems wieder verworfen. Neben dem Studium ausla¨ndischer Qualita¨tsdarstellungen wurden im Vorfeld auch inla¨ndische Qualita¨tsberichtsysteme einer Analyse hinsichtlich u¨bertragbarer Elmente unterzogen. So existiert im deutschen Krankenhausbereich ein Verfahren, das die Krankenha¨user verpflichtet, strukturierte Qualita¨tsberichte zu vero¨ffentlichen. Die Berichte werden von den Krankenha¨usern selbst erstellt, finden allerdings bei Patienten wenig Akzeptanz, da die Darstellung zu wenig laienversta¨ndlich ist. Auch in stationa¨ren Rehabilitationseinrichtungen erfolgt nach dem so genannten „QS-Reha-Verfahren“ eine Qualita¨tsdarstellung. Anders als bei den MDK-Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen werden hier die Ergebnisse u¨berwiegend aus schriftlichen Befragungen und Selbstausku¨nften der Rehabilitationseinrichtungen erhoben [Bru¨ggemann 2008]. In das deutsche Transparenzkonzept flossen somit Erfahrungen und Anregungen aus verschiedenen verwandten Bereichen und La¨ndern ein. Es ist als ein erster Schritt einer laienversta¨ndlichen Darstellung von Qualita¨tspru¨fergebnissen von ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen zu verstehen, die dem Verbraucher eine vergleichende Information ermo¨glicht und zugleich einen Qualita¨tswettbewerb zwischen Pflegeeinrichtungen einer Region in Gang setzen du¨rfte. Auch wenn das Pru¨finstrumentarium des MDK, insbesondere die Qualita¨tspru¨fungsRichtlinien (QPR) gute Anhaltspunkte fu¨r die Ergebnisqualita¨t liefert, fehlt es bisher an pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen u¨ber valide Indikatoren der Ergebnisund Lebensqualita¨t der pflegerischen Versorgung in Deutschland. Diese Qualita¨tsindikatoren, an denen im Rahmen eines Projekts auf Bundesebene gearbeitet wird, werden bis Ende 2010 zur Verfu¨gung stehen. Es bedarf einer Anpassung des Transparenzkonzepts, sobald pflegewissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse u¨ber Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualita¨t vorliegen.
9.5 Qualita¨tsindikatoren in der ambulanten und stationa¨ren Pflege Eckart Schnabel
9.5.1 Einfu¨hrung Seit der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung steht das Thema „Qualita¨tssicherung“ auf der Agenda der verschiedenen Akteure im Pflegesektor. Viele Tra¨ger, Dienste und Einrichtungen haben sich seit Mitte der 90er Jahre mit vielfa¨ltigen Aktivita¨ten und Initiativen dieses Themas angenommen und ihre Qualita¨tsentwicklung vorangetrieben. Angesichts der Vielfalt an Vorstellungen, Konzepten und Modellen ist es jedoch nicht gelungen, einen einheitlichen und verbindlichen Qualita¨tsbegriff zu schaffen, der die unterschiedlichen Akteursperspektiven zu einem Konsens zusammen fu¨hrt. Angesichts dieses Umstands erstaunt es auch nicht, dass der Fokus der praktischen Aktivita¨ten nach wie vor bei der Struktur- und Prozessqualita¨t liegt, also bei den Rahmenbedingungen der Erbringung von Leistungen als auch im Hinblick auf die fachlichen Grundlagen der Durchfu¨hrung. Die Ergebnisqualita¨t hingegen ist, auch wenn sie in
9.5 Qualita¨tsindikatoren in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
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der fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit deutlich an Bedeutung gewonnen hat, in der praktischen Arbeit ha¨ufig vernachla¨ssigt. Hier besteht auch keine ¢bereinkunft dahingehend, welche Wertigkeit die verschiedenen Dimensionen eines potenziellen Ergebnisses haben sollen. Besonders deutlich wird dies in der Diskussion um die Lebensqualita¨t, die in vielen Konzepten mehr Lippenbekenntnis als ein fachlich fundiertes, in ihren Dimensionen operationalisiertes und in der allta¨glichen Arbeit implementiertes Konstrukt darstellt. Mangelt es schon bei den Ergebnissen pflegerischer Interventionen ha¨ufig an geeigneten Nachweisen und verla¨sslichen Indikatoren, so gilt dies umso mehr fu¨r die Lebensqualita¨t, vor allem in der Bewertung aus der Perspektive der Pflegebedu¨rftigen. Zwar wurde vielerorts versucht, diese Perspektive u¨ber Zufriedenheitsbefragungen sta¨rker zu beru¨cksichtigen, die offensichtlich zu Tage getretenen großen Unterschiede zwischen fachlicher Kritik einerseits und u¨berwiegend hohen Zufriedenheitswerten andererseits offenbaren jedoch mehr die methodischen Unzula¨nglichkeiten der Erhebungen, als dass sie wirkliche Hinweise u¨ber die Wu¨nsche, Vorstellungen und Bedu¨rfnisse pflegebedu¨rftiger Menschen oder zu Ergebnissen von Interventionen zu generieren vermo¨gen. Die Entwicklung transparenter, wissenschaftlich fundierter und verla¨sslicher Qualita¨tsindikatoren in der Pflege erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Notwendigkeit, der in der Vergangenheit in Deutschland, verglichen mit internationalen Entwicklungen, zu wenig Bedeutung beigemessen wurde.
9.5.2 Reform der Pflegeversicherung Mit der Reform des Pflege-Versicherungsgesetzes ru¨ckt die Ergebnisqualita¨t und damit auch die Perspektive von Nutzern / innen deutlicher in den Fokus der Qualita¨tsdiskussion. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, das zum 1. 7. 2008 in Kraft getreten ist, zeigt, dass neben der Pflege- auch die Lebensqualita¨t der Betroffenen sta¨rker in den Blick genommen wird. In diesem Zusammenhang erweist es sich als notwendig, praxisrelevante und nachvollziehbare Kriterien der Ergebnisqualita¨t zu entwickeln und fu¨r die Pru¨fpraxis aufzubereiten, um etwa, wie laut Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vorgesehen, in der Zukunft Qualita¨tsberichte von Pru¨finstanzen u¨ber die Leistungen von vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen o¨ffentlich bereit zu stellen. Dabei sollen diese Berichte fu¨r die Verbraucher / innen bzw. Nutzer / innen von Leistungen vor allem dazu dienen, vorhandene Einrichtungen vergleichen zu ko¨nnen und damit verla¨ssliche Entscheidungshilfen zur Verfu¨gung zu haben. Dass das Gesetz die Dimension der Lebensqualita¨t und Kriterien der Ergebnisqualita¨t in den Fokus der Qualita¨tsberichterstattung ru¨ckt, ist auch im Sinne der Nutzer / innen und Nutzer sowie der Leistungserbringer. Vor diesem Hintergrund besteht dringender Handlungsbedarf, denn weder gibt es einen wissenschaftlich gesicherten Konsens zu Indikatoren der Ergebnisqualita¨t in der Pflege, noch liegen wissenschaftlich fundierte wie konsentierte Kriterien fu¨r die Pflegeund Lebensqualita¨t von Bewohner / innen in Pflegeheimen vor. Des Weiteren ist das Thema Risikoadjustierung, um einen angemessenen Leistungsvergleich zwischen den Heimen zu ermo¨glichen, in der Entwicklung von Qualita¨tsindikatoren fu¨r die Messung von Ergebnisqualita¨t in der stationa¨ren Langzeitpflege von hoher Bedeutung. Die notwendige Entwicklung entsprechender Kriterien und Indikatoren erscheint auch geeignet, die Pru¨fpraxis der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sta¨rker pflegewissenschaftlich zu fundieren.
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
Die zum 01. 01. 2009 in Kraft getretene Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI u¨ber die Kriterien der Vero¨ffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualita¨tspru¨fungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Pru¨fergebnisse in der stationa¨ren Pflege wird diesem wissenschaftlichen Anspruch leider nicht gerecht. Gleiches gilt fu¨r die Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant, die zum 01. 02. 2009 in Kraft trat. Zwar finden sich in diesen Vereinbarungen Ansatzpunkte, die grundsa¨tzlich qualitative Aussagen u¨ber die Pflege in Einrichtungen ermo¨glichen, Herleitung der Kriterien, wissenschaftliche Pru¨fung, Gewichtung der einzelnen Variablen als auch Hinweise zur Risikoadjustierung finden sich hier jedoch nicht. Die Bewertungskriterien stellen vielmehr eine Zusammenstellung aus bekannten Kriterien aus der MDK-Pru¨fanleitung, der „Liste der Kriterien fu¨r Lebensqualita¨t“ der Bundesinteressenvertretung der Nutzerinnen und Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter und bei Behinderung e. V. (BIVA) sowie als ,neu‘ bezeichneten Kriterien dar, deren Herkunft jedoch nicht weiter erla¨utert wird. Die genannte Vereinbarung ist in dem Wissen getroffen worden, dass es derzeit keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse u¨ber valide Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualita¨t der pflegerischen Versorgung in Deutschland gibt. Diese Vereinbarung ist deshalb als vorla¨ufig zu betrachten und dient der vom Gesetzgeber gewollten schnellen Verbesserung der Transparenz fu¨r die Verbraucher u¨ber die Pflege, soziale Betreuung und Versorgung in Pflegeheimen. Unter den Vertragsparteien besteht Einvernehmen, diese Vereinbarung anzupassen, sobald pflegewissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse u¨ber Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualita¨t vorliegen. Die vorgenannten Ausfu¨hrungen verdeutlichen, welche Herausforderungen sich fu¨r die weitere Qualita¨tsentwicklung in der Pflege ergeben: die Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Indikatoren, die sich gleichermaßen fu¨r die interne Qualita¨tsentwicklung eignen als auch die externe Qualita¨tssicherung auf eine solide Basis stellen. Letzteres erscheint umso wichtiger, als mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz die Anforderungen an den Nachweis von Ergebnis- und Lebensqualita¨t sowie der Transparenz fu¨r Nutzer und ihre Angeho¨rige ein ho¨herer Stellenwert als bisher zugemessen werden.
9.5.3 Entwicklung von Indikatoren Die Qualita¨tsdiskussion in der Pflege orientiert sich in Deutschland seit langem an der bekannten Unterscheidung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualita¨t nach Avedis Donabedian. Der Fokus vieler Qualita¨tsinitiativen liegt dabei ha¨ufig vor allem auf der Struktur- und Prozessqualita¨t. Dies steht zum einen in Zusammenhang mit der Professionalisierung in der Pflege, die insbesondere in den 90er Jahren den Fokus auf Qualifikationserfordernisse beim Pflegepersonal fokussierte und als Praxiswissenschaft vor allem auf die Qualita¨tssteigerung pflegerischer Prozesse zielte. Zum anderen vollzieht sich der fu¨r eine sta¨rkere Ergebnisorientierung notwendige Perspektivwechsel zu einer nutzerorientierten und den Nutzer mit einbeziehenden sich in Deutschland nur langsam, vor allem was die Beru¨cksichtigung von Aspekten der Lebensqualita¨t angeht. Hier besteht deutlicher Nachholbedarf und die Notwendigkeit, Aspekte der Lebensqualita¨t zu beru¨cksichtigen, zeigt sich nicht zuletzt an der bereits 2005 vom „Runden Tisch Pflege“ erarbeiteten Charta der Rechte hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen, in der jene Aspekte betont werden, die in der empirischen Lebensqualita¨tsforschung
9.5 Qualita¨tsindikatoren in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
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eine bedeutende Rolle spielen wie etwa Autonomie, Wu¨rde, Privatheit, Sicherheit [BMfSFJ / BMG 2006]. Die Indikatorenentwicklung muss sich also inhaltlich auf zwei Bereiche beziehen. Zum einen muss der Fokus auf zentrale Versorgungsbereiche und -probleme gerichtet werden, um eine Qualita¨tseinscha¨tzung der pflegerischen Versorgung zu ermo¨glichen. Diese so genannten ,klinischen‘ Qualita¨tsindikatoren beziehen sich vorrangig auf den funktionalen Status, d. h. die Performanz im Bereich der Alltagsverrichtungen, der Mobilita¨t und im kognitiven Status. Hautstatus (z. B. Dekubitus), Kontinenz, Stu¨rze oder Schmerzstatus bei den Bewohnerinnen und Bewohnern bilden ebenfalls relevante Bereiche fu¨r Indikatoren ab. Psychosoziale oder Verhaltensdimensionen (wie z. B. Depression) sind ebenfalls zu beru¨cksichtigen. Diese Indikatoren ko¨nnen in der Regel u¨ber standardsierte Assessment-Instrumente erhoben werden. Dies bietet den Vorteil, dass die Einscha¨tzungen hinsichtlich der Qualita¨t der Versorgung mit der individuellen Pflegeprozessplanung verknu¨pft werden und regelma¨ßig aktualisiert werden ko¨nnen. In der Pflegepraxis hat sich in diesem Zusammenhang ha¨ufig gezeigt, dass Pflegedokumentation und Pflegeprozess auf der einen und die Qualita¨tsaktivita¨ten auf der anderen Seite parallel verlaufen, ohne die jeweiligen Befunde und Ergebnisse aufeinander zu beziehen und fu¨r die Qualita¨tsentwicklung der Dienste und Einrichtungen nutzbar zu machen. Qualita¨tsentwicklung der Gesamtorganisation und nutzerbezogene Befunde werden damit voneinander abgekoppelt. In der Konsequenz ergeben sich Transparenzdefizite, da eine Einscha¨tzung der tatsa¨chlichen bewohnerbezogenen Prozesse nicht oder nur unzureichend in die Gesamtbeurteilung mit einfließt. Neben den klinischen Qualita¨tsindikatoren ist die Erfassung der Lebensqualita¨t unerla¨sslicher Bestandteil eines umfassenden Indikatoren-Sets. Der Begriff ,Lebensqualita¨t‘ bezeichnet dabei ein mehrdimensionales Konstrukt, das sowohl die objektiven Lebensbedingungen und die Lebenslage als auch die wahrgenommene Lebensqualita¨t, ha¨ufig auch bezeichnet als subjektives Wohlbefinden, umfasst. Die Erfassung des Wohlbefindens erweist sich insbesondere bei pflegebedu¨rftigen Menschen aus folgenden Gru¨nden als zentrale Kategorie. Zum einen sind die Mo¨glichkeiten der Gestaltung und Beeinflussung der objektiven Lebensbedingungen aufgrund des Settings aber auch wegen vorhandener Einbußen als gering einzustufen. Die ,Zufriedenheit‘ als eine in Qualita¨tsinitiativen ha¨ufig erhobene kognitive Kategorie der Lebensqualita¨t ermo¨glicht zudem aufgrund einer Vielfalt methodischer Probleme wenig Einblicke in die tatsa¨chliche Lebensqualita¨t. Sto¨reinflu¨sse wie soziale Erwu¨nschtheit oder Anspruchsminderung, das Zufriedenheitsparadox als auch die Asymmetrie zwischen sogenannten ,unvoiced complaints‘ und dem tatsa¨chlichen Befinden [Staudinger 2000]. In der Vergangenheit haben die hohen Zufriedenheitswerte vieler Nutzerbefragungen diese Unzula¨nglichkeiten illustriert [Wingenfeld 2003b]. Mit dem Fokus auf das individuelle Wohlbefinden geraten hingegen Aspekte der Lebensqualita¨t, die sich nur selten in Qualita¨tsprogrammen wieder finden. Zu nennen sind hier beispielsweise Aspekte wie Autonomie, Wu¨rde, Privatheit, Individualita¨t, Sicherheit, Komfort, Beziehungen, bedeutsame Aktivita¨ten, Vergnu¨gen und Spiritualita¨t, die als zuverla¨ssige Indikatoren aus Sicht von Pflegebedu¨rftigen zu bewerten sind [Kane et al. 2003]. An die zuku¨nftige Entwicklung von Indikatoren werden eine Reihe von Anforderungen gestellt, um eine wissenschaftliche Fundierung zu gewa¨hrleisten, Transparenz
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9 Pru¨fung der Qualita¨t in der ambulanten und stationa¨ren Pflege
und Vergleich zu ermo¨glichen und den Pflegebedu¨rftigen eine angemessene Versorgung und Betreuung zukommen zu lassen. 1. Auch im Bereich der Pflege setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung von Qualita¨tskriterien und -indikatoren evidenzbasiert erfolgen muss, d. h. sich am bestverfu¨gbaren Wissen orientieren muss: Evidenzbasierung ist der „gewissenhafte, ausdru¨ckliche und vernu¨nftige Gebrauch der gegenwa¨rtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz fu¨r Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“ [DNEbM 2008]. Die damit verbundenen Fragen und Grundsa¨tze sind auch fu¨r die pflegerische Versorgung relevant. Auch hier geht es um die Frage, welcher nachweisbare Nutzen mit unterschiedlichen Interventionen verbunden ist und woran er gemessen werden soll. 2. Die Indikatorenentwicklung sollte nach Mo¨glichkeit interdisziplina¨r erfolgen. Neben der Pflegewissenschaft sollten hier auch die Gerontologie, die Medizin und Sozialarbeit mit einbezogen werden, um nicht nur ausgewa¨hlte Bereiche der Lebenswelt der Pflegebedu¨rftigen zu fokussieren, sondern diese mo¨glichst umfassend abzubilden. 3. Im Hinblick auf die Verbesserung der pflegerischen Versorgung muss die Indikatorentwicklung mit der dienste- und einrichtungsbezogenen Organisationsentwicklung verknu¨pft werden. Hinweise u¨ber die angesprochenen Dimensionen der Pflege- und Lebensqualita¨t erscheinen dabei geeignet, Reorganisationsprozesse nicht anhand ha¨ufig formaler Qualita¨tsmanagementtools, sondern unter Beru¨cksichtigung der Bewohner- und Mitarbeiterperspektive zu initiieren. 4. Die Indikatoren mu¨ssen wissenschaftlichen Gu¨tekriterien entsprechen: Objektivita¨t, Reliabilita¨t und Valididita¨t. Die Reliabilita¨t („Zuverla¨ssigkeit“) kennzeichnet den Grad der Genauigkeit, mit dem das gepru¨fte Merkmal gemessen wird. Zur Pru¨fung bieten sich verschiedene statistische Verfahren an: neben der Berechnung der internen Konsistenz (Cronbachs Alpha) ist insbesondere die Retest-Reliabilita¨t von Bedeutung. Sie gibt an, inwieweit die Ergebnisse, die zu zwei Zeitpunkten bei einer Person erhoben wurden, miteinander korrelieren. Die Validita¨t eines Verfahrens gibt Aufschluss daru¨ber, wie gut das Instrument das misst, was es zu messen vorgibt („Gu¨ltigkeit“). Hier sind vor allem die Inhalts- und ¢bereinstimmungsvalidita¨t von Bedeutung, die Aussagen u¨ber die Qualita¨t des Instruments und die Frage, ob alle relevanten Dimensionen der Ergebnisqualita¨t erfasst werden, zulassen. Fu¨r die Pru¨fung der ¢bereinstimmungsvalidita¨t werden andere bereits etablierte Verfahren eingesetzt, die a¨hnliche, aber nicht identische Merkmale messen. 5. Von besonderer Bedeutung vor allem im Hinblick auf den geplanten Vergleich von Diensten und Einrichtungen ist die Risikoadjustierung (auch Risikobereinigung) von Indikatoren. Sie ist unabdinbar, sollen Daten und Informationen verschiedener Institutionen im Qualita¨tsprozess miteinander verglichen werden. Unter einer Risikoadjustierung ist der Ausschluss der Faktoren zu verstehen, die nicht von der Leistung der Einrichtungen abha¨ngen, aber dennoch das Maß des Indikators beeinflussen (z. B. Alter, Vorerkrankungen, Profil der Pflegebedu¨rftigkeit). Durch die „Neutralisierung“ im Sinne einer Risikoadjustierung soll vermieden werden, dass z. B. Einrichtungen mit einer weit u¨berwiegenden Mehrheit von Bewohnern/innen mit einem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf bzw. Auffa¨lligkeiten (wie z. B. einen besonders hohen Anteil an Menschen mit schweren demenziellen Erkrankun-
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gen) in der Bewertung der Ergebnisqualita¨t schlechter abschneiden als diejenigen mit einer Bewohnerstruktur mit weniger Pflege- und Betreuungsbedarf. 6. Eine besondere Anforderung besteht darin, Transparenz, Versta¨ndlichkeit und Handhabbarkeit der Indikatoren und eines zu entwickelnden Instrumentes zu gewa¨hrleisten. Dies gilt nicht nur fu¨r die Anwendbarkeit durch die Dienste und Einrichtungen, sondern ist insbesondere fu¨r die Pflegebedu¨rftigen und ihre Angeho¨rigen von großer Bedeutung, um sie auf der Suche nach geeigneten Angeboten bestmo¨glich zu unterstu¨tzen und ihnen verla¨ssliche Informationen an die Hand zu geben.
9.5.4 Ausblick Die Diskussion um empirisch fundierte und verla¨ssliche Qualita¨tsindikatoren hat Deutschland etwa im Vergleich zu den USA sehr spa¨t erreicht und wird nach wie vor, betrachtet man den Fokus der wichtigsten Qualita¨tsinitiativen, nachrangig behandelt. Sie stellen jedoch einen bedeutenden Ansatz dar, um Qualita¨t nutzerbezogen zu messen und fu¨r die Qualita¨tsentwicklung von Diensten und Einrichtungen nutzbar zu machen. Sie allein garantieren noch keine Qualita¨t, sondern sind in einem u¨bergreifenden Kontext von Effektivita¨t und Effizienz von Leistungen in der Pflege anzusiedeln. Hilfreich ko¨nnen dabei auch Parameter wie etwa das im Rahmen der WHO-Beurteilungen der Performanz von Gesundheitssystemen beru¨cksichtigte Kriterium der Responsivita¨t sein. Die Responsivita¨t eines Versorgungssystems wird daran gemessen, inwieweit zentrale Aspekte der Lebensqualita¨t wie etwa Respekt, Vertrauen und Sicherheit in der Versorgung von Patienten oder Pflegebedu¨rftigen Beru¨cksichtigung finden. Darin spiegelt sich ein Ansatz, der die Qualita¨t und deren Beurteilung in der Interaktion zwischen Pflegebedu¨rftigen und Leistungserbringern ansiedelt und Auskunft daru¨ber gibt, wie „ansprechempfindlich“ die Versorgung im Hinblick auf die Umsetzung genannter Kriterien ist. Eine sta¨rkere Orientierung an solchen Kriterien im Sinne eines ,Culture Change‘ erschien geeignet, die Situation pflegebedu¨rftiger Menschen in Deutschland nachhaltig zu verbessern.
10 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
10.1 Beratung der Pflegekassen Friedrich Schwegler Neben den Pflegebegutachtungen nach § 18 SGB XI und den Qualita¨tspru¨fungen nach § 114 SGB XI ist die Beratung des GKV-Spitzenverbandes als Spitzenverband Bund der Pflegekassen, der Landesverba¨nde der Pflegekassen sowie einzelner Pflegekassen das dritte Hauptaufgabengebiet der Medizinischen Dienste. Fu¨r die Beratung des GKV-Spitzenverbandes ist der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) in Zusammenarbeit mit der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) zusta¨ndig. Diese setzt sich aus Mitgliedern der der Medizinischen Dienste der La¨nder (MDK) und dem MDS zusammen. Auf dieser Ebene sind die Beratungen in Grundsatzfragen angesiedelt, die in Kapitel 10.1.1 na¨her dargestellt werden. Die Beratung der einzelnen Landesverba¨nde der Pflegekassen erfolgt durch den jeweiligen MDK im Bundesland. In diesen Bereich fallen vor allem die Beratungen zur Planung und Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur sowie die Beratung im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur. Dies wird in den Kapiteln 10.1.2 und 10.1.3 dargestellt. Die Beratung der Pflegeeinrichtungen durch den MDK im Rahmen des § 112 SGB XI wird in Kapitel 10.2 dargestellt.
10.1.1 Beratung der Pflegekassen in Grundsatzfragen Im Bereich der Einzelfallbegutachtung nach § 18 SGB XI haben seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung am 01. 01. 1995 medizinische Arbeitsgruppen aus Mitgliedern der MDK und des MDS (sogenannte M-Gruppen) als Beratungsauftrag der bis 30. 06. 2008 fungierenden Spitzenverba¨nde der Pflegekassen „Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ erarbeitet. Diese Begutachtungs-Richtlinien (BRi) sind als „Ausfu¨hrungsbestimmungen“ des Gesetzestextes anzusehen. Nach Billigung der jeweiligen Fassung der „Richtlinien“ durch die Spitzenverba¨nde der Pflegekassen und das Bundesministerium fu¨r Gesundheit erhalten sie Richtliniencharakter und dienen als Arbeitsanleitung fu¨r die Mitarbeiter der Medizinischen Dienste zur Durchfu¨hrung der Einzelfallbegutachtung und sichern die Einheitlichkeit dieser Begutachtungen in Deutschland. Die Begutachtungs-Richtlinien wurden den gesetzlichen Vorgaben folgend regelma¨ßig aktualisiert und weiterentwickelt. Seit dem Januar 2004 wird diese Aufgabe von der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) wahrgenommen. Die Etablierung der SEG 2 erfolgte auf Beschluss der Konferenz der Gescha¨ftsfu¨hrer der Medizinischen Dienste im Oktober 2003. Sie diente einer Straffung der Beratungsta¨tigkeit
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10 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
der MDK durch eine hauptberufliche Leitung (Freistellung des Leiters der SEG fu¨r diese Aufgabe) und durch Festlegung fester Zeitkontingente fu¨r die Mitarbeiter der SEG 2. Die vorletzte ¢berarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien erfolgte im August 2006. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes wurden im Jahr 2008 die Begutachtungs-Richtlinien zur Umsetzung der neuen gesetzlichen Bestimmungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) u¨berarbeitet. Hierbei ging es vor allem um die neuen Regelungen zur Beurteilung der Leistungen fu¨r Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz (siehe hierzu Kapitel 5.7) und der versta¨rkten Beachtung von Rehabilitationsmo¨glichkeiten von Pflegebedu¨rftigen (siehe hierzu Kapitel 6). Neben diesen beiden Hauptpunkten erfolgten in kleinerem Umfang Klarstellungen von einzelnen Richtlinienpunkten. Die Gesamtu¨berarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien wurde im Dezember 2008 durch die SEG 2 abgeschlossen. Nach Genehmigung durch den seit 01. 07. 2008 fungierenden GKV-Spitzenverband als Spitzenverband Bund der Pflegekassen und das BMG traten die Begutachtungs-Richtlinien in der Fassung vom 08. 06. 2009 zum 13. 07. 2009 in Kraft [BRi 2009]. Als Teil der „Richtlinien der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ und ebenfalls als Beratungsauftrag der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen wurde eine Pru¨fanleitung erarbeitet zur Durchfu¨hrung einer umfassenden MDK-internen und MDK-u¨bergreifenden Qualita¨tspru¨fung der Einzelfallgutachten (siehe hierzu Kapitel 5.11). Seit dem 01. 01. 2005 regelt eine eigensta¨ndige „Richtlinie der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung fu¨r den Bereich der sozialen Pflegeversicherung“ diesen Bereich. Die auf Grundlage dieser Richtlinie fortentwickelte Pru¨fanleitung wird kontinuierlich weiterentwickelt und an die Begutachtungspraxis angepasst. Eine gewichtige Rolle im Rahmen der Beratung der Spitzenverba¨nde der Pflegekassen spielte die Weiterentwicklung des im SGB XI definierten Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs. Es hatte sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass dieser Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff zu somatisch gepra¨gt war und die Folgen der zunehmenden Demenzerkrankungen bei den Begutachtungen nicht ausreichend erfasst werden konnten. Es wurde deshalb bereits 2000 eine MDK-Arbeitsgruppe und spa¨ter ein Projektteam der SEG 2 eingesetzt zur Erarbeitung eines neuen Pflegbedu¨rftigkeitsbegriffes. Fußend auf diesen Vorarbeiten wurde ein neuer Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff erarbeitet und inzwischen erprobt (zu den Einzelheiten siehe Kapitel 7). Auch im Bereich der Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen nach §§ 112 / 114 SGB XI wurden von MDK-Arbeitsgruppen und Projektteams der SEG 2 Pru¨fanleitungen zur Durchfu¨hrung dieser Pru¨fungen nach Beauftragung durch die Spitzenverba¨nde der Pflegekassen erarbeitet. Auch diese Pru¨fanleitungen sind als „Ausfu¨hrungsbestimmungen“ fu¨r die praktische Arbeit der MDK anzusehen. Sie wurden kontinuierlich den gesetzlichen Anforderungen angepasst. Seit dem 01. 01. 2005 sind die Qualita¨tspru¨fungsRichtlinien (QPR) mit den Erhebungsbogen ambulant und stationa¨r gu¨ltig. Sie haben nach Genehmigung durch das Bundesministerium fu¨r Gesundheit verbindlichen Richtliniencharakter. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 01. 07. 2008 wurden im Bereich der Qualita¨tspru¨fungen nach § 114 SGB XI vom Gesetzgeber die Kostentra¨ger (Pflegekassen) und die Spitzenverba¨nde der Anbieter von Pflegeleistungen ver-
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pflichtet, Vereinbarungen fu¨r die Qualita¨tssicherung der Pflege in Deutschland auszuhandeln. Hierzu geho¨ren: ¢ Vereinbarungen u¨ber Maßsta¨be und Grundsa¨tze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t (§ 113 SGB XI) ¢ Erarbeitung von Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualita¨t in der Pflege (§ 113a SGB XI) ¢ Vereinbarung u¨ber die Vero¨ffentlichung von Ergebnissen der Qualita¨tspru¨fungen (§ 115 SGB XI) Die Verhandlungen u¨ber die drei genannten Rahmenvereinbarungen fu¨r die Qualita¨tssicherung der Pflege werden auf Seiten der Pflegekassen vom GKV-Spitzenverband und auf Seiten der Leistungsanbieter von Vertretern der Spitzenverba¨nde der freien Wohlfahrtsverba¨nde, der privaten Leistungsanbieterverba¨nden, Vertretern der kommunalen Spitzenverba¨nden und der Bundesarbeitsgemeinschaft der u¨bero¨rtlichen Sozialhilfetra¨ger gefu¨hrt. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) nimmt beratend an diesen Verhandlungen teil. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches war die Vereinbarung u¨ber die Vero¨ffentlichung von Ergebnissen der Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen abgeschlossen (zu den Einzelheiten siehe Kapitel 9.5). Verhandlungen u¨ber Vereinbarungen von Maßsta¨ben und Grundsa¨tzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t waren noch nicht aufgenommen worden, die Erarbeitung von weiteren Expertenstandards war noch nicht eingeleitet worden. Nach Beauftragung durch den GKV-Spitzenverband als Spitzenverband Bund der Pflegekassen sind von der SEG 2 Vorschla¨ge zur Weiterentwicklung der Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien mit den Erhebungsbogen ambulant und stationa¨r zu erarbeiten, damit die Umsetzung der Vereinbarung u¨ber die Vero¨ffentlichung von Ergebnissen der Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen in die Praxis erfolgen kann. Auf der Grundlage der noch auszuhandelnden Vereinbarungen u¨ber Maßsta¨be und Grundsa¨tze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t (§ 113 SGB XI) werden dann von der SEG 2 ebenfalls Vorschla¨ge zur Neuformulierung der Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien mit ihren beiden Anlagen ambulant und stationa¨r erarbeitet werden mu¨ssen. Die Medizinischen Dienste der einzelnen Bundesla¨nder fu¨hren nach § 114 SGB XI die Qualita¨tspru¨fungen in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen in ihrem Zusta¨ndigkeitsbereich durch. Die Ergebnisse dieser Qualita¨tspru¨fungen werden nach § 114a Abs. 6 SGB XI beim MDS zusammengefu¨hrt, der aus diesen statistischen Angaben einen Bericht fu¨r die Pflegekassen, das BMG und die zusta¨ndigen Landesministerien erstellt. Dieser Bericht ist erstmals zum 30. 06. 2011 zu erstellen und stellt eine Art „Pflegeberichterstattung“ dar, aus der Ru¨ckschlu¨sse auf die Qualita¨t der Pflegeeinrichtungen in Deutschland gezogen werden ko¨nnen und Anhaltspunkte fu¨r gegebenenfalls notwendige strukturelle Vera¨nderungen oder gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich der Pflegeversicherung gewonnen werden ko¨nnen. Zur Sicherung der Qualita¨t in ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen werden von der SEG 2 Grundsatzstellungnahmen zu speziellen Pflegeproblemen erarbeitet. Zur Zeit liegen Grundsatzstellungnahmen zur Dekubitusprophylaxe und Dekubi-
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tusbehandlung, zur Flu¨ssigkeitszufuhr und Erna¨hrung alter Menschen sowie zum Pflegeprozess und seiner Dokumentation vor: ¢ Grundsatzstellungnahme Dekubitusprophylaxe und Therapie. Essen 2001 ¢ Grundsatzstellungnahme Erna¨hrung und Flu¨ssigkeitsversorgung a¨lterer Menschen. Essen 2003 ¢ Grundsatzstellungnahme Pflegeprozess und Dokumentation. Essen 2005
10.1.2 Beratung der Pflegekassen zur Planung und Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur Bis zum Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die Versorgung alter pflegebedu¨rftiger Menschen als Aufgabe der Familie angesehen. Nur in Ausnahmefa¨llen erfolgte die Unterbringung Pflegebedu¨rftiger in Alten- und Pflegeheimen, die entsprechend ihrer Ausnahmefunktion den Charakter von „Verwahranstalten“ hatten [Lohmann 1970]. Bedingt durch die in dieser Zeit einsetzende Modernisierung der deutschen Gesellschaft wurde in zunehmendem Maße die Versorgung Pflegebedu¨rftiger nicht mehr als alleinige Aufgabe der Familie angesehen, sondern als gesamtgesellschaftliche Verpflichtung. Seit Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erfolgte in zunehmenden Umfang die Gru¨ndung von Alten- und Pflegeheimen. Ihr Charakter wandelte sich in den sechziger und siebziger Jahren zu „Pflegebedu¨rftiger Patient wird behandelt“, danach in den achtziger und neunziger Jahren zu „Pflegebedu¨rftiger Bewohner wird aktiviert“ und seit dem Ende der neunziger Jahre zu „Alte Menschen erleben Geborgenheit und Normalita¨t“. Seit der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung am 01. 01. 1995 kam es zu einer deutlichen Umstrukturierung der Pflegesettings in Deutschland. Es kam zur Gru¨ndung zahlreicher ambulanter Pflegedienste, um einen mo¨glichst langen Verbleib der Pflegebedu¨rftigen in ihrer ha¨uslichen Umgebung zu ermo¨glichen und um einen sofortigen Umzug in eine stationa¨re Pflegeeinrichtung bei Eintritt von Pflegebedu¨rftigkeit zu vermeiden. Die ambulanten Pflegesettings wurden unterstu¨tzt durch Entlastungsangebote fu¨r pflegende Angeho¨rige (finanzielle Leistungen der Verhinderungspflege) und Mo¨glichkeiten der Kurzzeitpflege bei befristeter Zunahme des Hilfsbedarfs (akute Erkrankungen) oder unklarer Entwicklung des Hilfebedarfs. Eine weitere Erga¨nzung der ambulanten Pflegesettings erfolgte durch die Etablierung von Tagespflegeeinrichtungen. Seit der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung ist somit in Deutschland ein gut strukturiertes Angebot an ambulanten Pflegediensten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen entstanden. Eine weitere Differenzierung des Betreuungsangebotes und damit der Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur ist aus folgenden Gru¨nden wu¨nschenswert: ¢ Viele Versicherte sehen in der Versorgung in einer stationa¨ren Pflegeeinrichtung eine starke Einschra¨nkung ihrer Selbstbestimmung und suchen deshalb Alternativen in Form von Betreutem Wohnen oder quartiernahen Hausgemeinschaften. Beide Formen der Versorgung bieten ein ho¨heres Maß an Autonomie als stationa¨re Pflegeeinrichtungen, wobei jedoch Hilfe durch Pflegepersonen jederzeit angefordert und in Anspruch genommen werden kann. Fu¨r beide Pflegesettings gibt es die unterschiedlichsten Organisationsmo¨glichkeiten.
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¢ Die zunehmende Anzahl von Pflegebedu¨rftigen mit Demenz erfordert eine weitere Ausdifferenzierung des Betreuungsangebotes, um den speziellen Anforderungen dieser Gruppe gerecht zu werden, sei es in stationa¨ren oder ambulanten Pflegesettings. ¢ Zu nennen ist in diesem Zusammenhang in erster Linie die Betreuung dieser Patientengruppe in ambulanten oder stationa¨ren Hausgemeinschaften in den unterschiedlichsten Organisationsformen. ¢ Weiter zu nennen ist der Neubau von Einrichtungen oder die Anpassung bereits bestehender stationa¨rer Einrichtungen durch Umbauten, die dem gesteigerten Bewegungsdrang eines Teils der demenzkranken Pflegebedu¨rftigen Rechnung tragen (z. B. u¨berdachte Ra¨umlichkeiten mit der Mo¨glichkeit zur uneingeschra¨nkten Mobilita¨t, geschu¨tzte Gartenbereiche) bzw. die gea¨nderten Lebensumsta¨nde eines Teiles der demenzkranken Pflegebedu¨rftigen Rechnung tragen (z. B. die Einrichtung von Wohnku¨chenbereichen, großen Aufenthaltsbereichen, Nachtcafes). ¢ Zu nennen sind weiter die Erprobung und Einfu¨hrung neuer Betreuungsansa¨tze fu¨r demenzkranke Pflegebedu¨rftige durch Eingehen auf die besonderen Essgewohnheiten bzw. die Nahrungsverweigerung eines Teils der demenzkranken Pflegebedu¨rftigen (Verlassen von festen Essenszeiten, Verzicht auf konventionelle Tischmanieren, Einsatz von neuen Speiseversorgungen wie fingerfood) und die Beru¨cksichtigung der besonderen terminalen Lebensumsta¨nde eines Teils der Demenzkranken durch Gruppenbetreuung (Konzept der Pflegeoase). ¢ Zu nennen sind auch neue Pflegemethoden wie Validation und basale Stimulation, die eine sinnvolle Erga¨nzung in der Betreuung von Demenzkranken darstellen. ¢ Nicht zuletzt sind zu nennen die niedrigschwelligen Angebote zur Betreuung ambulant versorgter Demenzkranker. Durch die Erho¨hung der Leistungen fu¨r Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz seit Inkrafttreten des PflegeWeiterentwicklungsgesetzes ist mit einem Ausbau dieser Angebote zu rechnen [Held / Ermini-Fu¨nfschilling 2006, DAlzG 2001, Scha¨ufele et al. 2008]. ¢ Junge Behinderte, d. h. Behinderte mit angeborenen ko¨rperlichen und / oder geistigen Behinderungen, mit psychiatrischen Erkrankungen (Psychosen etc.) und neurologische Erkrankungen (Multiple Sklerose etc.) werden u¨berwiegend in stationa¨ren Einrichtungen der Behindertenhilfe betreut, haben mit zunehmendem Alter jedoch einen erho¨hten und spezifischen Pflegebedarf, der in diesen Einrichtungen bzw. in allgemeinen Pflegeeinrichtungen nur unzureichend abgedeckt werden kann. Hier ist die Frage, ob die pflegerische Betreuung in stationa¨ren Einrichtungen der Behindertenhilfe ausgebaut, neue Betreuungseinrichtungen in Form von Spezialabteilungen in bestehenden Altersheimen oder vo¨llig eigensta¨ndige Pflegeinrichtungen fu¨r diesen Personenkreis geschaffen werden sollen [KDA 2008]. ¢ Pflegebedu¨rftige im Wachkoma nach schweren Scha¨del-Hirn-Verletzungen beno¨tigen eine spezialisierte Versorgung in Spezialabteilungen. ¢ Bei instabil beatmungspflichtigen Pflegebedu¨rftigen sind wegen der hohen technischen Anforderungen der Versorgung spezialisierte Einrichtungen erforderlich, sei es in stationa¨ren oder ambulanten Pflegesettings. Stabil beatmungspflichtige Pflegebedu¨rftige ko¨nnen auch in nicht spezialisierten Pflegeeinrichtungen versorgt werden, es sind dann jedoch spezielle personelle Anforderungen von diesen Einrichtungen zu erfu¨llen.
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10 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
Zur Erweiterung und Verbesserung der Versorgungsstruktur der oben genannten Gruppen von Pflegebedu¨rftigen werden von Leistungsanbietern neue Konzepte vorgelegt, die umgesetzt werden sollen im Rahmen ambulanter Pflegedienste, in neuen stationa¨ren Pflegeeinrichtungen oder in Spezialabteilungen bestehender Einrichtungen. Die Beratungsta¨tigkeit der Medizinischen Dienste besteht in einer gru¨ndlichen Pru¨fung der vorgelegten Konzepte, gegebenenfalls in der Ausarbeitung von Vorschla¨gen zu deren Verbesserung und in der Begleitung der Verhandlungen der Leistungsanbieter mit den Landesverba¨nden der Pflegekassen bis zum Abschluss eines Versorgungsvertrages. Es mu¨ssen folgende Fragestellungen beurteilt werden: ¢ Entha¨lt die Konzeption tatsa¨chlich neue Ansa¨tze? ¢ Welches Fachpersonal ist fu¨r die geplante Neukonzeption erforderlich? ¢ Wieviel Personal fu¨r die Verwirklichung der Neukonzeption erforderlich?
10.1.3 Beratung der Pflegekassen im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur Bei medizinisch-pflegefachlichen Fragestellungen im Rahmen der Versorgung von Pflegebedu¨rftigen durch Pflegedienste oder in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen von grundsa¨tzlicher Bedeutung beraten die Medizinischen Dienste die Landesverba¨nde der Pflegekassen oder einzelne Pflegekassen durch Erstellung von Grundsatzstellungnahmen durch die SEG 2. Es liegen unter anderen Grundsatzstellungnahmen zu folgenden Themen vor: ¢ Grundsatzstellungnahmen SEG 2 „Verbandwechsel bei suprapubischem Blasenkatheter“ ¢ Grundsatzstellungnahmen SEG 2 „PEG – Sondenversorgung im Rahmen der ha¨uslichen Krankenpflege“ ¢ Grundsatzstellungnahmen SEG 2 „An- und Ausziehen von Kompressionsstru¨mpfen im Rahmen der ha¨uslichen Krankenpflege“ ¢ Grundsatzstellungnahmen SEG 2 „Bewegungsu¨bungen als Leistung der ha¨uslichen Krankenpflege“
10.2 Beratung von Pflegeeinrichtungen Friedrich Schwegler und Wolfgang Machnik Vom Gesetzgeber wurde seit der Einfu¨hrung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 den Leistungserbringern die Verantwortung fu¨r die einrichtungsinterne Qualita¨tssicherung der erbrachten Leistungen zugewiesen (§ 112 SGB XI). Gleichzeitig hat der Gesetzgeber mit der Einfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen durch den MDK eine externe Qualita¨tssicherung in den ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen etabliert, zuna¨chst in § 80 SGB XI, mit Inkrafttreten des Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz (PQsG) in §§ 112ff und seit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) in § 114 SGB XI. Demnach kann die Funktion der Qualita¨tspru¨fungen in folgenden Punkten zusammengefasst werden: 1. Externe ¢berpru¨fung eines einrichtungsinternen Qualita¨tssicherungssystems 2. Unterstu¨tzung der Einrichtungen bei der Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t
10.2 Beratung von Pflegeeinrichtungen
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3. ¢berpru¨fung der Qualita¨t der erbrachten Pflegeleistungen 4. Sicherstellung und Fortentwicklung eines Pflegestandards fu¨r die Pflegebedu¨rftigen Der Sinn der externen Qualita¨tssicherung durch den MDK kann sich nicht in der Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fung beschra¨nken, sondern schließt nach Darstellung des Status quo auch die Beratung der Einrichtung zur Verbesserung der Qualita¨t ein. Der Wunsch des Gesetzgebers zur Beratung der Einrichtungen kam in der alten Fassung des SGB XI in § 112 Abs. 4 zum Ausdruck: „Der MDK soll im Rahmen seiner Mo¨glichkeiten die Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualita¨tssicherung beraten . . .“ allerdings mit der Einschra¨nkung: „Ein Anspruch auf Beratung besteht nicht.“ Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurde die Beratungspflicht in § 112 Abs. 3 SGB XI neu gefasst mit folgendem Wortlaut: „Der MDK bera¨t die Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualita¨tssicherung mit dem Ziel, Qualita¨tsma¨ngeln rechtzeitig vorzubeugen und die Eigenverantwortlichkeit der Pflegeeinrichtungen und ihrer Tra¨ger fu¨r die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t zu sta¨rken.“ Der Zusatz „Ein Anspruch auf Beratung besteht nicht“ ist im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz nicht mehr enthalten. Es kommt hierdurch zu einer verpflichtenden Beratungsta¨tigkeit der MDK fu¨r die Einrichtungen. Die genannten gesetzlichen Vorgaben wurden in den Pru¨fanleitungen der MDK zur Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen umgesetzt. In der „MDK-Anleitung zur Pru¨fung der Qualita¨t nach § 80 SGB XI in der ambulanten bzw. stationa¨ren Pflege“ aus dem Jahr 2000 finden sich genaue Hinweise zur Umsetzung des beratungsorientierten Pru¨fansatzes. Die zur Zeit gu¨ltigen Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien fu¨r die Durchfu¨hrung der Qualita¨tspru¨fungen sehen unter Punkt 6 Ziffer 6 ausdru¨cklich die Mo¨glichkeit vor, dass der MDK auf Wunsch von Pflegeeinrichtungen u¨ber den beratungsorientierten Ansatz hinaus gehende Beratungsleistungen / Schulungen erbringen kann. Folgende Mo¨glichkeiten der Durchfu¨hrung von Beratungen in Pflegeeinrichtungen bestehen: Impulsberatungen wa¨hrend der Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen Dies sind Kurzberatungen bei festgestellten Qualita¨tsdefiziten im Rahmen der Durchfu¨hrung einer Qualita¨tspru¨fung nach § 114 SGB XI. Sie haben den Vorteil, dass die Beratung unmittelbar in Zusammenhang mit der Pru¨fung erfolgt und damit mit keinem zusa¨tzlichen zeitlichen Ressourcenaufwand fu¨r die gepru¨fte Einrichtung verbunden ist. Der Nachteil der Impulsberatung ist darin zu sehen, dass sie in einer fu¨r die Einrichtung doch oft angespannten Pru¨fatmospha¨re stattfindet und sie dann nicht die gewu¨nschte Wirkung entfalten kann. Beratungen nach Durchfu¨hrung einer Qualita¨tspru¨fung Dabei erha¨lt die Pflegeinrichtung nach Durchfu¨hrung einer Qualita¨tspru¨fung nach § 114 SGB XI auf der Grundlage der Pru¨fergebnisse Hinweise, wie Qualita¨tsdefizite am gu¨nstigsten behoben werden ko¨nnen. Der Vorteil dieser Form der Beratung besteht darin, dass sie in einer „stressfreien“ Atmospha¨re ohne Pru¨fungsdruck erfolgen kann. Nachteil ist der gro¨ßere zeitliche Ressourcenaufwand fu¨r die gepru¨fte Einrichtung. Im Rahmen der Qualita¨tsentwicklungsberatung kann eine Einrichtung u¨ber ei-
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10 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
nen bestimmten Zeitraum begleitet werden. Auch eine Unterstu¨tzung der Einrichtung bei der Analyse der erreichten Ziele ist mo¨glich. Hierbei sind folgende Beratungsarten zu unterscheiden: Regelberatungen Sie erfolgen als umfassende Inputberatungen im Nachgang zu einer Qualita¨tspru¨fung und soll fu¨r die Einrichtungsleitungen eine Hilfestellung zur Umsetzung der ausgesprochenen Maßnahmen und Empfehlungen sein. Reflexionsberatungen Sie erfolgen mit dem Ziel, die allgemeine Qualita¨tsentwicklung voranzutreiben, Qualita¨tsma¨ngeln rechtzeitig vorzubeugen und die Einrichtungstra¨ger fu¨r die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalita¨t zu sta¨rken, ggf. auch unabha¨ngig von einer vorangegangenen Qualita¨tspru¨fung. Beratungsthemen bei der Qualita¨tsentwicklung ko¨nnen sein: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
Aufbau- und Ablauforganisation Pflegekonzeption Qualita¨tsmanagement und Qualita¨tssicherung Umsetzung Pflegeprozess und Pflegedokumentation Risikomanagement Zielerreichungsanalysen und Einleitung von Verbesserungsmaßnahmen
Erga¨nzende Schulungsberatungen Flankierend zum Beratungsangebot ko¨nnen Schulungen zu spezifischen Fachthemen fu¨r Pflegeeinrichtungen angeboten werden. Im Vordergrund steht hier die Wissensvermittlung zu einzelnen Fachthemen. Fachspezifische Themen ko¨nnen sein: ¢ Expertenstandards des Deutschen Netzwerks fu¨r Qualita¨tsentwicklung in der Pflege (DNQP) ¢ Dekubitusprophylaxe ¢ Sturzprophylaxe ¢ Schmerzmanagement ¢ Kontinenzfo¨rderung ¢ Besondere Pflegeprobleme und Pflegemanagement ¢ Erna¨hrung und Flu¨ssigkeitsversorgung a¨lterer Menschen ¢ Umgang mit gerontopsychiatrischen Beeintra¨chtigungen ¢ Soziale Betreuung ¢ Wunddokumentation ¢ Umsetzung / Umgang mit behandlungspflegerischen Maßnahmen ¢ Umsetzung Pflegeprozess und Pflegedokumentation ¢ Hauswirtschaftliche Konzepte ¢ Grundkenntnisse zu Methoden des internen Qualita¨tsmanagement ¢ Dienst- und Tourenplangestaltung ¢ Umsetzung des Bezugspflegesystems
10.2 Beratung von Pflegeeinrichtungen
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Qualita¨tssicherung der Beratungen Zufriedenheitsbefragungen oder Untersuchungen zur Wirksamkeit von Impulsberatungen liegen bislang nicht vor. In den Jahren 2005 bis 2008 hat der MDK Nordrhein 299 Beratungen in Pflegeeinrichtungen nach Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen durchgefu¨hrt. Zur Qualita¨tssicherung wurden im MDK Nordrhein folgende Maßnahmen durchgefu¨hrt: ¢ Regelma¨ßige Besprechungen zwischen dem Leiter des medizinischen Fachbereichs Pflegeversicherung, den Mitarbeitern in der Beratung und den Mitarbeitern in den Qualita¨tspru¨fungen zur Sicherung der Konformita¨t der Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinieninhalte ¢ Regelma¨ßige Besprechungen des Beraterteams mit dem Ziel gleichfo¨rmigen Handelns ¢ Dokumentation des vollsta¨ndigen Beratungsablaufs ¢ Kundenbefragungen und Auswertung der Ergebnisse ¢ Fort- und Weiterbildung der in der Beratung ta¨tigen Mitarbeiter ¢ Statistische Auswertungen der Beratungen, z. B. Anzahl der Beratungen, Zeitaufwand, Schwerpunkte der Problemstellungen Eine Auswertung der 73 Beratungen aus den Jahren 2005 und 2006 ergab, dass in 28 Einrichtungen nach erfolgter Beratung Wiederholungspru¨fungen nach § 114 SGB XI durchgefu¨hrt wurden. In 21 der 28 Einrichtungen, d. h. in 75 Prozent konnte eine beratungsbedingte Verbesserung des Pru¨fergebnisses festgestellt werden. In 7 Einrichtungen, d. h. in 25 Prozent zeigte sich keine Verbesserung der Qualita¨t durch die Beratung. Diese Auswertung ist natu¨rlich nur als erster Trend der Wirksamkeit von Beratungen durch den MDK anzusehen. Es mu¨ssen weitere Auswertungen folgen, um diesen Trend zu besta¨tigen.
11 Kompetenz und Fortbildung des Medizinischen Dienstes im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung Gert von Mittelstaedt und Thomas Gaertner
Die soziale Pflegeversicherung ist der gesetzlichen Krankenversicherung organisatorisch angelehnt. Gema¨ß § 1 Abs. 3 SGB XI gilt, dass die Aufgaben der Pflegekassen als Tra¨ger der sozialen Pflegeversicherung von den Krankenkassen wahrgenommen werden. Die allgemeinen Grundsa¨tze der Qualita¨t, Humanita¨t und Wirtschaftlichkeit gema¨ß § 70 SGB V sind somit auch fu¨r die Pflegeversicherung verbindlich. Analoges gilt fu¨r die daraus ableitbaren wie auch ausdru¨cklich sozialgesetzlich formulierten Pflichten zur Fortbildung der Leistungserbringer, der Helfenden, der Sozialleistungstra¨ger sowie des Medizinischen Dienstes. In diesem Kapitel wird der Begriff Fortbildung auch als ein ¢berbegriff fu¨r Schulung, Lehrgang, Seminar, Aus-, Fort- und Weiterbildung verwendet. Fu¨r die Leistungserbringer gema¨ß SGB V sind Fort- und Weiterbildung ausdru¨cklich vorgeschrieben, z. B. bei der hausarztzentrierten (§ 73b) und vertragsa¨rztlichen (§ 95d) Versorgung, derjenigen mit Heilmitteln (§ 124), Hilfsmitteln (§ 126) und ha¨uslicher Krankenpflege (§ 132a), der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (§ 132d) sowie der Versorgung durch zugelassene Krankenha¨user (§ 137). Fu¨r ambulante Pflegeeinrichtungen (Pflegedienste) und stationa¨re Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime) wurden explizit Regelungen hinsichtlich notwendiger Weiterbildungsmaßnahmen fu¨r verantwortliche Pflegefachkra¨fte und Leitungskra¨fte getroffen (§§ 71f SGB XI). Im Rahmen der Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen muss sich aus einem Konzept fu¨r niedrigschwellige Betreuungsangebote ergeben, dass eine angemessene Schulung und Fortbildung der Helfenden sowie eine kontinuierliche fachliche Begleitung und Unterstu¨tzung der ehrenamtlich Helfenden in ihrer Arbeit gesichert ist (§ 45c SGB XI). Fach- und sachbezogenen Bildungsmaßnahmen der Sozialleistungstra¨ger geho¨ren zum Verantwortungsbereich der Verba¨nde der Pflegkassen (§§ 52f SGB XI). Bezu¨glich der Wahrnehmung dieser Verbandsaufgaben wird auf die Ausfu¨hrungen im SGB V verwiesen. So haben die Landesverba¨nde die Mitgliedskassen bei der Erfu¨llung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstu¨tzen, unter anderem durch Beratung und Unterrichtung, Fo¨rderung und Mitwirkung bei der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung der bei den Mitgliedskassen Bescha¨ftigten sowie Arbeitstagungen (§ 211 Abs. 2 SGB V). Die Unterstu¨tzung durch die Bundesverba¨nde besteht daru¨ber hinaus in der Herausgabe von Zeitschriften und in der Forschung (§ 217 Abs. 2 SGB V). Die sozialgesetzlich festgelegten Fortbildungsobliegenheiten des Medizinischen Dienstes sind aus den im Sozialgesetzbuch festgelegten Aufgaben des GKV-Spitzenverbandes mit seinem Spitzenverband Bund der Pflegekassen abzuleiten (§ 282 SGB V, § 53a SGB XI). Dabei geht es um die koordinierte Durchfu¨hrung der Aufgaben
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11 Kompetenz und Fortbildung des MDK
und die Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung in medizinischen und organisatorischen Fragen sowie Richtlinien ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
u¨ber die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten, zur Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung, zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung, u¨ber das Verfahren zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen sowie u¨ber Grundsa¨tze zur Fort- und Weiterbildung.
Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung wiederum haben den MDS bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu unterstu¨tzen (§ 282 SGB V). Daraus ergeben sich fu¨r die Medizinischen Dienste interne Fortbildungsverpflichtungen sowie im Auftrag der Pflegekassen sowie ihrer Verba¨nde insbesondere fu¨r Sozialleistungstra¨ger externe Fortbildungsaufgaben. Letztere stellen neben den Begutachtungen, Qualita¨tspru¨fungen und Beratungen das vierte Hauptaufgabengebiet des MDK dar.
11.1 Kompetenzbu¨ndelung in der MDK-Gemeinschaft zur Fortbildung Das Aufgabenspektrum der Medizinischen Dienste ist interdisziplina¨r ausgerichtet. Dies erfordert neben der fachlichen und sachbezogenen Fortbildung besondere Formen der Koordination des Leistungsgeschehens. Diesen Anforderungen wird in Erga¨nzung zu Fachwissen, Sachkenntnissen und Zusatzqualifikationen der MDK-Mitarbeiter durch auch der Fortbildung dienliche Einrichtungen der Medizinischen Dienste Rechnung getragen. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) hat in Erga¨nzung zu und mit Unterstu¨tzung aus den Medizinischen Diensten in den Bundesla¨ndern folgende Aufgaben: ¢ Beratung des GKV-Spitzenverbandes ¢ Koordination und Unterstu¨tzung der Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste ¢ Sicherstellung einer bundesweit einheitlichen Begutachtung Die Kompetenz-Centren (KC) bilden eine der beiden Gruppen der Kompetenz-Einheiten (KE). Als gemeinsame Einrichtungen der Medizinischen Dienste dienen sie der Sicherstellung der fachlichen Zusammenarbeit und der Bu¨ndelung der Fachkompetenz. Aufgabengebiete der KCs sind Versorgungsstrukturfragen und Systemberatung. Sie stellen ihre Expertise nicht nur auftragsgebunden den Sozialleistungstra¨gern zur Verfu¨gung, sondern wirken MDK-intern sowohl aktiv als auch beratend bei der Wissensvermittlung mit. Die folgenden vier Kompetenz-Centren wurden eingerichtet: ¢ Kompetenz-Centrum Geriatrie (KCG) beim MDK Nord ¢ Kompetenz-Centrum Onkologie (KCO) beim MDK Nordrhein ¢ Kompetenz-Centrum fu¨r Psychiatrie und Psychotherapie (KCPP) beim MDK Mecklenburg-Vorpommern in Kooperation mit dem MDK Hessen ¢ Kompetenz-Centrum Qualita¨tssicherung und Qualita¨tsmanagement (KCQ) beim MDK Baden-Wu¨rttemberg Die Sozialmedizinische Expertengruppen (SEG) bilden die zweite Gruppe der Kompetenz-Einheiten. Sie bearbeiten sozialmedizinischen Problemstellungen, die sich
11.1 Kompetenzbu¨ndelung in der MDK-Gemeinschaft zur Fortbildung
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auf die Kernaufgaben des MDK beziehen, insbesondere um bundesweit eine einheitliche Vorgehensweise zu etablieren. Zu den sozialmedizinischen Expertengruppen za¨hlen: ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
SEG 1 SEG 2 SEG 3 SEG 4 SEG 5 SEG 6 SEG 7
„Leistungsbeurteilung / Teilhabe“ (MDK Niedersachsen) „Pflege“ (MDK Bayern und MDK Westfalen-Lippe) „Versorgungsstrukturen“ (ab 18. 06. 2009 aufgelo¨st) „Vergu¨tung und Abrechnung“ (MDK Baden-Wu¨rttemberg) „Hilfsmittel und Medizinprodukte“ (MDK Hessen) „Arzneimittelversorgung“ (MDK Westfalen-Lippe) „Methoden- und Produktbewertungen“ (MDS)
Themenspezifisch werden von den Kompetenz-Einheiten Fachtagungen veranstaltet. Diese dienen gleichermaßen dem Meinungsaustausch wie der MDK-internen wie externen Fort- und Weiterbildung. Themen waren beispielsweise Demenz – Herausforderung fu¨r die Pflege (Expertentag der SEG 2) und Hu¨ftprotektoren bei Sturzgefa¨hrdung a¨lterer Menschen sowie Subsidiarita¨tsprinzip bei Pflegehilfsmitteln (Gemeinsamer Expertentag der SEG 2 und der SEG 5). In den Regularien fu¨r die Arbeit der KompetenzEinheiten der MDK-Gemeinschaft ist dazu festgehalten [MDS 2008b]: „Jede Kompetenz-Einheit fu¨hrt in der Regel einmal ja¨hrlich eine o¨ffentliche Tagung durch, zu der auch Ansprechpartner von Krankenkassen bzw. von Kassenverba¨nden sowie Vertreter der Leistungserbringer eingeladen werden ko¨nnen. Gemeinsame Tagungen mehrerer Kompetenz-Einheiten sind mo¨glich, wenn dies der Bearbeitung eines Themas dienlich ist.“ Die Foren fo¨rdern den strukturierten Dialog in fachlich außergewo¨hnlichen oder nicht allta¨glichen Themenfeldern. Sie bearbeiten grundsa¨tzlich keine Auftra¨ge von Kranken- und Pflegekassen. Folgende Foren wurden bislang eingerichtet: ¢ Forum „MedJur“ (MDK Nordrhein) ¢ Forum „Zahnmedizin“ (MDK Bayern) ¢ Forum „Wissensmanagement“ (MDS) Die Medizinische Arbeitsgruppen dienen als sta¨ndige Einrichtungen dem fachlichen Austausch und der gemeinsamen Bearbeitung von MDK-u¨bergreifenden fachlichen sowie organisatorischen Fragestellungen. Folgende Arbeitsgruppen (AG) haben Bezug zur Pflegeversicherung: ¢ AG ¢1 des Forum MedJur: Sie befasst sich mit ausgewa¨hlten medizinisch-juristischen Fragen und Problemstellungen. Sie erarbeitete z. B. einen Leitfaden fu¨r die Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen/Pflegekassen und MDK bei drittverursachten Gesundheitsscha¨den, insbesondere bei Behandlungs- und Pflegefehlern. ¢ AG ¢2 Qualita¨tssicherung Pflegebedu¨rftigkeit: Sie bescha¨ftigt sich mit der Festlegung einheitlicher Pru¨fkriterien und inhaltlicher Schwerpunkte der MDK-internen und MDK-u¨bergreifenden Qualita¨tssicherung der Pflegegutachten. Daru¨ber hinaus wird durch die Arbeitsgruppe eine Auswertung vorgenommen und ein zusammenfassender Jahresbericht u¨ber die Qualita¨tssicherungsmaßnahmen verfasst.
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11 Kompetenz und Fortbildung des MDK
11.2 Basisqualifikation Ausschlaggebend bei den rund 2000 a¨rztlichen Mitarbeiter des MDK ist die Doppelkompetenz von mindestens einer Fachgebietsbezeichnung (Facharzt) und der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin (rund zwei Drittel aller ¥rzte beim MDK). Hinzu kommen langja¨hrige Berufserfahrung, ausgewiesene Methodenkompetenz sowie im Laufe der Zeit erworbene sektorenu¨bergreifende gesundheitssystemspezifische Kenntnisse. Der MDK unterstu¨tzt die gema¨ß der (Muster-) Berufsordnung fu¨r die deutschen ¥rztinnen und ¥rzte (MBO-¥) verpflichtende Fortbildung: „¥rztinnen und ¥rzte, die ihren Beruf ausu¨ben, sind verpflichtet, sich in dem Umfange beruflich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu ihrer Berufsausu¨bung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist.“ Daher wird seitens des MDK der Erwerb der Fortbildungszertifikate der zusta¨ndigen Landesa¨rztekammern gezielt gefo¨rdert. Die Weiterbildung in Sozialmedizin erfolgt in aller Regel im Laufe der ersten Bescha¨ftigungsjahre durch MDK-interne Weiterbildungserma¨chtigte und begleitendes Absolvieren der Weiterbildungskurse einschließlich der Abschlusspru¨fung bei den Landesa¨rztekammern. So heißt es in einem Positionspapier der Leitenden ¥rztinnen und ¥rzte zur fachlichen Fortbildung aus dem Jahre 2005: „Erga¨nzend zur a¨rztlichen Fortbildung unterstu¨tzen die Leitenden ¥rztinnen und ¥rzte im Medizinischen Dienst die fachliche, insbesondere sozialmedizinische berufliche Weiterbildung der a¨rztlichen Gutachterinnen und Gutachter“ [Kohlhaußen 2005]. Erga¨nzt wird dies durch fachgebietsu¨bergreifende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Professionalisierung der Methodenkompetenz, wie Qualita¨tsmanagement, Evidenzbasierte Medizin (EbM), Verfahrens- und Methodenbewertungen (Health Technology Assessment – HTA), Public Health, medizinische Informatik oder Krankenhausbetriebswirtschaftlehre. Die etwa 1.300 Pflegefachkra¨fte sind ausgebildete Gesundheits- und Kranken-, Alten- oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger / -pflegerinnen. In Zusammenarbeit mit den ¥rzten ist ihr Hauptaufgabengebiet die Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß § 18 SGB XI. Einen zweiten Schwerpunkt bilden die Qualita¨tspru¨fungen gema¨ß § 114 SGB XI in den Einrichtungen der ambulanten und stationa¨ren Pflege sowie die Beratungen dieser Einrichtungen. Hier werden im Qualita¨tsmanagement besonders fortgebildete Pflegefachkra¨fte eingesetzt. Diese umfassende a¨rztliche und pflegefachliche Kompetenz wird durch Bescha¨ftigung von u. a. Apothekern, Orthopa¨dietechnikern und Psychologen erga¨nzt.
11.3 MDK-spezifische u¨berregionale Fortbildung Die Fort- und Weiterbildung der gutachterlich ta¨tigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird entsprechend der Richtlinien u¨ber die Grundsa¨tze der Fort- und Weiterbildung im Medizinischen Dienst (Fort- und Weiterbildungsrichtlinien – FuWRi) begleitet durch ein Mentorensystem sowie speziell ausgerichtete sozialmedizinische Lehrveranstaltungen [MDS 2008a, MDS 2008c]. Deren Organisation und Koordination u¨bernimmt der MDS, der dafu¨r eigens das Fachgebiet „Fort- und Weiterbildung“ eingerichtet hat. Dabei werden fachbezogen die Kompetenz-Einheiten, so auch die SEG 2 konzeptionell und personell beteiligt. In der Einarbeitungsphase wechseln sich nach einer Einfu¨hrungsveranstaltung Pra¨senzseminare, praktische Ta¨tigkeit („training on the job“) und strukturiertes Selbststudium ab. Mit inhaltlicher Abstimmung inner-
11.1 Kompetenzbu¨ndelung in der MDK-Gemeinschaft zur Fortbildung
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halb der sozialmedizinischen Expertengruppen ist dazu eine Reihe von Studienheften entstanden, die systematische und strukturierte Informationen u¨ber die verschiedenen Arbeitsgebiete, wie beispielsweise Pflegeversicherung, geriatrische Rehabilitation und Hilfsmittel, enthalten. Die anschließende Phase der sogenannten permanenten Fortbildung ist u. a. gekennzeichnet durch MDK-interne und nachfolgend aufgefu¨hrte MDKu¨bergreifende Fortbildungsveranstaltungen: ¢ Fachseminare, z. B zu Vorsorge und Rehabilitation, Geriatrie und Pflege, Leistungsbeurteilung ¢ Spezialseminare, z. B. zu Hilfsmitteln, Onkologie, Behandlungsfehlern ¢ Multiplikatorenseminare, z. B. zu den neuen Begutachtungs-Richtlinien, Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz, ha¨uslicher Krankenpflege, Rehabilitation ¢ Workshops, z. B. zu MDK-Pru¨fanleitung gema¨ß §§ 112 / 114 SGB XI, Beratung nach Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien, Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz ¢ Lehrga¨nge, z. B. zum TQM-Auditor und u¨ber Dementia-Care-Mapping
Ärzte /Ärztinnen
Pflegefachkräfte
Strukturiertes Selbststudium
Präsenzseminar I (6 – 9 Monate nach Dienstantritt) Training on the Job
Strukturiertes Selbststudium
Präsenzseminar II * (12–15 Monate nach Dienstantritt)
Training on the Job
Strukturiertes Selbststudium
Präsenzseminar I (5 – 7 Monate nach Dienstantritt) Training on the Job Präsenzseminar II * (10 –15 Monate nach Dienstantritt)
Fach- und Spezialseminare
regional bundesweit * offen auch für langjährig tätige Ärzte/Ärztinnen bzw. Pflegefachkräfte
permanente Fortbildung für erfahrene Ärzte /Ärztinnen des MDK
Training on the Job
Einarbeitungsphase für neueingestellte Pflegefachkräfte des MDK
Einführungsveranstaltung (1– 2 tägig)
permanente Fortbildung für erfahrene Pflegefachkräfte des MDK
Einarbeitungsphase für neueingestellte Ärzte /Ärztinnen des MDK
Eintritt in den MDK
Abb. 11.1: Fortbildungskonzept fu¨r Gutachterinnen und Gutachter der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung [MDS 2008c].
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11 Kompetenz und Fortbildung des MDK
11.4 EDV-gestu¨tzter Wissenstransfer Neben der seminargestu¨tzten Bildungsarbeit wurde seit einigen Jahren eine internetbasierte Fortbildungs- und Kommunikationsplattform etabliert [Steidle 2005]. Unter der Bezeichnung „MD-Campus 2.0“ steht sie den Nutzern der MDK-Gemeinschaft als eine sogenannte virtuelle Akademie zur Verfu¨gung. Neben Lernszenarien (BlendedLearning-Kursen) und Mediathek sind der dritte Hauptbereich des MD-Campus die Diskussions- und Arbeitsforen (Online-Foren). Fachgruppenspezifisch findet in den mittlerweile zwo¨lf Foren ein intensiv genutzter Austausch zur Kla¨rung aktueller Fragestellungen und Probleme statt [MDS 2008d]. Als Erga¨nzung zum u¨berregionalen Fortbildungsangebot ist beim MDS die Stabsstelle „Wissensmanagement“ angesiedelt. Sie koordiniert die Arbeit des Forums Wissensmanagement der MDK-Gemeinschaft. Zudem werden bei der Stabsstelle die Auftragsdatenbank der Kompetenz-Einheiten der Medizinischen Dienste (AKoMeD) sowie die zentrale Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste (InfoMeD) gepflegt. Gema¨ß dem von den Leitenden ¥rztinnen / ¥rzten und den Gescha¨ftsfu¨hrern verabschiedeten Beschlusspapier zur informationellen Transparenz vom Mai / Juni 2003 dienen diese beiden Wissensdatenbanken der Sicherstellung einer bundesweit einheitlichen Begutachtung. In InfoMeD befinden sich u¨ber 2.100 Dokumente. Dazu geho¨ren gemeinsame Empfehlungen und Hinweise, Gerichtsurteile, Gesetzestexte, offizielle Verlautbarungen, Richtlinien, Grundsatzstellungnahmen und Methodenbewertungen. Die Datensa¨tze werden nach dem von den Leitenden ¥rztinnen / ¥rzten und den Gescha¨ftsfu¨hrern abgestimmten Konzept zur Aktualisierung der InfoMeD-Wissensdaten vom Juni 2002 kontinuierlich gepflegt. Das Konzept wurde im Jahr 2008 redaktionell u¨berarbeitet und aktualisiert. Etwa 80 Prozent des Gesamtbestandes von InfoMed stehen in einer speziell aufbereiteten Informationsdatenbank den Kranken- und Pflegekassen (InfoMeD-KK) zur Verfu¨gung. Nahezu 40 Prozent des Datenbestandes sind als Sozialmedizinische Informationsdatenbank fu¨r Deutschland (SINDBAD) o¨ffentlich zuga¨nglich. Neben den u¨berregionalen finden auch in den einzelnen Medizinischen Diensten der Bundesla¨nder eigene, zum Teil von den Landesa¨rztekammern zertifizierte Veranstaltungen zur Fort- und Weiterbildung statt. Dazu za¨hlen zum Teil auch die fu¨r die externen Gutachterinnen und Gutachter angebotenen Schulungen zur Durchfu¨hrung der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuchs. In einigen Medizinischen Diensten werden Hospitationen in Einrichtungen des Gesundheitswesens gezielt gefo¨rdert und sind sogar Bestandteil von Zielvereinbarungen. Außerdem fu¨hren viele Medizinische Dienste regelma¨ßig Fachtagungen fu¨r ihre Mitarbeiter durch. Ein Teil der Medizinische Dienste evaluiert die Fortbildungsmaßnahmen und fasst die Ergebnisse in einem ja¨hrlich erscheinenden Fortbildungsbericht zusammen.
11.5 Fortbildungsveranstaltungen der Medizinischen Dienste im Auftrag der Sozialleistungstra¨ger Der MDK als Teil der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung wird grundsa¨tzlich nur im Auftrag der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie ihrer Verba¨nde sachversta¨ndig ta¨tig. Die MDK-Expertise als wissenschaftlich begru¨ndete
11.5 Fortbildungsveranstaltungen der Medizinischen Dienste
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Leistung entfaltet ihren gutachtlichen bzw. empfehlenden Mitteilungscharakter als Bestandteil der ¢berpru¨fung des Leistungsanspruchs durch den Sozialleistungstra¨ger [Gaertner et al. 2001]. Die leistungsrechtliche Entscheidung obliegt abschließend der Kranken- bzw. Pflegekasse. Um das medizinische Fachwissen und die sozialmedizinische Sachkenntnis des MDKs effizient nutzen zu ko¨nnen, bedarf es der Koordination der Zusammenarbeit zwischen Sozialleistungstra¨gern und Medizinischen Diensten. Dazu geho¨rt neben der Abstimmung der Leistungsprozesse auch die Vermittlung medizinischen einschließlich pflegerischen Grundwissens sowie sozialmedizinischer Kenntnisse mit ihren sozialrechtlichen Implikationen. Zur Harmonisierung des Auftraggeschehens gibt es fu¨r die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kranken- und Pflegekassen ein speziell auf ihre Bedu¨rfnisse zugeschnittenes Fortbildungsangebot zum gesamten Versorgungsspektrum der GKV und SPV (siehe Abb. 11.2). Mit Blick auf die Pflegeversicherung bieten die einzelnen Medizinische Dienste zum Teil modular aufgebaute Fortbildungsveranstaltungen u. a. zu folgenden Themenkomplexen an: ¢ Begutachtung bei Pflegebedu¨rftigkeit nach dem SGB XI ¢ Begutachtung nach Aktenlage oder Widerspruchsbegutachtung fu¨r die soziale Pflegeversicherung ¢ Pflegebedu¨rftigkeit bei Kindern mit Verhaltenssto¨rungen, z. B bei Autismus oder AD(H)S ¢ Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern ¢ Qualita¨tspru¨fungen in Pflegeeinrichtungen gema¨ß §§ 112ff SGB XI ¢ Direktberatung in der Pflegeversicherung ¢ Dekubitus: Abgrenzung Pflegefehler versus Komplikation 2 Augenheilkunde 2 Kinderheilkunde 4 Versichertenschulungen
3 außervertragliche Leistungen 1 Dermatologie 2 Geriatrie 2 HNO-Heilkunde 8 Hilfsmittel und Medizinprodukte 12 Medizinrecht 15 Onkologie
68 Versorgungsstrukturen 21 Pflege
10 Coaching/ Workshop
30 Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie 29 Sozialmedizin
Abb. 11.2: Jeweilige Anzahl der insgesamt 209 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern wa¨hrend des Jahres 2007 durchgefu¨hrten Fortbildungsveranstaltungen nach Themenkomplexen [MDK Bayern 2008].
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¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢
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11 Kompetenz und Fortbildung des MDK
Psychische Erkrankungen Sturzprophylaxe – Nationaler Expertenstandard Auswirkungen des Pflege- Weiterentwicklungsgesetzes Pflege im Hospiz Fallsteuerung in der Pflegeversicherung Fallsteuerung in der ha¨uslichen Kranken- und Intensivpflege Modernes Wundmanagement
Infolge des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (§ 7a SGB XI) haben ab dem 1. Januar 2009 Leistungsbezieher / Pflegebedu¨rftige gema¨ß SGB XI Anspruch auf umfassende Pflegeberatung im Sinne eines individuellen Fallmanagements. Diese Pflegeberatung soll grundsa¨tzlich durch Pflegefachkra¨fte, Sozialversicherungsfachangestellte oder Sozialarbeiter durchgefu¨hrt werden, die eine Zusatzqualifikation entsprechend den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes erworben haben [GKV-Spitzenverband 2008]. Einige Medizinische Dienste befassen sich bereits mit derartigen Qualifikationsmaßnahmen. So beteiligt sich zum Beispiel der MDK Bayern in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Deggendorf an der modularen Weiterbildung fu¨r Pflegeberaterinnen und Pflegeberater. Die Medizinischen Dienste engagieren sich auch hinsichtlich der Gestaltung von Kongressen und deren Ausrichtung auf Spezifika der sozialmedizinischen sachversta¨ndigen Ta¨tigkeit. Dazu za¨hlen u. a. die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft fu¨r Sozialmedizin und Pra¨vention e. V. (DGSMP), der Hauptstadtkongress, der Europa¨ische Gesundheitskongress und der Kongress der EUMASS (European Union of Medicine in Assurance and Social Security). Der sachkundigen Fortbildung dienen weiterhin wissenschaftliche Publikationen sowie redaktionelle Mitarbeit bei Fachzeitschriften. Dazu za¨hlen z. B. Das Gesundheitswesen, Die Rehabilitation, Der medizinische Sachversta¨ndige sowie Zeitschrift fu¨r Evidenz, Fortbildung und Qualita¨t im Gesundheitswesen. Die Bildungsarbeit wird abgerundet durch die Herausgabe des MDK-Forums, des viermal ja¨hrlich erscheinenden Magazins der MDK-Gemeinschaft, der Versand von Newslettern sowie die Edition themenspezifischer Schriften einzelner Medizinischer Dienste. Exemplarisch sein genannt: Geriatrie [MDK Bayern 2008b], Die Soziale Pflegeversicherung [MDK Bayern 2008a], Qualita¨t in der Altenpflege [Weibler / Zieres 2005], Herausforderung Demenz [Zieres / Weibler 2007]. ¢ber die bereits oben genannten Informationsdatenbanken InfoMeD-KK und SINDBAD hinaus gestalten die Medizinischen Dienste in ihren Internetauftritten speziell auf die Sozialleistungstra¨ger und auch auf deren Versicherte zugeschnittene Seiten. Dort findet man nicht nur ausfu¨hrliche Angaben zum Fortbildungsprogramm, sondern zielgruppenspezifisch aufbereitete Mitteilungen zu aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen, Hinweise zum Begutachtungsverfahren sowie sozialmedizinische Basisinformationen.
12 Ausblick
12.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen unter demografischepidemiologischen Aspekten Ulrich Mueller Bei der Planung der pflegerischen Versorgung der Bevo¨lkerung und der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung gilt es die demografische Entwicklung und epidemiologische Forschungsergebnisse zu beru¨cksichtigen. Die Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen – fortan: der Pflegebevo¨lkerung – wird entscheidend von folgenden fu¨nf Einflussgro¨ßen bestimmt: 1. Altersaufbau der Bevo¨lkerung: Alter ist die wichtigste Determinante von Pflegebedu¨rftigkeit. 2. Kohorteneffekte: Ju¨ngere Geburtskohorten ko¨nnten im selben hohen Alter weniger pflegebedu¨rftig sein als ihre Vorga¨nger. 3. Informelle soziale Unterstu¨tzung der von Pflegebedu¨rftigkeit bedrohten Bevo¨lkerung: Wer soziale Unterstu¨tzung hat, braucht weniger professionelle Pflege. 4. Entwicklung der Medizin: Es ko¨nnten die Pra¨valenzen von Pflegebedu¨rftigkeit verursachenden Krankheiten gesenkt werden. 5. Die Entwicklung der Technik: Es ko¨nnte die Pflegebedu¨rftigkeit gesenkt werden, indem schwindende natu¨rliche Fa¨higkeiten technisch substituiert werden durch Sinnesfa¨higkeiten, Mobilita¨t, Ko¨rperpflege usw. unterstu¨tzende Techniken. Dieser Beitrag wird sich aus demografischer Sicht ausfu¨hrlich mit den ersten drei Einflussgro¨ßen befassen.
12.1.1 Altersaufbau der Bevo¨lkerung Eine vielfach verwendete Berechung der alters- und geschlechtsspezifischen Anteils an Pflegebedu¨rftigen (Pflegebedu¨rftigkeitsrisiko) in Deutschland durch das Robert Koch-Institut basiert auf Daten aus dem Jahr 2002 (siehe Abb. 12.1 und Tab. 12.1). Ha¨lt man diese alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedu¨rftigkeitsrisikos konstant, so lassen sich unschwer aus der Bevo¨lkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes die alters- und geschlechtsspezischen Fallzahlen der Pflegebevo¨lkerung, womo¨glich auch noch nach Pflegestufen, vorausberechnen wenn man auch dabei von einem konstanten alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedu¨rftigkeitsrisiko ausgeht. Das Gutachten der Kommission fu¨r die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme [BMGS 2003] kam unter der Annahme konstanter altersund geschlechtsspezifischer Pflegebedu¨rftigkeitsrisikos zu den in der Tab. 12.2 aufgefu¨hrten Projektionen u¨ber die Gesamtzahl der Bezieher von Pflegeleistungen, die mit allen Pflegebedu¨rftigen gleichgesetzt wurden.
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12 Ausblick
Pflegebedürftigkeit (%)
60
Männer Frauen
40
20
0
0 –15 15 –19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89
90+
Altersklasse
Abb. 12.1: Anteil der Pflegebedu¨rftigen an der Bevo¨lkerung im Jahr 2002 nach Alter und Geschlecht in Prozent [Pick et al. 2004].
12.1.2 Kohorteneffekte Diese Projektionen sind der Ausgangspunkt fu¨r die Untersuchung der zweiten Einflussgro¨ße, na¨mlich einer graduellen Aba¨nderung dieses Profils des alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedu¨rftigkeitsrisikos in der Abfolge von Geburtskohorten. Im praktischen Forschungsprozess heißt das: Erst werden Vorausberechnungen auf der Basis eines konstanten Profils angestellt, diese mit der tatsa¨chlichen Entwicklung verTabelle 12.1: Anteil der Pflegebedu¨rftigen an der Bevo¨lkerung im Jahr 2002 nach Alter und Geschlecht in Prozent [Pick et al. 2004]. Altersgruppe
Ma¨nner
Frauen
Gesamt
unter 15 15–unter 20 20–unter 25 25–unter 30 30–unter 35 35–unter 40 40–unter 45 45–unter 50 50–unter 55 55–unter 60 60–unter 65 65–unter 70 70–unter 75 75–unter 80 80–unter 85 85–unter 90 90 und a¨lter
0,6 0,7 0,5 0,5 0,4 0,5 0,5 0,6 0,7 1,1 1,7 2,8 4,8 8,1 14,7 27,7 37,5
0,5 0,5 0,4 0,4 0,4 0,4 0,5 0,6 0,7 1,0 1,4 2,4 4,7 9,8 20,5 40,7 62,7
0.6 0.6 0.4 0.4 0.4 0.4 0.5 0.6 0.7 1.0 1.5 2.6 4.7 9.2 18.7 37.4 57.0
1.6
3.2
2.4
Gesamt
12.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen
| 221
Tabelle 12.2: Projizierte Gesamtzahl der Pflegebedu¨rftigen in Deutschland. Projektionen dieser Art existieren fu¨r viele La¨nder. Jahr
Anzahl (in Millionen)
2010 2020 2030 2040
2.1 2.6 3.1 3.4
glichen und dann die dahinterstehende Modifikation des Profils in der Abfolge von Kohorten abgescha¨tzt. Eine denkbare breite Debatte hat sich seit den Publikationen von Fries mit der Frage befasst, wie sich die globale Lebensverla¨ngerung auf die Phase der pra¨mortalen Morbidita¨t auswirkt [Fries 1980, Fries 2003]: ¢ Extension: Die zusa¨tzlichen Lebensjahre werden u¨berproportional in schlechter Gesundheit und damit gestiegener Pflegebedu¨rftigkeit verbracht. ¢ Postponement: Die Dauer der pra¨mortalen Morbidita¨t ist unvera¨ndert, aber sie beginnt proportional spa¨ter im Leben. ¢ Compression: Die pra¨mortale Morbidita¨t verku¨rzt sich absolut; der Gewinn an gesunder Lebenserwartung ist u¨berproportional gro¨ßer als der allgemeine Gewinn an Lebenserwartung. Bei allen Kontroversen u¨ber Detailfragen herrscht doch ein wachsender Konsensus, dass in den entwickelten reichen Gesellschaften am meisten fu¨r das Muster der „Compression“ spricht. Daraus folgt, dass die Pflegebedu¨rftigkeit nicht proportional, sondern nur subproportional mit der Lebensverla¨ngerung zunimmt. In langfristiger Perspektive ist dies etwa fu¨r die USA [Freedman et al. 2002, Murabito et al. 2008, Schoeni et al. 2008], Da¨nemark [Christensen et al. 2008], Holland [Puts et al. 2008] und Deutschland [Ziegler / Doblhammer 2005] belegt. Eine vergleichende OECD-Studie von 2007 u¨ber zwo¨lf reiche La¨nder kommt zu der demgegenu¨ber ernu¨chternden Einscha¨tzung, dass nur fu¨r fu¨nf von ihnen (Da¨nemark, Finnland, Italien, Niederlande und den USA) ein langfristiger Trend zu weniger Pflegebedu¨rftigkeit belegt sei, in Belgien, Japan und Schweden seien eher zunehmende Pra¨valenzen belegt, Australien und Kanada zeigten keine Vera¨nderungen, Frankreich und Großbritannien bo¨ten widerspru¨chliche Befunde [Lafortune / Balestat 2007]. Eine naheliegende Folgerung wa¨re nun, diese bei ju¨ngeren Geburtskohorten zu beobachtenden Verlangsamung der Tendenz zur Pflegebedu¨rftigkeit mit steigendem Alter ihrerseits quantitativ zu extrapolieren. Bislang haben aber solche ¢berlegungen noch keine weite Anwendung gefunden. Die Datenbasis fu¨r solche Abscha¨tzungen ist wohl noch zu unsicher. So ist gegenwa¨rtig nur zu vermuten, dass die Projektionen im Gutachten der Kommission fu¨r die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme von 3,1 Millionen Pflegebedu¨rftigen fu¨r das Jahr 2030 und 3,6 Millionen fu¨r das Jahr 2040 zu pessimistisch sind: Auch bei Eintreffen der zugrundliegenden Bevo¨lkerungsfortschreibung werden weniger Menschen pflegebedu¨rftig sein. Eine mittlere, konservativ-optimistische Annahme ko¨nnte sein, dass das Pflegebedu¨rftigkeitsrisiko u¨ber das ganze Leben auch bei wachsender Lebenserwartung konstant bleibt, so dass also bei konstantem Bevo¨lkerungsumfang auch der Anteil der Pflegebedu¨rftigen konstant bleibt, sofern der Anstieg der Lebensdauer die relative Verteilung
222
|
12 Ausblick
der Altersklassen nicht massiv vera¨ndert. Diese ¢berlegung fu¨hrt, da letzteres sicher keine realistische Annahme ist, unmittelbar zur na¨chsten Einflussgro¨ße.
12.1.3 Die Population der Pflegepersonen Die Mehrzahl der Pflegebedu¨rftigen will im vertrauten ha¨uslichen Umfeld durch ihnen nahestehende Menschen und weniger durch professionelle kostspielige Kra¨fte versorgt werden. Die Pflegeversicherung in Deutschland wie in vielen anderen La¨ndern tra¨gt dem Rechnung, indem sie ambulante vor stationa¨rer und informelle vor professioneller (formeller) Pflege fo¨rdert. Von den anerkannt Pflegebedu¨rftigen werden zwei Drittel (etwa 1,4 Millionen) zu Hause und ein Drittel (etwa 0,7 Millionen) in einem Pflegeheim gepflegt. Die zu Hause gepflegten Personen sind zu 56,0 Prozent in die Pflegestufe I eingestuft. Der Anteil der Empfa¨nger der Pflegestufe II liegt in der ha¨uslichen Pflege bei 34,0 Prozent und der Anteil der Pflegestufe III bei 10,0 Prozent. Bei den Leistungsempfa¨ngern in stationa¨ren Pflegeeinrichtungen sind in Pflegestufe I 37,7 Prozent, in Pflegestufe II 41,8 Prozent und in Pflegestufe III 20,4 Prozent. Grundsa¨tzlich gilt, dass Pflegebedu¨rftige um so ha¨ufiger in einem Pflegeheim gepflegt werden, je ho¨her die Pflegestufe ist. Insgesamt zeigt sich fu¨r die letzten Jahre eine leichte Verschiebung in Richtung auf die professionelle und stationa¨re Pflege [Lampert et al. 2005]. Pflegende Angeho¨rige sind in erster Linie Frauen, die zu 80 Prozent die Hauptpflegepersonen darstellen; von den Hauptpflegepersonen ist jede zweite im Alter zwischen 40 und 64 Jahren. Bei den in der Deutschen Rentenversicherung (DRV) pflichtversicherten Pflegepersonen handelt es sich zu mehr als 90 Prozent um Frauen. Die Beziehung dieser Frauen zur/m Pflegebedu¨rftigen ist in absteigender Ha¨ufigkeit Ehefrau, Tochter, Schwiegertochter. Demografisch la¨sst sich die Population der nicht professionell Pflegenden (informal care givers) auf die Population der Pflegebedu¨rftigen (a) rein quantitativ beziehen: der Umfang der Population mit dem ho¨chsten Anteil an Pflegebedu¨rftigen bezogen auf die Population mit dem ho¨chsten Anteil an nicht-professionell Pflegenden; und (b) durch die Ha¨ufigkeit von mo¨glichen informellen Pflegeverha¨ltnissen: bestehende Ehen, Zahl der erwachsenen Kinder. Da sich letzteres nur sehr unvollkommen in der amtlichen demografischen Statistik abbilden la¨sst, wird man hier die deskriptiven Befunde aus Stichprobenerhebungen hochrechnen. Weiter verbreitet ist freilich der erste Ansatz. Konventionell wird die Bevo¨lkerung dreigeteilt: (a) noch nicht wirtschaftlich aktive bis 20 Jahre; (b) wirtschaftlich aktive 20–65 Jahre; (c) wirtschaftlich nicht mehr aktive Bevo¨lkerung ab 65 Jahren. Dementsprechend wird entweder die Jugendlastquote a/b, die Alterslastquote c/b oder die allgemeine Abha¨ngigkeitsquote (a+c)/b als Maß der Belastung der wirtschaftlich aktiven Bevo¨lkerung durch das Erbringen von Transferleistungen zugunsten der Jungen und der Alten berechnet. Bedenkenswert ist folgender Ansatz [Robine et al. 2007]: Aufbauend auf vorangegangenen Vorschla¨gen definieren die Autoren eine Oldest Old Support Ratio: die Zahl der u¨ber 85 Jahre Alten bezogen auf die Zahl der 50–74 Ja¨hrigen – die maximal pflegebedu¨rftige Population bezogen auf maximal informelle Pflegeleistungen erbringende Population. Die Autoren belegen an einem Vergleich der u¨blichen Abha¨ngigkeitsquote mit der von ihnen vorgeschlagenen Oldest Old Support Ratio fu¨r die
12.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen
| 223
Tabelle 12.3: Entwicklung der Abha¨ngigkeitsquote und der Oldest Old Support Ratio in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Amerika [Robine et al. 2007]. Jahr
1890 1910 1930 1940 1950 1970 1990 2010* 2030* 2050*
Abha¨ngigkeitsquote
Oldest old support ratio
Schweiz
USA
Schweiz
USA
0.90 0.87 0.68 0.64 0.67 0.73 0.62 0.65 0.82 0.98
NA NA NA NA NA 0.92 0.70 0.69 0.88 0.91
139.7 111.8 101.0 96.0 68.9 37.9 16.2 8.7 6.6 3.5
NA NA NA NA NA 30.9 16.8 9.9 8.1 4.1
* Projektionen
Schweiz und die USA, um wie viel aussagekra¨ftiger der von ihnen vorgeschlagene Indikator ist – und wie dramatisch sich die Belastung einer Altersgruppe durch eine andere durch den demografischen Wandel vergro¨ßert hat und weiter vergro¨ßern wird. Als na¨chste Verfeinerung der Analyse bietet sich an abzuscha¨tzen, welche Anteile der besonders pflegebedu¨rftigen Population denn tatsa¨chlich Zugang zu informeller Pflege haben: Dies sind Menschen mit Ehepartnern – nach Mo¨glichkeit ju¨ngere Ehepartner – sowie mit Kindern. Solche Verfeinerungen existieren freilich erst in Ansa¨tzen – etwa die sehr beachtenswerte Studie von Grundy und Jitlal. Sie untersuchten in den Jahren 1991 und 2001 an einer repra¨sentativen Stichprobe aus England und Wales 36.650 Personen, die 1991 65 Jahre und a¨lter waren und nicht in Institutionen lebten, welche soziodemografischen Faktoren mit einer erho¨hten Wahrscheinlichkeit einhergingen, 2001 in einer Institution zu leben. Dies traf auf 4,3 Prozent der Ma¨nner und 9,3 Prozent der Frauen zu. Bei einer Unterstichprobe von 18.951 Frauen, die 1991 zwischen 64 und 79 Jahre alt waren, konnte auch noch der Einfluss der Kinderzahl auf dieses Risiko erhoben werden. Wie zu erwarten, waren Gesundheitsprobleme und hohes Alter die wichtigsten dieser Risikofaktoren. In zweiter Linie folgten: wer 1991 nicht in einer eigenen Immobilie lebte, wer 1991 alleine lebte, wer 2001 nicht verheiratet war [Grundy / Jitlal 2007]. Alle diese Einflu¨sse waren sta¨rker bei Frauen als bei Ma¨nnern. Kinderlose Frauen hatten dazu ein 25 Prozent ho¨heres Risiko als Frauen mit Kindern, zwischen 1991 und 2001 in eine Pflegeeinrichtung zu u¨bersiedeln. Aufschlussreich ist die Pflegestatistik nach dem Stand vom 31. 12. 2007: Es werden 73 Prozent aller pflegebedu¨rftigen Ma¨nner, aber nur 63 Prozent aller pflegebedu¨rftigen Frauen ambulant d. h. zuhause gepflegt. 66 Prozent aller Ma¨nner, aber nur 41 Prozent aller Frauen in Pflegestufe III werden zuhause gepflegt; 74 Prozent aller Ma¨nner, aber nur 55 Prozent aller Frauen in Pflegestufe II werden zuhause gepflegt; 77 Prozent aller Ma¨nner, aber nur 73 Prozent aller Frauen in Pflegestufe I werden zuhause gepflegt [BMG 2008, eigene Berechnungen]. Der Anteil Kinderloser unter Ma¨nnern ist auch unter den durch den zweiten Weltkrieg dezimierten Ma¨nnerkohorten, die deshalb ungewo¨hnlich gute Familiengru¨n-
224
|
12 Ausblick
dungschancen hatten, immer noch gro¨ßer als unter gleichaltrigen Frauen (in allen bekannten Gesellschaften variiert die Familiengro¨ße bei Ma¨nnern sta¨rker als bei Frauen). Auch ist von einer geringeren Bereitschaft von Kindern zur ha¨uslichen Pflege von Va¨tern im Vergleich zur ha¨uslichen Pflege von Mu¨ttern nichts bekannt. Daher du¨rfte die Hauptursache fu¨r die ho¨heren Chancen von Ma¨nnern aller Pflegestufen, zu Hause gepflegt zu werden, in der ho¨heren Pra¨valenz bestehender Ehen bei a¨lteren Ma¨nnern zu suchen sein. Diese sind im Durchschnitt sowohl etwas a¨lter als ihre Ehepartnerinnen und haben auch eine ku¨rzere Lebenserwartung als Frauen. Dieser Effekt ist auch noch sta¨rker als der Umstand, dass im mittleren Lebensalter der Anteil nicht (noch nie und nicht mehr) Verheirateter bei Ma¨nnern gro¨ßer ist als bei Frauen [Dinkel / Milenovic 1992].
12.1.4 Die Entwicklung der Medizin Auch hierzu sind einige solide Projektionen mo¨glich: Beispielsweise ist der Schlaganfall die ha¨ufigste im Erwachsenenalter auftretende und in vielen Fa¨llen vermeidbare Behinderung mit Pflegebedu¨rftigkeit. Die Pra¨valenz des Bluthochdrucks in Deutschland wird in der Literatur mit um die 50 Prozent der Erwachsenen angegeben, ansteigend von 10 % bei 18–39ja¨hrigen auf 55 % bei u¨ber 65 Jahre alten [Janhsen et al. 2008]. Davon sind in Deutschland ho¨chstens die Ha¨lfte behandelt und davon wiederum ho¨chstens ein Viertel erfolgreich. Durch eine konsequente antihypertensive Behandlung ko¨nnten scha¨tzungsweise innerhalb von zwei bis drei Jahren ungefa¨hr 40 Prozent aller Schlaganfa¨lle vermieden werden [DHL 2000]. Etwa ein Drittel aller Schlaganfall-Patienten stirbt im Verlauf des ersten Jahres nach diesem Ereignis. Insgesamt erleiden in den ersten zwei Jahren nach einem Schlaganfall zirka 16 Prozent aller ¢berlebenden einen erneuten Schlaganfall. Ein Jahr nach erstmaligen Schlaganfall waren 40 Prozent aller ¢berlebenden auf keinerlei Unterstu¨tzung bei den Aktivita¨ten des ta¨glichen Lebens angewiesen. Etwa ein Drittel der u¨berlebenden Schlaganfallpatienten jedoch musste 12 Monate nach dem Ereignis in ihrer ha¨uslichen Umgebung gepflegt werden. Hierbei wurde die Ha¨lfte dieser Personen nur durch nahe Angeho¨rige gepflegt, die andere Ha¨lfte war auf zusa¨tzliche Pflege durch professionelle Hilfsdienste angewiesen. 20 Prozent aller ¢berlebenden mussten ein Jahr nach Schlaganfall in einer Einrichtung (Alten- oder Pflegeheim) versorgt werden. Die Gesamtzahl der als Folge eines Schlaganfall dauerhaft beeintra¨chtigten Menschen in Deutschland wird auf rund eine Million gescha¨tzt, bei etwa 100.000–110.000 Zuga¨ngen pro Jahr. ¢ber die Altersverteilung der Betroffenen ist einiges bekannt: Ma¨nner sind durchschnittlich 70 Jahre, Frauen 75 Jahre alt. In anderen La¨ndern – zum Beispiel in Italien, Kanada oder den USA – ist der Anteil der bekannten, der behandelten und auch der erfolgreich behandelten Hypertonie deutlich ho¨her. Aus solchen Zahlen ließe sich durchaus belastbar die Reduktion der Pflegebevo¨lkerung in Deutschland durch eine in realistischem Umfang – na¨mlich nach dem Vorbild hier besser aufgestellter anderer La¨nder – verbesserte Blutdruckbehandlung abscha¨tzen. Nach diesem Vorbild ko¨nnten dann auch noch die Reduktion von Pflegebedu¨rftigkeit durch andere Pra¨ventivmassnahmen quantitativ abgescha¨tzt werden. Das „Global Burden of Disease Project“ der WHO wa¨re grundsa¨tzlich dazu geeignet, wenn man die durch die ha¨ufigen Risikofaktoren verursachten Verluste von menschlicher Lebenszeit durch vorzeitigen Tod (Potential Years of Life Lost: PYLL) und durch Leben mit Beeintra¨chtigung (Years Lived with Disability = YLD) separieren
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
| 225
ko¨nnte und aus dem Quantum der Verlust von Lebenszeit in ganzen Populationen durch YLD den Umfang der Pflegebevo¨lkerung erschließen ko¨nnte. Diese Zahlen mu¨ssten in der Datenbasis dieses Großprojektes grundsa¨tzlich enthalten sein, sind aber in den Vero¨ffentlichungen des Global Burden of Disease Projects im Allgemeinen nicht enthalten [Lopez et al. 2006].
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung Reiner Kasperbauer und Harold Engel Die Leistungen der Pflegeversicherung haben zu einer erheblichen Verbesserung der Pflegeinfrastruktur sowohl im ambulanten als auch im stationa¨ren Sektor und zur Schaffung von rund 200.000 zusa¨tzlichen Arbeitspla¨tzen in der Pflege gefu¨hrt. Hier ist von einem steigenden Bedarf auszugehen. Die pflegebedingte Abha¨ngigkeit von der Sozialhilfe konnte zuna¨chst deutlich reduziert werden, nimmt jedoch seit einigen Jahren mit weiterhin steigender Tendenz wieder zu. Durch die u¨ber mehr als zwo¨lf Jahre festgeschriebenen Leistungsbetra¨ge der Pflegeversicherung trat im Laufe der Zeit durch die Steigerung der Pflegevergu¨tungen und die allgemeine Inflation eine Wertminderung der Leistungen ein, die Forderungen nach Leistungsanpassungen zunehmend gerechtfertigt erscheinen ließ, zumal es sich bei den Leistungen von Anfang an um pauschalierte, nicht kostendeckende Geld- bzw. Sachleistungen handelte, deren Unterdeckungsanteil von Jahr zu Jahr zunahm. Eine Reform und Weiterentwicklung der Pflegeversicherung hat neben einer Leistungsanpassung und strukturellen Akzentsetzungen insbesondere auch Lo¨sungen fu¨r eine nachhaltige Finanzierung in Anbetracht der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung und der bereits in den letzten Jahren zunehmenden defizita¨ren Finanzentwicklung aufzuzeigen. Mit dem zum 01. 07. 2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurde ein Reformwerk auf den Weg gebracht, das nicht nur Leistungsverbesserungen sondern auch in mehreren Punkten eine strukturelle Neuausrichtung beinhaltet, die es bei einer perspektivischen Bewertung einzubeziehen gilt. Fu¨r die Zukunft bleiben trotz aller Verbesserungen vielfa¨ltige Herausforderungen bestehen, die in diesem Kapitel perspektivisch dargestellt werden.
12.2.1 Demografische Entwicklung und Finanzierung Die Bevo¨lkerungsentwicklung wird bis zum Jahr 2050 nach der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes dadurch gekennzeichnet sein, dass mit einer kontinuierlichen Alterung der Bevo¨lkerung zu rechnen ist. Die Zahl der a¨lteren Menschen wird zunehmen, insbesondere die Zahl der Hochaltrigen wird u¨berproportional steigen. Fu¨r die Zeit nach dem Jahr 2020 wird eine Abnahme der Gesamtbevo¨lkerung erwartet mit u¨berproportionalem Ru¨ckgang der Altersgruppen im Erwerbsalter (siehe Tab. 12.4). Nach der mittleren Variante der 10. koordinierten Bevo¨lkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Gesamtbevo¨lkerung bis 2050 gegenu¨ber 2003 um etwa 9 Prozent zuru¨ckgehen, die Bevo¨lkerung im Erwerbsalter dagegen voraussichtlich u¨berproportional um fast 20 Prozent schrumpfen, wa¨hrend die Anzahl der u¨ber 65-Ja¨hrigen und der u¨ber 80-Ja¨hrigen in diesem Zeitraum um anna¨-
226
|
12 Ausblick
Tabelle 12.4: Entwicklung der Bevo¨lkerungszahl und des Anteils a¨lterer Menschen in Deutschland 1953–2050. Die Angaben fu¨r die Jahre 2020 und 2050 sind Scha¨tzwerte auf der Grundlage der 10. koordinierten Bevo¨lkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, Variante 5. Bevo¨lkerungszahl Alter In Jahren
Kalenderjahr 1953
Zu-/Abnahme 1971
2003
2020
2050
Insgesamt 70.565.928 78.556.202 82.531.671 82.882.100 75.117.300 20 bis 41.786.897 44.083.040 50.767.361 50.050.823 40.783.328 unter 65 J. 65 J. und a¨lter 7.314.832 10.995.701 14.859.995 18.219.000 22.240.200 80 J. und a¨lter 825.713 1.575.056 3.448.363 3.448.363 9.124.700 90 J. und a¨lter 33.934 109.414 598.227 882.900 1.904.500
1953–2003 2003–2050 17,0 % 21.5 %
¢9,0 % ¢19,7 %
103,1 % 317,6 % 1662,9 %
49,7 % 164,6 % 218,4 %
Anteil der Altersgruppen an der Bevo¨lkerung (in Prozent) Alter In Jahren
Kalenderjahr
Zu-/Abnahme
1953
1971
2003
2020
2050
1953–2003 2003–2050
20 bis 59,2 unter 65 J. 65 J. und a¨lter 10,4 80 J. und a¨lter 1,4 90 J. und a¨lter 0,1
56,1
61,5
60,4
54,3
þ2,3 %Pkte
14,0 2,0 0,1
18,0 4,2 0,7
21,9 6,9 1,1
29,6 12,2 2,5
þ7,6 %Pkte þ11,6 %Pkte þ3,0 %Pkte þ8,0 %Pkte þ0,7 %Pkte þ1,8 %Pkte
Altersquotient 17,5
24,9
29,3
36,4
54,5
67,2 %
¢7,2 %Pkte
86,3 %
Quellen: GeroStat – Deutsches Zentrum fu¨r Altersfragen, Berlin; Statistisches Bundesamt 1996/2003.
hernd 50 Prozent bzw. 164 Prozent zunehmen wird. Der Altersquotient, d. h. der Bevo¨lkerungsanteil im Alter von 65 und mehr Jahren je 100 der 20- bis 64-Ja¨hrigen wird im Zeitraum von 2003 bis 2050 von 29,3 Prozent auf 54,5 Prozent ansteigen (siehe Tab. 12.4). Da die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Pflegebedu¨rftigkeit mit zunehmendem Alter zunimmt (siehe Abb. 12.2), gehen die prognostischen Einscha¨tzungen zur Entwicklung der Anzahl der Pflegebedu¨rftigen davon aus, dass mit einem Anstieg von derzeit etwa 2,2 Millionen Pflegebedu¨rftigen auf 2,6 Millionen im Jahr 2020 und auf u¨ber 4 Millionen bis zum Jahr 2050 zu rechnen ist. Ihre ja¨hrlichen Defizite deckt die soziale Pflegeversicherung seit 1999 durch den Abbau des in den Startjahren aufgebauten Kapitalstocks. Dieser wurde im Wesentlichen durch den dreimonatigen Vorlauf der Beitragspflicht vor den Leistungsanspru¨chen angesammelt, betrug bis zum Jahresende 1999 fast 5 Milliarden Euro und zum Jahresende 2007 nur noch 3,18 Milliarden Euro. Von Sondereffekten wie einer Darlehensru¨ckzahlung durch den Bund und vorgezogener Beitragsfa¨lligkeiten abgesehen, gab es ja¨hrliche Ausgabenu¨berha¨nge, obwohl die Beitragseinnahmen von 16,1 Milliarden Euro in 1999 auf fast 17,9 Milliarden Euro in 2007 stiegen und zugleich die Leistungsho¨chstbetra¨ge unvera¨ndert blieben, also faktisch einer Entwertung unterlagen. Auch der nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingefu¨hrte soge-
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
| 227
70
Männer Frauen
50
Quelle: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2003
Pflegefallwahrscheinlichkeit (%)
60
40 30 20 10 0
60
60–64 65–69 70–74 75–79 80–94 85–89 90–94
95+
Altersgruppen
Abb. 12.2: Geschlechtsspezifische Pflegewahrscheinlichkeit in Prozent fu¨r verschiedene Altersgruppen.
nannte generative (Ersatz-)Beitrag der Kinderlosen fu¨hrte nicht zu einem bilanziellen Ausgleich. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 1. 7. 2008 wird der Beitragssatz um 0,25 Punkte angehoben, was eine ja¨hrliche Mehreinnahme von 2,5 Milliarden Euro erwarten la¨sst. Ob damit die vorgenommenen Leistungsverbesserungen, allen voran die stufenweise Anhebung der Leistungsbetra¨ge bis 2012 finanziert sind, ko¨nnte erstmals die Bilanz des Jahres 2009 signalisieren. Im Generationenvertrag der sozialen Pflegeversicherung besteht ein Leistungsversprechen an die heutigen Beitragszahler fu¨r eine Risikoverwirklichung in deren Zukunft, das die Beitragszahler von morgen zu erfu¨llen haben. Die Konstruktion tra¨gt im generativen Gleichgewicht von Beitragszahlern und Leistungsempfa¨ngern bzw. in der finanziellen Deckung der versicherten Pflegekosten durch das Beitragsaufkommen. Erweiterungen des Leistungsumfangs haben also nicht nur aktuelle Wirkungen auf die Versorgung, sondern schreiben sich als Erwartungen an die eigene Absicherung in die Zukunft. Das Kapitaldeckungsprinzip der privaten Pflege-Pflichtversicherung kann sich dieser Logik ebenfalls nicht entziehen. Die Pra¨mienkalkulation mit kollektiven Eigenvorsorgeanteilen muss das Risiko der Zukunft decken und eine sichere Kapitalanlage mit bestimmten Renditeerwartungen voraussetzen. Die im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vorgesehene Dynamisierung der Versicherungsleistungen ist damit nicht nur eine Akzeptanzfrage fu¨r diese Versicherung, sondern sichert die Werthaltigkeit der Versicherungsanspru¨che und damit die eigene Versorgung. Ohne Dynamisierung wu¨rde die Kaufkraft fu¨r Pflegeleistungen im Vergleich zu Preisen des Jahres 2007 und bei einer jahresdurchschnittlichen Inflationsrate von 1,5 Prozent bis 2030 um u¨ber 25 Prozent und nach 2050 um u¨ber 50 Prozent abnehmen. Fu¨r die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung in der Zukunft sind nicht nur die Demografie, die ku¨nftige Wirtschaftsleistung (insbesondere die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Bescha¨ftigungsverha¨ltnisse und Ho¨he der Lo¨hne, Geha¨lter und Renten) und die Inflationsrate von Bedeutung, sondern auch die ku¨nftige Anzahl der Leistungsempfa¨nger, die Dynamisierungsregeln fu¨r die Versicherungsleistungen sowie die Strukturkomponente – die Verschiebung des Inanspruchnahmeverhaltens von der Geld- zur Sachleistung und zur stationa¨ren Pflege – zu betrachten. Weitere gesetz-
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12 Ausblick
geberische Maßnahmen, wie z. B. die Wirkungen eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs auf Anspruchsberechtigungen und Anspruchsho¨hen, ko¨nnen derzeit u¨berhaupt nicht serio¨s in ihren Zukunftswirkungen kalkuliert werden. In einer internen Modellrechnung des AOK-Bundesverbandes aus dem Jahr 2007 – also vor den ¥nderungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes – wird in der Spitze von 2,7 Millionen Leistungsempfa¨ngern ausgegangen. Diese Zahl beru¨cksichtigt, dass es nicht auf die Weiterentwicklung der statistisch als Fa¨lle geza¨hlten Ha¨ufigkeiten ankommt. So wird statistisch ein Pflegebedu¨rftiger dann als zwei Fa¨lle ausgewiesen, wenn er ho¨her gestuft wurde. Auch du¨rfen nur die Menschen beru¨cksichtigt werden, die in Zukunft dem Umlagesystem zugeordnet sind. Bei einer Leistungsdynamisierung von 1,5 Prozent la¨gen die Ausgaben im Maximum bei 45 Milliarden Euro und der Ausgaben deckende Beitragssatz stiege auf 3,8 Prozent. Bei einer Dynamisierung von 2,25 Prozent erga¨ben sich Ausgaben von 60 Milliarden Euro mit einem Beitragssatz von u¨ber 5,5 Prozent. Eine Dynamisierung, besonders oberhalb des Zuwachses der Grundlohnsumme, ist fu¨r die zuku¨nftige Finanzierbarkeit wahrscheinlich eine gro¨ßere Herausforderung als die Demografie. Grundlohnentwicklung und Kaufkraftverluste der Versicherungsleistung ohne Dynamisierung ko¨nnten zum gro¨ßten Teil die wachsende demografische Belastung kompensieren. Angesichts der Unwa¨gbarkeiten und der gesetzten Annahmen fu¨r eine weit in die Zukunft reichende Prognose bis 2050 gibt es natu¨rlich andere Szenarien, die zu steileren Profilen fu¨hren. Die Demografie, die Dynamisierung und die versicherten Pflegekosten werden die Art und den Umfang der notwendigen Zukunftsvorsorge bestimmen. Jedoch muss auch die aktuelle Leistungskraft der Wirtschaft und der privaten Haushalte beru¨cksichtigt werden. Zu den kurzfristigen Finanzierungsu¨berlegungen geho¨rt(e) die Zusammenlegung von gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung. ¢berwiegend als notwendige Schnittstellenbereinigung thematisiert, fu¨hrt dieser Organisationsvorschlag jedenfalls zu keiner verbesserten Finanzierungsperspektive. Im Gegenteil, der verbliebene Kapitalstock wu¨rde von der GKV vereinnahmt und die systemische ¢bertragung des Ordnungsprinzips Bedarfsdeckung auf die fusionierte Pflegeversicherung wu¨rde deren Eigenschaft als Teilkostenversicherung praktisch beenden. Zu befu¨rchten wa¨ren eher neue Finanzierungsprobleme. Ein Finanzausgleich zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater PflegePflichtversicherung ko¨nnte auf Zeit Bilanzausgleiche bewirken. Der Solidarausgleich wu¨rde den Vorteil aus der Risikoselektion bei der Zugangsberechtigung zur privaten Pflege-Pflichtversicherung zuru¨ckfu¨hren. Gegenwa¨rtig ist das Verha¨ltnis von Leistungsempfa¨ngern zu Versicherten in der privaten Pflege-Pflichtversicherung nur halb so hoch wie in der sozialen Pflegeversicherung. Von 70,36 Millionen gesetzlich Versicherten waren 1,36 Millionen ambulant und 671.000 stationa¨r pflegebedu¨rftig. Hingegen waren von 9,3 Millionen, privat Pflichtversicherten nur 98.000 ambulant und 42.000 stationa¨r pflegebedu¨rftig [BMG: Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung auf einen Blick 1/09]. Verfassungsrechtliche Einwa¨nde und unterschiedliche ordnungspolitische Gesamtvorstellungen zu einer Bu¨rgerversicherung haben diese Option bisher verhindert. Eine sofort finanzwirksame, besitzstandsfreie Absenkung bzw. Angleichung der Leistungsho¨chstbetra¨ge fu¨r stationa¨re Pflege an das ambulante Leistungsbudget wa¨re im Hinblick auf den Vertrauensschutz und die no¨tige Anpassungszeit der Pflegeinfrastruktur nicht sinnvoll. Der Trend zum Pflegeheim ist zwar unverkennbar, jedoch nicht
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
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einfach durch eine scharfe Reduktion der Versicherungsleistung umkehrbar. Auch eine la¨ngerfristige Korrektur muss Antworten auf die Folgen fu¨r heimpflegebedu¨rftige Menschen geben. Ein Systemumstieg auf eine private Vorsorgepflicht im Rahmen eines Kapitaldeckungsverfahrens oder ein Systemausstieg mit der Ru¨ckkehr zur Eigenfinanzierung der Pflegebedu¨rftigkeit mit bedarfsabha¨ngigen staatlichen Unterstu¨tzungsleistungen bedarf der grundlegenden Antwort, ob dies die besseren Absicherungsvarianten fu¨r ein allgemeines Lebensrisiko sind. Jedenfalls sind mit diesen Optionen die Ausfinanzierung des jetzigen Umlagesystems und der Aufbau der eigenen Vorsorge durch dieselbe Generation verbunden. Hierzu gibt es zwar Vorschla¨ge einer Entscha¨rfung der Doppelbelastung. So ko¨nnten die im Umlagesystem verbleibenden Rentner mit deutlich ho¨heren Beitra¨gen eine Absenkung der Beitra¨ge derjenigen ermo¨glichen, die bereits in ihre Eigenvorsorge investieren mu¨ssen ohne noch Anspru¨che aus dem Umlagesystem zu haben. Bezu¨glich des Arbeitgeberbeitrages und der Erforderlichkeit von bedarfsabha¨ngigen Hilfesystemen fu¨r Menschen, die ihre Versicherungspra¨mien oder ihre Versorgung nicht bezahlen ko¨nnen, bestu¨nden auch noch viele Einzelprobleme. Es ist anzunehmen, dass ku¨nftig der Beitragssatz in der Pflegeversicherung kontinuierlich zu pru¨fen ist, wenn u¨ber die Ho¨he der Dynamisierung entschieden wird. Bis 2015 geht der Gesetzgeber von der Ausko¨mmlichkeit des Geldes nach der Beitragssatzerho¨hung zum 1. 7. 2008 aus. Fest steht, dass sich ein dauerhaft ho¨herer Anteil von Leistungsempfa¨ngern an potenziellen Beitragszahlern nicht mit einer Ru¨cklageauflo¨sung oder Demografiereserve untertunneln la¨sst. Dass die erga¨nzende Eigenvorsorge weiter betrieben und weiter steuerlich gefo¨rdert werden sollte, ist im Hinblick auf die Entwicklung der Pflegekosten selbstversta¨ndlich.
12.2.2 Perspektiven zur Entwicklung der Anzahl demenziell Erkrankter In Deutschland lebten im Jahr 2007 rund 1,1 Million Menschen mit Demenz. Bis zum Jahr 2030 wird sich diese Zahl auf rund 1,7 Millionen, bis zum Jahr 2050 auf u¨ber 2 Millionen erho¨hen [BMG 2007]. Unter Beru¨cksichtigung der Sterberate ist ja¨hrlich mit einer Zunahme um rund 20.000 demenziell Erkrankte zu rechnen. Die Pra¨valenz, d. h. die Anzahl der Kranken in der Bevo¨lkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, liegt in der Altersgruppe der 65–69-Ja¨hrigen bei 1,2 Prozent und steigt steil mit dem Alter an. In der Altersgruppe der 90-Ja¨hrigen liegt die Pra¨valenz bereits bei 34,6 Prozent. Abbildung 12.3 zeigt den Anteil der demenziell Erkrankten in den verschiedenen Altersgruppen [Bickel 2006]. Die Inzidenz, d. h. die Anzahl der zuvor gesunden Personen, die im Laufe eines Jahres an Demenz erkranken, steigt von 0,4 Prozent in der Altersgruppe der 65–69-Ja¨hrigen auf u¨ber 10 Prozent bei den u¨ber 90-Ja¨hrigen. In Deutschland ist ja¨hrlich mit mehr als 200.000 Neuerkrankungen zu rechnen, von denen 125.000 auf die Alzheimer-Demenz und ca. 75.000 auf andere Demenzformen entfallen [Bickel 2006, Staehelin 2004]. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, liegt bei Ma¨nnern, die ein Alter von 65 Jahren erreicht haben, bei 16 Prozent und bei Frauen – aufgrund ihrer ho¨heren Lebenserwartung – bei 34.5 Prozent. Das Alter ist der Hauptrisikofaktor fu¨r die Entwicklung einer Demenz.
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12 Ausblick 2500
2290 1922
Demenzkranke (Tsd.)
2000 1689 1416
1500 1163 1000
934
500 0
2000
2010
2020
2030
2040
2050
Jahr
Abb. 12.3: Entwicklung der Zahl der Demenzkranken (65 Jahre und a¨lter) [Bickel 2006].
Die ada¨quate Versorgung demenziell Erkrankter und anderer Personen mit eingeschra¨nkter Alltagskompetenz wird sich angesichts der in den kommenden Jahren zu erwartenden Zunahme der Betroffenen und der damit verbundenen Versorgungsprobleme zu einer zentralen Aufgabe der Pflegeversicherung entwickeln. Mit der Schaffung eines erweiterten Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs, der den spezifischen Hilfebedarf dieses Personenkreises besser beru¨cksichtigt als es die bisherige, mehr somatisch ausgerichtete Definition leistet, und einem darauf ausgerichteten Assessment, kann dann auch von gutachterlicher Seite dem entsprechend Rechnung getragen werden.
12.2.3 Perspektiven zur Weiterentwicklung der Vorrangigkeit der ambulanten Versorgung Von Beginn der Pflegeversicherung an kommt der ha¨uslichen Versorgung pflegebedu¨rftiger Menschen eine besondere Bedeutung zu. Im Jahr 2007 lebten von den u¨ber zwei Millionen pflegebedu¨rftigen Menschen 57 Prozent im eigenen Haushalt und wurden von Familienangeho¨rigen und anderen Pflegepersonen privater Netze vollsta¨ndig oder zum Teil versorgt. 19 Prozent der ambulant versorgten Pflegebedu¨rftigen wurden vollsta¨ndig oder teilweise von einem Pflegedienst gepflegt. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die ambulante Pflege in ha¨uslicher Umgebung die vorrangige Versorgungsform Pflegebedu¨rftiger darstellen. Dies kommt bereits in § 3 SGB XI zum Ausdruck: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die ha¨usliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angeho¨rigen und Nachbarn unterstu¨tzen“. Weiter heißt es unter Verweis auf die gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Verantwortung in § 8 Abs. 2 SGB XI: „Die La¨nder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen „. . .unterstu¨tzen und fo¨rdern . . . die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung . . . durch Angeho¨rige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen und wirken so auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hin“.
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
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Fu¨r ein Verbleiben von Pflegebedu¨rftigen in ha¨uslicher Umgebung u¨ber einen mo¨glichst langen Zeitraum ist die Bedeutung von Familie und anderen privaten Netzen unbestritten. Gefo¨rdert werden soll dieses Ziel, die Angebote fu¨r Pflegebedu¨rftige wohnortnah besser aufeinander abzustimmen, u. a. durch die mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingefu¨hrten Pflegeberater. Aufgabe der Pflegeberatung ist es nach dem Willen des Gesetzgebers insbesondere, 1. den Hilfebedarf unter Beru¨cksichtigung der Feststellungen der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung systematisch zu erfassen und zu analysieren, 2. einen individuellen Versorgungsplan mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfo¨rdernden, pra¨ventiven, kurativen, rehabilitativen oder sonstigen medizinischen sowie pflegerischen und sozialen Hilfen zu erstellen, 3. auf die fu¨r die Durchfu¨hrung des Versorgungsplans erforderlichen Maßnahmen einschließlich deren Genehmigung durch den jeweiligen Leistungstra¨ger hinzuwirken, 4. die Durchfu¨hrung des Versorgungsplans zu u¨berwachen und erforderlichenfalls einer vera¨nderten Bedarfslage anzupassen sowie 5. bei besonders komplexen Fallgestaltungen den Hilfeprozess auszuwerten und zu dokumentieren. Auf diese im Sinne eines Case Managements zu verstehende Pflegeberatung haben ab 01. 01. 2009 alle Personen Anspruch, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Die Pflegekassen sind verpflichtet, eine angemessene Anzahl von Pflegeberatern vorzuhalten, die eine zeitnahe und umfassende Beratung sicherstellt. Zu einem weiteren Eckpfeiler der ambulanten Versorgung Pflegebedu¨rftiger ist das ehrenamtliche bu¨rgerliche Engagement auszubauen. Ein wesentliches Element liegt hierbei in der Schaffung beteiligungsfreundlicher Institutionen. Damit sind o¨ffentliche Einrichtungen und kommunale Verwaltungen gefordert, aber auch Vereine und Verba¨nde aufgerufen, sich gegenu¨ber dem lokalen Umfeld zu o¨ffnen und dadurch die Entwicklung von Versorgungsnetzwerken zu fo¨rdern. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz sieht Fo¨rdermittel zum Ausbau ehrenamtlicher Strukturen und der Selbsthilfe im Pflegebereich vor. Daru¨ber hinaus gewinnen neue Wohn- und Betreuungsformen, z. B. Wohngemeinschaften, betreutes Wohnen, fu¨r eine Sta¨rkung der ha¨uslichen Pflege zunehmend an Bedeutung. Ha¨ufig ist nur dadurch ein Verbleiben in ha¨uslicher Umgebung oder zumindest in ambulanter Versorgung mo¨glich. Durch eine flexiblere Leistungsinanspruchnahme, z. B. durch „Poolen“ von Leistungsanspru¨chen, bei dem Anspru¨che auf Pflege- und Betreuungsleistungen sowie auf hauswirtschaftliche Versorgung gemeinsam mit weiteren Leistungsberechtigten in Anspruch genommen werden ko¨nnen, kommt der Gesetzgeber diesem Wunsch entgegen. Durch diese verschiedenartigen Maßnahmen und innovative Lo¨sungsansa¨tze erscheint es mo¨glich, die ambulante pflegerische Versorgungsstruktur soweit auszubauen, dass trotz ungu¨nstiger demografischer Entwicklung und abnehmender Tragfa¨higkeit familia¨rer Netze ein gro¨ßerer Anteil von Pflegebedu¨rftigen in ha¨uslicher Umgebung verbleiben kann als es gegenwa¨rtig der Fall ist. Damit wu¨rde dem Wunsch der weit u¨berwiegenden Mehrheit pflegebedu¨rftiger Menschen, so lange wie mo¨glich zu Hause und nicht in einem Pflegeheim versorgt zu werden, entsprochen.
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12 Ausblick
12.2.4 Rolle der Pra¨vention und Rehabilitation Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurde der Grundsatz „Pra¨vention und Rehabilitation vor und in der Pflege“ gesta¨rkt. Zu dessen Umsetzung wurde die Pflicht der Pflegekassen festgeschrieben, die rechtzeitige Einleitung geeigneter und zumutbarer rehabilitativer Maßnahmen durch den zusta¨ndigen Tra¨ger zu veranlassen. Daru¨ber hinaus wurde die Verpflichtung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung konkretisiert, in jedem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit unabha¨ngig von dessen Ergebnis eine Aussage dazu zu treffen, ob und welche geeigneten, notwendigen und zumutbaren Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Einzelfall geboten sind. Sofern der Versicherte einwilligt, wird mit der Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung das Verfahren zur Einleitung einer Rehabilitationsmaßnahme in Gang gesetzt. Fu¨r eine erfolgreiche Rehabilitationsmaßnahme ist neben der Motivation des Pflegebedu¨rftigen die passgenaue Auswahl der Art der Rehabilitation von Bedeutung. Oberstes Ziel hat hierbei die Wiedergewinnung bzw. Erhaltung der Selbsta¨ndigkeit bei den Verrichtungen des ta¨glichen Lebens zu sein. Fu¨r die Zukunft ist der Pra¨vention von Pflegebedu¨rftigkeit ein ho¨herer Stellenwert beizumessen. Studien zeigen, dass gesundheitsfo¨rdernde Maßnahmen dazu beitragen ko¨nnen, Pflegebedu¨rftigkeit bis ins hohe Alter zu vermeiden. Pra¨ventions- und Rehabilitationspotentiale werden nicht immer in ausreichenden Maße genutzt. Dies trifft auch hinsichtlich der Mo¨glichkeiten einer aktivierenden Pflege zu. Das pflegerische Selbstversta¨ndnis muss sich sta¨rker darauf ausrichten, Selbsta¨ndigkeit zu erhalten und wieder herzustellen.
12.2.5 Weiterentwicklung der Qualita¨t der pflegerischen Versorgung Fu¨r die pflegebedu¨rftigen Menschen ist die Qualita¨t der pflegerischen Versorgung von entscheidender Bedeutung. Trotz aller Anstrengungen in den Jahren seit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung ist es bisher nicht gelungen, ein zufriedenstellendes fla¨chendeckendes Qualita¨tsniveau in allen ambulanten und stationa¨ren Pflegeeinrichtungen zu erreichen. In der Mehrzahl der Pflegeeinrichtungen wird zwar eine gute Pflege durchgefu¨hrt bzw. auf angemessenem Qualita¨tsniveau gepflegt. Trotzdem wird auch derzeit noch eine nicht zu vernachla¨ssigende Zahl von Pflegebedu¨rftigen defizita¨r versorgt. Als Problembereiche fielen bei den Qualita¨tspru¨fungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung insbesondere die Dekubitusprophylaxe und -therapie, die Erna¨hrungs- und Flu¨ssigkeitsversorgung, die Inkontinenzversorgung und die gerontopsychiatrische Versorgung auf. Ursachen dieser Defizite waren ha¨ufig eine unzureichende Pflegeplanung und Ablauforganisation sowie Verbesserungspotentiale im Fu¨hrungsmanagement. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz schafft deshalb weitere Instrumente und Verfahren, die eine gro¨ßere Nachhaltigkeit in der Qualita¨tsentwicklung bewirken sollen. Im Einzelnen soll dies durch eine gesetzliche Verankerung von Expertenstandards durch eine Vero¨ffentlichung und Transparenz der Pru¨fergebnisse sowie durch eine Intensivierung der externen Qualita¨tssicherung erfolgen.
12.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
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Mehr Transparenz und Vergleichbarkeit zwischen den Pflegeeinrichtungen wird durch die Vero¨ffentlichung der Ergebnisse der Qualita¨tspru¨fungen und der Darstellung der in den Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen, wie sie § 115 SGB XI vorsieht, erreicht. Durch diese o¨ffentlichkeitswirksamen Maßnahmen ist eine spu¨rbare Unterstu¨tzung der u¨brigen Qualita¨tsbemu¨hungen zu erwarten.
13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI Brigitte Seitz
In den vergangenen 14 Jahren seit Einfu¨hrung der Pflegeversicherung 1995 sind vom Bundessozialgericht (BSG) eine Reihe von Urteilen zum SGB XI gefa¨llt worden. Die Rechtskraft eines Urteils des BSG wirkt nur zwischen den Beteiligten des jeweiligen Verfahrens. Bei den vom BSG zu entscheidenden Revisionen ist eine der Beteiligten jedoch durchweg eine Verwaltungsbeho¨rde, die u¨ber eine Vielzahl gleichartiger Fa¨lle zu entscheiden hat. Die Urteile des BSG bilden daher trotz fehlender rechtlicher Bindung tatsa¨chlich zumeist eine Richtschnur fu¨r die Entscheidungen der Verwaltungsbeho¨rden und der Sozialgerichte in gleich gelagerten Fa¨llen. Hierzu tra¨gt auch der Umstand wesentlich bei, dass wichtige Entscheidungen des BSG in Entscheidungssammlungen, Fachzeitschriften und Vero¨ffentlichungsorganen der Sozialversicherungseinrichtungen publiziert werden. Die wesentlichen Aussagen sind bei den zwischenzeitlich erfolgten ¢berarbeitungen der Begutachtungs-Richtlinien beru¨cksichtigt worden [BRi 2009]. Im Folgenden werden die wichtigsten Aussagen aus einer Auswahl relevanter Urteile des Bundessozialgerichts aufgefu¨hrt, die fu¨r die Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit von Bedeutung sind. Zur besseren ¢bersicht erfolgt die Darstellung nach bestimmten Krankheitsbildern, Verrichtungen oder Personengruppen geordnet. Neben dem Aktenzeichen des Urteils des Bundessozialgerichts ist jeweils die relevante Aussage aus diesem Urteil zitiert.
13.1 Aussagen zum Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit (§ 14 SGB XI) im Sinne von Definitionen Bei den gesetzlich definierten Verrichtungen (§ 14 Abs. 4 SGB XI) bestand je nach Betrachtungsweise, eine differentes Versta¨ndnis, was genau unter der jeweiligen Verrichtung zu subsumieren ist. Diesbezu¨glich wurde fu¨r einige der Verrichtungen Klarheit geschaffen und im Rahmen der Urteilsbegru¨ndung eine differenzierte Darstellung vorgenommen. Ebenso wurden die Begriffe „Regelma¨ßigkeit“, „rund um die Uhr“ und „na¨chtlicher Hilfebedarf“ pra¨zisiert.
13.1.1 Aussagen zur Verrichtung „Das mundgerechte Zubereiten“ B 3 P 10/98 R Urteil vom 17. 06. 1999 „Mundgerechtigkeit“ stellt nur das Bindeglied zwischen der essfertigen Zubereitung der Nahrung (Verrichtung „Kochen“) und der tatsa¨chlichen Aufnahme der Nahrung (Verrichtung „Nahrungsaufnahme“) dar, ist also auf jene Maßnahmen beschra¨nkt, die
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
der essfertigen Zubereitung nachfolgen, aber der Nahrungsaufnahme vorausgehen, und den Zweck haben, die zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass der Pflegebedu¨rftige sie greifen, zum Mund fu¨hren, zerkauen und schlucken kann. B 3 P 14/99 R Urteil vom 31. 08. 2000 Zur „mundgerechten“ Zubereitung der Nahrung geho¨rt allein der letzte Schritt vor der Nahrungsaufnahme, also z. B. das Zerkleinern in mundgerechte Bissen (Portionieren), das Heraustrennen von Knochen oder Gra¨ten, das Einweichen harter Nahrung bei Kau- und Schluckbeschwerden und das Einfu¨llen von Getra¨nken in Trinkgefa¨ße. Erfasst werden also nur solche Maßnahmen, die dazu dienen, die bereits zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass eine abschließende Aufnahme durch den Pflegebedu¨rftigen erfolgen kann. B 3 P 12/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 „Portionsgerechte Vorgabe“ bzw. „Portionierung“ der zubereiteten Nahrung kann nur bedeuten, dass die bereits zubereitete Nahrung am Esstisch – ggf. mit der Unterstu¨tzung des Pflegebedu¨rftigen durch eine Pflegeperson im Rahmen der aktivierenden Hilfe so „mundgerecht“ vorbereitet wird, dass der Pflegebedu¨rftige sie durch den Mund aufnehmen kann (z. B. Zerkleinern; Trennen nicht essbarer Bestandteile der zubereiteten Nahrung wie etwa Heraustrennen eines Knochens und Entfernen von Gra¨ten; Einfu¨llen von Getra¨nken in Trinkgefa¨ße bei Funktionssto¨rungen oder Fehlen der Ha¨nde; Einweichen von harter Nahrung bei Kausto¨rungen).
13.1.2 Aussagen zur Verrichtung „Zubettgehen“ und „Aufstehen“ B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Im Gegensatz zu dem bloßen Bewegungsablauf des Hinlegens (oder Ins-Bett-Legens), umfasst das Zu-Bett-Gehen weitere Vorbereitungen der Nachtruhe, etwa das Aufdecken des Bettes und das Lo¨schen des Lichts, ebenso jedoch auch die eventuell erforderliche Fixierung eines unruhigen Patienten. Damit geho¨ren zum Aufstehen auch solche Ta¨tigkeiten, mit denen Folgen der Nachtruhe beseitigt werden, um zum Tagesablauf u¨bergehen zu ko¨nnen und aus medizinischen Gru¨nden nicht auf einen spa¨teren Zeitpunkt zu verschieben sind. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Die Verrichtung des Zu-Bett-Gehens stellt einen ko¨rperlichen Bewegungsvorgang dar, der den Zweck hat, in ein Bett hineinzugelangen, und der mit der Einnahme einer liegenden (zum Ruhen oder Schlafen geeigneten) Position im Bett endet. Alle notwendigen Hilfestellungen, die der Durchfu¨hrung dieses ko¨rperlichen Bewegungsvorganges dienen, sind als Pflegebedarf zu beru¨cksichtigen. Die Ha¨ufigkeit richtet sich nach den individuellen Ruhe- und Schlafbedu¨rfnissen. Auch zu beru¨cksichtigen ist, wenn die liegende Position im Bett bewusst oder unbewusst verlassen worden ist und erneut eingenommen werden muss, dies aber ohne fremde Hilfe nicht mo¨glich ist, wie beispielsweise ¢ altersverwirrte, orientierungslose Menschen, die nachts ihr Bett verlassen, ¢ kleine Kinder, die sich im Bett aufgerichtet haben und am Gittergestell festhalten.
13.1 Aussagen zum Begriff der Pflegebedu¨rftigkeit (§ 14 SGB XI)
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An der Hilfe beim Zu-Bett-Gehen fehlt es hingegen, wenn der Pflegebedu¨rftige im Bett liegt, aber wach ist und die Pflegeperson auf Rufen, Weinen oder Jammern ans Bett tritt, um den Pflegebedu¨rftigen zu beruhigen, und sie so lange bei ihm bleibt, bis er wieder eingeschlafen ist.
13.1.3 Aussagen zu den Verrichtungen „Gehen“, „Stehen“ und „Treppensteigen“ B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Gehen im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI beschra¨nkt sich nicht allein auf die ko¨rperliche Fa¨higkeit zur eigensta¨ndigen Fortbewegung. Vielmehr umfasst es auch die Fa¨higkeit zum Vernunft geleiteten, zielgerichteten Gehen (z. B. bei desorientierten Patienten). B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Bei den Verrichtungen „Gehen“ und „Stehen“ muss sich die Hilfe auf die Durchfu¨hrung einer Ko¨rperbewegung (Ko¨rperverlagerung) bzw. die Ermo¨glichung einer bestimmten Ko¨rperhaltung richten. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Das Gehen, Stehen und Treppensteigen kann bei der Bemessung des Zeitaufwandes fu¨r die notwendige Pflege nur insoweit beru¨cksichtigt werden, als diese Verrichtungen im Zusammenhang mit den anderen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen im ha¨uslichen Bereich erforderlich werden. Ein pauschaler Zuschlag fu¨r die Hilfe beim nicht verrichtungsbezogenen Gehen, Stehen und Treppensteigen ist daher ausgeschlossen. Aus dem Gebot aktivierende Pflege zu leisten, folgt nicht, dass die Hilfe beim Gehen, Stehen und Treppensteigen unabha¨ngig von dem Zweck, den der Pflegebedu¨rftige mit seinem Verhalten verfolgt, bei der Bemessung des Zeitaufwandes zu beru¨cksichtigen ist. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Obgleich das Gehen zu den Verrichtungen des Grundpflegebedarfs za¨hlt (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI), ist das Gehen im Zusammenhang mit der hauswirtschaftlichen Versorgung als hauswirtschaftlicher Hilfebedarf zu werten.
13.1.4 Aussagen zur Verrichtung „Kochen“ B 3 P 11/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Die Pflegebedu¨rftigkeits-Richtlinien (PflRi) gehen zutreffend davon aus, dass der Begriff „Kochen“ den gesamten Vorgang der Nahrungszubereitung umfasst. B 3 P 12/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 Die PflRi gehen zutreffend davon aus, dass der Begriff „Kochen“ den gesamten Vorgang der Nahrungszubereitung – und zwar warme und kalte Speisen und Getra¨nke gleichermaßen – umfasst. Hierzu za¨hlen somit auch Vorbereitungsmaßnahmen wie die Erstellung eines Speiseplans unter Beru¨cksichtigung individueller, unter Umsta¨nden auch krankheitsbedingter Besonderheiten. Daraus folgt, dass die Ta¨tigkeiten des
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
Berechnens, Abwiegens, Zusammenstellens und Zubereitens der Speisen zur Herstellung der fu¨r den Kla¨ger erforderlichen Dia¨t zur Nahrungszubereitung za¨hlen und damit der Verrichtung „Kochen“ im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzuordnen sind.
13.1.5 Aussagen zum Begriff „Regelma¨ßigkeit“ B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 10/98 R Urteil vom 17. 06. 1999 B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Verrichtungen, die seltener als zumindest einmal pro Woche anfallen, za¨hlen nicht zum beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegeaufwand (auch nicht zeitlich!). („Aus dem gesamten in einer Woche anfallenden Pflegeaufwand ist der Tagesdurchschnitt zu ermitteln“).
13.1.6 Aussagen zum Begriff „rund um die Uhr“ B 3 P 20/99 R Urteil vom 17. 05. 2000 Der Begriff der Pflege „rund um die Uhr, auch nachts“ ist im Gesetz nicht na¨her definiert. Seine Bedeutung erschließt sich aus einem Vergleich zu den Anforderungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI fu¨r die Pflegestufe II. Diese erfordert im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf „mindestens dreimal ta¨glich zu verschiedenen Tageszeiten“. Die qualitative Steigerung der pflegerischen Anforderungen der Pflegestufe III im Vergleich zur Pflegestufe II besteht darin, dass der Hilfebedarf nicht nur zu verschiedenen „Tageszeiten“ (= tagsu¨ber), sondern zusa¨tzlich – und zwar regelma¨ßig – auch in der Nacht anfallen muss. Schwerstpflegebedu¨rftigkeit liegt danach vor, wenn der Hilfebedarf „rund um die Uhr“, also „mindestens dreimal ta¨glich zu verschiedenen Tageszeiten“ (so Stufe II) und zusa¨tzlich regelma¨ßig mindestens einmal zur Nachtzeit (= nachts) anfa¨llt. Der Begriff „nachts“ ist somit (nur) als Konkretisierung des Begriffes „rund um die Uhr“ zu verstehen. Beide Begriffe ergeben in ihrer Gesamtheit ein einheitliches Tatbestandsmerkmal, stellen also nicht zwei getrennte Tatbestandsmerkmale mit jeweils eigensta¨ndiger Bedeutung dar. B 3 P 16/99 R Urteil vom 31. 08. 2000 Eine Pflege „rund um die Uhr“ ist auch dann zu bejahen, wenn zwischen zwei erforderlichen Hilfen eine gro¨ßere Zeitspanne ohne regelma¨ßigen Hilfebedarf, etwa von siebeneinhalb Stunden liegt. B 3 P 20/99 R Urteil vom 17. 05. 2000 Die Pflege „rund um die Uhr, auch nachts“ erfordert lediglich, dass in einem vierundzwanzigstu¨ndigem Zeitraum zwischen 6 Uhr morgens des ersten Tages und 6 Uhr morgens des folgenden Tages mindestens drei Hilfen zu verschiedenen Tageszeiten, also bis 22 Uhr abends, und zusa¨tzlich mindestens eine Hilfe zur Nachtzeit, also nach 22 Uhr abends, geleistet werden mu¨ssen. Auf die Zeitspannen zwischen zwei aufeinander folgenden Hilfen kommt es hingegen nicht an; das Gesetz sieht insoweit keine weiteren Maßgaben vor.
13.2 Pra¨zisierungen zu der Verrichtung
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13.1.7 Aussagen zum Begriff „na¨chtlicher Hilfebedarf“ B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 3/98 R Urteil vom 18. 03. 1999 B 3 P 16/99 R Urteil vom 31. 08. 2000 Hilfeleistung „nachts“ findet statt, wenn sie zwischen 22.00 Uhr abends und 6.00 Uhr morgens objektiv erforderlich ist. Na¨chtliche Kontrollbesuche ko¨nnen dabei ausreichen, wenn sie zur Sicherstellung einer ordnungsgema¨ßen Pflege notwendig sind und nicht auf einen Zeitpunkt vor 22.00 Uhr oder nach 06.00 Uhr gelegt werden ko¨nnen. Unterbrechung des Nachtschlafs der Pflegeperson, wegen der Hilfeleistung ist dabei nicht erforderlich. Sta¨ndige Ruf- und Einsatzbereitschaft reicht nicht aus. Das regelma¨ßig anfallende na¨chtliche Beruhigen allein erfu¨llt diese Voraussetzungen (s. o.) auch nicht. Na¨chtlicher Hilfebedarf muss grundsa¨tzlich an jedem Tag anfallen; soweit an wenigen einzelnen Tagen im Laufe eines Monats eine solche Hilfe nicht geleistet wird, ist dies unscha¨dlich.
13.2 Pra¨zisierungen zu der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“ Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung stellt immer wieder einen Streitpunkt dar und ist Grund fu¨r Auseinandersetzungen. Welche Voraussetzungen mu¨ssen vorliegen, damit diese Verrichtung fu¨r die Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit Beru¨cksichtigung finden kann und welche Umsta¨nde fu¨hren dazu, dass sie nicht angerechnet werden darf. B 3 P 1/99 R Urteil vom 05. 08. 1999 Hilfen beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sind nur insoweit zu beru¨cksichtigen, als sie fu¨r das Weiterleben in der Wohnung unerla¨sslich sind. B 3 P 13/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Der fu¨r die Begleitung eines Pflegebedu¨rftigen auf Wegen außerhalb seiner Wohnung erforderliche Zeitaufwand kann nur beru¨cksichtigt werden, wenn die außerhalb der Wohnung zu erledigende Verrichtung, etwa der Besuch eines Arztes oder Krankengymnasten, fu¨r die Aufrechterhaltung der Lebensfu¨hrung zu Hause unerla¨sslich ist. B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Die Hilfe beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung muss erforderlich sein, um ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermo¨glichen / der Aufrechterhaltung der Existenz in der ha¨uslichen Umgebung dienen und das perso¨nliche Erscheinen des Pflegebedu¨rftigen notwendig machen. B 3 P 6/02 R Urteil vom 28. 05. 2003 Fu¨r die – notwendige – Eingrenzung des bei dieser Verrichtung beru¨cksichtigungsfa¨higen Hilfebedarfs hat der Senat gefordert, dass das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung fu¨r die Aufrechterhaltung der Lebensfu¨hrung zu Hause unerla¨sslich ist. Dazu za¨hlen Arztbesuche, aber auch Wege zur Krankengymnastik oder zum Logopa¨den, soweit sie der Behandlung einer Krankheit dienen und nicht die Sta¨rkung oder
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
Verbesserung der Fa¨higkeit zu eigensta¨ndiger Lebensfu¨hrung im Vordergrund steht. Maßnahmen der sozialen oder beruflichen Rehabilitation sind daher nicht zu beru¨cksichtigen; bei Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation kommt es darauf an, dass sie der notwendigen Behandlung einer Krankheit dienen. Die Abgrenzung zwischen Krankenbehandlung durch nichta¨rztliche Heilmittelerbringer und Rehabilitation kann im Einzelfall schwierig sein, weil die Behandlung ha¨ufig mehreren Zwecken dient: der Besserung des aktuellen Gesundheitszustandes sowie der Verbesserung der ko¨rperlichen und geistigen Fa¨higkeiten fu¨r die Zukunft. In solchen Fa¨llen muss es ausreichen, dass die Behandlung auch zur Behebung oder Besserung einer Krankheit fu¨hren soll. Im vorliegenden Fall dient die Ergotherapie nach den Feststellungen des BSG einer vom Arzt verordneten Behandlung einer Entwicklungssto¨rung. Es bestehen deshalb keine Bedenken, den dadurch erforderlichen Pflegeaufwand zu beru¨cksichtigen, sofern er mindestens einmal wo¨chentlich anfa¨llt. B 3 P 13/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Hilfeleistungen im Zusammenhang mit der Berufsta¨tigkeit außerhalb der Wohnung sind nicht als Hilfeleistungen (zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit) zu beru¨cksichtigen. B 3 P 1/99 R Urteil vom 05. 08. 1999 Die Begleitung auf dem Schulweg kann nicht als Grundpflegebedarf im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI gewertet werden. Diese Hilfe kann keiner der Verrichtungen zugeordnet werden. Insbesondere fu¨r die Beru¨cksichtigung beim „Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung“ fehlt es an dem Ziel, ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermo¨glichen. B 3 P 13/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Die Begleitung zum Schulbus bleibt bei Ermittlung des Pflegebedarfs außer Betracht. Es handelt sich nicht um eine verrichtungsbezogene Pflegehilfe, sondern teilweise um rehabilitative Maßnahmen, die nicht nur der Aufrechterhaltung der Lebensfu¨hrung zu Hause dient. B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Begleitung zur Haltestelle des Busses, mit dem eine Behinderte zur Behindertenwerkstatt fa¨hrt, kann nicht als relevanter Hilfebedarf eingeordnet werden. Hier fehlt der erforderliche Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Existenz in der ha¨uslichen Umgebung. B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 Die Hilfe in Form des beaufsichtigten Transports durch den Fahrdienst, mit dem der Kla¨ger von der Wohnung abgeholt wird und zur Behindertenwerkstatt fa¨hrt, muss bei der Bemessung des Pflegeaufwands außer Betracht bleiben. Es fehlt der erforderliche Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Existenz in der ha¨uslichen Umgebung. Die Ta¨tigkeit in der Behindertenwerkstatt dient der Stabilisierung der geistigen und ko¨rperlichen Kra¨fte, die auch dann erforderlich bleibt, wenn der Behinderte in einem Heim untergebracht ist.
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B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Der Besuch einer Behindertenwerkstatt dient der Stabilisierung und Entwicklung der geistigen und ko¨rperlichen Kra¨fte. Dies entspricht dem Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe fu¨r Behinderte nach den §§ 39ff BSHG. Eine Vor- oder Nachrangigkeit besteht im Verha¨ltnis SGB XI zu Eingliederungshilfe nicht. Fahrtkosten fu¨r eine notwendige Begleitperson und sonstige mit der Fahrt verbundene Auslagen der Begleitperson sind durch die Eingliederungshilfe zu u¨bernehmen (§ 22 der EingliederungshilfeVerordnung). B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Hilfe beim Aufsuchen des Kindergartens ist kein beru¨cksichtigungsfa¨higer Hilfebedarf. Es fehlt an dem erforderlichen Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Existenz in der ha¨uslichen Umgebung. Der Besuch dient nicht der Aufrechterhaltung der Existenz, sondern der Stabilisierung und Entwicklung der geistigen und ko¨rperlichen Kra¨fte, die auch dann erforderlich bleiben, wenn ein behindertes Kind in einem Heim untergebracht ist. Dies entspricht dem Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe. B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Hilfe beim Einkaufen wird hingegen bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen (nicht beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) beru¨cksichtigt. B 3 P 15/99 R Urteil vom 10. 10. 2000 Die Begleitung zu den sonnta¨glichen Gottesdiensten ist ebenfalls keine Hilfe bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI. Hier fehlt es bereits an der Voraussetzung, dass die Maßnahme zum Weiterleben in der eigenen Wohnung no¨tig sein muss. B 3 P 9/97 R Urteil vom 06. 08. 1998 Eine medizinisch nicht gebotene, sondern nur aus reiner Fu¨rsorge oder Vorsicht vorgenommene Begleitung außer Haus begru¨ndet keinen Pflegebedarf. B 3 P 12/01 R Urteil vom 21. 02. 2002 Auch bei teilstationa¨rer Pflege ist der Transfer zwischen Wohnung und Einrichtung der Tages- und Nachtpflege zwar zu leisten (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB XI), bei der Bemessung des Pflegebedarfs aber nicht zusa¨tzlich zu beru¨cksichtigen, weil Maßstab allein die ha¨usliche Pflege ist. B 3 P 12/01 R Urteil vom 21. 02. 2002 Transferzeiten zu und von der Wohnung der Pflegeperson, die ausschließlich durch den Gesundheitszustand der Pflegeperson verursacht sind, scheiden als Pflegebedarf aus, selbst wenn nur auf diese Weise die ha¨usliche Pflege aufrechterhalten werden kann. B 3 P 12/01 R Urteil vom 21. 02. 2002 Die Beru¨cksichtigung des Pflegeaufwands kann auch nicht davon abha¨ngig gemacht werden, ob die Pflegebedu¨rftige zur Pflegeperson oder aber umgekehrt diese zur Pflegebedu¨rftigen transportiert werden muss; im letzteren Fall steht eine Nichtberu¨cksichtigung der Transferzeiten jedoch vo¨llig außer Frage.
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13.3 Aussagen zu Formen der Hilfe In § 14. Abs. 3 SGB XI sind fu¨nf Formen der Hilfe aufgelistet. Es handelt sich dabei um „Unterstu¨tzung“, „teilweise ¢bernahme“, „vollsta¨ndige ¢bernahme“ der Verrichtungen bzw. um „Beaufsichtigung“ oder „Anleitung“ mit dem Ziel der eigensta¨ndigen ¢bernahme dieser Verrichtungen. Die Formen bilden dabei die differenzierte zeitliche Bindung der Pflegeperson bei den Verrichtungen ab, wobei die Unterstu¨tzung die geringste zeitliche Bindung der Pflegeperson darstellt. Bei der vollsta¨ndigen ¢bernahme und Anleitung ist dagegen von einer kompletten zeitlichen Bindung der Pflegeperson auszugehen. Inhaltlich wurden insbesondere „Beaufsichtigung“ und „Anleitung“ immer wieder sehr unterschiedlich zur Anwendung gebracht, so dass diesbezu¨glich Klarstellungen erforderlich waren.
13.3.1 Aussagen zu Beaufsichtigung und Anleitung B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 „Anleitung und Beaufsichtigung“ geht u¨ber das reine „Anhalten“ zur Durchfu¨hrung hinaus. B 3 P 2/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Bei Beaufsichtigung und Anleitung ist von einer Aktivita¨t der Pflegeperson auszugehen, die u¨ber bloßes Bereitstehen hinausgeht. B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Nur konkrete Anleitungen, ¢berwachungen und Erledigungskontrollen sind zu beru¨cksichtigen, die die Pflegeperson in zeitlicher und o¨rtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden wie bei unmittelbarer ko¨rperlicher Hilfe und daher dazu fu¨hren, dass die Pflegeperson durch die Hilfe an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist. B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Bei der erforderlichen Anleitung und Beaufsichtigung, wozu auch die tatsa¨chliche Kontrolle der ordnungsgema¨ßen Durchfu¨hrung einer Verrichtung geho¨rt, ist nur der jeweils erforderliche konkrete Zeitaufwand der Pflegeperson anzusetzen, grundsa¨tzlich aber nicht Zeitspannen zwischen Hilfeleistungen fu¨r verschiedene Verrichtungen und der Zeitaufwand fu¨r die sta¨ndige Anwesenheit einer Pflegeperson B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Ein Beaufsichtigungsbedarf ist nur zu beru¨cksichtigen, wenn die Pflegeperson dabei nicht nur verfu¨gbar und einsatzbereit, sondern auch zeitlich und o¨rtlich in der Weise gebunden ist, dass sie an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist. B 3 P 1/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Bei der Aufsicht ist zu kla¨ren, ob die Pflegeperson o¨rtlich und zeitlich so gebunden ist, dass daneben keine Gelegenheit verbleibt, andere Dinge zu tun. B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 Nur konkrete Anleitung, ¢berwachung und Erledigungskontrollen sind zu beru¨cksichtigen, die die Pflegerperson in zeitlicher und o¨rtlicher Hinsicht in gleicher Weise bin-
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den, wie bei unmittelbarer ko¨rperlicher Hilfe und daher dazu fu¨hren, dass die Pflegeperson dadurch an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist. B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 Die im Gesetz gemeinte „Anleitung“ und „Beaufsichtigung“ gehen u¨ber das reine „Anhalten“ zu einer Verrichtung hinaus. Bei der erforderlichen Anleitung und Beaufsichtigung, wozu auch die tatsa¨chliche Kontrolle der ordnungsgema¨ßen Durchfu¨hrung einer Verrichtung geho¨rt, ist nur der jeweils erforderliche konkrete Zeitaufwand der fu¨r die einzelne Anleitung und Beaufsichtigung anzusetzen, grundsa¨tzlich aber nicht Zeitspannen zwischen Hilfeleistungen fu¨r verschiedene Verrichtungen und der Zeitaufwand fu¨r die sta¨ndige Anwesenheit einer Pflegeperson. B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Die Tatsache, dass die Anleitung und Beaufsichtigung bei geistig behinderten Erwachsenen auch der Verhinderung ihrer Verwahrlosung dient, zwingt nicht dazu, dass sie als andauernder relevanter Pflegebedarf beru¨cksichtigt werden muss. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Ist Beaufsichtigung beim Gehen, allein zur Vermeidung einer Selbst- oder Fremdgefa¨hrdung notwendig, ist dieser Hilfebedarf nicht zu beru¨cksichtigen, da er nicht im Zusammenhang mit der Durchfu¨hrung einer anderen Katalog-Verrichtung erfolgt: B 3 P 7/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 Die Beaufsichtigung, um eine u¨berma¨ßige Nahrungsaufnahme zu verhindern, hat bei der Bemessung des Pflegebedarfs unberu¨cksichtigt zu bleiben.
13.3.2 Aussagen zur Aufforderung B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Aufforderung ist keine Hilfeform im Sinne des SGB XI. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Formen der Hilfe, die den Intensita¨tsgrad aus § 14 Abs. 3 SGB XI nicht erreichen, mu¨ssen außer Betracht bleiben. Dazu geho¨ren: allgemeine Ruf- und Einsatzbereitschaft und die im Rahmen allgemeiner Aufsicht erfolgende Hilfe in Form von gelegentlichen, wenn auch wiederholten Aufforderungen, die die Pflegeperson zeitlich nicht in nennenswerter Weise binden und ihr Raum lassen fu¨r andere Ta¨tigkeiten.
13.3.3 Aussagen zur allgemeinen Aufsicht B 3 P 4/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht, zu u¨berwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des ta¨glichen Lebens ordnungsgema¨ß ausgefu¨hrt werden, und dazu fu¨hrt, dass gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss, reicht nicht aus, weil eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson damit nicht verbunden ist.
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B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 Eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht zu u¨berwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des ta¨glichen Lebens von einer geistig behinderten Person u¨berhaupt ausgefu¨hrt werden, und lediglich dazu fu¨hrt, dass gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss (z. B. Hinweis auf Beta¨tigung der Wasserspu¨lung und Aufforderung zum Ha¨ndewaschen nach dem Toilettengang), reicht nicht aus, um einen Hilfebedarf im Sinne des § 14 SGB XI zu begru¨nden, weil dadurch eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson nicht eintritt. B 3 P 17/97 R Urteil vom 06. 08. 1998 Der Aufsichtsbedarf wegen plo¨tzlich eintretender Unterzuckerung (= allgemeiner Aufsichtsbedarf) ist nicht zu beru¨cksichtigen. Die bloße Verfu¨gbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft einer zur Hilfeleistung bereiten Person stellen noch keine Hilfeleistung im Sinne des § 14 Abs. 3 SGB XI dar, sondern sind nur als Voraussetzung fu¨r die Mo¨glichkeit einer Hilfeleistung anzusehen. B 3 P 7/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 Es kann nicht derjenige Aufsichtsbedarf beru¨cksichtigt werden, der durch die ganzta¨gige Neigung auftritt, jegliche irgendwie erreichbare Nahrung an sich zu nehmen und zu verzehren, denn dabei handelt es sich um eine allgemeine Aufsicht zur Vermeidung einer Selbstgefa¨hrdung durch u¨berma¨ßiges Essen, vergleichbar einer Aufsicht zur Vermeidung von aktiv-aggressiven Verhaltensweisen. B 3 P 7/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 Maßnahmen zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme fallen nicht gewo¨hnlich im Ablauf des ta¨glichen Lebens an, sondern nur bei uneinsichtigen Personen wie z. B. Kindern oder geistig Behinderten. Solche Maßnahmen za¨hlen zu deren allgemeinem Aufsichtsbedarf, den der Gesetzgeber bislang bewusst noch nicht in den beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf einbezogen hat. B 3 P 7/00 R Urteil vom 28. 06. 2001 Die Aufsicht wa¨hrend der drei ta¨glichen Mahlzeiten, die ebenfalls der Verhinderung der u¨berma¨ßigen Nahrungsaufnahme dient, kann auch nicht beru¨cksichtigt werden. B 3 P 5/04 R Urteil vom 01. 09. 2005 Der Ausschluss eines allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei Behinderten als beru¨cksichtigungsfa¨higer Pflegebedarf ist vom erkennenden Senat wiederholt u¨berpru¨ft und besta¨tigt worden. Er ist auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht als verfassungswidrig beurteilt worden.
13.3.4 Aussagen zur Verfu¨gbarkeit, Einsatzbereitschaft, sta¨ndiger oder vorsorglicher Anwesenheit B 3 P 2/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 B 3 P 6/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Die bloße Verfu¨gbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft stellt nur eine Voraussetzung fu¨r die Mo¨glichkeit der Hilfeleistung dar, die lediglich eine gewisse zeitliche und o¨rtliche Ge-
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bundenheit der Pflegeperson mit sich bringt, ihr aber erlaubt, daneben noch andere Dinge zu verrichten oder zu schlafen. Sie unterscheidet sich damit deutlich von der Beaufsichtigung und Anleitung. B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Die allgemeine Verfu¨gbarkeit und Einsatzbereitschaft der Pflegeperson und deren schlichte Aufforderung an den Behinderten zur Durchfu¨hrung bestimmter Verrichtungen, und mo¨gen sie auch im Laufe eines Tage notwendig und in ihrer Summierung durchaus auch eine nervliche Belastung fu¨r die Pflegeperson sein, stellen keine nach § 14 SGB XI zu beru¨cksichtigende Hilfeleistung dar, (weil sie mit keiner Bindung der Pflegeperson einher gehen). B 3 P 13/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 2/98 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 12/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Das Gesetz bietet keine Grundlage fu¨r die Beru¨cksichtigung eines Hilfebedarfs in Form einer sta¨ndigen Anwesenheit und Aufsicht einer Pflegeperson zur Vermeidung einer mo¨glichen Selbst- oder Fremdgefa¨hrdung eines geistig Behinderten. (Hierzu za¨hlt auch das Sich-Entfernen vom Arbeitsplatz.) B 3 P 9/97 R Urteil vom 06. 08. 1998 Die vorsorgliche Anwesenheit beim ta¨glichen Duschen z. B. bei mo¨glichem Schwa¨cheanfall ist keine Hilfe im Sinne des § 14 Abs. 3 SGB XI. B 3 P 9/97 R Urteil vom 06. 08. 1998 Eine in Umfang und Intensita¨t unterhalb der im § 14 Abs. 3 und 4 SGB XI vier Arten der Hilfen (Unterstu¨tzung, teilweise oder vollsta¨ndige ¢bernahme, Beaufsichtigung und Anleitung) liegende Form der Hilfe muss außer Betracht bleiben. Das gilt nicht nur fu¨r die schlichte Anwesenheit und Ansprechbarkeit einer Bezugsperson, sondern auch fu¨r die allgemeine Einsatz- oder Rufbereitschaft sowie fu¨r die allgemeine Betreuung außerhalb der verrichtungsbezogenen Hilfe.
13.4 Aussagen zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit bei Kindern Bei der Begutachtung von Kindern zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit sind Besonderheiten zur beru¨cksichtigen. Bereits der Gesetzgeber hat in § 15 Abs. 2 SGB XI darauf hingewiesen, dass „bei Kindern fu¨r die Zuordnung der zusa¨tzliche Hilfebedarf gegenu¨ber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend“ ist. In seinen Entscheidungen hat das Bundessozialgericht mehrfach dazu Stellung genommen, dass nur der krankheitsbedingte Mehrbedarf zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit maßgeblich ist. Dies bezieht sich sowohl auf die Grundpflege als auch auf die hauswirtschaftliche Versorgung. B 3 P 11/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Bei Kindern ist der zusa¨tzliche Hilfebedarf gegenu¨ber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend.
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
B 3 P 1/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Dass nur der jeweilige Pflegemehraufwand bei Kindern beru¨cksichtigt wird, ist keine Benachteiligung, sondern rechtlich geboten. B 3 P 5/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 B 3 P 11/97 Urteil vom 19. 02. 1998 Auch bei Kindern besteht fu¨r einen Verzicht auf das Erfordernis eines Hilfebedarfs bei der Grundpflege keine Grundlage. B 3 P 11/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Auch fu¨r Kinder ist ein Mindestbedarf an grundpflegerischen Leistungen erforderlich. B 3 P 13/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Auch bei Kindern kann im Bereich der Grundpflege nicht auf einen Mehrbedarf von „mehr als 45 Minuten“ gegenu¨ber gleichaltrigen gesunden Kindern verzichtet werden. B 3 P 7/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Der hauswirtschaftliche Hilfebedarf ist bei kranken oder behinderten Kindern grundsa¨tzlich nur auf den Mehrbedarf gegenu¨ber gleichaltrigen gesunden Kindern abzustellen. Es ist der Zusatzbedarf im Einzelfall konkret zu bemessen. Eine pauschale Zeit ist nicht zu unterstellen, da das Gesetz nur eine Grenze fu¨r das zeitliche Ho¨chstmaß der Beru¨cksichtigung vorgibt. B 3 P 11/97 Urteil vom 19. 02. 1998 Auch bei Kindern gilt die Unterscheidung zwischen Grundpflege und hauswirtschaftlichem Bedarf. B 3 P 3/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Die Unterscheidung zwischen einem Hilfebedarf bei der Grundpflege und einer solchen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung ist sachgerecht. Der natu¨rliche, altersentsprechende Hilfebedarf bei Kindern kann unberu¨cksichtigt bleiben. B 3 P 3/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Der krankheits- oder behinderungsbedingte Mehraufwand bei der hauswirtschaftlichen Versorgung gegenu¨ber gesunden Kindern ist zu beru¨cksichtigen. B 3 P 3/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Der natu¨rliche, altersentsprechende Hilfebedarf bei Kindern kann unberu¨cksichtigt bleiben. Der krankheits- oder behinderungsbedingte Mehraufwand bei der hauswirtschaftlichen Versorgung gegenu¨ber gesunden Kindern ist zu beru¨cksichtigen. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Mehrbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung, z. B. Mehraufwand fu¨r die Nahrungszubereitung der krankheitsbedingten hochkalorischen Nahrung und zusa¨tzlich erforderliches Wechseln und Waschen der Wa¨sche infolge vermehrter Salzausscheidung ist zu erfassen und zu beru¨cksichtigen.
13.5 Aussagen zu krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen
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B 3 P 5/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Die in den Begutachtungs-Richtlinien vorgegebene Vorgehensweise, na¨mlich zuna¨chst den Gesamthilfebedarf zu ermitteln und dann den Hilfebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes (anhand der Tabellen in den Begutachtungs-Richtlinien) abzuziehen, wurde nicht beanstandet. Es wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass es im Einzelfall auch mo¨glich ist, ausschließlich den krankheitsbedingten Mehrbedarf zu erfassen. Der „natu¨rliche, altersentsprechende Pflegebedarf“ von Kindern bleibt unberu¨cksichtigt, es ist allein auf den das altersu¨bliche Maß u¨bersteigenden Aufwand abzustellen. B 3 P 20/97 Urteil vom 26. 11. 1998 Bei der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Kindern muss nicht zwingend in zwei Schritten vorgegangen werden. Dies schließt nicht aus, dass in geeigneten Fa¨llen, insbesondere bei geistig gesunden Kindern, eine konkrete Scha¨tzung des jeweiligen Mehraufwands erfolgt. Einer Differenzberechnung nach allgemeinen Durchschnittswerten bedarf es in den Fa¨llen nicht, in denen Krankheiten oder Behinderungen einen konkret fassbaren Mehrbedarf verursachen, weil das Kind im u¨brigen normal entwickelt ist und sich als gesundes Kind mit dem dann noch vorhandenen Pflegebedarf vorstellen la¨sst. B 3 P 1/97 R Urteil vom 24. 06. 1998 Auch bei der gleichzeitigen Pflege von mehreren Kindern durch eine Pflegeperson (Mutter) ist im Bereich der Grundpflege ein ta¨glicher Pflegebedarf bei wenigstens zwei verschiedenen Verrichtungen mit einem Zeitaufwand von mehr als 45 Minuten pro Kind vorgesehen.
13.5 Aussagen zu krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen Aufgrund der Festlegung der beru¨cksichtigungsfa¨higen Verrichtungen in § 14 Abs. 4 SGB XI konnten andere Maßnahmen bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit keine Beru¨cksichtigung finden. Dies betraf insbesondere Maßnahmen der Behandlungspflege, die zudem in die Leistungspflicht der Krankenkasse fielen. Insbesondere in der ha¨uslichen Pflege wurden viele Maßnahmen der Behandlungspflege durch die Angeho¨rigen erbracht, die ihre Arbeit und Engagement nicht ausreichend gewu¨rdigt sahen, wenn eine Beru¨cksichtigung bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit nicht erfolgt ist. B 3 P 11/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Der generelle Ausschluss jedweder krankheitsspezifischer Maßnahmen aus dem beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf allein unter dem Aspekt, dass es sich um der Krankenversicherung zuzuordnende Behandlungspflege handelt, findet im Gesetz keine Grundlage. B 3 P 5/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Behandlungspflege oder auch krankheitsspezifische Maßnahmen sind nicht allein deshalb aus dem beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf auszuschließen, weil es sich um der Krankenversicherung zuzuordnende Maßnahmen handelt.
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B 3 P 3/97 R Urteil vom 19. 02. 1998 Zur Aufrechterhaltung von Grundfunktionen dienende krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen rechnen zur Grundpflege, soweit sie im zeitlichen Zusammenhang mit den sogenannten Katalogverrichtungen erforderlich sind und nicht die Fachkunde eines Gesunden erfordern. B 3 P 20/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 Krankheitsspezifische Maßnahmen, auch wenn sie zur Aufrechterhaltung von Grundfunktionen erforderlich sind, sind nur dann zur Grundpflege zu rechnen, wenn sie notwendigerweise im zeitlichen Zusammenhang mit einer der im Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI aufgefu¨hrten Verrichtungen anfallen. B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 23/00 R Urteil vom 22. 08. 2001 Krankheitsspezifische Maßnahmen za¨hlen jedoch nur dann zum beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf, wenn und soweit sie a) Bestandteil der Hilfe fu¨r die sogenannten Katalogverrichtungen sind oder b) in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind dann Bestandteil einer Verrichtung, wenn sie damit untrennbar verbunden sind, wie dies etwa bei der Sondenerna¨hrung und der Stomaversorgung (Darmentleerung) der Fall ist. B 3 P 20/97 R Urteil vom 26. 11. 1998 B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 23/00 R Urteil vom 22. 08. 2001 Ein zeitlicher Zusammenhang mit einer Verrichtung reicht nur dann aus, wenn die zeitgleiche Durchfu¨hrung der krankheitsspezifischen Maßnahme mit der Verrichtung objektiv erforderlich ist. B 3 P 23/00 R Urteil vom 22. 08. 2001 Die Frage, welche Hilfeleistungen aus dem Bereich der Behandlungspflege nach diesen Vorgaben „verrichtungsbezogen“ und daher als Pflegebedarf im Sinne des § 14 SGB XI beru¨cksichtigungsfa¨hig sind, kann nicht einheitlich beantwortet werden, sondern ha¨ngt teilweise auch vom Lebensalter des Betroffenen ab.
13.5.1 Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen bei Neurodermitis B 3 P 20/97 R Urteil vom 16. 11. 1998 Hilfebedarf ist zu beru¨cksichtigen einschließlich dem nachfolgenden Einfetten der Haut, da die Erkrankung ein Baden in u¨blicher Form nicht zula¨sst (ta¨gliches Pflegebad wegen Erkrankung).
13.6 Entscheidungen zu Personen mit Mukoviszidose
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B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Ein zeitlicher Zusammenhang mit einer Verrichtung reicht nur dann aus, wenn die zeitgleiche Durchfu¨hrung der krankheitsspezifischen Maßnahme mit der Verrichtung objektiv erforderlich ist (Pflegebad mit anschließender Hautbehandlung bei Neurodermitis).
13.5.2 Krankheitsspezifische Maßnahmen bei Mukoviszidose B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Der erforderliche Zusammenhang mit der Verrichtung „Aufstehen“ besteht nur bei solchen Maßnahmen der Behandlungspflege, die zwischen dem Aufwachen und dem Verlassen des Bettes, spa¨testens aber unmittelbar nach dem Verlassen des Bettes und vor jeder anderweitigen Ta¨tigkeit durchgefu¨hrt werden mu¨ssen und nicht, insbesondere aus medizinischen Gru¨nden, auf einen spa¨teren Zeitpunkt verschoben werden ko¨nnen. Der erforderliche zeitliche und sachliche Zusammenhang mit einer Verrichtung kann nicht allein mit einer entsprechenden Pflegepraxis im konkreten Fall begru¨ndet werden. Ein Zusammenhang zwischen einer Maßnahme der Behandlungspflege und der Verrichtung „Aufstehen“ kann auch nicht bereits daraus abgeleitet werden, dass die Maßnahme dem Ziel dient, krankheitsbedingte Beeintra¨chtigungen der Luftwege infolge der Nachtruhe zu beseitigen.
13.5.3 Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen bei Anus praeter oder bei Erna¨hrungssonde B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Krankheitsspezifische Maßnahmen za¨hlen jedoch nur dann zum beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf, wenn und soweit sie a) Bestandteil der Hilfe fu¨r die sogenannten Katalogverrichtungen sind oder b) in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind dann Bestandteil einer Verrichtung, wenn sie damit untrennbar verbunden sind, wie dies etwa bei der Sondenerna¨hrung und der Stomaversorgung (Darmentleerung) der Fall ist.
13.6 Entscheidungen zu Personen mit Mukoviszidose Die Entscheidungen, die zu Personen mit Mukoviszidose getroffen wurden, beziehen sich auf Kinder und Jugendliche im Alter von 11 Jahren bis 21 Jahren. Die Pflege und Betreuung von Kindern mit Mukoviszidose stellt an die Angeho¨rigen in vielen Bereichen hohe Anforderungen. Ob und inwieweit all die geleisteten Arbeiten und Maßnahmen auch bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit beru¨cksichtigt werden ko¨nnen, war immer wieder Grund fu¨r gerichtliche Auseinandersetzungen.
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
13.6.1 Aussagen zum Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme Patienten mit Mukoviszidose haben einen erho¨hten Kalorienbedarf. In der Literatur schwanken die Angaben des Mehrbedarfs zwischen 110 bis 150 Prozent des u¨blichen Kalorienbedarfs. Grundsa¨tzlich du¨rfen Patienten mit Mukoviszidose alles essen, die Erna¨hrung sollte dabei jedoch ausgewogen sein. Einschra¨nkungen bestehen nicht, soweit keine Allergien bzw. Nahrungsunvertra¨glichkeiten vorliegen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Patienten mit Mukoviszidose prima¨r Widerwillen erregende Speisen in großen Mengen zu sich nehmen mu¨ssen. Die vorhandenen Ratgeber zur Erna¨hrung bei Mukoviszidose bieten vielseitige und leckere Rezeptideen an, die Abwechslung bieten ko¨nnen. Zwischenmahlzeiten sollen die Portionen der einzelnen Mahlzeit nicht zu groß ausfallen lassen. Dabei bieten sich als Zwischenmahlzeiten u. a. auch Shakes und Mu¨sliriegel an. Im Rahmen der Pflegebegutachtung wird die Nahrungsaufnahme bei Kindern mit Mukoviszidose immer wieder als sehr problematisch angegeben. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Muss ein fu¨r die Auswirkungen einer falschen Erna¨hrung noch nicht einsichtsfa¨higes Kind krankheitsbedingt zum Essen angehalten werden, etwa weil es aus Gesundheitsgru¨nden notwendig ist, Widerwillen erregende Speisen oder Speisen in großen Mengen – u¨ber den Appetit hinaus – einzunehmen, sind die hierdurch erforderlichen Maßnahmen der Pflegeperson als Unterstu¨tzung der Aufnahme der Nahrung zu werten. Das – unter Umsta¨nden durchaus zeitaufwa¨ndige – Anhalten zum Essen, um einen entsprechenden Widerstand des Kindes zu u¨berwinden, ist unter den o. g. Bedingungen zu beru¨cksichtigen. B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Hilfebedarf bei der Mukoviszidose ist vom Schweregrad der Erkrankung und vom Alter abha¨ngig – Einsichtsfa¨higkeit, Versta¨ndnis. Ein zur Grundpflege za¨hlender Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme kann bejaht werden, wenn zum Essen angehalten werden mu¨sse, weil die Einsichtsfa¨higkeit dafu¨r fehle, es aus Gesundheitsgru¨nden jedoch notwendig sei, Widerwillen erregende Speisen oder Speisen in großen Mengen – u¨ber den Appetit hinaus – aufzunehmen (altersabha¨ngig).
13.6.2 Aussagen zur Beru¨cksichtigung von krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen Wichtiger Bestandteil der Behandlung einer Mukoviszidose sind das regelma¨ßige Inhalieren und Physiotherapie, die das Ziel haben, das Abhusten des Schleimes zu ermo¨glichen. Diese Maßnahmen werden in den meisten Fa¨llen morgens, mittags und abends durchgefu¨hrt. Streitig in diesen Fa¨llen war jeweils, ob das Inhalieren im Sinne einer krankheitsspezifischen Pflegemaßnahme im Zusammenhang mit dem Aufstehen oder Zubettgehen zu sehen ist und damit bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit Beru¨cksichtigung finden kann. Zweifellos ist der Aufwand, den die Betroffenen selbst oder bei Kindern die Eltern unternehmen mu¨ssen, erheblich.
13.6 Entscheidungen zu Personen mit Mukoviszidose
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B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Krankheitsspezifische Maßnahmen za¨hlen nur dann zum beru¨cksichtigungsfa¨higen Pflegebedarf, wenn und soweit sie Bestandteil der Hilfe fu¨r die sogenannten Katalogverrichtungen sind oder in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind dann Bestandteil einer Verrichtung, wenn sie damit untrennbar verbunden sind, wie dies etwa bei der Sondenerna¨hrung und der Stomaversorgung (Darmentleerung) der Fall ist. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Nicht jede jeweils morgens, bei oder nach dem Aufstehen durchgefu¨hrte pflegerische Maßnahme kann als Hilfe fu¨r das Aufstehen eingeordnet werden. Damit wa¨re die Beru¨cksichtigung solcher Maßnahmen allein davon abha¨ngig, wann diese im Tagesverlauf – aus welchen Gru¨nden auch immer – erbracht werden. Nicht jede Reinigung der Atemwege ist nach diesen Maßsta¨ben bereits einer Katalog-Verrichtung zuzuordnen. B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Der erforderliche zeitliche und sachliche Zusammenhang mit einer Verrichtung kann nicht allein mit einer entsprechenden Pflegepraxis im konkreten Fall begru¨ndet werden. Ein Zusammenhang zwischen einer Maßnahme der Behandlungspflege und der Verrichtung „Aufstehen“ kann auch nicht bereits daraus abgeleitet werden, dass die Maßnahme dem Ziel dient, krankheitsbedingte Beeintra¨chtigungen der Luftwege infolge der Nachtruhe zu beseitigen. B 3 P 13/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Der erforderliche Zusammenhang mit der Verrichtung „Aufstehen“ besteht nur bei solchen Maßnahmen der Behandlungspflege, die zwischen dem Aufwachen und dem Verlassen des Bettes, spa¨testens aber unmittelbar nach dem Verlassen des Bettes und vor jeder anderweitigen Ta¨tigkeit durchgefu¨hrt werden mu¨ssen und nicht, insbesondere aus medizinischen Gru¨nden, auf einen spa¨teren Zeitpunkt verschoben werden ko¨nnen.
13.6.3 Aussagen zum Hilfebedarf bei der Darmentleerung Die Kontrolle der Stuhlqualita¨t und die daraus abzuleitende Anpassung der Verdauungsenzyme ist als Hilfebedarf zu werten, solange ein Kind altersbedingt dazu noch nicht in der Lage ist. Gleiches gilt fu¨r die Kontrolle des Darmausganges, da aufgrund der Stuhlbeschaffenheit die Gefahr eines Darmprolapses erho¨ht ist. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Ist der Versicherte (noch) nicht in der Lage, die Kontrolle des entleerten Stuhles – in bezug auf sein Krankheitsbild sachgerecht – selbsta¨ndig durchzufu¨hren, hat eine Pflegeperson insoweit die Verrichtung „Stuhlentleerung“ im Sinne des § 14 Abs. 3 SGB XI teilweise zu u¨bernehmen. Nichts anderes gilt fu¨r die Kontrolle des Darmausganges, wenn hierbei ein Darmprolaps festgestellt werden kann, dies jedoch (noch) nicht selbsta¨ndig zu leisten ist.
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13 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI
13.6.4 Aussagen zur Beru¨cksichtigung des Aufwandes fu¨r Reinigungsta¨tigkeiten im Zusammenhang mit der Erkrankung Mukoviszidose Aufgrund der Erkrankung besteht eine erho¨hte Anfa¨lligkeit der Lunge fu¨r Keime und insbesondere Problemkeime. Vorbereitung und Reinigung des Inhaliergera¨tes und regelma¨ßige Desinfektion von Bad und Toilette sind erforderlich. Strittig war in diesem Zusammenhang die Frage der Zuordnung zur Grundpflege oder zur hauswirtschaftlichen Versorgung. B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Hilfeleistungen bei der Desinfektion des Bades und der Toilette za¨hlen zur hauswirtschaftlichen Versorgung. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Vorbereitung und Reinigung des Inhaliergera¨tes stehen nicht in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Verrichtung Aufstehen, wenn sie auch zu einem anderen Zeitpunkt durchgefu¨hrt werden ko¨nnen. B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Vorbereitung und Desinfektion des Inhaliergera¨tes und des Bades, Hilfe beim Inhalieren und der Gymnastik sowie bei der Medikamenteneinnahme ko¨nnen nicht der Grundpflege zugeordnet werden.
13.6.5 Bewertung der Medikamentengabe Die Gabe von Verdauungsenzymen ist bei der Erkrankung Mukoviszidose zwingend erforderlich. Strittig war, ob ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit der Verrichtung „Nahrungsaufnahme“ hergestellt werden kann. B 3 P 12/98 R Urteil vom 29. 04. 1999 Hilfe bei der Einnahme von Medikamenten za¨hlt nicht zur Grundpflege.
13.6.6 Bewertung des alleinigen Hilfebedarfs bei der hauswirtschaftlichen Versorgung Der Mehraufwand fu¨r die Nahrungszubereitung oder zusa¨tzliches Wechseln und Waschen der Wa¨sche aufgrund vermehrter Salzausscheidung ist als Mehrbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bei Kindern anzurechnen. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Mehrbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung, z. B. Mehraufwand fu¨r die Nahrungszubereitung der krankheitsbedingten hochkalorischen Nahrung und zusa¨tzlich erforderliches Wechseln und Waschen der Wa¨sche infolge vermehrter Salzausscheidung ist zu erfassen und zu beru¨cksichtigen. B 10 KR 4/97 R Urteil vom 27. 08. 1998 Hilfebedarf allein bei der hauswirtschaftlichen Versorgung lo¨st keinen Anspruch auf Pflegegeld aus. Dies gilt auch fu¨r Pflegebedu¨rftige im Kindesalter.
13.7 Entscheidungen zu Personen mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz
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13.7 Entscheidungen zu Personen mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz Personen mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz bedu¨rfen in der Regel einer regelma¨ßigen Blutwa¨sche oder Peritonealdialyse, d. h. jeden 2. Tag ist es erforderlich, durch die Dialyse den Ko¨rper von Abfallprodukten zu reinigen. Diese Prozedur ist zeitaufwa¨ndig, nimmt in der Regel mehrere Stunden in Anspruch und ist fu¨r den Betroffenen belastend. Ha¨ufig ko¨nnen dabei Kreislaufprobleme auftreten, insbesondere a¨ltere Menschen sind an den Tagen der Dialyse kraftlos und ha¨ufig nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen.
13.7.1 Bewertung der Dialyse Da die Urinausscheidung bei den Betroffenen ha¨ufig aufgehoben oder deutlich reduziert ist, die Durchfu¨hrung der Dialyse jedoch zeitaufwa¨ndig ist, war von den Betroffenen gefordert worden, diesen Aufwand bei der Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit zu beru¨cksichtigen. Insbesondere die Peritonealdialyse wird von den Betroffenen selbst, bei Kindern durch die Eltern durchgefu¨hrt. B 3 P 9/97 R Urteil vom 06. 08. 1998 Die Dialyse ist nicht mit der Blasen- und Darmentleerung gleichzustellen. Maßnahmen der Behandlungspflege sind nur relevant, wenn sie als Bestandteil der Hilfe zur Durchfu¨hrung der in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen anzusehen sind. Die Blutwa¨sche ist nicht Bestandteil der Hilfe fu¨r eine Verrichtung der Ko¨rperpflege, der Erna¨hrung, der Mobilita¨t oder der hauswirtschaftlichen Versorgung. B 3 P 5/02 R Urteil vom 12. 11. 2003 Die Peritonealdialyse stellt auch bei weiter Auslegung des Begriffs keine Blasenentleerung dar, sondern kompensiert die ausgefallene Nierenfunktion. Die Bauchho¨hle wird dabei nicht zu einer „ku¨nstlichen Blase“, sondern – allenfalls – zu einer „ku¨nstlichen Niere“.
Autorenverzeichnis
Dr. jur. Valentin Aichele, LL.M. Deutsches Institut fu¨r Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 10969 Berlin E-Mail:
[email protected] Dr. med. Holger Berg Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Westfalen-Lippe – Hauptverwaltung – Burgstraße 16 48151 Mu¨nster E-Mail:
[email protected] Dr. med. Sandra Bischof Kompetenz-Centrum fu¨r Psychiatrie und Psychotherapie der MDK-Gemeinschaft und des GKV-Spitzenverbandes MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V. Blu¨cherstraße 27c 18055 Rostock E-Mail:
[email protected] Dr. med. Dorit Bu¨chner MDK Thu¨ringen e. V. Richard-Wagner-Straße 2a 99423 Weimar E-Mail:
[email protected] Christa Bu¨ker, MPH Institut fu¨r Pflegewissenschaft Universita¨t Bielefeld (IPW) Universita¨tsstraße 25 33615 Bielefeld E-Mail:
[email protected]
Dr. Andreas Bu¨scher Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld (IPW) Universita¨tsstraße 25 33615 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Priv.-Doz. Dr. med. Heinz Paul Buszello Stellvertretender Gescha¨ftsfu¨hrer und ¥rztlicher Direktor MDK Nordrhein Bismarckstraße 43 40210 Du¨sseldorf E-Mail:
[email protected] Sylke Butenuth-Tho¨r MDK Westfalen-Lippe Begutachtungs- und Beratungsstelle Hermannstraße 1 33602 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Dr. med. Ulrike Diedrich Leitende ¥rztin MEDICPROOF GmbH Bonner Straße 324 50968 Ko¨ln E-Mail:
[email protected] Dr. med. Sieglinde Eckardt MDK Thu¨ringen e. V. Herderstraße 12 98693 Ilmenau E-Mail:
[email protected]
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Autorenverzeichnis
Harold Engel Ressortdirektor Pflege AOK Bayern – Die Gesundheitskasse Zentrale Carl-Wery-Straße 28 81739 Mu¨nchen E-Mail:
[email protected]
Dr. med. Hans Gerber Leitender Arzt Leiter der SEG 2 „Pflege“ MDK Bayern Putzbrunner Straße 73 81739 Mu¨nchen E-Mail:
[email protected]
Winfried Fischer Referent externe Qualita¨tssicherung MDK Bayern Ressort Pflege Putzbrunner Straße 73 81739 Mu¨nchen E-Mail:
[email protected]
Dipl. Biol. Susanne Glodny M. Sc. AG 3 Epidemiologie & International Public Health Universita¨t Bielefeld Fakulta¨t fu¨r Gesundheitswissenschaften Universita¨tsstrasse 25 Postfach 10 01 31 33501 Bielefeld E-Mail:
[email protected]
Diplom-Pflegewirt (FH) Bernhard Fleer Fachgebiet Pflegerische Versorgung MDS e. V. Lu¨tzowstraße 53 45141 Essen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Thomas Gaertner Leiter Stabs- und Servicebereich Wissen und Kommunikation MDK Hessen Zimmersmu¨hlenweg 23 61440 Oberursel E-Mail:
[email protected] Dr. med. Barbara Gansweid Leiterin des Fachreferates Pflege Leiterin der SEG 2 „Pflege“ MDK Westfalen-Lippe Begutachtungs- und Beratungsstelle Hermannstraße 1 33602 Bielefeld E-Mail:
[email protected]
Dr. med. Thomas Hagen SEG 1 MDK Bayern Ludwigstraße 19 97688 Bad Kissingen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Ulrich Heine ¥rztlicher Direktor/stellv. Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Westfalen-Lippe – Hauptverwaltung – Burgstraße 16 48151 Mu¨nster E-Mail:
[email protected] Reiner Kasperbauer Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Bayern Putzbrunner Straße 73 81739 Mu¨nchen E-Mail:
[email protected]
Autorenverzeichnis
Dr. med. Norbert Lu¨bke Leiter Kompetenz-Centrum Geriatrie (KCG) beim MDK Nord Hammerbrookstraße 5 20097 Hamburg E-Mail:
[email protected] Wolfgang Machnik Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Nordrhein Bismarckstraße 43 40210 Du¨sseldorf E-Mail:
[email protected] Dr. med. Volker Meintrup MDK Westfalen-Lippe Kattenstrother Weg 90 33332 Gu¨tersloh E-Mail:
[email protected] Dr. med. Paul-Ulrich Menz Beauftragter fu¨r Qualita¨t und Beschwerdemanagement MDK Westfalen-Lippe Hauptverwaltung Burgstraße 16 48151 Mu¨nster E-Mail:
[email protected] Dipl.-Krankenschwester Cornelia Michalke Gescha¨ftsbereich Behandlungsfehler MDK Niedersachsen Hildesheimer Straße 202 30519 Hannover E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. phil. Dr. med. Ulrich Otto Mueller Direktor Institut fu¨r Medizinische Soziologie und Sozialmedizin Philipps-Universita¨t Marburg Fachbereich Medizin Karl-von-Frisch-Straße 4 35043 Marburg E-Mail:
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Priv.-Doz. Dr. med. habil. Norbert Ro¨sler Leiter Team Neurologische Fru¨hrehabilitation MDK Berlin-Brandenburg e. V. Rudi-Dutschke-Straße 18 10969 Berlin E-Mail:
[email protected] Dr. phil. Eckart Schnabel Wissenschaftlicher Gescha¨ftsfu¨hrer Institut fu¨r Gerontologie Evinger Platz 13 44339 Dortmund E-Mail:
[email protected] Dr. med. Friedrich Schwegler Leiter Referat Pflegeversicherung MDK Nordrhein Bismarckstraße 43 40210 Du¨sseldorf E-Mail:
[email protected] Professor Dr. med. Wolfgang Seger Leitender Arzt / stellv. Gescha¨ftsfu¨hrer Unternehmensleiter Pflegeversicherung MDK Niedersachsen Hildesheimer Straße 202 30519 Hannover E-Mail:
[email protected] Dr. med. Brigitte Seitz Referentin Bereich Pflegeversicherung stellvertretende Leitende ¥rztin MDK Rheinland-Pfalz Albiger Straße 19 d 55232 Alzey E-Mail:
[email protected] Dr. med. Martina Stahlberg Leiter des Referates Pflegeversicherung MDK Berlin-Brandenburg e. V. Martin-Luther-Straße 3–7 10777 Berlin E-Mail:
[email protected]
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Autorenverzeichnis
Dipl.-Pa¨d. Martina Su¨ß Gescha¨ftsbereich Pflege – Consulting MDK Hessen Zimmersmu¨hlenweg 23 61440 Oberursel E-Mail:
[email protected] Dr. med. Christioph Jonas Tolzin Leiter des Kompetenz-Centrums fu¨r Psychiatrie und Psychotherapie der MDK-Gemeinschaft und des GKV-Spitzenverbandes MDK Mecklenburg-Vorpommern e. V. Blu¨cherstraße 27 c 18055 Rostock E-Mail:
[email protected] Dr. med. Hans-Christoph Vogel MDK Nord Hammerbrookstraße 5 20097 Hamburg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Gert von Mittelstaedt Leitender Arzt und kommissarischer Gescha¨ftsfu¨hrer MDK Hessen Zimmersmu¨hlenweg 23 61440 Oberursel E-Mail:
[email protected]
Dr. jur. Matthias von Schwanenflu¨gel LL.M.Eur. Bundesministerium fu¨r Gesundheit Friedrichstraße 108 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] K.-Dieter Voß Vorstand GKV-Spitzenverband Mittelstraße 51 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Dr. PH Klaus Wingenfeld Institut fu¨r Pflegewissenschaft an der Universita¨t Bielefeld (IPW) Universita¨tsstraße 25 33615 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Dipl. Soz. Dipl. Pa¨d. Yu¨ce Yilmaz AG 3 Epidemiologie & International Public Health Universita¨t Bielefeld Fakulta¨t fu¨r Gesundheitswissenschaften Universita¨tsstraße 25 Postfach 10 01 31 33501 Bielefeld E-Mail:
[email protected]
Verzeichnis des online-Zusatzmaterials
Unter der Internetadresse http://www.medizin-degruyter.de/pflegeversicherung findet sich das folgend aufgelistete Material. Die Herausgeber und der Verlag bemu¨hen sich, die online-Zusatzmaterialien sta¨ndig auf dem neuesten Stand zu halten und ggf. zu erweitern, um mo¨glichen gesetzlichen ¥nderungen, die nach Drucklegung dieses Werkes publiziert werden, Rechnung zu tragen. ¢ Begutachtungs-Richtlinien vom 08. 06. 2009: ¢ Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit gema¨ß SGB XI ¢ Richtlinie zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschra¨nkter Alltagskompetenz und zur Bewertung des Hilfebedarfs ¢ Ha¨rtefall-Richtlinien ¢ Richtlinien zur Qualita¨tssicherung der Begutachtung und Beratung ¢ Qualita¨tspru¨fungs-Richtlinien: ¢ Pru¨fanleitung ambulant ¢ Pru¨fanleitung stationa¨r ¢ Charta der Rechte hilfe- und pflegebedu¨rftiger Menschen ¢ Gesetzestexte: SGB V, SGB XI ¢ Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant (PTVA) ¢ Pflege-Transparenzvereinbarung stationa¨r (PTVS) ¢ Berichte des Beirats zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs (einschließlich des neuen Begutachtungsverfahrens: Neues Begutachtungsassessment – NBA): ¢ Recherche und Analyse von Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffen und Einscha¨tzungsinstrumenten ¢ Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit ¢ Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedu¨rftigkeit: Anlagenband ¢ Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedu¨rftigkeit nach dem SGB XI ¢ Finanzielle Auswirkungen und Umsetzung des neuen Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs und des dazugeho¨rigen Assessments fu¨r die Sozialhilfetra¨ger und die Pflegekassen ¢ Bericht des Beirats zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs ¢ Umsetzungsbericht des Beirats zur ¢berpru¨fung des Pflegebedu¨rftigkeitsbegriffs ¢ Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschl. des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in der ambulanten Pflege vom 10. Juli 1995 (i. d. F. vom 31. Mai 1996) ¢ Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschl. des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in der Kurzzeitpflege vom 18. August 1995 (i. d. F. vom 31. Mai 1996)
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Verzeichnis des online-Zusatzmaterials
¢ Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschl. des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in vollstationa¨ren Pflegeeinrichtungen vom 07. 03. 1996 ¢ Gemeinsame Grundsa¨tze und Maßsta¨be zur Qualita¨t und Qualita¨tssicherung einschl. des Verfahrens zur Durchfu¨hrung von Qualita¨tspru¨fungen nach § 80 SGB XI in der teilstationa¨ren Pflege (Tages- und Nachtpflege) vom 18. August 1995 (i. d. F. vom 31. Mai 1996)
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Register
Abha¨ngigkeit 11 Activities of Daily Living 39 Aktivita¨ten 25 ff, 145––147 Beeintra¨chtigung der 77 ff, 123 ff des ta¨glichen Lebens 37 ff psychoziale 96 soziale 137, 141, 143 und existenzielle Erfahrungen 38 Unterstu¨tzung bei den 67, 100 Alltagskompetenz 42, 100 eingeschra¨nkte 64, 93 ff, 155 von Kindern 106 ff Alterungsru¨ckstellung 54 Anleitung 62, 67 ff, 100 ff Assessment PEA- 28, 96 Auditor 186 ff Autonomie 2, 39, 143 Barthel-Index 126 Beaufsichtigung 67 f, 100 f Beaufsichtigungsbedarf 67, 83, 96 Bedu¨rfnistheorie 35 Bedarfsgrade 148, 157 Beeintra¨chtigung 24 Begutachtung Erstbegutachtung 88, 114 Folgebegutachtung 89, 114 Ho¨herstufungsbegutachtung 89, 114 Ru¨ckstufungsbegutachtung 89 von Kindern 103 ff Widerspruchsbegutachtung 89, 114 Wiederholungsbegutachtung 89, 114 Zweitbegutachtung 59, 90 Begutachtungsassessment, neues 139 ff, 145 ff Behandlungspflege 48, 50, 64 Beitragssatz 9, 18, 227 ff Bemessungsgrenze 18 Betreuung 36, 49, 96 a¨rztliche 75 Betreuungsangebote 49, 52, 204 f Betreuungsaufwand 23, 102 Betreuungsbedarf 28, 64, 93 Betreuungsleistungen 40, 49, 51
Betreuungssituation 75 soziale 64, 183, 196 Beweismittel 19, 20 bio-psycho-sozial 24, 123, 135 Bundessozialgericht 235 Case Management 231 Charta der Rechte hilfe-und pflegebedu¨rftiger Menschen 13 ff, 196 fu¨r kultursensible Altenpflege 166 Ottawa- 1 Compression, of morbidity 221 Demenz 93 ff, 131 ff, 229 Demenzformen 94, 134, 229 Demenzstadien 133 Demenzsyndrom 94, 134 Demenztypen 94, 133 Diskriminierung 13 Eigenverantwortung 1, 18, 32 Ersatzpflege 46 Evidenz evidenzbasierte Medizin 34, 136 f evidenzbasierte Pflege 34, 41 Expertengruppen, Sozialmedizinische 21, 212 ff Expertenstandards 40 f, 180 ff, 203 Extension 221 Fa¨higkeitssto¨rung 24 ff, 110, 135 demenzbedingte 78, 93 ff Finanzausgleich 18, 228 Formulargutachten 58, 74, 90 f Fortbildung 211 ff Fremdhilfe 27, 61, 75 Functional Independence Measure 126 Geldleistung 17, 43 ff, 84, 225 gender 16 Generationenvertrag 227 Geriatrietypik 128 f Gesundheitsschaden 171 ff, 213 Globalisierung 10
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Grundgesetz 1, 12, 184 Grundpflege 63, 66, 69 Gutachtenart 90 Ha¨rtefallreglung 63, 65, 71 Haushaltshilfe 17 Heilfu¨rsorge, freie 53 Heilmittel 75, 85, 105 Heimaufsicht 183 ff Hilfebedu¨rftigkeit 4, 22 von Kindern 23 Hilfebedu¨rftigkeitsbegriff 1 Hilfebedarf 39 ff, 61 ff, 102 ff na¨chtlicher 70, 80 f von Kindern 72, 105 Hilfeleistung 67 f, 100 Hilfen, technische 75, 86 Hilfsbedu¨rftigkeit 1 Hilfsmittel 47, 75, 80 Hilfsmittelversorgung 47, 85 Hilfsmittelverzeichnis 47 Humanita¨t 2 f, 19, 230 Impulsberatung 207 Inaugenscheinnahme, des Versicherten 61, 87, 184 Interaktionstheorie 35 Intimspha¨re 13 f Kapitaldeckungsprinzip 227 Kombinationsleistung 45 f, 84 Kompensation 4 Kompetenz-Centren 21, 212 Kompetenz-Einheiten 212 ff Kontextfaktoren 24 ff, 123 ff, 154 Kontrahierungszwang 53 f Kostenerstattungsprinzip 5, 56 f Krankenpflege, ha¨usliche 17, 75, 144 Krankheitsfolgenmodell 24 ff, 123, 135 Kurzzeitpflege 48 f, 85, 204 Laienpflege 62, 64, 81 Lebensaktivita¨ten 37 Lebensfu¨hrung 18, 47, 83 Lebensqualita¨t 134, 185, 194 ff Begriff der 197 Lebensrisiko 3, 229 Leistungsbild 25, 78 Lohnnebenkosten 4 Menschenrechte 11 ff Menschenwu¨rde 1 f, 11 ff, 197
Migrationshintergrund 164 f Mitbestimmung 11 f Mitmenschlichkeit 2, 33, 230 Modellvorhaben 9, 40, 156 Musterbedingungen, fu¨r die private PflegePflichtversicherung 54 Nachtpflege 47 ff Orientierungswerte 79, 81 Patientensicherheit 100, 171, 197 ff Perso¨nlichkeit 1 f, 95, 135 Perso¨nlichkeitsmerkmal 134 Perso¨nlichkeitsrecht 2, 15 Pflege aktivierende 64, 68, 123 formelle 43 f, 222 informelle 43 f, 61, 222 f Pflegebedu¨rfnis 167 Pflegebedu¨rftige erheblich 69 Schwer- 69 Schwerst- 69 Pflegebedu¨rftigkeit 11, 22 ff, 28 ff, 68 ff als Versicherungsfall 55 f Beurteilung der 23 ff, 66, 84 Determinanten von 219 Einscha¨tzung der 140 ff, 157 ff Feststellung der 29 ff, 42, 79 Grad der 148 Pra¨valenzen von 219 Pra¨vention von 232 Verschlimmerung der 72, 125 ff, 135 von Kindern 23, 103 Voraussetzungen der 44, 68 f, 135 Pflegebedu¨rftigkeitsbegriff 24 ff, 65, 93 erweiterter 157 ff, 230 neuer 140 ff, 155 ff, 228 Pflegebedu¨rftigkeitsrisiko 2, 17, 219 ff Pflegebedarf 1, 11, 167, 198 f, 236 Grundpflegebedarf 61, 237, 240 Selbstpflegebedarf 39 Pflegeberatung 18 f, 51 f, 231 Pflegedienst 63 Pflegeeinrichtung 63 Pflegefachkraft 63 Pflegefehler 171 ff Pflegegeld 17, 45 ff, 55 Pflegeheim 63 Pflegehilfe 17, 44 f
Register Pflegehilfsmittel 47, 68 technische 47 Pflegehilfsmittelversorgung 47, 85 Pflegehilfsmittelverzeichnis 56, 57 Pflegekurse 17 f, 50, 166 Pflegemodell 34 ff Pflegeperson 46 ff, 62 f, 230 Pflegepersonen, Population der 222 Pflege-Pflichtversicherung 5, 53 ff, 185, 228 Pflegeplan/Pflegeplanung 38 f, 42, 51, 88, 231 Pflegeprozess 35 ff, 174, 204 Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetz 180, 206 Pflege-Qualita¨tssicherungsgesetzes 177 Pflegesachleistung 5 Pflegesatzverhandlungen 34 Pflegestu¨tzpunkt 19, 52, 56 Pflegestufe 27 ff, 68 ff Pflegestufe I 69 Pflegestufe II 69 Pflegestufe III 69 Pflegestufena¨nderung 72, 89, 125 Pflegetheorie 34 ff, 144 f Pflege-Versicherungsgesetz 4 f, 13, 47 Pflegeversicherung, soziale 2 ff, 16 ff Pflegezeitbemessung 79, 81 Postponement 221 Pra¨vention 18, 85, 142 Prima¨rpra¨vention 126 Sekunda¨rpra¨vention 127 Privatheit 197 Privatspha¨re 13, 14 Psychosyndrom 94 Qualita¨tsindikatoren 40, 194 ff Qualita¨tspru¨fung 20 f, 107 ff, 201 ff Anlasspru¨fung 177, 179, 183 Regelpru¨fung 179, 183, 186 Stichprobenpru¨fung 179 Wiederholungspru¨fung 179, 183 f Wiederholungspru¨fungen 209 Qualita¨tssicherung der Begutachtung 115ff der Pflege 177 ff, 203 ff Schiedsstelle 182 Reflexionsberatung 208 Regelberatung 208 Rehabilitation 18, 85, 123 ff geriatrische 128 ff kognitive 136 mobile geriatrische 130, 132
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Rehabilitationsbedu¨rftigkeit 124, 129 Rehabilitationsfa¨higkeit 124, 129 Rehabilitationsindikation 29, 74, 124 geriatrische 129 Rehabilitationsplan 125 f Rehabilitationsprognose 125, 130, 135 Rehabilitationsteam 125 f, 130 Rehabilitationsziel 124, 129, 130 Ressourcen 41 f, 135 Richtlinien 65 u¨ber die Zusammenarbeit 18, 29, 65 Begutachtungs- 18, 65 ff, 235 Ha¨rtefall- 65, 71 Pflegebedu¨rftigkeits- 65, 66 Qualita¨tspru¨fungs- 18, 178, 194 zur Fort- und Weiterbildung 18, 65, 212 ff zur Qualita¨tssicherung 18, 65, 115 Risikoausgleich 54, 57 Risikostrukturausgleich 18 Runder Tisch Pflege 13 Sachleistung 17, 44 ff, 84 Sachleistungsprinzip 56 Schiedsgutachten 58 Schulungsberatung 208 Schutzpflicht 12 Schwerpflegebedu¨rftigkeit nach SGB V 70 Screening Assessment- 42, 78 PEA- 28, 42, 78, 92, 96 Selbstbestimmung 2, 11 ff, 204 Selbsthilfe 2 Selbstpflege 27, 41, 64 Selbstpflegebedu¨rfnis 39 Selbstpflegedefizit 39 Selbstpflegefa¨higkeit 39 f Selbstpflegfa¨higkeit 42 Selbststa¨ndigkeit 2, 41, 78, 232 Grad der 141 ff Selbstversorgung 76, 143 ff Sicherheit 68 Solidargemeinschaft 2, 19 Solidarita¨t 2 f, 10, 17, 63 Sozialgerichtsbarkeit 59, 66, 87, 182 Sozialleistung 17, 231 Sozialleistungstra¨ger 19 f, 217 Sozialmedizin 19 ff, 214, 217 Stellungnahmen, sachversta¨ndige 20 f, 30 ff, Subsidiarita¨t 1, 2, 17, 213 Tagespflege 47 ff, 204 Tagesstrukturierung 61, 125
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Register
Teilabsicherung 4, 17, 23 Teilhabe 14, 25 ff, 123 ff Beeintra¨chtigung der 79, 123 ff, 131, 135 soziale 141, 155 Transparenzkonzept 192 ff Gesamtnote 191 ff Transparenzkriterien 189, 192 Transparenzvereinbarung, Pflege 189, 196 ¢bernahme 62, 68, 79 Behinderung der 80 Motivierung zur 101 punktuelle 145 teilweise 67 f vollsta¨ndige 67 f, 79 Umlagefinanzierung 4, 17 f, 54 Unterstu¨tzung 39 Untersuchung 20, 25, 89 ff Erstuntersuchung 30 Folgeuntersuchung 30 perso¨nliche 91, 141 Wiederholungsuntersuchung 87 Vergu¨tungszuschla¨ge 51, 63 f, 93 Verhinderungspflege 48, 204 Verrichtungen, gewo¨hnliche und regelma¨ßig wiederkehrende 41, 66 ff
Versorgung hauswirtschaftliche 41, 69, 83 Versorgungssituation 45, 74 f, 85, 141 f Versorgungsplan 51 Versorgungsstruktur 204, 206 Vorrang von ha¨uslicher Pflege 18, 230 von Pra¨vention 18, 29 f, 232 von Rehabilitation 18, 29 f, 127 f, 135 Vorsorge 24 Wu¨rde 2 Wegezeit 105 Wettbewerb 9, 18, 194 WHO 2, 199, 224 Widerspruch/Widerspruchsverfahren 58 f, 89 f, 114 Wirtschaftlichkeit 2, 17 ff, 71, 181 Wohlfahrt 2 Wohlfahrtsstaat 3 Wohnsituation, durchschnittliche ha¨usliche 30, 64, 83 ff Wohnumfeld 30, 76, 91 verbessernde Maßnahmen 30 ff, 47, 84 ff
DE GRUYTER
Friedrich Mehrhoff / Hans-Martin Schian
n Zurück in den Beruf Betriebliche Eingliederung richtig managen Ca. X, 250 Seiten. 20 Abb. Broschur. ISBN 978-3-11-020231-1 Auch als eBook erhältlich ISBN 978-3-11-021202-0 erscheint Juli 2009 Wie erkenne ich erkrankte Beschäftigte frühzeitig und wie reintegriere ich sie in den Betrieb? Für Mediziner, Disability Manager, Psychologen, Sozialarbeiter und für Versicherungen, die sich mit der betrieblichen Reintegration befassen, ist das Buch Zurück in den Beruf ein hochaktuelles kompetentes Nachschlagewerk zwischen Prävention und Rehabilitation. Es bietet Handlungsanleitungen und wertvolle Tipps zum Eingliederungsmanagement, gegliedert nach medizinischen Diagnosen, die laut Statistik am häufigsten zur Arbeitsunfähigkeit führen. Jede Gruppe von Krankheitsbildern wird in Bezug auf Interventionsbedarf (z. B. Tipps zur Reintegration), Integrationsprognose (z. B. verbleibende Fähigkeiten, Planung), stufenweise Wiedereingliederung (z. B. Begleitung am Arbeitsplatz, Hilfsbedarf ) und nachhaltige Leistungsfähigkeit behandelt.
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DE GRUYTER
Friedrich Mehrhoff / Renate Ch. Meindl / Gert Muhr
n Unfallbegutachtung 12. vollst. überarb. und erweiterte Aufl. Ca. XVII, 417 Seiten. 10 Abb. 15 Tab. Gebunden. ISBN 978-3-11-020230-4 erscheint September 2009 Auch erhältlich als eBook ISBN 978-3-11-021201-3 Die Unfallbegutachtung bleibt Standard- und damit unverzichtbares Nachschlagewerk für alle, die Gutachten über Unfallfolgen erstellen oder beauftragen. Wie gewohnt werden auch in der 12. Auflage rechtliche und medizinische Aspekte verknüpft. Alle gesetzlichen Änderungen zur Unfallversicherung werden angepasst und die Erläuterungen zu privaten Unfallversicherungen erweitert. Häufig auftretende unfallbedingte Erkrankungen wie Kniegelenksarthrose und Wirbelsäulenerkrankungen werden ausführlicher behandelt. Darüber hinaus wird besonders auf die funktionsbezogene Begutachtung eingegangen.
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