Antike und Abendland
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens
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Antike und Abendland
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens
herausgegeben von
Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller · Rainer Stillers
Band L
2004 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, OttoBehagel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Leinerstr. 1, 78462 Konstanz. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beiträgen 25 Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vor der Drucklegung des Bandes gegen Berechnung beim Verlag bestellt werden. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden.
ISBN 3-11-017985-7 ISSN 0003-5696 © Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz, 49448 Lemförde
Inhaltsverzeichnis Ulrich Schindel, Göttingen Historische Analyse und Prognose im 18. Jh. Christian Gottlob Heyne und die spätantike römische Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Peter Landmann Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte (aus dem Nachlass herausgegeben von Ernst A. Schmidt) . . . . . . . . . . .
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Kai Rupprecht, Gießen Warten auf Menalcas – Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge . . . .
36
Elisabeth Mairhofer/Manfred Kienpointner, Innsbruck Zeitlos, dicht, vollendet. Zu einigen Analogien des Seinsbegriffs bei Sartre und Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
Thomas Gärtner, Köln Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung›. Zur modernen Rezeption der Euripideischen Helena
. .
73
Peter Habermehl, Berlin Phaeton am Lichtberg. Der Heliogabal-Roman des Louis Couperus . . . . . . .
106
Vinko Hinz, Halle «Die eilende Hündin wirft blinde Junge» und einige andere antike Sprichwörter bei Michael Apostolios und Erasmus . . . . . . . . . . . . . .
124
Stefan Tilg, Bern Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
Pascal Weitmann, Berlin Giacometti, Twombly und die Antike. Die Realität als Frage versus fragwürdige Idealitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
VI
Mitarbeiter des Bandes PD Dr. Thomas Gärtner, Universität zu Köln, Klassische Philologie, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln PD Dr. Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22–23, 10117 Berlin Dr. Vinko Hinz, Universität Halle, Lehrstuhl für Lateinische Philologie, Universitätsplatz 12, 06099 Halle/Saale Prof. Dr. Manfred Kienpointner / Dr. Elisabeth Mairhofer, Universität Innsbruck, Institut für Sprachen und Literatur, Abteilung Sprachwissenschaft, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich Dr. Stefan Tilg, Universität Bern, Institut für Klassische Philologie, Länggass-Straße 49, 3000 Bern 9, Schweiz Prof. Dr. Ulrich Schindel, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Klassische Philologie, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen Dr. Kai Rupprecht, Hedwig-Burgheim-Ring 70, 35396 Gießen Dr. Pascal Weitmann, Andréezeile 33, 14165 Berlin
Historische Analyse und Prognose im 18. Jh.
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Ulrich S chindel
Historische Analyse und Prognose im 18. Jh. Christian Gottlob Heyne und die spätantike römische Historiographie Siegmar Döpp zum 60. Geburtstag Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Altersgenosse von Lessing, ist derjenige unter den deutschen Klassischen Philologen, der die Grundlagen für die Entstehung einer neuzeitlichen Altertumswissenschaft gelegt hat und der der zweite Vertreter seines Fachs in Göttingen (1763–1812) war. Als Nachfolger von Johann Matthias Gesner übernahm Heyne die Professur der Poesie und Beredsamkeit, weiterhin das Direktorium des 1737 von Gesner begründeten Seminarium Philologicum, die Stelle des ersten Bibliothekars der Universitätsbibliothek und die Vertretung der studia humanitatis in der Akademie der Wissenschaften.
Mit Antritt seines Amts entfaltete Heyne eine rege literarische und editorische Tätigkeit: seit 1763 erschienen in ununterbrochener Reihe die sogenannten Programme und Prolusionen, (135 Nummern, bis 1809), seit 1770 die Akademie-Abhandlungen (47 Nummern, bis 1813) und die Akademie-Elogia (20 Nummern, bis 1811), außerdem die unendliche Folge von Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, deren Redaktion er 1770 übernahm (mehrere tausend, bis 1812). Neben dieser Masse von Opuscula stehen als Hauptwerke die aus dem Englischen übersetzte Weltgeschichte in 4 Bänden (1765–72) und die kommentierten Editionen des Vergil (1767–72), des Pindar (1773), des Homer (1802 f.), sowie die Ausgabe der Mythologie des Apollodor (1782). An die Seite dieser unerschöpflichen wissenschaftlichen Produktivität treten erhebliche wissenschaftsorganisatorische Leistungen. Seit 1770 war Heyne Sekretär der Akademie und setzte sogleich eine erfolgreiche Reorganisation durch. Als Bibliothekar leistete er Außergewöhnliches durch einen international organisierten Büchereinkauf, in dessen Folge der Bestand während seiner Amtszeit von 60 000 auf 200 000 Bände wuchs. Auch auf das gymnasiale Schulwesen nahm er Einfluß: durch Reformkonzepte für Schulen im Kurfürstentum Hannover sowie durch gezielte philologische und pädagogische Ausbildung der zukünftigen Gymnasiallehrer im Seminarium Philologicum der Universität prägte er die gymnasiale Bildung in Norddeutschland nachdrücklich. Heynes wissenschaftliche Bedeutung besteht darin, daß er an Stelle eines antiquarischen Polyhistorismus, wie er in der Regel bis dahin betrieben worden war, einen Begriff von Altertumskunde praktizierte, der auf universelle Rekonstruktion des literarischen, historischen und kulturellen Lebens der Antike zielte und zugleich die gewonnenen Erkenntnisse immer in Beziehung zur Gegenwart setzte. Aus seiner Schule sind Philologen wie Friedrich August Wolf und Karl Lachmann, Dichter wie Ludwig Hölty und Johann Heinrich Voß hervorgegangen. Dem heutigen Philologen und gar dem Studenten wird der Name Heynes eher ein ferner Begriff aus der ruhmvollen Vergangenheit des Faches sein: Heynes kommentierte Dichterausgaben werden, vielleicht mit Ausnahme der Vergil-Edition, nicht mehr benutzt, und in
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Ulrich Schindel
den kritischen Apparaten der heutigen Ausgaben der von Heyne edierten Autoren kommt sein Name nicht vor, denn ein ausgeprägter Textkritiker ist er nie gewesen. Heynes Wirkung für die moderne Klassische Philologie liegt vielmehr in einer allseitigen Öffnung des philologischen Gesichtskreises: Geschichte mit ihren Unterdisziplinen wie Epigraphik oder Verfassungs- und Rechtshistorie, Mythologie und Religionswissenschaft, Kunstarchäologie, aber auch Numismatik und Etruskologie sind Bereiche, die in Heynes wissenschaftlicher Praxis erstmals Kontur gewinnen als integrale Bestandteile einer universellen Altertumskunde. Heyne realisierte seinen Neuansatz im wesentlichen in der alltäglichen Praxis von Forschung und Lehre, nicht in einem systematischen Theoriekonzept. Das hat dazu geführt, daß seine Leistung in der Perspektive der Philologie-Geschichte durch Friedrich August Wolfs und August Boeckhs Methodologie-Entwürfe verdeckt worden ist. Doch lassen sich diese wegweisenden Neuansätze leicht finden in seinen der täglichen Lehrpraxis entstammenden kleinen Schriften, vor allem in den immer wieder überraschende Themen behandelnden 6 Bänden seiner Opuscula Academica (1785–1812). Sie sind auch die Grundlage meines folgenden Beitrags. Vor gut 10 Jahren habe ich mich schon einmal zu Heyne, dem Historiker, geäußert 1. Da war es eher Heynes geschichtstheoretisches Denken, das ich an Hand einiger Beispiele ans Licht bringen wollte, da es von seinen philologischen Leistungen eher in den Hintergrund gedrängt worden ist. Und es waren ausschließlich Themen aus der griechischen Geschichte, denen ich bei der Suche nach Heynes Vorstellungen über die Grundbegriffe historischer Kritik nachgegangen bin. Diesmal geht es nicht um Geschichtstheorie sondern um ein praktisches Beispiel historischer Analyse und hier um ein Beispiel aus der spätantiken römischen Geschichtsschreibung: es geht um die legatio Leonis Papae vom Jahre 452, von der es eine emphatische Darstellung Raffaels gibt, die sich Papst Leo X. zur mittelbaren Eigenverherrlichung – Leo der Große auf dem Fresko trägt die Züge seines späten Nachfolgers – in der Stanza d’Eliodoro des Vatikan 1512 hat malen lassen: warum hier gerade dieses Bild, davon später. Zum historischen Tatbestand – wenn man ihn denn historisch nennen darf: Nachdem Attila mit seinen Hunnen 451 Gallien verwüstet und sich auf den Katalaunischen Feldern eine schwerwiegende Niederlage geholt hatte, war er nach Südosten gezogen über die Julischen Alpen und hatte Norditalien verheert: Aquileia, Mailand, Bergamo und andere Städte waren erobert und ausgeplündert worden, und dasselbe Schicksal drohte nun Rom. Da zog eine Gesandtschaft unter Führung von Papst Leo dem Großen dem in der Gegend von Mantua am Mincio lagernden Hunnenheer entgegen, und durch seine ehrwürdige Erscheinung erreichte der Papst, daß der grimmige Hunnenkönig besänftigt wurde und mit seinen wüsten Barbarenhaufen friedlich nach Osten abzog. So berichten es uns die spätantiken Chronisten, Prosper Tiro von Aquitanien2, z. T. Hydatius3 und vor allem Jordanes in seiner auf Cassiodor beruhenden Gotengeschichte 4. 1
2 3 4
Heyne und die Historiographie, in: Memoria rerum veterum, hrsg. v. W. Ax (Palingenesia 32), 1990, S. 191–210. Chronicon,ad a. 452, MGH AA 9, S. 482, ed. Th. Mommsen 1892. Chronicon,ad a. 452, MGH AA 11, S. 26, ed. Th. Mommsen 1894. De origine actibusque Getarum 42, MGH AA 5, 1, S. 114 f, ed. Th. Mommsen, 1882.
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Was aber erweckte Heynes Aufmerksamkeit für dieses Geschehnis? Heyne war der orator publicus der Universität, das war eine Nebenaufgabe, die mit seinem Amt als professor eloquentiae automatisch verbunden war: zu allen offiziellen Ereignissen des Universitätsjahrs hatte er zu sprechen, natürlich auf Lateinisch, so auch zum 44. Universitätsjubiläum am 17. September 1782 5. Daß Heyne die Themen seiner Festreden aus seinem engeren Wissenschaftsbereich wählte, war nur zu natürlich. Doch es war ihm selbstverständlich, daß seine Zuhörer keineswegs alle oder auch nur überwiegend besonderes Interesse an den ‹studia humanitatis› – wie man damals sagte – hatten. Und so war Aktualität ein ausgeprägtes Anliegen Heynes. Heyne reflektiert sein Vorgehen durchaus: «Schriften dieser Art», schreibt er in einer Selbstanzeige in den GGA, «haben ihre Schwierigkeiten bey Wahl und Bestimmung und selbst bey Behandlung des Gegenstandes, da sie etwas von einer öffentlichen Schrift haben und doch nichts anderes als Privatschriften seyn können; sie sind ferner genaugenommen Zeitschriften, bloße Ephemeren: eine sehr gelehrte und sehr specielle Abhandlung würde also weder nach den Verhältnissen des Verfassers und derjenigen, von denen er den Auftrag erhält, noch für die Bestimmung schicklich seyn. Diese Betrachtungen verleiteten den Herrn Hofrat Heyne, so oft es möglich, sich an die Zeitumstände anzuschließen.» Dementsprechend gibt es 1766 einen Vortrag «de veterum coloniarum iure eiusque caussis»6 (Über das Recht der alten Kolonien und dessen Begründungen), ganz offensichtlich angeregt von der sich in den 60er Jahren verbreitenden Diskussion über die Freiheitsrechte der englischen Kolonien in Amerika. Und mit plausibler Folgerichtigkeit heißt ein Vortrag 1783, wenn der Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien erfolgreich beendet ist, «de belli Romanorum socialis caussis et eventu, respectu ad bellum cum coloniis Americanis gestum habito»7 (Über Ursachen und Ausgang des Bundesgenossenkriegs der Römer im Hinblick auf den mit den amerikanischen Kolonien geführten Krieg). Am Ende des gleichen Jahrs 1783 mit Bezug auf die – von Heyne zu Unrecht bezweifelte – Dauerhaftigkeit der Unabhängigkeitserklärung der 13 Vereinigten Staaten von Amerika folgt das Thema «foederatarum rerum publicarum coalitio vix umquam satis fida exemplis ex antiquitate illustrata»8 (Die kaum jemals wirkliche Zuverlässigkeit einer Vereinigung von Bundesstaaten, gezeigt an Beispielen des Altertums). Ähnlich spiegeln sich in den Themen der neunziger Jahre die Unruhe-Wellen der Französischen Revolution: 1789 «libertas populorum raro cum expectato ab iis fructu recuperata»9 (Wiedergewinnung der Freiheit der Völker (geschieht) selten mit dem erwarteten Erfolg) – in Bezug auf den Sturm auf die Bastille; 1790 «opum regni Macedonici auctarum, attritarum et eversarum caussae probabiles»10 (plausible Ursachen für den Aufstieg, Verfall und Sturz der Macht des Makedonenreichs) – in Bezug auf das Schicksal der französischen
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De Leone M. Pontifice Rom. Attilae (et Genserico) supplice facto, in: Chr. G. Heynii Opuscula academica, vol. 3, 1788, S. 127–141. C. G. Heynii Opuscula Academica, vol. 1, 1785, S. 290–309. A. O. vol. 3, S. 144–161. A. O. vol. 3, S. 162–183. A. O. vol. 4, 1796, S. 140–158. A. O. vol. 4, S. 159–177.
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Ulrich Schindel
Monarchie; 1791 «reges a suis fugati, externa ope in regnum reducti»11 (Vertreibung von Königen durch ihre Untertanen, Wiedereinsetzung in die Herrschaft durch auswärtige Mächte) – in Bezug auf den vergeblichen Fluchtversuch Ludwigs XVI. und die europäische Kriegskoalition; 1792 «vani senatus Romani conatus sub imperatoribus restituendi libertatem rei publicae»12 (Eitle Versuche des römischen Senats in der Kaiserzeit die Freiheit des Staats wiederherzustellen) – in Bezug auf die Ordnungsbemühungen der Pariser Nationalversammlung. Unter dieser Grundperspektive, «so oft es möglich, sich an die Zeitumstände anzuschließen»13, hat Heyne auch die legatio Leonis Papae ausgewählt. Im Sommer 1782 nämlich war Papst Pius VI. nach Wien zu Kaiser Joseph II. gereist, um dessen eigenmächtige Kirchenpolitik – die Aufhebung der Klöster, Vertreibung der nicht schulisch oder pflegerisch tätigen Orden – in persönlicher Verhandlung und Gespräch zu mäßigen; und diese Reise war für Heyne Anlaß, sich einer anderen PapstReise, eben der Leos I. zu Attila, zuzuwenden. In leichter Verkennung der Erfolge von Pius VI. hebt Heyne anfangs hervor, wieviel besser die Situation des gegenwärtigen Papsts im Vergleich zum damaligen gewesen sei: freiwillig und unter friedlichen Umständen habe Pius den Kaiser aufgesucht, habe von gleich zu gleich mit ihm verhandelt, und der Kaiser habe ihm seine ganze Humanität und Leutseligkeit erwiesen. Die Zukunft werde deutlich machen, welch schwerwiegende Beschlüsse und heilsame Folgen aus diesem Treffen erwüchsen 14. Moderne Geschichtsschreibung sieht das erheblich anders: «Es hatte den Charakter einer Verzweiflungstat, eines umgekehrten Canossa- Ganges, als Papst Pius VI. 1782 nach Wien reiste, um Joseph II. zur Zurücknahme seiner Kirchengesetze zu bewegen. Mit aufwendigem Zeremoniell ist Pius VI. (in Wien) empfangen worden; erreicht hat er nichts» 15. Immerhin: der aktuelle Bezug, der die Aufmerksamkeit der Hörer anregen konnte, war hergestellt. Er wurde deutlich verstärkt dadurch, daß Heyne von dem am Schluß abgebildeten Raffael-Fresko im Vatikan vielfältigen Gebrauch bei der Visualisierung der literarisch überlieferten Szene machte 16 – ihm stand, im Gegensatz zu uns, nur ein kolorierter Kupferstich zur Verfügung; aber er beschreibt ihn suggestiv, vor allem, um die Märchenhaftigkeit der Überlieferung insgesamt einzuschärfen, die von Raffael noch gesteigert sei. So mokiert sich Heyne weidlich darüber, daß Attila, der doch wohl die Hauptperson in diesem historischen Augenblick war, gleichsam im Getümmel verschwinde und sich in ganz unplausibler Weise angstvoll vor der wunderbaren Erscheinung der Apostel Peter und Paul abwende, deren Schwerter gar nicht auf ihn gerichtet seien, während die segnende Erscheinung des Heiligen Leo die Szene beherrsche 17.
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A. O. vol. 4, S. 286–301. A. O. vol. 4, S. 331–349. Heyne, Selbstanzeige GGA 1792, S. 1570. De Leone (s. o. Anm. 5), S. 128. Vgl. H. Fuhrmann, Die Päpste. 1998, S. 185; ähnlich auch Gebhardt, Handbuch d. dt. Gesch., 9. Aufl., Bd. 2, S. 345 oder F. X. Seppelt, Geschichte der Päpste, Bd. 5, 2. Aufl. 1959, S. 488. A. O. S. 128, 137, 138; außerdem nimmt Heyne auch Bezug auf das Relief zum gleichen Thema von Algardi in der Peterskirche in Rom. A. O. vol. 3, S. 137.
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Ehe Heyne an die historische Kritik der einschlägigen Quellen geht, formuliert er die Prinzipien dieses Zugriffs18. 1. Man müsse sich klar darüber sein, ob bei gegebener Quellenlage die Gewinnung neuer Tatsacheninformation möglich sei; wer das nicht sehe, sei ein Klotz (stolidus). Ganz und gar unangemessen der Würde der Geschichte (historiae dignitas) sei es, irgendwelche leichtfertigen Gedankenkonstruktionen (levissima quaeque ingenii commenta) an die Stelle der tatsächlichen Wahrheit (factorum veritas) zu setzen. 2. Noch unangemessener sei es, sich mit der Widerlegung von fehlerhaften Thesen und Argumenten seiner Vorgänger aufzuhalten, zumal wenn sie schon von andern widerlegt seien. 3. Legitim aber sei, sein eigenes Urteil, seinen normalen Verstand (suum utique iudicium, sua ratio) zu bemühen bei Erkundung und Abwägung oder Erläuterung der Dinge (in rebus seu explorandis et trutinandis seu exponendis). Alt Überliefertem einen Rahmen zu geben (antiqua ornanda), Widersprüchliches zu klären (obscura illustranda), dazu sei Begabung (ingenium) vonnöten. Aufgeklärte Rationalität, wie sie die Zeit und zumal den Geist der neuen Universität Göttingen bestimmte, ist hier mit Händen zu greifen. Heyne geht dann bei der Bewertung der Quellen chronologisch vor: zuerst erörtert er die Version des Prosper Tiro, ‹scriptor qui rebus interfuit› 19. Prosper ist etwa 390 geboren, bekannt als Korrespondent Augustins im Pelagianismus-Streit und seit 440 im Gefolge Leos des Großen. Seine Chronik reicht bis 455, er kann also authentische Kenntnis der Vorgänge von 452 besitzen. Er stellt die berühmte Gesandtschaft an Attila als selbständige Unternehmung Leos des Großen dar unter Mitwirkung des Ex-Consuls Gennadius Avienus und des ehemaligen Stadt- oder Praetorianer-Präfekten Trygetius, die beide auch sonst historisch bezeugt sind20. Prosper schildert das Ganze als tapfere Glaubenstat des Papstes: «tota legatione dignanter accepta ita summi sacerdotis praesentia rex gavisus est, ut bello abstineri praeciperet et ultra Danubium promissa pace discederet» 21 (nachdem die ganze Gesandtschaft würdig empfangen worden war, freute sich der König so sehr über die Anwesenheit des Papstes, daß er befahl, den Krieg zu beenden und nach Friedensversprechung über die Donau abzog). Heyne bemängelt das Fehlen jeglicher Begründung dieses Vorgangs, sowohl auf der einen wie der andern Seite der Kontrahenten. Das Tatsächliche wolle er nicht bezweifeln, die Gesandtschaft als solche und den Abzug der Hunnen. Aber daß allein Ehrwürdigkeit und Amt Leos und dessen Redegewalt zu diesem Ergebnis geführt hätten, sei doch kaum glaublich22. Ebensowenig glaubhaft – und damit geht Heyne gleich zur zweiten Quelle über 23 – sei der Bericht des Jordanes, Attila habe aus Furcht vor dem Exempel des Alarich, der alsbald nach der Eroberung Roms plötzlich gestorben sei, vor der Eroberung Roms zurückge18 19 20
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A. O. S. 129. A. O. S. 131 f. Prosper, MGH AA 9, S. 482; zu den Begleitern vgl. PLRE s. v. Avienus Gennadius 4 und Trygetius 51 (bei Prosper ist sein Name entstellt zu Trigetorius). A. O. S. 482. De Leone (s. o. Anm. 5) S. 132 f. A. O. S. 133 f.
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scheut: eine solche Vorstellung von Gottesgericht könne wohl in christlichen Seelen wohnen, kaum aber Bedeutung gehabt haben für das Bewußtsein eines Hunnen. Auch bei Jordanes, so Heyne, fehle jegliche rationale Begründung für den Vorgang, dagegen gebe es auch hier die pauschale Behauptung von Leos Gesandtschaftsleitung (Leo papa per se ad eum [Attilam] accedens) und Erfolg (qui [Attila] mox deposuit exercitatum furorem et rediens quo venerat iter ultra Danubium promissa pace discessit)24. Einsichtige Gründe könnten aber vermutet werden mit Blick auf eine Notiz in der Chronik des Hydatius zum Jahr 452, in welcher demgegenüber von einer legatio Leonis Papae überhaupt nicht die Rede sei: Seuchen im hunnischen Heer, Nahrungsmangel, Truppenkonzentration durch den weströmischen Heermeister Aetius und Angriff des Kaisers Marcianus (Ostreich) auf die Wohnsitze der Hunnen an der Donau. Dies hält Heyne für die eigentlichen Gründe; dazu sei anzunehmen, daß die Gesandtschaft Geldzahlungen mitgebracht, andere versprochen und sich zu einer Jahressteuer bereiterklärt habe (probabile fit munera fuisse missa, alia promissa, annuum vectigal exactum)25. Was aber Heynes Hauptargument gegen die Glaublichkeit der überlieferten Version ist, das ist ein neues Testimonium26, das m. W. bis dahin niemand gebraucht hatte und das bis heute zweifelhaft bleiben muß. In den Variae Cassiodors27, in einem Brief Theoderichs vom Jahr 507 an den Senat über die Verleihung des Patricius-Titels an Cassiodors Vater (Var. 1, 4), wird von einer Gesandtschaft des Großvaters von Cassiodor berichtet, die dieser zusammen mit Carpilio, dem Sohn des Heermeisters Aetius, zu Attila geführt habe, um Frieden mit den Hunnen zu schließen. Das unerschrockene Auftreten des Cassiodorus avus sowie das hochfahrende und aggressive Verhalten des Hunnenkönigs werden ausführlich in dem Brief geschildert: «Unerschüttert blickte er den an, vor dem das Reich sich fürchtete; seine schrecklichen und drohenden Mienen achtete er gering im Vertrauen auf die Wahrheit und scheute sich nicht, den Schmähreden dessen zu widersprechen, der von einer unbegreiflichen Wut gepackt die Weltherrschaft zu verlangen schien … Durch seine Standhaftigkeit richtete er seine furchtsame Begleitung auf, und nicht erschienen kriegsmüde, die von solchen Gesandten verteidigt wurden» (vidit intrepidus quem timebat imperium; facies illas terribiles et minaces fretus veritate despexit nec dubitavit eius altercationibus obviare, qui furore nescio quo raptatus mundi dominatum videbatur expetere … erigebat constantia sua partes timentes, nec imbelles sunt crediti, qui legatis talibus videbantur armari)28. Ebenso deutlich wird der erfolgreiche Abschluß der Verhandlungen beschrieben: «Er fand den König hochfahrend, aber er verließ ihn befriedet und widerlegte seine verleumderischen Behauptungen mit solcher Wahrhaftigkeit, daß der um Gunst nachsuchen wollte, dem es nicht unlieb war, in Unfrieden mit dem wohlhabensten Reich zu leben … Er brachte Frieden, auf den man schon nicht mehr gehofft hatte.» (invenit regem superbum, sed reliquit placatum et calumniosas eius allegationes tanta veritate destruxit, ut voluisset gratiam quaerere, cui expediebat pacem cum regno ditissimo non habere … pacem retulit desperatam)29. 24 25 26 27 28 29
Jordanes, MGH AA 5, 2, S. 115, 5 u. 7. De Leone (s. o. Anm. 5), S. 134 f. A. O. S. 133. MGH AA 12, ed. Th. Mommsen 1894, S. 13 f. = CChr XCVI, ed. A. J. Fridh 1973, S. 15, 71 ff. A. O. S. 15 (Mommsen), bzw. S. 15, 73 (Fridh). A. O. S. 15 (Mommsen), bzw. S. 15, 77 (Fridh).
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Leider ist diese – offenbar vom Westreich (Ravenna) ausgehende – Gesandtschaft nicht sicher datierbar30: es gilt bisher ein terminus post quem 44531, und es ist wahrscheinlich, daß dieser auf 449 präzisiert werden kann, da Carpilio bis dahin als Geisel bei den Hunnen war 32. Doch paßt die Schilderung viel eher zu der Situation am Mincio 452 als zu einer ansonsten unbekannten Mission zwischen 445 und 450, als zwischen Attila und den Römern des Westreichs ein diplomatischer Schwebezustand herrschte 33. Zudem muß man sich das historische Profil dieses Textes klar machen: Cassiodor – denn Cassiodor selber ist es, der hier Theoderich die Feder führt – schreibt zwar 80 Jahre nach dem Ereignis; doch es ist der Text eines politischen Beamten, der mit Begriffen wie Friedensschluß (2x), Kriegsmüdigkeit, desperate Verhandlungsposition genaue Vorstellungen verbindet: seine Formulierungen setzen einen Kriegszustand zwischen Attila und dem Westreich voraus, und der herrschte 452, aber nicht zwischen 445 und 450. Die Tatsachen schließlich, daß der Verhandlungsführer Cassiodorus avus bei Valentinian III. tribunus et notarius war und mit dem Heermeister Aëtius enge Verbindung hatte und daß der Sohn des Aetius, Carpilio, aufgrund seines Geiselaufenthalts bei den Hunnen, ein passender Dolmetscher gewesen sein könnte, sprechen durchaus für Heynes Identifizierung. Die in den anderen Quellen für die Gesandtschaft von 452 genannten Teilnehmer, Leo der Große, der Konsular Gennadius Avienus und der gewesene Präfekt Trygetius, müssen durch die Version des Cassiodor nicht ausgeschlossen werden 34: Bei Theoderich/Cassiodor ist von partes und legati die Rede 35, bei Prosper Tiro von tota legatio36, also einer größeren Gruppe von Gesandten. Wie dem auch sei, Heynes Argwohn gegen das Märchenhafte des Vorgangs, so wie ihn die Hauptquellen schildern, seine Feststellung eines gravierenden Mangels an rationaler Begründung, sind nur zu berechtigt: cum causas et conditiones pacis idoneas et probabiles indagare pigeret, ad miraculum confugit scriptorum ignavia37, so lautet Heynes Endurteil über Prosper und Jordanes (ins Wunder flüchtete sich die Trägheit der Verfasser, da es zu lästig war, die zutreffenden Ursachen und Bedingungen des Friedens zu ermitteln) – gar nicht erst zu reden von dem bei Raffael abgebildeten Wunder der Erscheinung der Apostel Petrus und Paulus bei der legatio, einer Geschichte, die schriftlich nur in der um 1000 entstandenen wüsten Compilation Historia Miscella überliefert ist, der Heyne mit Recht jeden Quellenwert abspricht38. Demgegenüber hat er sich redlich bemüht, dem Vorgang einen ra-
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Die neuste Literatur zeigt ein höchst widersprüchliches Bild, vgl. O. J. Maenchen-Helfen, Die Welt der Hunnen (1973), dt. 1997, S. 77; G. Wirth, Attila, 1999, S. 78; T. Stickler, Aëtius, 2002, S. 119: zwischen 446 und 449 datiert. Maenchen-Helfen, a. O. S. 78. Vgl. PLRE s. v. Carpilio 2; so auch Stickler, Aëtius, S. 119. Daß in diesen Jahren Verhandlungen der Römer mit Attila stattfanden, belegt O. J. Maenchen-Helfen, S. 79; aber es ging dabei um unterbrochene Subsidien und Landabtretung. In den Variae ist dagegen ausdrücklich von einer Friedensvereinbarung (pacem retulit Var. I 4, 12) die Rede, und diese setzt einen Kriegszustand voraus, der in dieser Zeit nicht vorlag, wohl aber 451/452. So auch Heyne ausdrücklich in seiner Selbstanzeige GGA 1782, S. 987. A. O. S. 15 (Mommsen), bzw. S. 15, 73 (Fridh). MGH AA 9, S. 482. De Leone (s. o. Anm. 5) S. 135. A. O. S. 136.
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tional verstehbaren Rahmen zu konstruieren, mit gesundem Menschenverstand und mit weit ausgreifender Quellenkenntnis. Was sagt die heutige Forschung zu dem Fall? Das Märchen hat Heyne lange überdauert: Realenzyklopädie der German. Altertumskunde s. v. Attila, 1973 (R. Wenskus) «(Attila) ließ sich durch die unter Führung des Papstes Leo stehende römische Gesandtschaft am Mincio bewegen, wieder abzuziehen.» Neuer Pauly, s. v. Attila, 1997 (W. Eder) «Von einem Marsch nach Rom hielt ihn eine von Papst Leo I. geführte römische Gesandtschaft ab.» Neuer Pauly, s. v. Leo I., der Große, 1999 (H. Arens) «Als Führungspersönlichkeit mit dem Bewußtsein von der Kirche als Erbin des Imperium Romanum trat Leo auch in politischer Mission auf: … 452 bei Mantua erfolgreiche Verhandlungen mit Attila zum Abzug der Hunnen aus Italien.» Lexikon d. antiken christl. Literatur, 1998, s. v. Leo I., der Große (D. Wyrwa) «Als 452 die Hunnen in Italien einfielen, zog Leo mit einer kaiserlichen Delegation Attila nach Mantua entgegen und bewog ihn zum Abzug:» Und in der Geschichte der Päpste von Seppelt39 liest man zu dem Ereignis die pathetische Schilderung: «Um die ungeschützte Ewige Stadt zu retten, zog auf Veranlassung Kaiser Valentinians III. der Papst, dessen Ansehen in Rom offenbar überragend war, an der Spitze einer römischen Gesandtschaft dem Eroberer entgegen. Unweit Mantua fand die Begegnung statt, bei der es dem Papst gelang, durch den mächtigen Eindruck seiner Persönlichkeit Attila zu bestimmen, daß er den Feldzug abbrach, sich zurückzog und mit dem Reich Frieden zu schließen versprach.» Aber es gibt auch kritischere Stimmen: Martindale (in PLRE s.v. Attila, 1980) spricht vorsichtig nur über eine «embassy which included Pope Leo». Ebenso zurückhaltend formuliert die Theolog. Realenzyklopädie (s. v. Leo I., der Große, 1990, B. Studer) «Im Westen übernahm er (Leo) bei den Einfällen der Hunnen und Vandalen eigentlich politische Aufgaben.» Und H. Fuhrmann in seinem kleinen Päpste-Buch (1998) schreibt, in Ausmalung einer entsprechend skeptischen Formulierung Hallers40 und geradezu als Antwort auf Seppelt «Leo war jedoch nur Teilnehmer einer von zwei hohen kaiserlichen Beamten angeführten Gesandtschaft, und die Hunnen sind nicht unter dem Eindruck der Persönlichkeit Leos 39 40
F. X. Seppelt, Geschichte der Päpste. Bd. 1, Der Aufstieg des Papsttums, 1954, S. 208. Joh. Haller, Das Papsttum, Bd. 1, 1934 (1950), S. 161 f.
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umgekehrt, sondern weil die Römer sie im Rücken in ihren ungarischen Stammsitzen angriffen» 41. Die autoritative Monographie zu Attila ist O. J. Maenchen-Helfen, Die Welt der Hunnen (1973), 1997, zu verdanken. Hier liest man zur Frage der legatio Leonis Papae «Einige fromme Seelen betrachten den Krieg (der Hunnen) in Italien noch immer als ein Duell zwischen einem stümperhaften römischen Heerführer und einem blutrünstigen Wilden, der mit der Intervention Papst Leos als pontifex ex machina glücklich endete.» 42 – Die ‹frommen Seelen› habe ich gerade zitiert – Und weiter, mit deutlicher Skepsis: «Es ist mehr als zweifelhaft, daß Attila von der Heiligkeit des Pontifex – oder des obersten Schamanen der Römer, wie er ihn wahrscheinlich nannte – so überwältigt war, daß er sanftmütig Frieden schloß.» 43 Aber Maenchen-Helfen bleibt nicht beim Zweifel stehen; er äußert eine Vermutung über die besondere Aufgabe, die Leo bei der Gesandtschaft von 452 hatte: er weist auf einen Brief der östlichen Bischöfe an Papst Symmachus aus dem Jahr 512/13 hin, aus dem in der Form einer historischen Erinnerung deutlich wird, daß das spezifische Thema Leos bei den Verhandlungen vor Attila 452 die Freilassung, d. h. der Freikauf von Gefangenen der Hunnen war, angeblich nicht nur von Christen sondern auch von Juden und Heiden; da ist also zu lesen: «Wenn nämlich der Vorgänger Eurer Heiligkeit, der unter die Heiligen aufgenommene Erzbischof Leo, es nicht für unwürdig hielt, von sich aus zu Attila, diesem barbarischen Strolch zu reisen, um die körperliche Gefangenschaft nicht nur von Christen sondern auch (kaum zu glauben) von Juden und Heiden zu beseitigen, um wieviel mehr sollte sich Eure Heiligkeit beeilen …» (si enim qui praecessit beatitudinem tuam inter sanctos constitutus Leo archiepiscopus ad Attilam tunc erronem barbarum per se currere non duxit indignum, ut captivitatem corrigeret corporalem nec tantum Christianorum sed et Iudaeorum (ut credibile est) atque paganorum, quanto magis festinare ad tuam attinet sanctitatem …)44. Bei der Belesenheit Heynes ist es nicht überraschend, daß auch Heyne diese Quelle schon gekannt und zum gleichen Zweck verwendet hat45. Fazit: Heynes Urteil (iudicium) und ratio (gesunder Rationalismus) ist schon vor gut 200 Jahren zu einem ähnlichen Ergebnis in der historischen Kritik gelangt wie die Forschung heutiger Tage. Daß Mirakel trotzdem noch immer beliebter sind, wird wohl so bleiben.
41 42 43 44 45
Die Päpste. 1998, S. 90/91. Maenchen-Helfen S. 98. Maenchen-Helfen S. 105. Ähnliche Skepsis äußern Stickler, Aëtius S. 149/150 und Wirth, Attila S. 109–110. A. O. S. 105, vgl. MPL 62, S. 59–60. De Leone (s. o. Anm. 5), S. 133, Anm. h.
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Epimetrum Heyne pflegte seinen tagesaktuellen Opuscula academica, wenn er sie denn nach Abstand einiger Jahre im Druck erscheinen ließ, häufig Anhänge anzufügen, Ergänzungen aus der Sicht der inzwischen verstrichenen Zeit. So möge es erlaubt sein, auch hier ein solches Epimetrum anzuhängen. Es betrifft die historische Prognose. Am Schluß seiner Abhandlung über die legatio Leonis Papae46 wendet sich Heyne an seine Zuhörer mit der Einladung zum eigentlichen Festakt am nächsten Tag: nach dem feierlichen Umzug zum Gottesdienst in der Universitätskirche werde er einen Vortrag halten mit dem – aus heutiger Sicht ungewöhnlichen – Thema «Schilderung des Zustandes der Litteratur in Deutschland künftig einmal im Jahre 2000»47 (professor eloquentiae … vobis litterarum statum ad quem illae saeculo uno et altero interposito sub annum bis millesimum adductae erunt delineabit)48. «Man wird ihn, wenn nicht nach Art des Kalchas prophezeien, so doch wenigstens einen Roman erzählen hören»49 (eum si non Calchantis more vaticinantem, saltem fabulam Milesiam narrantem audite). Natürlich läßt einen die Neugier nicht ruhen, diese mutige, über zwei Jahrhunderte ausgreifende Prognose der Literaturentwicklung Deutschlands kennenzulernen, denn sie kam ja aus dem Munde eines – wie das Beispiel gezeigt hat – rational denkenden, in historischen Dimensionen erfahrenen Mannes. Aber die Rede ist nicht auffindbar, weder unter den gedruckten Schriften, noch im (spärlichen) handschriftlichen Nachlaß. Doch wer Heyne kennt, weiß, daß er an der Verbreitung seines wissenschaftlichen und literarischen Ruhms nicht uninteressiert war: häufig hat er in den GGA seine eigenen Werke sua ipsius voce besprochen. Und so hat ein Blick in den entsprechenden Band der GGA vom Oktober 1782 zwar nicht die Rede selbst, wohl aber eine Skizze von ihr aus Heynes eigener Feder an den Tag gebracht. «Die feyerliche Rede», so teilt Heyne dort mit, «fiel … auf den Professor der Beredsamkeit, Herrn Hofrat Heyne; sie enthielt (s. o.) die Schilderung des Zustandes der Litteratur in Deutschland künftig einmal im Jahre 2000. Die Punkte», so Heyne weiter, «von denen er ausgieng, können sich Leser, die über unsern gegenwärtigen Zustand der Litteratur nachgedacht haben, leicht denken.»50 Es folgen dann zehn «Ausgangspunkte»51, nämlich: 1. das venimus ad summum fortunae … psallimus etc. (= Horaz epist. 2, 1, 31) 2. die Litteratur wird immer mehr und mehr ein mercantilistisches Gewerbe und wird also ein ähnliches Schicksal, wie andere Zweige der Manufakturen und Gewerbe haben, welche überladen werden 3. der jährlich wachsende, längst unermeßliche Umfang gelehrter Kenntnisse auch nur in einzelnen Fächern
46 47 48 49 50 51
A. O. S. 141. Selbstanzeige (s. o. Anm. 34) S. 985. De Leone (s. o. Anm. 5) S. 141. Selbstanzeige S. 985 und De Leone S. 141. Selbstanzeige (s. o. Anm. 34) S. 985. A. O. S. 985–986.
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4. die Verbreitung gelehrter Kenntnisse unter den Unstudirten: je breiter der Strom, desto flacher wird er 5. der ins Populäre sinkende Vortrag (ut placerent populo quas fecissent fabulas [~ Terenz, Andria, prol. 3] – der nothwendige Wahlspruch der Autoren) 6. die in wenigen Jahren zu erwartende völlige Proscription der gelehrten Sprachen aus Universität und Schulen 7. und die Folgen davon für die Religion, die einmal auf gewisse in älteren Sprachen geschriebene Bücher gegründet ist, <sowie> für das Historische aller Wissenschaften 8. der wachsende Luxus mit seinem ganzen Heer von Begleiterinnen, Abneigung vor aller Anstrengung 9. die Verfassung der Staaten Deutschlands 10.das ganze Erziehungswesen. Spannender für uns Heutige wäre es, statt dieser ‹Ausgangspunkte› die Endpunkte von Heynes Prognose kennzulernen, welche nach seiner Meinung im Jahr 2000 erreicht sein würden – hier bleiben nur Extrapolationen, und das würde jetzt zu weit führen. Immerhin, die Ausgangspunkte sind plausibel – um nur einige herauszugreifen: zu 1. Mit dem horazischen Motto wird das Selbstgenügen, das Festhalten am Althergebrachten kritisiert, der Immobilismus der Zopfzeit: noch ist Sturm und Drang nicht erkennbar, Klassizismus steht erst bevor – doch ob Heyne bis zur Postmoderne geblickt hat? zu 2. Die industrielle Revolution kommt in Gang, wird auch den Literaturbetrieb beeinflussen, das sieht Heyne richtig – die Digitalisierung sieht er sicher nicht. zu 3. Die Diversifizierung der Wissenschaftssparten wird sich beschleunigen, der Vorstellung Heynes von universeller Gelehrsamkeit sicher ganz zuwider – aber erkannt. zu 6. Die Gefährdung der alten Sprachen an Universität und Schulen ist erfaßt, zu einer Zeit schon, da der Neuhumanismus noch in der Zukunft liegt; über diesen hinaus blickt Heyne. zu 7. Die Enthistorisierung ganzer Bereiche der Geisteswissenschaften in der Folge des Rückgangs der altsprachlichen Bildung ist richtig prognostiziert. zu 9. Die Auflösung des alten Römischen Reichs deutscher Nation liegt zwar noch fast eine Generation später, aber Heynes Ahnungen haben ihn nicht getrogen. Damit genug. Was den nüchternen Historiker, den wir am Fall der legatio Leonis Papae kennengelernt haben, zu diesem Thema veranlaßt haben mag, wissen wir nicht. Vielleicht war es – und ich folge hier dem Hinweis eines belesenen Kollegen 52 – ein in diesen Jahren erschienener Zukunftsroman von Louis-Sebastien Mercier mit dem Titel ‹L’an deux mille quatre cent quarante›, von 177053. Das Buch wurde 1771 von Albrecht von Haller in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen besprochen 54, also hat Heyne als Redaktor der GGA davon Kenntnis gehabt; die Besprechung ist aber so negativ, daß sie zur Lektüre kaum ver52 53
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Den Anstoß, hier weiter zu suchen, verdanke ich meinem Göttinger Kollegen Heinz-Günther Nesselrath. Heute am leichtesten zugänglich als Suhrkamp Taschenbuch 676, Phantastische Bibliothek 50, in der Übersetzung von Weiße, hrsg. von H. Jaumann 1982 u. Nachdrucke. GGA 7. Dez. 1771, S. 1254–1255.
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lockt haben konnte. Immerhin ist 1772 eine deutsche Übersetzung erschienen, von Chr. Fr. Weiße, die 1781 und 1782 nachgedruckt worden ist55, genau in der Zeit von Heynes Rede, und die doch offenbar hohes Leserinteresse gefunden hat. Außerdem sind in den Jahren nach 1770 zahlreiche Parodien und Gegenentwürfe sowie weitere ausführliche und freundlichere Besprechungen Merciers in Deutschland erschienen. So ist in einer anonymen Rezension in der Erfurtischen Gelehrten Zeitung (1772) folgendes über Merciers als Traumvision konzipiertes Buch zu lesen: «Es ist eine natürliche Neugierde, die wir nur durch Träume befriedigen können, zu wissen, welche Gestalt die Welt in einer Zeit gewinnen werde, die wir wahrscheinlicher Weise nicht erleben werden. Es ist der gewöhnliche Trost, uns mit den Aussichten einer glücklichen Zukunft aufzurichten, sollten wir sie auch nur erst für unsre Enkel hoffen … Der Philosoph, in seinem von der Welt abgesonderten Leben, kann uns die Stelle der Nachwelt vertreten und uns ungefehr in den Gesichtspunct versetzen, aus dem die Nachkommenschaft unsre Thaten richten wird. Seine idealischen Vorstellungen von dem, wie es seyn sollte, erhalten dadurch, daß er sie in die Zukunft versetzt, einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, und, sollte auch die Herannahung so wünschenswerther Zeiten nicht beschleunigt werden, so kann doch vielleicht einst selbst das 2440ste Jahr sich mit diesem Spiegel vergleichen und, da leider nie die menschliche Gesellschaft die Vollkommenheit erreichen wird, die sich der Philosoph denkt, noch daraus bessern.»56 Heynes Thema könnte also durchaus in den Rahmen dieser Aufklärungs-Utopien gehören. Ein aktuelles Urteil (1982) über Mercier geht dahin, daß er «weniger prophezeit habe, was sein wird, als vielmehr das, was nicht mehr sein darf. Die Welt im Jahr 2440 ist nicht die Zukunft, vielmehr die gereinigte Gegenwart.»57 Eine ganz entsprechende Perspektive haben Heynes ‹Ausgangspunkte›: sie sind Zeitkritik, und zwar zutreffende Zeitkritik. Heynes Prognosen zum Stand der europäischen Literatur im Jahr 2000 kennen wir nicht, seine Ausgangspunkte aber sind richtig gewählt. Er ist dem homerischen Propheten nähergekommen als dem milesischen Geschichtenerzähler. Was könnten wir wohl über den Zustand der Literatur in 200 Jahren, im Jahr 2200, prognostizieren?
55
56 57
Hier und im folgenden vgl. H. Jaumann, Die Deutsche Rezeption von Merciers l’an 2440. Ein Kapitel über Fortschrittsskepsis als Utopiekritik in der späten Aufklärung, in: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit, hrsg. v. H. Zimmermann, 1990, S. 217–241. Zitiert nach Jaumann (vgl. Anm. 55), S. 223–224. R. Trousson 1982, zitiert nach Jaumann (vgl. Anm. 55), S. 218.
Raffael: Das Treffen zwischen Leo dem Großen und Attila (Quelle: http://www.kfki.hu/~arthp/art/r/raphael/4stanze/2eliodor/1meerin.jpg)
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Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte (aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst A. Schmidt) Am 11. März 2005 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des Basler Klassischen Philologen Georg Peter Landmann († 1. 3. 1994). Die Herausgeber von «Antike und Abendland» nehmen dies zum Anlaß, das Gedächtnis des bekannten Übersetzers zu ehren, indem sie von ihm einzelne in ihrer Mehrzahl bisher nicht veröffentlichte Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte publizieren. Eine Skizze zu seiner akademischen Vita sei an den Anfang gestellt. 1905 in Basel geboren, studierte Landmann Griechisch, Lateinisch, Sprachwissenschaft und Deutsch. Er wurde 1930 in Basel mit der Dissertation Eine Rede des Thukydides: Die Friedensmahnung des Hermokrates (Kiel 1932) promoviert (zu Thuk. 4,58–65). Sein Basler Lehrer und Doktorvater war Peter Von der Mühll. Die Arbeit wurde von der Forschung positiv aufgenommen; vgl. W. Müri, Beitrag zum Verständnis des Thukydides, Museum Helveticum 4 (1947) 251–275; hier: 252 mit Anm. 2; Otto Luschnat, Thukydides, Der Historiker. Sonderausgabe aus der Realencyclopädie, Supplementband XII, Stuttgart 1971, Sp. 1265. Von 1931 bis 1966 unterrichtete Landmann am Basler Humanistischen Gymnasium und als Lektor, zunächst für Latein und Griechisch, dann für Griechisch allein an der Basler Universität. Sein Lehrbuch Griechische Fibel. Originalsätze zum Einüben der Formenlehre, Basel 19411, 19723 ist aus Universitätskursen erwachsen. Von Landmann sind folgende Übersetzungen erschienen: Thukydides, Die Totenrede des Perikles. […]. Mit einem Geleitwort von Ernesto Grassi. (Sammlung und Auftrag. Reihe Texte. 1), Bern 1945. Xenophon, Das Gastmahl des Kallias. […], Aarau o.J. ( = 1945); erneut unter dem Titel: Xenophon, Das Gastmahl. (Rowohlts Klassiker), Hamburg 1957. Den Anhang dieser Ausgabe bilden ein Vortrag über das griechische Symposion von Peter Von der Mühll, dem Basler Lehrer und Doktorvater Landmanns, und Christoph Martin Wielands Essay «Über das Xenophontische Gastmahl». Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges. (Artemis Verlag), Zürich/Stuttgart 1960 bzw. (Rowohlts Klassiker), Hamburg 1962. Eine 2., überarbeitete Auflage erschien 1976 im Artemis Verlag. Diese Auflage kommt auch als dtv Dünndruckausgabe 1977 (und öfters danach) heraus, ebenso in der Sammlung Tusculum. Eine Auswahl, nämlich die Bücher 6 und 7 des thukydideischen Geschichtswerks, erschien 1963 in Zürich unter dem Titel: Die Heerfahrt der Athener nach Sizilien in der Reihe «Lebendige Antike» des Artemis Verlages. Vergil, Ekloge 1 in: Gedenkschrift für Georg Rohde (APAXAI, Band 4), Tübingen 1961, S. 169–171: «Vergils erstes Hirtengedicht (Eine Übertragung)». Die Übersetzung ist 1933 entstanden.
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Horaz, Ode 1,34 in: Unsere Gymnasien sind krank. Eine Diagnose und Versuch einer Therapie, Zürich o.J. ( = 1967), S. 66 f. Eine Auswahl aus Homers Ilias. […], Stuttgart 1979. Das Gedicht vom Krieg. Homers Ilias, Heidelberg 1992. Horaz, Carmen 1,3 und Sophokles, Antigone, Erstes Stasimon (v.332–375) in einer Rede Landmanns auf der Schlußfeier 1968 des Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasiums Basel, die bearbeitet unter dem Titel Fortschritt und Ehrfurcht erschien in: Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken. Hrsg. von Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber, Jahrgang 2, Heft 4 (1972), S. 444–455. Sophokles, Antigone, Erstes Stasimon (v.332–375) in einer neuen Fassung in: Neue Zürcher Zeitung vom 23./24. 8. 1986. Dante Alighieri, Die Divina Commedia. In deutsche Prosa übersetzt und erläutert von G.P.L., Würzburg 1997 (posthum; ein Herausgeber ist nicht genannt). Diese Ausgabe enthält S. 335–338 ein von Lore Frank im Januar 1985 im Stefan George-Archiv in Stuttgart (zuerst für: Georg Peter Landmann zum 80. Geburtstag am 11. März 1985. Privatdruck Basel 1985, S. 363–369) zusammengestelltes Schriftenverzeichnis, mit dem die obigen Informationen, soweit dort enthalten, überprüft worden sind. Die Witwe und der Sohn des Gelehrten, Frau Annette Landmann, Basel, und Prof. Dr. Oliver Landmann, Freiburg i. Br., haben den Herausgebern die folgenden Texte in Kopien zur Verfügung gestellt: Sappho, fr. 2 Diehl = 31 Lobel-Page = 199 Page (Lyrica Graeca Selecta), mit einem Platon zugeschriebenen Epigramm (Anthologia Palatina 9,506) und einer Einführung (bisher nicht publiziert) Sappho, fr. 1 D. = 1 L.-P. = 191 P. (LGS) (bisher nicht publiziert) Sappho, fr. 27 D. = 16 L.-P. = 195 P. (LGS), mit einer Einführung (bisher nicht publiziert) Pindar, Olympien 1, mit Erläuterungen im Anschluß (bisher nicht publiziert) Bakchylides, Epinikien 2 (bisher nicht publiziert) Sophokles, Antigone, Erstes Stasimon (v.332–375) in zwei Fassungen (publiziert 1968/72 und 1986; vgl. o.) Vergil, Ekloge 1 (publiziert 1961; vgl. o.) Horaz, Carmen 1,3 (publiziert 1972; vgl. o.) Horaz, Carmen 1,11, mit einer Erläuterung zum Versmaß (bisher nicht publiziert) Horaz, Carmen 1,34, mit einer Einführung (publiziert 1967; vgl. o.) Die unpublizierten Texte liegen uns zum größeren Teil handschriftlich vor (Kopien), in Druckbuchstaben der Georgeschen Schrift. Die entsprechende Kleinschreibung der Substantive ist auch in der mit Schreibmaschine geschriebenen Pindarübersetzung und der Fassung des sophokleischen Chorlieds von 1986 (NZZ) beobachtet, nicht jedoch in den anderen gedruckten Übersetzungen (in denen auch «-ß-» und «-ß» statt des helvetischen «-ss-» / «-ss» steht). Die Praxis der Groß- und Kleinschreibung der Vorlagen wird hier, ebenso wie Interpunktion und Orthographie, beibehalten. Stefan George, der häufig in Landmanns Elternhaus zu Gast war, stand als Leitstern über der Sprach- und Dichtungsauffassung des Klassischen Philologen und Übersetzers 1.
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Das Schriftenverzeichnis am Schluß der Dante-Übersetzung führt eine große Anzahl von Titeln Landmanns zu George und dem Georgekreis auf: Editionen, Vorträge, Essays, Bibliographien.
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Im Folgenden werden alle Bemerkungen des Herausgebers entweder kursiv (einschließlich der von ihm zugefügten Zwischenüberschriften) oder als Fußnoten gesetzt, und überhaupt stammen alle Fußnoten vom Herausgeber. Sappho, fr. 2 Diehl = 31 Lobel-Page = 199 Page (Lyrica Graeca Selecta) mit einem Platon zugeschriebenen Epigramm (Anthologia Palatina 9,506) #E « M « «α ³« «α λ Ω π "$. Musen gäbe es neun, so sagt man wohl. Aber wie achtlos! Kennt ihr die Lesbierin nicht, SAPPHO? So sind es denn zehn. Platon
Sapphos gedichte, im altertum viel gelesen und geliebt, sind im mittelalter, als zu heidnischsinnlich, verloren gegangen, ja verbrannt worden. So haben wir nur bruchstücke auf löchrigen papyri und die von spätantiken autoren zitierten worte und wendungen und zwei ganze gedichte als beispiele der ausdruckskraft oder der «glatten fügung», die die worte so stellt dass auf schliessenden vokal ein konsonant, auf schliessenden konsonanten ein vokal folgt! – Die sapphische strophe ist nicht wie man sie meist druckt viergliedrig, sondern folgt dem liedhaften aab-schema: drei fallende fünfheber mit doppelsenkung in der mitte, der abgesang verlängert um die hexameter-klausel – `` – `.
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Sappho, fr. 1 D. = 1 L.-P. = 191 P. (LGS) P # $" #A , < >« , % , %3 %# Ν %$# "%, , :%, $ 0# (#, ' $ « (%« Κ« $ 3 (0 «, "« ξ % 4 2 « Ν%# 1 ? α " #Θ )
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Sappho, fr. 27 D. = 16 L.-P. = 195 P. (LGS) Beliebt waren damals in der blütezeit der agone die superlativfragen. Kroisos: Wer ist der glücklichste mensch auf erden? Pindar: Das beste ist das wasser, und gold strahlt wie in der nacht loderndes feuer weit hervor aus dem männerstolz, dem reichtum. Scherzfragen: Was ist das schnellste? – der geist, immerzu rennt er. Was das klügste? – die zeit, alles findet sie heraus. So Sapphos frage nach dem schönsten, aber überraschend ihre antwort: Jeder einzelne entscheidet das für sich. Da kündet sich schon die folgenschwere befreiung der einzelperson an. Aber als beweis dient noch in archaischer art ein mythisches beispiel: Helena, die einst als mädchen von allen fürstensöhnen Griechenlands umworbene, hielt doch den unseligen Paris für den besten – noch ist zwischen schön und gut kein unterschied. – Und die ganze gedankenkette, anmutig zum anfang zurückkehrend, ist einer grossen sehnsucht entsprungen. O- %ξ -3 , - ξ , - ξ " < # +λ » % (%% " , ( ξ &# * « ( α "40 # Κ% « $ " :#, $ 0 […] "« $ #E µ Ν [ Ν] [ο« µ »] « TN[« *] [ ] [1 ξ ]<« 1ξ 3 [σ ] +%" ($), $ "# Κ [K « ( ] . . . . . . [Ν]% : #A« % # 1 «, »« % ( »% $%"04% "% '$ ν Ν% $ * %"4 «. Schönres gäb es nicht auf der dunkeln erde Als ein heer berittener, sagt der eine, Fussvolk der, und der: eine flotte. Ich sag: jedem sein liebstes. Gar nicht schwer ist das zu beweisen, jeder Kann’s verstehn: denn sie die doch menschenschönheit Viel gesehen, Helena, hielt dann jenen mann für den besten Der die ganze troïsche pracht gestürzt hat, Dachte länger nicht ihres eignen kindes Nicht der teuern eltern: verführt von Kypris war sie, sie liebte. … . . . . . . . . . . Die liess jetzt auch mich an die ferne Anaktoria denken Deren holdes schreiten ich lieber sähe und den strahlenglanz ihres angesichtes Als ganz Lydiens rosse und wagen und in waffen das fussvolk.
Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte
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I Kostbar vor allem ist wasser, und wie nächtens loderndes feuer, so strahlt aus prangendem reichtum das gold. Doch lockt es dich, liebes herz, kampfspiele zu singen, findest du neben der sonne kein andres wärmenderes lichtgestirn des tags im einsamen äther, noch preisen wir je ein höheres spiel als Olympia, von wo der vielstimmige hymnus den dichtern aufs herz sich legt, Kronion zu rühmen als gäste am reichen gesegneten herd Hierons, Der des richters stab führt im land der apfelbäume2, Sizilien, der das grüne pflückt von allem edlen vollbringen und auch von den blüten der Musen überglänzt ist in den spielen, die wir männer oft am freundlichen tisch anstimmen. So hebe denn die dorische leier vom pflock, wenn irgend dir die freude Olympias und der renner Pherenikos den sinn überfluten mit süssestem gedenken, wie er am Alpheios3 ungespornten leibes die bahn durchstob und seinen herrn dem sieg vermählte, Den könig in Syrakus, der gross ist im reitergefecht. Ihm leuchtet der ruhm bei dem starken volk, wo der Lyder Pelops gesiedelt. Den liebte erglühend der hochmächtige Erdschüttler Poseidon, als ihn die Parze aus reinem becken heraushob; elfenbein zierte ihm die blanke schulter. Staunenswert ist gewiss manches; doch trügt wohl auch der sterblichen gerede, bis über das wahre wort hinaus mit bunten lügen ausgezierte mären. II Und zauber, der alle süssigkeit wirkt unter menschen, brachte schon oft dem unglaublichen ehre und schuf es glaublich. Doch die künftigen tage sind die klügsten zeugen. Es ist aber dem menschen ziemlich von göttern schönes zu sagen; die schuld ist geringer. Tantalos sohn, anders als die früheren will ich von dir künden: zu einem mahl ganz nach fug und recht habe dein vater an den lieben Sipylos geladen, den göttern zur gegenbewirtung, und damals habe der herr des blinkenden dreizacks dich geraubt, Das herz von verlangen bezwungen, und auf goldnem wagen ins höchste haus dich entführt zu Zeus, dem weitgeehrten, wohin in der folgenden zeit auch Ganymed kam, dem göttervater zu gleicher lust. Doch da du verschwunden warst und die männer nach langem suchen der mutter dich nicht brachten, sprach verhohlen gleich der hämischen nachbarn einer, sie hätten in wassers feuersiedende kraft mit dem messer dich geschnitten gliedweis und bei der tafel zum nachtisch von deinem fleisch verteilt und gegessen. Mir aber ist unaussprechbar, dass einer der Seligen ein gieriger schwelger sei – davon stehe ich ab. Schaden war oft das los der lästerer. Ehrten aber je einen sterblichen mann des Olympos wächter, so war Tantalos dieser. Aber er vermochte eben nicht sein hohes glück zu verdauen, und im satten hochmut gewann er sich das übergewaltige verhängnis, den mächtigen stein, den der Vater über ihn hängte. Allzeit trachtend, den vom haupt zu treiben, irrt er von freude verbannt. III Nun hat er unwendbar dies leben nicht endender not, zu dreien die vierte pein, weil er den unsterblichen ambrosia und nektar stahl, womit sie ihn unvergänglich gemacht, und davon seinen zechgenossen gab. Hofft aber ein mensch, gott werde nicht merken, was er tut, der irrt. Darum sandten die Ewigen ihm seinen sohn wieder zurück unter der menschen hinfälliges volk. Als aber zum aufgeblühten wuchs ihm flaum das schwarze kinn überdeckte, da gedachte er die hochzeit zu rüsten Und vom könig von Pisa die berühmte tochter, Hippodameia, zu gewinnen. Einsam im dunklen trat er nah ans graue meer und rief laut den dumpf tosenden herrn des dreizacks, 2
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Landmann übersetzt 0%"9 der handschriftlichen Überlieferung; die Lesung 0%39 in ed. SnellMähler, von der auch die anderen Übersetzungen ausgehen, bedeutet «reich an Schafen». Die maschinenschriftliche Vorlage hat hier «Alphaios», aber in v.92 richtig «Alpheios».
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und hart vor den füssen erschien ihm der. Zu ihm sprach er: «Die holden gaben der Kypris, nun denn, Poseidon, wenn sie irgend zu danke geschehen, so fessle Oinomaos eherne lanze, und mich führe auf schnellestem wagen nach Elis und bring mich zum sieg. Denn dreizehn männer schon brachte er um, freier, und hemmt die hochzeit der tochter. Doch die grosse gefahr lockt keinen feigen. Ist aber sterben notwendig, was soll einer namenlos im dunkel ein nutzloses alter verbrüten, alles schönen unteilhaft? Nein, mir sei dieser kampf erwählt, doch du gib süsses gelingen.» So redete er, und nicht nach worten ohne erfüllung fasste er: ihn zu erhöhen gab ihm der gott einen goldenen wagen und mit flügeln unermüdliche rosse. IV Und er errang den sieg über Oinomaos, den gewaltsamen, und die jungfrau für sein lager. Sie gebar sechs söhne, heerführer, nach hohen taten begierige. Nun aber geniesst er die festlichen blutspenden, über Alpheios bett geneigt im umdrängten grabmal beim altar, den wie keinen die fremden umwogen, und der ruhm der Olympien schaut weit in die lande von Pelops’ kampfbahnen, wo die hurtigen füsse wetteifern und kühnbemüht die reifsten kräfte. Wer dort siegt hat im rest seines lebens honig und heitern himmel Seiner preise wegen. Doch immer das heutige schöne kommt jedem der menschen als höchstes. Ich aber soll nun IHN krönen in der reiterweise zu äolischem tanz. Und das weiss ich, um keinen andern gastfreund, so kundig des schönen und zugleich mächtiger waltend als sonst einer heut, werf ich je wieder die rühmlichen falten der kunstvollen hymnen. Ein gott, dein beschützer, Hieron, dem dies obliegt, nimmt deiner sorgen sich an, und so er nicht bald dich lässt, hoff ich noch süsseren Pfad der worte zu finden, dir zu hilfe und ruhm, ob des raschen wagens an Kronos’ ragendem hügel. Lässt doch die Muse mir mit macht das stärkste geschoss gedeihn. Andre sind durch andres gross, das höchste türmt sich den königen. Spähe nicht nach fernerem ziel. Sei uns vergönnt – dir: diese zeit hoch herzuwandeln, und mir: den sieggekrönten gesellt zu sein, durch meine kunst weit sichtbar in Hellas allenthalben. Die wettspiele zu Olympia waren wohl ursprünglich leichenspiele zu ehren des Pelops, leichenspiele wie Homer sie bei der bestattung des Patroklos schildert. Sie waren hervorgegangen aus kämpfen, bei denen in grauer urzeit blut fliessen musste, weil der tote ein sühneblut forderte. In Rom sind aus solchen kämpfen die grausamen gladiatorenspiele hervorgegangen, in Griechenland entwickelte sich aus gleichem ansatzpunkt der gedanke des sports. Aber immer gehörte zur festfeier in Olympia das opfer am grab des Pelops, des mythischen königs und besiedlers der Peloponnes. Seine sage erzählt Pindar in diesem gedicht, zur verherrlichung von Olympia, und darum wohl ist dieser hymnus an die spitze der sammlung seiner olympischen preislieder gestellt worden. An der 76. Olympiade, 476 v. Chr., beim ersten gemeinsamen fest nach der befreiung von persischer, karthagischer, etruskischer gefahr, wo der persönlich anwesende Themistokles von ganz Hellas umjubelt wurde, wo auch Pindar (vielleicht zum erstenmal) unter den zuschauern war, da hatte der tyrann oder besser könig von Syrakus, Hieron, zwar nicht den erhofften wagensieg errungen – diesen höchsten ruhm gewann Theron von Akragas – aber sein rennpferd Pherenikos (das heisst: Siegbringer) holte sich einen preis: so war es doch ein olympischer sieg. Olympia und Hieron, beiden gilt das loblied des dichters, der damals zum ersten mal nach Sizilien hinüberfuhr und Hierons freund wurde. Anfang und ende des liedes gehören Hieron und seinem olympischen sieg: in der mitte steht der mythos – kein preislied ohne mythenerzählung. Die sage von Pelops war den hö-
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rern bekannt: Tantalos, der gast am tisch der götter, wollte freventlich die allwissenheit der götter auf die probe stellen: er lud sie zu sich ein und schlachtete zum mahl Pelops, seinen eigenen sohn. Die götter wiesen die speise voll abscheu von sich, nur Demeter vergass sich im kummer um die geraubte tochter und ass von der schulter. Die götter warfen die zerstückten glieder in einen kochenden kessel, und mit hilfe der parze Klotho erweckten sie ihn wieder zum leben. Für die fehlende schulter setzten sie ihm eine elfenbeinerne ein, und Tantalos wurde zur strafe in die unterwelt verbannt; dort leidet er – er war ja unsterblich geworden – ewigen hunger, ewigen durst und ewige todesangst wegen des über ihm hängenden steins (die ewigkeit ist zu den dreien «die vierte pein»). Der neuerstandene Pelops aber warb um Hippodameia; doch ihr vater, könig Oinomaos von Elis, pflegte jeden freier zur wettfahrt auf leben und tod zu fordern: er gewährte ihm einen vorsprung, überholte ihn mit seinen windschnellen rossen und durchbohrte ihn von hinten mit der lanze. Davor schützte sich Pelops, indem er des königs diener, Myrtilos, zum verrat gewann: der ersetzte den stift in der nabe des königlichen rennwagens durch einen aus wachs, und als das rad sich heiss gelaufen hatte und das wachs weggeschmolzen war, glitt das rad von der achse, der wagen zerschellte und der könig stürzte zu tode. – So die alte sage. Aber die schlachtung des sohnes ist greuel und der verrat gemein. An beidem stösst sich Pindar, er veredelt die geschichte durch eine neue erfindung, die liebe Poseidons zu Pelops. Damit setzt er gleich ein: Ihn liebte Poseidon, als ihn Klotho aus dem reinen becken gezogen hatte (das kann nicht, wie die erklärer wollen, auf das bad des neugeborenen gehn, Poseidon entbrennt nicht für einen säugling). Aber kaum dass er, der alten sage folgend, den zauberkessel erwähnt hat, bricht er schaudernd ab, erzählt seine neue form der sage und erklärt fast unmythich einleuchtend, wie es zu der früheren fassung kam. Nach ihm besteht nun Tantalos’ frevel darin, dass er nektar und ambrosia unter seine kumpane austeilte. Vielleicht hat Pindar dies kindlich buchstäblich gemeint; für Hölderlin war es ein symbol für den sturz des eingeweihten der götter, wenn er von den hohen geheimnissen zuviel verlauten lässt. Mit derselben erfindung von der liebe Poseidons, der seinem liebling die götterrosse schenkt, umgeht Pindar auch den verrat des Myrtilos und gewinnt das wunderbare bild vom nächtlichen gebet am meeresufer. So wächst der urtümlich-schreckliche mythos unter der hand der dichter, die kein dogma fesselt: die götter werden grösser und reiner, die menschen inniger verbunden. Da die grundzüge der sage den hörern bekannt sind, braucht Pindar nicht in geordneter reihe zu erzählen: er greift heraus, lässt dies aufleuchten und jenes im schatten und schmückt seine erzählung mit prunkvollen worten und weisen gedanken – ein spätling archaischer kunst. Erst die uns verlorene melodie und die schritte des reigens hätten uns die strenge metrik verständlich gemacht: die viermalige entsprechung von strophe, gegenstrophe und abgesang. Darum wählte der übersetzer eine nur leicht rhythmische prosa, die so langsam gelesen sein will, dass die gedrängten schweren worte (Pindars harte fügung) wie einzelne tropfen fallen.
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Bakchylides, Epinikien 24 AcEImI KEImI PAI>I PYKTHI IpMIA 5A=?, τ % a3%, +« K ¹ ", 4 0% 0 # $ , Ρ %"4« 4 « _A <« Ν , 8 #$% , ² # +
8 14 _I %: ^ « E1? » + ?% \%3 D " . < ξ M: # 1 3« 0 < 18 4", 0 # + « P 0¹. Spring auf o ruhmschenkende Kunde hin nach Keos der heiligen insel, bring die botschaft ihr lieblichen klangs dass in der mutigen arme kampf Argeios den sieg gewonnen Und auferweckt alle der pracht erinnrung Was auf dem ruhmreichen genick des Isthmos wir von Euxantios’ göttlicher insel vollbracht mit siebenzig kränzen. Nun ruft die heutbürtige muse flötenklangs süsses getön, mit siegliedern zu ehren den lieben sohn des Pantheides.
Entgegen der hier sonst beobachteten chronologischen Anordnung der Texte werden nun das dritte Gedicht in Horazens erstem Odenbuch und das erste Stasimon der Antigone des Sophokles angeschlossen, weil Landmann diese beiden Dichtungen in dieser Folge in seiner Rede über Fortschritt und Ehrfurcht (vgl. o.) als Beispiele einer Tradition präsentiert, die sich die Spannung zwischen «zwei in der menschlichen Seele tief angelegte(n) Gegenkräfte(n)», dem Fortschrittsdrang und der «bewahrend(en) Scheu» vergegenwärtigt und ihr nachsinnt. Horaz, Ode 1,3 Sic te diva potens Cypri, sic fratres Helenae, lucida sidera, ventorumque regat pater obstrictis aliis praeter Iapyga, navis, quae tibi creditum debes Vergilium: finibus Atticis reddas incolumem precor et serves animae dimidium meae. illi robur et aes triplex circa pectus erat, qui fragilem truci conmisit pelago ratem primus, nec timuit praecipitem Africum 4
Abteilung der Verse nach Landmanns handschriftlicher Vorlage.
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decertantem Aquilonibus nec tristis Hyadas nec rabiem Noti, quo non arbiter Hadriae maior, tollere seu ponere volt freta. quem mortis timuit gradum qui siccis oculis monstra natantia, qui vidit mare turbidum et infamis scopulos Acroceraunia? nequiquam deus abscidit prudens oceano dissociabili terras, si tamen inpiae non tangenda rates transiliunt vada. audax omnia perpeti gens humana ruit per vetitum nefas, audax Iapeti genus ignem fraude mala gentibus intulit. post ignem aetheria domo subductum macies et nova febrium terris incubuit cohors semotique prius tarda necessitas leti corripuit gradum. expertus vacuum Daedalus aera pinnis non homini datis; perrupit Acheronta Herculeus labor. nil mortalibus ardui est: caelum ipsum petimus stultitia neque per nostrum patimur scelus iracunda Iovem ponere fulmina. Göttin, du die auf Zypern herrscht, Leuchtend Doppelgestirn, Helenas Brüder, helft, Windgott Aeolus, halt auch du Alle Winde verschnürt außer dem Nordnordwest, Leitet alle, ich fleh, das Schiff Samt der köstlichen Fracht, die wir ihm anvertraut, Heil ans Ufer von Attika, Daß Vergilius mir lebe, mein halbes Selbst. Eichenplanken und dreifach Erz Hatte der um die Brust, der sich aufs wilde Meer Erstmals wagte mit schwankem Holz Ohne Furcht, wenn der Nordsturm mit dem Südwind ficht. Hatte der vor dem Tod noch Angst, Der den schwimmenden Wal trockenen Auges sah, Drohend Siebengestirn im Herbst, Windsbraut, Wogengebraus, Klippen am Uferrand?
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Also war es umsonst, daß Gott Menschenfeindliche See klüglich vom Land getrennt, Wenn die nicht zu berührenden Meerestiefen ein Floß frech überhüpfen darf. Vorwärts, komme was mag, so stürmt Kühn das Menschengeschlecht fort in verbotne Schuld. Kühn-verwegen mit Lug und Trug Holte Prometheus einst Feuer für sein Geschöpf. Als das Feuer aus Himmels Haus Erdwärts kam, überfiel Menschen der ganze Trupp Neuer Fieber und Schwund und Fraß, Und der früher nur spät nahte von fern, der Tod. Unausweichlich, er rafft den Schritt. Schwang sich Daedalus nicht auf in die leere Luft – Flügel sind nicht des Menschen Teil – Sprengte Hercules nicht Pforten des Totenreichs? Nichts ist Sterblichen allzu steil. Bis ans Himmelsgewölb stürmen wir Toren vor, Dulden nicht durch die eigne Schuld, Daß den zornigen Bllitz Jupiter ruhen läßt.
Zu seiner Übersetzung merkte Landmann an: «Im Rhythmus mag man etwas vom Schaukeln und Stampfen des Schiffes hören.» Hier sei noch auf die Kunst in der Variation bei den zwei benachbarten Hebungen in der Mitte des kleineren Asklepiadeus (v.1 – 3 – 5 – …) hingewiesen. Landmann stellt zwei einsilbige Vollwörter nebeneinander (4mal: Fracht, die – Brust, der – Floß frech – nicht auf); er läßt auf ein einsilbiges Vollwort ein zweisilbiges trochäisches (5mal: mir lebe – See klüglich – einst Feuer – spät nahte – nicht Pforten) oder ein dreisilbiges daktylisches Wort folgen (2mal: Wal trockenen – Blitz Jupiter). An ein zweisilbiges jambisches oder ein dreisilbiges anapästisches Wort schließt sich ein zweisilbiges trochäisches an (je 1mal: verschnürt außer – überfiel Menschen); einem viersilbigen choriambischen Wort folgt ein einsilbiges (1mal: Menschengeschlecht fort), ein zweisilbiges trochäisches (2mal: Wogengebraus, Klippen – Himmelsgewölb stürmen) oder ein dreisilbiges daktylisches Wort (1mal: Doppelgestirn, Helenas). Schließlich stellt der Übersetzer mit besonders kraftvoller Wirkung einmal ein einziges zweisilbiges aus zwei einsilbigen Vollwörtern zusammengesetztes Substantiv in die Doppelhebung der Versmitte: Nordsturm5.
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Dr. Augustin Speyer, ein Schüler von mir, Philologe und Sprachwissenschaftler, hat in einem linguistischen Proseminar zur Phonologie des Deutschen das Experiment gemacht, die Studierenden Sätze lesen zu lassen, in denen zwei Hebungen aufeinanderfolgen. Bei allen wurde eine Pause zwischen den beiden Tonsilben spürbar. Die Folge zweier Hebungen im Deutschen vermag demnach auch die metrische Fuge zu reproduzieren, mit der Horaz in der Regel die Choriamben voneinander trennt.
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Sophokles, Antigone, Erstes Stasimon (v.332–375) 6 1ξ $0 α : λ : 0 4 % 9 9 4 <, 04 8 b# '% , 8 b ", c» Ν , $%" $ , -% $ (« -« («, ¹ 9 . 0 : $% Ω $ < λ $8 $ ($ 0 # - 0 «, κ« $3α < ξ %4<« $0 $µ« ", 4 " # d b?% $% ^0µ Κ # $%& :. λ % λ $ % $% λ $ 0%0« « + "? λ 0 " b λ %
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Übersetzung in der Fassung von 1968/72 Mächtiges gibt es viel, und doch, nichts ist mächiger als der Mensch. Einmal daß er im stürmischen Südwind über das graue Meer Herfährt in brüllenden Wogen Hinüber durch den Schwall. Und aller Götter höchste, Erde, Nimmer vergängliche, nimmer ermüdende, ritzt er mit wendendem Pflug, mit dem dienenden Zugtier bauend, Jahr um Jahre. Flatternder Vögel leichtes Volk geht ihm in das gestellte Netz. Tiere der Wildnis Art um Art und des salzigen Meeres Brut Umgarnt mit Maschengespinsten Der geistbegabte Mensch, er zwingt mit Fallen unbehauste Tiere, die schweifen am Berg, und den zottigen Nacken des Rosses gewöhnt er ins schwingende Joch, sogar die Kraft des Bergstiers. Das Denken, so schnell wie der Wind, und Sprache und städtischen Sinn Erlernt er und meiden den freien Himmel In offnem Feld reifbestreut und Regennacht windgepeitscht, 6
Versabteilung nach Landmann.
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Immer voll guten Rates, und ratlos trifft ihn nichts, Was kommen mag (Tod allein abzuwenden lernt er nie). Zu heilen hoffnungslosen Schmerz fand er Auskunft. Wie klug ist erfindrischer Sinn. Seine Kunst über Hoffen und Traum Wird bald ihn zum Heil bald zum Unheil führen. Solang er ehrt Erdgesetz und scheut im Schwur Götterrecht, Blüht er in hohem Staate. Doch staatlos wer sich kühn Dem Unguten beigesellt. Möge der nicht Herdgenoß Mir werden, nicht Gesinnungsfreund, wer so handelt.
Übersetzung in der Fassung von 1986 7 Sophokles: Chor aus der Antigone Mächtiges gibt es vielerlei – nichts ist mächtiger als der mensch. Nicht nur über das graue meer fährt er quer durch den regensturm Vom wogenschwall überflutet: Er dringt hindurch. Und Mutter Erde, aller götter höchste, Ewige nimmer emüdete furcht er und mergelt sie aus mit dem wendenden pflug und der zucht der rosse jahr um jahre. Flatternder vögel leichtes volk geht ihm in das gestellte netz. Tiere der wildnis art um art und des salzigen meeres brut Umgarnt mit maschengespinsten Der überkluge mann. Er zwingt mit fallen unbehauste Tiere die schweifen am berg, und den zottigen nacken des rosses Gewöhnt er ins schwingende joch, sogar die kraft des bergstiers. Und sprache und schnell wie der wind gedanken und städtischen sinn Erlernt er und meiden die nacht im freien In offnem feld reifbestreut und regenguss windgepeitscht Immer weiss er sich rat und ratlos trifft ihn nichts Was kommen mag – nur dem tod zu entrinnen lernt er nie – Zu heilen hoffnungslosen schmerz fand er auskunft. Sein kluger erfindrischer sinn mit kunst über hoffen und traum Führt bald ihn zum heil, aber auch zum unheil. Solang er ehrt erdgesetz und eidestreu götterrecht Blüht er in hohem staat; doch staatlos wer sich dreist Dem unguten beigesellt. Sei mir der nicht herdgenoss Noch auch gesinnungsfreund wer so handelt.
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Die Inkonsequenzen der Textvorlage im Blick auf Kleinschreibung der Substantive und der Großschreibung der Verseinsätze sind hier beseitigt.
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Vergil, Ekloge 1 MELIBOEVS TITYRVS M. Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi silvestrem tenui Musam meditaris avena; nos patriae finis et dulcia linquimus arva. nos patriam fugimus; tu, Tityre, lentus in umbra formosam resonare doces Amaryllida silvas. T. O Meliboee, deus nobis haec otia fecit. namque erit ille mihi semper deus, illius aram saepe tener nostris ab ovilibus imbuet agnus. ille meas errare boves, ut cernis, et ipsum ludere quae vellem calamo permisit agresti. M. Non equidem invideo, miror magis: undique totis usque adeo turbatur agris. en ipse capellas protinus aeger ago; hanc etiam vix, Tityre, duco. hic inter densas corylos modo namque gemellos, spem gregis, a! silice in nuda conixa reliquit. saepe malum hoc nobis, si mens non laeva fuisset, de caelo tactas memini praedicere quercus. sed tamen iste deus qui sit, da, Tityre, nobis. T. Urbem quam dicunt Romam, Meliboee, putavi stultus ego huic nostrae similem, quo saepe solemus pastores ovium teneros depellere fetus. sic canibus catulos similis, sic matribus haedos noram, sic parvis componere magna solebam. verum haec tantum alias inter caput extulit urbes quantum lenta solent inter viburna cupressi. M. Et quae tanta fuit Romam tibi causa videndi? T. Libertas, quae sera tamen respexit inertem, candidior postquam tondenti barba cadebat, respexit tamen et longo post tempore venit, postquam nos Amaryllis habet, Galatea reliquit. namque fatebor enim dum me Galatea tenebat, nec spes libertatis erat nec cura peculi. quamvis multa meis exiret victima saeptis, pinguis et ingratae premeretur caseus urbi, non umquam gravis aere domum mihi dextra redibat. M. Mirabar quid maesta deos, Amarylli, vocares, cui pendere sua patereris in arbore poma; Tityrus hinc aberat. ipsae te, Tityre, pinus, ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant. T. Quid facerem? neque servitio me exire licebat nec tam praesentis alibi cognoscere divos. hic illum uidi iuvenem, Meliboee, quotannis bis senos cui nostra dies altaria fumant. hic mihi responsum primus dedit ille petenti: ‹pascite ut ante boves, pueri; summittite tauros.›
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M. Fortunate senex, ergo tua rura manebunt et tibi magna satis, quamvis lapis omnia nudus limosoque palus obducat pascua iunco: non insueta gravis temptabunt pabula fetas, nec mala vicini pecoris contagia laedent. fortunate senex, hic inter flumina nota et fontis sacros frigus captabis opacum; hinc tibi, quae semper, vicino ab limite saepes Hyblaeis apibus florem depasta salicti saepe levi somnum suadebit inire susurro; hinc alta sub rupe canet frondator ad auras, nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes nec gemere aeria cessabit turtur ab ulmo. T. Ante leves ergo pascentur in aequore cervi et freta destituent nudos in litore piscis, ante pererratis amborum finibus exsul aut Ararim Parthus bibet aut Germania Tigrim, quam nostro illius labatur pectore vultus. M. At nos hinc alii sitientis ibimus Afros, pars Scythiam et rapidum cretae veniemus Oaxen et penitus toto divisos orbe Britannos. en umquam patrios longo post tempore finis pauperis et tuguri congestum caespite culmen, post aliquot, mea regna, videns mirabor aristas? impius haec tam culta novalia miles habebit, barbarus has segetes. en quo discordia civis produxit miseros: his nos consevimus agros! insere nunc, Meliboee, piros, pone ordine vitis. ite meae, felix quondam pecus, ite capellae. non ego vos posthac viridi proiectus in antro dumosa pendere procul de rupe videbo; carmina nulla canam; non me pascente, capellae, florentem cytisum et salices carpetis amaras. T. Hic tamen hanc mecum poteras requiescere noctem fronde super viridi: sunt nobis mitia poma, castaneae molles et pressi copia lactis, et iam summa procul villarum culmina fumant maioresque cadunt altis de montibus umbrae.
VERGILS ERSTES HIRTENGEDICHT Tityrus, Meliböus. M. Tityrus, du gelagert im Schirm der geräumigen Buche Ruhst und ersinnst dir ein ländliches Lied auf dem schmächtigen Rohre, Wir aber lassen die Heimat, die süßen Fluren der Heimat. Wir sind des Landes verwiesen – du, Tityrus, lässig im Schatten Lehrst von der lieblichen, von Amaryllis, den Hain widerhallen.
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T. O Meliböus, es gab mir ein Gott dieses sorglose Leben. Denn Er wird mir für immer ein Gott sein, Ihn zu verehren Netzt mir noch oft den Altar ein zartes Lamm meiner Hürden. Er war’s der meinen Rindern das Schweifen8, du siehst, und mir selber Wie mir’s gefiele vergönnt hat das Spiel auf der Flöte der Hirten. M. Glaub mir, es ist nicht Neid; nur staunen muß ich bei all dem Wechsel und Wirrsal rings auf den Gütern. Sieh nur, ich selber Treib meine Geißen bekümmert … auch diese da, Tityrus, folgt kaum: Denn hier im Haselgesträuch warf eben sie Zwillinge, ach! auf Nacktem Steine und muß sie, die Hoffnung der Herde! verlassen. Oft schon früher, ich weiß noch, verkündeten uns dieses Unheil – Aber wir waren verblendet – vom Himmel getroffen die Eichen. Sei’s! Aber Er, dieser9 Gott, wer ist es, Tityrus, sag mir. T. Rom, wie sie’s nennen, die Stadt, Meliböus, dachte ich Tor mir Ähnlich der unseren hier, wohin wir Hirten die zarten Sprößlinge unserer Herden hinabzutreiben gewohnt sind. Also wußt ich die Welpen den Rüden, die Lämmer den Schafen Ähnlich, so wollte ich immer mit Kleinem das Große vergleichen. Sie aber ragt mit dem Haupt so hoch über andere Städte Wie über biegsamen Schlingbaum ragt die hohe Zypresse. M. Und was war die so wichtige Ursach Rom zu besuchen? T. Freiheit, die – zwar spät – nach dem Säumigen endlich sich umsah, Als mir beim Scheren der Bart schon anfing weißer zu fallen; Aber sie sah sich noch um und nach langem Warten erschien sie, Seit Amaryllis Gebieterin ist, Galatea mich losließ … Denn, ich will es gestehen, solang Galatea mich festhielt, Hofft ich auf Freiheit nicht und trug nicht Sorge ums Spargut. Kamen der Opferlämmer auch viele aus meinen Gehegen, Preßte ich auch für die danklose Stadt den fettesten Käse, Niemals kehrte die Hand mir schwer von Gelde nach Hause. M. Drum! ich wunderte mich, warum Amaryllis die Götter Traurig rief und für wen sie so lange die Früchte am Baum ließ: Tityrus war ja fern. Dir, Tityrus, riefen die Pinien Riefen die Quellen und hier deine Rebenlauben, sie riefen. T. Was blieb mir übrig? Ich konnte die Knechtschaft nicht von mir abtun Irgendwo sonst, noch die Himmlischen so gegenwärtig erfahren. Dort sah ich Ihn, Meliböus, den Jugendlichen, für den nun Mond um Mond mir am festlichen Tag der Rauch vom Altar steigt. Dort hat Er mich zuerst, den Bittenden, also beschieden: Weidet wie eh, ihr Burschen, die Rinder, züchtet die Stiere. 8
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Druckvorlage: das schweifen (Fehler bei der Umsetzung der Kleinschreibung des Autographs, das übrigens offenbar mit alter Schreibmaschine geschrieben war: «Ä» ist auch in der publizierten Fassung zweimal als «Ae» gesetzt). Auch im folgenden Text ist kleiner Anfangsbuchstabe von Substantiven gelegentlich stehen geblieben: so «mit kleinem» neben «das Große»; «deine trift»; «nach langer zeit»; «die fülle». Druckfehler in der Druckvorlage: dieses.
Übersetzungen griechischer und römischer Gedichte
M. Glücklich, glücklicher Alter! so bleibt dein Land dir in Frieden. Und dir ist es genug, ob kahles Gestein deine Trift auch Ganz durchsetzt und mit schlammiger Binse sie Sumpf überwuchert. Kein fremdartiges Kraut wird die trächtigen Tiere verführen, Keine verderbliche Seuche des Nachbarviehs sie versehren. Glücklicher Alter … hier also wirst du an deinen10 vertrauten Flüssen und heiligen Quellen die dämmrige Kühle genießen. Da ist die Hecke, die Grenze zum Nachbar, wo deine Bienen Immer, die Bienen vom Hybla, sich laben an blühenden Weiden: Oft noch wird sie mit sanftem Gesumme zum Schlummer dich laden. Dort singt unter der Fluh in die Lüfte sein Lied der Entlauber, Aber die Ringeltauben indes, die du liebst, und die heisern Turteln lassen nicht ab von der luftigen Ulme zu gurren. T. Eher geschieht es drum auch, daß die flüchtigen Hirsche im Meere11 Weiden, die nackten Fische am trockenen Strande verderben, Parther oder Germanen, vertrieben, durch Heimat und Fremde Irren und die aus der Marne dann trinken, die aus dem Tigris – Eher als daß Sein Antlitz einmal meinem Herzen entgleite. M. Wir aber ziehen von hinnen, die einen zu durstigen Libyern, andre nach Skythien oder zum kreidigen jähen Oaxes Oder zu Briten vielleicht fernab vom wohnlichen Erdkreis. Werd ich, meinst du, noch je nach langer Zeit meine Heimat Und meiner ärmlichen Hütte aus Rasen geschichteten Giebel Wiedersehen, mein Reich, und noch einige Ähren bestaunen? Gottlosen Kriegern gehört nun das schön gehaltene Brachfeld Und Barbaren die Saat: dahin hat der Hader uns arme Bürger geführt; wir haben für andere gepflanzt und gesäet. Pfropfe du nun, Meliböus, die Birnen und setz deine Reben! Gehet nur ihr, einst glückliches Vieh, nun geht, meine Geißen! Nicht ich werde hinfort, gestreckt unter grünender Höhle, Zusehn wie in der Ferne an dornigem Felsen ihr hanget, Keine Lieder mehr sing ich … von mir nicht gehütet, ihr Geißen, rupft ihr den blühenden Klee und kaut an den bitteren Weiden. T. Aber du könntest bei mir diese eine Nacht dich noch ausruhn, Lagernd auf frischem Grün. Wir haben köstliche Früchte, Mehlige süße Kastanien und weichen Käse die Fülle, Und schon steigt in der Ferne der Rauch von den Giebeln der Höfe, Länger fallen bereits von den hohen Bergen die Schatten.
Horaz, Ode 1,11 Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros. ut melius, quidquid erit, pati. seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam, quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare 10 11
Druckvorlage: Deinen; zwei Verse weiter: deine. Landmann liest in v. 59 mit jüngeren Handschriften und Ribbeck: aequore.
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Tyrrhenum: sapias, vina liques, et spatio brevi spem longam reseces. dum loquimur, fugerit invida aetas: carpe diem quam minimum credula postero. Frag nicht, welches geschick mir oder dir – wissen ist nicht erlaubt – Götterwille bestimmt, Leukonoë, dein babylonisches Zahlwerk lass du in ruh. Komme was mag, besser du nimmst es hin. Gönnt uns Juppiter noch mehr als ein jahr, soll es das letzte sein Jetzt da trotziger fels stürmischen meers wogengebrause bricht Am Tyrrhenergestad: kläre du wein, stutze die üppige Hoffnung weise zurück. Neidische zeit, während wir reden, flieht. Darum: pflücke dein heut! Künftigem tag darfst du zu sehr nicht traun.
Horaz Carmina I 11. Der dreiteilige symmetrische vers ist der sogenannte grössere Asklepiadeus: – – – `` – – `` – – `` – ` –. Den kleineren brauchen Klopstock und Hölderlin (Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug). Babylon ist die heimat der astrologie. Horaz, Ode 1,34 Parcus deorum cultor et infrequens, insanientis dum sapientiae consultus erro, nunc retrorsum vela dare atque iterare cursus cogor relictos. namque Diespiter igni corusco nubila dividens plerumque, per purum tonantis egit equos volucremque currum, quo bruta tellus et vaga flumina, quo Styx et invisi horrida Taenari sedes Atlanteusque finis concutitur. valet ima summis mutare et insignem attenuat deus obscura promens: hinc apicem rapax Fortuna cum stridore acuto sustulit, hic posuisse gaudet. Sparsam und lässig war ich im Götterdienst Solang ich, aberwitziger Weisheit kund, Irrfuhr. Doch halt! Zurückgezwungen Wend ich mein Segel, nun heißt es: Umkehr Auf frühere Bahnen. Hat doch der Himmelsfürst, Der sonst nur Wolken teilt mit dem Funkelstrahl, Durchs reine Blau die Donnerrosse Eben gejagt und den Flügelwagen, Worob die dumpfe Erde, der rasche Strom Das finstre Tor des schaurigen Totenreichs, Der Styx und fern am Rand der Atlas Beben. Der Gott hat die Macht: das Tiefste
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Tauscht er mit Höchstem, Ragende stürzt er, holt Das Dunkle vor: die Räuberin, schrillen Schwungs, Fortuna, packt des einen Krone, Drückt sie dem andren aufs Haupt mit Lachen.
Landmann äußert sich zu diesem Gedicht im Zusammenhang mit Reflexionen über die Bedeutung des Lateinischen und des Lateinunterrichts an Schulen so (in der oben genannten Schrift zur Gymnasialreform in der Schweiz): Der Dichter kennt wie wir den ungelösten Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion. Er weiß als gebildeter Mann, daß nicht Zeus die Blitze zur Bestrafung seiner Feinde schleudert, sondern daß sie aus dem Zusammenprall der Wolken entstehen; aber nun hat ihn eine Erscheinung erschreckt, die dieser Erklärung widerspricht, ein Blitz aus heiterem Himmel. Daraus erwuchs ihm das Gedicht. Religiöse Erschütterung eines aufgeklärten Mannes, eine Erschütterung ohne Selbstverlust, kein Tag von Damaskus, keine Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Daseins, aber ein Innewerden der Grenzen menschlicher Macht und Erkenntnis, ein Gleichgewicht von Gefühl und Gedanke, getragen vom Rhythmus, in einprägsamen Bildern, in einer Sprache, deren kühlen Klang, Wucht und Geschmeidigkeit meine deutsche Nachdichtung natürlich nicht erreichen konnte: ein solches Gedicht zu kennen und sich anzueignen – was wäre überhaupt geistige Überlieferung, wenn das keinen Sinn mehr hätte?
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Kai Rupprecht
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Warten auf Menalcas Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge1 Den Beginn der neunten Ekloge2 Vergils bildet die ungeduldige Frage des jungen Lycidas: Quo te, Moeri, pedes? an, quo via ducit, in urbem? («Wohin tragen dich, Moeris, deine Füße? Etwa der Straße nach in die Stadt?») – Vor einer Betrachtung der Antwort hierauf sei ein kurzer Umweg genommen: Das zehnte und letzte der zehn wohl in den Jahren 42 bis 35 vor Christus entstandenen3 Gedichte der Bucolica ist Gallus und dessen Lycoris gewidmet und nimmt eine unbestrittene4 Sonderstellung ein. Wollte man infolgedessen die Gruppe der ersten neun Eklogen als weitgehend homogen betrachten, so bestätigte sich diese Vermutung darin, daß die Gedichte 1 und 9, die nun einen Rahmen bildeten, eine jeweils ähnliche Vorgeschichte voraussetzen5, nämlich jene Landkonfiskationen, die Octavian in den Jahren 41 und 40 vor Christus durchführte.6 Derartige historische Determinationen sollen jedoch im folgenden ausgeblendet werden und zugunsten einer textimmanenten Interpretation der neunten Ekloge zurücktreten. Diese ist im Gegensatz zu ihrer thematischen Schwester, der ersten Ekloge, von hermeneutischen Bemühungen meist vernachlässigt worden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es zu zeigen, daß Elemente, welche die Bucolica sowohl zu einem Abschluß bringen als auch über diese Gedichte hinausweisen, bereits vor der zehnten Ekloge deutlich nachzuweisen sind – dem Gedicht, welches gewöhnlich mit dieser Aufgabe betraut wird.7 1
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Eine frühere Version dieses Aufsatzes wurde am 11. 1. 2003 auf dem 35. Mittelrheinischen Symposion für Klassische Philologie in Trier vorgetragen; an dieser Stelle sei allen Diskussionsteilnehmern für ihre nützlichen Beiträge gedankt. Ich habe den mündlichen Stil des Vortrags in der Hoffung auf eine lebendigere Darstellung größtenteils beibehalten. Für ihre sehr hilfreichen Hinweise in der Vorbereitung der Druckfassung danke ich Helmut Krasser und Enst A. Schmidt. Die Textgestalt folgt der kommentierten Ausgabe von R. Coleman, Vergil: Eclogues, Cambridge 1977. Vgl. Coleman (Anm. 2) 14–21. Vgl. G. B. Conte, The Rhetoric of Imitation. Genre and Poetic Memory in Virgil and other Latin Poets, Ithaca / New York 1986, 100/101. Narratologisch (etwa mit G. Genette, Die Erzählung, München 21998) genauer gefaßt müßte man sagen: Die Geschichte (histoire, fabula, story) dieser Gedichte selbst setzt jene Land(um)verteilungen voraus (und beschreibt sie darüberhinaus): Sowohl des Meliboeus als auch des Moeris direkt geschilderte Handlungen implizieren eine Enteignung und Vertreibung, welche Ereignisse somit als «Kardinalfunktion» bzw. «Kern» (vgl. R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, 112/113) erscheinen und nicht nur als historische Akzidentia. Darstellungen u. a. bei Appian, B.C. 5, 2, 12/13 und Dio Cassius 48, 6–12. Unter diesem «Hinausweisen über …» sei hierbei das Verlassen einer (zunächst nur heuristisch verstandenen) Kategorie «Gattung» (hier: «Bukolik») verstanden. Der Ort dieser transzendierenden Bewegung ist mit G. Genette, Einführung in den Architext, Stuttgart 1990 als «Architext» zu benennen. Eine solche Bewegung der Transzendenz in der neunten Ekloge verfolgt auch Robert B. Hardy III: «Vergil’s Epitaph for Pastoral: Remembering and Forgetting in Eclogue 9». In: Syllecta Classica 2 (1990) 29–38, jedoch vermag ich seine Kernthese, die von ihm postulierte dominante Präsenz von Epigrammatischem in diesem Gedicht, nicht nachzuvollziehen.
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Doch kehren wir zu jener Anfangsfrage: «Quo te, Moeri, pedes?» zurück. Sie evoziert zunächst einen Weg, der nicht nur als konkret zu denkender die Schritte des Moeris lenkt, sondern auch als Metapher die folgenden Ausführungen bis zur Interpretation des Schlusses und des Ganzen der neunten Ekloge begleiten wird. Das Beschreiten dieser via geschieht auf mehrere Weisen, zu denen ebenfalls bereits der erste Vers dieses Gedichtes einlädt: 1) Zunächst und auf einfachster, syntaktischer Ebene muß, wer diesen ersten Hexameter liest, unweigerlich ein Prädikat (etwa «ducunt», vgl. Coleman (Anm. 2) ad loc.) zu dem Akkusativ-Objekt «pedes» des ersten Satzes ergänzen und wird schon hierdurch von einem passiven «Konsumenten» zu einem aktiven «Textproduzenten»8. 2) Der Sog dieser Ellipse wird dann auf der Ebene der Pragmatik noch dadurch verstärkt, daß eben Fragen gestellt werden. Diese verlangen eine sofortige Beantwortung, auf die auch jede Leserin und jeder Leser 9 gespannt sein dürfte. 3) Schließlich, in den Worten Gérard Genettes: «Jeder Signifikant drängt auf sein Signifikat»10, und dies gilt auch für jenen Bereich, für den derselbe Literaturwissenschaftler den Begriff der «Hypertextualität» geprägt hat.11 Auf dieser dritten Ebene der Analyse stellt nämlich der Anspielungscharakter des ersten Verses einen Signifikanten dar, dessen Signifikat in einem anderen Text erkannt werden muß. Jener Text, der von den Eklogen mit dieser Aufgabe betraut wird, sind die Idylle Theokrits12. In diesem Fall führt uns der hypertextuelle Weg von dem ersten Vers der neunten Ekloge zu dem 21. Vers der theokritischen Thalysia. Hier trifft der Sänger Simichidas mit zwei Begleitern auf den Ziegenhirten Lycidas. Er ist der Namenspate für den ersten Sprecher der neunten Ekloge, seine Frage ist es, die Vergil seinem Lycidas in lateinischer Übersetzung in den Mund legt: , 9 » κ Γ Γ; («Simichidas, wohin lenkst du denn zur Mittagsstunde deine Füße?», id. 7, 21) Vergil signalisiert also einen bewußten Anklang an Theokrits 7. Idyll, die Thalysia, denen die neunte Ekloge auch sonst ihre Struktur – allerdings: nur ihre Struktur – verdankt. Doch gleichzeitig zeigt Vergil in seiner Übersetzung drei Abweichungen von seinem griechischen Vorgänger («Hypotext»), die als paradigmatisch für die gesamte Ekloge gelten können: 1) Erstens ist die Ellipse des Satzes «Quo te, Moeri, pedes?» eine Neuerung Vergils: Bei Theokrit läßt das Prädikat « Γ» nicht auf sich warten: Dieses Detail – das Fehlen eines zentralen Elementes wie des Prädikats – spiegelt, wie bald erhellen wird, die Struk8 9
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R. Barthes, S/Z, Frankfurt a. M. 1987, 8; vgl. Genette (Anm. 5) 191. Zumindest, wenn es sich um einen (hier jedoch allein in Frage kommenden) «Modell-Leser» handelt, wie er von U. Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 21999 (11994), 18–27 (vgl. U. Eco, Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texte, München 31998 (11987) 61–82) als in den Text als «Strategie» eingeschrieben definiert wird. – Zu einer Abgrenzung dieses «Modell-Lesers» von Wolfgang Isers Konzept des «impliziten Lesers» vgl. Eco (1999) 26–28; aufschlußreich in diesem Kontext ist ebenfalls Genette (Anm. 5) 284–292. Genette (Anm. 5) 192. Hierunter versteht er «jede Beziehung zwischen einem Text B […] und einem Text A […], wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.» (G. Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 14/15) Textgestaltung nach A. S. F. Gow, Bucolici Graeci, Oxford 1952.
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tur der gesamten neunten Ekloge wider. Man kann also durchaus von einer mise en abyme13 sprechen. 2) Zweitens führt, wie Lycidas vermutet, der Weg Moeris in die Stadt, in urbem, während der Hypotext des siebenten Idylls Simichidas und seine Begleiter explizit aus der Stadt, Γ (id. 7, 2), kommen läßt.14 Auch diese Inversion illustriert en miniature ein Anknüpfen an die bukolische Tradition (d. h. hier: an Theokrit) ebenso wie ein bewußtes Umarbeiten derselben durch Vergil. 3) Drittens deutet Theokrit mit seinem « » eine ruhige Mittagsstimmung an, wie er sie auch in den folgenden beiden Versen 15 noch näher beschreibt. Von dieser Stunde des Pan kann jedoch zu Beginn der neunten Ekloge keine Rede sein. Vielmehr wird hier jeder Evokation von Entspannung vorgebeugt. Dies geschieht zwar bereits durch die hastige Diktion des ersten Verses, wird aber vollends deutlich, wenn die Sprache der Antwort des Moeris eine erregte Entrüstung widerspiegelt, die sämtliche Grenzen einer möglicherweise harmonischen Syntax zersprengt (ecl. 9, 2–6): o Lycida, vivi pervenimus, advena nostri – quod numquam veriti sumus – ut possessor agelli diceret: «haec mea sunt; veteres migrate coloni!» nunc victi, tristes, quoniam fors omnia versat, hos illi – quod nec bene vertat! – mittimus haedos.
Asyndeta, Parenthesen und harsche Unterbrechungen durch Nebensätze bewirken eine syntaktische Zerstückelung, die im Deutschen nur annähernd nachgeahmt werden kann: «Lykidas, da sind wir also nur mit dem Leben davongekommen, damit ein Fremder uns – was wir nie befürchtet hätten – das Landgut wegnimmt und sagen kann: «Das gehört mir! Geht fort, ihr ehemaligen Bauern!»? Jetzt bringen wir, besiegt, traurig – denn das Schicksal wendet ja alles um – jenem diese – was ihm nicht gut bekommen soll! – diese Böckchen hier.»
Indes: Bei aller grammatischen Zerrissenheit stellt die Klage des Moeris über seine Enteignung in ihrer kunstvollen Gestaltung und Geschlossenheit zugleich ein harmonisches
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Zu diesem der Heraldik entlehnten Terminus, der auf André Gide zurückgeht, vgl. Lucien Dällenbach, Le Récit Spéculaire – Contribution à l’Étude de la Mise en Abyme, Paris 1977, 15–19 sowie Genette (Anm. 5) 166/167 und 255. – Grob gesprochen, bezeichnet die mise en abyme die Tatsache, daß sich innerhalb eines Textes eine eingebettete Struktur findet, welche wie «un petit miroir convexe» (A. Gide, Journal 1889–1939, Paris 1948, 41) die Struktur des sie umgebenden Ganzen widerspiegelt. Als paradigmatisch für eine dramatische mise en abyme gilt die Mousetrap, das Spiel-im-Spiel in Shakespeares Hamlet. Jedoch läßt sich dieses Phänomen als bewußt reflektiertes (etwa als garbhanka «embryo-play» in der altindischen Literaturwissenschaft, vgl. G. K. Nariman, A. V. Williams Jackson, C. J. Ogden, Priyadars´ika. A Sanskrit Drama by Harsha, King of Northern India in the 7th Century A.D., New York 1965, cv-cxi) schon wesentlich früher nachweisen. – Eine Phänomenologie der mise en abyme in der klassischen griechisch-römischen Literatur ist noch ein dringendes Desiderat und müßte sich auch mit der Beziehung von (buchstäblichem) Text und Bild (z. B. in bezug auf die im Proöm von Longos’ Lesbiaka, vgl. Genette (Anm. 5) 165 zu Catulls carmen 64) auseinandersetzen. Vgl. Ernst A. Schmidt, Bukolische Leidenschaft oder Über antike Hirtenpoesie, Frankfurt a. M. / Bern / New York 1987, 190/191. Id. 7, 22/23: 4 κ λ Γ ¹ , / !’ "# " Γ («[nun,] da ja sogar die Eidechse in der Steinmauer schläft, / und auch die Haubenlerchen, die gleichsam Grabmale auf den Köpfen tragen, nicht umherschwirren»).
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Ganzes dar.16 Mitten im Spannungsfeld zwischen den Vergangenheitstempora der Verse 2 (pervenimus) und 3 (veriti sumus) und der Zukunft, die das Verspaar 5/6 mit seiner zähneknirschenden Verwünschung17 und der noch ausstehenden Vollendung der Tätigkeit des «mittimus» evoziert, steht der nüchterne Sprechakt des vierten Verses und dessen offensichtlicher perlokutionärer18 Erfolg. Auf das alleinige Präsens der Faktizität dieser Enteignung, symmetrisch eingebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft der Verspaare 2/3 bzw. 5/6, läßt Moeris also alle Gegenwart zusammenschrumpfen: Dies ist der Punkt, in dem fast alle Bewegungsmöglichkeiten konvergieren, welche die neunte Ekloge «ihren» Hirten noch läßt. Wie die nun folgenden Verse (ecl. 9, 7–10) zeigen, hatte Lycidas von dem politisch bedingten Schicksalsschlag bereits gehört, jedoch meinte er, das Unheil habe noch einmal abgewendet werden können; denn das gesamte Land habe zwar bereits erste sympathetische Spuren der Bedrohung gezeigt, aber jemand habe durch seine carmina dies alles ihnen noch bewahren können. Als wie gewaltig diese Bedrohung erscheinen soll, illustriert das Bild, das die zweite Hälfte des Verses 9 bietet: Die Wipfel der alten Buchen sind bereits zerknickt. Was die Verstümmelung dieser Bäume bedeutet, zeigt ein Blick auf andere Gedichte der Bucolica: In der dritten Ekloge bilden die «alten Buchen» die Kulisse einer typisch bukolischen homoerotischen (Eifersuchts-)Szene 19, bevor einige Verse später zwei Becher aus Buchenholz als typisch bukolischer Wetteinsatz geboten werden 20. «Typisch» sei hier derart verstanden, daß Vergil sich in beiden Passagen dieser frühen Ekloge in großer Nähe zu seinem Vorbild Theokrit bewegt, durch dessen Nachahmung er sich als bukolischer Dichter definiert und die Gattung «Bukolik» weiterschreibt. 21 Ebenfalls die Kulisse einer (unerfüllten) homoerotischen Liebe bilden die fagi in der zweiten Ekloge, wenn der pastor Corydon hier in unglücklicher Sehnsucht nach seinem Alexis erglüht. Alles, was ihm bleibt, ist, der Natur sein Leid in einem vollständigen Lied zu klagen: tantum inter densas, umbrosa cacumina, fagos adsidue veniebat. ibi haec incondita solus montibus et silvis studio iactabat inani. (ecl. 2, 3–5) «Er konnte bloß fortwährend zwischen die dichtbelaubten Buchen mit ihren schattenspendenden Wipfeln kommen. Einsam stieß er dort folgende kunstlosen Worte für Berge und Wälder in seinem vergeblichem Bemühen aus.» 16
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Die Verspaare 2/3 und 5/6 sind parallel gestaltet, es entsprechen einander: die Prädikativa «vivi» und «victi», die unheilvollen Subjekte «advena» und «fors», die beiden mit «quod» eingeleiteten Parenthesen, die Bezeichnungen des einstigen Eigentums durch «nostri agelli» bzw. «hos haedos» sowie die beiden Prädikate «pervenimus» und «mittimus», die jeweils den End- bzw. Ausgangspunkt einer Bewegung bezeichnen. Vgl. W. V. Clausen, A Commentary on Virgil, Oxford 1994 ad loc.: «a parenthetical curse, as in Ter. Ad. 191 «minis viginti tu illam emisti (quae res tibi vortat male)«». – Zu bemerken ist, daß die Dirae der Appendix Vergiliana als eine makrologische Ausgestaltung dieses einen à-part-Fluches des Moeris gesehen werden können, vgl. E. Fraenkel: «The Dirae». In: JRS 56 (1966) 142–155, hier: 154 sowie K. Rupprecht, Cinis omnia fiat. Studien zum poetologischen Verhältnis der pseudo-vergilischen Dirae zu den Bucolica Vergils, Diss. Gießen 2004. Vgl. J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Dt. Bearbeitung von E. v. Savigny, Stuttgart 21979, 118/119. ecl. 3, 12/13: aut hic ad veteres fagos cum Daphnidos arcum / fregisti. ecl. 3, 36/37: pocula ponam / fagina, caelatum divini opus Alcimedontos. Vgl. Theokrit id. 5, 41–44 bzw. id. 1, 27–61.
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Der erste dieser drei Verse, in dem die densae fagi als Bühne für Corydons typisch bukolischen Gesang22 eingeführt werden, ist das direkte Vorbild für den Bau des neunten Verses der neunten Ekloge: usque ad aquam et veteres, iam fracta cacumina, fagos.
Daß es sich bei dieser destruktiven Verschiebung von «umbrosa» zu «iam fracta», von «schattenspendenden» zu «abgeknickten» Buchenwipfeln nicht nur um eine pointierte Abwandelung der Kulisse bzw. Bühne für einen erwarteten bukolischen Gesang handelt, sondern hier von einer Transformierung der Gattung «Bukolik» selbst gesprochen wird, macht folgende Betrachtung deutlich: In den soeben betrachteten Stellen der Bucolica fungierten die Buchen als bukolische Kulisse für typische Handlungen und Gesänge einiger Hirten. Allein: Bereits die künstlerischen Darstellungen auf den Wetteinsätzen der dritten Ekloge, den pocula des Alcimedon, verweisen zusammen mit den ihnen gewidmeten Ekphraseis en miniature bereits selbstreferentiell und intertextuell23 auf den literarischen Status dieser Ekloge selbst. Wenn Vergil darüber hinaus die Rinde einer fagus in seiner fünften Ekloge sogar zu einer Art Papierlieferanten für ein Notieren von bukolischen carmina macht und somit in die Welt der Eklogen das Phänomen einer dieser sonst fremden Schriftlichkeit 24 einbrechen läßt, wird noch deutlicher, daß dieser Baum auch als Element einer poetologischen Terminologie25 zum Signifikanten bukolischer Dichtung wird. In das Bild dieses Befundes fügt sich ein letztes Datum nahtlos ein: Am Beginn der ersten Ekloge sitzt Tityrus 26 patulae recubans sub tegmine fagi («unter dem Laubdach einer breitästigen Buche», ecl. 1, 1), welche Wortfügung ebenfalls an den hier untersuchten Versschluß «cacumina, fagos» der neunten Ekloge erinnert. Ein solcher Blick auf diese beiden auch inhaltlich durch den dominanten Bezug auf die Landkonfiskationen verbundenen Gedichte zeigt: Der besondere Schutz, den die Buche «einst» einem bequem ruhenden 27 Tityrus durch ihr tegmen bot, ist zerstört, zerbrochen. Daß an dieser Stelle der neunten Ekloge ebenfalls gerade auf den ersten Vers der gesamten Bucolica rekurriert wird, läßt ahnen, daß hier auch die Möglichkeit bukolischen Dichtens 28 selbst ver22
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Dieser folgt dann mit Versen ecl. 2, 6–73; im Hintergrund steht hier der theokritische K%& (id. 11) mit der Klage seines von Galateia verursachten Liebesleides. Durch den Verweis auf die
#-Ekphrasis bei Theokrit id. 1, 27–61. Wie Coleman (Anm. 2) ad loc. bemerkt, übersteigt die Länge der später in der fünften Ekloge vorgetragenen carmina den begrenzten Platz auf einer Buchenrinde bei weitem; diese Inkommensurabilität dient als weiteres Signal dafür, daß an diesen Stellen der Eklogen nicht nur der Vortrag von carmina durch Hirtensänger, sondern auch das Verfassen von bukolischer Dichtung durch den Verfasser der Bucolica denotiert ist. Vgl. zu dieser «architextuellen» Denotation der Gattung «Bukolik» das Kapitel 3.3 bei Rupprecht (Anm. 17). Zu dieser gehörte dann z. B. auch das «fiscellam texere» der zehnten Ekloge (Vers 71). Dies ist der Name, mit dem Apoll den Dichter der Bucolica in der sechsten Ekloge (Vers 4) direkt anspricht. Natürlich ist auch das «Glück» des Tityrus in der ersten Ekloge bereits durch das Schicksal des Meliboeus getrübt. Der Bezug der cacumina fagorum auf die Welt eines «intakten» bukolischen Dichtens läßt sich auch noch an zwei weiteren Stellen aufweisen: a) In der sechsten Ekloge trägt die genuin (vgl. den Papyrus Vindobonensis Rainer 29801, der u. a. die Namen 'Γ, ("Γ und wohl M )Γ enthält) bukolische Figur des alten Sängers Silenus eine Kosmogonie vor und läßt so «poietisch» eine Welt entstehen, zu der er selbst gehört, die also diejenige der (bukolischen) Dichtung ist. Die Natur zeigt eine (wiederum sympathetische) Reaktion auf diesen intakten, kreativen orphisch-bukolischen Gesang: tum [videres] rigidas motare cacumina quercus («da hätte man sehen können, wie die Eichen ihre festen Wipfel hin und her bewegen», ecl. 6, 28). Dieser Vers, der als dritter und letzter der Eklogen das Substantiv «cacumen» enthält,
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lischt. 29 Diese starke «allusive power of an «incipit»» 30 hat Gian Biagio Conte gerade für Vergil deutlich herausgestellt: Der erste Vers eines Gedichtes oder einer Gedichtsammlung kann (nicht nur) in der Antike oft genug repräsentativ für das Textganze stehen, also als eine «paratextuelle» (Genette) Überschrift fungieren. 31 Der vorgebliche singende Retter des Moeris trägt – dies erfahren wir nun in Vers 10 der neunten Ekloge – den Namen «Menalcas», und in ihm haben wir den Protagonisten der neunten Ekloge vor uns – oder besser: eben nicht vor uns, und zwar in einem doppelten Sinn: Denn weder wird Menalcas in diesem Gedicht selbst auftreten noch auch nur als Person Konturen erhalten. Dennoch werden die beiden Hirten dafür sorgen, daß die restlichen Verse um ihn als einen unsichtbaren Mittelpunkt32 kreisen. 33
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stellt mit den kräftigen Wipfeln der Eichen zusammen mit jenen dicht belaubten der Buchen in der zweiten Ekloge ein adäquates Gegenstück zu den zerbrochenen in der neunten Ekloge dar und macht das Ausmaß des in der letzteren dargestellten Zerfalls deutlich. – b) Vergil selbst greift auch außerhalb seiner Eklogen noch einmal auf eine Denotation seiner bukolischen Dichtung mittels der Buche(n) zurück: In der Sphragis seiner Georgica gibt sich der Sprecher als derjenige Vergil zu erkennen, «carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, / Tityre, te patulae cecini sub tegmina fagi.» («der ich mich mit Hirtenliedern spielerisch beschäftigte und als frecher junger Mann, / Tityrus, dich unter dem Laubdach einer breitästigen Buche besang.», georg. 4, 565/566) – Da eine Entscheidung, ob man die Ellipse des letzten Verses, der sich bezeichnenderweise wiederum dem Incipit der gesamten Bucolica verdankt, durch den Akkusativ oder den Nominativ des Partizips «sedens» («sitzend») ausfüllen muß, suspendiert ist, erscheinen sowohl der Verfasser als auch ein Protagonist der Eklogen unter jenem Baum: Der Schutz der Buche gerät somit auch zur poetologischen Chiffre für bukolisches Dichten selbst. Somit bezeichnet die fagus aus ecl. 9, 9 das bukolische Dichten auf drei Ebenen: a) Durch Reminiszenzen an die Funktion der fagus innerhalb der bukolischen Welt; b) durch die Verwendung einer poetologischen Sprache und c) durch den Anklang an den bedeutsamen ersten Vers der Gedichtsammlung, der als Titel für diese selbst stehen kann. Conte (Anm. 4) 70. Dies ist freilich keine völlig neue Erkenntnis: Die deutsche Philologie bezeichnete dieses Phänomen, das sich etwa auch bei dem Alkaios-Zitat ( ', fr. 332 L.-P.) bei Horaz carm. 1, 37, 1 (nunc est bibendum) findet, als «Motto»; vgl. etwa (in Anlehnung an R. Reitzenstein) V. Pöschl, Horazische Lyrik. Interpretationen, Heidelberg 1970, 73/74 sowie A. Cavarzere, Sul limitare: Il «motto» e la poesia di Orazio, Bologna 1996. – Allerdings geht es in den hier vorgenommenen Ausführungen nicht darum, daß zwei Gedichtanfänge sich entsprechen, sondern darum, daß ein Text (an welcher Stelle auch immer) intertextuell das Ganze eines zweiten Textes oder (wie hier) selbstreferentiell das Ganze seiner selbst durch Zitation bzw. Evokation eines Anfangsverses denotiert. Vgl. F. Leo: «Vergils erste und neunte Ecloge». In: Hermes 38 (1903) 1–18, hier: 17: «die Hirten Vergils erwecken durch das Anfangen und Wiederanfangen die Vorstellung einer Fülle von Liedern des Abwesenden, der allein in diesen Versen zu Worte kommt. So steht er, die Gedanken beider vereinigend und sie mit seinem Geist belebend, der Abwesende im Mittelpunkt der poetischen Handlung.» (meine Kursive), ferner Schmidt (Anm. 14) 181/182: «Es ist offenkundig, daß es in diesem Gedicht um Menalcas geht, daß der abwesende Dichter das Zentrum ist, um den das Gedicht kreist». Dieser griechische Name «Menalkas» läßt sich indessen derart etymologisieren, daß mit («bleiben, verweilen») und $ («Abwehr, Schutz, Hilfe») gerade Bestand und Beharren in das semantische Zentrum rükken – ein signifikanter Gegenpol zu dem Eindringen des An-kömmlings, des ad-vena. Daß die griechisch-römische Antike den ersten Bestandteil des Namens «Men-alkas» tatsächlich auf die Weise etymologisiert und interpretiert hätte und hat, zeigt Artemidor von Daldis in seinen Oneirokritika: T+ ξ " . /) % ! Ν' 1 κ µΓ +Γ Γ. ) + ’ $Γ Γ 3µ . Ν% 'Γ + / 6 9 Κ', + $+ α ) ’ λ Γ, )
λ $# + + . + ξ ' Γ + ξ + , + ξ $+ $# . )Γ ξ λ $µ ! . : . < M% ξ λ M ) 'Γ λ K Γ $' %" » (3, 38). («Man darf das durch Etymologisieren von Namen Gewonnene nicht als unbrauchbar für Entscheidungen erachten: Denn immer wenn Namen glückverheißend bei Dingen sind, die bereits von anderen Hinweisen als
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Doch Moeris muß seinen Kollegen, der den ihm zugetragenen ermunternden Informationen Vertrauen schenkte, korrigieren, enttäuschen und desillusionieren, indem er ihm die Vorgeschichte zu Ende erzählt: Leider vermöchten die carmina der Hirten gegen römische Soldaten nur so viel, wie Tauben gegen den Adler, den die Legionen auf ihren Feldzeichen tragen. 34 Damit nicht genug: Hätte Moeris nicht, einem warnenden Omen folgend, jeglichen Protest gegen die neue Ordnung aufgegeben, wäre sowohl sein Leben als auch das des Menalcas «selbst» verwirkt gewesen: nec tuus hic Moeris nec viveret ipse Menalcas. (ecl. 9, 16)
Hier endet der Prolog, und Lycidas eröffnet den Mittelteil der Ekloge mit der vierversigen Klage eines Epikedeion auf den fast getöteten und nun fernen Menalcas. Das hohe Pathos dieses Gefühlsausbruchs findet seinen Ausdruck in einer rhetorischen35 Gestaltung seiner Worte. Sie bildet ein Komplement zu der eher mimetisch dargestellten Erregung der oben zitierten Verse 2–6: heu, cadit in quemquam tantum scelus? Heu, tua nobis paene simul tecum solacia rapta, Menalca! (ecl. 9, 17/18) «Ach! Kann denn irgendeinem ein so großes Verbrechen zustoßen? Ach der Trost, den du uns spendetest, ist uns zusammen mit dir fast geraubt worden, Menalcas!»
Zwar ist der Sänger nicht tot, aber doch in der Ferne. Wiederum anaphorisch leitet Lycidas deshalb zwei drängende rhetorische Fragen ein: Quis caneret Nymphas? (ecl. 9, 19) – Wer könnte jetzt noch die Nymphen, dieses typisch bukolische Inventar 36, besingen? – Quis humum florentibus herbis / spargeret aut viridi fontis induceret umbra? – Wer soll nun den Boden mit blühenden Pflanzen bestreuen oder die Quellen mit dem Schatten grüner Bäume überziehen? – Mit den letzten Worten gehen in kühner Vertauschung von Ursache und Wirkung37 der Gegenstand, den Menalcas besingt, und die Wirkungen seiner Lieder in eins: An die Stelle einer abbildenden Mimesis tritt die perlokutionäre Macht des Sprechaktes, den seine carmina konstituieren. Der Hirte beschreibt nicht nur die Schönheiten der bukolischen Welt, nein, er ist es, der diese in einer wörtlich verstandenen poiesis erst entstehen läßt: Seine Lieder – wie die des Silens in der sechsten Ekloge38 – sind der Kosmos, den die
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günstig bezeichnet werden, dann machen sie dieses Günstige noch vollkommener; und immer wenn Namen glückverheißend bei Dingen sind, die sonst als übel bezeichnet werden, dann verringern und dämpfen sie dieses Übel. – Wenn hingegen Unglückverkündendes Vorsätzen im Wege steht, dann verschlimmert es das Übel und schwächt das Günstige. Oft jedoch genügen sogar die Namen allein, um etwas vorherzusagen: So stehen zum Beispiel Namen wie «Menon», «Menekrates» und «Kratinos» einer Reise in die Fremde im Wege.«) – Eine Anwendung dieses Prinzips auf den Namen «Men-ander» findet sich bei Aelius Aristides or. 47, 51 Keil. Vgl. Coleman (Anm. 4) ad loc. Anaphorisch wird durch die Interjektion «heu» das Unglaubliche sowohl des geschehenen Verbrechens als auch des Verlusts betont, der mit dem Tod des Menalcas fast alle Hoffnung zerstört hätte. Dieser wird – wie in Vers 21 – in emotional aufgeladener Apostrophe direkt und vertraulich angesprochen. Vgl. ecl. 2, 46; 3, 9; 5, 20, 21, 75; 6, 55, 56; 7, 21; 10, 55. Narratologisch muß dieses Phänomen mit Genette (Anm. 5) 167–169 «Metalepse» genannt werden. Vgl. hierzu Rupprecht (Anm. 17), Kapitel 3.3.4 und jetzt G. Genette, Métalepse, Paris 2004. ecl. 6, 61.61: tum canit Hesperidum miratam mala puellam; tum Phaëthontiadas musco circumdat amarae corticis atque solo proceras erigit alnos.
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singenden Hirten Vergils und Theokrits bevölkern.39 Nun aber, da Menalcas vertrieben wurde, sind mit ihm auch seine Lieder verstummt, die bukolische Natur altert und zerfällt40: Die Wipfel sind zerknickt, iam fracta cacumina. – Ein Analogon stellt gewiß der Verfall der Natur nach dem Tod des Daphnis in der ersten Hälfte der fünften Ekloge dar. Wie nun die vergilische Bukolik selbst – dies hob Ernst A. Schmidt hervor41 – sich durch die Reflexion auf Dichtung erst als Gattung konstituiert, so besteht die Identität des Menalcas als Teil seiner eigenen poetischen Schöpfung fast 42 ausschließlich aus eben seinen carmina: Mit seinen Liedern ist auch seine Person und die Erinnerung an sie verklungen. Alles, was noch an Biographischem übrigbleibt, sind zwei Informationen, deren Vagheit jedoch, wie F. Leo betont hat43, dem fernen Sänger mitnichten Konturen verleihen kann: Zum einen steht er in einer näheren Beziehung zu Moeris, was Lycidas mit dem Possessivadjektiv «vestrum» in Vers 10 andeutet. Genaueres bleibt hier jedoch unbestimmt: Das Schemenhafte ist hier Mittel der poetischen Darstellung. Die andere Auskunft, die wir über den unsichtbaren Hirten erhalten, bringt uns zurück in den Text, zu den Versen 21 und 22: Lycidas berichtet, wie seine geliebte Amaryllis unlängst von Menalcas mit Liedern umworben wurde, welche zu belauschen er die Möglichkeit hatte. Dennoch zürnt er seinem Nebenbuhler nicht, sondern es überwiegt bei ihm wie bei Moeris der Wunsch nach Präsenz des Abwesenden. Wie soll diese zustande kommen? – Nun, das Wesen des Menalcas besteht – wie soeben dargelegt – aus seinen Liedern. Diese zu singen, könnte zu einer Gegenwart des Dichters selbst führen, und so lassen die beiden nun ihre Spielart eines bukolischen Wechselgesangs, einer theokritischen $# $)44, wie sie besonders auch in Vergils dritter, fünfter und siebter Ekloge erscheint, folgen, indem Lycidas und Moeris abwechselnd in insgesamt fünf Zitaten den fernen Sänger Menalcas sprechen lassen. Dies gestaltet sich so, daß jeder jeweils eine Einleitung von ein bis zweieinhalb Versen präsentiert, bevor er dann die fremden Worte wiedergibt. Sie umspannen jedoch nie ein gesamtes carmen, sondern stellen immer nur aus ihrem Kontext herausgerissene Bruchstücke virtueller Originale, kurzum: Fragmente aus thematisch völlig disparaten Gedichten des Menalcas dar. – Oder zitieren sie doch nur? Was macht ein Zitat zu einem Fragment? Die Antwort hierauf kann nur lauten: Der Kontext. Wer freiwillig nur eine Kostprobe aus einem Ganzen vorträgt, das für ihn und seine Hörer jedoch auch vollständig zur Verfügung steht, der zitiert. Dies tut Vergil mit dem ersten Vers der neunten Ekloge, der ein direktes, d. h. «intertextuelles» (Genette) Zitat aus den theokritischen Idyllen darstellt. Wenn hingegen der Kontext des Wiedergegebenen für Produzenten oder Rezipienten verstellt oder verloren ist, kann mit Recht von einem Fragment die Rede sein. Doch eben ein solcher
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Auf diese Weise greift der Sänger im Sinne der in Anm. 37 angesprochenen Metalepse aktiv in die sonst kategorial von ihm getrennte Welt seiner eigenen Dichtung/Erzählung («Diegese») ein. Zur sechsten Ekloge siehe auch oben, Anm. 28. Wie bereits geschildert, wird dies besonders deutlich bei einem Blick auf die Landschaften der frühesten Gedichte der Sammlung, etwa der zweiten Ekloge. Ernst A. Schmidt, Poetische Reflexion. Vergils Bukolik, München 1972. Höchstens historisches Substrat bleiben in der von der neunten Ekloge selbst vorgenommenen Gewichtung die Bezüge auf die römische Zeitgeschichte. Leo (Anm. 32) 17/18. Vgl. etwa [Theokrit] id. 8, 31.
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Verlust ist es, den Lycidas und Moeris während ihres Wechselgesangs nun passim beklagen werden. Lycidas beginnt. Er berichtete bereits in den Versen 21 und 22 von einem Ständchen, einem Komos für seine Freundin aus dem Mund des nun fernen Sängers. Die Worte, die er hieraus anführt, sind ihrerseits eine fast wörtliche Übersetzung dreier Verse aus dem Beginn des dritten theokritischen Idylls («K.Γ»): «K%) % λ + ’A", λ ρ Γ # ’ >Γ, λ ² T "Γ ! +Γ . T "’, λ µ µ ' , # +Γ ρΓ, λ λ + ) Ν , T " α λ µ ,
µ (#"µ )%, ")
" &9 '.» (Theokrit id. 3, 1–5) «Ein Ständchen bringe ich der Amaryllis, meine Ziegen weiden überall auf dem Berg, und Tityros treibt sie. – Tityros, du, den ich schön liebe, weide die Ziegen! Und führe sie zur Quelle, Tityros! Und vor dem Bock, dem libyschen Fahlen, hüte dich, daß er dich nicht mit seinen Hörnern stößt!»
Auch in diesem griechischen Text hebt der Sprecher zu einem Komos für eine Amaryllis an. Vergil bzw. Menalcas übernimmt die Aufforderung an den Freund Tityros, einstweilen auf die Ziegen aufzupassen, sie weiden zu lassen, zur Tränke zu führen und sich dabei vor den gefährlichen Hörnern des Bocks zu hüten: «Tityre, dum redeo – brevis est via45 – pasce capellas et potum pastas age, Tityre, et inter agendum occursare capro – cornu ferit ille – caveto.» (ecl. 9, 23–25)
An dieser Stelle bricht Lycidas jedoch ab, und Moeris gibt seinerseits eine, wie er meint46, bessere Kostprobe der Kunst des Menalcas: immo haec, quae Varo necdum perfecta canebat: «Vare, tuum nomen, superet modo Mantua nobis, Mantua – vae! – miserae nimium vicina Cremonae, cantantes sublime ferent ad sidera cycni.» (ecl. 9, 26–29)
Dieses zweite Fragment kontrastiert scharf mit dem ersten. Mit dem Namen des Alfenus Varus47 scheint die römische Zeitgeschichte für einen Moment als konkret greifbare 48 in die Ekloge hineinzubrechen. Daß Mantua neben Cremona sogar namentlich genannt wird, un45
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Wenn in diesem Menalcas-Fragment, dessen von Parenthesen zerhackte Syntax an die ersten Worte des Moeris in dieser Ekloge erinnert (vv. 2–6), hervorgehoben wird, daß der «Weg kurz ist», so ist dies eine Neuerung Vergils im Vergleich mit seinem griechischen Vorbild und stellt durch die folglich zu erwartende baldige Rückkehr des Sprechers des lateinischen Fragments einen pointierten Kontrast zu Menalcas’ Ausbleiben dar, wie es Thema des Ganzen der neunten Ekloge ist. Vgl. das «immo haec», Vers 26 und hierzu Schmidt (Anm. 14) 183. Er ist der für die Landkonfiskationen um Mantua verantwortliche Beamte: Vgl. Coleman (Anm. 2) ad loc. sowie zu ecl. 6, 7. Moeris spricht von Varus wie von einer ihm bekannten Person (Vers 26).
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terstreicht auf adäquate Weise den römischen Charakter dieser Verse, welche keinem Gedicht Theokrits entlehnt sind. Doch da ist noch mehr: In einer mindestens dreistufigen narrativen Einschachtelung49 findet sich hier Vegils frühere Lobrede auf den Landverteiler Varus, nämlich das Proöm der sechsten Ekloge (vv. 9–12), en miniature wieder. Allein: Eingebettet in die die neunte Ekloge überschattenden düsteren Folgen der Enteignungen gerät das einstige Enkomion zu einer Palinodie seiner selbst. Hierauf nun beschwört der junge Lycidas seinen Gesprächspartner feierlich: Incipe, si quid habes! («Beginne, wenn Du ’was auf Lager hast!»50, v. 32) – Wie soll man dies verstehen? Beide Hirten hatten doch schon «angefangen», etwas zu singen! – Ja, aber es waren eben nur Fragmente, die sie vortrugen, und dieses «incipe» 51 ist nur der eindeutige Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dem Geleisteten. Angestrebt scheint ein Ganzes52 oder zumindest der regelrechte Beginn eines Wechselgesangs 53. Beides ist jedoch in der Tat bisher noch nicht gelungen, und als ob Lycidas dieses Mißlingen noch einmal vor Augen stellen wollte, gibt er, noch bevor Moeris seiner Bitte «incipe» nachkommen kann, gleich noch ein paar Verse des Menalcas wieder, welche sogar nach einer Penthemimeres aus ihrem «ursprünglichen» Zusammenhang gerissen werden: sic tua Cyrneas fugiant examina taxos, sic cutiso pastae distendant ubera vaccae, incipe, si quid habes. – «Et me fecere poetam Pierides, sunt et mihi carmina, me quoque dicunt vatem pastores, sed non ego credulus illis. nam neque adhuc Vario videor nec dicere Cinna digna, sed argutos inter strepere anser olores.» (ecl. 9, 30–36) «Mögen deine Bienenschwärme die korsischen (=bitteren) Eiben meiden, mögen deine Kühe, satt vom Schneckenklee, prall gefüllte Euter haben, beginne bloß, wenn du etwas in petto hast. – «Auch mich haben zum Dichter gemacht die Musen, auch ich habe Lieder, auch mich nennen die Hirten «Seher», aber ich glaube ihnen nicht leicht. Denn bisher scheine ich weder des Varius noch des Cinna Würdiges auszusprechen, sondern nur wie eine Gans mitten unter helltönenden Schwänen zu krächzen.»
Gewöhnlich werden die Verse 32b bis 36 nicht als weiteres Menalcasfragment betrachtet, sondern als Worte, die Lycidas über seine eigene Person äußert. Dies möchte ich jedoch,
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Diese Einbettungen lassen sich darstellen: Varuslob e Menalcaslied e zitierender Moeris e 9. Ekloge (e Bucolica). «si quid habes is colloquial» (Coleman (Anm. 2) ad loc.) Entsprechend der Aufforderung «#" ? » des strukturellen Vorbildes der neunten Ekloge, des siebten theokritischen Idylls (v. 36). Vgl. Leo (Anm. 32) 15: «ein Lied «Anfangen» bedeutet ein ganzes Lied singen» – sowie Schmidt (Anm. 14) 184/185: «Was soll die Mahnung, mit einem Lied zu beginnen, als wenn bisher noch kein Lied gesungen worden wäre? Die Antwort ist: bisher ist eben wirklich noch kein Lied gesungen worden, bisher sind Lieder «zitiert», ihre Worte hergesagt oder bloß ihr Inhalt angegeben worden.» Wie er etwa in dem «age, si quid habes» (ecl. 3, 52), dem «incipe, si quos … ignes … habes» (ecl. 5, 10/11) und dem «incipe» (ecl. 3, 58; 5, 12; 8, passim; 10, 6) anderer Eklogen zu sehen ist.
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einem Gedanken Colemans54 folgend, bestreiten. Denn daß es sich um ein weiteres Fragment (d. h. «Menalcas fr. 3») handelt, legen drei Auffälligkeiten bei der traditionellen Zuweisung dieser Verse an Lycidas nahe: 1) Erstens wäre es eigenartig, daß Lycidas, der puer (vgl. v. 66), der auch sonst seinen älteren Kollegen Gesänge ablauscht (vgl. vv. 21 und 44/4555), sich plötzlich selbst als poeta, ja sogar vates bezeichnete56 und seine eigene Person somit vollends in den Mittelpunkt stellte. 57 2) Zweitens erwähnte er dann als bewunderte Dichterautoritäten über sich lediglich Varius und Cinna – und eben nicht den in diesem Kontext zentralen Menalcas, ein Umstand, den F. Leo zu Recht als auffallendes «$ ' » bezeichnet.58 3) Drittens: Wie das erste Menalcasfragment stellen auch diese Verse 59 eine sehr getreue Übersetzung60 einer Theokritpassage dar 61, diesmal aus den Thalysia62: 54
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Coleman (Anm. 2) ad ecl. 9, 32: «Alternatively what follows habes may be an attempt to stimulate Moeris by quoting another excerpt from Menalcas.» Zu einer Zuweisung dieser Verse an Lycidas siehe unten, Anm. 66. Daß die Bezeichnungen «(divinus, crescens) poeta» und «vates» sich durchweg auf einen vollendeten Sänger, der zu dem Vortrag eines eigenen, ganzen carmen fähig ist (wie «Vergil» selbst in ecl. 10, 70), beziehen, offenbart ein Blick auf die anderen Belegstellen dieser Substantive in den Eklogen: ecl. 5, 45; 7, 25, 28; 10, 17, 70. Es ist äußert fraglich, ob sich eine junge, abhängige Hirtenfigur wie Lycidas diesen Titel geben kann. – Daß sich Simichidas im theokritischen Hypotext bescheiden als «M » "µ » («helltönender Mund der Musen») und «Ν Γ $Γ» («vorzüglicher Sänger») bezeichnen lassen (er erwähnt ja diese Titel gegenüber Lykidas!) darf, ist ungleich verständlicher: Er wird, anders als Vergils Lycidas, ein vollständiges, regelrechtes Lied vortragen, nämlich die Verse id. 7, 96–127. Vgl. Paul Jahn, Die Art der Abhängigkeit Vergils von Theokrit und anderen Dichtern, 2. Fortsetzung, Berlin 1899, 22: «Aus dem ganz natürlichen Vergleich Theokrits [sc. id. 7, 36–41] ist ein ganz unnatürlicher geworden. Ferner war es bei Th. sehr passend, nachdem Simichidas Lykidas’ Sangeskunst gelobt hatte, zu sagen #" ? @. und sich nachher auch als Sänger zu rühmen. Recht ungeschickt hört es sich bei V[ergil] an. Der Hirt fordert mit incipe den Gegner auf und rühmt, was von diesem noch gar nicht bezweifelt ist, von sich selbst, er sei ein tüchtiger Sänger.» Leo (Anm. 32) 15, Anm. 1. – In der Realität der Ekloge hat die Figur «Menalcas» denselben ontologischen Status wie Varius und Cinna, hätte also durchaus erwähnt werden können. Auch trifft es zu, daß sich Vergil unter dem Namen Tityrus/Menalcas hier selbst lobte (vgl. ecl. 5, 85–87), jedoch wirkt es (in diesen Kategorien gedacht) nicht weniger – sit venia verbo – unbescheiden, wenn die Figur des Sängers Menalcas mit einer so evident soteriologischen Funktion (vgl. etwa ecl. 9, 67) ausgestattet wird, wie es in dieser Ekloge der Fall ist. Aber eben erst nach der Penthemimeres des Verses 32; vgl. Jahn (Anm. 57) 21. Die Verse 2b-20, in denen Lycidas und Moeris von ihrer eigenen Situation sprechen, sind gerade nicht nach Theokrit gearbeitet (vgl. Jahn (Anm. 57) 19/20). Wie oben erwähnt, ist Vers 21 der Thalysia Theokrits das Vorbild für den ersten Satz der neunten vergilischen Ekloge. Es ist wahr, daß, was dort Lykidas sagt, hier aus dem Mund des Lycidas kommt. Dies könnte nahelegen, daß die «thalysischen» Verse Verg. ecl. 9, 32b-36 ebenfalls direkt von Lycidas gesprochen werden. Allein: Das von Lycidas ecl. 59/60 Gesagte sind bei Theokrit nicht die Worte des Lykidas, sondern diejenigen des Simichidas. Und auch sonst ist bei Vergil die «Namensvertauschung sehr charakteristisch» (Jahn (Anm. 57) 20), wie etwa aus einem (sogar innerhalb der Eklogen bleibenden) Vergleich von ecl. 5, 40 (Mopsus) und ecl. 9, 19/20 (Lycidas, über Menalcas) erhellt. – Doch kommt die Betrachtung der Verse ecl. 9, 32b-36 als Menalcaszitat auch einem Wunsch nach Sprechergleichheit nach: Wir hören sie aus dem Mund des Lycidas, welcher ja auch sonst gern ein Lied «dem andern wegstibitzt» (Jahn (Anm. 57) 21): Vgl. das «sublegi tacitus tibi carmina» (ecl. 9, 21) und das «audieram» (ecl. 9, 45) mit anschließendem(!) Zitat des Gehörten. Hier finden theokritische Form und vergilischer Inhalt (wie ja auch sonst die neunte Ekloge nur ihre Struktur den Thalysia verdankt) zusammen, wenn zum einen das altrömische «vates» seinen Eingang in Vers 34
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$’ Ν , B"+ + ²µΓ, B"+ ξ λ $?Γ, #" ? α )’ — Γ Ν / . λ + Ω M » "µ , ξ ) Γ $µ Ν α Ω Γ ! " Γ, ! D»α ! ) % ’ µ Κ µ ' µ )% Κ E $ %, #) Γ ξ ’ $Γ —Γ Γ %. (Theokrit id. 7, 35–41) «Doch komm jetzt, denn wir haben einen gemeinsamen Weg und auch einen gemeinsamen Morgen: Laß uns Hirtenlieder singen! Vielleicht wird der eine den anderen erheitern. Denn auch ich bin ein helltönender Mund der Musen, auch mich nennen alle einen vorzüglichen Sänger, aber ich bin nicht irgendein Leichtgläubiger, nein, beim Zeus. Denn bisher übertreffe ich meiner Meinung nach weder den tüchtigen Sikelidas (=Asklepiades) von Samos noch Philitas im Gesang und wetteifere wie irgendein Frosch mit Heuschrecken.»
Ich möchte also vorschlagen, diese Verse als «Menalcas fragmentum 3» anzusehen. Dies bietet noch einen großen Vorteil: Wären die Verse 32b-36 kein Zitat, spräche Lycidas also über sich selbst, dann bezöge sich Moeris mit seinem «id quidem ago» des Verses 37 direkt auf das zuvor Gesagte und willigte ein, als Gans mit Schwänen zu konkurrieren. Wenn jedoch diese Verse den organischen Block63 eines Zitates bilden, kann Moeris über diesen hinweg leicht Bezug nehmen auf die Aufforderung des Lycidas «incipe, si quid habes» und dieser Bitte nachkommen. Moeris will ihm diesen Gefallen tun, ein ganzes carmen vorzutragen. Er wüßte auch schon, welches: Ein nicht unbekanntes Lied, das er schon lange für sich selbst wiederholt. Doch bereits seine Ankündigung deutet die Unmöglichkeit seines Vorhabens an, indem er ein banges «si valeam meminisse» (v. 38) zu bedenken gibt. In diesen Worten wird das Motiv der Erinnerung in die neunte Ekloge eingeführt. Moeris muß das Lied nach fünf Versen abbrechen. Wie Vers 55 lehrt64, ist dies – wie auch das nächste – in der Tat ein Fragment (näm-
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findet, und andererseits Theokrits Dichterkollegen Asklepiades und Philetas durch diejenigen Vergils, nämlich Varius Rufus und Helvius Cinna ersetzt werden. – Auch die (illokutionäre) Funktion des «#" ? » (Aufforderung zum #"() Γ) bleibt im vergilischen «incipe, si quid habes» erhalten; lediglich wird Simichidas’ (lokutionärer, vgl. Austin (Anm. 18) 112) Sprechakt «selbst(an)preisendes Understatement» bei Theokrit (id. 7, 37–41) zu dem Akt «Zitieren eines Menalcasfragments» durch Lycidas bei Vergil. Diese Verse, als direkt von Lycidas zur Begründung seines Wunsches (Vers 32a) geäußert, vermögen nicht, einen solch geschlossenen Block zu bilden: Fehlen die Zusammenhang stiftenden «virtuellen Anführungszeichen», verwunderte nicht nur die auffallend redselige Ausführung des Lycidas nach der vergleichsweise kurzen Aufforderung «incipe, si quid habes» sondern auch die dann entstehende Begründung (nam, v. 35) in der (B 3 %Γ) Begründung, was den Zugriff des «id quidem» (v. 37) auf das «incipe» (v. 32a) weiterhin verstellte. Das Demonstrativpronomen «ista» («those verses you want to hear», Coleman (Anm. 2) ad loc.) bezieht sich zurück auf die beiden Menalcas-Fragmente Nr. 4 und 5 (vv. 39–43 bzw. 46–50) und bindet diese an eine Performanz durch Menalcas, der allein diese carmina «genügend oft» (satis saepe – so verbindet Servius) bzw. «befriedigend (satis) und so oft, wie du willst (saepe)» wird singen können – welchem letzteren Coleman (Anm. 2) ad loc. den Vorzug gibt.
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lich Nr. 4) des Menalcas und stellt eine Übersetzung einiger Verse aus dem Kyklops Theokrits dar (id. 11, 42–49). Nun schlägt Lycidas ihm schließlich vor, ein anderes, rein vergilisches Lied des Menalcas (zu Ende) zu singen. Dieses hatte er ihn schon einmal singen hören, kann sich aber selbst nur noch an den Rhythmus erinnern: numeros memini, si verba tenerem, Vers 45. Alles, was er selbst65 noch wiederzugeben vermag, sind fünf Verse: Diese verweisen mit ihrer Anrede an Daphnis auf dessen Apotheose in der zweiten Hälfte der fünften Ekloge, welche dort ebenfalls Menalcas singt bzw. sang. 66 Doch auch sie bleiben Bruchstück und finden sich in einer nun mindestens vierstufigen 67 Einschachtelung eingebettet in den finsteren Rahmen der neunten Ekloge, und erneut drängt sich der Gedanke an eine Palinodie jener «früheren» Ekloge auf. Hier überwiegt die Hoffnungslosigkeit, die jetzt auch dazu führt, daß Moeris jeden weiteren Versuch ablehnt, den fernen Sänger in seinen Liedern zurückzuholen und ihm so Präsenz zu verleihen. Der Mittelteil der Ekloge ist beendet. Was übrigbleibt, ist die Resignation des alten Moeris. Was mit dem Potentialis «si valeam meminisse» in der Rede des Moeris und mit dem Irrealis «si verba tenerem» auf Seiten des Lycidas schon angedeutet ist, wird nun zu einer Gewißheit, die das Verb oblivisci (v. 53) im Indikativ endgültig besiegelt: Zusammen mit der Zusammenhalt stiftenden Ursache, der " κ F 68, die Menalcas darstellt, ist dem einst so sangesfreudigen Moeris nicht nur der Mut, der animus verschwunden, sondern auch jede vollständige Erinnerung an die Lieder des Menalcas, ja die Stimme selbst versagt ihren Dienst 69: 65 66
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Zur Sprecherverteilung vgl. die nächstfolgende Fußnote. In ihrer Heiterkeit evozieren die von Lycidas (so der Mediceus und die manus prima des Vaticanus Palatinus, denen ich hier gegen einige Handschriften mit Coleman und R. A. B. Mynors, P. Vergili Maronis opera, Oxford 1969 folge: Das Demonstrativpronomen der 2.(!) Person «ista» in Vers 55 zeigt, daß das 5. Fragment von Lycidas und nicht von Moeris gesungen wurde.) zitierten Verse also die Freude der aufblühenden Natur der fünften, aber auch den prophetisch-soteriologischen Optimismus der vierten Ekloge. – Zur Textkritik ist noch zu bemerken: a) Ich wähle gegen Coleman Mynors’ Zuweisung der Verse 44/45 an Lycidas: Nicht nur entbehrt Colemans Eingriff jeder Unterstützung durch die Handschriften, sondern zerstört auch eine Symmetrie, die darin besteht, daß in allen fünf(!) aufeinanderfolgenden Redebeiträgen der beiden Hirten jeweils auf eine Einleitung ein die jeweilige Passage abschließendes Zitat folgt. – b) Aus der textkritischen «Not» des Schwankens der Handschriften, was die Zuweisung der Verse an die beiden Sprecher der neunten Ekloge betrifft, läßt sich insofern eine interpretatorische «Tugend» machen, als es deutlich macht, daß das letzte Menalcaszitat im Ganzen der Ekloge sehr lose verankert ist: Eine Zuweisung an jeden der beiden Sprecher ist immerhin denkbar, so daß dieses Fragment sogar noch (neben der Abwesenheit seines ersten Urhebers, Menalcas) herrenloser, vereinzelter erscheint. Die Einbettungen lassen sich darstellen: 4./5. Ekloge (hier evoziert) e Lied des Menalcas e damals dieses Lied vortragender Moeris e jetzt zitierender Lycidas e 9. Ekloge (e Bucolica). Vgl. Glenn W. Most: «Disiecti membra poetae: The Rhetoric of Dismemberment in Neronian Poetry». In: R. Hexter / D. Selden (Hrsgg.), Innovations of Antiquity, New York / London 1992, 391–419, hier: 405. vv. 53/54: vox quoque Moerim / iam fugit ipsa: lupi Meorim videre priores. Vgl. Theokrit id. 14, 22: ! B9 G; ρ Γ; – Zur Sprichwörtlichkeit des «Wolf-Sehens» vgl. Geoponica 15, 1, 8: HO Γ .
µ Ν% $ ! µ λ Ν% […] / λΓ ξ Γ ² Γ ! µΓ $ Γ . Sowie Donat ad Ter. Adelphoe 537: (lupus in fabula) silentii indictio est in hoc proverbio, atque eiusmodi silentii ut in ipso verbo vel ipsa syllaba conticescat, quia lupum vidisse homines dicimus qui repente obmutuerunt; quod fere his evenit quos prior viderit lupus ut cum cogitatione in qua fuerint etiam verbis et voce careant. (Weitere Parallelen bei W. V. Clausen, A Commentary on Virgil, Eclogues, Oxford 1994 ad loc.) – Es bliebe noch zu untersuchen (wozu hier leider kein Raum mehr ist), welche Beziehungen zwischen dem «Wolf-Sehen» und dem Namen «Lycidas», verstanden als ("-ζ-Γ («Wolfsseher»), bestehen (Lykidas drängt Moeris so heftig zum Singen von carmina des Menalcas, daß ihm die Stimme versagt?).
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nunc oblita mihi tot carmina, vox quoque Moerim, iam fugit ipsa; (ecl. 9, 53/54) «Jetzt habe ich so viele Lieder vergessen, und ebenso läßt den Moeris die Stimme selbst schon im Stich;»
Die einzige Hoffnung, mit den wiederhergestellten Liedern auch die Ordnung der Hirtenwelt zu erneuern, ist die Rückkehr des Menalcas: sed tamen ista satis referet tibi saepe Menalcas. (ecl. 9, 55) «Aber dennoch wird dir diese Worte Menalcas ausreichend und oft vortragen.»
Darf man das Futur «referet» als einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft betrachten? 70 Wurde in den bisherigen Ausführungen vielleicht doch ein zu düsteres Bild der neunten Ekloge gezeichnet? Hat Charles Segal doch recht, wenn er in diesem Gedicht «quiet and stability»71 sieht und eine Stimmung, die er «positive» and «optimistic» 72 nennen darf? – Dies kann ihm nur insofern gelingen, als er Vergil zwei Hirten darstellen sieht, die «can still communicate through the medium of pastoral song»; hierdurch erschaffe der Dichter der Bucolica eine «aesthetic completeness» 73. Doch liegen die Dinge wohl anders. Die Ekloge beginnt mit Aussichtslosigkeit und Verzweiflung, welche noch nicht einmal, wie in der ersten Ekloge, durch die Figur eines geretteten Hirten abgemildert wird. Das Düstere wirft seinen Schatten auch über den Rest des Gedichtes, welcher diese Stimmung noch verstärkt: Eine Kommunikation mittels der carmina kommt zwischen Lycidas und Moeris eben nicht zustande. Der Mittelteil der Ekloge stellt eine ununterbrochene Folge von je scheiternden Versuchen dar, einen regelrechten Gesang zu beginnen (und abzuschließen), der ja die bukolische Dichtung sonst konstituiert. Dieses Scheitern wird zudem von den beiden Hirten selbst thematisiert, und besonders Moeris prononciert seine Unfähigkeit zu singen. Zudem wird jene «aesthetic completeness» von Vergil durch die Anlage dieses Gedichtes, bei der – um F. Leos Worte zu gebrauchen – «der Abwesende im Mittelpunkt der poetischen Handlung»74 steht, gerade dezidiert verhindert. Es bliebe die Möglichkeit, deutliche Elemente von Hoffnung 75 in einer baldigen Rückkehr des vertriebenen Sängers zu sehen, die sicher eintreten werde. Hiervon steht in der neunten Ekloge Vergils nichts. Durch das Futur I in den Versen 55 und 67 sowie das Futur II in Vers 67 nimmt Moeris zwar dreimal auf eine Zeit Bezug, zu der Menalcas zurückgekehrt sein wird; ob und wann dies jedoch eintreten wird, ist völlig im Ungewissen gelassen. 70
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Vgl. C. Neumeister: «Vergils IX Ekloge im Vergleich zu Theokrits 7. Idyll». In: J. Cobet / R. Leimbach / A. B. Neschke-Hentschke (Hrsgg.), Dialogos. Für Harald Patzer zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1975, 177–185, hier: 182: «Aus den Worten des Moeris, mit denen das Gedicht schließt, spricht die tröstliche Überzeugung, daß diese Zeit einmal kommen wird.» (meine Kursive) C. P. Segal: «Tamen cantabitis Arcades – Exile and Arcadia in Eclogues one and nine». In: Arion 4, 2 (1965) 237–266, hier: 246. Segal (Anm. 71) 262. Segal (Anm. 71) 259 unten. Leo (Anm. 32) 17, meine Kursive. Wie Segal (Anm. 71) 259 sie gar dem fünften Menalcasfragment zuweist.
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Doch die Ekloge begnügt sich noch nicht einmal damit, die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Menalcas auf unbestimmte Zeit zu suspendieren; sie geht noch viel weiter. Um dies zu demonstrieren, sei nun zweimal dieselbe Frage gestellt: Wer ist Menalcas? Zunächst und zu allererst ist Menalcas der Hirte, dessen Lieder Lycidas und Moeris zu singen versuchen. Doch die völlige Unfähigkeit der beiden, auch nur ein einziges carmen vollständig zu singen, führt zu einer totalen Desintegration dieses bukolischen Liedercorpus. So zerfällt in den fünf Zitaten, die, ihres virtuellen Ursprungskontextes beraubt, den Fortgang der neunten Ekloge bestimmen, das Œuvre des Menalcas in schemenhafte Bruchstücke. Doch, wie bereits demonstriert wurde, geht die Person des Dichters völlig in seinen Liedern auf, ja mit diesen in eins. Die Ekloge bringt sein Handeln und sein Dichten restlos zur Dekkung: Alles, was er gegen die Enteignungen auszurichten vermochte, lag in seinen carmina (v. 10). Und auch das Singen seiner Lieder ist – man denke an den Sprechakt der Verse 19 und 20 – nichts anderes als sein Handeln. Die Existenz des Sängers ist an die Möglichkeit seines Singens gebunden eben so, wie die Präsenz seiner carmina an die Performanz durch ihn. Wenn die Figur des Menalcas also ganz mit seiner Dichtung zusammenfällt, Lycidas und Moeris jedoch durch den Verlust ihrer möglicherweise redintegrativen memoria nur noch die disparaten Fragmente eines einstigen Ganzen vor sich haben, dann ist mit seinen carmina auch das Wesen des Sängers selbst zerrissen, und excerpta werden zu discerpta, $ ) werden zu ) , zu disiecti membra poetae. Als Vorbote dieses Zerrissenseins können bereits die ersten Worte des Lycidas in den Versen 2–6 mit ihrer zerhackten Syntax gelten, die ebenfalls bereits angesprochen wurde. Wie sollte dieser Menalcas noch Hoffnung spenden? – Nicht viel anders als Samuel Bekketts Wladimir und Estragon abends unter ihrem Baum an einer Landstraße warten auch Moeris und Lycidas an ihrer via auf einen, der da kommen muß, um alles wieder zum Guten zu wenden, wie es früher war, und ihnen mit ihren Liedern auch ihre Identität als bukolische, das heißt: singende Hirten wiederzugeben. Doch so ist für beide durch das Hereinbrechen des advena die Kontinuität mit ihrer Vergangenheit abgerissen, sie bewegen sich in einer zeitlosen Gegenwart zwischen einer nur fragmentarisch erinnerten Vergangenheit und einer ebenso vagen Zukunft. Alles hat sich verändert: omnia fert aetas, Vers 51. 76 Lycidas bäumt sich noch einmal auf: Er will die Ausflüchte seines Hirtenkollegen nicht akzeptieren, will nicht an die Unmöglichkeit des Singens glauben: In einem letzten Versuch greift er jetzt sogar selbst auf Theokrit zurück – dies bereits unglücklich, denn er wählt einen dunkel überschatteten Vers aus der Pharmakeutria (id. 2, 38). Verzweifelt insistiert er, drängt anaphorisch auf ein cantare: Jetzt immer noch, et nunc (v. 57), umgebe sie doch die Natur als ideale Kulisse für ein Singen, man werde schon noch früh genug in die Stadt kommen, und er wolle Moeris auch gerne die Last abnehmen. Doch es ist zu spät. Moeris ruft ihn endgültig zur Vernunft: Die Zeit des Singens ist vorbei. Sein «desine» des Verses 66 beantwortet das «incipe» des Moeris in Vers 32a adäquat und weist es endgültig ab. 77 76
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Hierbei bezeichnet die aetas neben dem höheren Alter des Moeris auch die Veränderungen, welche die jüngste Zeit gebracht hat. Damit nicht genug: «desine plura, puer» ist genau dasjenige Syntagma, mit dem Menalcas in der fünften Ekloge sein Eingangsgespräch mit Mopsus beendet (ecl. 5, 19), um diesen sein regelrechtes Lied singen zu
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Die letzte und einzige – aber wie vage! – Hoffnung in der neunten Ekloge ist die Rückkehr des Menalcas. Mit dieser überragenden, fast soteriologischen Funktion78 weist diese Figur weit über das umgebende Gedicht hinaus und lädt auf diese Weise selbst zu einer das Gedicht transzendierenden Identifikation ein. Die Frage sei also zum Schluß noch einmal gestellt: Wer ist Menalcas? Um es gleich zu sagen: Es geht hier nicht um eine Durchallegorisierung der vergilischen Eklogen.79 Der Weg, den ich vorschlagen möchte, ist derjenige der von Stephen Hinds80 definierten «self-annotation». Dies meint, daß der Text mittels einer erkennbaren Anspielung über sich selbst hinausweist, um einen poetologischen Dialog mit seiner literarischen Einbettung und anderer Dichtung aufzunehmen. Die argumentative Sollbruchstelle dieser Überlegung ist natürlich das Erkennbare an einer Anspielung, die «affirmation», wie Hinds es ausdrückt81: ««Yes, I am an allusion.»».82 «Yes, I am an allusion.» sagen nun in der neunten Ekloge Vergils vor allem zwei Elemente: Der Name des fernen Sängers und der Inhalt seiner Fragmente, der bisher interpretatorisch fast83 völlig vernachlässigt wurde. Mit «Menalcas» hatte Vergil in der fünften Ekloge84 den Verfasser seiner eigenen Verse (genauer: der Eklogen zwei und drei) bezeichnet. Das in den gegenwärtigen Ausführungen betrachtete Gedicht kreist also um einen Namen, dessen Signalcharakter demjenigen einer Überschrift gleichkommt. 85 Dennoch ist Menalcas nicht einfach eine Maske Vergils. Dies wird deutlich, wenn man den Inhalt der Fragmente betrachtet: Zunächst, wie Friedrich Leo es ausdrückt, «verwischt Vergil absichtlich die allzu deutliche Hinweisung» 86: Lycidas setzt das Singen des Menalcas
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lassen. Dort gelingt dies dem Mopsus ebenso wie später dem Menalcas selbst – in größtem Gegensatz zu den scheiternden Versuchen in der neunten Ekloge. Man erinnere sich natürlich an das «goldene Kind» in der vierten Ekloge. Als Vertreter für ein solches Vorgehen sei genannt: L. Herrmann, Les Masques et les Visages dans les Bucoliques de Virgile, Paris 1952. S. Hinds, Allusion and Intertext. Dynamics of Appropriation in Roman Poetry, Cambridge 1998. Hinds (Anm. 80) 10. Als Beispiel für eine solche Evidenz kann man die erste Ekloge Nemesians anführen: Hier läßt der spätantike Bukoliker zwar einerseits einfach zwei Hirten auftreten, führt aber auch als junger Hirte Thymoetas selbst ein poetologisches Gespräch mit seinem großen Vorgänger Vergil. Daß dieser tatsächlich mit der Figur des gealterten Hirten mitgemeint ist, verbürgt dessen ausreichend allusiver Name: «Tityrus» (so etwa bei Vergil ecl. 6, 4/5). Vgl. Willy Schetter: «Nemesians Bucolica und die Anfänge der spätlateinischen Dichtung». In: Ders. / C. Gnilka (Hrsgg.), Studien zur Literatur der Spätantike, Bonn 1975 (= Antiquitas, Reihe 1: Abhandlungen zur Alten Geschichte, Band 23), 1–43. Eine Ausnahme stellt m. E. Schmidt (Anm. 14) dar. ecl. 5, 86/87. Und also nach Gérard Genette dem Bereich des «Paratextes» zuzuordnen wäre: «Der zweite Typus [sc. von Transtextualität] betrifft die im allgemeinen weniger explizite und weniger enge Beziehung, die der eigentliche Text im Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen mit dem unterhält, was man wohl seinen Paratext nennen muß: Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet.» (G. Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 11/12) Leo (Anm. 32) 17.
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mit einem Bestreuen des Bodens und einem Beschatten der Quellen gleich. Den Vers 40 der fünften Ekloge, welcher hier fast wörtlich wiedergegeben wird, singt dort aber gerade nicht Menalcas, sondern dessen Kontrahent, Mopsus. 87 Die Mehrdeutigkeit des Verweises verstärkt sich schließlich bei einer genaueren Betrachtung der fünf Exzerpte: Eine Gleichsetzung von Menalcas mit Vergil insinuieren eindeutig die «römischen» Fragmente 2, 3 und 5 der neunten Ekloge mit den hier erwähnten Zeitgenossen des Mantuaners. Dies wird jedoch von den Fragmenten 1 und 4 insofern untergraben, als hier im Wortlaut fast unverändert der Komastes (id. 3) und der Kyklops (id. 11) Theokrits zu Wort kommen. 88 Es ist möglich, sogar noch weiter zu gehen. Im ersten Menalcasfragment bittet der Sprecher prima facie Tityrus, sich um seine Ziegen zu kümmern, während er selbst abwesend sei. «Tityrus» ist jedoch der andere Name, mit dem die Bucolica ihren eigenen Verfasser selbst bezeichnen. Somit kann jene Aufforderung an Tityrus, die Verantwortung für die capellae zu übernehmen, als eine self-annotation gelesen werden, die auf die Übergabe der bukolischen Staffel an Tityrus/Vergil durch den literarischen Vorgänger und Autor des Hypotextes «Komos», Theokrit, anspielt. Die fracta cacumina der Buchen, dieser vergilisch-bukolischen Bäumen par excellence, lassen sich in Vers neun der neunten Ekloge ebenso interpretieren: Das Scheitern der Hirten in diesem Gedicht, die Unmöglichkeit des Singens, die Unfähigkeit des Erinnerns lassen in den gealterten bzw. beschädigten fagi auch die Bukolik als Gattung selbst zerbrechen. Und in Menalcas, der einerseits zwar nur der Kollege des Moeris ist, andererseits aber auch auf Vergil und auch auf Theokrit (u. a. qua Menalcas fr. 1) als Referenten deutet, läßt der Mantuaner sich selbst und seinen hellenistischen Vorgänger zu Opfern der mnestischen Zerstückelung werden. Im zweiten Stasimon des sophokleischen Oidipus tyrannos sinnt der Chor den Folgen von herrschendem Unrecht nach. Unter solchen Umständen seien die Choreuten weder fähig noch gewillt, die sie selbst konstituierende Handlung auszuführen 89, und ihre eigene raison d’être als Tänzer wäre bedroht; denn sie fragen: F + ¹ )B Γ ,
;(vv. 895/896) «Denn wenn solche Handlungen in Ehren stehen – wozu soll ich dann noch tanzen?»
Die neunte Ekloge Vergils spricht nun mit der Schilderung einer Unmöglichkeit des Singens in Zeiten der Bedrohung ein analogen « $ ;» («Wozu soll ich singen?») aus. Vergil übernimmt nicht nur von Theokrit die bukolische Dichtung wie Tityros bzw. Tityrus die ρ Γ bzw. capellae in id. 3, 1–5 bzw. ecl. 9, 23–25, nein, er führt diese auch ein großes Stück Weges weiter.
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Zu dieser «Namensvertauschung» siehe oben, Anm. 61. Vgl. bei Leo (Anm. 32) 16 «römische» und «griechische» Lieder. Vgl. hierzu: U. Hölscher: «Wie soll ich noch tanzen? Über ein Wort des sophokleischen Chores». In: E. Köhler (Hrsg.), Sprachen der Lyrik (FS W.-H. Friedrich), Frankfurt 1975, 376 ff. sowie A. Henrichs: ««Why Should I Dance?»: Choral Self-Referentiality in Greek Tragedy». In: Arion, 3rd. Series, Fall 1994 / Winter 1995, Boston 1994/95, vgl. A. Henrichs, «Warum soll ich denn tanzen?». Dionysisches im Chor der griechischen Tragödie (Lectio Teubneriana 4), Stuttgart / Leipzig 1996.
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In den Thalysia Theokrits, dem strukturellen Vorbild der neunten Ekloge, hatten die drei aus der Stadt kommenden Gefährten noch nicht (Κ%) die Hälfte ihres Weges zurückgelegt und das Grabmal des Brasilas noch nicht erreicht, als sie auf den Ziegenhirten Lykidas trafen.90 Vergil läßt diese Wegmarke hinter sich, läßt seine beiden Hirten mit dem In-SichtKommen des Bianor-Grabmals91 bereits die Hälfte ihrer Reise getan haben und führt so auch die Hirtendichtung selbst weiter: hinein in Zeiten der Unruhe, in denen jeder Gesang eigentlich verstummen92 und jede Poiesis wie die des Menalcas in disparate Überreste zerfallen müßte. Es sei noch einen kurzen Moment bei dem Motiv des Weges verweilt. Wie eine philologische Isis versucht Ewen Bowie in einem Aufsatz von 1985 93, literarische Überbleibsel des Dichters Philetas von Kos, dessen Werke nur noch in spärlichen Resten vorliegen, einzusammeln und zusammenzufügen. 94 Hierzu durchschreitet er vor allem eben das siebte 90
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Die getreue Übersetzung gewährleistet die Stärke des Verweises: Vgl. Κ% + ) ²µ Ν" Γ, !ξ
µ » / 4 µ B , ’ ² / µ M K"%µ L Γ Ν. (id. 7, 10–12) mit hinc adeo media est nobis via; namque sepulcrum / incipit apparere Bianoris. (ecl. 9, 59/60) – Man beachte, wie aus dem griechischen « »» das lateinische «sepulcrum» geworden ist, welches noch eindeutiger das Element des Todes in sich birgt. Mit der Beantwortung der Frage, was es mit dem Namensstifter «Bianor» dieses Grabmales auf sich habe, folge ich F. E. Brenk: «War and the Shepherd: The Tomb of Bianor in Vergil’s Ninth Eclogue». In: AJ Ph 102 (1981) 427–430 (vgl. auch S. V. Tracy: «Sepulcrum Bianoris: Virgil Eclogues 9. 59–61». In: CPh 77 (1982) 328–330, hier besonders auch Anm. 4): Servius ad loc. sieht in Bianor den Gründer Mantuas, jedoch, wie S. Tugwell: «Virgil, Eclogue 9. 59–60». In: C R 77 (1963) 132/133, hier: 132 es ausdrück: «the text of Servius makes it quite clear that he knew no more about Bianor than he did about Sarey Gamp». Ich verwerfe mit Tracy gegen Coleman die Möglichkeit, daß ein hellenistisches Epigramm (A.P. 7, 261), ein Epitaph für ein jung gestorbenes Kind namens «B)%», hier ein signifikanter Hypotext sein könnte. Ein Weg von ungleich größerer Allusivität füht vielmehr in die Ilias, in deren elftem Gesang ein Trojaner namens «B)%» oder «B%» (ein homerisches hapax legomenon), der das Epitheton «κ .» («Hirte der Völker») erhält, von Agamemnon zu der in «pastoral touches» (Brenk op. cit. 428) geschilderten Stunde getötet wird, 6Γ ξ " Γ $κ ³
/ Κ Γ #
9 ' , λ ’
Γ / )% ), ΪΓ P ", / " " λ Γ P Γ ¹ («da ein Holzfäller sich ein Mahl zubereitet / in den Schluchten des Gebirges, nachdem er an seinen Händen genug bekommen hat / vom Fällen hoher Bäume, ihm der Überdruss in den Sinn gedrungen ist / und ihn die Sehnsucht nach süßer Speise im Herzen erfaßt hat», Il. 11, 86–89). Diese Evokation des Baumfällens verbände sich freilich aufs Engste mit dem Bild der fracta cacumina fagorum aus ecl. 9, 9, und auch das homerische Gleichnis zu den tela Martia aus ecl. 9, 11–13 mit seinen vom Adler erjagten Tauben lädt zu einem Blick auf die Ilias ein. Daß hier zudem der Akkusativ «B» bzw «B)» (Il. 11, 92) an derselben Versstelle (vor der bukolischen Diärese, vgl. Brenk op. cit. 429) steht wie bei Vergil der Genitiv «Bianoris» (ecl. 9, 60), rundet dieses Bild noch weiter ab. – So kann, was der von Brenk (op. cit. 429) zitierte Oliver Taplin (O. Taplin: «The Shield of Achilles within the Iliad». In: Greece and Rome 27 (1980) 1–21, hier: 7) zu den bald nach Bianor getöteten Isos und Antiphos (vgl. Il. 11, 101) ausführt, durchaus auch als Bescheibung der Situation in der neunten Ekloge gelten: «The pathos of the ruthless warrior cutting down the innocent pastoral world is quintessentially Homeric, and is wonderfully conveyed here by the two herdsmen. One moment they are going along with the flock and «playing happily on pipes and they took no thought of treachery» ([Il. 18,] 526), next they lie killed.» Eine ähnliche Bewegung findet sich bei Horaz in seinem carmen 2, 1 mit der Flucht in das Dionaeum antrum. E. Bowie: «Theocritus’ seventh Idyll, Philetas and Longus». In: CQ 35 (1985) 67–91. Zu einem ähnlichen Projekt, das mit derselben Metaphorik beschrieben wird, vgl. D. Selden: «Ceveat lector: Catullus and the Rhetoric of Performance». In: Hexter / Selden (Anm. 68) 461–512, hier: 461: «With the redissemination of Catullus in the fourteenth century, the major difficulty facing readers was the garbled condition of the text. Antonio Parthenius, the first modern commentator on his work, laments that «no writer in Greek or Latin is more corrupt and mutilated that Catullus.» His magisterial edi-
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Idyll Theokrits, dessen Protagonist, Lykidas, auf das Engste mit der Dichtung des Philetas assoziiert werden kann und wohl nicht nur zufällig einen Namensvetter in der neunten Ekloge hat. Bei den von Bowie untersuchten Dichtern ist jene Instanz, die Gian Biagio Conte «poetic memory» genannt hat, intakt, und sie lassen sich auf ihren Hypotext hin befragen. Bei Vergil ist Moeris und Lycidas diese Möglichkeit genommen. Eine Totalisierung der Dichtung, und das heißt hier auch: der Figur des Menalcas ist mit seiner Abwesenheit nicht mehr durchführbar. Die Spur, welche die beiden Hirten auf ihrem Weg in die Stadt hinterlassen, ist auch ein Bild für die Serie von Versuchen, sich des Signifikats Menalcas zu bemächtigen. Ein möglicher Erfolg wird jedoch hierbei linear immer nur weiter aufgeschoben. Allenfalls beginnt hierbei schließlich als stummes 95 Symbol für die scheiternde Suche der beiden Hirten nach Menalcas als Signifikat des Signifikanten «Menalcas» das Bianor-sepulcrum aufzuragen, dessen griechisches Pendant, da G, den verweisenden Zeichencharakter sogar auffallend konnotiert. Auf diese Weise findet die Bewegung des Gespräches, die auf Menalcas zustrebt, auf einer anderen Ebene ihre Entsprechung in der örtlichen Bewegung auf das Grabmal zu. Da dieses jedoch bereits «sich zu zeigen beginnt» 96 (incipit apparere, v. 60), das Erscheinen des Sängers hingegen auch explizit in eine (ungewisse!) Zukunft aufgeschoben wird (referet, v. 55; cum venerit ipse, canemus, v. 67), bliebe eine Bezeichnung des erscheinenden sepulcrum als mise en abyme problematisch. 97 Doch was tut Vergil, indem er auf der Bühne seiner neunten Ekloge die Unfähigkeit des Singens und die Desintegration einer Dichteridentität inszeniert? – Er singt (wie der sophokleische Chor), er dichtet. Diese Spannung, die man wie diejenige der rhetorischen Frage des Chors mit Paul de Man 98 eben «rhetorisch» nennen kann, gilt es auszuhalten. Sie ist das drastische Symptom der Überführung einer unmöglich gewordenen Dichtung in neue Formen und eines gewandelten Selbstverständnisses des Dichters. Die neunte Ekloge bietet in ihrer Makrostruktur wie in ihren Mikrostrukturen, die wir zu Beginn betrachteten, ein beredtes Beispiel dafür, wie in dichterischer Form die Bedrohung der Dichtung durch die Notwendigkeiten und Fährnisse des Hier und Jetzt vor Augen gestellt werden. Die scheiternden Erinnerungsversuche bewirken also nicht nichts. In ihrem Verlauf «beginnt» durchaus etwas «sichtbar zu werden», nämlich die neunte Ekloge selbst 99, als «un-
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tion of 1485 correspondingly proposes «to restore the poet to his limbs, which have lain for so long severed and lifeless in the dark (disiectum et exanimem),» that «we may have [his person] once more among us living, stalwart, triumphant (vividum robustum nitidum exultantem).«» (meine Kursive im englischen Text) Immerhin bleibt die Überlegung, welches Epigramm auf dem Grabmal zu lesen sei, vgl. hierzu Hardy (Anm. 7) 36, jedoch mit anderen Schlußfolgerungen. Auch wollen Lycidas und Moeris ihren Weg noch fortsetzen: tamen veniemus in urbem, v. 62. Problematisch, aber nicht undenkbar: So entspräche die Aufforderung des Lycidas, die konkrete Reise für einen Moment zu unterbrechen (hic haedos depone, tamen veniemus in urbem, v. 62), der Aufforderung des Moeris, den übertragenen Weg hin in die intakte Dichtungswelt des Menalcas zu verlassen (desine plura, puer, et, quod nunc instat, agamus, v. 66). Vgl. P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, 31–51. Ähnlich Hardy (Anm. 7) 37/38: «The oral dramatic performance, while it gives the poetry a living voice, is essentially evanescent. Each performance is a unique occasion. When it has ended, the poet’s words dissolve into silence. It is the written form – the text or the script – which allows the words to outlive the va-
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terwegs»100 langsam entstehendes poetisches Ganzes. Wie sich das sema des Bianor allmählich stumm vor Moeris und Lycidas erhebt, so kommt also doch etwas in Sichtweite, bei dem es möglich ist zu verweilen: Das Erscheinen des Grabmals gerät auf diese Weise zu einer poetologischen mise en abyme der gesamten neunten Ekloge, die schließlich, auf einer höheren, selbstreferentiellen Ebene eine Totalisierung der in den fünf Fragmenten präsenten Menalcasdichtung zu leisten vermag. Dies impliziert indessen auch, daß diese entstandene Dichtung von einer anderen Art ist als eine frühere, bukolische, welche unter den zu gewärtigenden Umständen verunmöglicht wird. Die Prioritäten haben sich verschoben. Am besten drücken dies die beiden letzten Verse des Gedichtes aus, in denen Moeris dem jüngeren Lycidas zeigt, was die Stunde gebietet: desine plura, puer, et, quod nunc instat, agamus. carmina tum melius, cum venerit ipse, canemus. (ecl. 9, 66/67) «Hör auf, weiter zu bitten, mein Sohn, und laß uns tun, was nun anliegt. Lieder werden wir besser erst dann singen, wenn er selbst gekommen sein wird.»
Fast genau 2000 Jahre später scheint ein ähnliches Gefühl mutatis mutandis wieder seinen Ausdruck zu finden. 1957 schreibt Hans Magnus Enzensberger unter dem düsteren Eindruck des Dritten Reiches ebenfalls dichtend drei Verse «Ins Lesebuch für die Oberstufe». Diese stehen zwar sicher nicht unter dem direkten Einfluß der neunten Ekloge Vergils, vermögen aber doch, von einer Universalität des von Vergil Dargestellten zu künden: «Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer. Roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.» 101
Nachtrag Aus den Feststellungen102 und Ergebnissen der obigen Ausführungen lassen sich folgende ausgewählten Punkte noch einmal summarisch vor Augen stellen: 1) Vergil knüpft mit seinen zehn Eklogen insbesondere an Theokrits Idylle an, welche für den Text der Bucolica das strukturelle und thematische Vorbild sind. 2) Hierdurch schreibt Vergil die hellenistische Gattungstradition (Theokrit, Moschos, Bion, andere Kurzformen) der Bukolik in lateinischer Sprache weiter. nishing moment of oral performance. The shepherds of the Ninth Eclogue, as «performers» of poetry, may forget their lines, but Vergil, the writer of poetry, has produced a great text which cannot be forgotten.» – Allerdings, dies muß man gegen Hardy einwenden, gestattet nichts innerhalb der neunten Ekloge einem totalisierten virtuellen Œuvre des Menalcas ein wie auch immer geartetes Überleben. Vielmehr wird diese negative Aussage selbst zum G der neunten Ekloge. 100 Das Abschreiten eines Weges als poetologische Metapher für das eigene Dichten ist indessen keinesfalls erst seit den " des kallimacheischen Aitienproöms bekannt, vgl. D. Durante: «Epea pteroenta. Die Rede als «Weg» in griechischen und vedischen Bildern». In: R. Schmitt (Hrsg.), Indogermanische Dichtersprache, Darmstadt 1968, 242–260 sowie zu Kallimachos: M. Asper, Onomata allotria: Zur Genese, Struktur und Funktion poetologischer Metaphern bei Kallimachos, Stuttgart 1997. 101 H. M. Enzensberger, Verteidigung der Wölfe, Frankfurt a. M. 1999, 88. 102 In der Darstellung von längst bekannten zentralen Charakteristika der Vergilischen Bukolik schließe ich mich hier eng an Schmidt (Anm. 41) an.
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3) Dieses Weiterschreiben der Gattung erfährt insofern einen gewissen Höhepunkt, als Vergil (wie auch einer seiner Nachahmer103) die äußersten Grenzen der Bukolik auslotet und diese somit an Ränder ihrer eigenen Möglichkeiten führt. 4) In diesem Sinne radikal sind vor allem die vierte Ekloge mit ihrem soteriologischen (und deshalb für die Rezeption oft so verwirrenden) $ ' , die zehnte Ekloge, die in der Begegnung mit Gallus eine solche der Bukolik mit der Elegie inszeniert104, sowie die erste Ekloge, in der mit der Vertreibung des Meliboeus das Verstummen 105 der Bukolik, d. h. ihr eigenes Ende in die Gattung integriert wird. 5) Oben wurde unternommen zu demonstrieren, wie weit innerhalb dieses Prozesses die neunte Ekloge geht, welche somit als die radikalste in einem Zu-Ende-Führen der Gattung gelten darf: An diesem Ende steht das Bild zweier aus der Gattung bekannter Figuren 106, die, ihrer einstigen Welt beraubt, nun im Strom des Präsens eine Straße entlang einer ungewissen Zukunft entgegengehen und hierbei noch verzweifelt eine Suche nach dem fernen Menalcas beginnen. Ergebnis ist, daß das, was in der Welt dieser Ekloge, noch von der einst «intakten» Gattung übriggeblieben ist, in Fragmente zerfällt. 6) In einem noch höheren Grade als seinen Vorgänger Theokrit zeichnet Vergil das Moment der «poetischen Reflexion» aus: Hier werden die Bedingungen, Gesetze, Schönheiten, aber eben auch Bedrohungen der Dichtung zum eigentlichen Gegenstand der Dichtung: Dichtung «reflektiert» also über sich selbst als «Gesang». 7) Entsprechend dieser Reflexivität wird u. a. der in Punkt 5) genannte Zerfallsprozeß nicht nur implizit vor Augen geführt, sondern erhält in Bildern und Aussagen auch seinen expliziten Ausdruck: a) im Altern und Zerfall der bukolischen Natur 107, b) im Altern 108 sowie der körperlichen 109 und geistigen Schwächung 110, b) im TodesMotiv 111. 8) Die bukolische Dichtung ist nicht nur reflexiv in dem Sinne, wie E. A. Schmidt ihn definiert hat. Man findet hier nicht nur Analogien, Abbildungen und Projektionen des dichterischen Schaffensprozesses innerhalb der «Welt» des Gedichteten und seiner Konnotationen (etwa wenn man das Singen der Hirten als stellvertretend für das Dichten etwa Vergils liest); vielmehr sind die Bucolica sogar selbstreferentiell im konstruktivistischen 112 Sinne: Der Text der Eklogen nimmt mehrmals direkt Bezug auf den aktuellen
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Ich meine den Verfasser der pseudo-vergilischen Dirae, vgl. hierzu Rupprecht (Anm. 17). Vgl. Conte (Anm. 4) 100–129 mit dem bezeichnenden übegeordneten Titel «Genre and Its Boundaries». 105 Vgl. das «carmina nulla canam» (ecl. 1, 77) und die anaphorischen Verneinungen der Verse ecl. 1, 74–78. 106 Zu Lykidas vgl. Theokrit id. 7, zu Moeris Vergil ecl. 8, 96 (also indirekt auch Theokrit id. 2). 107 ecl. 9, 9: usque ad aquam et veteres, iam fracta cacumina, fagos; verstärkt würde dies, wie oben (Anm. 91) dargelegt, durch das Szenario, das der Ilias-Hypotext zu dem Namen «Bianor» zu evozieren vermag. 108 ecl. 9, 51/52: omnia fert aetas, animum quoque; saepe ego longos / cantando puerum memini me condere soles. 109 ecl. 9, 53/54: vox quoque Moerim / iam fugit ipsa; lupi Moerim videre priores. 110 Gemeint ist natürlich das Vergessens-Motiv: si valeam meminisse (Moeris, v. 38); numeros memini, si verba tenerem (Lycidas, v. 45); nunc oblita mihi tot carmina (Moeris, v. 53). 111 Dies klingt bereits in ecl. 9, 16 an, ist präsent in dem Bild der Verse ecl. 9, 12/13 und in dem Tod des Daphnis in der fünften Ekloge, auf welche die Verse ecl. 46–50 verweisen; im Aufragen des Bianor-Grabmales am Ende der Ekloge ist das Todes-Motiv dann vollends augenfällig. 112 Vgl. hierzu P. Watzlawick / J. H. Beavin / D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969. 104
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dichterisch-verschriftlichenden Produktionsprozeß, dem er seine eigene Existenz erst verdankt, so denotiert Vergil bzw. Tityrus / Menalcas direkt (in einer narrativen Metalepse) sein eigenes aktuelles schriftstellerisches Handeln.113 In den Schlußsätzen der obigen Ausführungen war kurz von der «Universalität des von Vergil Dargestellten» die Rede. Wenn nun zum Schluß ein Sprung in die (Post-)Moderne des 20. Jahrhunderts gewagt wird, dann soll dies nicht nur im Sinne eines Topos «nil novi sub sole» geschehen, nach welchem die Antike alle charakteristischen Phänomene der literarischen Moderne bereits gekannt habe und der allein in einem Gestus des ertraglosen Zeigens verharrt; vielmehr geht es darum, den Horizont zu weiten und einen Ausblick darauf zu eröffnen, wie aufschlußreich und fruchtbar ein komparatistisches Betrachten mehrerer Epochen etwa für das Phänomen «Gattung» als «autopoietisches System» (N. Luhmann) sein könnte. In einem Artikel zur «Rückbezüglichkeit in der Literatur»114 beschäftigt sich Rolf Breuer mit Samuel Becketts Romantrilogie115 Molloy (1951), Malone stirbt (Malone meurt, 1951), Der Namenlose (L’Innommable116, 1953). Er unterscheidet eine Literatur, in der sich Momente des Rückbezüglichen finden lassen, und eine solche, die sich durch diese Reflexivität erst konstituiert, und schickt voraus: «In der neuzeitlichen erzählenden Literatur jedoch hat die Rückbezüglichkeit ihre eigentliche Heimat. […] Der Zeitpunkt, von dem ab man statt von Rückbezüglichkeit in der Literatur von rückbezüglicher Literatur sprechen kann, dürfte um das Jahr 1900 liegen.» 117
Zwar anerkennt Breuer, daß auch die antike Literatur Rückbezüglichkeit kannte118, doch muß ihm insofern widersprochen werden, als man von eben der vergilischen Bukolik als einer «rückbezüglichen Literatur» sprechen kann 119, und zwar im vollsten Sinne «einer Literatur, die sich vor allem mit sich selbst beschäftigt, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen Niederschrift reflektiert, allgemein über die Möglichkeit dichterischen Sprechens handelt»120.
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Drei prägnante Beispiele: a) das Präsens der Gleichzeitigkeit, das in dem Bild des «dum(!) sedet et gracili fiscellam texit hibisco» (ecl. 10, 71); b) das überraschende Eindringen der Schriftlichkeit in ecl. 5, 13–15, wo in Vers 13 die Deixis des «haec carmina» selbstreferentiell sogar die beiden Daphnislieder der fünften Ekloge selbst bezeichnen kann; c) das Selbstzitat der Einleitungsverse von zweiter und dritter Ekloge in ecl. 5, 86/87. 114 R. Breuer: «Rückbezüglichkeit in der Literatur: Am Beispiel der Romantrilogie von Samuel Beckett». In: P. Watzlawick (Hrsg.), Die Erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München / Zürich 61990 (11981), 138–158. 115 Ich zitiere nach den deutschen Ausgaben: S. Beckett, Molloy, aus dem Franz. v. E. Franzen, Frankfurt a. M. 1995; S. Beckett, Malone stirbt, aus dem Franz. v. E. Tophoven, Frankfurt a. M. 1995; S. Beckett, Der Namenlose, aus dem Franz. v. E. Tophoven, Frankfurt a. M. 1995. 116 Also eigentlich «Der Un-Benennbare». 117 Breuer (Anm. 114) 140/141. 118 Er spricht v. a. von poetologischen lyrischen Gedichten und Komödien des Aristophanes, vgl. Breuer (Anm. 114) 139/140. 119 Spätestens in Bezug auf die von Schmidt (Anm. 41) verausgearbeitete «Poetische Reflexion». 120 Breuer (Anm. 114) 139.
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Daß die Eklogen sogar ihre eigene Niederschrift reflektieren, wurde soeben bereits als achter Punkt angemerkt. Indes: Nicht nur die allgemeine Charakterisierung rückbezüglicher Literatur läßt sich auf Vergils Bukolik übertragen; vielmehr läßt sich auch die innerbukolische Entwicklung mit dem von Breuer gewählten Beispiel vergleichen. Zentral für Becketts Romantrilogie, welche die Gattung des neuzeitlichen Romans nach Proust und Joyce einem Höhepunkt und Ende zuführe 121, ist, so Breuer, das Motiv der Suche. Diese «Quest» steht aber in den von ihm betrachteten Fällen (einschließlich Prousts Recherche) immer auch für die Suche des Schriftstellers nach einem geeigneten Stoff, nach einem «Gegenstand für sein Werk» 122, nach der Möglichkeit, einen «richtigen» Roman zu schreiben. Um ein Beispiel zu geben: Der erste Teil der Trilogie, Molloy, besteht aus zwei Teilen, welche beide jeweils zwei Grundelemente der neunten Ekloge, die oben herausgearbeitet wurden (körperlich-mnestischer Verfall, die «Quest» nach Menalcas), aufweisen: «Im ersten Teil berichtet der Ich-Erzähler Molloy von der Suche nach seiner Mutter, wobei er allerdings weder deren Aufenthaltsort genau kennt, noch sonderlich darum besorgt ist, wo er sich denn eigentlich selbst befindet. Der erfolgreiche Abschluß seiner Suche wird ferner durch den fortschreitenden körperlichen Verfall behindert. Zuletzt sehen wir Molloy mühsam mit zwei paralysierten Beinen durch den Wald kriechen, bis er in einem Graben am Waldrand liegenbleibt, vor sich die Stadt123, in der vielleicht seine Mutter wohnt.»124
Auch der zweite Teil inszeniert eine Suche, und zwar die Quest des Detektivs Moran nach dem verschwundenen Quester Molloy. Auch Moran muß den Prozeß eines körperlichen Verfalls durchmachen und wird hierdurch dem von ihm gesuchten Molloy immer ähnlicher.125 Was nun die Rückbezüglichkeit ausmacht, ist die Tatsache, daß in beiden Teilen des Romans die Ich-Erzähler, die jeweils einen Bericht verfassen, immer wieder auf die Bedingungen ihrer eigenen Schreibsituation Bezug nehmen und hierbei den Verfall ihres Körpers mit der mangelnden Verläßlichkeit und Güte ihres eigenen Berichtes parallelisieren.126 Dies kulminiert darin, daß in Form des logischen Paradoxons der Rückbezüglichkeit 127 mit den Mitteln des Romans128 ein fester ontischer Status des Romans dekonstruiert wird. Moran beginnt seinen Bericht mit den Worten: «Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben. Ich bin ruhig. Alles schläft. Doch ich stehe auf und gehe zu meinem Schreibtisch. Ich bin nicht schläfrig. Meine Lampe beleuchtet mich mit einem gleichmäßigen, milden Schein. Ich habe sie reguliert. Sie wird bis zum Morgen brennen. […] Mein Bericht wird lang sein. Vielleicht werde ich nicht damit zu Ende kommen»129 121
Vgl. Breuer (Anm. 114) 143 und 150. Breuer (Anm. 114) 142. 123 Ich widerstehe der Versuchung (abgesehen von der praeteritio dieser Fußnote), an dieser Stelle auf das sowohl für Becketts Romantrilogie als auch für die Bukolik so eminent wichtige Moetiv der Stadt einzugehen; man vgl. trotzdem etwa die Szene auf der Straße zur Stadt in Molloy (Anm. 115) 9–11. 124 Breuer (Anm. 114) 143. 125 Breuer (Anm. 114) 145. 126 Stellen bei Breuer (Anm. 114) 147. 127 Dieses Paradoxon ist dasjenige der Metalepse, wie sie in der hier besonders zu vergleichenden Stelle Vergils ecl. 5, 85–87 zu finden ist und hier von Beckett konsequent an ihre Grenzen geführt wird. 128 Diese Struktur ähnelt derjenigen der proustschen Recherche, vgl. Breuer (Anm. 114) 142. 129 Molloy (Anm. 115) 128. 122
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Nach seinem «Bericht» von seiner erfolglosen Quest kehrt Moran nach Hause zurück, erwähnt noch einmal die Stimme, die ihm den Auftrag zu seinem Bericht gab. Er schließt: «Auf ihr Geheiß schreibe ich den Bericht. Soll das bedeuten, daß ich jetzt freier bin? Ich weiß es nicht. Es wird sich zeigen. Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb «Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.» Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.» 130
Werden hier auch die Prinzipien der Gattung «Roman» von Beckett durch Paradoxien unterlaufen, so findet dies doch immer noch innerhalb dieser Gattung statt, ein Vorgang der in derselben Widersprüchlichkeit oben auch bei Vergil begegnet ist: «Der Namenlose setzt bei dieser Paradoxie an. Der Ich-Erzähler, namenlos, zeitlos, ortlos, spricht zumeist im Präsens, von sich selbst, fiktionale Verfahren ablehnend. Dennoch unterlaufen ihm gelegentliche Rückfälle ins Geschichtenerzählen.»131
Doch die Zeit für das Geschichtenerzählen eines Romans ist vorbei – ebenso, wie in Vergils neunter Ekloge die Lieder verklungen sind. Hier wie dort wird das Verstummen inszeniert: «In der zweiten Hälfte des Romans spricht der Namenlose […], eine Weiterentwicklung Malones, mehr und mehr von seiner «Quest», seinem Versuch zu schweigen, das Schweigen zu erreichen. Das Geschichtenerzählen ist aufgegeben: «Lauter Lügen … Das kommt nicht mehr in Frage» (S. 414) [=Der Namenlose (Anm. 115) 24]. Die Sprache ist absatzlos, zuletzt auch fast «satzlos» (Punkte nur noch alle paar Seiten) […]. Aber vielleicht muß er so aussehen, der Roman der Notwendigkeit, der Roman des Reden-müssens, um dann endlich schweigen zu können und zu dürfen.»132
Hier zerfließt die Substanz einer Tradition in das «Logorrhöe-artige des Wortschwalls» 133: «Die Gattung ist an einem Ende angekommen: Fabel, Handlung, Ort, Zeit, Personen, Struktur, Bilder, das ganze Inventar der Kunst des Erzählens ist verschwunden oder jedenfalls bis an den Punkt der Unkenntlichkeit reduziert. Der Künstler Beckett will sich befreien vom Ausdruckszwang […], und alles wird versucht, um die Identität von IchErzähler und Autor herauszustellen: In keinem anderen Werk wird so häufig auf frühere Protagonisten134 anderer Beckett-Romane hingewiesen»135.
Wie Beckett 136 wird sich Vergil nach seinen Bucolica mit den Georgica anderen literarischen Formen zuwenden. Zuvor bringt er aber, wie oben zu zeigen versucht wurde, die zunächst 130
Molloy (Anm. 115) 243. Breuer (Anm. 114) 151. 132 Breuer (Anm. 114) 152. 133 ibid. 134 Man denke an die Praxis der Querverweise, wie sie die Bucolica mit Hilfe der vergilischen und theokritischen Hirtennamen ausüben. 135 ibid. 136 Vgl. Breuer (Anm. 114) 155: «Insofern ist die Position des Solipsismus [sc. des Verharrens in denselben Strukturen] letztlich nicht nur unfruchtbar, sondern auch als Strategie zum Scheitern verurteilt. Beckett hat das am Ende der Trilogie ebenfalls erkannt; die letzten Worte lauten: «… man muß weitermachen, [ich kann nicht weitermachen] ich werde weitermachen» (S. 566 [=Der Namenlose (Anm. 115) 176]). 131
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gewählte Gattung dadurch zum Abschluß, daß er sie in der neunten Ekloge fragmentierend zerstückelt und in disparate Teile zerfallen läßt, die nur noch Substrat dessen sind, was zuvor als «intakte» Gattung gelten konnte. Dieses Vorgehen zeichnet jedoch gerade Becketts Roman «Malone stirbt» aus, der soeben ausgelassen wurde. Auch hier steht wieder der körperliche und geistige Verfall im Mittelpunkt: «Die äußere Bewegung des Protagonisten ist zum Stillstand gekommen. Malone liegt im Bett und wartet auf den Tod. Bis es soweit ist, will er sich durch Geschichtenerzählen die Zeit vertreiben.»137
Doch dies scheitert wie die Gesangsversuche des Lycidas und des Moeris, «bis endlich der Zerfall seiner Sprache den Tod des Erzählers (und seiner Figuren) signalisiert.» 138 Aus der Suche nach der Mutter in Molloy ist nun der Weg in den Tod geworden, wie es Malone gleich zu Beginn des Romans auch direkt ausspricht.139 Doch bevor dieser Tod eintritt und von dem Ich-Erzähler als (Wieder-)Geburtsvorgang wahrgenommen werden kann 140, muß das Alte zuvor «absterben». Dieses «Alte» ist jedoch nicht nur das Siechtum der Figur «Malone»: «Die dauernde Unterbrechung des Erzählvorgangs durch die Reflexion auf ihn ist so offensichtlich» 141, daß klar wird, in welch hohem Maße es hier in der rückbezüglichen «Durchdringung […] von Text und Meta-Text» 142 auch um die Tätigkeit des Roman-Schreibens geht.143 Sind diese Verfahren Becketts auch in der konsequenten Vollendung der selbstreferentiellen Sprache wesentlich radikaler als die vergilischen Eklogen, so lassen sich doch die in beiden Werken prägenden Strukturen einander annähern. Nachdem Malones Rede während des Romans bereits immer wieder unterbrochen und die Erzählung schon dadurch zerhackt worden ist 144, ergeht es ihr dann wie dem bukolischen Œuvre des Menalcas in der neunten Ekloge. Man betrachte hierzu den Schluß des Romans, «als Malones Prosa zerfällt, offensichtlich als Folge des nun einsetzenden Sterbens» 145:
Und er hat […] weitergemacht, hat Questen und Meta-Literatur aufgegeben und in den letzten 15 Jahren zu einer ganz neuen Form von Literatur gefunden: zu höchst konzentrierten Kurzdramen und Kurzromanen». 137 Breuer (Anm. 114) 147. 138 Breuer (Anm. 114) 148. 139 «Ich werde endlich doch bald ganz tot sein.» (Malone stirbt (Anm. 115) 7) 140 Malone stirbt (Anm. 115) 147. 141 Breuer (Anm. 114) 149. 142 ibid. 143 Breuer (Anm. 114) 149 führt u. a. folgende besonders beredte Stelle an: «Ich habe ein kurzes Gedächtnis. Mein auf dem Bogen liegender kleiner Finger hat einen Vorsprung vor dem Bleistift, den er warnt, wenn er an den Zeilenenden herunterfällt.» 144 Vgl. «Nein, das geht nicht.» (Malone stirbt (Anm. 115) 20), «– nein, ich kann nicht.» (Malone stirbt (Anm. 115) 29) oder «Ich mache eine Pause, um zu notieren, daß ich in außerordentlicher Form bin. Es ist vielleicht das Delirium.» (Malone stirbt (Anm. 115) 112) 145 Breuer (Anm. 114) 150.
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«Lemuel ist der Verantwortliche, er hebt sein Handbeil, an dem das Blut nie trocknet, aber nicht, um jemanden zu erschlagen, er wird niemanden erschlagen, er wird niemanden mehr erschlagen, er wird niemanden mehr berühren, weder mit ihm noch mit ihm noch mit noch mit noch noch mit ihm noch mit seinem Hammer noch mit seinem Stock noch mit seinem Stock noch mit seiner Faust noch mit seinem Stock noch mit noch in Gedanken noch im Traum ich meine niemals er wird niemals berühren noch mit seinem Bleistift noch mit seinem Stock noch noch Lichter Lichter ich meine niemals das ist es er wird niemals berühren niemals berühren das ist es niemals das ist es das ist es nichts mehr«146
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Zeitlos, dicht, vollendet Zu einigen Analogien des Seinsbegriffs bei Sartre und Parmenides 0. Exposition Der Seinsbegriff spielt sowohl im philosophischen Hauptwerk Sartres Das Sein und das Nichts als auch in Parmenides’ später so benanntem Lehrgedicht über die Natur (PEI YE) eine fundamentale Rolle. Für Sartre gibt es zwei streng getrennte Seinsweisen, die in ihrer Natur jeweils vollkommen andersartig sind. Das Sein im ganzen teilt sich in das Bewußtsein (Für-sich) und das Sein an sich (An-sich). Das Seiende der einen Seinsweise, der Mensch, muß sich im Gegensatz zum Seienden der anderen, den Dingen, ständig selbst erschaffen. Die menschliche Realität muß ihr Sein bilden, sie muß sich machen, sie ist nicht, denn sie hat zu sein. Wir sind der Freiheit ausgeliefert und müssen unser Dasein auf uns nehmen und es selbst entwerfen. Es gilt, unser Sein selbst zu gestalten und den Mangel, der vor uns liegt, in völliger Verantwortlichkeit für unser Tun auszufüllen. Das An-sich ist hingegen vollkommen starr; die Dinge sind dicht, beharrlich und ohne Möglichkeit, anders zu sein. Auch Parmenides beschreibt das Sein – wenn auch vor einem anderen Hintergrund – in zweifacher Weise: Zum einen zeigt es sich als Erscheinung, welche bloßes Trugbild ist, zum anderen hat es ein wahres Gesicht, das uns zunächst verborgen bleibt. Das Sein, so wie wir es wahrnehmen, ist nichts anderes als Täuschung, hier wird den Sinnen Veränderung, Werden und Wandel vorgegaukelt. Auf der anderen Seite jedoch existiert das wahre Sein, dessen Merkmale durch den Mund der Göttin Dike kundgetan werden. Dieses Sein ist ebenso zeitlos, unveränderlich, voll und fest wie Sartres Sein an sich. Sartre charakterisiert somit das Sein an sich in erstaunlich ähnlicher Art und Weise wie Parmenides das wahre Sein. Abgesehen von einigen kurzen Hinweisen 1 scheinen diese 1
Hans-Georg Gadamer, Das Sein und das Nichts, in: Traugott König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongreß, Internationaler Sartre-Kongreß an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, 9.–12. Juli 1987, Rowohlt, Reinbek 1988 (= Rowohlts Enzyklopädie 475), 37–52, hier 45 f., stellt sich z. B. die Frage, ob Sartre Eleat gewesen sei, und führt aus: «Das ist ja das Sein des Parmenides, das Sartre hier schildert, das ist bis in den Wortlaut hinein Parmenides … Er redet von dem einen vollen Sein, in dem sozusagen kein Riß und kein Spalt ist und kein Nicht. Was ist, von dem kann man nur sagen, es ist. Das ist Sein. Diese homogene Kugel des Seins oder dieser Ball des Seins, wie es im parmenideischen Lehrgedicht heißt, erscheint bei Sartre als das An-sichsein, das être-en-soi.» – Siehe auch Anthony Manser, Sartre. A Philosophic Study, The Athlone Press, University of London 1967, 47: «For much of what Sartre says about it seems very similar to what Parmenides said about the real nature of the universe. It is, and within it there is only being; nothingness has no place.» – Vgl. z. B. auch: Leo Gabriel, Existenzphilosophie. Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre. Dialog der Positionen, Herold, Wien / München 1968, 186. – Siehe weiters Vincent von Wroblewsky (Anmerkung des Herausgebers), in: Vincent von Wroblewsky (Hrsg.), Jean Paul Sartre. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Philosophische Schriften, Band 1: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Rowohlt, Reinbek 1997, 31.
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Analogien in der Forschung zu den beiden Philosophen keine besondere Beachtung gefunden zu haben. Eine detaillierte Darstellung dieser bemerkenswerten geistesgeschichtlichen Parallele zwischen einem vorsokratischen Denker und einem zeitgenössischen Existenzphilosophen ist daher durchaus lohnenswert. Im folgenden werden wir versuchen, das wahre Sein bei Parmenides zu beschreiben und die zahlreichen Parallelen zu Jean-Paul Sartres zweieinhalbtausend Jahre späterer Darstellung des Seins an sich 2 herauszuarbeiten. Obwohl Sartre in der Beschreibung des Seins an sich nicht direkt auf Parmenides verweist, war er mit diesem vorsokratischen Denker dennoch vertraut. In Das Sein und das Nichts erwähnt Sartre die ‹Seinsfülle des Parmenides› u. a. in der Analyse des Blicks: «Es sieht tatsächlich aus, als habe es [das Nichts] sich in diese Totalität eingeschlichen, um sie zu zerbrechen, so wie im Atomismus Leukipps das Nicht-sein sich in die Parmenideische Seinstotalität einschleicht, um sie in Atome zu zersprengen.» (Il semble, en effet, qu’il se soit glissé dans cette totalité pour la briser, comme le non-être dans l’atomisme de Leucippe se glisse dans la totalité d’être parménidienne pour la faire éclater en atomes.)3 Zum anderen beschreibt Sartre am Ende des Buches im Kapitel über ‹Handeln und Haben›, auf welche Weise das Für-sich seine Sehnsucht nach Fülle zu verwirklichen sucht, wobei er wiederum auf Parmenides verweist: Das Für-sich sucht «die Dichte, die einförmige und sphärische Fülle des parmenideischen Seins». (Il recherche la densité, la plénitude uniforme et sphérique de l’être parménidien.) 4 Auch in anderen Artikeln von Sartre5 wird die parmenideische Seinstotalität genannt, was zeigt, daß er die Ähnlichkeit mit seiner eigenen Position eigentlich gesehen haben müßte. Einen weiteren interessanten Bezug auf Parmenides nimmt Sartre, indem er Merleau-Ponty zitiert: «Dieses durch das, was sich in der Zeit bewegt, durchschimmernde, von unserer Wahrnehmung, von unserem körperlichen Sein immer erstrebte Sein, in das wir uns aber unmöglich versetzen können, weil der aufgehobene Abstand ihm seine Seinskonsistenz rauben würde, dieses «Sein der Ferne», wie Heidegger sagt, das immer unserer Transzendenz aufgegeben ist – das ist die dialektische Idee des Seins, wie Parmenides sie definierte, des Seins, das jenseits der Vielfalt der Dinge ist und grundsätzlich durch diese hindurch angestrebt wird, weil es getrennt von ihnen nur Blitz und Nacht wäre.» 6 (Cet être entrevu à travers le bougé du temps, toujours visé par notre perception, par notre être charnel mais où il ne peut être question de se transporter parce que la distance supprimée lui ôterait sa consistance d’être, cet «être des lointains», dit Heidegger, toujours proposé à notre transcendance, c’est l’idée dialectique de l’être telle que la définissait le Parménide, au-delà de la mul-
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Es handelt sich hier hauptsächlich um das Kapitel VI ‹Das Sein an sich›, 37 ff. (L’Être en soi, 30 ff.), in: JeanPaul Sartre, L’Être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Gallimard, Paris 1949. Deutsche Übersetzung: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hrsg. von Traugott König, übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Rowohlt, Reinbek 1991 (im folgenden mit SN bzw. EN zitiert). SN 535; EN 362 (vgl. Fn. 2). SN 1049; EN 705 (vgl. Fn. 2). Siehe z. B. Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la Littérature?, in: Situations II, Gallimard, Paris 1948, 55–330, hier 181. Deutsche Übersetzung: Was ist Literatur? Ein Essay, übersetzt von Hans Georg Brenner, Rowohlt, Reinbek 1963 (= rde 65), 87. Zitiert nach Jean-Paul Sartre, Merleau-Ponty, in: Portraits und Perspektiven, übersetzt von Hans-Heinz Holz, Rowohlt, Reinbek 1968, 152–230, 216.
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tiplicité des choses qui sont et, par principe, visé à travers elles puisque séparé d’elles, il ne serait qu’éclair et que nuit7.) Sartre bezieht sich also nur indirekt auf seinen Vorgänger Parmenides. Und obwohl das Sein an sich Sartres’ dem parmenideischen wahren Sein in verblüffender Weise ähnlich ist, werden die vorsokratischen Quellen seiner Ontologie in Das Sein und das Nichts nicht explizit angegeben. Im Vordergrund unseres Interesses steht daher der Vergleich der beiden Positionen. Zunächst soll jedoch eine kurze Einführung zu den unterschiedlichen Auffassungen von Sartre und Parmenides bezüglich ‹Sein, Erscheinen und Nichts› unternommen werden.8
1. Sein, Erscheinen und Nichts. Unterschiede bei Sartre und Parmenides Parmenides’ Lehrgedicht ist nebst einem Proömium in zwei Teile gegliedert, in welchen er die Göttin Dike auftreten und das wahre Wesen des Seins offenbaren läßt.9 Sie beschreibt in direkter Rede zwei ungleiche Wege der Forschung: den Weg der Wahrheit und Evidenz ($ ), der «fürwahr außerhalb von der Menschen Pfade ist» ( $# $ µ« ),10 im ersten Teil – und im zweiten den der bloßen Meinung ( ). Parmenides unterscheidet also zwischen zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Erkenntnisweisen: der apriorischen und der empirischen. Erstere verschafft uns im Lichte der reinen Vernunft und durch das, was «Gesetz und Recht» ( « ! )11 ist, Zugang zum wahren Sein, während uns letztere lediglich über die «Schein-Meinungen [der 7
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Zitiert nach Jean-Paul Sartre, Merleau-Ponty, in: Situations IV, Portraits, Gallimard, Paris 1964, 189–287, hier 269. – Sartres Quelle: Maurice Merleau-Ponty, Signes. Le langage indirect … de Mauss à LéviStrauss …, Gallimard, Paris 1960 (= NRF – Collection Blanche). Die sehr umfangreiche Forschung zu Sartre und Parmenides kann im Rahmen dieser Arbeit nicht einmal annähernd gewürdigt werden; sofern die von uns zitierten Passagen aus Parmenides’ Lehrgedicht jedoch gravierende textkritische und interpretatorische Probleme aufwerfen, motivieren wir die von uns präferierten Lesarten, Deutungen und Übersetzungen stets in Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur. In der Folge beziehen wir uns auf Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hrsg. von Walther Kranz, erster Band, Weidmann, Dublin / Zürich 1971 (im folgenden mit DK zitiert), insbesondere auf ‹B. Fragmente›. B 1.27; DK 230 (vgl. Fn. 9). Wir lassen hier die Frage offen, wie das Proömium zu erklären sei. Dazu sind zahlreiche Interpretationsversuche unternommen worden, die Parmenides’ Reiseschilderung als Reise im konkret-geographischen Sinn, als Allegorie für seinen Erkenntnisweg, als literarisches Stilmittel oder wörtlich als Schilderung einer mystischen Offenbarung gedeutet haben. Vgl. für eine allegorische Deutung schon in der Antike Sextus Empiricus (adv. math. 7.112–114). – Leonardo Tarán, Parmenides’ Concept of Being, in: Parmenides. A Text with Translation, Commentary, and Critical Essay, Princeton University Press, Princeton 1965, 17 ff., bevorzugt eine literarische Deutung («the proem is only a literary device», ibid., 31). – Hans von Steuben, Wahrheit und Gesetz. Die Offenbarung des Parmenides, in: Parmenides. Über das Sein, Griechisch und Deutsch, mit einem einführenden Essay, Reclam, Stuttgart 1981, 168 ff., folgt in seiner Deutung früheren Ansätzen (z. B. von Fränkel, Verdenius, Manfeld), die Parmenides zuschreiben, «tatsächlich eine Offenbarung empfangen [zu] haben» (ibid., 101). – Uvo Hölscher, Vom Wesen des Seienden, in: Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, Griechisch und Deutsch, hrsg., übersetzt und erläutert, Suhrkamp, Stuttgart 1986, 71 f., schließlich sieht im Proömium zwar kein mystisches Erlebnis, wohl aber die Schilderung eines einmaligen Erlebnisses, nämlich der Berufung des Parmenides zur Philosophie, welcher sich mit dieser Berufungsgeschichte in die Tradition einreiht, in der Hesiod und andere stehen. B 1.28; DK 230 (vgl. Fn. 9).
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Sterblichen], denen nicht innewohnt wahre Gewißheit» ( ξ &' «, (« ) * « $!«),12 Auskunft zu geben vermag. Parmenides befragt das Problem des Grundes also nicht mehr im Sinne der ionischen Naturphilosophie, wo nach einem Urprinzip ($+), aus dem alles entstanden sei, geforscht wird, sondern metaphysisch. Er trennt wahres Wissen von Schein und Meinung; Gewißheit kann nur die Vernunft vermitteln, welche uns zeigt, daß es nur Sein geben kann, «denn weder erkennen könntest du das Nichtseiende (das ist ja unausführbar) noch aussprechen» (Κ ω !« κ µ () $) Κ 2 «).13 Das Seiende versteht Parmenides als das Raumfüllende, alles ist «ganz von Seiendem erfüllt» (» # * «);14 das Nicht-Seiende setzt er einem ‹leeren›, d. h. nicht real-existierenden Raum gleich und schließt dessen Bestehen aus. Sein und Nicht-Sein sind also grundsätzlich voneinander verschieden, das lehrt uns die Einsicht: ‹Es ist oder es ist nicht› (* ν ) * ).15 Damit hat Parmenides als erster den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ausgesprochen, und diese Erkenntnis, die eine unumstößliche Gewißheit für die Menschen darstellt, setzt uns in gewisser Weise den Göttern gleich. «Die Entdeckung dieses Satzes bedeutet zugleich die Entdeckung eines Gebietes, auf dem es unmittelbare Klarheit gibt, die dort, wo mit Hilfe von Beobachtung und Erfahrung die Welt erklärt werden soll, grundsätzlich nicht zu erreichen ist. Hier aber, auf dem Gebiet der Logik, ist sie möglich.»16 Völlige Sicherheit über etwas zu haben, ist also nicht mehr den Göttern allein vorbehalten, sondern sie ist für die Sterblichen vermittels der reinen Vernunft erreichbar: Von zwei entgegengesetzten (kontradiktorischen) Behauptungen kann nur eine richtig sein, tertium non datur. Auf dem Boden empirischer Welterklärung aber kann es niemals absolute Wahrheit geben, die Sinne gaukeln uns ein Sein vor, das mit dem wirklichen nicht übereinstimmen kann: Wir erfahren eine veränderliche Vielheit von Dingen, Bewegung, Werden und Wandel. Die Göttin ruft auf, nicht den Weg der schwankenden Vernunft zu wählen, «den die Menschen gehen, sofern sie sich an ihren Sinnen orientieren»,17 und weiters, nicht jener trügerischen Sichtweise anheimzufallen, die uns die Existenz des Nichts vortäuscht. «Denn es ist unmöglich, daß dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes» () 4 5 ρ κ ).18 Als kosmologische Theorie im Bereich des Hypothetischen verweist Parmenides auf die Meinung, die Welt sei gegensätzlich aufgebaut, aus ‹ätherischem Flammenfeuer› und ‹lichtloser Nacht› (2 µ« 7 4 und 8# $ 5)19 entstanden, aus denen sich immer speziellere Gegensatzpaare abgespaltet hätten. Von der Erkenntnis des wahren Seins ist ein solcher Weg der Forschung streng zu unterscheiden, und «diese Welteinrichtung» – so die Göttin – «teile ich dir als wahrscheinlich-einleuchtende in allen Stücken mit» ( 12 13 14 15 16
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B 1.30; DK 230 (vgl. Fn. 9). B 2.7; DK 231 (vgl. Fn. 9). B 8.24; DK 237 (vgl. Fn. 9). B 8.16; DK 236 (vgl. Fn. 9). Ernst Heitsch in Parmenides. Die Anfänge der Ontologie, Logik und Naturwissenschaft. Die Fragmente, hrsg., übersetzt und erläutert von Ernst Heitsch, Heimeran, München 1974, 79. Zur schwierigen Frage des Subjekts von ()) * vgl. Fn. 50. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten in neueren Ansätzen der formalen Logik, die anders als die klassische zweiwertige Logik von drei oder mehr Wahrheitswerten ausgehen, in seiner unbedingten Gültigkeit in Frage gestellt worden ist. Heitsch, 89 (vgl. Fn. 16). B 7.1; DK 234 (vgl. Fn. 9). – Zur Kritik an einigen abweichenden Lesarten vgl. Tarán, 73 ff. (vgl. Fn. 10). B 8.56 und B 8.59; DK 240 (vgl. Fn. 9).
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Ω 2 :).20 Allerdings kann sie auch empirisch zweckmäßig ergründet werden, wenn man sich des nur wahrscheinlichen Charakters der Aussagen bewußt bleibt. «Innerhalb der Welt des Scheins lassen sich in sinnvoller Weise hypothetische Erklärungen von Tatsachen vornehmen, sofern diese auf die Bedingungen des Scheins relativiert werden.» 21 Für Sartre hingegen ist der Dualismus von Sein und Scheinen im Phänomen aufgehoben. «Es gibt kein Äußeres des Existierenden mehr …, [das] den Blicken die wahre Natur des Gegenstands verhüllte.» (Il n’y a plus d’extérieur de l’existant … qui dissimulerait aux regards la véritable nature de l’objet.)22 Er führt das Seiende allein auf das zurück, was es ist, spricht ihm jegliche ‹Hinterwelten› ab und beschneidet es lediglich auf sein Scheinen. «Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es erscheint. So gelangen wir zur Idee des Phänomens.» (Car l’être d’un existant, c’est précisément ce qu’il paraît. Ainsi parvenons-nous à l’idée de phénomène.)23 Das Sein offenbart sich also im Phänomen genau so, wie es ist. Es ist kein Abbild einer etwaigen idealen Setzung; es gibt kein dahinterliegendes Absolutes, welches das Sein durchzieht; das Sein selbst ist absolut und positiv. Somit fällt auch der Dualismus von Erscheinung und Wesen, denn sie sind ein und dasselbe. «Die Erscheinung verbirgt nicht das Wesen, sie enthüllt es: sie ist das Wesen.» (L’apparence ne cache pas l’essence, elle la révèle: elle est l’essence.)24 Allerdings kommt eine neue Duplizität zum Vorschein, nämlich jene des ‹Unendlichen im Endlichen› (l’infini dans le fini), denn: «was erscheint, ist ja nur ein Aspekt des Objekts …, die Reihe selbst wird niemals erscheinen und kann nicht erscheinen.» (Ce qui paraît, en effet, c’est seulement un aspect de l’objet … la série elle-même n’apparaîtra jamais ni ne peut apparaître.)25 Die Erscheinung verweist demnach auf nichts anderes als auf sich selbst, und «da es nichts hinter ihr gibt und sie sich nur selbst anzeigt (und die totale Reihe der Erscheinungen), kann sie nicht von einem anderen Sein als ihrem eigenen getragen werden.» (Puisqu’il n’y a rien derrière elle et qu’elle n’indique qu’elle-même (et la série totale des apparitions), elle ne peut être supportée par un autre être que le sien propre.) 26 Phänomene als Gegebenheiten unseres Bewußtseins zeigen «sich selbst als organisierte Gesamtheit von Qualitäten an» (l’existant est phénomène, c’est-a-dire qu’il se désigne luimême comme ensemble organisé de qualités),27 und sie offenbaren sich genauso, wie sie sind. Wie sieht es nun mit dem Sein der Erscheinungen aus, erschöpfen sie sich lediglich im Erscheinen oder existieren sie uneingeschränkt? Für Sartre kann das esse est percipi keine befriedigende Antwort bieten, denn das Bewußtsein «verlangt einfach, daß das Sein dessen, 20 21
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B 8.60; DK 240 (vgl. Fn. 9). Wolfgang Röd (Hrsg.), Geschichte der Philosophie. Bd I: Wolfgang Röd, Die Philosophie der Antike von Thales bis Demokrit, Beck, München 1976 (= Beck’sche Elementarbücher), 119. – Zu Parmenides’ Kosmologie vgl. auch Tarán, 231 ff. (vgl. Fn. 10); v. Steuben, 150 ff. (vgl. Fn. 10); Hölscher, 102 ff. (vgl. Fn. 10); Denis O’Brien / Jean Frère, in: Le Poème de Parménide, Texte, traduction, essai critique par Denis O’Brien / Jean Frère. Études sur Parménide, tome 1, publiées sous la direction de Pierre Aubenque, Vrin, Paris 1987, 147 ff. SN 9; EN 11 (vgl. Fn. 2). SN 10; EN 12 (vgl. Fn. 2). SN 11; EN 12 (vgl. Fn. 2). SN 13; EN 13 (vgl. Fn. 2). SN 14; EN 14 (vgl. Fn. 2). SN 16; EN 15 (vgl. Fn. 2).
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was erscheint, nicht lediglich existiert, insofern es erscheint. Das transphänomenale Sein dessen, was für das Bewußtsein ist, ist selbst an sich.» (Elle exige simplement que l’être de ce qui apparaît n’existe pas seulement en tant qu’il apparaît. L’être transphénoménal de ce qui est pour la conscience est lui-même en soi.)28 Das Sein eines Phänomens kann also nicht bloß auf ein erkennendes Subjekt zurückgeführt werden. Es ist nicht möglich, das Sein der Erkenntnis voraussetzungslos anzunehmen, wenn gleichzeitig das Sein des Seienden (wovon die Erkenntnis Teil ist) negiert wird; die gesamte Konstruktion verfiele bei einem derartigen Schluß ins Nichts. Phänomen und Bewußtsein existieren für Sartre somit real. Sie stehen sich als zwei Seinsweisen gegenüber, die in ihrer Struktur durchaus verschieden, wohl aber aufeinander bezogen sind. Dabei wird einerseits das Sein des Bewußtseins und andererseits das Sein des Phänomens nachgewiesen: Erscheinung (als Objekt) erfordert ein Subjekt, dem sie erscheint, wie auch umgekehrt das Subjekt (als Bewußtsein von …) etwas voraussetzt, das erscheinen kann. Auf diese Weise hat Sartre «ausgehend von der intentionalen Struktur des Bewußtseins dessen prinzipielle Bezogenheit gewissermaßen ontologisiert. Sie wird zu einer Beziehung zum Sein … Als Bewußtsein von etwas ist es auf etwas gerichtet, das eben gerade nicht es selbst ist.»29 Bewußtsein ist daher ein Außer-sich-Sein, ist etwas, das in doppelter Weise mit dem für Sartre so wichtigen Begriff des Nichts verbunden ist: Zum einen ist es das, was nicht es selbst ist, zum anderen ist das Nichts die wesenhafte Struktur des Bewußtseins selbst. «Es geht darum, die menschliche-Realität als ein Sein zu konstituieren, das das ist, was es nicht ist, und das nicht das ist, was es ist.» (Il s’agit de constituer la réalité humaine comme un être qui est ce qu’il n’est pas et qui n’est pas ce qu’il est.)30 Das heißt, daß die menschliche Realität ihr eigenes Nichts ist, wodurch sie sich hauptsächlich als Freiheit konstituiert. Man sieht, daß der Begriff des Nichts bei Parmenides und Sartre in grundlegend verschiedener Weise verwendet wird. Parmenides meint mit seinem κ den leeren Raum und spricht ihm jegliche Existenz ab. Das Nicht-Seiende ist undenkbar und deshalb nicht möglich. Sartres non-être bzw. néant hingegen meint etwas völlig anderes: Es ist zum einen das Nichts, das auf der Folie des Existierenden aufbrechen kann, und zum anderen das maßgebliche Moment des Bewußtseins, das uns der Freiheit preisgibt. So unterschiedlich Parmenides’ Thesen in bezug auf ‹Sein und Erscheinung› sowie in bezug auf das Nichts zu denen Sartres auch sind, so ähnlich werden sich die beiden Philosophen bei der Beschreibung des Seins selbst. 31
28 29
30 31
SN 37; EN 29 (vgl. Fn. 2). Peter Kampits, Jean-Paul Sartre. Zwischen Absurdität und Freiheit, in: Philosophen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Margot Fleischer, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, 153–170, 158. – Zum Problem des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein (Denken) bei Parmenides vgl. Tarán, 198 ff. (vgl. Fn. 10); Hölscher, 97 ff. (vgl. Fn. 10). SN 138; EN 97 (vgl. Fn. 2). Es geht in diesem Zusammenhang also um das wahre Sein bei Parmenides und um das Sein an sich bei Sartre.
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2. Das Sein an sich (Sartre) und das wahre Sein (Parmenides) Die näheren Eigenschaften, die dem Sein an sich bei Sartre und dem wahren Sein bei Parmenides in gleicher Weise zugeschrieben werden, betreffen zunächst dessen Herkunft. Für beide ist das Sein ungeworden und ungeschaffen; es existiert, das ist evident. Eine creatio ex nihilo – bei der Gott keine wie auch immer geartete schon vorhandene Materie benötigte, sondern die Welt in ihrer Körperlichkeit und geistigen Ordnung durch freien Willen ins Sein gerufen hat – ist für Sartre undenkbar. Solchermaßen geschaffenes Sein bliebe immer eine innersubjektive Seinsart Gottes. Gott als reine Subjektivität könne sich Objektives weder vorstellen, noch es wollen: «In dieser Subjektivität könnte es nicht einmal die Vorstellung einer Objektivität geben, und folglich könnte sie sich nicht einmal mit dem Willen affizieren, Objektives zu schaffen.» (Il ne saurait y avoir, dans cette subjectivité, même la représentation d’une objectivité et par conséquent elle ne saurait même s’affecter de la volonté de créer de l’objectif.) 32 Auch die Idee einer Emanation – aufgrund welcher das Sein von Gott ausgestrahlt und außerhalb seiner selbst gesetzt ist – lehnt Sarte mit der Begründung ab, daß sich derartiges Sein nur «gegen seinen Schöpfer als Sein behaupten [könne], andernfalls löste es sich in ihm auf» (… il ne peut s’affirmer comme être qu’envers et contre son créateur, sinon il se fond en lui). 33 Existiert das Sein aber Gott gegenüber (en face) so ist es diesem entgegengesetzt. Das Sein ist jedoch Träger seiner selbst, es ist seine eigene Unterlage (support); es kann keine Nuance göttlicher Schöpfung in sich enthalten. Sein ist also weder geschaffen noch geworden. Diese Unbegründbarkeit des Seins bezeichnet Sartre auch als die «Kontingenz» 34 der Dinge. (C’est ce que nous appellerons la contingence de l’être-en-soi.)35 Die Dinge ermangeln jedes Seinsgrundes und sind nicht durch eine Notwendigkeit herzuleiten. Desgleichen kann das An-sich nicht vom Möglichen her bestimmt werden. Möglichkeit benötigte ein (noch) nicht Vorhandenes, in dem sie sich verwirklichen könnte. Ein derartiges Nichts besteht jedoch nur für die menschliche Realität, sie allein ist durch eine Leere gekennzeichnet – das Dasein ist nicht. Das Sein hingegen ist, dies bedeutet, daß es sein Sein weder hat, noch daß es auf ein anderes Sein zurückgeführt werden kann, weder auf das Mögliche noch auf das Unmögliche. Sartre sagt, das Sein sei «zu viel für alle Ewigkeit» (l’être-en-soi est de trop pour l’éternité). 36 Das heißt, daß es jeglicher Nichtung entbehrt und sich somit auch nicht entfalten kann. Ebenso ist für Parmenides das Sein ungeworden und ohne Ursprung, auch für ihn gibt es kein Nichts, das hatte er ja bewiesen, 37 und ex nihilo nihil fit: «Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen? Wie, woher sein Heranwachsen?» ( 32 33 34
35 36 37
SN 40; EN 31/32 (vgl. Fn. 2). SN 40; EN 32 (vgl. Fn. 2). Sartre verwendet den Begriff der Kontingenz in eigenwilliger Weise – kontingent heißt in diesem Zusammenhang: von nichts (Außerhalb-Seiendem) ableitbar, es hat keinen Seinsgrund, es ist ungeschaffen, es gibt kein Weswegen, aus dem es existiert. Das Sein ist kontingent, ist gleichbedeutend mit es ist «überflüssig» (de trop). Vgl. auch Jürgen Hengelbrock, Jean-Paul Sartre. Freiheit als Notwendigkeit. Einführung in das philosophische Werk, Karl Alber, Freiburg / München 1989, 61 f. – In diesem Sinne ist Kontingenz auch nicht als Gegensatz zu den ‹Banden› zu sehen, die bei Parmenides das Sein festhalten und als logische Notwendigkeit gedeutet worden sind; vgl. Parmenides B 8.26 und 8.30; DK 237 (vgl. Fn. 9); weiters vgl. dazu Fn. 60. SN 44; EN 34 (vgl. Fn. 2). SN 44; EN 34 (vgl. Fn. 2). Vgl. oben Kap. 1.
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: )4; 5 )!),38 fragt sich Parmenides und antwortet: «Denn entstand es, so ist es nicht und ebensowenig, wenn es erst in Zukunft einmal sein sollte. So ist Entstehen verlöscht und verschollen Vergehen.» (7 * #, ) *( ), )# < * . Ω« « ξ $& λ Ν« ?«.)39 Das Sein kann also weder für Parmenides noch für Sartre auf etwas (außerhalb Liegendes) zurückgeführt werden. Für beide ist es unentstanden, ohne Bedingung und Grundlage, und beide berufen sich auf dieselbe Logik: Das Sein kann weder aus dem Nichts geworden sein noch sich selbst voraussetzen. Das Sein ist unerschaffen (l’être est incréé),40 das aber kann keinesfalls heißen, daß es sich selbst schaffen würde, da diese Voraussetzung eine petitio principii implizierte. «Das Sein kann nicht causa sui sein … Das Sein ist Sich» (l’être ne saurait être causa sui … L’être est soi),41 sagt Sartre. Und Parmenides erklärt die Tatsache, daß Sein unentstanden ist vermittels desselben Gedankens: Sein kann weder «aus dem Nichtseienden» ( κ «) 42 herangewachsen sein noch aus sich selbst. Nichtseiendes kann es ja für Parmenides nicht geben, somit kann auch nichts aus ihm entstehen, und weiters «welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, später oder früher mit dem Nichts beginnend zu entstehen?» ( # Ν λ +« τ A ν , 4 !µ« $, 24;). 43 Wäre es hingegen aus sich selbst entstanden, setzte es sich selbst voraus. Weil Seiendes nun «ungeboren ist, [ist] es auch unvergänglich» ($ ! µ λ $ ;), 44 es ist «ohne Ursprung, ohne Aufhören» (Ν + Ν ), 45 Entwicklung, Wachstum und Veränderung sind für das Sein ebenso ausgeschlossen wie Abschluß, Ausklang und Ende. «Es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines.» () # )# * , λ 4 * ²4 ».) 46 Und «um dessen Willen hat weder zum Werden noch zum Vergehen die Rechtsgottheit das Sein freigegeben, es in den Fesseln lockernd, sondern sie hält es fest.» (4 B Κ Κ# ? $5 C! + ! , $# *+ .) 47 Weil das Sein keinen Ausgangspunkt haben kann, entgeht es auch der Zeitlichkeit. Für Sartre, weil es Zeitlichkeit nur für das Bewußtsein geben kann, nicht jedoch für das Sein an 38 39
40 41 42 43 44 45 46
47
B 8.6–7; DK 235 (vgl. Fn. 9). B 8.20–21; DK 236 f. (vgl. Fn. 2). – Wie Tarán, 105 (vgl. Fn. 10), plausibel anmerkt, impliziert das Entstehen einen Prozeß und dieser wiederum Veränderung, Differenz. Differenz würde schließlich die Existenz von Nichtseiendem implizieren, was für Parmenides ausgeschlossen ist. – Vgl. ähnlich Hölscher, 92 (vgl. Fn. 10), und O’Brien / Frère, 148 (vgl. Fn. 21). SN 40; EN 32 (vgl. Fn. 2). SN 41; EN 32 (vgl. Fn. 2). B 8.7; DK 235 (vgl. Fn. 9). B 8.9–10; DK 236 (vgl. Fn. 9). B 8.3; DK 235 (vgl. Fn. 9). B 8.27; DK 237 (vgl. Fn. 9). B 8.5; DK 235 (vgl. Fn. 9). Ob Parmenides hier lediglich das ‹panchronische›, d. h. das fortdauernde, unveränderliche Bestehen des Seins IN der Zeit oder das ‹atemporale›, d. h. das ewige Bestehen des Seins JENSEITS der Zeit gemeint hat, wird kontrovers diskutiert und soll hier offengelassen werden; für die erste Möglichkeit argumentieren z. B. Tarán, 175 ff. (vgl. Fn. 10); Hölscher, 94 (vgl. Fn. 10); Denis O’Brien, L’Être et l’éternité, in: Études sur Parménide (tome II, Problèmes d’interpretation), publiées sous la direction de Pierre Aubenque, Vrin, Paris 1987, 135–162, 160 ff.; für die zweite Möglichkeit tritt z. B. v. Steuben, 120 ff. (vgl. Fn. 10), ein. B 8.14–16; DK 236 (vgl. Fn. 9).
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sich, da diesem der Bezug zum Nichts fehlt. «Die Übergänge, das Werden, alles, was die Aussage zuläßt, das Sein sei noch nicht das, was es sein wird, und es sei schon das, was es nicht ist, all das ist prinzipiell ausgeschlossen.» (Les passages, les devenirs, tout ce qui permet de dire que l’être n’est pas encore ce qu’il sera et qu’il est déjà ce qu’il n’est pas, tout cela lui est refusé par principe.) 48 Das Sein ist definitiv, es kann nichts werden, was es noch nicht ist, es kann nicht als etwas bestehen, was es sein könnte, und ebenso kann es nicht als Vergangenes existieren, das es einmal war; es trägt keine Spur Freiheit in sich. Das Sein – so Sartre – kann keine Relation zu dem haben, was es nicht ist. Es «ist das, was es ist» (l’être est ce qu’il est), 49 fix und fertig, ohne Anlage zu einem Anderssein. Daß das Sein in einem Verhältnis zum Nicht-Sein stehen kann, schließt Parmenides in demselben Maße – wenn auch aus anderen Gründen – aus: Für ihn sind Sein und Nichts kontradiktorische Begriffe. Entweder gibt es Sein (p), welches als das Raumerfüllende gedacht wird, oder Nicht-Sein (-p), das hier als der ‹leere›, nicht real-existierende Raum zu betrachten ist. Sein gibt es, es ist evident, «daß (etwas) ist» (³« * ),50 sagt Parmenides. Zusammen mit dieser Aussage grenzt er es vom Nicht-Sein ab, dessen Existenz somit gleichzeitig ausgeschlossen wird (p v -p). 51 Obwohl der Begriff des Nichts – wie gezeigt – von beiden Philosophen in verschiedener Weise verwendet wird, trägt das Sein für Parmenides wie für Sartre keine Negation in sich. Sartre sagt «es ist volle Positivität» (il est pleine positivité), 52 und auch Parmenides beschreibt es als Geschlossenes, «Eines, Zusammenhängendes» (D, +«),53 als ein «Ganzes und unbeweglich» (σ $!).54 Selbst wenn es verfallen würde, wäre es für Sartre nicht nicht mehr. Nur ein Bewußtsein könnte das Sein als nicht mehr seiend setzen, es selbst ist ohne jegliche Möglichkeit von Verneinung oder Anderssein, es kann «nicht als Mangel» (comme un manque)55 existieren. Derselbe Ausdruck wird z. B. in der Übersetzung von Parmenides’ Satz * ) «56 von E. Heitsch gebraucht, denn auch dort heißt es: Das Sein «ist ohne Mangel».57 48 49 50
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SN 43; EN 33 (vgl. Fn. 2). SN 42; EN 33 (vgl. Fn. 2). B 8.2; DK 235 (vgl. Fn. 9). – Vgl. auch Hölscher, 19 (vgl. Fn. 10). Hier stellt sich die schwierige Frage (vgl. dazu allgemein Hans Peter Engelhard, Die Sicherung der Erkenntnis bei Parmenides, Frommann-Holzboog, Stuttgart 1996, 13 ff.), was als (implizites) Subjekt von * in einschlägigen Passagen anzusetzen sei: das Seiende (µ )? Eine unbestimmte Größe? Gar kein (persönliches) Subjekt? Ein kontextabhängiger Wechsel zwischen diesen Lesarten? Am plausibelsten erscheint uns die zweite Lösung, nach der * mit «es ist» oder «etwas ist», wie in der hier präferierten Übersetzung Hölschers, wiedergegeben werden kann (vgl. Hölscher, 78 f. [vgl. Fn. 10], und ähnlich Heitsch, 25 [vgl. Fn. 16]). Kein persönliches Subjekt setzt Tarán an und übersetzt mit «exists» (vgl. Tarán, 85 und 33 ff. [vgl. Fn. 10]). – Vgl. ähnlich O’Brien / Frère, 16 (‹est›/‹is›), die aber diese Lesart/Übersetzung nicht für alle einschlägigen Passagen annehmen wollen (vgl. O’Brien / Frère, 166 ff. [vgl. Fn. 21]). – DK 235 (vgl. Fn. 9) entfernen sich hier unnötig weit vom Original, indem sie «ist» in der Übersetzung in Großbuchstaben gesetzt zum Subjekt machen: «IST ist». Vgl. oben Kap. 1. SN 43; EN 33 (vgl. Fn. 2). B 8.6; DK 235 (vgl. Fn. 9). B 8.38; DK 238 (vgl. Fn. 9). SN 43; EN 34 (vgl. Fn. 2). B 8.33; DK 238 (vgl. Fn. 2). Heitsch, 31 (vgl. Fn. 16). – DK 238 (vgl. Fn 9) übersetzen wörtlicher mit «denn es ist unbedürftig», Mansfeld (in v. Steuben, 13 [vgl. Fn. 10]) mit «denn es ist nicht in irgendwelcher Hinsicht mangelhaft». Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die französische Übersetzung von O’Brien / Frère, 39 (vgl. Fn. 21), die wie Sartre den Ausdruck «manque» verwenden: «En effet il est sans manque».
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Sein ist also hier wie dort jenseits von Negation, Beginnen, Entfalten, Auflösung und Ende, es ist – so Sartre – «unbestimmt es selbst, und es erschöpft sich darin, es zu sein.» (Il est lui-même indéfiniment et il s’épuise à l’être.)58 Es hat keinen wie auch immer gearteten Abstand zu dem, was es nicht ist. Das Sein ist vollständig, abgeschlossen, feststehend und erstarrt. Parmenides argumentiert in diesem Zusammenhang folgendermaßen: «Weil das Seiende nicht ohne Abschluß sein darf» (A ) $8! µ µ « ρ ),59 bleibt es «unbeweglich – unveränderlich … in den Grenzen gewaltiger Bande, … und so verharrt es standhaft an Ort und Stelle.» ( ) $! ' … +Κ« * σ ).60 Also ist es auch für ihn dicht, unbeweglich, und «auch teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig ist. Und es gibt nicht etwa hier oder da ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhang hindern könnte, noch ein geringeres; es ist vielmehr ganz von Seiendem erfüllt.» ()ξ λ » ²(α ) 5 », < + , ) + , » #* «.)61 Ebenso bezeichnet Sartre das Sein als undurchlässig für sich selbst, und zwar «weil es [ganz und gar] von sich selbst erfüllt ist.» (L’être est opaque à lui-même précisément parce qu’il est rempli de lui-même.) 62 Die Geschlossenheit des Seins wird bei Parmenides folgendermaßen ausgedrückt: «Denn es ist weder Nichtseiendes, das es hindern könnte zum Gleichmäßigen zu gelangen, noch könnte Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger vorhanden sein als Seiendes, da es ganz unversehrt ist. Sich selbst nämlich ist es von allen Seiten her gleich, gleichmäßig begegnet es seinen Grenzen.» (Κ ) µ * , 8 ¹( 7« ², Κ# µ * Ρ«
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SN 43; EN 34 (vgl. Fn. 2). B 8.32; DK 237 f. (vgl. Fn. 9). Mit «nicht ohne Abschluß» ist nicht etwa «nicht ohne räumliche Grenze» gemeint (vgl. dazu Fn. 60), sondern «nicht unvollendet» (so die Übersetzung von Heitsch, 31 [vgl. Fn. 16] und Hölscher, 23 [vgl. Fn. 10]) im Sinne von «complete» (Tarán, 119 [vgl. Fn. 10]), d. h. «vollendet». Vgl. ähnlich O’Brien / Frère, 54 (vgl. Fn. 21). Vgl. dazu weiters Fn. 39. B 8.26 und 8.30; DK 237 (vgl. Fn. 9). Die Bande, in denen nach Parmenides Gottheiten wie Dike und Ananke das Sein halten, können nicht als räumliche Grenzen verstanden werden, da dies den parmenideischen Seinsbegriff unweigerlich in Paradoxien führen würde wie z. B. die Frage, was jenseits der Grenze existiere (vgl. Tarán, 116 [vgl. Fn. 10]). Es bleibt allerdings die schwierige Frage, wie die begrenzenden Bande anders und sinnvoll gedeutet werden können. Hier wurde an die logische Notwendigkeit («the bonds of logical necessity», Tarán, 117 [vgl. Fn. 10]; vgl. ähnlich Hölscher, 73 f. [vgl. Fn. 10] und Engelhard, 76 ff. [vgl. Fn. 50]) gedacht, was uns plausibler erscheint als moralisch-religiöse Deutungen (vgl. v. Steuben, 125 ff. [vgl. Fn. 10]). B 8.22–24; DK 237 (vgl. Fn. 9). SN 42; EN 33 (vgl. Fn. 2). B 8.46–49; DK 239 (vgl. Fn. 9). Für die Lesart ) argumentiert mit guten Gründen Tarán 146 f. (vgl. Fn. 10). SN 41; EN 32 (vgl. Fn. 2).
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Abstand …, [das Sein ist] mit sich selbst verfestigt». (Il est le noème dans la noèse, c’esta-dire l’inhérence à soi sans la moindre distance … il s’est empâté de soi-même.)65 Kurz und gut: «das Sein ist an sich» (l’être est en soi),66 oder wie Parmenides sagt: «Als Dasselbe und in Demselben verharrend ruht es für sich.» ( ) # )' # L ( .) 67 Die Undurchlässigkeit des Seins hat jedoch für Sartre nichts mit der menschlichen Position, die nur die Außenseite wahrnehmen kann, zu tun, denn «das An-sich-sein hat kein Innen, das einem Außen gegenüberstände … [es] hat kein Geheimnis: es ist massiv.» (L’être-en-soi n’a point de dedans qui s’opposerait à un dehors … L’en-soi n’a pas de secret: il est massif.)68 Voll, massiv, opak, undurchschaubar, ohne Bezug zu sich oder zu anderem, so wird das Sein beschrieben. Somit weist das Sein an sich Sartres dieselben Merkmale auf wie das wahre Sein des Parmenides. Der zugrunde liegende Gedanke ist bei beiden derselbe, nämlich daß es im Sein kein Nicht-Sein69 geben kann. Ob Sartre bewußt oder unbewußt den parmenideischen Seinsbegriff seinem eigenen zugrunde gelegt hat, mag dahingestellt bleiben, 70 jedenfalls hat er sich nicht ausdrücklich auf jenen Vorsokratiker berufen, der ihm im fraglichen Punkt der Untersuchung – wie wir gesehen haben – so bemerkenswert und auffallend nahesteht. Bei beiden ist das Sein ungeschaffen und ungeworden, ohne Herkunft, ohne Anfang und Ende, jenseits von Werden und Vergehen, es ist unableitbar und entgeht der Zeitlichkeit. Das Sein trägt keinen Mangel in sich und hat keinen Bezug zum Nichts, es kann nicht das sein, was es nicht ist, es kennt kein Anderssein. Sein ist voll, ganz von sich erfüllt, geschlossen, in sich selbst vollendet, zusammenhängend und eins.
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SN 41; EN 32 (vgl. Fn. 2). SN 42; EN 33 (vgl. Fn. 2). B 8.29; DK 237 (vgl. Fn. 9). Zu abweichenden Lesarten dieser Passage vgl. kritisch Tarán, 113 f. (vgl. Fn. 10). SN 43; EN 33 (vgl. Fn. 2). Bei Parmenides, weil dies dem Satz vom ausgeschlossen Dritten widersprechen würde, und bei Sartre, weil es Nicht-Sein nur für ein menschliches Dasein gibt. Gadamer, der in seinem Aufsatz Das Sein und das Nichts, 45 f. (vgl. Fn. 1), darauf verweist, daß es sich bei der Konzeption des Sartreschen Seins um das Sein des Parmenides handelt, glaubt, daß diese Tatsache Sartre wohl bewußt gewesen sein muß.
Abkürzungen: DK = Diels / Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker (vgl. Fn. 9). EN = Sartre, L’Être et le néant (vgl. Fn. 2). SN = Sartre, Das Sein und das Nichts (vgl. Fn. 2).
Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung›
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Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung› Zur modernen Rezeption der Euripideischen Helena 1. Die Euripideische Helena Die entscheidende Neuheit der im Jahr 412 v. Chr. aufgeführten Euripideischen Helena ist ein – gemäß einer antiken Nachricht1 – aus dem Lyriker Stesichoros adaptiertes Mythologem: Helena war überhaupt nicht die schuldhafte Verursacherin des trojanischen Kriegs; bei dem Wesen, das von Paris aus Sparta geraubt wurde, handelte es sich nicht um die echte Helena, sondern um ein von den Göttern substituiertes Phantombild, welches die Gesamtheit der Griechen und der Trojaner in die Irre führte. Die dramatische Situation bei Euripides konzentriert sich auf die echte Helena, die von Zeus in Aegypten bei dem besonnenen König Proteus versteckt wurde: Diese Helena nimmt Kenntnis von den Ereignissen um Troja; sie erfährt (insbesondere in einem Prologgespräch mit dem Trojaheimkehrer Teukros2), daß sie von der griechischen (und auch trojanischen) Allgemeinheit für die am Krieg Schuldige gehalten und als solche gehaßt wird. Diese «aegyptische Helena» ist völlig hilflos und verzweifelt; sie kann nur darauf hoffen, daß der vom Trojanischen Krieg zurückkehrende Menelaos den Weg zu ihr findet, sie als seine echte Gattin wiedererkennt und nach Griechenland zurückführt, wo sie dann ihren üblen Ruf als Kriegsschuldige ablegen könnte. Dieser inneren Bedrängnis Helenas (die sich entgegen der herrschenden Auffassung unschuldig weiß) tritt eine äußere Notlage an die Seite: Helena wird in Aegypten vom Sohn und Nachfolger des inzwischen verstorbenen Proteus, dem Theoklymenos, massiv bedrängt und muß, um ihre Unbeflecktheit zu bewahren, auf dem Grabmal des Proteus Asyl suchen. Als Menelaos schließlich als Schiffbrüchiger nach Aegypten gelangt, erkennt er Helena im Zuge einer schwierigen Anagnorisis als seine ursprüngliche Gattin wieder. Mit Hilfe einer von Helena ersonnenen genialen Rettungsintrige gelingt es den Eheleuten, sich aus dem Machtbereich des Theoklymenos zu befreien.
2. Einige theoretische Vorbemerkungen: Das Doppelgängermotiv Innerhalb der ungeheuer breiten Nachwirkung des Helena-Stoffes hat speziell die von Stesichoros inaugurierte und von Euripides publik gemachte Doppelgängervariante erstaunlich wenig Resonanz gefunden. Wenn das «Doppelgängermotiv» im allgemeinen in 1 2
Pap. Ox. 2506 fr. 26 col. I = PMG 193, col. 12–16. Eur. Hel. 68 ff.
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moderner Literaturwissenschaft systematisch untersucht wird, so beschränken sich die sich hierbei ergebenden Definitionen in der Regel nicht auf die Fixierung der für eine Doppelgängergeschichte konstitutiven äußeren Handlungskonstellation, sondern zielen fast immer auf eine Persönlichkeitsspaltung im psychoanalytischen Sinne ab: Dies zeigt der Forschungsüberblick bei Bartholomae3. Bartholomae selbst (a.a.O. 18) nimmt diesen psychoanalytischen Aspekt in seinen eigenen Definitionsansatz mit auf, welcher zwei Voraussetzungen für eine korrekte Anwendung des Doppelgängerbegriffs postuliert: «1. Gleichheit oder wenigstens Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung; 2. die Tatsache, daß der Doppelgänger durch eine gespaltene Persönlichkeit bedingt ist». Die literarischen Doppelgängerwerke wären, bildlich gesprochen, nach Bartholomae (a.a.O. 21) «auf einer Linie» zwischen diesen beiden «Endpunkten» zu sehen. Ob ein derart gefaßter Doppelgängerbegriff der antiken Euripideischen Tragödie gerecht wird, erscheint zweifelhaft. Zwar ist einerseits die echte Helena gemäß ihrer Euripideischen Ethopoiie in diesem Stück moralisch makellos und von einer geradezu vorbildlichen Besorgnis um ihren guten Ruf geprägt (und dementsprechend verzweifelt über das de facto bei den Griechen und Trojanern vorherrschende Helenabild); andererseits verhält sich das Phantombild in einer Weise, die dem literarisch herkömmlichen Bild einer zügellosen, verdorbenen und schuldigen Helena vollauf entspricht; demnach ist die moralische Differenz zwischen der echten Helena und dem Phantom maximal, und man könnte folgern, daß man hier tatsächlich eine Art «Jekyll-Hyde-Syndrom» vor sich hat und daß die extremen und polaren Eigenschaften einer Persönlichkeit in den beiden Doppelgängerfiguren geradezu eruptiv auseinanderbrechen. Aber einer genauen Betrachtung des Euripideischen Stückes könnte eine solche Betrachtungsweise nicht standhalten. Denn psychoanalytisch faßbar ist ohnehin nur die auf der Bühne stehende echte Helena (das Phantom dagegen begegnet nur im Botenbericht, löst sich hier schließlich in Luft auf und ist dementsprechend als Persönlichkeit nicht analysierbar). Deren psychische Situation aber ist völlig eindeutig, insofern sie die Attribute der trojanischen Helena (also des Phantoms) mit völligem Bewußtsein von sich weist und auf ihrer eigenen moralischen Integrität beharrt. Insofern wird man hier von keiner Persönlichkeitsspaltung sprechen können: Die Tragik der Euripideischen Helena resultiert nicht aus dem Gegensatz verschiedener Persönlichkeitskomponenten, sondern aus dem Widerspruch zwischen Selbstanspruch und (vom Handeln des Phantoms bewirkter) öffentlicher Meinung. Die Vorstellung zweier konträr auseinanderklaffender Persönlichkeitskomponenten läßt sich demnach auf die Euripideische Helena als punktuelle Bühnenmanifestation nicht anwenden; sie könnte höchstens fruchtbar werden, wenn man sie auf den diachronischen Aspekt des Helenabilds anwendet, nämlich auf die sich im Lauf der Literaturgeschichte manifestierende Entwicklung des mythischen Bilds dieser Heroine: Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich in der Tat behaupten, daß in der Euripideischen Tragödie zwei Aspekte miteinander konkurrieren, die in der vorgängigen Literatur nur separat nachweisbar sind: 3
Ulf Bartholomae, Die Doppelpersönlichkeit im Drama der Moderne, Diss. Erlangen/Nürnberg 1967, 14 ff. Aus jüngerer Vergangenheit seien zitiert als Vertreter der psychoanalytischen Herangehensweise: Ralph Tymms, Doubles in literary psychology, Cambridge 1949; Robert Rogers, A Psychoanalytic Study of The Double in Literature, Detroit 1970; Carl Francis Keppler, The Literature of the Second Self, Tucson 1972; Aglaja Hildenbrock, Das andere Ich: Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur, Tübingen 1986.
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einerseits eine unverdorbene Helena, wie sie Stesichoros neuerte wohl mit dem Ziel, der spartanischen Göttin ihre Unbeflecktheit zurückzugeben, und andererseits eine schuldbeladene Helena, wie sie sich in der gesamten von Homer beeinflußten Tradition als Verursacherin des Trojanischen Kriegs darbietet. Die Stesichoreische Helena steht bei Euripides auf der Bühne, aber die homerische wirkt in demselben Stück ebenfalls weiter, insofern dem homerischen Helenabild der üble Ruf entspricht, welcher der echten Helena durch das Wirken des Phantoms eingebracht wird und welcher zunächst (bevor Helena eine Rückkehr nach Griechenland gelingt) im allgemeinen Bewußtsein der Griechen und Trojaner verhaftet ist und eine durchaus faktische (und Helena belastende) Wirkung ausübt. Wenn sich demnach der psychoanalytische Doppelgängerbegriff für das Euripideische Drama nicht ohne weiteres eignet, so muß man nach einem anderen, den antiken Verhältnissen besser entsprechenden suchen. Massimo Fusillo 4 hat sich speziell auf dem Gebiet des antiken Dramas in jüngerer Zeit um eine Systematik bemüht. Dabei geht er aus von einem strukturalistischen Ansatz Lubomír Dolozels5, der sich tatsächlich nicht an dem Kriterium der Persönlichkeitsspaltung, sondern an der Struktur der äußeren Handlungskonstellation orientiert. Dolozel spaltet vom eigentlichen Doppelgänger-Thema («zwei Verkörperungen ein und desselben Individuums bestehen nebeneinander in einer einzigen fiktiven Welt» 6) ein sogenanntes Amphitryon-Thema ab: «Zwei Individuen mit zwei getrennten Identitäten erscheinen in einer Gestalt in einer fiktiven Welt» 7. Wenn man nun diese Unterscheidung zugrundelegt (an deren Anwendbarkeit Fusillo a.a.O. 215 selbst Zweifel äußert), so würde man im Bereich des antiken Dramas wohl keinen Vertreter des eigentlichen Doppelgänger-Themas finden. Denn es müßte sich hierbei laut Definition um zwei gleichwertige Verkörperungen desselben Individuums (gewissermaßen zwei Originale) handeln, von denen nicht eine von dritter Seite substituiert sein dürfte; in diesem Falle wäre nämlich der substituierte Doppelgänger nicht mehr von der ursprünglichen Identität. Ein solches Wesen aber, welches seine Identität gleichzeitig auf zwei oder mehrere Verkörperungen verteilen könnte, scheint im Bereich des antiken Dramas nicht zu existieren. Wenn man Dolozels Unterscheidung konsequent zugrundelegte, hätte man ausschließlich Vertreter des Amphitryon-Themas, wo jeweils einer der beiden Doppelgänger durch manipulierende Substitution von dritter Seite oder allenfalls durch zufällige Ähnlichkeit zustandekommt, also nicht im strengen Sinne «Doppelgänger» ist, sondern als (gefälschtes) Duplikat neben einem (authentischen) Original steht. Demnach muß man das Dolozelsche Unterscheidungskriterium einer gemeinsamen inneren Identität aufgeben und die bis zur Verwechselbarkeit gehende äußerliche Ähnlichkeit als einziges Definitionsmerkmal nehmen. Das Doppelgängermotiv liegt demnach vor, wenn eine Person einer anderen derart ähnlich ist, daß eine Verwechslung zumindest subjektiv möglich ist. Diese vorläufige Definition wird unten im Zusammenhang mit Hugo von Hoffmannsthal noch eine gewisse Modifikation erhalten. Eine solche Definition gestattet nun ihrerseits eine Auffächerung in verschiedene Fälle. Zunächst kann man fragen, wodurch die Verwechselbarkeit zustande kommt. Einerseits (I) 4 5 6 7
Die geraubte Identität. Das Doppelgängerthema im antiken Drama, WJA 21 (1996/97), 199 – 217. Le triangle du double, Poetique 64, 1985, 463–472. Fusillo a.a.O. 203. Fusillo a.a.O. 203. Ein drittes von Dolozel differenziertes Motiv, das sogenannte Orlando-Thema («ein einzelnes Individuum in zwei oder mehreren fiktiven Welten»), kann hier beiseitebleiben.
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kann eine zufällige bzw. naturgegebene Ähnlichkeit vorliegen, die zu Verwechslungen und Verwicklungen führt, wie etwa in den Menaechmi des Plautus, wo sich zwei verwechselbare Zwillinge in einer Stadt aufhalten, ohne voneinander zu wissen. Andererseits (II) kann die Verwechselbarkeit aber auch von dritter Seite intendiert sein: Ein höheres Wesen (in der Regel eine Gottheit, denkbar wäre auch ein Zauberer) stellt einem menschlichen Individuum einen Doppelgänger an die Seite, der ihm zwar äußerlich ähnlich ist, aber nicht seine Identität teilt (eine Identitätsgleichheit – wie sie nach Dolozel konstitutiv wäre für das eigentliche Doppelgänger-Thema – ist demnach weder im Fall I noch im Fall II gegeben). Es liegt auf der Hand, daß dieser Fall II besonders gut auf die griechisch-römische Mythologie paßt, insofern hier die Gottheiten sehr häufig nicht durch eine innerliche, willensmäßige Beeinflussung der Menschen wirken, sondern im Gegenteil durch eine äußerliche Vorspiegelung von Trugvorstellungen. Das Ziel, welches das höhere Wesen mit der Konstitution eines solchen, mit dem Originalwesen nicht identitätsgleichen Doppelgängers (man könnte auch sagen: Duplikats) verfolgt, liegt primär in der täuschenden Beeinflussung der menschlichen Umgebung des Originalwesens. Sekundär kann der Schutz des Originalwesens vor ungewünschter Mißhandlung hinzutreten. Eine solche zweifache Funktion hat die Substitution eines Doppelgängers beispielsweise im fünften Iliasbuch, wo Apoll Aineas durch ein Phantombild ersetzt und zugleich den echten Aineas zu seinem Schutz entrückt8. Ebenfalls von großer Bedeutung ist eine solche Schutzfunktion naheliegenderweise in denjenigen -Erzählungen, die Kannicht9 als ursprüngliche Vertreter solcher Geschichten ansieht: Zeus substituiert Wolkenbilder für Göttinnen, die sexuell von frevelhaften Sterblichen behelligt werden. In solchen Zusammenhängen spielt der Schutz der Gottheit mindestens eine ebensogroße Rolle wie die Düpierung des Sterblichen. Allerdings ist eine derartige Schutzbestrebung im Gegensatz zur Trugabsicht nicht konstitutiv für die Motivausprägung (II): Dies zeigt das Beispiel der Juno im zehnten Aeneisbuch, die Turnus ein Phantombild des Aeneas vorspiegelt, um ihn aus einer gefährlichen Schlachtsituation zu entfernen10: Hier hat Juno gewiß nicht die Absicht, das Originalwesen, das einen Doppelgänger erhält, nämlich Aeneas, zu schützen, sondern sie will nur seine Umgebung, speziell seinen Widersacher Turnus, auf trügerische Weise zu einer bestimmten Handlung veranlassen. Im Falle der Euripideischen Helena liegt eine relativ komplizierte Kombination von Trug- und Schutzabsicht vor: Heras Erschaffung des erklärt sich zunächst nur aus ihrer Absicht, Rache für das Parisurteil zu nehmen und Paris durch die Verbindung mit einer falschen Helena zu düpieren 11. In einer zweiten Stufe der Götterhandlung weitet Zeus, der einen großen Krieg herbeiführen will, den Trug auf die gesamte zum Krieg bestimmte Menschheit aus, verbindet aber mit dieser Trugabsicht auch ein Bestreben, die Keuschheit der echten Helena zu bewahren, die er demnach aus Griechenland entfernt und in die Obhut des besonnenen aegyptischen Königs Proteus gibt 12. Den Fall (II) – Substitution eines Doppelgängers durch ein höheres Wesen – könnte man wiederum gemäß dem Vorgehensmodus des höheren Wesens auffächern: Einerseits (II a) 8 9 10 11 12
Hom. Il. E 445 ff. Richard Kannicht, Euripides Helena, 2 Bände, Heidelberg 1969, I 35 ff. Verg. Aen. X 633 ff. Eur. Hel. 31 ff. Eur. Hel. 36 ff.
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kann sich die Gottheit selbst in einen Menschen verwandeln; dieser Fall liegt beim Amphitryon-Mythos vor. Andererseits (II b) kann das höhere Wesen auch außerhalb seiner selbst ein belebtes Trugbild schaffen, welches das Originalwesen in täuschend ähnlicher Weise vertritt. Dieser Fall liegt offenkundig bei der Substitution des Phantoms für Helena gemäß Euripides (und Stesichoros) vor. Beide Möglichkeiten sind bereits im Götterbild der archaischen griechischen Epik angelegt: Die Gottheiten vermögen sich sowohl in Menschen zu verwandeln als auch belebte Trugbilder zu erschaffen.
3. Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› Mit diesen Ausführungen dürfte eine gewisse theoretische Grundlage für eine systematische Untersuchung der Rezeption des Doppelgängermotivs in der Euripideischen Helena gelegt sein. Diese spezielle Mythenausprägung hat, wie bereits oben angedeutet, relativ wenig Nachwirkung gefunden. Im deutschen Sprachbereich ist in diesem Zusammenhang die «Aegyptische Helena» Hugos von Hofmannsthal (1874–1929) einschlägig. Es handelt sich im wesentlichen um das Libretto zu einer 1928 in Dresden uraufgeführten Strauss-Oper. Allerdings brachte Hofmannsthal unabhängig von der Opernaufführung eine etwas abweichende Fassung seines «lyrischen Dramas» ebenfalls im Jahr 1928 beim Insel-Verlag heraus 13. Zunächst sei die sich auf zwei Akte verteilende Handlungsentwicklung des Hofmannsthalschen Stücks skizzenhaft umrissen: Bei der Heimkehr aus Troja werden Menelaos und Helena zur Insel der Zauberin Aithra verschlagen. Menelaos ist im Begriff, Helena wegen des von ihr angerichteten Unheils zu töten. Die Ausführung dieser Absicht noch auf dem Schiff wird von der Zauberin Aithra, die durch eine sprechende allwissende Muschel in ihrem Palast über die Ereignisse unterrichtet wird, zunächst verhindert durch die Herbeiführung eines plötzlichen Sturms. Als Schiffbrüchiger auf der Insel angekommen, schickt sich Menelaos erneut an, Helena mit dem Schwert zu erstechen. Doch diesmal wird er von Aithra durch ein äußeres, aus «Elfen, lemurischen Halbwesen,» 14 bestehendes Trugbild genarrt, welches ihm eine Erscheinung des Paris und der Helena vorspielt. Während Menelaos in die nächtliche Dunkelheit enteilt, wo er beide mit dem Schwert zu töten glaubt, verbündet sich Aithra mit Helena. Um Helena endgültig zu retten, entwickelt sie folgenden Plan: Menelaos soll mit Hilfe eines vergessenmachenden Zaubermittels vorgespiegelt werden, er habe zusammen mit Paris nur ein Trugbild Helenas getötet, das für alle Verwicklungen des Trojanischen Kriegs verantwortlich gewesen sei; die wirkliche Helena habe 13
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Zur textgeschichtlichen Auseinanderentwicklung von Opernlibretto und «lyrischem Drama» vgl. BeyerAhlert (Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke XXV 2. Operndichtungen 3.2. Herausgegeben von Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a. M. 2001) 179 f. Im folgenden wird immer auf letzteres zurückgegriffen (nach der zitierten Ausgabe von Beyer-Ahlert, SW XXV 2 p. 7–73), welches gegenüber dem Opernlibretto vor allem umfänglicher ist infolge von im Libretto weggelassenen Prosapartien. – Eine germanistische Monographie zur ‹Aegyptischen Helena›: Eva-Maria Lenz, Hugo von Hofmannsthals mythologische Oper «Die ägyptische Helena», Tübingen 1972 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge Band 29). – Die mythischen Figuren werden im folgenden stets (auch gegen die Praxis der jeweiligen modernen Autoren: z. B. Menelaos figuriert bei Hofmannsthal wie bei Goethe und natürlich auch bei Paul Claudel in der französischen Form Ménélas) nach der im Deutschen gängig gewordenen griechischen bzw. lateinischen Namensform bezeichnet. SAW XXV 2 p. 139, 22.
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überhaupt nicht den Krieg verursacht, sondern die Zeit schlafend bei Aithra zugebracht; dann führt Aithra ihm Helena zu, und Menelaos muß glauben, eine an allem völlig unschuldige Gemahlin vor sich zu haben. Dieser Plan wird ausgeführt und gelingt auch zunächst, obwohl Menelaos sich die Unechtheit der von ihm zehn Jahre lang umkämpften trojanischen Helena nicht leicht einreden läßt. Auf Wunsch Helenas werden die beiden Eheleute durch Aithras Zauberei an einen Ort versetzt, an dem sie völlig unbekannt sind. Der zweite Akt spielt an diesem Ort: in einem Palmenhain am Fuße des Atlas. Menelaos entwickelt fatalerweise die Aithras Plan entgegengesetzte Vorstellung, er habe nachts auf der Insel eben nicht ein Trugbild, sondern die echte Helena getötet, und die Frau, die sich neben ihm befindet und ihn liebevoll umsorgt, sei eben nicht Helena, sondern ein ihm zum Trost von der Zauberin Aithra in die Arme gelegtes Trugbild. Dementsprechend entfremdet er sich innerlich von dieser Frau und empfindet Furcht vor ihr. Neben diese innere Problematik tritt – wie in der Euripideischen Helena15 – eine sehr bedrängende äußere Notlage. Helena wird heftig umworben von zwei Wüstenscheichs, nämlich Altaîr und seinem Sohn Da-ud (in dezidiertem Gegensatz zum Euripideischen Stück, wo einem tugendhaften Proteus ein entarteter Sohn Theoklymenos gegenübersteht, sind hier sowohl Vater als auch Sohn lasziv-lüstern gezeichnet). Da-ud wird von Menelaos bei der Jagd getötet, wiederum unter der Wahnvorstellung, Paris vor sich zu haben. Altaîr versucht Helena zu einem orientalischen Gelage zu entführen. Während dieser gefährlichen äußerlichen Notsituation gelingt es Helena, mit Hilfe der sich inzwischen einfindenden Aithra die innerliche Problematik ihres Verhältnisses zu Menelaos zu lösen: Sie flößt ihm gewissermaßen das Gegenmittel zum Vergessenstrank aus dem ersten Akt ein, einen Trank der Erinnerung, der Menelaos alle Phantomgeschichten vergessen und in der ihm gegenwärtigen Helena wiederum die schuldhafte Verursacherin des Trojanischen Kriegs sehen läßt. Wiederum will er Helena töten, doch es gelingt ihm nicht, da ihn ihr Anblick bezaubert – ein Motiv, welches sich bis weit in die Antike, nämlich bis zur ‹Ilias Parva› 16 und zu Ibykos17, zurückverfolgen läßt. Gleichzeitig mit der Lösung der inneren Problematik wird auch die äußere Bedrohung abgewendet durch eine Art Deus ex machina, nämlich durch plötzlich eintreffende Truppen von Aithras Geliebtem Poseidon.
4. Die Vorbilder Hofmannsthals: a. Die Zauberin Aithra und der antike Mythos Die von Hofmannsthal offenkundig in eine neuartige Verbindung zum Helena-MenelaosMythos gebrachte Person ist die Zauberin Aithra. Wenn auch nicht als Zauberin, so ist ihre Rolle doch schon in zwei Hinsichten in der antiken Mythologie vorgeprägt: Zum einen steht sie in enger Verbindung zu Helena, nämlich zunächst als ihre Hüterin (nach dem Raub durch ihren Sohn Theseus) und später als ihre Sklavin (nach der Rückführung durch
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Allgemein zu den Korrespondenzen zwischen dem zweiten Akt Hofmannsthals und der Euripideischen Helena vgl. Käte Hamburger, Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modern, Stuttgart 1962, 132 («Theoklymenosmuster»); Beyer-Ahlert 170. fr. 19 Davies. PMG 296.
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die Dioskuren)18. Zum anderen ist auch ihre Liebschaft zu Poseidon, die dem Hofmannsthalschen Stück den äußeren Rahmen gibt (in der Auftaktszene erwartet Aithra ihren göttlichen Geliebten, und in der Schlußszene sendet er seine Truppen gegen Altaîr)19, nicht aus dem mythengeschichtlichen Nichts geschaffen. In einer Variante des Mythos über die Geburt des Theseus figuriert der Meeresgott als göttlicher Vater des Aegiden, muß sich also auch als Nebenbuhler des Aigeus mit Theseus’ Mutter Aithra verbunden haben 20 (vergleichbar der Rolle des Zeus im Herakles-Mythos). Mythologisch neu ist also bei Hofmannsthal nur die Funktion von Aithra als Zauberin, die über eine allwissende Muschel verfügt. In dieser neuen Funktion ist ein Reflex der Euripideischen Theonoe zu sehen, einer weissagebegabten Priesterin, die zugleich Schwester des Bösewichts Theoklymenos ist und Helena und Menelaos unterstützt, insofern sie deren Rettungsintrige – von der sie als allwissende Seherin notwendig Kunde hat – nicht an ihren Bruder Theoklymenos verrät. Allerdings geht die Euripideische Theonoe gegenüber Helena und Menelaos nicht so weit darin wie die Hofmannsthalsche Aithra gegenüber Helena, den entscheidenden Rettungsplan aktiv zu unterstützen oder sogar auszudenken: Während Aithra bei Hofmannsthal für Helena Menelaos verzaubert, ermöglicht bei Euripides Theonoe durch das Verschweigen der Rettungsintrige lediglich die Durchführung eines Plans, den Helena selbst ersonnen hat. Während Euripides großen Wert auf die Autonomie des Handelns seiner Titelheldin bei der Rettungsintrige legt, wird bei Hofmannsthal der Rettungsplan (bestehend in der fingierten Phantom-Geschichte) ausschließlich von der Zauberin ersonnen und durchgeführt. Helena greift erst im zweiten Akt, als sie die Verzauberung des Menelaos willentlich rückgängig macht, aktiv handelnd in das Geschehen ein. Jedoch ist es dann auch Helena, die in ihrem Handeln vor eine geradezu tragische, moralisch schwierige Entscheidung gestellt ist: Mit dem Entschluß, Menelaos durch den Trank der Erinnerung aus seiner Verzauberung zu erwecken, bringt sie sich selbst in Lebensgefahr, weil Menelaos notwendig wieder versuchen wird, sie zu töten. Mit einer solchen moralischen Entscheidungssituation konfrontiert ist bei Euripides dagegen Theonoe, die sich im Anschluß an die agonartigen Reden von Helena und Menelaos entscheiden muß, ob sie die von den beiden geplante Rettungsintrige durch Verschweigung gegenüber Theoklymenos unterstützen und damit ihr eigenes Leben gefährden will (aus dieser Notlage wird sie am Schluß des Stückes im letzten Moment durch die als dei ex machina auftretenden Dioskuren gerettet). Demgegenüber ist die Hofmannsthalsche Aithra kaum von Erwägungen moralischer Verantwortung bestimmt (ein Gesichtspunkt, der bei der Euripideischen Theonoe stark profiliert wird), sondern ihr Eingreifen scheint in erster Linie durch die Langeweile motiviert, die sich aus dem fehlgeschlagenen Rendezvous mit Poseidon in der einleitenden Szene ergibt. Man kann also zusammenfassend festhalten, daß Hofmannsthal gegenüber Euripides die Rolle Helenas als handlungsdisponierende Planerin reduziert, aber ihre Bedeutung als moralische Entscheidungsträgerin gestärkt hat. In dieser Hinsicht tauscht Helena mit ihrer weiblichen Sympathisantin (Aithra bzw. Theonoe) gegenüber dem Euripideischen Original geradezu die Rollen. 18 19
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Hom. Il. 143 f.; Hyg. 92, 5. Im Frühherbst 1926 erwog Hofmannsthal kurzfristig, diesen Rahmen zu verstärken durch eine den zweiten Akt schließende Vereinigungsszene zwischen Aithra und Poseidon. Der Plan scheiterte am Widerstand von Richard Strauss. Vgl. SW XXV 2 p. 493–495 und Beyer-Ahlert 552; ferner Lenz 9 f. 23. Apollod. III 15, 7; Hygin. 37, 1.
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b. Die Mordabsicht des Menelaos gegenüber Helena und Goethes Faust Abgesehen von der Aithra-Figur ist bei Hofmannsthal in die Erzählung von der gemeinsamen Heimkehr des Menelaos und der Helena aus Troja das Motiv neu hineingezogen, daß Menelaos Helena als Verursacherin des Trojanischen Kriegs hinrichten will. Seinen Ursprung hat dieses Motiv in der berühmten Helena-Szene in den Euripideischen Troerinnen21. Dort ist es Menelaos ausdrücklich freigestellt, ob er Helena töten oder heimführen will22; auf der Grundlage dieser Freiheit ergibt sich der unter Menelaos’ Schiedsgericht stattfindende Agon zwischen der greisen Hekabe, die eine Tötung Helenas als minimalen Ausgleich für die von den Troerinnen erduldeten Kriegsleiden verlangt, und der frech-sophistisch argumentierenden Helena. Die mythologische Möglichkeit einer späteren Tötung Helenas nach der Rückkehr in Sparta ist hier insofern vorgegeben, als Menelaos gerade diese Absicht hat, wie er bei seinem Auftrittsmonolog bekundet 23. Der Zuschauer der Troerinnen weiß allerdings aufgrund seiner mythologischen Vorkenntnisse, daß Menelaos diese Absicht nie verwirklichen wird. Hofmannsthals Rückgriff auf dieses Motiv aus den Troerinnen (welches bei ihm weder unmittelbar nach der Einnahme Trojas noch nach der Heimkehr in Sparta plaziert ist, sondern dazwischen, nämlich im Verlauf des Nostos) ist aller Wahrscheinlichkeit nach kein direkter: Denn er übernimmt dieses Motiv zusammen mit dem einer weiblichen Retterin, die Helena vor dem Tod bewahrt, und zwar aus dem Faust II Goethes, wo die Phorkyas Helena (die dort nach dem Vorbild des Euripideischen Orestes 24 ihrem Gatten Menelaos vorausgeschickt worden ist 25) vor der drohenden Opferung durch Menelaos rettet durch eine zauberhafte Versetzung in den «Inneren Burghof», den zweiten Schauplatz des dritten Aktes. In einer früheren, noch teilweise nachweisbaren Fassung Hofmannsthals war sogar in unmittelbarem Anschluß an Goethe ein Phorkyaden-Chor geplant 26. Genaugenommen hat Hofmannsthal das Goethesche Motiv einer weiblichen Helferin, die Helena aus ihrer Bedrohung durch Menelaos mit magischen Mitteln rettet, in dreifacher Form adaptiert: Zunächst bewirkt Aithra, daß Menelaos’ Vorhaben auf offener See durch einen plötzlichen Seesturm vereitelt wird, dann täuscht sie ihn auf ihrer Insel durch ein äußeres Trugbild (die Täuschung durch das Trugbild des Erzfeindes erinnert stark an die oben erwähnte Turnusszene im zehnten Aeneis-Buch), und schließlich macht sie ihn mit Hilfe ihres Vergessenstranks die Lügengeschichte einer echten Helena, die angeblich vor dem Trojanischen Krieg durch ein Phantom ersetzt wurde, glauben (gewissermaßen ein «inneres Trugbild»)27. Zu dieser multiplen Goethe-Imitation ist es offenbar erst sukzessive im 21 22 23 24 25
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Vgl. Beyer-Ahlert 555 f. Eur. Tro. 873–875. Eur. Tro. 876–879. Eur. Orest. 60. Zum Einfluß des Euripideischen Orestes auf Goethes Faust II vgl. Thomas Gelzer, Goethes Helena und das Vorbild des Euripides, in: Tragödie. Idee und Transformation, ed. H. Flashar (Colloquium Rauricum Band 5), Stuttgart/Leipzig 1997, 199–234, hier 209; ders., Helena im Faust. Ein Beispiel für Goethes Umgang mit der antiken Mythologie, in: Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten, ed. W. Killy (Wolfenbütteler Forschungen Band 27), Wiesbaden 1984, 223–253, hier 233. 236. Vgl. Beyer-Ahlert 159. Die «Spannungsmittel», mit denen Hofmannsthal die dreimalige Beinahe-Tötung der Helena koloriert, sind rudimentär bereits bei Goethe gegeben. Bei seinem ersten Versuch auf dem Schiff hält Menelaos den Dolch schon in der Hand: denn in der Rechten hält er einen Dolch – er will sie töten! (SW XXV 2 p. 13, 9).
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Laufe der Hofmannsthalschen Werkgenese gekommen. Insbesondere die Motivierung des Seesturms durch die Absicht der Aithra, Helena zu retten, scheint Hofmannsthal nicht leicht gefallen zu sein. In früheren Fassungen wird Aithra – in diametralem Gegensatz zur endgültigen Fassung – von Eifersucht auf Helena bestimmt28 (vielleicht weil sie selbst von ihrem Geliebten Poseidon vernachlässigt wird), oder sie sendet den Seesturm nur auf Drängen ihrer gelangweilten Sklavinnen 29. Offenbar erkannte Hofmannsthal erst relativ spät30, daß eine mehrfache Anwendung des Goetheschen Motivs einer weiblichen Retterin zu einer überzeugenden Vereinheitlichung von Aithras Ethopoiie führte, die dann nicht von einer mißgünstigen, Seestürme aussendenden Gottheit (vergleichbar der Juno am Anfang der Aeneis31) zu einer selbstlosen Helferin Helenas mutieren muß. Die so gewonnene einheitliche Ethopoiie ändert andererseits nichts daran, daß das grundsätzliche Tätigwerden von Aithra letztlich nur durch ihr Verlassensein durch Poseidon und somit durch ihre Langeweile ausgelöst wird32. Aithra figuriert damit als eine charakterlich durchschnittliche, aber im Kern durchaus gutartige Persönlichkeit, die, insofern sie augenblicklich nichts Besseres zu tun, sich der Rettung Helenas annimmt33. Das aus Goethe dreifach adaptierte Rettungsmotiv ist also für Hoffmannsthal offenbar vor allem ein Mittel zu dem Zweck, die Ethopoiie Aithras zu vereinheitlichen. Übertrieben erscheint demgegenüber die von Richard Strauss in einem Interview geäußerte Auffassung, die Hofmannsthalsche Version löse einen bei Goethe ungelöst gebliebenen
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Dem entsprechen die angstvollen Erwägungen, in denen die Goethesche Helena am Anfang des dritten Aktes eine Verhinderung des Opfers im letzten Moment immer noch für möglich hält (8587–8590): Schon manchmal hob das schwere Beil der Opfernde/ Zu des erdgebeugten Tieres Nacken weihend auf/ Und konnt’ es nicht vollbringen, denn ihn hinderte/ Des nahen Feindes oder Gottes Zwischenkunft. Vor dem dritten Versuch des Menelaos, Helena zu töten, meldet eine Dienerin die drohende Ankunft des Menelaos (SW XXV 2 p. 28, 7 ss.); ähnlich bei Goethe der Chor (9067 ff.). SW XXV 2 p. 217, 12–14 (N 26): Die Muschel saust, sie will etwas erzählen. Antwort: ein König zurück von Troja: mit seiner Frau. Also vielleicht Helena. Eifersucht. Sturm losgelassen. SW XXV 2 p. 220, 15 s. (N 29): Sclavinnen. Herrin, befiehl einen Sturm! damit wir Gesellschaft bekommen! Griechen! (immerzu sie bittend). Die endgültige Fassung (Mordversuch des Menelaos schon auf dem Schiff und hilfreiches Einschreiten Aithras durch Erregung eines Seesturms) begegnet in den Notizen SW XXV 2 p. 225, 21 s. (N 39); p. 226, 4 s. (N 40). In einer sachlich ähnlichen Version wird das Eingreifen Aithras dem Menelaos von dieser in einem späteren Dialog erläutert: SW XXV 2 p. 257, 40 ss. (in der Niederschrift des ersten Aufzugs, 1 H1 ). Bemerkenswert ist hierbei die Verbindung der zur Lügengeschichte umgestalteten Phantomversion mit dem aus der homerischen Kyklopen-Episode stammenden Niemand-Motiv: Du stündest mit erhobenem Dolch – bleib sitzen! ich bitte! – vor einem Bette … du standest – verzeih mir – vor einem Bette – darin niemand lag! (p. 258, 10 ss.). Dieses – auch in den folgenden Erläuterungen Aithras beibehaltene – Wortspiel (vgl. etwa p. 259, 9: du trugst niemand) begegnet ferner in vorläufigen Reinschriften des ersten Aufzugs (2 H2 und 4 t2), SW XXV 2 p. 287, 13 ss. Verg. Aen. I 50 ff. Vgl. Bogosavljevic (wie Anm. 63) 21: «Die ganze Handlung wird aus Langeweile, aus Zerstreuungsbedürfnis in Gang gebracht». Immerhin müssen auch in der endgültigen Fassung die weissagende Muschel und die Dienerin Aithra noch kräftig drängen, zugunsten von Helena aktiv zu werden (vgl. SW XXV 2 p. 13, 13 ss.), und das Streben Aithras nach «Gesellschaft» (p. 12, 3) ist immer noch der Anlaß dazu, daß Aithra ihre Aufmerksamkeit überhaupt dem Meer zuwendet. Es handelt sich bei diesen beiden Motiven offenkundig um Relikte einer früheren Fassung (vgl. Anm. 29), die verhindern sollen, daß Aithra allzusehr in das Licht einer altruistischen Helferin gerückt wird. Andererseits hat Hofmannsthal jedoch ein übertrieben negatives Bild von Aithra vermieden, welches sie am Anfang des Stückes als eine aus Böswilligkeit (vgl. Anm. 28) oder Langeweile (vgl. Anm. 29) die Menschen schädigende Gottheit geradezu Euripideischer Prägung erscheinen ließe.
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Konflikt: «… die eigentliche Lösung des Konflikts [zwischen Menelaos und Helena] umgeht Goethe, da er Helena aus ihrem Lebenskreis herausnehmen und auf das Schloß des Faust entführen läßt»34. Denn bei Goethe ist die – aus den Troerinnen des Euripides übernommene – Mordabsicht des Menelaos nur ein äußerlicher Anlaß, welcher das allegorische Geschehen in Gang setzt. Diesen äußerlichen Anlaß erhebt aber erst Hofmannsthal zum zentralen Ausgangspunkt seiner in der Psychologie der Beziehung zwischen Menelaos und Helena liegenden Problematik35. Auch vor diesem Hintergrund erscheint die motivische Verdreifachung nachvollziehbar. Die Einbeziehung Goethes als Vorlage Hofmannsthals ermöglicht zugleich auch einen differenzierteren Blick auf die Rolle der Zauberin Aithra und ihr Verhältnis zu Helena. Bereits oben ist auf die beiden aus der klassischen Mythologie stammenden Grundzüge eingegangen worden, welche die Hofmannsthalsche Aithra prägen: einerseits die Verbindung zu Helena und andererseits die Liebschaft mit dem Meeresgott Poseidon. Vermittelt wurde Hofmannsthal die Kenntnis der mythischen Figur Aithra sehr wahrscheinlich durch die Mythendeutungen Johann Jakob Bachofens (1815–1887), in denen Aithra als eine «Vertreterin des höhern Daseins» und als Gegnerin des durch Helena vertretenen «aphroditischhetärischen» Lebensprinzips figuriert36. Wenn Hofmannsthal tatsächlich eine solche Ausdeutung von Helena und Aithra als konträrer menschlicher Lebensprinzipien vorschwebte, so lag es um so näher, in dem Verhältnis «Helena ~ Aithra» das Goethesche Verhältnis «Helena ~ Phorkyas» widerzuspiegeln37. Denn bei Goethe prallt Helena ja als Vertreterin eines Prinzips «klassischer Schönheit» zu Beginn des dritten Aktes des Faust II auf Phorkyas als Repräsentantin des konträren Prinzips der Häßlichkeit. In dem Streit, welcher sich 34 35
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Vgl. SW XXV 2 p. 531, 37 s. (Zeugnisse). Hofmannsthal hat sich mehrfach über die Helenafigur in Goethes Faust geäußert und sich an ihrem unwirklich-symbolhaften Charakter gestoßen (vgl. hierzu Goethes symbolistische Ausdeutung der Euripideischen Helena in ‹Polygnots Gemählde in der Lesche zu Delphi›: … so verdiente nach vieljähriger Controvers Euripides gewiß den Dank aller Griechen, wenn er sie als gerechtfertigt, ja sogar als völlig unschuldig darstellte und so die unerläßliche Forderung des gebildeten Menschen, Schönheit und Sittlichkeit im Einklange zu sehen, befriedigte). In einem Brief an Werner Jaeger (vgl. Anm. 75) sagt er, daß die Helena im dritten Akt des Faust II «doch … sich selber nur wie ein Gespenst oder ein Spiegelbild empfindet» (vgl. 8881 Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol). Insofern reiche seine eigene Dichtung «eigentlich viel unmittelbarer an die antike Welt heran als der Helena-act im Faust» (SW XXV 2 p. 529, 34 ss.). Deutlicher noch in einem Brief an Max Rychner vom 19. Februar 1929: Die Helena im Faust II «will auch gar nicht primäre Gestalt sein, sondern bewusstes Gespenst, das sich selber beschwört» (SW XXV 2 p. 544, 33–35). Ähnlich Strauss unmittelbar vor dem oben ausgeschriebenen Zitat: «Die «Ägyptische Helena» in ihrer menschlichen Tragik wird jetzt zum erstenmal dramatisch gestaltet, denn die Goethesche Helena im zweiten Teil «Faust» ist mehr ein Symbol für die Antike selbst, verkörpert durch die sprichwörtlich schönste Frau der griechischen Sage» (SW XXV 2 p. 531, 34 ss.). Vgl. auch Lenz 36: «Während Goethe Helena durch ihr Traditionsbewußtsein verfremdet, erscheint sie bei Hofmannsthal wieder als «naive» Gestalt». – Nichtsdestoweniger finden sich bei Hofmannsthal deutliche Spuren direkter Goethe-Rezeption: vgl. z. B. die Notiz Das Buhlen mit dem Gespenst Achilleus (N 11, SW XXV 2 p. 210, 14, hierzu Beyer-Ahlert 586 f.); psychologisiert in N 65 (SW XXV 2 p. 302, 11): Menelas Angst: das Phantom gebe sich dem Achill auf Pherae hin! Vgl. Beyer-Ahlert 550 f. und besonders 584 f. Lenz 42 f. sucht die Hofmannsthalsche Figurenkonstellation «Helena – Aithra» etwas anders aus einer Erwähnung Aithras in Goethes Schrift ‹Polygnots Gemählde in der Lesche zu Delphi› abzuleiten. Doch scheint mir – zumindest in der ersten Begegnung zwischen den beiden Frauen bei Hofmannsthal – weniger «die Konfiguration Helena im Glanz – Aithra als ihr Dienende» (Lenz 43) im Mittelpunkt zu stehen als dieAntithese «Helena als kokette ‹Frau› – Aithra als unerfahrenes ‹Kind›», vgl. die oben ausgeschriebene Belegstelle.
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sogleich zwischen Helena, ihren Dienerinnen und Phorkyas entwickelt, geht es vor allem um das Verhältnis zwischen Schönheit und Moralität: Indem Phorkyas Helena letztere abspricht, erhebt sie sich automatisch auch zur Vertreterin eines Helena entgegengesetzten Lebensprinzips. Auch bei Hofmannsthal tritt der wesenhafte Gegensatz zwischen Helena und Aithra38 besonders am Anfang ihrer ersten Begegnung deutlich hervor. Dies zeigt sich vor allem in der Diskussion, ob Aithra eine Frau oder ein Kind sei: (H.) … Bist du eine Frau oder ein Mädchen? (Ai.) Das zu beantworten, ist für den Augenblick zu weitläufig … … (H.) Du bist ein Kind! … (Ai.) Ich bin eine Frau! Aber vielleicht erst so wenig, daß ich vieles noch nicht verstehe. 39
Wie Phorkyas der Goetheschen Helena so hält auch Aithra der Hofmannsthalschen eine Liste ihrer außerehelichen Liebhaber entgegen40, wenngleich Aithra – anders als Phorkyas – bei ihrem Fragen eher von kindlicher Unerfahrenheit und Neugier als von moralischer Verachtung bestimmt ist. Demnach scheint es, als habe Hofmannsthal den Gedanken eines Aufeinanderprallens zweier Prinzipien aus Goethe (Schönheit gepaart mit Laszivität ~ Häßlichkeit verbunden mit Moralbewußtsein) und Bachofen (aphroditisch-hetärisches Prinzip ~ höhere Daseinsform) durchaus übernommen, aber den Gegensatz inhaltlich ein wenig abgeschwächt (mit souveräner Koketterie auftretende ‹Frau› ~ unerfahrenes, aber neugieriges ‹Kind›) und ihm vor allem den Aspekt moralischer Geringschätzung gegenüber dem von Helena vertretenen Prinzip genommen. Bei Hofmannsthal erhebt sich die «Gegenspielerin» Helenas nicht etwa über deren Laszivität, sondern nimmt in kindlichneugieriger Weise mit einer ihr bis dahin unbekannten Welt Kontakt auf. Dementsprechend hat Hofmannsthal gegenüber Goethe und Bachofen den dort gegebenen konträren Altersunterschied der beiden Frauen eliminiert und möglicherweise sogar ins Gegenteil verkehrt: Phorkyas steht Helena als häßliche Alte entgegen, und Aithra muß schon allein aus mythisch-genealogischen Erwägungen (als Mutter des Theseus, der Helena wiederum noch in deren Kindesalter entführt) wesentlich älter sein als Helena. Demgegenüber zeichnet Hofmannsthal Helena und Aithra als ein – vor allem innerlich ungleiches – Paar zweier Freundinnen41, von denen wahrscheinlich – wenn man die Opposition «Kind»/ «Frau» auch im wörtlichen Sinne fassen darf – Helena die ältere ist. Die innerliche Verschiedenheit der beiden Frauen zeigt sich sowohl bei Goethe als auch bei Hofmannsthal darin, daß Helena – im Gegensatz zu Phorkyas bzw. Aithra – nicht recht an die durch Menelaos drohende Gefahr glauben mag und letztlich auf ihre Schönheit vertraut 42: Gleichwohl ist dieser Unglaube bei 38
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Dagegen betont Bogosavljevic (wie Anm. 63) 20 die Rolle Aithras und ihres Verhältnisses zu Poseidon «als Vorwegnahme und Widerspiegelung der Hauptkonstellation Helena – Menelaos». Dadurch, daß Aithra einerseits die Geliebte des Poseidon ist und andererseits neben Helena wie ein «Kind» wirkt, ist eine gewisse innere Spannung im Wesen dieser Hofmannsthalschen Figur angelegt. SW XXV 2 p. 23, 27–24, 14. Goethe Faust II 3, 8845 ff.; Hofmannsthal SW XXV 2 p. 24, 8. Ähnliche für Helena unangenehme Äußerungen tat in Hofmannsthals Frühfassung offenbar der Phorkyadenchor, vgl. SW XXV 2 p. 209, 32 s. (N 10): Die Phorkyaden unendlich unterrichtet, unendlich indiscret über weibliche Geheimnisse. SW XXV 2 p. 23, 31 ss. Goethe Faust II 3, 9052 f. Wie? sollt’ ich fürchten, daß der König Menelas/ So grausam sich verginge, mich zu schädigen?; Hofmannsthal SW XXV 2 p. 27, 17 s. HELENA (tritt noch einmal vor den Spiegel, dann wendet sie sich beseligt): Wer tötet die Helena, wenn er sie ansieht!
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Goethe nur die augenblickliche Regung einer in der ganzen Szene durchaus von ernsthafter Todesahnung gequälten Helena, während die Hofmannsthalsche Helena in ihrer Koketterie einen Tod durch Menelaos’ Schwert kaum jemals ernsthaft zu fürchten scheint. Vor dem somit umrissenen Goetheschen Hintergrund lassen sich nun die Tendenzen von Hofmannsthals Neugestaltung klar erfassen. Seine Aithra versetzt Helena und Menelaos ebenfalls – wie die Phorkyas Helena und ihre Dienerinnen – auf zauberhafte Weise an einen neuen Schauplatz, nämlich in den Hain am Fuße des Atlasgebirges, der den Schauplatz von Hofmannsthals zweitem Akt bildet. Diese räumliche Versetzung ist jedoch nicht konstitutiv für Helenas Rettung wie der Wechsel in den «Inneren Burghof» im Faust, wodurch Helena dem Machtbereich des Menelaos entzogen wird. Eine räumliche Trennung von Menelaos ist für die Hofmannsthalsche Helena nicht denkbar43, insofern hier nicht ihre äußerliche Rettung, sondern ihre Beziehung zu Menelaos – ein Gesichtspunkt, der im Faust überhaupt keine Rolle spielt – den Focus der Darstellung bildet; daher kommt auch eine dem Euripideischen Orestes entsprechende Trennung Helenas von Menelaos zu Beginn des Dramas für Hofmannsthal nicht in Frage. Der Ortswechsel zu Beginn des zweiten Aktes (entsprechend dem Übergang der ersten zur zweiten Szene im dritten Akt des Faust II) geschieht auf den Wunsch Helenas hin, und er erfüllt bestenfalls den Zweck, die sich auf der Grundlage von Aithras Täuschung zunächst wieder normalisierende Beziehung Helenas zu Menelaos vor einer Belastung zu schützen44, die sich zwangsläufig ergäbe aus einem Kontakt mit dritten, die über Helenas tatsächliche Schuld Bescheid wüßten. Die Bedeutung des zauberhaften Ortswechsels ist also insofern stark reduziert, als dieser Ortswechsel nicht zu Helenas Rettung führt – Im Gegenteil führt er de facto zu einer neuen äußerlichen Bedrohung durch die Wüstenscheichs. Der rettende Einfall der weiblichen Helferin Helenas besteht bei Hofmannsthal nicht mehr darin, Helena an einen anderen Ort zu zaubern, sondern vielmehr darin, die Psyche des Menelaos in entscheidender – und nicht minder zauberhafter – Weise zu beeinflussen, nämlich durch die Truggeschichte vom den Trojanischen Krieg verursachenden Phantombild Helenas. Der Rettungsplan wird psychologisiert: Er besteht nicht mehr in einer äußeren Änderung des Aufenthaltsorts Helenas, sondern in einer inneren Änderung von Menelaos’ Seelenzustand.
c. Die verinnerlichende Psychologisierung der Phantomgeschichte und Paul Claudel Auf diesen Gesichtspunkt der verinnerlichenden Psychologisierung stößt man aber nicht nur, wenn man auf Hofmannsthals Werk aus der Perspektive von Goethes Faust II blickt. Denn der Inhalt des derart verinnerlicht-psychologisierten Rettungsplans steht gegenüber seinem Euripideischen Vorbild wiederum in demselben Verhältnis. Die Phantom-Geschichte, die bei Euripides gemäß der sachlich zugrundegelegten Stesichoreischen Erzäh43
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Interessanterweise erwägt Aithra für einen Augenblick aber doch ein solches dem Goetheschen Handlungsverlauf entsprechendes Verfahren, das in der Entrückung Helenas aus dem Machtbereich des Menelaos bestünde (SW XXV 2 p. 24, 23–27): Ich muß dich [sc. Helena] verbergen – aber – dies Haus hat keinen Schlupfwinkel. (leise) Ich könnte auf meinem Mantel mit dir durch die Luft fahren – aber jeden Ausflug hat mir Poseidon strenge verboten, und durch die Geschwätzigkeit dieser infamen Muschel, die er mir zur Wächterin gegeben hat –. Hofmannsthal selbst spricht in einem Brief an Strauss salopp von «kurzen Flitterwochen» (SW XXV 2 p. 464, 25).
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lung ein Bestandteil der dramatischen Faktizität ist, ist bei Hofmannsthal nur eine bloße von Aithra erdachte Fiktion, mit der Menelaos getäuscht wird. Diese verinnerlichende Psychologisierung der Phantom-Geschichte ist nun – im Gegensatz zur Verknüpfung der Phantom-Geschichte mit der Absicht des Menelaos, Helena zu töten – nicht Hofmannsthals eigene Erfindung, sondern geht auf das Satyrspiel ‹Protée› des französischen Schriftstellers Paul Claudel (1868–1955) zurück. Die erste Fassung, die Hofmannsthal nachhaltig beeinflußte, erschien im Jahr 1914; eine zweite, stark geänderte Version, die im Jahr 1927 publiziert wurde, kann hier aus chronologischen Gründen beiseitebleiben. Im Jahr 1927 war, wie sich vor allem dem intensiven und erhaltenen Briefwechsel mit Strauss entnehmen läßt, das Hofmannsthalsche Libretto schon so weitgehend abgeschlossen und die Absprachen mit Strauss so weit gediehen, daß eine konzeptionelle Änderung nicht mehr möglich gewesen wäre. Zunächst sei kurz der Inhalt des Claudelschen Stückes referiert, der seinerseits wiederum entscheidende Anregungen einer phantasiereichen philologischen Rekonstruktion des zur Orestie gehörigen Aischyleischen Satyrspiels ‹Proteus› durch Johann Gustav Droysen (1808–1884) verdankt45. Der von Claudel adaptierte entscheidende Grundzug in Droysens Rekonstruktion (vielleicht sollte man eher von einer schöpferischen Erfindung sprechen, da sich relativ wenig Anhaltspunkte für eine ernsthafte philologische Rekonstruktion des Aischyleischen Stücks ergeben) besteht darin, daß der Ringkampf des Menelaos mit Proteus aus dem vierten Buch der Odyssee 46 mit der Euripideisch-Stesichoreischen Phantom-Geschichte verknüpft wird. Hier also der Inhalt des Claudelschen Stückes 47: Menelaos wird infolge eines Seesturms an den Strand der Insel Naxos getrieben. Auf dieser Insel halten sich neben Proteus (der als homerischer Meergreis und nicht als aegyptischer König wie bei Euripides zu denken ist) die Nymphe Brindosier und eine Herde bocksgestaltiger Satyrn auf. Sowohl bei Brindosier als auch bei den Satyrn handelt es sich um dionysische Überbleibsel: Die Nymphe wurde von dem Weingott bei der Abholung Ariadnes zurückgelassen, die Satyrn bei seinen Überseefahrten. Auf der Insel unter der Aufsicht des Proteus fühlen sich die Dionysos-Anhänger nicht gerade wohl, zumal ihnen jegliche dionysische Freude (Weingenuß) abhanden kommt. In der plötzlichen Ankunft des Menelaos sieht Brindosier eine Chance, der Tristesse auf Naxos zu entkommen: Menelaos ist auf Material zur Reparatur seines Schiffes angewiesen, und Brindosier suggeriert ihm, er könne dieses leicht von Proteus erhalten, wenn er ihn im Ringkampf besiege und (ein offenkundig grotesker und unantiker Motivzusatz) ihm seine Brille stehle. Doch spielt Brindosier – im Gegensatz zur homerischen Eidothee – ein doppeltes Spiel und paktiert zugleich mit Proteus: Sie will dem eitlen Alten Helena, die schönste Frau der Welt, zuführen, unter der Bedingung, daß er dafür Brindosier und die Satyrn aus Naxos weggehen läßt. Proteus kann Menelaos mit einem Blick seiner nicht durch die Brille bedeckten Augen alles glauben machen, was er nur will; so soll er ihm den Glauben einflößen, Brindosier sehe genauso aus wie Helena. Zuvor hat Brindosier bereits die Grundlage zu ihrer Intrige gelegt, indem sie Menelaos mit der Geschichte konfrontiert, die Helena, die er in Troja zurückerobert habe, sei nicht die echte Helena, son45 46 47
Vgl. die Nachweisungen bei Beyer-Ahlert 161 Anm. 27. Hom. Od. 364 ff. Zitiert nach: Paul Claudel, Théâtre II. Note bibliogaphique et textes établis par Jacques Madaule, Paris 1956.
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dern nur ein Phantom; diese Truggeschichte existiert bislang nur als eine von Proteus in die Welt gesetzte histoire idiote48. Proteus willigt in den Plan Brindosiers ein, und der erste Akt endet mit dem mythologisch herkömmlichen Ringkampf zwischen Menelaos und Proteus. Im zweiten Akt wird der unglückliche Menelaos mit der Situation konfrontiert, zwei vermeintlich gleich aussehende Helenen vor sich zu haben. Die Komik der Situation wird für den Zuschauer noch dadurch verstärkt, daß die Schauspielerinnen, welche die beiden Frauen darstellen, einander nicht gerade ähnlich aussehen dürften. Die rhetorische Auseinandersetzung zwischen der echten und der vermeintlichen Helena bleibt ergebnislos, schließlich bittet Brindosier darum, Helena allein sprechen zu dürfen49; in ihrer Gegenwart gibt sie den ganzen Betrug unumwunden zu; schließlich gelingt es ihr, Helena dazu zu überreden, freiwillig mit ihr die Rollen zu tauschen und auf Naxos bei Proteus zu bleiben. Das entscheidende Argument dabei sind die Mengen von modischen Kleidern, welche durch Schiffbruch in Naxos angeblich angespült werden, während sich Helena andererseits in Sparta nach dem orientalischen Reichtum in Troja wieder an sehr einfache Verhältnisse gewöhnen müßte. Insofern erscheint es Helena als Gewinn, auf Naxos bleiben zu können. Schließlich brechen Menelaos, Brindosier und die Satyrn (in denen Menelaos Dienerinnen der vermeintlichen Helena sieht) mit dem reparierten Schiff auf. Als sie sich von Naxos entfernen, wird Helena plötzlich mitsamt der Insel an den Himmel versetzt, und Proteus, mit einem Mal um seinen alten (Naxos) und neuen (Helena) Besitz gebracht, muß sich in sein Unterwasserreich zurückziehen. Entscheidende Anregungen, die Claudel aus der Droysenschen Rekonstruktion des Aischyleischen Proteus bezog, sind neben der Verbindung zwischen dem homerischen Meergreis Proteus und der Phantom-Version der Helena-Geschichte vor allem das Motiv «dionysischer Rückstände» auf einer von Proteus bewohnten Insel. Speziell die Szene, in der Menelaos in dem unbekannten Land, in welchem er gestrandet ist, plötzlich mit den frechen bockartigen Wesen konfrontiert ist, zeigt unverkennbaren Einfluß von Droysens phantasievoller Rekonstruktion. Der Nymphe Brindosier entspricht in Droysens Version die homerische Eidothee50, die jedoch im Gegensatz zu Brindosier keinerlei persönliches Interesse verfolgt. Eine geniale Neuerung Claudels dagegen ist ohne Zweifel die Szene, in der die beiden Helenen miteinander konfrontiert werden – noch dazu mit dem grotesken Ergebnis, daß sich die echte zugunsten der falschen freiwillig zurückzieht. Zu einer entsprechenden Konzeption51 hatte Hofmannsthal bei einem früheren Entwurf seines Helenadramas tendiert, welche sich aus einem auf den 2. Januar 1920 datierten Brief an Rudolf Pannwitz
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Théâtre II 325. Ein Reflex hierauf bei Hofmannsthal in N 18 (SW XXV 2 p. 212, 29): Helena: Lass mich allein mit ihr! Diese metatextuelle literaturgeschichtliche Dimension zeigt sich in Äußerungen wie der des Proteus gegenüber Brindosier (Théâtre II 323): Il n’arrive jamais ici un frère-la-côte sans que tu lui indiques le moyen de venir à bout du vieux Protée! In dem gleichzeitigen Auftritt zweier Helenen hat man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Reflex der Claudelschen Version zu sehen (vgl. Lenz 47). Wenig überzeugend ist demgegenüber die von Beyer-Ahlert 158 versuchte Rückführung der Hofmannsthalschen Frühfassung auf eine Kritik Jakob Burckhardts am Euripideischen Stück, die sich nur gegen die psychologische Unwahrscheinlichkeit des jahrelangen Zusammenlebens mit einem Phantom richtet und zudem beklagt, daß alle Handlungen des Phantoms nur berichtet, nicht aber auf der Bühne dargestellt werden. Die Forderung nach einem gemeinsamen Auftreten zweier Helenen (welche nach dem Euripideischen Geschehensablauf einander nie am gleichen Ort begegnen) ist damit noch nicht gestellt.
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(1881–1969)52 rekonstruieren läßt. Hiernach sollte der schiffbrüchige Menelaos «in einer Grotte» zugleich mit dem Phantom und der echten Helena konfrontiert sein (rein lokal eine Umkehrung der Euripideischen Konstellation: Nicht Menelaos läßt die vermeintliche Helena in einer Grotte zurück und kommt zur echten Helena, sondern die «neue» Helena gelangt in die Grotte zu Menelaos und der «alten» Helena), und die Szene sollte enden mit einem das Vorbild Claudel offenkundig umkehrenden und vernünftige Verhältnisse restituierenden Ausgang: einem «willigen Selbstbegräbnis des Phantoms»53. Dabei spiegelte 52
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Zur Bedeutung der Bekanntschaft Hofmannsthals mit Pannwitz im Rahmen der frühesten Bemühungen um die ‹Aegyptische Helena› vgl. Lore Muerdel Dormer, Schwester der Hoffnung: «Die ägyptische Helena» als poetisch-politisches Vermächtnis Hugo von Hofmannsthals, Modern Austrian Literature 7 No. 3/4, 1974, 172–183, hier 174. SW XXV 2 p. 458, 32 ss. Dieselbe Konzeption äußert sich auch SW XXV 2 p. 205, 23 ss. (N 2, datiert auf den 30. Dezember 1919). – In dem Brief an Pannwitz heißt es: hier in einer Grotte, erscheint ihnen (Menelaos und Helena), während sie nachtmahlen, das Phantom, jene andere Helena (p. 458, 33 s.). Wenn Hofmannsthal das meint, was seine Worte zu sagen scheinen, muß in dieser Frühkonzeption Menelaos mit der echten Helena aus Troja zurückgekommen sein und plötzlich zusätzlich mit einem Phantom derselben konfrontiert gewesen sein. Dies wäre prinzipiell die bei Claudel vorliegende Konstellation. Sollte hier also das Phantom plötzlich den Anspruch erhoben haben, die echte Helena zu sein, wie Brindosier bei Claudel? (Dies meint offenbar Beyer-Ahlert 163 mit dem Satz: «Hofmannsthal folgt Claudel wie selbstverständlich in der gegenüber Euripides vertauschten Gleichsetzung des Phantoms mit der ägyptischen, angeblich schuldlosen Helena»). Dann wäre also womöglich in dieser Frühkonzeption bereits – wie bei Claudel – die Phantomversion eine nachträglich fingierte Lügengeschichte, freilich fingiert von einem tatsächlichen Phantom. Von diesem wüßte man dann allerdings nicht recht, warum und von wem es geschaffen wurde (Einen Hinweis in diese Richtung gibt vielleicht die kryptische Notiz N 13, SW XXV 2 p. 211, 15 s. Das Phantom geschaffen aus Äther eines Nachts: da seine (Menelas’) Hingabe am Höchsten war), ferner welchen Zweck es mit seinem Auftritt in der Grotte verfolgte – der offenbar letztlich ohne Erfolg blieb, da sich das Phantom schließlich zu einem «willigen Selbstbegräbnis» herbeiließ. Oder sollte die Phantomversion doch objektive Realität gewesen sein, das Phantom aber frühzeitig durch die echte Helena ersetzt worden sein, jedoch weiter existiert und sich erst später mit seiner – wahren – Geschichte zu Wort gemeldet haben? Solche Versionen erscheinen mir zu obskur, als daß sie Hofmannsthal selbst als bloßes Konzept (das er immerhin einem anderen, nämlich Pannwitz, mitgeteilt hat) zugetraut werden könnten. Wahrscheinlicher erscheint mir die auf den ersten Blick abwegig anmutende Annahme, daß sich hinter der Formulierung Hofmannsthals in dem Brief an Pannwitz, das Phantom, jene andere Helena, in Wirklichkeit die echte, in Aegypten hinterlegte Helena verbirgt, also daß Hofmannsthal sich gegenüber Pannwitz unlogisch ausdrückte: Menelaos sollte möglicherweise nach seiner damaligen Konzeption mit dem für Helena gehaltenen Phantom auf die Insel kommen und plötzlich durch die Ankunft der echten Helena aufgeschreckt und mit einer Phantomproblematik konfrontiert werden. Eine ähnliche Unlogik, wie sie dann in der oben ausgeschriebenen Formulierung läge, begegnet nämlich – dies die Stütze meiner These – auch in den publizierten Fassungen des fiktiven Gesprächs mit Strauss, wo dem eigentlichen Gespräch u. a. ein Abriß des Euripideischen Stücks vorangestellt ist (Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, p. 218, 14–16): Helena und Menelas auf der Rückreise von Troja. Hier taucht jenes Motiv eines «Phantoms» Helena auf – jene zweite Helena, nicht die trojanische sondern die aegyptische. In geradem Gegensatz zu dieser Formulierung ist bei Euripides – dessen Gestaltung im Gegensatz zu der Frühkonzeption Hofmannsthals nicht fraglich ist – tatsächlich die trojanische Helena und nicht etwa die aegyptische das Phantom (Beyer-Ahlert 163 muß in sehr bedenklicher Weise annehmen, daß Hofmannsthal den faktischen Inhalt des Euripideischen Stücks verzeichnet habe, wofür sich sonst überhaupt keine Indizien ergeben). Hofmannsthal meint offenbar: «Eine zweite Helena taucht plötzlich auf, nicht die trojanische, sondern die aegyptische, und damit ergibt sich die Problematik, daß eine der beiden Helenen ein Phantom sein muß». Entsprechend könnte in dem Brief an Pannwitz folgendes gemeint sein: «Beim Nachtmahl in der Grotte erschien Menelaos und Helena plötzlich eine andere Helena, wodurch sich eine Phantomproblematik ergab». Freilich hat Hofmannsthal in seinem Euripidesreferat die Unlogik der Formulierung in einer handschriftlichen Version behoben; dort finden sich statt der Worte jene zweite Helena, nicht die trojanische, sondern die ägyptische zwei Varianten: (1) – und jene zweite Helena – nicht die tro-
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sich andererseits der groteske Ausgang der Auseinandersetzung bei Claudel (die echte Helena zieht sich freiwillig zurück) in Hofmannsthals Frühfassung offenbar insofern, als hier paradoxerweise das Phantom – nicht die echte Helena – überzeugende Wirkung auf einen naiven Menelaos ausübte54. Wie diese Szene dramaturgisch hätte dargestellt werden sollen, wissen wir nicht: Offenkundig hätten zwei in der Tat ähnliche Schauspielerinnen gefunden werden müssen (oder sie mußten zumindest von der Maske sehr ähnlich hergerichtet werden), wohingegen die Claudelsche Vorbildszene ihre Komik eben dadurch gewann, daß die beiden Schauspielerinnen für den Zuschauer gerade nicht ähnlich aussahen. Jedenfalls hat sich Hofmannsthal in seiner endgültigen Ausarbeitung von der grotesken Konfrontation der beiden Helenen wieder verabschiedet 55, freilich nur, um stattdessen 56 einen anderen genialen Einfall Claudels aufzugreifen: nämlich die verinnerlichernde Subjektivierung der Geschichte vom Phantombild der Helena57 (das in der Frühfassung noch dramatis persona war). In der Droysenschen Rekonstruktion des Aischyleischen Proteus ist die Phantom-Geschichte zunächst eine von Proteus an Menelaos (entsprechend dem vierten OdysseeBuch) gerichtete Weissagung: Der Trojanische Krieg sei um ein Trugbild geführt worden, und die wahre Helena sei in Aegypten verborgen. Diese Weissagung bewahrheitet sich jedoch wenig später, insofern Menelaos von Gefährten aufgesucht wird, die ihm berichten, wie sich die vermeintliche Helena plötzlich in Luft aufgelöst habe. Diese plötzliche Bewahrheitung einer zunächst schier unglaublich erscheinenden Behauptung durch einen Botenbericht hat Droysen natürlich der Euripideischen Helena nachempfunden, wo der Versuch der (von Menelaos verkannten) Helena, ihren Ehemann von der Phantom-Geschichte zu überzeugen, plötzlich entscheidende Unterstützung erfährt durch einen entsprechenden Bericht eines alten Gefährten des Menelaos über das Verschwinden des Phantoms58. Aus dieser unglaublichen, aber wahren Proteus-Weissagung wird bei Claudel eine von Proteus in die Welt gesetzte histoire idiote, die von Brindosier aus persönlichen Motiven adaptiert und zu einer Lügengeschichte ausgestaltet wird. Hofmannsthal hat in seiner endgültigen Fassung diese Konzeption der Phantom-Version als einer bewußt eingesetzten Lügengeschichte übernommen59, die allerdings bei ihm nicht den persönlichen Zielen einer
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janische, sondern die ägyptische und (2), das auch Goethe so sehr beschäftigte (SW XXXI p. 525, 19–21, Handschrift 1 H). Diese Varianten zeigen, daß Hofmannsthal die Unlogik seiner eigenen Formulierung zumindest zeitweise bewußt war. Wenn er solch unlogische Formulierung sich aber in den publizierten Fassungen eines Essays, welcher die ersten Aufführungen flankieren sollte, verstattete, so kann sie ihm um so eher im lockereren Briefstil nach nur kurzer Beschäftigung mit dem Helena-Stoff unterlaufen sein. Vgl. SW XXV 2 p. 210, 29 s. (N 12); p. 212, 3 (N 15). Beyer-Ahlert 169. Eine «Zwischenkonzeption» mit einer «in beiden Gestalten alternierenden Helena» (SW XXV 2 p. 215, 4, N 21), in der also also wohl eine Schauspielerin abwechselnd beide Rollen – die der echten Helena und die des Phantoms – versehen sollte, bleibt ihrerseits schattenhaft, vgl. Beyer-Ahlert 165. Angesichts der Unsicherheiten in der Rekonstruktion der genauen Handlungskonstellationen in Hofmannsthals Frühfassung (vgl. oben Anm. 53) läßt sich allerdings nicht völlig ausschließen, daß auch dort schon die Euripideische Phantom-Version in subjektiviert-verinnerlichter Form (dann wohl als von einem leibhaftigen Phantom ersonnene Truggeschichte) begegnete. Vgl. Lenz 47; Beyer-Ahlert 168. Eur. Hel. 597 ff. In Vorformen der endgültigen Fassung, die noch durch Notizen Hofmannsthals rekonstruierbar sind, sollte der Fiktion der Truggeschichte offenbar ein faktisch verändernder Zauber an die Seite treten: Helena sollte auf magische Weise verjüngt werden, so daß es Menelaos leichter fallen mußte, zu glauben, die jetzt vor ihm stehende Helena sei nicht identisch mit der, die er aus Troja erbeutet hatte. Angeregt wurde dieser Gedanke
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dritten Person dient, sondern dem Zweck, Menelaos von seinen Mordabsichten abzubringen und mit Helena wieder zu versöhnen. Wenn man Claudel und Hofmannsthal in die oben versuchte Definition des Doppelgängermotivs einbeziehen will, muß man die Möglichkeit einer nur subjektiv geglaubten Ähnlichkeit in einer Neufassung der Definition mitberücksichtigen. Eine solche Neufassung müßte etwa folgendermaßen lauten: «subjektiv geglaubte oder objektiv vorhandene Existenz eines Wesens, dessen äußerliche Ähnlichkeit mit einem anderen zumindest subjektiv eine Verwechslung ermöglicht». Dagegen wird von Elisabeth Frenzel 60 die Motivvariante «vorgetäuschter Doppelgänger» nur als ein «unechter Trieb» des Doppelgängermotivs mitbehandelt. Jedoch würde Frenzels enger gefaßter Doppelgängerbegriff in dem hier besprochenen Falle offenkundig zu einer bedenklichen Zerschneidung einer literarischen Rezeptionslinie führen. Ein antikes Prototypon für diese neue Motivvariante wäre die angebliche Zwillingsschwester von Philocomasium im Miles gloriosus des Plautus. Allerdings läge hierbei eine Subjektivierung des Motivtyps (I) in der oben aufgestellten Systematik vor (Doppelgänger durch zufällige bzw. naturgegebene Ähnlichkeit), während es sich im Falle der fingierten Phantomgeschichte bei Claudel und Hofmannsthal um eine Subjektivierung von Typ (II) handelt (durch ein höheres Wesen geschaffener Doppelgänger, primär mit dem Ziel einer Täuschung der Umgebung61). Die unmittelbare Abhängigkeit Hofmannsthals, der übrigens um die Jahrhundertwende eine romanistische Habilitationsschrift eingereicht, aber später zurückgezogen hatte, von Claudel zeigt sich – abgesehen von Claudel-Exzerpten in Hofmannsthals Notizen – auch noch in anderen signifikanterweise gemeinsamen Motiven, vor allem der Vorstellung, daß die echte Helena den Trojanischen Krieg schlafend verbracht hat 62 – eine völlig uneuripideische Konzeption, die insbesondere den bei Euripides zentralen psychologischen Aspekt, daß die in Aegypten festgehaltene echte Helena vom Trojanischen Krieg und ihrem daraus resultierenden üblen Ruf Kenntnis nimmt und in ihrer moralischen Sensibilität darunter schrecklich leidet, a priori eliminiert und das ganze Substitutionsmotiv aus dem Bereich
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wohl durch Claudel, wo Menelaos die vermeintliche «Helena» Brindosier folgendermaßen beurteilt (Théâtre II 334): C’est la voix, c’est la taille, c’est le visage, p l u s j e u n e s e u l e m e n t , p l u s p u r p e u t - ê t r e . Zur Ausgestaltung dieser Fassung bei Hofmannsthal vgl. SW XXV 2 p. 215, 25 (N 22) Verjüngt sie. Gibt ihr ein gewisses Etwas von Unwissenheit; p. 218, 16 (N 26) Verjüngung. Kleiderwechsel. Eine solche Verjüngung fügt sich gut zu dem aus Claudel adaptierten (s. o.) Motiv einer den Trojanischen Krieg durchschlafenden Helena, insofern Aithra dann fingieren konnte, die schlafende Helena sei – im Gegensatz zum Phantom – eben nicht gealtert. Nach anderen Konzepten sollte die Verjüngung offenbar auch auf Menelaos ausgedehnt werden: SW XXV 2 p. 225, 3 (N 37); p. 228, 32 (N 46). Letzlich tat Hofmannsthal aber wohl gut daran, dieses ganze Motiv aus der endgültigen Fassung zu verbannen. Denn die geniale Primitivität der bei Claudel inaugurierten Lügengeschichte liegt gerade darin, daß Menelaos, wenn er dem Betrug glaubt, sich mit einem Mal gezwungen sieht, eine ä u ß e r l i c h u n v e r ä n d e r t e R e a l i t ä t neu zu interpretieren, nämlich hinter einer u n v e r ä n d e r t e n H e l e n a plötzlich eine unschuldige Frau zu sehen. Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, s. v. «Doppelgänger», Stuttgart5 1999, 97. Vgl. SW XXV 2 p. 31, 7–10: Heimlich da sorgten die Götter um dich (sc. Menelaos)!/ In die Arme legten sie ihm (sc. Paris)/ Ein Luftgebild, ein duftig Gespenst,/ Womit sie narren die sterblichen Männer –. Vgl. Beyer-Ahlert 169 und die Erläuterungen a.a.O. 562 f. zu SW XXV 2 p. 31, 7 ff. Ferner SW XXV 2 p. 36, 32 ss. (Aithra und ihre Schwestern als Hüterinnen von Helenas Schlaf). Eine frühere Alternativfassung scheint darauf hinausgelaufen zu sein, daß Helena die Zeit des Trojanischen Kriegs als Nonne in einem Tempel zubrachte und dort schlafend zu einer Statue erstarrte, vgl. SW XXV 2 p. 219, 16–18 (N 27); hierzu Beyer-Ahlert 169 und die Erläuterungen 593 f.
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realistischer psychologischer Rekonstruierbarkeit (Euripides) in die Sphäre einer zauberhaften Märchenwelt versetzt. Kennzeichnend für das Verhältnis Hofmannsthals zu Claudel sind aber andererseits auch tiefgreifende Unterschiede in der grundsätzlichen konzeptionellen Ausrichtung des jeweiligen Stücks: Während Hofmannsthal ein durchaus ernstes Drama 63 mit dem Problem der Beziehung zwischen Helena und Menelaos nach dem Trojanischen Krieg im Mittelpunkt verfaßt, handelte es sich bei Claudels ‹Protée›, wie schon der Anschluß an die antike Gattung des Satyrspiels zeigt, um eine Farce, die den antiken Mythos in eine Aura des Lächerlichen taucht. Die einzige Hauptperson, die der Zuschauer einigermaßen sympathisch finden kann, ist die von Claudel neugeschaffene Gestalt Brindosier in ihrem verständlichen Bestreben, möglichst schnell aus Naxos wegzukommen. Die übrigen Hauptpersonen werden alle im Lauf des Stückes getäuscht, und in keinem Fall erweckt die Täuschung Mitleid, weil sie jeweils immer durch die Eitelkeit der getäuschten Person begünstigt wird: Menelaos zeigt sich gleich bei seinem ersten Auftritt als Prahlhans, da er sagt, ihm könnten nicht einmal die Götter etwas vormachen 64, welche Selbsteinschätzung im Verlauf des Stückes gründlich widerlegt wird: Am Ende kehrt er, wie Proteus hervorhebt, mit einer vermeintlichen Helena und bocksartigen Wesen, die er für deren Diener hält, nach Griechenland zurück, um sich dort der Lächerlichkeit preiszugeben 65. Proteus selbst möchte aus Eitelkeit seiner Insel Helena einverleiben und geht daher auf Brindosiers Plan ein, doch am Ende verliert er sowohl seine Insel als auch Helena und steht völlig blamiert da66. Schließlich wird Helena als eine dümmlich-eitle Frau dargestellt, die am Anfang immer nur denselben Satz (Je suis Hélène) spricht 67 und am Schluß durch den Hinweis auf die vielen nach Naxos angetriebenen modischen Kleider in grotesker Weise bei ihrer Eitelkeit gepackt und so dazu bewegt wird, statt Brindosier auf dem öden Eiland zurückzubleiben 68. Neben diese kritische Zeichnung der herkömmlichen mythischen Personen, die sämtlich von Brindosier lächerlich gemacht werden, tritt nun aber eine nicht minder kritische Wendung gegen die mythische Voraussetzung der ganzen Geschichte, nämlich den Trojanischen Krieg: Als Menelaos von der Richtigkeit der ihm von Brindosier aufgetischten Phantom-Geschichte überzeugt ist, beschwört er Brindosier (die vermeintliche Helena), ja niemandem die (vermeintliche) Wahrheit, der Trojanische Krieg sei nur um ein Phantombild geführt worden, zu erzählen, da dies seinem Ansehen als Kriegsheld abträglich sein könne 69. Die allgemein geglaubte Version von der ehebrecherischen und kriegsverursachenden Helena, die bei Euripides nur mühsam durch die – wenigen bekannte und unglaubliche – Wahrheit in Frage gestellt werden kann, muß bei Claudel als eine für den Kriegshelden Menelaos lebenswich-
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Der leichte, operetten-, lustspiel- bzw. komödienhafte Charakter des Stückes wird nur in den frühen Phasen der Arbeit an der ‹Aegyptischen Helena› von Hofmannsthal hervorgehoben, bis ca. Anfang 1924, vgl. die Zeugnisse SW XXV 2 p. 461, 28; p. 464, 4 s.; p. 466, 30 s.; p. 468, 6 s.; p. 477, 19–22; p. 478, 33 s.; ferner Lenz 43 f.; Beyer-Ahlert 160 f. Die Konzeption des ‹Tragikomischen› nutzbar zu machen für die Endfassung der ‹Aegyptischen Helena› sucht Srdan Bogosavljevic, Die Ägyptische Helena: Die Überwindung des Tragikomischen, in: Hofmannsthal-Forschungen Band 8, Freiburg 1985, 17–28. Théâtre II 309–311. Théâtre II 352. Théâtre II 351 f. Théâtre II 312. Théâtre II 341 ff. Théâtre II 347.
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tige Propagandalüge aufrechterhalten werden70. Der um ihre moralische Rehabilitation ringenden Helena des Euripides tritt bei Claudel ein um die Konservierung seines Kriegsruhms besorgter Menelaos gegenüber.
d. Die Auseinandersetzung Hofmannsthals mit Euripides Damit dürften die wichtigsten dramatischen Quellen Hofmannsthals behandelt sein. Auf dieser Grundlage kann jetzt etwas ausführlicher auf das Verhältnis des Hofmannsthalschen Stücks zum Euripideischen eingegangen werden. Interessanterweise berührt Hofmannsthal in seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen über die ‹Aegyptische Helena› nur sein Verhältnis zu Euripides: In einem fingierten Gespräch mit Strauss erklärt er ausführlich die Art seiner Euripidesrezeption71, erwähnt aber mit keinem Wort Claudel als sein Vorbild. Ähnlich verhält sich auch Strauss bei einem Interview über die ‹Aegyptische Helena› im Aufführungsjahr: Er erläutert kurz – freilich erst, nachdem der Fragende die Rede auf Euripides gelenkt hat –, daß Hofmannsthal die «Idee des Gespenstes» aus der Euripideischen Helena übernommen habe (er spricht von einem «nur gestreiften Motiv») und antwortet dann auf die Frage «Alles wesentliche ist also die Erfindung Hofmannsthals?» mit den Worten «Jawohl. Es ist dabei merkwürdig, daß gerade dieser psychologisch sehr interessante Stoff seit so und soviel tausend Jahren niemals von einem Dichter behandelt worden ist»72, eine Aussage, die an Claudels ‹Protée› glatt vorbeigeht. Offenbar sollte Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› nur in der klassisch-antiken Wirkungslinie des Euripides gesehen werden, und die politische Stimmung zwischen Österreich bzw. Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg73 dürfte ein Übriges dazu getan haben, Claudel als Quelle zu verschweigen. Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch in einer brieflichen Äußerung Hofmannsthals selbst vom 23. September 1928 gegenüber dem damals 19 Jahre jungen späteren Musikkritiker Robert Breuer (1909–1996), der zu dieser Zeit in seiner Matura-Arbeit den Elektra-Stoff bei Sophokles und Hofmannsthal/ Strauss verglich: «Für Ariadne und Helena gibt es weder eine Quelle, noch Vorlagen. Ganz im Allgemeinen ruht diese Episode der Aegyptischen Helena auf einer Aenecdote aus dem Helena-Mythos, welche der Helena des Euripides zugrunde liegt. Aber die Wendung des Motives ist eine ganz andere, der Zusammenhang ein äusserst loser …»74. Ganz entsprechend äußert sich Hofmannsthal auch in einem Brief vom 27. Mai 1928 gegenüber dem klassischen Philologen Werner Jaeger (1888–1961)75. 70
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Eine diesem Gedanken Claudels punktuell recht nahekommende Menelaos-Konzeption Hofmannsthals begegnet in einer Notiz (SW XXV 2 p. 301, 26 s., N 65): Menelas Furcht: Wenn das Phantom nichts war – was war dann sein Leben – und der ganze Krieg? SW XXXI p. 219, 16 ss. SW XXV 2 p. 531, 19 ss. Vgl. etwa das Zeugnis SW XXV 2 p. 545, 15 ss., wonach Hofmannsthal den Franzosen Paul Géraldy (nach dessen Darstellung) im Dezember 1929 begrüßt haben soll mit den Worten: «Sie sind der erste Franzose, dem ich seit dem Kriege die Hand zu drücken vermag». Vgl. auch (mit anderen Zeugnissen) Beyer-Ahlert 548 Anm. 200. SW XXV 2 p. 539, 22 ss. SW XXV 2 p. 529, 32 ss. Hofmannsthal bat in diesem Schreiben Jaeger um eine philologische Würdigung der ‹Aegyptischen Helena› in ihrem «Verhältnis zur Antike». Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) sollte sich der Aufgabe annehmen (vgl. dessen Briefwechsel mit Hofmannsthal, SW XXV 2 p. 536 s.). An die Stelle dieser für die ‹Antike› geplanten Arbeit trat schließlich ein Nachruf auf Hofmannsthal, vgl. BeyerAhlert 530 Anm. 183.
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Über den Inhalt dieser neuen «Wendung» wird Hofmannsthal etwas konkreter in einem Gespräch mit Paul Stefan, welches in «Die literarische Welt» von 1926 abgedruckt ist: «Die Fabel stammt aus dem trojanischen Sagenkreis, in einer späten Fassung, in der sie auch bei Euripides vorkommt. Doch nehmen die Motive eine völlig andere Wendung, die einem Alten fern gelegen hätte. Der erste Akt löst scheinbar eine tragische Situation, aber im zweiten zeigt sich die Notwendigkeit, den gleichen Konflikt auf höherer Ebene noch einmal zu lösen. Hier darf es nicht mehr, wie im ersten, etwa Zaubertränke geben …» 76. Der in dieser Formulierung Hofmannsthals völlig ausgesparte pragmatisch-dramaturgische Grundzug der «anderen Wendung» des Phantom-Motivs besteht in der Umwandlung des Motivs zu einer durch eine dritte (Brindosier bzw. Aithra) erfundenen Lügengeschichte, und gerade dieses wesentliche dramatische Ingredienz ist, wie oben gezeigt, Claudels ‹Protée› verpflichtet. Das wirklich Neue bei Hofmannsthal besteht demgegenüber in Folgendem: Die Truggeschichte dient nicht etwa – wie bei Claudel – auf der Ebene des äußeren Handlungsgangs dem Vorteil der mythologisch neugeschaffenen Exponentin der Lügengeschichte (Brindosier, die man mit Fug und Recht, wie oben gezeigt, als triumphierende Hauptperson des ‹Protée› ansehen darf) und zieht auch nicht etwa – wie bei dem französischen Dichter – auf der Ebene des vom Autor Intendierten die herkömmlichen Rollen der allesamt düpierten herkömmlichen mythischen Personen ins Lächerliche; sondern sie dient zunächst pragmatisch-äußerlich dem Zweck, die zutiefst gestörte Beziehung zwischen Menelaos und Helena durch Aithras Eingreifen wieder zu normalisieren, und ihr letztliches Scheitern symbolisiert dann im Sinne von Hofmannsthals Intention die Vergeblichkeit eines allzu oberflächlichen psychologischen Verarbeitungsprozesses: Menelaos’ innere Tragik kann eben nicht durch das scheinbar einfache, Helena von Aithra an die Hand gegebene Mittel der Lügengeschichte vom Phantom behoben werden, die darauf hinausläuft, einen problematischen Teil der Vergangenheit einfach zu nihilisieren. Die trojanische Helena setzt sich in der Psyche des Menelaos immer wieder gegen die aegyptische durch, im ersten Akt, indem sich Menelaos nur mühsam von der alten, über zehn Jahre hin gehegten Vorstellung löst, im zweiten, indem sich plötzlich die psychologischen Verhältnisse umkehren und in Menelaos’ Innerem die trojanische Helena zur Wirklichkeit, die aegyptische dagegen zum Phantom wird. Aus diesem psychologischen Hintergrund erklärt sich übrigens auch der äußerliche Unterschied, daß das durch die Lügengeschichte angestrebte Ziel bei Hofmannsthal im Gegensatz zu Claudel nicht erreicht wird. Demnach können wir das wirkliche Neue bei Hofmannsthal praezise scheiden von dem von Claudel Übernommenen: Übernommen ist das pragmatisch-dramaturgische Gerüst, nämlich die Verinnerlichung der Phantomgeschichte und ihre Instrumentalisierung als Truggeschichte durch eine dritte Person (Aithra bzw. Brindosier), tatsächlich neu ist dagegen der Zweck dieser Instrumentalisierung, die nicht mehr dem äußerlich-dramaturgischen Erfolg einer neuen Hauptperson und damit der Destruktion des alten Mythos dient, sondern einer symbolhaften Nachzeichnung der psychologischen Vergangenheitsbewältigung einer Person des ursprünglichen Mythos, nämlich von Helenas Gemahl Menelaos. Pointiert zugespitzt könnte man sagen: Die psychologisierende Verinnerlichung der Phantomgeschichte dient bei Claudel primär noch einem äußeren Zweck, nämlich der trickreichen und trotzdem sympathiewerbenden Intrige Brindosiers, bei Hofmannsthal ist dagegen auch der Zweck der psychologisierenden Neugestaltung mitpsychologisiert. Die wirkliche 76
SW XXV 2 p. 491, 20–25.
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Neuerung Hofmannsthals besteht also weniger in einer «neuen Wendung» des Euripideischen Phantom-Motivs als in dem neuen, psychologisierenden Zweck, den er der schon bei Claudel vorgefundenen Wendung des Motivs ins Innerlich-Psychologische gibt. Daß tatsächlich die psychische Situation gerade des Menelaos den Focus von Hofmannsthals Interesse bildet, wird bewiesen durch eine andere Äußerung des Dichters im Zusammenhang des bereits oben zitierten Gesprächs mit Strauss: Hofmannsthal geht aus von der mythischen Konstante, daß die Ehe zwischen Menelaos und Helena zum mythischen Zeitpunkt des vierten Odysseebuchs wieder intakt war77, und interessiert sich dafür, auf welchem psychologischen Wege es dazu gekommen ist, und besonders, wie Menelaos das Erlebte verarbeitete: «Wie furchtbar gestört mußte seine Seele sein! So viel Schicksal, so viel Verstrickung und Verschuldung – und er war doch nur ein Mensch. Das Edle, Tragische dieser viel verspotteten Figur stand sogleich vor mir.» 78 Aus einem verspotteten Menelaos wird wieder eine ernstzunehmende tragische Figur: Damit wird wohl eher das Verhältnis Hofmannsthals zu Claudel – der natürlich unerwähnt bleibt – beschrieben, wo Menelaos in der Tat, wie oben gezeigt, ein hohler Prahler ist, dessen Düpierung durch die schlaue Brindosier keinerlei Mitleid erweckt, und weniger das zu Euripides, wo die Frage nach Menelaos’ Charakter bis heute in der philologischen Forschung umstritten ist 79. Jedenfalls dürfte sich aus den oben zitierten Selbstzeugnissen Hofmannsthals eindeutig erwiesen haben, daß der Dichter sich in seinen öffentlichen Äußerungen ausschließlich als auf der klassischen Wirkungslinie von Euripides stehend darstellt, während die Erschließung seines genauen Verhältnisses zu dem unmittelbaren Vorgänger Claudel allein dem Interpreten vorbehalten bleibt80. Was nun die konkrete Art seines Verhältnisses zu Euripides anbelangt, so hat sich Hofmannsthal durchaus auch detailliert mit konzeptionellen Grundzügen der griechischen Tragödie auseinandergesetzt: Wiederum im Zusammenhang der fiktiven Unterredung mit Strauss sagt Hofmannsthal explizit, was er als Schwäche des Euripideischen Stücks ansieht: «… wenn um eines Phantoms willen der Trojanische Krieg geführt worden und diese, die ägyptische Helena, die einzig wirkliche ist, dann war der Trojanische Krieg ein böser Traum, und das Ganze fällt in zwei Hälften auseinander – eine Gespenstergeschichte und eine Idylle, die beide nichts miteinander zu tun haben, und dies alles ist nicht sehr interessant» 81. Diese Kritik an dem antiken Stück 82 übersieht die von Euripides vorgenommene Fokussierung auf die psychische Lage einer Helena, die nach Kriegsende im77
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Ob es sich bei der Ehe zwischen Menelaos und Helena tatsächlich um «ein friedliches, von der Sonne bestrahltes Zusammenleben» (SW XXXI p. 218, 5) handelt, wird in moderner Homerforschung bezweifelt, vgl. besonders Markus Janka, Helena und Menelaos: Meister der verstellten Rede. Rhetorik im Gewand homerischer Redepraxis, WJA 25, 2001, 7–26; Janka sucht «Mißtöne» (a.a.O. 23) in dem von Homer gezeichneten Bild dieser Ehe nachzuweisen. Ebenfalls heranzuziehen: Ulrich Schmitzer, Die Bändigung der schönen Helena in Homers Odyssee, Gymnasium 110, 2003, 23–39, der in den tendenziell konträren Erzählungen von Helena und Menelaos über den Trojanischen Krieg gar «eine mit subtilen Mitteln ausgetragene Ehekrise» (a.a.O. 33) sieht. SW XXXI p. 219, 30–33. Vgl. hierzu zuletzt Klaus Lange, Euripides und Homer. Untersuchungen zur Homernachwirkung in Elektra, Iphigenie im Taurerland, Helena, Orestes und Kyklops, Stuttgart 2002 (Hermes Einzelschriften 86), 127–131, der den Menelaos der euripideischen Helena als «eher bedauernswert als lächerlich» (128) ansieht. Vgl. die Doxographie bei Lenz 43 f. Anm. 66. SW XXXI p. 219, 16–22. Vgl. Lenz 29.
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mer noch in Aegypten festgehalten wird und die schmerzhaft erfahren muß, welchen Ruf ihr das Tun ihrer Doppelgängerin eingebracht hat. Für diese Helena ist der Trojanische Krieg eben nicht bloß ein vergangener «böser Traum», sondern ein bedeutender Teil der sie bedrängenden aktuellen Notlage. Ihr Ziel ist nicht nur, sich aus der Bedrängnis durch Theoklymenos zu befreien, sondern auch, nach Griechenland zurückzukehren und den ihr zu Unrecht anhaftenden schlechten Ruf abzulegen. So bildet die momentane psychische Notlage Helenas in ihrem aegyptischen Exil das verbindende Glied zwischen der «Phantom-Geschichte» im ersten und der Rettungsintrige im zweiten Teil der Euripideischen Helena. Eine andere Neuerung Hofmannsthals gegenüber Euripides besteht darin, daß ersterer «innere Erkennungs- und äußere Befreiungshandlung, deren Trennung bei Euripides ihn stört, in der Schlußszene verschachtelt», wie Eva-Maria Lenz 83 formuliert. Die inneren Schwierigkeiten von Helenas Beziehung zu Menelaos werden durch die Reichung des Erinnerungstranks genau in dem Moment bereinigt, in dem die äußere Bedrängnis durch die Häscher des Altaîr am größten ist. Dagegen sind in der Euripideischen Tragödie die Anagnorisishandlung und die Rettungsintrige durch eine Hintereinanderschaltung beider Ereignissequenzen strukturell deutlich voneinander abgesetzt. Eine in der Hofmannsthalschen Vorgehensweise möglicherweise implizierte kompositorische Kritik an dem Euripideischen Stück braucht man keineswegs gelten zu lassen. Denn bei Euripides ist für eine Befreiung Helenas aus ihrer momentanen Notlage ein Gelingen des Fluchtplans nicht weniger notwendig als eine erfolgreiche Anagnorisis. Denn wenn zwar ihre Wiedervereinigung mit Menelaos gelänge, aber der Fluchtversuch scheiterte und die Eheleute, glücklich wiedervereint, in Aegypten umkämen, so bliebe der größte Wünsch Helenas, nämlich sich vor den Augen der Griechen und insbesondere ihrer Familie von der vermeintlichen Schuld zu rehabilitieren, unerfüllt. Dagegen kommt es bei Hofmannsthal ausschließlich auf die Lösung der Beziehungsproblematik zwischen Helena und Menelaos an. Sobald dieser den Erinnerungstrank zu sich genommen, die Schuld der vor ihm stehenden Helena erkannt und ihr dennoch verziehen hat, ist die Problematik des Hofmannsthalschen Stücks eigentlich gelöst, und der Schluß könnte prinzipiell – wenn der glückliche Ausgang nicht mythologisch determiniert wäre – in beliebiger Weise koloriert werden: entweder durch eine Rettung im letzten Augenblick, die dann das glückliche Ende noch verstärkt 84, oder durch einen unmittelbar folgenden Tod der versöhnten Eheleute von den Händen der Häscher Altaîrs, womit dann das glückliche Ende des Beziehungsdramas einen geradezu tragischen Kontrapunkt erhielte. Im ersten Fall würde die innere Handlung durch die äußere reflektiert, im zweiten Fall kontrastiert. Man könnte – etwas polemisch – formulieren, daß die strukturelle Verschachtelung und die damit verbundene Synchronisierung von innerer und äußerer Handlung bei Hofmannsthal ein Ersatz ist für eine innerliche Verbindung zwischen beiden Handlungssträngen, wie sie bei Euripides gegeben ist durch die psychische Notlage der Helena, die sich nur durch ein zweifaches Gelingen – sowohl der Anagnoris als auch der Rettungsintrige – beheben läßt. Übrigens wurde in einer nach Hofmannsthals Tod hergestellten revidierten Textfassung, der sogenannten «Neuen Wiener Fassung», die dramaturgische Verflechtung von Altaîr-Szene, Jagdszene und Trankmischung wieder gelöst 83 84
Vgl. Lenz 29. Vgl. Lenz 29: «die deus-ex-machina-Lösung durch Poseidons Erscheinen als Abglanz des inneren Geschehens».
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und – wie bei Euripides – eine strukturelle Trennung zwischen innerer (Trankmischung ~ Anagnorisis) und äußerer Handlung (Altaîr-Szene, Jagdszene ~ Theoklymenos-Handlung) angelegt85. Zusammenfassend läßt sich das Verhältnis der Hofmannsthalschen Bearbeitung zum Euripideischen Vorbild – mögen die darin implizierten Ausstellungen an Euripides im fiktiven Gespräch mit Strauss explizit formuliert werden oder nicht – wohl am zutreffendsten durch den Begriff des «kreativen Mißverständnisses» charakterisieren. Hofmannsthal konzentriert sich nach eigenem Bekunden86 ganz auf die Frage, auf welche Weise und unter welchen psychischen Voraussetzungen sich das Verhältnis zwischen den beiden Eheleuten nach der gewaltsamen Zurückgewinnung der Helena bis hin zu der im vierten OdysseeBuch geschilderten harmonischen Ehesituation wieder normalisieren konnte 87. Die völlige Absorbiertheit in der dichterischen Rekonstruktion dieser psychischen Entwicklung macht Hofmannsthal fast zwangsläufig blind für den Focus der Euripideischen Konzeption, die psychologisch eben nicht auf die Nachzeichnung der dynamischen Entwicklung einer Beziehung, sondern auf die Rekonstruktion der eher statischen seelischen Situation Helenas zu einem bestimmten mythischen Zeitpunkt und auf die Befreiung aus dieser Notlage angelegt ist. Die Euripideische Helena bangt und hofft mit dem Ziel, daß ihr (1) eine Wiedervereinigung mit Menelaos, (2) eine Rückkehr nach Griechenland und dann vor allem (3) eine Reinigung von dem sie belastenden üblen Ruf als Verursacherin des Trojanischen Kriegs gelingen möge. Dagegen ist die Hofmannsthalsche Helena (1) nicht von Menelaos getrennt, ja sogar durchdrungen von der Überzeugung, daß ihr Menelaos – wie sie ihm – bestimmt ist und sich nie von ihr wird trennen können; (2) sie muß – zumindest solange der Trank des Vergessens bei Menelaos wirkt – eine Rückkehr nach Griechenland fürchten, da durch die Anfeindungen dritter ihre vorläufig ins Lot gebrachte Beziehung zu Menelaos wiederum gefährdet würde, und bittet daher Aithra, sie in einen orientalischen Palmenhain, wo sie niemand kennt, zu versetzen; vor allem aber (3) geht ihr, wie aus ihrer ganzen Koketterie erhellt, das moralische Schamgefühl und die Sorge um ihren guten Ruf – Faktoren, welche ihre Euripideische Vorgängerin auszeichnen und quälen – völlig ab, und ihr einziges Interesse richtet sie auf eine Bereinigung ihres ehelichen Verhältnisses zu Menelaos. Auch äußere Bedrängnisse und Gefahren affizieren sie wenig: Die Bedrohung durch den orientalischen Fürsten – entsprechend der Bedrängnis der Euripideischen Helena durch Theoklymenos – nimmt sie trotz der mehrmaligen Warnungen Aithras und ihrer Dienerinnen kaum wahr88, da sie völlig absorbiert ist in der Vorbereitung des Erinnerungstranks, der ihr Verhältnis zu Menelaos endgültig bereinigen soll. Auch die dem Zuschauer durch Menelaos’ gezücktes Schwert ständig vor Augen stehende Möglichkeit der Tötung Helenas durch ihren Gemahl – ein, wie oben ausgeführt, letztlich aus den Euripideischen Troerinnen stammendes und durch Goethes Faust II vermitteltes Motiv – ficht Helena selbst wenig an, da sie, wie sie schon im ersten Akt bekundet, sich ihrer Wirkung auf Menelaos völlig sicher ist. Daß der 85 86 87
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Vgl. Beyer-Ahlert 187. SW XXXI p. 217, 20 ff. Zu dieser «Leerstelle» in der homerischen Darstellung vgl. jetzt auch Schmitzer (wie Anm. 77) 29: «Es ist allerdings im Rahmen der Odyssee nicht zu erkennen, wie es von hier [vom Raub der Helena durch Paris] zum augenscheinlich erneut versöhnlich-harmonischen Zusammenleben am Hof von Sparta gekommen ist». SW XXV 2 p. 65, 37 ff.
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Schöpfer einer derartigen, nur auf ihre Beziehung zu Menelaos fixierten Helena die komplexe psychische Notsituation der Euripideischen Helena als einendes Moment des griechischen Stückes nicht zu würdigen weiß, erscheint einigermaßen leicht nachvollziehbar.
5. Die Rezeption Hofmannsthals bei Ernst Bloch: a. Blochs Deutung des Mythos der doppelten Helena Auf der Grundlage der bis hier gewonnenen Ergebnisse bleibt nun die rezeptive Verwertung von Euripides und Hofmannsthal im 16. Kapitel von Ernst Blochs (1885–1977) Werk ‹Das Prinzip Hoffnung› 89 zu untersuchen. Bloch sieht hinter dem Mythos von der «doppelten Helena» einen tieferen allgemein-menschlichen Sinn, nämlich die Duplizität von Hoffnung und Erfüllung, oder, genauer gesagt, die Differenz zwischen erhofftem und verwirklichtem Gegenstand. Wenn eine Hoffnung lange Zeit intensiv gehegt wird, so entwikkelt nach Bloch der erhoffte Gegenstand im hoffenden Subjekt ein Eigenleben, was dazu führt, daß im Falle der Verwirklichung in der Regel eine Differenz empfunden wird zwischen dem Gegenstand, wie er erhofft wurde und wie er bei der Verwirklichung erlebt wird: Die Verwirklichung reicht nicht vollständig an die Hoffnung heran, d. h. das Subjekt hatte ursprünglich mehr erhofft, als es bei der Verwirklichung erfährt. Trivialpsychologisch läßt sich das von Bloch beobachtete Phänomen mit der allgemein-menschlichen Erfahrung in Verbindung bringen, daß die hoffnungsvolle Vorfreude mitunter im Nachhinein als schöner empfunden wird denn das von ihr antizipierte Ereignis. Im Mythos von der «doppelten Helena» entspricht nun nach Bloch die trojanische Helena, welche Menelaos zehn Jahre lang zurückzugewinnen suchte, der Hoffnung bzw. dem vom hoffenden Subjekt antizipierten Gegenstand. Die aegyptische Helena, die Menelaos schließlich zurückerhält, korrespondiert mit der Erfüllung bzw. mit dem im Moment der Erfüllung wahrgenommenen Gegenstand. Sogar dem Feuerstreif, in den sich die trojanische Helena (das Phantom) schließlich auflöst, wird von Bloch eine metaphorische Bedeutung zugewiesen, nämlich der im Moment der Verwirklichung überbleibende Rest der Hoffnung, d. h. das Stück des durch die Hoffnung antizipierten Gegenstands, welches nicht durch den bei der Erfüllung empfundenen Gegenstand abgedeckt wird, gewissermaßen ein «utopischer Bildrest». Im folgenden soll gezeigt werden, daß die von Bloch den Figuren der trojanischen bzw. der aegyptischen Helena beigelegten metaphorischen Bedeutungen keineswegs der Euripideischen Tragödie, geschweige denn einem «Ursinn» des Mythos entspringen, sondern sich ausschließlich aus der – Bloch vorschwebenden – Hofmannsthalschen Version ergeben. Zunächst gäbe es nach dem Text der Euripides-Tragödie kaum einen Anhalt, hinter der trojanischen Helena die Hoffnung des Menealos und hinter der aegyptischen die Verwirklichung dieser Hoffnung zu sehen. Denn bei Euripides spielt das sexuelle Verlangen des Menelaos nach einer Wiedervereinigung mit Helena überhaupt keine Rolle. Ganz anders bei Hofmannsthal. Seine Helena skizziert die seelische Situation des Menelaos während des Trojanischen Kriegs folgendermaßen:
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Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Band 5. Das Prinzip Hoffnung Kapitel 1–32, Frankfurt a. M. 1959, 204–223.
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Als du lagest im Zelt Und nach mir zücktest Die leeren Arme – Das waren furchtbare Jahre90.
(vgl. Bloch 212: Nur die trojanische, nicht die ägyptische Helena zog mit den Fahnen, hat die Sehnsucht der zehn utopischen Jahre in sich aufgenommen …). Menelaos zeigt sich in seiner Replik erschrocken, wie genau Helena in ihrer Koketterie seine psychische Lage zu dieser Zeit getroffen hat91. Nur dieser Hofmannsthalsche Menelaos, der sich verzehrt in hoffender Sehnsucht nach Helena, von dem aber bei Euripides keine Spur zu finden ist, konnte Bloch dazu veranlassen, hinter der von ihm ersehnten trojanischen Helena die Vorstellung eines vom Subjekt erhofften Gegenstands zu sehen. Die Vorstellung eines im Feldlager schmachtenden Menelaos, der nachts nach Helena seine Arme ausstreckt, paßt im übrigen trefflich zu der Schlußstrophe eines im selben Kapitel von Bloch (a.a.O. 208) zitierten Gedichts des österreichischen Lyrikers Nikolaus Lenau (1802–1850). Dieser erinnert sich, wie er, von seiner Geliebten durch eine Schiffsreise getrennt, im Seesturm eine Vereinigung mit ihr erträumte: Wie sehn’ ich mich so bang hinaus Wieder in das dumpfe Flutgebraus! Möchte immer auf den wilden Meeren Einsam nur mit deinem Bild verkehren!
Die Ähnlichkeiten zwischen dem im Seesturm «mit dem Bild» seiner Geliebten «einsam verkehrenden» Liebhaber mit dem nach Helena «die leeren Arme zückenden» Menelaos liegen auf der Hand. Offenbar waren es solche Assoziationen, die Bloch dazu verleiteten, die trojanische Helena als Personifikation der Hoffnung anzusehen. Lenaus Gedicht ist im übrigen für Bloch unmittelbarer zu verwerten, da in der ausgeschriebenen Strophe explizit gesagt wird, daß sich das (inzwischen zu seiner Geliebten zurückgekehrte) dichterische Ich in die frühere Situation der Hoffnung zurücksehnt, die also etwas die spätere Verwirklichung Transzendierendes an sich gehabt haben muß. Eine entsprechende Empfindung des Menelaos läßt sich aus den oben ausgeschriebenen Worten Hofmannsthals nicht ableiten; sie muß von Bloch erst aus dem weiteren Verlauf des Dramas herausinterpretiert werden, wo Menelaos später versucht (freilich wieder nur in der Hofmannsthalschen Version, s. u.), sich der Konstruktion einer aegyptischen Helena durch Aithra zu widersetzen und an seinem alten Wunschbild der trojanischen Helena festzuhalten. Aber auch die Blochsche Identifikation der aegyptischen Helena mit der verwirklichten Hoffnung ergibt nur unter den Voraussetzungen des Hofmannsthalschen Stücks Sinn. Denn hier bekundet Menelaos vor Aithra ausdrücklich, er habe sich mit Helena seit ihrer Rückeroberung niemals mehr vereinigt:
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SW XXV 2 p. 19, 17–20. Vgl. Claudel (Théâtre II 340) Souviens-toi de ces nuits où tu étais seul, et moi entre les bras du Ravisseur (exzerpiert von Hofmannsthal, SW XXV 2 p. 213, 28 s., N 18). Dasselbe Motiv wird in einer anderen Konzeptfassung einer Helena in den Mund gelegt, die nicht – wie in der oben ausgeschriebenen Partie – souverän ihre Koketterie ausspielt, sondern – zu einem späteren Zeitpunkt des Dramas – quälende Eifersucht auf das – von Menelaos für wahr geglaubte – Phantom empfindet (SW XXV 2 p. 374, 39–375, 3, Teilreinschrift 6 H 4 ): Waren die Nächte/ Im bitteren Zelt-/ War es ein Traum,/ Wie du ihrer begehrtest!
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Im Zelte nicht Noch auf dem Schiffe Berührte ich sie; So hab ich gelobt92.
Die während der zehn Kriegsjahre herbeigesehnte Vereinigung findet erst statt, nachdem Aithra dem Menelaos die Truggeschichte von der «aegyptischen Helena» eingeredet hat, und zwar in dem dramaturgisch durch die Aktpause übersprungenen Handlungszeitraum. Helena beginnt den zweiten Akt neben dem auf dem «Pfühl» noch schlafenden Menelaos mit den Worten: Zweite Brautnacht! Zaubernacht Überlange!93
Erst diese ausschließlich bei Hofmannsthal gegebenen Voraussetzungen ermöglichten es Bloch, die aegyptische Helena als Symbol der Verwirklichung lange gehegter Hoffnung zu interpretieren. Schließlich läßt sich sogar die Blochsche Ausdeutung des beim Verschwinden des Phantoms zurückbleibenden Feuerstreifs als «utopischer Bildrest» (vgl. Bloch 212: Es bleibt der leuchtende Rest des Traums, es bleibt ein Streif feurige Luft) aus einer bestimmenden Partie Hofmannsthals ableiten. Die Ausdruckweise Blochs stammt aus dem Hofmannsthalschen Referat des Euripideischen Stückes, welches in seinem 1928 publizierten Essay dem fiktiven Gespräch mit Strauss vorangestellt ist: Aber in diesem Augenblick kommt ein Bote und meldet wirklich, auf dem Schiff habe sich das Wesen, das man für Helena hielt, in ein Streifchen feuriger Luft aufgelöst94.
Dagegen ist bei Euripides von einem solchen Feuerstreif beim Verschwinden des Phantoms keine Rede. Ein vergleichbares Motiv begegnet erstmals bei Claudel, wo die Euripideische Selbstauflösung des Phantoms ihr Echo findet in der Streitszene zwischen Brindosier und Helena; Menelaos fordert Brindosier, die angeblich echte Helena, auf, ihre Rivalin anzuhauchen: Souffle dessus un peu pour voir si elle va disparaître c o m m e l a v a p e u r d e l ’ e a u q u i c o m m e n c e à b o u i l l i r 95.
Hofmannsthal hat sich mit seiner Ausdrucksweise im Euripidesreferat wiederum an eine – ihrerseits Claudel verpflichtete – Partie seiner eigenen Dichtung angelehnt, und diese ist es auch, die Blochs metaphorische Ausdeutung erklärt. Als Menelaos gegenüber Aithra bekundet hat, Helena noch nicht berührt zu haben, erwidert die Zauberin:
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93 94 95
SW XXV 2 p. 33, 24–27. Vgl. auch p. 15, 15–18 (Menelaos) Dein Lager war/ Zu unterst im Schiff,/ Meines droben – unter den Sternen –/ Zehn Nächte lang. Beyer-Ahlert 564 verweist in den «Erläuterungen» auf Goethe Faust II 3, 8535–8537 Denn schon im hohlen Schiffe blickte mich der Gemahl/ Nur selten an, auch sprach er kein erquicklich Wort./ Als wenn er Unheil sänne saß er gegen mir, wo allerdings das Motiv sexueller Enthaltung nicht im Mittelpunkt steht. SW XXV 2 p. 43, 8–10. Zum Motiv vgl. Beyer-Ahlert 567. SW XXXI p. 219, 10–13. Théâtre II 336.
Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung›
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Wohl dir, wie ein Pilz96 Mit Asche gefüllt, Sie wär dir zerstoben, So wie sie nun Zerflog mit Kichern, Ein Streifchen Nebel!97
Das Euripideische Motiv der Selbstauflösung des Phantoms, welches Hofmannsthal in seiner Frühfassung wohl aus dramaturgischen Gründen in ein «Selbstbegräbnis» abwandelte, wird hier nicht nur (in den letzten drei Versen) in die Lügengeschichte Aithras aufgenommen (wo es nicht gespielt werden muß und deshalb in seiner ursprünglichen Form unproblematisch ist), sondern auch (in den ersten drei Versen) in einen völlig neuen sachlichen Kontext versetzt, nämlich in die irreale Fallsetzung, daß Menelaos versucht hätte, mit der (vorgeblich) falschen Helena nach der Einnahme Trojas in sexuellen Kontakt zu treten: Wenn er dies unternommen hätte, hätte sich die Erscheinung nach Aithras Worten genau so aufgelöst, wie es tatsächlich der Fall war bei dem Trugbild, welches Menelaos auf Aithras Insel zu töten meinte. Dieses eindrucksvolle Motiv eines weiblichen Trugbilds, welches sich bei sexueller Annäherung in Rauch auflöst, hat offenbar Blochs metaphorische Ausdeutung des – bei Euripides nicht vorhandenen – Feuerstreifs bestimmt. Wenn die trojanische Helena die menschliche Hoffnung ist, so ist der Versuch, sich mit ihr zu vereinigen, gewissermaßen der menschliche Versuch, Hoffnung zu aktualisieren. Wenn der Mensch dies versucht, so bleibt – nach Blochs System – von der ursprünglichen Hoffnung nur jenes «Feuerstreifchen» übrig, nämlich der «utopische Bildrest», der bei der Verwirklichung der Hoffnung nicht eingelöst wird. In Anbetracht des somit sich ergebenden Resultats, daß die Blochsche metaphorische Mythendeutung bis ins Detail der Hofmannsthalschen Handlungsentwicklung und Motivik verpflichtet ist und demgegenüber zur Euripideischen Gestaltung keine näheren Beziehungen aufweist, ist es um so pikanter, daß Bloch sich gleich am Anfang seiner Auseinandersetzung mit dem Mythos recht herabsetzend über Hofmannsthals Dichtung ausspricht (210 f.): Ein Drama des Euripides befaßt sich mit diesem eigentümlichen, ja wesenhaft fragmentarischen Stoff; er hätte in der Folge einen Shakespeare verdient und hat nicht einmal einen Hebbel gefunden. Zuletzt hat Hofmannsthal ein Libretto daran gesetzt, das ohne die Straußsche Musik wenig bedeutet, dazu einen Essay.
Vor dem Hintergrund dieser Herabsetzung ist es geradezu als ein rezeptionsgeschichtliches Paradoxon zu beurteilen, daß Blochs metaphorische Mythenausdeutung nach dem Gesagten niemals hätte zustandekommen können, wenn ihm nicht die Hofmannsthalsche Bearbeitung vorgeschwebt hätte 98. 96 97
98
Zum Motiv vgl. Beyer-Ahlert 564 f. SW XXV 2 p. 33, 29–34 (zahlreiche Autorenvarianten in einer Niederschrift des ersten Aufzugs, 1 H1 , SW XXV 2 p. 265, 10 ss.). Eine frühere, prosaische Fassung lautet (SW XXV 2 p. 229, 6–8, N 47): (Aithra) Hast du sie geküsst- (Menelas) Nicht berührt- (Aithra) Wohl dir sie wäre wie ein Sodomsapfel in Luft zerstäubt-. Lenz 32 sieht – im Gegensatz zu den oben gewonnenen Ergebnissen – hinter der Polemik Blochs gegen Hofmannsthal eine inhaltliche Ablehnung der ‹Aegyptischen Helena›: Bloch «muß von seinem Blickpunkt aus Hofmannsthals «Ägyptische Helena», in der die Zukunft nur gewonnen wird nach der Überwindung
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Thomas Gärtner
b. Das Nachleben von Eur. Hel. 593 bei Claudel, Hofmannsthal und Bloch Abschließend soll nun noch auf das Nachleben eines bestimmten Verses der Euripideischen Helena bei Hofmannsthal und Bloch eingegangen werden. Es handelt sich um Vers 593 [sc. T9 ] « , # Κ,
mit dem Menelaos (vor dem Erscheinen des Dieners, der die Selbstauflösung des Phantoms berichtet) die Auseinandersetzung mit der auf ihrer Authentizität beharrenden echten Helena abbricht. Daß Hofmannsthal dieser Vers besonders vor Augen stand, erhellt zunächst aus einer nachgelassenen Notiz vom 25. Dezember 1919, die den Euripidesvers in der Übersetzung Der Wucht der dortigen Leiden glaub ich mehr als dir99
zitiert, und zwar nach einer Zählung, die von der heute üblichen abweicht, als «v. 556». Diese abweichende Zählung ermöglicht es, die Quelle der metrischen Übersetzung zu bestimmen: es handelt sich um die zweisprachige Ausgabe Hartungs von 1851100, wo der Vers in der Tat die Nummer 556 hat und nur mit einer kleinen Abweichung übersetzt wird: Der Last der dortigen Leiden glaub’ ich mehr als dir.
Mit diesem Vers hat Hofmannsthal während seiner – durch zahlreiche Notizen nachvollziehbaren – Vorarbeiten an der ‹Aegyptischen Helena› in mannigfacher Weise experimentiert 101. In einer Notiz vom 24. August 1923 – wo die Konzeption des Phantoms als «vergangene Helena» eine besondere Rolle spielt – wird der Ausspruch Helena in den Mund gelegt: Der Wucht vergangner Leiden glaubst du mehr als mir!102
In einer Positur besonderer Eifersucht gegen das Phantom kann Helena (in einer Aufzeichnung vom 15. Oktober 1923) sogar sagen: Die Wucht vergangner Leiden liebst du mehr als mich103.
Bei anderer Gelegenheit (nicht genau datiert) erhält wieder Menelaos den Vers in einer Auseinandersetzung mit Helena: der Vergangenheit, nicht durch Verdrängung des von neuer Hoffnung überholten alten Wirklichen, ablehnen, da sie nichts seiner Betrachtungsweise Förderliches erbringt. Er tut dies summarisch mit leichtem Zynismus und verschmäht mit wegwerfender Handbewegung eine geistige Auseinandersetzung, die ihn mit der Gestaltung ihm fremder Gedanken bekannt gemacht hätte». Diese Betrachtungsweise übersieht jedoch, daß – wie oben gezeigt – gewisse motivische Eigenheiten der Hofmannsthalschen Version Bloch erst dazu anregten, den Helena-Mythos in seine philosophischen Betrachtungen einzubeziehen. 99 SW XXV 2 p. 205, 16 s. (N 1). 100 Euripides’ Helene. Griechisch mit metrischer Uebersetzung und prüfenden und erklärenden Amerkungen, Leipzig 1851. 101 Vgl. die Erläuterungen von Beyer-Ahlert 578 zu SW XXV 2 p. 205, 16 s., wo die freie Weiterverarbeitung SW XXV 2 p. 375, 23–26 fehlt. Zur grundsätzlichen Bedeutung des Euripidesverses für die Hofmannsthalsche Konzeption vgl. auch Lenz 28. 102 SW XXV 2 p. 222, 23 (N 35). 103 SW XXV 2 p. 298, 34 f. (N 63).
Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung›
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Der Wucht vergangener Leiden glaub ich mehr als dir104.
Die Eifersuchtskonzeption wird frei weiterbearbeitet (unter Aufgabe der metrischen Form des Trimeters) in einer Teilreinschrift des zweiten Aufzugs, wo Helena geifert: Sprich du von dir und ihr! und verhehle mir nichts! Sonst glaube ich dass du in deinem Herzen Die Wucht der vergangenen Leiden mehr liebst Als mich und diese strahlende Stunde!105
In einer anderen Notiz, die nur aus einer Stichwortsammlung besteht, wird dagegen ein Stück aus der Hofmannsthalschen «Urversion» von 1919, wo nur Hartungs «Last» durch «Wucht» ersetzt ist, aufgegriffen: all der dortigen Leiden Wucht106.
Schließlich hat Hofmannsthal den Vers in seinem Euripidesreferat von 1928 (im Essay vor dem fiktiven Gespräch mit Strauss) nochmal zitiert, und zwar explizit als ein dem griechischen Tragiker – bzw. dessen Menelaos – gehörendes «schönes wahres Wort», erneut in Anlehnung an Hartung, aber auch erneut mit weiteren Abweichungen: Der Wucht erlittener Leiden trau ich mehr als dir107.
(Die Beseitigung des Adjektivs «dortig» dient offenbar – wie auch in den anderen zitierten Bearbeitungen – vor allem dem Zweck, die im griechischen liegende erläuterungsbedürftige Deixis zu eliminieren.) In letztgenannter Fassung übernimmt Bloch (a.a.O. 211) den Euripidesvers; in seiner Argumentation dient der Vers als Beweis dafür, daß die Deutung, die Bloch dem wörtlich zitierten Euripidesreferat Hofmannsthals anschließt, auch durch die antike Autorität Euripides selbst gedeckt sei. Die Worte, die der Versübersetzung bei Bloch vorausgehen, lauten folgendermaßen: Der Wechsel (sc. von trojanischer zu aegyptischer Helena) ist zu jäh, der Idol-Entzug zu umfangreich, als daß Menelaos ohne weiteres daran glauben kann, ja eben: glauben will. Zehn Jahre Fixierung an die trojanische Helena stehen der ägyptischen im Wege; a u c h E u r i p i d e s läßt derart den Menelaos sagen: …
Die Worte des Menelaos sollen also nach Blochs Euripides-Verständnis den Unwillen des Subjekts (Menelaos) belegen, die verselbständigte Hoffnung (die trojanische Helena) zugunsten der Verwirklichung (der aegyptischen Helena) aufzugeben. Gegen diese Euripides-Deutung Blochs hat sich bereits der maßgebende Kommentator des Euripideischen Stücks, Richard Kannicht108 (I 67 f.), zu Recht gewehrt; er argumentiert, «daß die Aporie nicht (oder doch nicht primär) aus der psychologischen Schwierigkeit erwächst, Trauminhalt und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen, sondern aus der erkenntnistheoretischen, Schein und Wahrheit zu unterscheiden. Die von Bloch thematisierte Schwierigkeit ist also 104
SW XXV 2 p. 302, 5 (N 65). Dieselbe Fassung (mit vergangner statt vergangener) auch auf einem anderen Notizzettel, SW XXXI p. 523, 11 (N 3). 105 SW XXV 2 p. 375, 23–26 (6 H4). 106 SW XXV 2 p. 393, 13 s. (N 83). 107 SW XXXI p. 219, 8 s. 108 Vgl. oben Anm. 9.
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in der hier thematisierten nur als deren subjektive Ausprägung mitgegeben». Wichtig ist auch der Hinweis von Eva-Maria Lenz (a.a.O. 30) auf die Stellung der Äußerung des Menelaos im Geschehensablauf des Euripideischen Stücks: Menelaos spricht die Worte zu einem Zeitpunkt, als ihm die Selbstauflösung des – bis jetzt völlig unverdächtigen – Phantoms noch nicht berichtet worden ist. Unter dieser Voraussetzung kann er der Argumentation Helenas eigentlich keinen Glauben schenken. Es handelt sich bei Euripides eben doch um ein erkenntnismäßig bedingtes Nicht-Glauben-Können und nicht, wie Bloch will, um ein psychologisch motiviertes Nicht-Glauben-Wollen. Kannicht scheint nun in der Euripides-Deutung Blochs die Vereinseitigung eines dort «mitgegebenen» Gesichtspunkts zu sehen. Ähnlich geht auch Eva-Maria Lenz (32) von einer originären Euripides-Kenntnis Blochs aus: «Bloch frischt seine Euripideskentnisse, wie Zitate zeigen …, offensichtlich aus Hofmannsthals Helenaessay auf». In Anbetracht des oben herausgearbeiteten Grads der Abhängigkeit der Blochschen Deutung von Hofmannsthals Drama dürfte eine etwas andere Auffassung der Wahrheit näherkommen: Bloch hat nicht etwa den Euripides im Lichte seiner eigenen Philosophie etwas einseitig ausgedeutet, sondern er hat einfach ein (produktives) Mißverständnis Hofmannsthals weitertransportiert. Denn in dessen Essay schließen sich an das Euripideszitat folgende Worte an: In der Tat, diese Lösung so furchtbarer Verschuldungen [Helenas] muß ihm [Menelaos] allzu billig erscheinen109.
Demnach meint Hofmannsthal, der Euripideische Menelaos formuliere in dem Vers seine innerliche – bewußt oder unbewußt zustandegekommene – Abneigung gegen die Annahme einer Existenz der aegyptischen Helena. In Wirklichkeit jedoch ist der Euripideische Menelaos an diesem Punkt der Anagnorishandlung einfach noch nicht so weit, daß er die Wahrheit der Worte seiner Gesprächspartnerin realisieren könnte. Es bedarf noch des Berichts über das Verschwinden des Phantoms; vorher k a n n Menelaos den Worten der echten Helena einfach noch keinen Glauben schenken. Diese Fehldeutung (der Begriff im strengen philologischen Sinne) Hofmannsthals kommt in begreiflicher Weise dadurch zustande, daß der Dichter seine eigene Version der Euripideischen überstülpt. Denn im Hofmannsthalschen Drama ist es in der Tat eine geradezu verzweifelte, jedoch durchaus bewußte und willensmäßige Verweigerung, die Menelaos zunächst Aithras Lügengeschichte entgegenbringt: Furchtbares Weib! Deine Worte sind furchtbar Und stärker als alle trojanischen Waffen! Du raubst mir sie [Helena] völlig110 Mit zaubernder Rede Aus lächelndem Mund111.
Diese Worte bilden Hofmannsthals finale Umdichtung des vielfach in Variationen der Hartungschen Übersetzung (oder zumindest in engen Anlehnungen an diese) zitierten Euripidesverses « , # Κ. Gemeinsam ist dieser Umdich109
SW XXXI p. 219, 9 s. Frühere Fassung in Prosa (SW XXV 2 p. 229, 9 s., N 47): Deine Worte sind furchtbar <er> als alle Waffen von Troja. Du raubst sie mir völlig. 111 SW XXV 2 p. 33, 38–34, 5. 110
Hugo von Hofmannsthals ‹Aegyptische Helena› und Ernst Blochs ‹Prinzip Hoffnung›
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tung und dem griechischen Original, daß die Wirkung bloßer Worte der wuchtigen Kraft faktischer Ereignisse im Trojanischen Krieg entgegengesetzt wird. Ein äußerlicher Unterschied (der diese Nachdichtung übrigens auch von sämtlichen oben aufgezählten Variationen unterscheidet) besteht dagegen darin, daß dieses Motiv nicht mehr in der Auseinandersetzung des Menelaos mit einer auf ihrer Authentizität beharrenden Helena steht, sondern sich Menelaos hier an die Exponentin der Truggeschichte, nämlich die Zauberin Aithra, wendet. Eine genaue Interpretation fördert jedoch darüber hinaus auch tieferliegende Unterschiede bzw. die Tendenzen der Umdichtung zutage: Während sich bei Euripides noch die Kraft der Fakten durchsetzt, sind bei Hofmannsthal die Worte Aithras erfolgreich. Der Gegensatz wird bei Hofmannsthal wesentlich geschärft durch die alliterierenden Begriffe Worte und Waffen, welche die bei Euripides eher logische Antinomie zwischen … « und formal zuspitzen. Während bei Euripides nur von die Rede ist, also Menelaos als vor Troja sowohl Handelnder als auch Leidender gedacht ist, stellt die Hofmannsthalsche Bildersprache, die Aithras Worte schärfer erscheinen läßt als die gegen Menelaos gerichteten trojanischen Schwerter, Menelaos als nur Leidenden dar. Und in der Tat ergibt sich dieser leidensbereite Menelaos ja auch wenig später der Lügengeschichte Aithras, während er bei Euripides Helenas Argumentation noch regen Widerstand leistet und erst später, nach dem Botenbericht, unter dem Einfluß der berichteten Faktizität Helenas Argumentation nachgibt. Die zutiefst ironische Beziehung der Hofmannsthalschen Umdichtung auf das Euripideische Original liegt darin, daß bei Hofmannsthal Menelaos einer erfundenden Lügengeschichte gegen seinen inneren Widerstand nachgibt, während er sich bei Euripides einer objektiv zutreffenden Argumentation infolge mangelnder Information in rational verständlicher Weise widersetzt. Bei Hofmannsthal muß man sich die Worte des Menelaos als pathetische Äußerung einer tiefen Verzweiflung und Zerrissenheit gesprochen denken; bei Euripides sind sie die kühl artikulierte Schlußfolgerung einer logischen Operation112, ausgesprochen von einem Menelaos, der sich von der vermeintlich falschen Helena bereits förmlich verabschiedet hat (591) – wobei die rationale Gefühllosigkeit Menelaos wieder eine Kontrastfolie bildet, vor der sich die tragische Verzweiflung Helenas (594–596) abheben soll, der scheinbar trotz der glücklichen Ankunft ihres Gemahls die ersehnte Heimkehr nach Griechenland versperrt bleiben wird. Es leuchtet einigermaßen ein, daß ein Dichter, der sich wie Hofmannsthal jahrelang in seine eigene Konzeption eines sich gegen die Lügengeschichte sträubenden Menelaos vertieft hat, die abweichende Konzeption eines Vorbilds (Euripides), wonach Menelaos Helena einfach noch nicht glauben kann, nicht mehr recht zu würdigen weiß – Ähnliches wurde bereits oben in der Hofmannsthalschen Auseinandersetzung mit Euripides mehrfach nachgewiesen. So kam es, daß Hofmannsthal dem Euripideischen Menelaos ein ähnliches ablehnendes Willensurteil über die Phantom-Geschichte (allzu billig) zuschreibt, wie es in der Dichtung der Elfenchor formuliert hatte: O Schönste der Schönen [sc. Helena], So billig willst Du Die Götter versöhnen?113 112
Vgl. Lenz 27: «Ihn [sc. den Euripideischen Menelaos] verwundert das Phänomen der doppelten Helena lediglich als logische Unmöglichkeit; es verwirrt nicht sein Bewußtsein wie Aithras fiktive Geschichte vom Helenaphantom das des Menelas. Den logischen Widerspruch löst Menelaos scharfsinnig rational». 113 SW XXV 2 p. 37, 17/19 f.
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(wiederum zitiert im fiktiven Gespräch mit Strauss: … dieser Ausgang ist ihnen [den Elfen] zu billig114). Daß die Äußerung des Elfenchors wörtlich übereinstimmt mit dem inneren Willensurteil, welches Hofmannsthal dem Euripideischen Menelaos unterschiebt, kann übrigens nicht überraschen, da der Elfenchor, wie Hofmannsthal wenig später im fingierten Dialog mit Strauss bekundet, konzipiert ist als «eine Ausdrucksform für die Kritik des Unterbewußtseins»115. All diese Kommentare passen also im Sinne der Hofmannsthalschen Dichtung bestens zusammen, sie passen eben nur nicht zum Euripideischen Menelaos, dessen vermeintliche innere Haltung hier völlig in den Farben Hofmannsthals gezeichnet und verzeichnet wird. Der finalen Hofmannsthalschen Umdichtung von Eur. Hel. 593 (Deine Worte sind furchtbar/ Und stärker als alle trojanischen Waffen!) kann man eine Partie bei Claudel gegenüberstellen, wo ebenfalls der argumentativen Verfechtung einer aegyptischen (strenggenommen müßte man sagen: naxischen) Helena die Macht des Faktischen, d. h. die Ereignisse des Trojanischen Kriegs, entgegengehalten wird. Bereits im ersten Akt hat sich Menelaos der schlauen Argumentation Brindosiers zu erwehren, welche die Authentizität der von ihm mitgeführten Helena in Zweifel zieht: Auch hier handelt es sich also um eine Auseinandersetzung zwischen Menelaos und der Exponentin der fingierten Lügengeschichte, in welcher der in Rede stehende Euripidesvers seine Spuren hinterlassen haben dürfte: (M.): C’est Hélène. (B): Quelles preuves en as-tu? (M): Quelles preuves? Je n’en veux d’autres que Troie en cendres et deux cent mille hommes égorgés! Et ces dix ans de patience forcenée, l’un après l’autre, faits de jours que j’ai tous comptés! Et ma nièce Iphigénie mise à mal, et l’attente suprême dans le ventre du Cheval de bois! Et tu dis que ce n’est pas Hélène!116
Der, wie oben ausgeführt, mit äußerst prahlerischen Zügen ausgestattete Menelaos Claudels kann es nicht unterlassen, das Euripideische « in eine ausladende Aufzählung von Kriegsleistungen umzusetzen. Dabei rückt er sowohl seine großen kriegerischen Leistungen als auch die von ihm auf sich genommenen Entbehrungen ins Licht, berücksichtigt also sowohl die aktiven als auch die passiven Konnotationen, welche in dem griechischen Begriff mitgegeben sind (während sich der Hofmannsthalsche Menelaos in analogem Zusammenhang nur als passives Opfer der trojanischen Waffen darstellte). Ähnlich wie bei Hofmannsthal tritt auch hier dem Euripideischen Nicht-Glauben-Können ein gehöriges Maß an willensmäßiger Ablehnung an die Seite (vgl. Je n’en v e u x d’autres), die sich jedoch psychologisch wesentlich anders erklärt als bei Hofmannsthal: Der Claudelsche Menelaos beharrt auf seinem Status als Kriegsheld; insofern kann und will er den Glauben an die Echtheit der trojanischen Helena, mit der seine bombastisch ausgeführten Kriegstaten unlöslich verquickt sind, nicht aufgeben. Kehren wir nun endgültig wieder an das Ende der Rezeptionskette zurück. Warum zitiert Bloch eigentlich wörtlich – aus Hofmannsthals Essay – Eur. Hel. 593? Zum einen sicher, um – wie oben herausgestellt – seiner Argumentation die Autorität einer antiken Mythenbearbeitung zu geben. Zum anderen hätte er aber auch, selbst wenn ihm die Hofmannsthalsche Umdichtung dieses Euripideswortes (Deine Worte sind furchtbar/ Und 114
SW XXXI p. 224, 11 s. SW XXXI p. 226, 5 s. 116 Théâtre II 313. 115
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stärker als alle trojanischen Waffen!) vorgeschwebt haben sollte – zu den vielen Variationen des Hartungschen Übersetzungsverses in den Notizen Hofmannsthals hatte Bloch natürlich ohnehin keinen Zugang –, mit dieser Fassung nichts anfangen können. Denn in ihr ist die aegyptische Helena siegreich gegen die trojanische, wohingegen es in Blochs philosophischem System auf das Überragende der trojanischen (der Hoffnung) gegenüber der aegyptischen (der Erfüllung) ankam. Insofern wäre für Bloch die Hofmannsthalsche Umdichtung als Mottovers seines philosophischen Programms geradezu sinnwidrig gewesen. Bloch half sich, indem er den formal zu seinem System passenden Euripidesvers (der ja die – vorläufige – Überlegenheit der trojanischen Helena bekundet) adaptierte und mit einer Fehldeutung verband, die ihm sowohl aus dem Drama Hofmannsthals (dort als kreative Umsetzung) als auch aus dessen Essay (dort als – im philologischen Sinne fehlerhafte – psychologisierende Ausdeutung von Menelaos’ Äußerung) geläufig war. Ein Beweis, daß Bloch von der Euripideischen Helena mehr berücksichtigt hätte als den einen (aus Hofmannsthal zitierten) Vers 593 und die ihm durch Hofmannsthals dichterische Neugestaltung und seinen Essay vermittelten Informationen, wird sich schwerlich erbringen lassen.
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Peter Habermehl
Peter Habermehl
Phaeton am Lichtberg Der Heliogabal-Roman des Louis Couperus* «Die Biographie des Heliogabalus Antoninus, der auch Varius genannt wurde, hätte ich nie und nimmer zu Papier gebracht, auf daß niemand von einem solchen Römerkaiser erfahre – hätte nicht eben dieses Reich bereits Caligulas und Neros und Vitelliusse erlebt. Doch da dieselbe Erde ebenso Giftkräuter hervorbringt wie Getreide und andere gute Gaben, ebenso Schlangen wie zahmes Getier, so wird der umsichtige Leser für sich selbst abwägen, wenn er einerseits von Augustus, Trajan, Vespasian, Hadrian, Antoninus Pius, Titus und Mark Aurel liest und andererseits von solchen ungeheuerlichen Zwingherren. (…) Die wurden aber ermordet, am Haken geschleift, ja als Tyrannen gebrandmarkt, und nur widerwillig nennt man ihre Namen.»1 Mit diesen offenen Worten beginnt die Heliogabal-Vita der Historia Augusta. Sie stehen stellvertretend für die durchweg schlechte, ja vernichtende Presse, die Kaiser Heliogabal 2 von Anfang an die Jahrhunderte hindurch begleitet hat – bis zum 20. Jh., wo bezeichnenderweise zum ersten Mal genuine Neugier, ja Sympathie für den «gekrönten Anarchisten» (so Antonin Artaud 1934) sichtbar werden – und nirgendwo klarer denn im Roman von Louis Couperus.3 Bleiben wir aber zunächst bei Heliogabal und der spannenden Frage, wie ein junger Mann, der als pubertierender Jüngling auf den Kaiserthron gelangt, gerade einmal 14 Jahre alt, und der kaum vier Jahre später, Kinn und Wangen zart beflaumt, von seinen eigenen
1* 1
2
3
Für seine aufmerksame Lektüre und wertvollen Hinweise bin ich Samuel Zinsli (Zürich) verbunden. Historia Augusta, vit. Hel. 1,1–3. Zitate aus der vit. Hel. stammen aus der Übersetzung von Ernst Hohl (Historia Augusta. Eingel. u. übers. von E. Hohl, 2 Bde., Zürich 1976 u. 1985), sind jedoch des öfteren bearbeitet. So soll er in diesem Aufsatz der Einfachheit halber heißen. Er hieß zunächst Varius Avitus (wohl auch Bassianus), als Kaiser dann M. Aurelius Antoninus. Den Namen seines Gottes (vgl. Anm. 58) verleihen ihm erst spätere Quellen wie Aurelius Victor oder die vit. Hel. (wie S. Zinsli anmerkt, läßt sich allerdings nicht ganz ausschließen, daß er schon von Zeitgenossen nach seiner Gottheit benannt wurde). An seine Schimpfnamen erinnert Cassius Dio 79(80),1,1: «Falscher Antoninus oder auch der Assyrer oder Sardanapal oder gar Tiberinus – letzteren Namen erhielt er nämlich, als nach seiner Ermordung die Leiche in den Tiber geworfen worden war». Gerade in der modernen Kunst hat Heliogabal Spuren hinterlassen. Neben einer Anspielung in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890; in Kap. 11) sind zu nennen Jean Lombard, L’agonie (Roman 1888); Stefan George, Algabal (Gedichtzyklus 1892); Antonin Artaud, Héliogabale ou l’anarchiste couronné (Essay 1934); Maurice Duplay und Pierre Bonardi, Héliogabale (Roman 1935); Luigi Malerba, Interviste impossibili (Gespräch 1997); Durs Grünbein, Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde (Gedicht 1999). 2001 kamen zwei Heliogabal- Opern auf die Bühne, von Thomas Jonigk / Peter Vermeersch und von Matthias Pintscher. Bereits 1910 wurde die Oper Héliogabale von Déodat de Sévérac uraufgeführt. Eine historische Ehrenrettung versuchte John Stuart Hay, The amazing emperor Heliogabalus, London 1911.
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Soldaten bestialisch massakriert wird, soviel glühende Verachtung wecken, soviel unversöhnlichen Haß entfesseln konnte. 4 Die Quellen geben uns dazu Auskunft. Doch auch wenn sie sich in seinem Fall als vergleichsweise ergiebig erweisen: sie sind höchst parteiisch. Lassen wir den mageren archäologischen Befund (Bautätigkeit, Porträts, Münzen, Inschriften) sowie verstreute literarische Nachrichten einmal beiseite, so sind es drei Historiker, denen die Nachwelt fast alle Kenntnisse über den jungen Kaiser verdankt: dessen beiden griechischen Zeitgenossen Cassius Dio und Herodian, sowie der eingangs zitierten Historia Augusta.5 Wer diese drei Schilderungen einer kaiserlichen Existenz nebeneinander legt, ahnt etwas von der Faszination, die ein Steckenpferd des 19. Jh. auf Philologen und Historiker alter Schule noch heute ausübt: die Quellenkritik. Sie tut umso mehr Not, als gerade für die Biographen Heliogabals, wie einige neuere Studien scharfsichtig herausgearbeitet haben, bewährten Vorurteilen zum Trotz eigene Gesetze gelten. So ist die Hochachtung einzuschränken, die gerade Cassius Dio unter Historikern genießt. Die entscheidenden Jahre, die Heliogabal in Rom verbrachte, weilte er im Osten des Reiches; daß er den Kaiser je persönlich zu Gesicht bekam, ist eher unwahrscheinlich. 6 Vor allem aber beendet er sein Werk zu Lebzeiten seines Gönners Severus Alexander, Heliogabals Nachfolger, der auf eine objektive Darstellung des verhaßten Cousins wohl kaum Wert legte. 7 Das rückt die vielen pikanten Anekdoten über Heliogabal, mit denen Cassius Dio seine Geschichte würzt, in ein neues Licht. 8 Herodian wiederum gilt im Allgemeinen als unpräziser, unseriöser, blasser. Das mag ansonsten zutreffen; doch gerade seinen Seiten über Heliogabal kommen zwei entscheidende Vorteile zugute. Zum einen beendet er sein Werk nach dem Tod des Severus Alexander († 235); politische Rücksichten mußte er keine nehmen. Vor allem aber stammte Herodian wie Heliogabal aus Syrien; mit den Realien des Sonnenkultes war er vertraut wie kein zweiter Historiker der Epoche.9 So verdanken wir ihm einzigartige und in der Regel verläßliche Nachrichten über den wohl entscheidenden Aspekt der Herrschaft Heliogabals: dessen Priestertum und religiöse Mission. Die Heliogabal-Vita der vielgeschmähten Historia Augusta schließlich, von gewichtigen Stimmen in Bausch und Bogen als fiktives «Machwerk» oder unseriöses «Pamphlet» verdammt, darf inzwischen in ihrer ersten, biographischen Hälfte als getreue Wiedergabe einer verlorenen älteren Quelle gelten, möglicherweise der Heliogabal-Vita des Marius Maximus.10 4
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Erste Orientierung zu Heliogabal bietet K. Gross, Art. Elagabal, in: RAC 4 (1959) 987–1000. Neben der dort genannten Sekundärliteratur vgl. C. Chad, Les dynastes d’Emèse, Beirut 1966; E. Kettenhofen, Die syrischen Augustae in der historischen Überlieferung, Bonn 1979, ferner Anm. 18. Gewarnt sei vor A. Golfetto, Rom im Bann des Sonnengottes, Taunusstein 2002. Die einschlägigen Partien im Werk des Ammianus Marcellinus sind leider verloren. Vgl. F. Millar, A study of Cassius Dio, Oxford 1964, 168. Auf diesen Punkt macht Pietrzykowski [Anm. 18] 1809 aufmerksam. Einen aufschlußreichen Hinweis liefert die vit. Hel. (8,5): Heliogabal «zwang in der Folge etliche Schriftsteller, schändliche oder vielmehr ruchlose Geschichten über (Diadumenos’) ausschweifendes Leben zu verbreiten». – Cassius Dios feindselige Seiten über Heliogabal spiegelten zuverlässig «zeitgenössische Gerüchte und Vermutungen»; so Millar [Anm. 6] 170. Vgl. Pietrzykowski [Anm. 18] 1809. Vgl. vit. Hel. 11,6. So die insgesamt überzeugende Studie von T. D. Barnes, Ultimus Antoninorum, in: A. Alföldi (Hrsg.), Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1970, Bonn 1972, 53–74; vgl. allgemein
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Mit anderen Worten: alle drei Zeitzeugen bieten authentische Nachrichten über Heliogabal; doch überall sind auch fiktive Einsprengsel zu gewärtigen. Der einzige Weg zu einem verläßlichen Urteil bleibt der unvoreingenommene Vergleich aller Nachrichten miteinander. Die Früchte eines solchen Vergleichs, die gesicherten Fakten, die sich aus den drei ‹Synoptikern› herausschälen lassen, seien kurz vorgestellt, damit im Folgenden die Trennlinie klarer wird, hinter der Mutmaßung und Fiktion beginnen. Heliogabal entstammt einem altehrwürdigen Geschlecht von Sonnenpriestern aus dem syrischen Emesa. Seine Großtante, Julia Domna, eine hochgebildete Frau mit einer ausgesprochenen Neigung für Fragen der Religion (auf ihre Anregung hin schrieb Philostratos einen der gewaltigsten religiösen Texte der Kaiserzeit, die Vita des Apollonios von Tyana), war verheiratet mit Kaiser Septimius Severus und gebar diesem die Söhne Caracalla und Geta.11 Mit ihr am Hof lebte lange Jahre ihre Schwester Julia Maesa samt ihren beiden Töchtern Julia Soaemias und Julia Mamaea – letztere die Mutter des Severus Alexander, erstere die Mutter Heliogabals.12 Über das Kind wissen wir wenig. Es wächst in Rom auf, im Palast, umhegt von Großmüttern, Tanten, Müttern. In den Blick der Geschichte gerät Heliogabal erst, als nach Caracallas Ermordung der Clan der Frauen heimkehrt nach Emesa, wo der Knabe, der «in blühender Jugend stand und von Aussehen der anmutigste unter allen Gleichaltrigen war», ja «den schönsten Dionysosbildern» gleicht, sein Priesteramt antritt. Wir sehen ihn in prächtige Kultgewänder gehüllt «die Opfer vollziehen und nach Barbarenart um den Altar herumtanzen, begleitet von Flöten, Syringen und mancherlei anderen Musikinstrumenten».13 Den Soldaten der bei Emesa stationierten legio III Gallica entgeht das orientalische Spektakel sowenig wie sein ansehnlicher Protagonist.14 Und die ehrgeizige und immens reiche Großmutter Maesa, die sich zurücksehnt ins Herz der Macht – in den Kaiserpalast zu Rom – erkennt die Gunst der Stunde: die Unzufriedenheit der Soldaten mit Kaiser Macrinus, dem Mörder Caracallas, und ihr Auge auf den jugendschönen Sonnenpriester im Großen Tempel von Emesa. So streut sie im Feldlager die (wohl falsche) Nachricht aus, Heliogabal sei in Wahrheit ein heimlicher Sohn Caracallas, eine Nachricht, die bald – reiche Handgelder an die Soldaten tun ein Übriges – auf fruchtbaren Boden fällt.15
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A. R. Birley, Marius Maximus, in: ANRW II 34.3, 1997, 2678–2757. Kritisch F. Paschoud, Propos sceptiques et iconoclastes sur Marius Maximus, in: ders. (Hrsg.), Historiae Augustae Colloquium Genevense, Bari 1999, 241–254. Nach dem Tod ihres Mannes (211) mußte sie miterleben, wie Caracalla den jüngeren Bruder in ihren Armen ermorden ließ. Die beiden Töchter stammen aus ihrer Ehe mit dem Konsul Julius Avitus. Soaemias war verheiratet mit dem hohen Beamten und späteren Senator Varius Marcellus aus dem syrischen Apamea, Mamaea mit dem Procurator Gessius Marcianus aus dem syrischen Arce. Christliche Quellen erwähnen Mamaeas Begegnung mit dem bedeutendsten christlichen Theologen der Zeit, Origenes (bes. Eus. hist. eccl. 6,21,3 f.; vgl. in Couperus’ Roman S. 338). Herodian 5,3,7 f. (die Übersetzung stammt aus F.L. Müller, Herodian. Geschichte des Kaisertums nach Marc Aurel, Stuttgart 1996). Herodian 5,3,8 f. Herodian 5,3,10–12 (Caracalla wäre damals etwa 15 Jahre alt gewesen). – Unwahrscheinlich hingegen liest sich die (fragmentarisch überlieferte) Version des Cassius Dio (78(79),31), dem zufolge ein ansonsten unbekannter Eutychianus die Revolte anzettelt, noch dazu «ohne Wissen» von Heliogabals Großmutter oder Mutter.
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Die Dritte Gallische Legion ruft den vermeintlichen Abkömmling Caracallas zum Kaiser aus; ein Aufruhr erfaßt die syrischen Legionen, der wie ein Flächenbrand durch die Provinz fegt. Als Kaiser Macrinus den Rebellen endlich entgegenzieht, kommt es unweit von Antiocheia am 8. Juni 218 zum Entscheidungskampf. Wenn wir Cassius Dio glauben dürfen, scheint Macrinus der Sieg schon sicher; die Reihen der Rebellen beginnen zu wanken – «wären nicht Maesa und Soaemis (…) von ihren Fahrzeugen gesprungen, hätten sich auf die fliehenden Soldaten gestürzt und unter Wehklagen die Männer von weiterer Flucht abgehalten.» Ja etwas Wundersames geschieht: «Man sah, wie der Knabe selbst das kleine Schwert (…) zückte und auf einem Pferde und in einem Galopp, wie ihn nur eine Gottheit einzugeben vermochte, entlangsprengte, als wollte er sich auf die Feinde stürzen.» 16 Macrinus ergreift die Flucht – und «verliert mitsamt dem Leben auch die Herrschaft».17 Der neue Hof bezieht zunächst in Nikomedia Quartier. Es dauert ein gutes Jahr, bis im Spätsommer 219 der mit Spannung und Sehnsucht erwartete junge Kaiser in Rom eintrifft und eine Regentschaft beginnt, die dank der plastischen Ausmalungen der Historiker bald Legende war. Am meisten an Heliogabal fasziniert, dann zusehends irritiert hat die Zeitgenossen offenbar seine leidenschaftliche Mission für seinen Gott, die radikale Verpflanzung des syrischen Sonnenkultes nach Rom. Seinem Sonnengott – verkörpert im heiligen Stein von Emesa, dem schwarzen Meteor, den er eigens mitgeführt hatte – läßt er auf dem Palatin einen gewaltigen Tempel errichten; alsbald erklärt er ihn zur obersten Gottheit des Reiches, alle übrigen Götter zu seinem Hofstaat.18 Die Beharrlichkeit, mit der dieser Jüngling unbeirrt und offenbar aus innerstem Antrieb sein selbst gesetztes Ziel verfolgt (Ähnliches erlebt Rom erst wieder unter christlichen Kaisern), läßt an einen anderen großen religiösen Reformator denken, Echnaton, der gut eineinhalb Jahrtausende früher (um 1350 v. Chr.) den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott ausruft – zugegebenermaßen radikaler als Heliogabal (von dem wir auch keinen «Großen Sonnengesang» besitzen).19 Zugleich war Heliogabal offensichtlich blind für die ungeschriebenen Gesetze der römischen Welt, deren Herr er so jung geworden war. In welchem Maß die (in römischen Augen) monomane Hingabe an seinen Glauben und sein orientalischer Lebensstil insgesamt ihn gerade der Hauptstütze seiner Macht entfremdet haben, der Armee, blieb ihm offenbar bis zuletzt verborgen. Und die unbedachte Offenheit, mit der er seinen Haß auf seinen Cousin Alexander pflegte, den dessen Mutter Mamaea weitsichtig auf die antagonistische Rolle des klassischen ‹römischen› Prinzen eingeschworen hatte (eine Rolle, die ihm die wachsende Wertschätzung der Soldaten eintrug), und in dem Heliogabal (letztlich zurecht) seinen entscheidenden Rivalen sah, brachte ihm schließlich den Tod. 16
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Cassius Dio 78(79),38,4. Die Zitate stammen in der Regel aus der Übersetzung von O. Veh (Cassius Dio, Römische Geschichte. Bd. V, übers. von O. Veh, Zürich 1987). Herodian 5,3,1. Vgl. zu diesem Thema v. a. R. Turcan, Héliogabale et le sacre du soleil, Paris 1985 (1997), der freilich den Quellenwert der vit. Hel. überschätzt, sowie M. Pietrzykowski, Die Religionspolitik des Kaisers Elagabal, in: ANRW II 16.3 (1986) 1806–25, und M. Frey, Untersuchungen zur Religion und zur Religionspolitik des Kaisers Elagabal, Stuttgart 1989. – Zum heiligen Stein vgl. Herodian 5,3,5. Ein verwandtes Phänomen ist der «Hadschar al Aswad» («der schwarze Stein») in der Kaaba zu Mekka. Solche monotheistische Bestrebungen deutet einmal die vit. Hel. 6,7 an – im Widerspruch zu ihren übrigen Auskünften und allen anderen Quellen (zurecht skeptisch bereits W. Hartke, Römische Kinderkaiser, Berlin 1951, 300).
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Statt nun im Detail auf die Vita Heliogabals einzugehen (wir werden ihr im Roman ausführlicher begegnen), möchte ich stellvertretend bei zwei Fragen verweilen, die sich bei der Lektüre der biographischen Nachrichten unweigerlich stellen. Wer hat in jenen gut zweieinhalb Jahren in Rom eigentlich die Regierungsgeschäfte geführt? Daß Heliogabal selbst es war, läßt sich nach der Quellenlage fast ausschließen; für die Bürde der Staatslenkung hat er sich – gewissermaßen nach dem Lustprinzip – allenfalls bei Gelegenheit erwärmen können. Aber auch seine Großmutter Maesa zeichnete wohl nicht verantwortlich, obgleich ihre Stimme sicherlich Gewicht besaß.20 Die Frage läßt sich nicht bündig beantworten; doch der Verdacht liegt nahe, daß das Geschick Roms in jenen Jahren in den Händen mehr oder minder abenteuerlicher (aber nicht notwendig unfähiger) Gestalten lag, die sich der besonderen Aufmerksamkeit des jungen Herrschers empfohlen hatten, etwa des früheren Pantomimen P. Valerius Comazon, der von Heliogabal zum praefectus praetorio ernannt wurde und mehrfach zum praefectus urbi, oder des praefectus urbi Fulvius.21 Offenbar eine Art Graue Eminenz von beträchtlichem Einfluß war Aurelius Zoticus.22 Von Hierokles wird noch die Rede sein. Auf das Konto dieses Kreises dürften die vielen Hinrichtungen gehen, die Heliogabal zu Beginn seiner Regentschaft angeblich befohlen hat. 23 Nach dem Sturz des Macrinus scheint es zu einer Säuberung unter dessen engsten Parteigängern gekommen zu sein – eine Gelegenheit, die Anhänger des neuen Regimes dankbar nutzten, um manche alte Rechnung zu begleichen. Andere mußten offenbar sterben, weil man ihnen zu großen politischen Einfluß oder Ehrgeiz unterstellte, oder – so angeblich im Fall eines gewissen Bassus – weil sie eine schöne Gattin besaßen, auf der ein wohlgefälliges kaiserliches Auge ruhte. Für Aufsehen sorgte der Tod des Gannys. Dieser alte Vertraute Maesas und Lebensgefährte der Soaemis hatte an der Erziehung Heliogabals mitgewirkt und sich in den Kämpfen gegen Macrinus ausgezeichnet. Er mußte angeblich sterben – noch dazu von Heliogabals eigener Hand –, weil er den Kaiser «zu zwingen versuchte, anständig und vernünftig zu leben». 24 Weitaus spannender ist aber eine andere Frage: Was ist dran an dem orientalischen Luxus, in dem Heliogabal den Quellen zufolge schwelgte, und an der schwülen Sinnlichkeit, mit der er sich allen erdenklichen Lüsten hingab? Oder, um nochmals die Historia Augusta zu zitieren: «Wer vermöchte einen Herrscher zu ertragen, der sich durch alle Öffnungen
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Daß Maesa manche politischen Entscheidungen getroffen oder zumindest mitgetragen hat, steht außer Frage; die treibende politische Kraft war sie kaum. Doch einem verläßlichen Urteil stehen die Quellen im Weg. Die vit. Hel. betont ihre Macht; lt. Cassius Dio 79(80),15,4 und Herodian 5,5,5 f. hingegen hatte ihr Einfluß auf Heliogabal Grenzen. Als sie sieht, wie Heliogabals Stern sinkt, wechselt sie rasch entschlossen die Seiten und protegiert ihren jüngeren Enkel Severus Alexander. Zu Comazon vgl. Cassius Dio 79(80),4,1 f. und 21,2; W. Eck, in: Der Neue Pauly 12/1 (2002) 1107 f. Für Comazons Talente spricht freilich der Umstand, daß er 218 bereits eine Legion in Syrien kommandierte – und selbst unter Severus Alexander noch kurzzeitig als praefectus urbi diente. Zu Fulvius vgl. Cassius Dio 79(80),21,1. – Insgesamt darf man bei den höheren severischen Amtsträgern wohl von einer großen Kontinuität ausgehen, die einen reibungslosen Fortgang der Staatsgeschäfte gewährleistete. vit. Hel. 10,2–5 (bei Cassius Dio 79(80),16,1 ff. bleibt Zoticus eine kaiserliche Laune). Vgl. Barnes [Anm. 10] 60. Cassius Dio 79(80),3,4–7,1 (vgl. Herodian 5,6,1). Cassius Dio 79(80),6. Daß unsere einzige Quelle zu Gannys diesen bewußt als eine Art ‹Seneca› stilisiert, sollte vor allzu großer Vertrauensseligkeit warnen.
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seines Körpers Lust verschaffte? Selbst ein solches Tier wäre völlig unerträglich!» 25 Sind sie historische Wahrheit, oder Teil des Propagandakriegs gegen einen mißliebigen Kaiser? Mißtrauisch stimmen zumindest die zahlreichen Invektiven, die jene Erzählungen rahmen: die dezidierten Zweifel an Heliogabals ‹Männlichkeit›, die süffisanten Verweise auf die feminine Natur seiner Neigungen. Anders als die Historia Augusta, die vorgibt, sich «auf das Kapitel Luxus zu beschränken» und die «vielen anstößigen Einzelheiten» des kaiserlichen Liebeslebens zu übergehen (vit. Hel. 18,4), möchte ich genau diesen Punkt beleuchten – zumal unsere Epoche hier gelassener urteilen dürfte als frühere Zeiten. Auch wenn es nicht ganz leicht fällt, einem gerade der Pubertät entwachsenden Jüngling auch nur einen Bruchteil der Ausschweifungen zuzutrauen, die Cassius Dio und die Historia Augusta ihm andichten – daß jene Begebenheiten einen historischen Kern besaßen, läßt sich nach Lage der Quellen kaum bezweifeln. Eine gewisse Schwäche für das weibliche Geschlecht verdankte Heliogabal wohl schon seinem Heranwachsen in den kaiserlichen Frauengemächern. Von ihr zeugen im wesentlichen seine (oftmals freilich politisch oder religiös motivierten) Eheschließungen, u. a. mit Julia Cornelia Paula, einer Dame edelsten römischen Blutes, oder seine Verbindung mit Aquilia Severa, der Hohepriesterin der Vesta, die er frisch aus dem Heiligtum ins Brautgemach führt – ein von den Zeitgenossen erbittert kommentiertes Sakrileg, das offenbar kultisch begründet war.26 Aber als das, was man jenseits des Rheins maliziös einen omnivore nennt, hatte Heliogabal vor allem ein unübersehbares Faible für das eigene Geschlecht. Für den Römer von Stand keine anstößige Neigung – solange die Rollen gewahrt bleiben. Doch horribile dictu erwärmte Heliogabal sich offenbar vornehmlich für den passiven Part. 27 Gut dokumentiert ist seine mésalliance mit dem blonden karischen Wagenlenker Hierokles, der dem Kaiser angeblich bei einem Rennen auffiel und ohne Umschweife in den Palast gerufen wurde. «Dort aber fesselte er durch seine nächtlichen Leistungen Sardanapalus mehr denn je und stieg zu ungeheurer Macht auf, so daß er über einen noch größeren Einfluß als der Herrscher selbst verfügte.» 28 Nicht über jeden Zweifel ist aber die Nachricht erhaben, Hierokles zuliebe sei Heliogabal auch außerhalb der kaiserlichen Schlafgemächer als Dame des Hauses aufgetreten: «Er ließ sich (…) Herrin und Königin nennen, beschäftigte sich mit Wollarbeiten, trug zuweilen ein Haarnetz und schminkte sich die Augen mit Bleiweiß und Ochsenzunge.» Und wie ernst dürfen wir Cassius Dio noch nehmen, wenn er uns vor Empörung ächzend sadoma25
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vit. Hel. 5,2. S. Zinsli weist darauf hin, daß hier offenbar Suetons Nero zitiert wird (29 suam quidem pudicitiam usque adeo prostituit, ut contaminatis paene omnibus membris eqs.), den bereits Eutrop in seiner Charakterisierung Heliogabals aufgreift (brev. 8,22 probris se omnibus contaminavit; inpudicissime et obscenissime vixit). – Ins gleiche Horn stößt Cassius Dio 79(80),13,2: «Seinen Körper gebrauchte er, um damit viel unerhörte Dinge zu vollführen oder mit sich geschehen zu lassen, Dinge, die niemand weder zu sagen noch anzuhören vermöchte.» «Ich habe diesen Schritt getan, damit göttliche Kinder hervorgehen aus mir, dem obersten Priester, und aus ihr, der obersten Priesterin.» (Cassius Dio 79(80),9,3). Auch wenn es in der Historia Augusta so klingt (vit. Hel. 6,5) – an einen ‹Vestalinnenfrevel›, wie man ihn Catilina (vgl. R. Syme, Sallust, Berkeley 1964, 84. 86) und Nero zuschrieb (Suet. Nero 28,1), ist hier kaum zu denken. – Von insgesamt sechs Ehen berichtet Cassius Dio 79(80),9,4. Daß die klassische Invektive genau auf diesem Punkt so gerne herumreitet (vgl. A. Richlin, The Garden of Priapus, Oxford 1983, passim), macht die Beurteilung der Quellen nicht leichter. Cassius Dio 79(80),14,4–15,4 (Zitat: a. O. 15,2). Die vit. Hel. bestätigt dieses Verhältnis (vgl. Anm. 29).
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sochistischen hardcore serviert: Heliogabal als ‹Gattin›, die sich «immer wieder» von Hierokles «in flagranti» beim Seitensprung mit anderen Männern erwischen und verprügeln läßt – «Mißhandlungen», für die Heliogabal «seinen ‹Gatten› um so heißer liebte und ihn sogar zum Caesar machen wollte»?29 Endgültig ins Reich der Phantasie gehören Anekdoten wie die von einer Aufführung der Parisgeschichte im Palast, bei der Heliogabal sich als Venus nackt und kniend, mit «emporgerecktem Hintern», dem Protagonisten hingegeben habe,30 oder die berühmt-berüchtigte Auskunft, im Auftrag Heliogabals seien «allerorten in Rom», ja im ganzen Reich Talentscouts auf der Suche gewesen nach sog. «Eselsschwänzen» (onobeli), «Kerlen mit starkem Glied», die «sie an den Hof bringen sollten, damit er sich ihrer Vorzüge erfreue».31 Cassius Dios vergnügliche Episode schließlich, Heliogabal sei im nächtlichen Rom als Frau verkleidet durch die Bordelle gezogen, um «die Vorübergehenden mit sanfter und schmelzender Stimme anzulokken» und seine Reize feilzubieten, erinnert nicht von ungefähr an die Verse Juvenals über die Eskapaden der Kaiserin Messalina, Claudius’ unersättlicher Gattin. Mit anderen Worten: es handelt sich um eine nicht eben subtile Anleihe des Historikers beim satirischen Genre.32 Doch es ist höchste Zeit, zu Louis Couperus (1863–1923) zu kommen – einem Autor, der sich bei uns nie recht durchgesetzt hat, in den Niederlanden hingegen zu den Großen der klassischen Moderne rechnet. In seinem umfangreichen Œuvre (die «Gesammelten Werke» umfassen 50 Bände) spielt die Antike eine Schlüsselrolle, in Übersetzungen oder freien Bearbeitungen von Autoren wie Pindar oder Theokrit, Plautus, Petron oder Apuleius, in etlichen Erzählungen, vor allem aber in seinen ‹antiken› Romanen, die sich im Mythos versuchen (Dionyzos, 1904; Herakles, 1913), öfters jedoch historischen Stoffen widmen, mit einer offenkunden Schwäche für orientalische Sujets: 33 Xerxes of de hoogmoed (Xerxes oder Der Hochmut, 1919), Iskander (1920), Antiek toerisme (1911, im Ägypten der frühen Kaiserzeit), De komedianten (1917, im Rom Domitians), schließlich der Roman, der uns hier beschäftigt, und der entstanden ist während eines inspirierten Jahres an der Côte d’Azur: De berg van licht (1905/6).34 29
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Cassius Dio 79(80),14,4 und 15,3 f. Hierher gehört auch die ‹Nachricht›, er habe sich operativ in eine Frau verwandeln lassen wollen (Cassius Dio 79(80),16,7; vgl. a. O. 11,1). Vgl. auch vit. Hel. 6,5: «In Hierokles aber war er so verliebt, daß er ihm – man schämt sich es auch nur zu sagen [man glaubt es der Historia Augusta aufs Wort] – das Glied küßte und erklärte, er begehe die Floralien.» vit. Hel. 5,4. vit. Hel. 5,3 und 8,7. Als erotisches Ungeheuer will ihn auch die Nachricht verkaufen, Heliogabal sei mit allen Ausschweifungen seiner Vorgänger Tiberius, Caligula und Nero vertraut gewesen – und habe deren Exzesse noch übertroffen (vit. Hel. 33,1). Cassius Dio 79(80),13,2–4; vgl. Juv. 6,115–132. Diese Vorliebe könnte eine biographische Wurzel haben. Couperus, in Den Haag als Sohn eines hohen Kolonialbeamten geboren, wuchs in Batavia auf Java auf. – Zu Couperus’ Antikerezeption vgl. R.Th. van der Paardt, in: Der Neue Pauly 15/1 (2001) 1053 f. Louis Couperus, De berg van licht, Amsterdam 1905/1906 (3 Bde.). Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe: Louis Couperus, Heliogabal der Sonnenkaiser. Übers. von Ch. Captijn-Müller und H. Schneeweiß, Berlin 1995. – Sekundärliteratur existiert fast nur auf Niederländisch; vgl. bes. Th. Bogaerts, De antieke wereld van Louis Couperus, 1969; W.J. Lukkenaer, De omrankte staf. Couperus’ antieke werk, Bd. 1, 1989; ferner W. Schäfer und R.A. Zondergeld, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon (hrsg. von W. Jens), Bd. 4, München 1989, 243 f.; W. Wucherpfennig, Die Einsamkeit des Westens. Moderne, Dekadenz und Identität im Heliogabal-Stoff, in: E. Beutner und U. Tanzer (Hrsg.), Literatur als Geschichte des Ich, Würzburg 2000, 154–172.
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Bleiben wir zunächst einmal bei Äußerlichkeiten – nämlich ersten Leseeindrücken. Denn die Lektüre ist durchaus vergnüglich, auch wenn man sie nicht ohne Vorbehalt empfehlen darf (Liebhabern lakonischer Prosa muß man füglich abraten). Couperus hat eine Schwäche für Ekphraseis, lange Beschreibungen – etwa von Gebäuden, Zeremonien, Menschenmassen. Manche von ihnen besitzen ihren Reiz, evozieren Atmosphäre (wenn auch nicht notwendig antike), geben den Figuren und der Handlung Tiefenschärfe. Ab und an gewinnen sie eine verborgene Bedeutung, die das Geschehen fast allegorisch kommentiert. Öfter jedoch ufern sie aus, wirken verwechselbar oder beliebig (was schon die stete Wiederkehr stets gleicher Lieblingsfloskeln belegt), ja scheinen der sterilen Cinemascope-Welt des alten Hollywood entstiegen. Aber auch die Handlung trägt den Roman nicht immer. Manches bleibt holzschnittartig, oder wirkt banal – wenn etwa einen römischen Senator ständig ein Chor schmeichelnder Günstlinge und Klienten umschwebt, die wie Papageien jedes seiner Worte aufpicken und nachbeten – ein unfreiwilliger running gag, der die Geduld des Lesers bald auf die Probe stellt. Dann stößt er wieder auf Szenen von fesselnder Dramatik, etwa die fulminante Kultfeier als Ouvertüre des Romans, oder die furiose Schlußkadenz, die Heliogabal zum Tode befördert. Solche erzählerische purple patches zumindest entschädigen für alle Durststrekken auf dem Weg. Lob verdient auch die Architektur des Ganzen, die organische Gliederung des Romans in drei fast gleich große Teile: der erste (nennen wir ihn ‹Aufstieg›) führt von Heliogabals Ausrufung zum Kaiser zu seinem triumphalen Einzug in Rom; der zweite (‹Blüte›) umkreist Heliogabals Herrschaft in Rom, vom Liebling des Volkes zum lauthals Verhöhnten; der dritte Teil schließlich (‹Untergang›) handelt vom eskalierenden Streit mit seinem Vetter Alexander, der mit Heliogabals Sturz endet. Couperus erzählt also – im klassischen Duktus übrigens, aus allwissend-olympischer Perspektive – von Heliogabals Jahren als Kaiser. 35 Er folgt dabei dicht den Quellen. Schon das Personal des Romans entstammt großenteils der Historie: die kaiserliche Familie, die hohen Beamten, Heliogabals Gattinnen oder Günstlinge. Ihren eigenen Reiz besitzen Auftritte von Figuren, die erst Jahre später in der Geschichte Spuren hinterlassen, wie der hünenhafte Thraker Maximinus oder der heitere Gordianus – die gleichfalls einmal den römischen Thron bestiegen.36 Und kaum eine antike Nachricht entgeht ihm; alle, auch die eindeutig fiktiven, kehren im Roman wieder.37 Doch geht Couperus nicht ‹unkritisch› vor. Wie wir noch sehen werden, liest er die Nachrichten gerne gegen die Quellen, verleiht ihnen eine andere Gestalt oder anderes Gewicht.38 35 36
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Die Jahre der Kindheit passieren einmal kurz Revue (20 f.). Fiktive Figuren finden sich v. a. in der Dienerschaft des Palastes, etwa Heliogabals schwarzer Leibsklave ‹Narr›, mit dem ihn eine kindlich-sinnliche Vertrautheit verbindet, oder Mäsas ‹Werkzeuge›, die ihr helfen, in Emesa und Rom die Armee zu gewinnen. Die abgelegene Nachricht von der indischen Gesandtschaft am Hofe Heliogabals (Porphyr, abst. 4,17) hat er offenbar übersehen; daß Couperus freiwillig auf sie verzichtet hätte, ist schwer vorstellbar. Der Verdacht liegt nahe, daß Couperus alle Nachrichten ‹geglaubt› hat, z. B. die karnevaleske Mär vom Frauensenat (vit. Hel. 4,3 f. ~ Couperus 226 f.) – und gegebenenfalls freundlich(er) umgedeutet hat (ein bezeichnendes Beispiel sind Heliogabals angebliche Ausflüge ins Bordell; vgl. oben S. 112 und unten S. 117 f.). Im Übrigen hat Couperus vorzüglich recheriert; Fehler unterlaufen ihm nur selten (z. B. 101: der doch in Rom aufgewachsene Heliogabal muß erst Latein lernen; 112: «die Legionen aus Syrien und Phönizien» begleiten den Kaiser nach Rom).
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Werfen wir einen genaueren Blick auf den Anfang, wo Couperus auf über 80 Seiten, einem guten Fünftel des Ganzen, in fast aristotelischer Verdichtung von Ort, Zeit und Handlung einen Tag im Leben Heliogabals schildert – nämlich den Tag seiner Ausrufung zum Kaiser. Der Roman beginnt mit einem Blick in den Sternenhimmel, der sich übers nächtliche Emesa spannt. Wer zu den Sternen schaut, bleibt offen. Auch deshalb scheint dieser Blick mehr zu sehen als nur astronomische Impressionen. Denn die Milchstraße wird zum «Triumphweg für den höchsten Gott» (5) – sie wird gleichsam zur Allegorie für den Weg des Sonnengottes nach Rom, und damit für das Leben Heliogabals. Die mysterienschwangere Ekphrasis der Tempelstadt, die folgt, stimmt uns weiter auf Religiöses ein, vor allem aber die große Aussprache des Knaben Heliogabal mit Hydaspes, dem obersten Magier, seinem Lehrer und geistigen Vater, die uns Einblick gewährt in die Seele des Sonnenkultes (davon später). Die Atmosphäre knistert; Geheimnisse liegen in der Luft – und Gewitter. Alles, was wir über jene Zeit in Emesa aus Herodian erfahren, wuchert bei Couperus ins Übermaß. Das wohl alltägliche Ritual, Opfer und Tanz Heliogabals vor lokalem Publikum, überhöht er zum grandiosen Festakt, der nur jedes Vierteljahr zelebriert wird, in einer zu fast kosmischen Dimensionen vergrößerten Tempelstadt. Und was damals wohl ein längerer Prozeß des Wühlens und Werbens im Auftrag der Großmutter Maesa war, verdichtet Couperus dramatisch zur geschickt manipulierten Eruption eines neuen politischen Willens. Die Bühne beherrschen zwei Protagonisten: der junge Sonnenpriester, und ein amorpher gesichtsloser Körper von undefinierbarer Größe, eine höchst labile, erregbare, gewalttätige Konstellation aus zehntausenden Sehnsüchten, Trieben, Leibern, die sich im Tempel zusammenballt: die Masse. Und mitten in ihr als Ferment Maesas agents provocateurs, allen voran der indische Gymnosophist Ganasara, ein schmächtiges Kerlchen unter bulligen Gladiatoren und Legionären, und ein begnadeter Demagoge und Verführer. Der orgiastische Höhepunkt der Ereignisse aber ist der Tanz des Sonnenpriesters, dem wir, nach Seiten und Stunden langwierig-faszinierender Vorbereitungen vor und hinter den Kulissen, ähnlich entgegenfiebern wie die im Heiligtum zusammengepferchten «Sechzigtausend» (72). Heliogabals Tanz stürzt sie in einen wahren Sinnestaumel. Für die ekstatischen Menschen wird er zum inkarnierten Erlöser, zur Gottheit, die aus dem Paradies herabsteigt, um sich hinzugeben und in androgyner Gestalt die Erde zu erlösen – ein kultisch-sinnliches Mysterium, das die Masse im Tempel elektrisiert und sich in Sehnsucht nach Heliogabal verzehren läßt: «Die Menge wand sich in ohnmächtigem Wollustschmachten (…), Arme wurden geschwenkt, grobe Hände verkrampften sich über den Köpfen, Finger machten obszöne Gebärden, Kehlen kreischten, Umarmungen fanden schamlos statt. (…) Alle ergriff die Ekstase.» (65) Noch am selben Abend ruft die Menge Heliogabal zum Kaiser aus. Es genügt, den Rest des ersten Teils zu streifen. Wir lesen von Heliogabals Lagerleben, verborgen inmitten seiner Soldaten; von der Entscheidungsschlacht mit Macrinus, bei der Couperus das Wunder – der Knabe, der seinen Soldaten voraussprengt gegen den Feind – behutsam ausmalt; vom Bild des Kaisers in der Kurie, das die Römer auf seinen Advent einstimmen soll; 39 von letzten Scharmützeln im Prätorianerlager, zwischen Anhängern des 39
Vgl. Herodian 5,5,6 f.
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alten und neuen Regimes; 40 schließlich vom triumphalen Einzug des Jünglings in Rom (ein schmückendes Detail, von dem keine der Quellen weiß). Heliogabals Schönheit und Sinnlichkeit wühlt die Stadt ins Unerträgliche auf («Oh, ihn zu berühren, ihn sanft zu streicheln, seinen Fuß, sein Knie zu küssen, ihn noch höher oben zu küssen, ihn überall, überall zu küssen!» 140) und explodiert in einer Massenhysterie, die sich der gesamten Stadt bemächtigt und zur orgie générale steigert, die erst in den nächtlichen Gassen und Bordellen der Subura verebbt. In feinsinnigem Kontrast sehen wir zuletzt Hydaspes, den Magier, auf seinem Turm in Emesa dem Gestirn Heliogabals nachblicken, bis es «hinter dem Libanon versinkt …» (144) – eine Ringkomposition, die anknüpft an die allererste Szene, doch nun den Gestirnen einen anderen Sinn unterlegt: «Denn niemand weicht von seinem Lebenskreis auch nur einen Schritt nach links oder rechts ab, und selbst den Unaussprechlichen Gott umschließt, Mysterium!, der Ring des Schicksals …» (144), dem niemand entgeht – auch nicht das Sonnenkind. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Ähnlich markant wie der erste setzt auch der zweite Teil ein. Wieder erleben wir, über rund 50 Seiten hin, einen Tag des Kaisers, den drei beziehungsreiche Begegnungen zeichnen. In den von ihm prachtvoll vollendeten Thermen seines ‹Vaters› Caracalla, in denen er ein morgendliches Bad nimmt, begegnet Heliogabal dem (historischen) Bischof von Rom, Papst Zephyrinus, dem er – «von Hohempriester zu Hohempriester» (163) – die Einheit aller Religionen auseinanderzusetzen sucht. Sie alle lehrten das eine Mysterium und unterschieden sich einzig in ihren «Symbolen»; ihre «allerwahrste Inkarnation, das allerheiligste Symbol» aber sei Heliogabal (164). Als der greise Bischof, der einer theologischen Diskussion ausweicht, dem Kaiser freilich den Wunsch verweigert, Christus möge in Heliogabals Pantheon dem Sonnengott Reverenz erweisen, jagt der Kaiser ihn empört davon; fortan stehen die Christen bei ihm in Ungnade. 41 – Der (fiktive) Zwist ist symptomatisch; er stimmt uns ein auf die manische Entschlossenheit, mit der Heliogabal von Anfang an seinen Kult in Rom propagiert und durchsetzt. Und er signalisiert einen tieferen Konflikt, von dem noch zu reden sein wird: einen Konflikt der Weltbilder, des Weltgefühls. Die Szene mit dem Thraker Maximinus, einem vom Heer vergötterten Offizier, der einst unter Heliogabals (angeblichem) Großvater und Vater diente und jetzt dem neuen Kaiser seine Dienste anträgt, mündet in Heliogabals Grille, die Stärke des Hünen auf eigene Weise zu prüfen: «Dreißigmal hintereinander hast du dreißig Athleten besiegt. Besiege jetzt Livilla» (eine schöne georgische Sklavin Heliogabals), «die deiner Belagerung widerstehen wird, dreißigmal hintereinander» (174), ein Ansinnen, das der Barbar empört zurückweist. Die beiden scheiden in tiefster Verstimmung voneinander. – Diese Episode berichtet die Historia Augusta in ihrer Maximinus-Vita.42 Indem Couperus sie dezidiert an den Anfang 40
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Diese Episode ist fiktiv (und historisch unlogisch: zu jenem Zeitpunkt war Macrinus längst tot). Couperus hatte hier womöglich den Präfekten Julian vor Augen, der in Macrinus’ Auftrag gegen die Rebellen von Emesa zog (vgl. Cassius Dio 78(79),31,4–34,5; Herodian 5,4,2–4). Einziger Anhaltspunkt für diese Anekdote ist die wohl fiktive Nachricht der vit. Hel. 3,5, Heliogabal habe veranlaßt, «die Religionsbräuche der Juden und der Samaritaner und der christliche Kult seien (in den neuen Sonnentempel zu Rom) zu verlegen, damit das Priestertum des Heliogabal das Geheimnis sämtlicher Kultübungen in sich schließe». Hist. Aug. vit. Maxim. 4,6–9.
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von Heliogabals Regentschaft rückt und ausspinnt («Was hast du getan!! rief Mäsa aus. Du hast dir Maximinus entfremdet! (…) Maximinus ist unser kostbarster Tribun», 176), wird deutlich, wie von der ersten Stunde an Heliogabal mit kindlichem Leichtsinn sich vitale Sympathien der Armee verscherzt. Am folgenschwersten für Heliogabal aber wird die dritte Begegnung. Beim Wagenrennen im Stadion (einem Hobby, dem bereits Nero frönte) tritt Heliogabal gegen einen neuen Auriga an, dessen athletische Erscheinung und «homerische Schönheit» (182) ihm rasch ins Auge fallen, mehr aber noch dessen «grausamer grauer Blick», der den Kaiser erschauern macht (180): Hierokles. Noch am selben Abend lädt er den neuen Favoriten in den Palast; doch statt Seligkeit spürt er in dessen Nähe «Kälte» und «Mattigkeit in seinen Gliedern» (193), und seinen Willen «hinwegschmelzen» (224) in einen weit stärkeren Willen – als streife ihn «der Atem seines Schicksals» (193). Über alles, was Heliogabal fortan tut, scheint sich ein Schatten zu legen. So scheitert er mit seinem Werben um seinen Vetter Alexander, den dessen Mutter ihm systematisch entfremdet. In Tönen, die den Evangelien entlehnt scheinen, erklärt er dem Knaben: «Zu Emesa beteten sie mich an (…)! Zu Rom beten sie mich jetzt an! Aber ich leide mehr um eine Liebe, die ich verliere, als daß ich glücklich bin über die Liebe von Millionen, die ihre Hände nach mir ausstrecken!» (200) Vergebens; er muß erleben, wie erkaltet der Gefährte der Kinderjahre ihm gegenüber ist. Fortan verfolgt er den Vetter mit unseligem Haß. – Nur für kurze Zeit kehrt «eine gewisse Ruhe und Entspannung» ein (251), als Mäsa Heliogabal überreden kann, Alexander zu adoptieren und zum Caesar zu ernennen. Bestürzung ruft bei Hof Heliogabals feierlich begangene Hochzeit mit Hierokles hervor, dem der Kaiser sich als Braut anvermählt (241 ff.). Couperus schildert den Festakt in düsteren Farben, als abendlich-nächtliche Feier im Heliogabalium, verfolgt von Tausenden stummer Zuschauer. Sie gipfelt im hieros gamos auf seidenem Brautbett, wohin «alle, mit wahnsinnigen Augen über geifernden Mündern, hinstarren» (250). 43 Den Spott, den Alexanders Umgebung «über die Hochzeit des Kaisers als Antonina» (251) treibt, läßt Hierokles mit Verbannungen und Hinrichtungen ahnden. Um den Familienkrieg nicht weiter eskalieren zu lassen, sucht Mäsa Heliogabal zu überzeugen, das Amt des Kaisers dem Caesar zu übertragen und nach Emesa heimzukehren, in die heilige Sonnenstadt: eine «Vision des Glücks» (253), die Heliogabal einzig deshalb verwirft, weil er instinktiv weiß, daß er Hierokles dann verliert – und daß nach dem Amt des Caesars Hierokles selbst trachtet. Das Unglück vollendet ein Brief des Magiers Hydaspes, der Heliogabal an seine religiöse Sendung erinnert – zu der auch die «Zweigeschlechtlichkeit» gehöre, die doppelte Rolle als «Adam-Heva», die sich beide in der Inkarnation des Gottes «im heiligen Gleichgewicht» befinden müßten (258).44 Dieser Brief – den wohl Mäsa erbeten hat, um den erdrückenden Einfluß des Hierokles einzudämmen – bringt einen Stein ins Rollen, der Heliogabal aller 43
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Diese angebliche Hochzeit erwähnt Cassius Dio 79(80),14,4 en passant. Von einer Hochzeit Heliogabals mit Zoticus hingegen will die vit. Hel. 10,5 wissen (dieser Anekdote entlehnt Couperus auch den Kultruf des Magiers beim hieros gamos, «Concide, Hierocle!»; 250). Wirkt hier womöglich Neros (historisch umstrittener) Auftritt als Braut eines Pythagoras nach (Tac. ann. 15,37,4; Suet. Nero 29 heißt der Bräutigam passenderweise Doryphorus, der «Speerträger»)? Hier findet sich eine unerwartete Parallele zur Religion Echnatons. Dessen Kolossalstatuen stellen den Pharao als Zwitterwesen zwischen Mann und Frau dar und symbolisieren auf diese Weise seine Natur als Allschöpfer, als ‹Mutter und Vater› seines Volkes.
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Sympathien der Römer beraubt: seine kühne Idee, die so kühle wie schöne Oberpriesterin der Vesta zu ehelichen, Aquilia Severa. Diesem Bund will Mäsa in einem Gespräch mit der Aristokratin den Weg ebnen – doch sie kommt zu spät. In einer der eindringlichsten Szenen des Buches dringt im Morgengrauen, im Festgewand des Dionysos, berauscht, «besudelt mit den (…) verschwenderischen Wollüsten der Orgie» (269) und umringt von einem Schwarm trunkener Höflinge und Günstlinge, Heliogabal ins Allerheiligste der Vesta ein, um eine ob des Sakrilegs versteinerte Aquilia Severa zu freien und das Palladium und das heilige Feuer der Vesta in sein Heliogabalium zu überführen. 45 Als er wieder ins Freie tritt, schlägt ihm und den Seinen die Empörung des Volks entgegen: «Schurken! Frevler! Tempelschänder!» – «Sardanapalus!» (278). Auch der dritte und letzte Akt beginnt mit einer Glanzszene von rund 50 Seiten: der farbenprächtigsten, wildesten Orgie des ganzen Romans, die sämtliche Klischees bedient (man denke an Thomas Coutures berühmtes Gemälde Les Romains de la décadence, 1847) 46 und alle einschlägigen ‹Nachrichten› der Quellen zu einer hysterischen Klimax von Wahnwitz, Auflösung und Entgrenzung verschmilzt. Speisen werden aufgetragen, deren Erlesenheit oder Irrsinn die Cena Trimalchionis verblassen läßt; wahre Wolkenbrüche von Parfums gehen auf die Gäste nieder; gezähmte Raubkatzen schleichen um die Tische; eine babylonische Lotterie bringt dem einen Gold, edle Gespanne, wunderschöne Sklavinnen, dem anderen Bleibarren, tote Maulesel oder Schalen, gefüllt mit Skorpionen; eine ganze Legion von Huren, rekrutiert aus allen Tavernen und Bordellen der Subura, marschiert in den Saal und läßt sich von einer feurigen Ansprache Heliogabals einstimmen auf die bevorstehende ‹Schlacht› mit den Gästen; Myriaden von Blumen regnen herab, die die Betrunkenen unter sich begraben, ja manche ersticken. Über all dem präsidiert ein junger Kaiser mit Zügen, in die sich «Müdigkeit» und «Hohlheit» gegraben haben, «als wäre der Schmelz von seiner Jugend gewischt» (285), und dessen Leib gezeichnet ist von den Mißhandlungen seines Gemahls. Zwischenfälle würzen den Fluß der phantastischen Feier. Der in Ungnade gefallene Hierokles taucht im Festsaal auf. Einer der Getreuen des Kaisers, der Tribun Aristomachos, greift ihn an; den fast tödlichen Zweikampf endet der entsetzte Aufschrei des trunkenen Kaisers, der Hierokles wieder in Gnaden aufnimmt. Dessen Gegner schmuggeln einen attraktiven Nebenbuhler in die Arena, Aurelius Zoticus, einen gutgelaunten Athleten mit einem «groben, aber klar gemeißelten schön-brutalen Gesicht» (311). Der Plan läßt sich gut an; Heliogabal verschwindet mit ihm alsbald in die Bäder und kehrt später in seinen Armen zurück, «kraftlos wie eine Frau nach einer Liebesnacht» (318). 47 Im Morgengrauen schließlich, als eine unbedachte kaiserliche Ordre die Wachen abzieht, dringt die Straße in den Palast ein, Schmährufe gegen den Kaiser auf den Lippen. Heliogabal aber, von Trunkenheit und Fieberwahn geschüttelt, ruft sie mit wiegenden Hüften und 45
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Vgl. v. a. vit. Hel. 6,7 (bereits die vit. Hel. assoziiert die priesterliche Ehe des Kaisers mit seiner Entweihung der Vesta und anderer traditioneller Götter). Reinhart Herzog hat sie mustergültig beschrieben: «Es ist spät, draußen steht der graue Morgen, die Lampen brennen niedrig, Erbrochenes und Wein auf Marmor, Pfauenfedern in den Schlünden, stammelnde Trunkenheit auch der Philosophen, sexuelle Vermischung unter dem Ächzen der Insuffizienz oder Perversion …» (R. Herzog, Spätantike. Hrsg. von P. Habermehl, Göttingen 2002, 75). Die Episode mit Aurelius Zoticus ist inspiriert von Cassius Dio 79(80),16,1 ff. (vgl. oben Anm. 22). Hierokles sorgt dafür, daß dieses Glück nicht allzu lange währt (347; vgl. Cassius Dio a. O. § 5).
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lockenden Armen herbei, um sich ihnen hinzugeben, «für einen Aureus, für fünfzehn Sesterze, für drei As, für nichts! Für nichts! Kommt! Kommt alle zu mir!» (327 f.). Bevor die Dinge eskalieren, erscheint wie eine dea ex machina Mäsa auf der Bühne und bereitet dem gespenstischen Spuk ein Ende. Eine Szene, die als Farce vorwegnimmt, was alsbald als Tragödie folgen wird. In den restlichen Kapiteln bricht der Konflikt zwischen den beiden Parteien des Palastes sich wie ein Maelstrom Bahn, der alles in den Abgrund reißt. Mit seinen Getreuen zieht Heliogabal in den Sommerpalast in den Gärten der Spes Vetus am Rande Roms, und versucht, sich Alexanders zu entledigen: der Senat soll jenem den Caesarentitel wieder aberkennen; im Prätorianerlager werden die Standbilder des Prinzen mit Kot beschmiert;48 ja ein Mordkomplott schmiedet der Kaiser, das freilich fehlschlägt. Unter den empörten Soldaten kommt es zum Aufruhr; und eine rachedürstende Meute sucht den Sommerpalast zu stürmen. Der Tribun Aristomachos kann die Rasenden mit Mühe bändigen. Doch Rom gärt: das Volk braust durch die Straßen und ruft Alexander zum Kaiser aus. Um den wankenden Thron zu retten, versucht Mäsa ein Letztes. Sie überzeugt Heliogabal, sich gemeinsam mit Alexander in der Öffentlichkeit zu zeigen, als Konsuln des neuen Jahres, zumindest dem Schein nach miteinander versöhnt. Doch der öffentliche Auftritt der beiden scheitert. Die Menge ignoriert Heliogabal und jubelt Alexander zu, dem Caesar, dem ersehnten Augustus. «Wahnsinnig vor Schmerz» (404) sprengt Heliogabal den Triumphzug und flieht zurück zur Sommerresidenz. In Rom bricht offener Bürgerkrieg aus zwischen den Anhängern der beiden Vettern. Nach blutigen Kämpfen fällt die Kapitale in die Hand der Aufrührer, die nun zur Spes Vetus ziehen, um Heliogabal zu richten. In diesem grausamen vorletzten Kapitel (X), dem show-down, erleben wir Couperus auf der Höhe seiner Kunst. Im Blutrausch stürmen die Soldaten Alexanders und ein entfesselter Mob den Sommerpalast und feiern eine Orgie der Gewalt: «Mit abgeschnittenem Rüssel, rasend vor Schmerz, mit fast menschlichem Gebrüll, rennt ein Elefant umher und zertrampelt Leichen und Sterbende zu einem Brei von krachendem Gebein und aufspritzendem Blut; Dirnen fliehen vor den gierigen Händen der Gewaltmenschen in die Ecken der Portiken und schreien dort ihre Vergewaltigung heraus und sterben dort schließlich, gefoltert, geköpft, in Haufen übereinander geworfen. Veliten sind es, die Gordus umringt haben, ihm das Glied abschneiden, das sie wie rasend zertrampeln, ihm eine Lanze zwischen die Beine gebohrt haben und ihn so umhertragen, eine zukkende Trophäe, triefend von Blut; die Argyraspiden selbst sind es, die Murissimus und Protagenes in ihrem Versteck hinter den bronzeschweren Vorhängen des Tempels gefunden haben und sie hervorzerren und ihnen den Leib aufschlitzen, nachdem sie sie entmannt und ihnen das abgeschnittene Glied in den Mund gesteckt haben. (…) sie sehen über den behelmten Köpfen der jubelnden Argyraspiden Hierocles (…) plötzlich hochgehoben auf einem Pfahl, den man ihm zwischen den Beinen der Länge nach in den Körper getrieben hat.» (422–424). Zuletzt kommen Heliogabal und seine Mutter zu Tode, die sich vor Furcht wie von Sinnen in den Sklavenlatrinen verkrochen hatten. Couperus’ Bericht folgt den antiken Quellen, nicht ohne diese mit einem (fiktiven) Sahnehäubchen zu krönen: Heliogabals tödlich verwundeter Leibsklave ‹Narr›, mit dem ihn seit Kindestagen eine kindlich-sinnliche Ver48
Im Roman geschieht dies auf Befehl des Hierokles, lt. der vit. Hel. 13,7 auf Befehl des Kaisers.
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trautheit verbunden hat, folgt dem geschundenen Leichnam seines Herrn durch ganz Rom, mit der Unbeirrtheit eines treuen Hundes, bis die Soldaten den blut- und kottriefenden Torso in den Tiber stürzen: Da «wirft sich der Mohr in das Wasser, und während er springt, verliert er sein Lendentuch, und die anderen, wenigen sehen, daß ihm die Eingeweide aus einer tiefen Bauchwunde zuckend hervorquellen. (…) er schwimmt (…); er hat die Leiche erreicht (…); seine Arme (…) umschlingen Antoninus’ vom Tiber gewaschene Füße, Füße, die einmal tanzten … das einzige, was von dem dort noch erkennbar ist …!! (…) seine Lippen pressen sich zu einem Kuß darauf … (…) sie treiben zusammen; sie treiben zusammen fort, fort …» (427 f.) – eine Liebe bis in den Tod, deren fataler Schmelz von ferne an das Schlußbild des Glöckners von Notre Dame erinnert. 49 Zuletzt das Satyrspiel: Alexanders erster Auftritt im Senat, und seine linkische Ansprache als neuer Kaiser. Mäsa ist zugegen, eine gebrochene Greisin, deren Gedanken einzig um ihren toten Liebling kreisen, und Gordianus – der als einziger ihren Schmerz zu verstehen scheint. Wie die Paraphrase bereits ahnen läßt, gelingt Couperus das Kunststück, die antiken Nachrichten (mit denen er zugegebenermaßen recht freihändig verfährt) 50 in ein geschlossenes Bild zu verschmelzen, in dem alle Figuren Kontur gewinnen und ihr Handeln den inneren Gesetzen einer Deutung folgt. So wird die Großmutter Mäsa zur eigentlichen Triebkraft der Ereignisse. Sie vergöttert ihren schönen Enkel – und macht ihn doch zugleich zum Werkzeug ihrer ehrgeizigen Pläne, ihrer Sehnsucht nach Rom und dem kaiserlichen Purpur (z. B. 23). Deshalb entreißt sie das Götterkind gegen dessen heilige Bestimmung seinem Tempelparadies und überantwortet es der Welt und seinem Schicksal. Ihr Teil des Plans geht auf – sie erringt (notabene gegen den historischen Befund)51 in jenen Jahren die uneingeschränkte Macht hinter und, als clarissima im Senat, vor den Kulissen. Und ihre kaiserliche Aufgabe erfüllt sie zum Wohl des Reiches: ihre Herrschaft läutet eine wahre aurea aetas ein (206) – ein leicht verklärtes Bild der Epoche. Doch um welchen Preis! Erst zuletzt, als Heliogabals Licht und Leben längst erloschen sind, begreift sie die tragische Rolle, die ihr in dem Mysterienspiel zugefallen war (434 f.). Auch Heliogabals Mutter Soaemis, in den Quellen kaum mehr als ein Zerrbild, gewinnt überraschend Kontur. Sie wird als sinnliche, liebeshungrige Orientalin «von unersättlicher Leidenschaft» gezeichnet (229), die nächtens – Messalina läßt grüßen – in den Bordellen Emesas und Roms Gladiatoren oder Maultiertreiber schwächt, 52 die aber auch die délicatesse eines ansehnlichen Aristokraten wie Gordianus zu schätzen weiß. Nur zwei Dinge gibt es in ihrem Leben, die Seligkeit der Lust («jeder Augenblick, den wir nicht, wie eine Taube, der Venus opfern, ist ein verlorener Augenblick»; 227) – und die naiv-stürmische Liebe zu ihrem Kind. 49
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Heliogabals erster wie letzter Auftritt im Roman ist eine zärtliche Szene mit ‹Narr› – eine klassische Ringkomposition. Vgl. oben S. 113 und Anm. 38. Vgl. oben S. 110. Bei einem heimlichen Ausflug in die Subura stößt Heliogabal in einem Bordell auf seine Mutter, die sich «in den muskelschwellenden Armen eines riesengroßen Mirmillo» vergnügt, während den willigen Jüngling zwei betrunkene Matrosen in ein anderes Séparée schleifen (212; dieses Treiben der beiden begann bereits in Emesa, vgl. 352 f.).
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In der Stunde höchster Not wächst sie über sich selbst hinaus und zeigt «die mütterliche Kraft einer Löwin» (380). Ganz allein schlägt sie sich durch das brodelnde Rom, um zu ihrem Sohn in die Spes Vetus zu gelangen. Dort hält sie den Todgeweihten in ihren Armen, einer Pietà gleich (419) – und teilt endlich seine letzte Stunde. Am eindringlichsten aber gelingt Couperus das Porträt Heliogabals – über dessen Persönlichkeit uns die Quellen im Grunde im Unklaren lassen. Diese magische Leerstelle, an der die Phantasie sich fast notwendig reibt, bringt Couperus zum Leuchten. Vor unserem Auge ersteht ein wunderschönes, fast feminines Kind von heiterem Gemüt, bezauberndem Wesen, und einer zutiefst religiösen Natur, in der die mystische Erziehung im Tempel auf fruchtbaren Boden fällt. In der schwülen Atmosphäre Emesas, im Dienst Heliogabals, erblüht es sinnlich wie spirituell, in einer einzigartigen Verbindung des Heiligen und des Schönen, zu einer Inkarnation göttlicher Seligkeit, die alle Menschen verzaubert. 53 Oder, in Couperus’ eigenen Worten: «Weich wie eine Frau; fröhlich-heiter wie ein Kind; mystisch-hell wie ein Priester des Lichts – so würde er immer bleiben; unbewußt künstlerisch und vielfältig in seiner Seele, die nichts anderes war als die äußerste Blüte einer ausblühenden überfeinerten Kultur, und nur in dieser Atmosphäre (…) des sinnlich-mystischduftenden Orients, der ihn begriff und den er begriff, würde die äußerste Blüte sich noch in aller Pracht entfalten können in der zugestandenen Vervollkommnung ihrer wie auch immer besonderen Eigenschaften» (81). 54 Letztlich sind es zwei tragische Umstände, die dieses Götterkind aus seinem Paradies vertreiben: der politische Ehrgeiz der Großmutter Mäsa, und die schicksalsträchtige Begegnung mit Hierokles. Denn was geschieht, als Mäsa das Sonnenkind gegen dessen innerstes Wollen und Wissen seiner vertrauten Umwelt und mystischen Berufung entreißt und in die Metropole führt, beschreibt Couperus in einprägsamer botanischer Metaphorik: Heliogabals Blüte, die nur in der heiligen Atmosphäre des Orients gedeihen kann, verfällt, nach Rom verpflanzt, einer Art Hypertrophie: einem kurzen, heftigen, krankhaften Wachstum, bei dem sie ebenso sich selbst vergiftet wie ihre Umwelt. 55 Denn so mächtig seine feminine Schönheit die Römer in Bann schlägt, seine orientalische Erotik ihr Blut wallen läßt («Eine Glorie war erstrahlt; eine Raserei, zu leben, begann. (…) Das Leben war nicht mehr gewöhnlich, und Rom, im Fieber, erwachte und lernte und wollte glühen, brennen, verbrennen, in der Glut des Heliogabal.»),56 so mächtig wirkt die fremde Erde Roms auf Heliogabal zurück: «seine mystische Aureole war verblaßt», seine
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Eine ähnlich schwärmerische Beschreibung des Jünglings liefert Artaud (Héliogabale, Paris 1979, 71). – Weniger die (dezenten) erotischen Szenen, die dem zeitgenössischen niederländischen Publikum schwer im Magen lagen, als solche schwül-sinnlichen Beschreibungen (und seine offenkunde Faszination für das Rauschhaft-Dionysische, das sich im Kraftfeld Heliogabals fast notwendig Bahn bricht) lassen zwischen den Zeilen unübersehbar Couperus’ homoerotische Veranlagung durchscheinen. Das orientalische Leben der «Weichheit und Üppigkeit» (81) und sein empfindsames religiöses Gemüt haben die Männlichkeit in ihm für immer beschädigt; so Couperus’ gewagte These. – Auch Artauds Bild des Ostens ist verklärt bis ins Märchenhafte. Vgl. bes. 79–84. «Wenn ich Kaiser werde, (…) dann werde ich dem Licht nicht dienen können, wie sehr ich mich auch bemühen werde, und ich werde kein Licht mehr sein!» (80). 189; vgl. 141: Heliogabal «hat Rom ein Fest bereitet: Fest und Genuß wird er allezeit geben: aus dem Orient ist das Heil gekommen!»
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Natur hingegen mutiert zu einer auffälligen «Perversität», in der das Sinnliche nicht länger im Glaube wurzelt, sondern sich verflüchtigt zum «frivolen Genuß»: «Das war nicht nur der Hohepriester (…); das war vor allem ein verdorbenes Kind.» (151; vgl. 218 f.). Und dieses «verdorbene Kind» fällt in die Hände des Wagenlenkers Hierokles. Kein anderer gewinnt bei Couperus eine solche Macht über Heliogabals Schicksal, kein anderer trägt solche Mitschuld an seinem Untergang. Ihn, den die antiken Quellen fast freundlich schildern, baut Couperus zum dämonischen Charakter auf, der Heliogabals Nemesis wird – was dieser von Anfang spürt, ohne sich dem Verhängnis widersetzen zu können, das in Hierokles auf ihn lauert. Vor diesem Hintergrund begreift Couperus Heliogabals großes religiöses Anliegen. Die Radikalität, mit der er sich der Propagierung und Mission des Sonnenkults im Reich verschreibt, scheint wie ein verzweifelter, letztlich zum Scheitern verurteilter Versuch des Kaisers, die eigene ‹Entweihung› des Sonnenkindes in der Welt – seinen ‹Fall› – wiedergutzumachen, indem er die Welt selbst zum Reich des Lichts bestellt (vgl. 23 f.). Doch dieser Versuch übersteigt die Kräfte des Knaben bei weitem; an der großen sittlich-mystischen Aufgabe, die Hydaspes ihm stellt (25 f.; zu ihr gehört freilich die Mission des Sonnenkultes), zerbricht Heliogabal. Diese Tragik gewinnt das ihr eigene Gewicht erst vor dem Bild, das Couperus von Heliogabals Glaube zeichnet. Es fällt auf, in welchem Maß er den Sonnenkult, den er in seiner Darstellung überaus ernstnimmt, mit orientalischer Schwere überfrachtet – megalomanen Tempelanlagen, raffinierten Kultapparaten, byzantinischen Ritualen, heiligen Mysterien, die selbst vor divinatorischen Säuglingsopfern nicht zurückschrecken –, und ihn dabei über Gebühr verfremdet.57 Vor allem aber dichtet er dem Kult einen theologischen Überbau an, eine Geheime Lehre, die angeblich die Magier hüten, bei Couperus die Gralshüter des Sonnensteins: eine spätantik-synkretistische Gnosis, die das Reich des ewigen Lichts verkündet, den «Berg aus Licht», auf dem der «Unsagbare Gott» thront, und einen kosmogonischen Mythos von Fall und Erlösung der Seele. 58 Die Grille, dem Sonnenkult eine solche Botschaft zuzuschreiben, ist grandios (es ist die große Ära der Gnosis, und es gibt vage Bezugspunkte zwischen syrischem Kult und gnostischen Systemen), mit Sicherheit jedoch unhistorisch. 59 57
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So wird die große (und wohl einmalige) Prozession in Rom zur Überführung des schwarzen Steins (Herodian 5,6,6 ff.) bei Couperus zum allwöchentlichen Ritual (213 ff.). Zu den Säuglingsopfern (238 f.; 387) vgl. Cassius Dio 79(80),11,1; vit. Hel. 8,1 f. (Herodian weiß von solchen Menschenopfern bezeichnenderweise nichts; zurecht skeptisch Pietrzykowski [Anm. 18] 1820). – Eine weit ausgeklügeltere, traumtänzerische Rekonstruktion des syrischen Sonnenkultes unternimmt Artaud. Vgl. v. a. 14–30 (von Magiern im Heliogabal-Kult berichtet nur die vit. Hel. 8,2, im Zusammenhang mit den angeblichen Menschenopfern). – Die Epiklese «der Berg aus Licht» (19 u. ö.; vgl. den Buchtitel) ist eine vertraute religiöse Metapher, die sich ebenso im «Sonnengesang» Echnatons findet («Herrlich erhebst du dich am himmlischen Lichtberg, Ewige Sonne») wie in den Hymnen des tamilischen Heiligen ManikkaVasagar (9. Jh. n. Chr.) oder im Islam (in der Höhle Hira am «Lichtberg» unweit Mekkas wird Muhammed zum Propheten berufen). Im syrischen Sonnenkult hingegen ist sie unbezeugt. Couperus gewinnt sie aus dem Gottesnamen Elaiagabalos oder Eleagabalos, arabisch «der Gott des Berges», aus dem griechische und römische Autoren die etymologisch falsche, doch theologisch stimmige Form Heliogabalos bilden, «die Sonne des Berges» (vgl. Gross [Anm. 4] 992; Pietrzykowski [Anm. 18] 1812). Etwas altbacken gerät die Darstellung der archaischen römischen Kulte. Sie lassen an die Republik denken, kaum an das religiös so quirlige 3. Jh.
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Doch diese Überzeichnung des historischen Befundes, die den Sonnenkult in eine hohe Religion mit Ritual und Katechismus verwandelt, hat ihren Grund. Damit wird der Sonnenkult nämlich zu einer Macht, die einer anderen geistigen Macht der Epoche ebenbürtig, ja überlegen gegenübertritt – dem jungen Christentum, das Couperus überraschend unfreundlich porträtiert (wohl in bewußtem Bruch mit Klassikern wie Die letzten Tage von Pompeji, 1834, Ben Hur, 1880, oder Quo Vadis, 1896).60 Es genügt, die fiktive Szene zu evozieren, in der Papst Zephyrinus wie die Vertreter anderer Kulte in der Kurie vor dem Bildnis Heliogabals ein Räucheropfer darbringt – aus christlicher Sicht ein Sakrileg, das man einem Bischof, der die Verfolgung des Septimius Severus miterlebt hat, kaum zutrauen möchte.61 (Erst bei seinem zweiten Auftritt gewinnt Zephyrinus Statur, wenn er Kaiser Heliogabal – wie erwähnt – den Wunsch verweigert, Christus möge im Pantheon Heliogabals dem Sonnengott Reverenz erweisen.) Couperus’ ‹anti-christlicher› Vorbehalt verdichtet sich zu einem klassischen Antagonismus. Heliogabal faßt ihn dem Bischof gegenüber in Worte: «Deine Religion ist sehr anregend und ist vor allem etwas Neues, obwohl ich nicht glaube, daß das Traurige, Düstere, Schwermütige, Gedrückte, das euch anhängt, jemals die Heiterkeit unserer Götter besiegen kann! (…) Es ist keine Lebensfreude in euch! Ersticken werdet ihr in eurer eigenen Traurigkeit!» (163). Wie anders hingegen Heliogabal. Für Couperus verkörpert er «die Schönheit, die antike, allmächtige, überwältigende Schönheit, die zwei Jahrhunderte (…) Christentum noch nicht hatten vernichten können». Sein Kult ist der «Kult der Schönheit, der strahlenden Lebensfreude», die «heidnische Schönheit», der selbst empfängliche Christen noch die Treue bewahren (91 f.). Am klarsten drückt den Gedanken Gordianus aus, der junge Senator und spätere Kaiser, der im letzten Teil des Romans zum sympathetischen Kommentator der Ereignisse wird, und in dessen Schlußwort sich Couperus’ Stimme mischt. An den toten jungen Kaiser zurückdenkend, wird er sich «wehmütig … einer Antiken Schönheit bewußt, die, welch Jammer, verwelkte … und einer Antiken Frömmigkeit, die schon bald weichen wird …» (436).62 Heliogabal verkörpert Seele, Schönheit, Heiligkeit der Alten Welt, die zugrunde ging in und an einer Zeit, die der graue Geist eines welt- und sinnenfeindlichen Christentums erstickt (seinen Nietzsche hat Couperus gut gelesen). Nicht umsonst sehen wir in der letzten Szene im Gefolge Kaiser Alexanders – Menetekel einer neuen Ära – «die zahllosen düster gekleideten, mönchähnlichen, sklavisch jubelnden Christen» (435).63 60
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Indirekt übt bereits die vit. Hel., wie S. Zinsli zurecht anmerkt, Kritik am Christentum. Indem sie Heliogabals Religionspolitik über- und verzeichnet, kann sie augenfällig die Katastrophe eines Monotheismus an die Wand malen, der – in welcher Spielart auch immer – weltliche Macht erlangt. Couperus hat freilich anderes im Sinn; bei ihm wird der Sonnenkult, das Zerrbild der frühen Kirche in der Historia Augusta, zum Antipoden der christlichen und zum Leuchtturm wahrer antiker Religion. Hier hat Couperus sich wohl mit Absicht vertan. Zur Zeit Heliogabals saß Kallixtus auf dem Petersthron (217–222), ein streitbarer Theologe. Sein Vorgänger Zephyrinus (199–217) war offenbar ein eher schlichtes Gemüt, das sich aus den christologischen Streitigkeiten jener Jahre heraushielt. – Ähnliche Animositäten gegen «la religion d’Ichtus, le Poisson», finden sich auch bei Artaud. Bereits zuvor überlegt er einmal, ob die römische Geschichte nicht vielleicht in Heliogabal gipfle. «Welchem Endziel wälzten sich die Zeiten dann entgegen? (…) War, was vergangen war, nicht die Vorbereitung auf Antoninus (…)? Würde das Licht, mit der Sonne als Symbol, nicht tatsächlich ein größerer Gott sein als alle römischen und griechischen Götter, selbst als Jupiter Capitolinus? (…) Vielleicht näherte sich Rom so der Vervollkommnung im heiligen Licht …». (304) Das Bild der Spätantike als einer Ära quasi moderner ‹Dekadenz›, das typisch war für die Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts (vgl. R. Herzog, «Wir leben in der Spätantike», a. O. [Anm. 46] 321–348), läßt
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Ästhetik und Apotheose gehen Hand in Hand, wenn Couperus Heliogabal, «das anbetungswürdige Kind, das götterschöne Kind», zu einem paganen Jesus stilisiert: «ein zu großes Wunder, zu anbetungswürdig, zu götterschön für diese Welt, in die das Unsagbare Licht ihn verbannte und erniedrigte um eines unergründlichen Schicksalsmysteriums willen» (434). Er ist das wahre heilige Kind, der gnostische Heiland, den der Magier Hydaspes herbeisehnt, der salvator salvandus. Doch sowenig er Erlösung findet in unserer Welt, die zu düster ist für «die Auserwählte Seele» (29), sowenig vermag er die Welt zu erlösen. 64 Denn hier kommt bei Couperus eine Macht ins Spiel, neben der alle Gewalten seines gnostischen Sonnenkultes verblassen: das Schicksal. Er weiß, «daß es so sein würde und daß daran nichts zu ändern war, weil die mächtigen Götter es beschlossen hatten: die mächtigsten, die unaussprechbar sind» (83); so Hydaspes, der in den Gestirnen visionär die Geschichte liest, die vor seinen Augen zu einem «Meer von Blut» verschwimmt, und darinnen Heliogabals Los (17 ff.). Ja auch die höchste Gottheit – ein zutiefst antiker Gedanke – ist der Notwendigkeit unterworfen: «selbst den Unaussprechlichen Gott umschließt, Mysterium!, der Ring des Schicksals …» (144). Letztendlich wird der junge Kaiser Opfer eines unbegreiflich-unbeirrbaren Verhängnisses jenseits aller Geschichte, einer metaphysischen Ananke, die in den Sternen festgeschrieben steht, und als deren Werkzeug auf Erden Mäsa und der Wagenlenker Hierokles walten. Denn «das unerbittliche Schicksal (lauerte) auf dieses herrliche Kind wie auf eine heftig begehrte Beute» (83).65 In diesem Sinne ist Heliogabal der Sohn der Sonne, der das Gespann des Vaters besteigt und in der Glut zu Tode kommt, nicht aus Leichtsinn, nicht aus Übermut, sondern aus Bestimmung, weil ihn, den Unwilligen – um jenes stoische Wort zu zitieren – die Fata ziehen. So steigt er empor ins Licht der Geschichte, und verglüht. Doch eines müssen wir ihm zugestehen, zumindest in den Augen von Couperus – er verglüht voller Grazie: «Nicht wie Helios stand er da, er stand da wie ein munterer Phaeton, übermütig und lachend vor Freude.» (180)
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Couperus damit hinter sich. Er bleibt ihm treu mit seiner gravitätisch-schwülen Fin de siècle-Stimmung, die den Texten Oscar Wildes entstiegen scheint. Ironischerweise (und wohl unwissentlich) bringt Couperus mit diesem kühnen Griff ein gnostisches Mythologem christlicher Provenienz gegen die Botschaft der frühen Kirche in Anschlag. Diese fatalistische Botschaft «von der Vergeblichkeit allen menschlichen Handelns angesichts des unaufhaltsam waltenden Schicksals» (R. A. Zondergeld, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon [Anm. 34] 245, zum Roman Iskander) kehrt in anderen späten Texten von Couperus wieder.
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«Die eilende Hündin wirft blinde Junge» und einige andere antike Sprichwörter bei Michael Apostolios und Erasmus Eine der vielen Quellen, die Erasmus bei der Arbeit an seinen Adagia benutzte, war die Sprichwörtersammlung des Michael Apostolios, von der er 1508 bei seinem Aufenthalt in Venedig Kenntnis durch Girolamo Aleandro erhalten hatte.1 Wie emsig Apostolios bis an sein Lebensende zusammengetragen hatte, geht nicht nur aus den verschiedenen Fassungen, die er noch zu Lebzeiten Gaspare Zacchi und Lauro Quirino gewidmet hatte, 2 sondern auch aus dem bloßen Umfang hervor, den sein mit Zusätzen seines Sohnes Arsenios versehenes, am Lebensende unvollendetes Werk im zweiten Band des von Leutsch und Schneidewin herausgegebenen Corpus Paroemiographorum Graecorum einnimmt: insgesamt 514 Seiten (CPG II 231–744), so viel wie sonst keine andere Sammlung. Dieser Fleiß hat jedoch seine Kehrseite. Ein großer Teil des dargebotenen Materials ist niemals Sprichwort im modernen Sinn gewesen, und Apostolios hat sich nicht gescheut, selbst «Sprichwörter» aus Zitaten antiker Autoren zu erschaffen (womit er der antiken Praxis nahekommt) oder auch Mittelgriechisches aufzunehmen, so daß sich – aus dem Blickwinkel dessen gesprochen, der vornehmlich volkstümliches antikes Sprichwortgut sucht – Spreu und Weizen ungetrennt nebeneinander befinden. 3 Ferner mag eben dieser Fleiß, der weder die im Volksmund umlaufende mittelgriechische Spruchweisheit noch die eigene Züchtung verschmähte, den Eindruck, Apostolios sei mit der Erklärung vieler Sprichwörter geistig überfordert gewesen, noch verstärkt haben, so daß man sich des Eindrucks einer gewissen Mittelmäßigkeit in der Tat nicht erwehren konnte, ein Urteil, an dessen Verbreitung der am genuin antiken Material interessierte und geistig wache Erasmus selbst maßgeblichen An1
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Vgl. Bühler I 311sq. In den Adagiorum Collectanea von 1500 zitiert Erasmus einmal Apostolios im Adagium Domi: non hic: Milesia (p. 94 nach Appelt 100 Nr. 478), doch folgt er hier der 1489 gedruckten Miscellaneorum centuria prima Polizians, vgl. Bühler I 307.309. Das autographe Widmungsexemplar an Gaspare Zacchi (gest. 1474) aus dem Kreis Bessarions ist der Mazarineus 4461 (1235 [nicht im RGK II 379]), der Adressat des Widmungsbriefes im ebenfalls autographen Parisinus gr. 3059 (RGK II 379) ist der Venezianer Lauro Quirino (gest. 1466); von dem weniger umfangreichen Mazarineus hängt ein weiteres Autographon, der Angelicus 27 (RGK III 454), ab, von diesem wiederum der Bruxellensis 3529, geschrieben von Arsenios, vgl. zu den Hss. und allen damit verbundenen Fragen Bühler I 293sqq., zum Mazarineus noch das Corrigendum zu p. 294 in V 627. Vgl. hierzu u. a. Martin 17 f.; O. Crusius, Art. Apostolios, Michael, RE II 1 (1895) Sp. 182 f.; K. Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur, München 21897,603; dens. (1900) 387; Petzold 56sqq.; K. Rupprecht, Art. Michael (2), RE XV 2 (1932) Sp. 1519–1522, bes. 1520 f.; Bühler I 294 n. 16; 298. Zur Definition von «Sprichwort» vgl. J.F. Kindstrand, The Greek Concept of Proverbs, Eranos 76 (1978) 71–85, bes. 71, der sich im wesentlichen den Ausführungen von F. Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde, München 1922 (Nd ebd. 1967),1 ff. anschließt: Kennzeichen des (modern gedachten) Sprichwortes sind im allgemeinen das Umlaufen im Volksmund, eine feste sprachliche Form und Lehrhaftigkeit. Im Einzelfall mag aber die Abgrenzung von sprichwörtlicher Redensart, geflügeltem Wort, Gnome, Sentenz und Apophthegma nicht immer gelingen. Das griechische ist viel weiter gefaßt, da mindestens noch die sprichwörtliche Redensart und das geflügelte Wort abgedeckt werden.
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teil hatte.4 Hinter seiner mit großer Schärfe geäußerten Kritik vermutet Pierre Pantin im Vorwort seiner 1619 postum erschienenen Apostoliosausgabe sogar Mißgunst. 5 Gegenstand des vorliegenden Beitrages wird jedoch nicht sein, die Leistungen beider auf dem Gebiet der Kritik und Exegese griechischer Sprichwörter zu untersuchen – dafür würde eine kleine Auswahl von sieben Fällen ohnehin nicht ausreichen –, sondern vielmehr anhand einiger Beispiele jenes Nebeneinander von Spreu und Weizen vorzuführen und die Rolle, die Apostolios bzw. Erasmus in der europäischen Tradition eines bestimmten antiken Ausdrucks gehabt haben, zu klären zu versuchen. Bei dieser Arbeit wird ferner auch der unterschiedliche Stand der Editionen beider Autoren schmerzlich bewußt werden. Während die im wesentlichen durch Drucke überlieferten Adagia nämlich dank der Amsterdamer Ausgabe in ihrer Genese von 1500 (Adagiorum Collectanea) bzw. 1508 (Adagiorum Chiliades) an erkennbar werden, ist man, was Apostolios betrifft, heute noch immer auf die Arbeit von Leutsch im Göttinger Corpus angewiesen. Leutsch kannte aber in seinem Fall nicht nur nicht alle heute ermittelten Handschriften, sondern läßt den Leser fast immer im unklaren über den genauen Inhalt der von ihm benutzten Exemplare, verwirrt ihn noch durch die Aufnahme von (im Druck klein gesetztem) Material aus Arsenios und gibt vor allem, was gerade für die Frage nach der Verbreitung eines griechischen Sprichwortes hilfreich wäre, nicht unmittelbar beim Text an, welches Sprichwort in welcher Form auch schon durch die mit lateinischer Übersetzung versehene editio Pantiniana von 1619 oder sonst gedruckt vorlag, sondern holt dies erst umständlich in einer Appendix nach, die nur die Pantiniana berücksichtigt (CPG II 780–789). Dies ist umso bedauerlicher, weil der mit den Kollationen der Pariser Handschriften beauftragte Johann Friedrich Dübner ein Exemplar dieses Druckes als Kollationsvorlage benutzte und es so ein Leichtes gewesen wäre anzuzeigen, welche Überschüsse das Autographon des Apostolios, der Par. gr. 3059, gegen4
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In der praefatio der Ausgabe von 1515 (ep. 269 Allen, I 524, vgl. Bühler I 313) nennt Erasmus die congeries (bezeichnenderweise nicht «collectio») des Apostolios copiosiorem aut ut verius dicam numerosiorem aliquanto, sed omnibus his (sc. Zenob., Diogen., Plut.) et indoctiorem et mendosiorem. Vgl. den Zusatz zum Adagium Lutum nisi tundatur, non fit urceus in der Frobeniana von 1517/18, Adag. III iii 42 (Nr. 2242), edd. F. Heinimann et E. Kienzle, ASD II 5 (1981) 210: Et hoc, ni fallor, Apostolius hausit a vulgi fece, homo non perinde ingenio elegans atque palato, quemadmodum accepimus ab his, qui eum domestica consuetudine noverant. Im Adag. III iii 66 (Nr. 2266) urteilt Erasmus in derselben Frobeniana (ASD II 5,222): Nonnihil vereor, ne et hoc Apostolius hauserit non ex autoribus priscis, sed e suis combibonibus. Weniger ausfallend hatte sich Erasmus 1508 und 1515 in Adagg. III iii 31 (Nr. 2231), ASD II 5,205; III iii 37 (Nr. 2237), ASD II 5,208 geäußert; vgl. auch III iii 89 (Nr. 2289), ASD II 5,234 von 1517/18; III iv 2 (Nr. 2302), ASD II 5,242 von 1508; weitere Belege, auch ohne Namensnennung, bei Martin 18 Anm. 2. Von der «Sammlung des Pedanten Apostolios» spricht Krumbacher (1900) 387, Crusius (CPG Suppl. V 62 [1910]) hält es in diesem Sinn mit Goethes Faust (I 555): «Bei Apostolios und seinen Nebenmännern ist das (sc. daß manche Lemmata keine wirklichen Sprichwörter sind) mit Händen zu greifen; ganz willkürlich haben diese Schnitzel kräuselnden Schulmeister ihre Exzerpte zu zuzustutzen gesucht …» Vgl. auch Bühler I 293 über Apostolios’ Sammlung: «… in opere recentissimo, toto … conflato a viro mediocris ingenii …» P. [ )( )( v ] = CPG II p. XXI: Huic vero Michaeli Apostolio, ut etiamnum recenti, non satis aequus exstitit Erasmus: forte quod livor nondum decessisset, aut ob similis argumenti aemulationem, ³« « , qui copiâ, dum Chiliades (sic) adornat, vincere facile posset, meliusque Graecos Paroemiographos Graecè prius edidisset. Zur Pantiniana – Deszendent des Bruxellensis 3529 – vgl. Graesse I 168; Bühler I 192.261.295; ein Nachdruck datiert von 1653, vgl. ebd. Nachdem Pantin 1611 verstorben war, führten Andreas Schott und Daniel Heinsius sie zum Abschluß, vgl. Heinsius’ Widmungsbrief an Janus Rutgers, p. )( 2-[ )( 4] = CPG II pp. XVIIsq., hier [ )( 3-)( 3v] = CPG II p. XVIII. Heinsius nennt ebd. den Sprichwörtersammler Apostolios sogar einen … vir doctissimus, et inter Graecos illos, qui post funditus eversas res et literas Graecorum, Romam denuo Athenas invexerunt … (p. [ )( 2v – )( 3] = CPG II p. XVII).
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über der Pantiniana aufweist. Frucht von Dübners Arbeit ist der erste Teil einer Mappe mit losen Materialien zu den griechischen Parömiographen aus dem Besitz von Ernst Ludwig von Leutsch, die sich unter der Signatur Y g 4°. 81 in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle an der Saale befindet.6 Im folgenden werden nicht nur seine Kollationen der Parisini graeci 3058, 3059, 3060 und 3072 zu Apostolios herangezogen werden, sondern auch die Pantiniana, um festzustellen, bei welchem Adagium das Corpus von Schneidewin und Leutsch editio princeps ist. Sprichwort für Sprichwort zu betrachten, ist nicht nur Entscheidung um des einzelnen Sprichwortes willen, sondern wird auch durch den Zustand unserer Edition nahegelegt. I π Die eilende Hündin wirft blinde Junge haben sowohl Apostolios als auch Erasmus in ihre Sprichwörtersammlungen aufgenommen.7 Das Sprichwort selbst ist in letzter Zeit besonders mit Blick auf seine Herkunft wiederholt behandelt worden,8 und als wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, daß es aus dem Orient – genauer: ursprünglich aus Mesopotamien – nach Griechenland gelangt ist. Wenn an dieser Stelle nochmals diesem Stück orientalischer Weisheit nachgegangen werden soll, so geschieht dies nicht mit der Absicht, zu den vorgriechischen Quellen etwas Neues beizusteuern, sondern um einerseits zu versuchen, die entsprechenden griechischen Belege zu sammeln und zu ordnen, andererseits um das Material des Lateinischen und der modernen Sprachen zusammenzustellen, näher zu betrachten und einige Beobachtungen anzustellen. Denn nicht jedem dürfte bekannt sein, daß das Sprichwort nicht nur eine mehrtausendjährige Geschichte hat, sondern auch seine Verbreitung vom Orient bis nach Portugal an den Atlantik und weiter nach Nordamerika, im Norden sogar bis nach Finnland und Karelien und im Süden bis nach Ruanda führt. Abschließend bleibt zu fragen, wie Apostolios und Erasmus zu dieser Tradition stehen. «Die Hündin warf in ihrer Eile blinde Junge», schreibt um 1800 v. Chr. der assyrische König Sˇamsˇi-Adad (Schamschi-Adad) I. in einem Brief mahnend an seinen Sohn YasˇhmaäAdad nach Mari, der mit dem Feind Berührung hat, um ihn zur Besonnenheit anzuhalten. 9 6
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Vgl. die Beschreibung von C. Wendel, Die griechischen Handschriften der Provinz Sachsen, in Aufsaetze Fritz Milkau gewidmet, Leipzig 1921,354–378, hier 358 f.; auch Bühler I 263 n. 74; 295 n. 24. Dübner durfte die Kollationsarbeiten am heimischen Schreibtisch durchführen, wie aus einem Explicatio signorum überschriebenen Zettel, auf dem er seine Vorgehensweise darlegt, hervorgeht. Apost. X 23 (CPG II 491): K 9 »; Erasmus, Adag. II ii 35 (LB 2 [1703] Sp. 459): H ; Makarios V 32 (CPG II 181): K . Ein umfangreiches, alle Epochen und Sprachen bzw. geographischen Räume berücksichtigendes systematisches Verzeichnis ist dadurch noch nicht entstanden. Vgl. aber A. Taylor, An Index to «The Proverb», Helsinki 1934 (Folklore Fellows Communications No. 113),15.88 f., wiederabgedr. in The Proverb and An Index to «The Proverb». With an Introd. and Bibliogr. by W. Mieder, Bern-Frankfurt a. M.-New York 1985; W.W. Hallo, Proverbs Quoted in Epic, in Lingering over Words. Studies in Ancient Near Eastern Literature in Honour of William L. Moran, ed. by T. Abusch et aliis, Atlanta (GA) 1990,204–217, hier 208; Tosi 706 (Nr. 1580), vgl. auch X m. Anm. 3; M.L. West, Some Oriental Motifs in Archilochus, ZPE 102 (1994) 1–5, hier 1; dens., The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth, Oxford 1997,500; TPMA 6 (1998) 269 s.v. Hund 21.9. Bekannt ist dieses Dokument, in dem auch teltu, das akkadische Wort für «Sprichwort», steht, durch die Transliteration und französische Übersetzung von G. Dossin, Correspondance de Sˇ amsˇi-Addu, Paris 1950 (Archives royales de Mari I),28 f. (Nr. 5), Z. 11–13 = ARM I 5. Die Übersetzung war nicht von Anfang an
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Als sumerischer Vorläufer des Ausdrucks ist the b[it]ch (?) (is) weakened from … (?) – the puppies’ eyes will not open vermutet worden, doch gibt der Überlieferungszustand des sumerischen Textes eine Gewißheit nicht her.10 In der uns bekannten griechischen Literatur findet sich das Sprichwort von der eilenden Hündin erstmals bei Archilochos im Kölner Papyrus, der gegenüber Neobules jüngerer Schwester, auf die sich nun seine Begehrlichkeit richtet, angesichts des Gedankens einer Verbindung mit der untreuen, lüsternen Neobule erklärt: ]. # Ρ« κ $ ].9 ! « Ω« — π [ .11
Ungefähr zwei Jahrhunderte später spricht Hierokles bei Aristophanes wie ein Orakel davon, wie weit entfernt der Frieden zur Zeit noch bleiben müsse: %« π & &! ' † ) $*뫆 & , ,« Κ κ 0& *.12
Archilochos und Aristophanes setzen offenbar allgemeine Bekanntheit des Sprichwortes voraus, da sie es beide nicht nur verwenden, sondern dies auch noch jeweils leicht verändernd tun: Archilochos liefert eine Anspielung, die er jedoch durch genügende Ausführlichkeit auch dem Nichtwissenden verständlich macht, während Aristophanes verfremdet, wenngleich der Überlieferungszustand nicht zweifelsfrei erkennen läßt, in welche Richtung die Parodie geht. Inwieweit hierhin gehört, daß die Geschichte von Hündin und Schwein, die sich über die Schnelligkeit ihrer Geburten streiten, Gegenstand einer äsopischen Fabel ist,13 mag dahingestellt sein, da man diese nicht eindeutig datieren kann und sie auch in
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klar gewesen, es scheint sich aber die auch hier übernommene Deutung von W.L. Moran, Notes brèves (Nr. 3), Rev. d’assyriol. et d’arch. orient. 71 (1977) 191; dems., Eretz Israel (s. Literaturverz.) durchgesetzt zu haben. Vgl. E.I. Gordon, Sumerian Animal Proverbs and Fables: «Collection Five», Journal of Cuneiform Studies 12 (1958) 1–21.43–75, hier 69 f. (5.118); 5.117 the bitch (?) eats …, the puppies will have no teeth gehört wohl nicht hierher; vgl. auch Alster 3, der 5.118 wiedergibt als The bitch (?) … – the puppies were blind. Fr. 196a,39–41 West2. Bekannt ist der Text seit 1974, vgl. die editio princeps von R. Merkelbach/M.L. West, Ein Archilochos-Papyrus, ZPE 14 (1974) 97–112. Vgl. auch J.M. Bremer/A. Maria van Erp Taalman Kip/S.R. Slings, Some recently found Greek Poems, Leiden-New York-København-Köln 1987,44 f. Die Verbindung zwischen akkadischem Sprichwort und dem neugefundenen Archilochus stellte als erster, soweit ich sehe, Moran in seinen beiden in Anm. 9 genannten Aufsätzen und in An Assyriological Gloss on the New Archilochus Fragment, HSCP 82 (1978) 17–19 her. Ar. Pax 1077–1079. Von den Vorschlägen zur Heilung von 1078 seien Agars 1 $*λ« und Olsens 1 #A*λ« erwähnt. Nach Hesych 2245 ist #A*« der Name einer schnellen Hündin und eines kleinen Vogels. Zu den Scholia ad loc. vgl. unten Anm. 24. Aesop 223 Perry (251 Hausrath-Hunger) mit Adrados III 314 f. (H. 251) zu ihrer Bezeugung; vgl. auch Babrius 218 (p. 191 Crusius). Archilochos verwendet die Fabel von Adler und Fuchs (Aesop 1 Perry), der aber bei ihm offenbar fliegt, s. Archilochus frr. 174–176 (mit p. 64sq. West2) und vielleicht auch 177–181; sie hat eine akkadische Parallele in der Fabel von Adler und Schlange, vgl. W. Burkert, The Orientalizing Revolution, Cambridge (MA)-London 1992,121 f. Außerdem kennt er die Fabel von Fuchs und Affe (81 Perry), s. frr. 185–187; vgl. ferner die Zusammenstellung bei Adrados I 398 f. Aber auch Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten verwendet er gerne, den Übergang bildet vielleicht fr. 178 West2 9 «, das der Fabel von Adler und Fuchs zugewiesen wird, vgl. Zen. Ath. II 85 mit Bühler V 430sqq., weitere
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einer mündlichen Form nicht vor Archilochos existiert zu haben braucht.14 Mit Galen findet sich das Sprichwort in der Kaiserzeit, mit Themistios auch in der Spätantike zitiert.15 Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Form π in der Antike selbst nicht belegt ist, sondern erst in byzantinischer Zeit bei Makarios V 32 und in den Aristophanesscholien begegnet, wenngleich auch diese auf ältere Quellen zurückgehen mögen und die Scholien ausdrücklich κ haben. Aus den antiken Zeugnissen kann neben π die Konstruktion erschlossen werden,16 die Autoren aber, die den Gedanken der Eile ausdrücken, tun dies in unterschiedlicher Weise: Archilochos verwendet ]9 ! «, Aristophanes & und Galen 2µ «, keiner jedoch das Partizip . Man wird bei diesen Autoren berücksichtigen müssen, daß sie auf das Sprichwort nur anspielen bzw. es in einen neuen Zusammenhang einfügen wollen, aber völlige Gewißheit, ob es wirklich nur die eine, von Makarios und dem Aristophanesscholion gebotene Form mit gegeben hat, besteht nicht, zumal das Umlaufen im Volksmund Varianten erzeugen kann.17 Die blindgeborenen Welpen spielen nicht nur im griechischen Sprichwort der Antike eine Rolle. Aristoteles behandelt im sechsten Buch der Historia Animalium eine Reihe von Tieren, deren Junge nach der Geburt eine Zeit lang noch nicht sehen können, darunter Hund, Bär, Hase, Wolf, Panther und Schakal.18 Bei den Hunden hängt die Phase dieser Blindheit davon ab, wie lange die Hündin trächtig ist, je nach Dauer der Trächtigkeit währt sie von zwölf bis zu siebzehn Tagen.19 Grund für die Blindheit ist nach Aristoteles in der Generatio Animalium nicht etwa ein überstürztes Werfen, sondern daß Hündinnen wie
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Sprichwörter oder sprichwörtliche Redensarten sind z. B. frr. 124 (vgl. auch Maria Spyridonidou-Skarsouli, Der erste Teil der fünften Athos-Sammlung griechischer Sprichwörter, Berlin-New York 1995,340); 173; 201; 206; 216; 248 (vgl. Bühler IV 235 zu Zen. Ath. II 30), vielleicht auch 259 (Tosi Nr. 1574); zweifelhafter Zuweisung ist fr. 307 (Tosi Nr. 849). Adrados I 481 f. rechnet eher mit der Möglichkeit, daß es sich um eine aus der des Demetrios von Phaleron (Gnom. Vat. 253, s. unten Anm. 22) entwickelte späte Fabel handelt, Perry (Anm. 22) 288– 291.324 vermutet in Demetrios den Verfasser. Grundsätzlich kritisch gegenüber der oft vermuteten Entstehung von Sprichwörtern durch Fabeln zeigt sich H. van Thiel, Sprichwörter in Fabeln, A+A 17 (1971) 105–118; vgl. auch Adrados I 205 ff. und die unten in Anm. 20 vorgetragene Vermutung. F. Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnworts, V 1: Das deutsche Lehnsprichwort, Halle a. d. S. 1921,16 f. möchte das Sprichwort von der Hündin aus der äsopischen Fabel herleiten, doch hat er das unten näher zu besprechende deutsche Sprichwort der Neuzeit im Auge. Gal. sem. 2,5,64 (p. 194,1–2 De Lacy) = IV 639 Kühn: « ξ « 4& λ π &λ 2µ «; Them. or. 2 p. 38b (Hinweis von R. Kassel), jedoch ohne die eilende Hündin: #A# 5 κ * «, µ 7 !, λ $ … Zum Ausdruck vgl. auch Democr. VS 68 A 157 ( II 127,13sqq. D.-K. 7) über die Eule: … 8&! « ξ ¹ Ρ ! : ; λ , κ …; Arist. HA 6,33.580a4 (Hase); HA 6,35.580a12 (Wolf); HA 6,35.580a25 (Panther); HA 6,35.580a27 (Schakal); GA 4,4.770b2. Prädikativ ist in Theophr. CP 3,2,8 … : ' &, … über im Frühling gepflanzte Bäume. Sehr skeptisch gegenüber der Möglichkeit, eine Urform dem Material abzugewinnen, zeigt sich Martin 19 f. Krumbachers (1887) 49 vorgetragene Auffassung, das mediale & sei «geschraubt» und könne deshalb nicht volksmäßig sein, kritisiert zu Recht E. Kurtz, rec. Krumbacher (1887), Blätter f. d. Bayer. Gymnasialschulwesen 24 (1888) 205–207, hier 206, und, ihm folgend, E. Geisler, Beiträge zur Geschichte des griechischen Sprichwortes (im Anschluß an Planudes und Apostolios), Progr. Breslau 1908,27. Die Abfolge der Wörter im Griechischen entspricht dem akkadischen Beleg genau, vgl. Moran 37*. HA 6,20.574a16–575 a12 (Hund); 6,30.579a18–30 (Bär); 6,33.579 b30–580a5 (Hase); 6,35.580a11–22 (Wolf); 6,35.580a25sq. (Panther); 6,35.580a26–31 (Schakal). HA 6,20.574 a20–30.
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viele andere Tiere mit vielgeteilter Pfote () nicht nur ein einziges Junges pro Wurf haben, sondern mehrere, also zu den ! gehören. Von einem gewissen Zeitpunkt an reicht jedoch die Fähigkeit des Muttertieres, die heranwachsenden zu nähren, nicht mehr aus, und es wirft sie deshalb in unfertigem Zustand als $ . Als einzigem ! gelingt es dem Schwein, die Jungen vollständig ausgebildet zur Welt zu bringen.20 Der ersten Aristotelesstelle folgt Plinius d. Ä. in stark verkürzender Form im zehnten Buch der Naturalis historia. Im achten Buch läßt er die Frage, wie lange die Welpen blind sind, davon abhängen, wie reichlich sie mit Muttermilch genährt würden. 21 Also auch er verbindet die Blindheit der Welpen mit der Ernährungsfrage, nur stellt sie sich seiner Auffassung nach erst in der Zeit außerhalb des Mutterleibes. Die klassische Tradition des Sprichwortes von der eilenden Hündin zeigt sich ungebrochen in byzantinischer Zeit. Arethas von Kaisareia, der auf die schnelle Übersendung von Material gedrängt hatte, wird von seinem Freund Stephanos mit den Worten ermahnt: T« ξ « « $«;22 Eustathios von Thessalonike führt das Sprichwort in seinem Iliaskommentar an, 23 und in den Scholien zu Aristophanes wird damit die schwierige Stelle Pax 1078 erläutert, auch von Demetrios Triklinios. 24 Unter die Sprichwörter der recensio Bodleiana ist es aufgenommen, um seinerseits den Ausdruck #A,*« zu erläutern. 25 Es erscheint häufiger auch in nicht nur antikes Material 20
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GA 4,6.774 b5sqq.; eine Vorankündigung gibt Aristoteles in cap. 4.770 a36–b3. Daß Aristoteles das Schwein von den anderen Tieren deutlich abhebt, könnte Anlaß zu der Vermutung geben, die äsopische Fabel (s. oben Anm. 13) sei eine Kombination aus dem Sprichwort und der aristotelischen Erkenntnis. Plin. n.h. 10,176sq.: … caecos autem gignunt canes, lupi, pantherae, thoes. Canum plura genera. Laconicae octavo mense utrimque generant; ferunt LX diebus et plurimum tribus. ceterae canes et semenstres coitum patiuntur. inplentur omnes uno coitu. quae ante iustum tempus concepere, diutius caecos habent catulos, et omnes totidem diebus. Der letzte Satz enthält den Gedanken an eine «Vorzeitigkeit», verbindet sie jedoch nicht mit dem Akt der Geburt, sondern der Empfängnis, und diese vorzeitige Empfängnis ist auch nicht Ursache dafür, daß die Welpen überhaupt blind zur Welt kommen, sondern dafür, daß ihre Blindheit länger währt. Plin. n.h. 8,151: … gignunt (sc. canes) caecos et, quo largiore aluntur lacte, eo tardiorem visum accipiunt, non tamen umquam ultra XXI diem … etc. Galen sem. 2,5,61sqq. (p. 192,19sqq. De Lacy) bezieht sich in dem Zusammenhang der unvollkommenen Geburt, in dem er das Sprichwort von der eilenden Hündin anführt, auf Aristoteles. Tertullian paen. 6,1 spricht von novitiolis istis … qui cum maxime incipiunt divinis sermonibus aures rigare quique ut catuli infantiae adhuc recentis necdum perfectis luminibus incerta reptant … Publiziert von S.B. Kugeas, O K « #A *« λ µ < = 7, #A*« 1913,115 = 39 Westerink, vgl. auch B.E. Perry, Demetrius of Phalerum and the Aesopic Fables, TAPhA 93 (1962) 287–346, hier 288–291. Der sich anschließende Fragesatz µ ξ >& 7 λ , ?«; steht in großer Nähe zum Gnomologium Vaticanum 253 (p. 228 Sternbach, WS 10 [1888]; p. 99 im Nd Berlin 1963) = Demetrius Phal. fr. 122 I Wehrli2, in dessen Überlieferung wie hier das entscheidende * ausgefallen ist, vgl. Adrados I 482; N.G. Wilson, Scholars of Byzantium. Revised edition, London-Cambridge (MA) 1996,130 f. Ein ähnlicher Ausspruch wird Plutarch zugewiesen u.a. bei ps.-Maximus, s. unten Anm. 30. Eustathii Archiepiscopi Thessalonicensis Commentarii ad Homeri Iliadem pertinentes, ed. M. van der Valk, III, Lugduni Batavorum 1979, p. 857,10sq. (1062,42), zu Hom. Il. 16,319–324. Vgl. A. Hotop, De Eustathii proverbiis, Diss. Lipsiae 1888 = Jahrb. f. class. Phil., Suppl.-Bd. 16,251–314, hier 308; E. Kurtz, Die Sprichwörter des Eustathios, Anhang zu: O. Crusius/L. Cohn, Zur handschriftlichen Überlieferung der Paroemiographen, Philologus Suppl.-Bd. 6 (1891–93),307–324, hier 314 = CPG Suppl., Nr. IV. Schol. vet(us) et Tr(iclinii) ad 1078b.1078i (p. 157sq. Holwerda). Prov. Bodl. 42 (p. 5 Gaisford); in CPG I 381 erscheint es als Appendix proverbiorum I 12. Zur Bedeutung der rec. Bodleiana vgl. Bühler I 125sq.
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verarbeitenden byzantinischen Sprichwörtersammlungen, so in der Planudessammlung,26 in sämtlichen der von Krumbacher 1893 berücksichtigten Sammlungen mittelgriechischer Sprichwörter27 sowie im cod. Mosquensis Bibl. Synodalis 239,28 der eine unter dem Titel A0) ! angeführte Sammlung enthält, deren entferntes erstes Blatt das folium 20 des Dresdensis Da 35 ist;29 ferner auch bei Makarios V 32 (CPG II 181). Aus der Gnomologie wäre vor allem das Florilegium des ps.-Maximus zu nennen, wenngleich das Moment der Eile hier nicht ausdrücklich genannt wird: O¹ *λ *, ¹ « .30 Die Form (π) bieten aber nur das Aristophanesscholion 1078i und Makarios. Neugriechisch ist H $µ κ ', &«, , , &« (alternativ: ,' &«) mit verschiedenen Varianten im Umlauf, wie das eindrucksvoll von Politis zusammengestellte, von Samos bis Zakynthos reichende Material zeigt. 31 Auch Parthenios Katziulis (gest. 1730), dem jedoch u. a. auch Apostolios und wohl Schotts Ausgabe 26
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H & , , vgl. E. Kurtz, Die Sprichwörtersammlung des Maximus Planudes, Leipzig 1886,20 (Nr. 51), dens., Philologus 49 (1890) 460 (Nachtrag), dazu O. Crusius, Ueber die Sprichwörtersammlung des Maximus Planudes, RhM 42 (1887) 386–425, hier 404. Krumbacher (1893) 129 (Generaltabelle Nr. 16). Aus dem Venetus Marc. Cl. III 4 gibt er es heraus als H @ & & , vgl. 79 (Nr. 16) und 153 mit weiteren Belegen. Eine sprachliche Analyse der Version des Par. gr. 1409 (= F) hatte er 1887, hier 49 f. (S. 69.78 Nr. 14) gegeben. Den hier mit dem Marcianus gleichlautenden Par. gr. 395 (bei Krumbacher [1893] «E») zog zuvor K.N. Sathas, MEBAI%NIKH BIBDIOFHKH, V, #E B 9 -Paris 1876 (Nd Hildesheim-New York 1972),564–570, hier 568 heran; vgl. Krumbacher (1893) 38 f. Eine weitere Hs. (a. 1756), einen Codex aus dem Besitz von E. Bulismas (= L), desselben Wortlauts führt Politis I 7 («G) an, vgl. zum Codex ebd. 'G – G . Der Athous Iwiron 805 (s. XVII), dem Politis das Siglum N gibt, hat das Sprichwort mit leichten Veränderungen, vgl. dens. I 40 (Nr. 27) und G sq.: H ,@ , 9 ». Vgl. Krumbacher (1900) 401 (Nr. 35): K 9 », dazu 427; vgl. auch 361.363 f.366.370. Die von Politis III 7 ff. gegen Krumbacher vertretene Auffassung, diese Moskauer Sammlung spiegele wider, was im Volk im Umlauf war, braucht hier in ihrer Gesamtheit nicht behandelt zu werden: Im Fall der eilenden Hündin ist die alt-, mittel- und neugriechische Materialfülle deutlich genug. Vgl. B.E. Perry, Aesopica, I: Greek and Latin Texts, Urbana (IL) 1952 (Nd New York 1980),261 ff. («Aesopi quae feruntur proverbia»), der auf S. 275 das Sprichwort zusammen mit seiner Hermenie nach Krumbacher (1900) noch einmal als Nr. 67 ediert (vom f. 231v des Mosquensis); letztere lautet >« J (9 L ci. Preger) λ 9 : , | T & ξ & »« . Das ist nicht leicht eingängig, und im zweiten Vers kommen durch das aus Vers 1 wiederaufgenommene, aber eigentlich nicht nötige zwei Silben zuviel zustande (weitere Beispiele solcher Fehler bei Krumbacher [1900] 395 f.). Zu den Zwölfsilbern der Hermenien vgl. P. Maas, Der byzantinische Zwölfsilber, BZ 12 (1903) 278–323 = Kleine Schriften, München 1973,242–288, bes. 244–247.268–274. Eingeordnet wird es unter dem Namen Plutarchs in das Kapitel λ P« λ *7, vgl. die Ausgabe von Sibylle Ihm, Ps.-Maximus Confessor, Stuttgart 2001,469 (19,17./20.); ebd. Verweise auf das bereits oben (Anm. 22) erwähnte Gnomologium Vaticanum (hier als Demetr. Phal., statt ) und weitere gnomologische Schriften. Außerdem zitiert Leutsch (zu Makar. V 32, CPG II 181) aus den Sacra Parallela das dort Gregor von Nazianz mit 7 = 7 (sc. 7 * ! von 530 E) zugewiesene T & ¹ : ! , *, λ ¹ «, * , s. Sancti Patris Nostri Joannis Damasceni … Opera omnia quae exstant, et eius nomine circumferuntur … Operâ et studio P. Michaelis Lequien, II, Parisiis 1712,531 A = PG 95,1584 A; zu den sog. Sacra Parallela vgl. Ihm XVI. Vgl. v. a. Politis III (1901),108 s.v. ' () Nr. 5; weitere Versionen p. 107 ff. q.v. Nr.1.6–11. Vgl. auch I. Benizelos, P &) «. 5E« &S& & λ * &, E! , 1867,107 (Nr. 220), und zu seiner schlecht veranstalteten Sammlung Krumbacher (1893) 7–9; Politis I (1899), @G -vG (Nr. 43). Allgemein gehalten ist Benizelos 131 (Nr. 214) = Politis I 145 s.v. $, Nr. 15: K, $, λ ,, λ ,.
«Die eilende Hündin wirft blinde Junge» und einige andere antike Sprichwörter
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der griechischen Sprichwörter vorlagen, nahm die eilende Hündin in seine nur handschriftlich überlieferte Sprichwörtersammlung auf, jedoch wegen seiner Abhängigkeit in einer stark schriftsprachlichen Form.32 Auch sonst ist das Sprichwort unter den Völkern des Balkans gut bekannt, so im Bulgarischen, Rumänischen und im Albanischen. 33 Obwohl sich im lateinischen Sprachbereich der Antike das Sprichwort von der eilenden Hündin bislang nicht sicher nachweisen läßt, begegnet es im westlichen Mittelalter, noch bevor des Griechischen mächtige Humanisten als Vermittler gewirkt haben können. Brunetto Latini (um 1220–1294) mahnt im Kapitel Consirer comment tu dois parler innerhalb des la nature des visces et des vertus selonc etique behandelnden Abschnittes seines in Frankreich geschriebenen Tresor, der auch ins Italienische sowie ins Katalanische, Aragonesische und Kastilische übersetzt wurde: Jhesus Siraac dist, soies isniaus en toutes tes oevres, mais garde que ta isneletés n’enpeche la perfection de ta oevre, car li vilains dist ke hastive lisse fet chiens avules.34 Die Sortes Apostolorum kennen Canis festinando cæcos catulos parit, sic et tuus animus, was sich in einer im 13. Jahrhundert bezeugten provenzalischen Version als Lo cas casan efantara lo <s> cadels sex (cecs Rocquain) findet.35 Eine französische Übersetzung ist in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachgewiesen. 36 Im Salomon et Marcolfus, 32
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Vgl. Politis I 94 K π – 6O π κ < 0«> Sµ « = Ν , zum Verfasser ebd. *G – G . Bulgarisch: «Die (alternativ: eine) schnelle Hündin bringt blinde Junge zur Welt», vgl. die Belege bei Ikonomov 36 (Nr. 179). Rumänisch: vgl. unten Anm. 44 (das von Ikonomov angegebene Graba strica treaba, «Eile schadet der Arbeit», ist allgemeiner gehalten). Ich danke Manfred Oppermann, meinem hallischen Kollegen, für wortgetreue Übersetzungen aus dem Bulgarischen und Rumänischen. Albanisch: vgl. G. Meyer, Zu den mittelgriechischen Sprichwörtern, BZ 3 (1894) 396–408, hier 402 (Nr. 16); Ikonomov 36 (Nr. 179). Zum Türkischen s. unten Anm. 51. II 66 § 5, s. Li Livres dou Tresor de Brunetto Latini. Éd. crit. par F.J. Carmody, Berkeley and Los Angeles 1948 (Nd Genève 1998),244 Z. 43–45. Jhesus Siraac wird von Carmody als Sir 31,27 in omnibus operibus tuis esto velox et omnis infirmitas non occurret tibi identifiziert, doch endet bei Latini der Gedanke in einer Warnung vor der Übereile (vgl. auch Prv 20,21); zu li vilains gibt Carmody nichts an. Eine Suche meinerseits in Li proverbe au vilain (ed. A. Tobler, Leipzig 1895) blieb erfolglos. Italienisch im Kapitel Come ti conviene pensare come voli parlare: Iesù Sirach dice: Sii isbrigato in tutte le tue opere; ma guarda che tu per prestezza non perdi la perfezione di tua opera; chè ’l villano disse, cane frettoloso fa catelli ciechi, vgl. Il Tesoro di Brunetto Latini volgarizzato da Bono Giamboni … emendato con mss. ed illustrato da L. Gaiter, III, Bologna 1880,281; der volgarizzamento stammt jedoch nicht von Bono Giamboni, vgl. Simona Foà, Art. Giamboni, Bono, Dizionario biografico degli Italiani 54 (2000) 302–304. Die katalanische Übersetzung von Guillem de Copons (Valencia 1418) läßt hastive aus: … car lo pagès diu que cuyta fa fills orps, vgl. Brunetto Latini, Llibre del Tresor. Versió catalana de Guillem de Copons a cura de C.J. Wittlin, III, Barcelona 1985,43. Zu Datierung und Verfasser vgl. die Introducció von dems., I, Barcelona 1971 (Nd ebd. 1980),5 ff. Eine weitere katalanische Übersetzung des Abschnitts De vicis e de virtuts im Tresor, von der sich II 50–133 erhalten hat, ist anonym, vgl. dens., III 5 Anm.; IV, Barcelona 1989,172 (ebd. auch zur aragonesischen Übersetzung) und 173 f. Kastilisch: Brunetto Latini, Libro del tesoro. Versión castellana de Li Livres dou Tresor. Ed. y estud. de Sp. Baldwin, Madison 1989,136: … ca dize el villano: cabdiella festinosa fijos çiegos pare. Vgl. F. Rocquain, Les Sorts des Saints ou des Apôtres, Bibliothéque de l’école des chartes 41 (1880) 457–474, hier 470 (Nr. 26 prov. = 28 lat.), dessen Konjektur den richtigen Sinn ergibt; C. Chabaneau, Les Sorts des Apôtres, Revue des langues romanes 18 (1880) 157–178, hier 170 (Nr. 26 prov. = 28 lat.) und 176 (Nr. 28, lat.); Nachtrag in 19 (1881) 63 f. Zuvor war der Text publiziert worden von E. Jolibois in einem Anhang zu N. Peyrat, Histoire des Albigeois, III, Paris 1872,474–483, hier 480. Lateinisch wurde der Text unter den Miscellanea Pierre Pithous postum im Codex canonum François Pithous, Paris 1687,370–373 (Angabe nach Chabaneau 158) veröffentlicht, bedauerlicherweise jedoch ohne Angabe des Alters der Hs. Vgl. L. Brandin, Traduction française en vers des Sortes apostolorum, Romania 43 (1914) 481–494, hier 488 (26/28): Li liesse suet par trop haster | Aveules kienchons enfanter …
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der in der uns bekannten Form durch Handschriften seit dem beginnenden 15. Jahrhundert überliefert wird, erwidert Markulf auf Salomons Qui expectat, consequitur quod desiderat: Catella saginosa cecos catulos parit …37 Hier gilt aber als Grund der Blindgeburt nicht mehr die sonst mit dem Werfen der Hündin wesentlich verknüpfte Eile, sondern ein nicht bei jeder Hündin zwangsläufig vorhandenes verstärktes Fressen. Griechischen Einfluß, sei es im ersten Fall auch durch Orakelliteratur, haben die Herausgeber der genannten Texte nicht ausgeschlossen,38 doch die genaue Form des Kontaktes unbestimmt gelassen. In jedem Fall kann festgehalten werden, daß die Spuren des Sprichwortes im westlichen Mittelalter und insbesondere im Mittellatein nicht sonderlich zahlreich sind. In den lateinischen Sprichwörtersammlungen der Neuzeit kommt das Sprichwort von der eilenden Hündin häufig vor, zumeist in der von Erasmus geschaffenen Form Canis festinans caecos parit catulos.39 Diese Sammlungen werden sicherlich ihren Anteil an der Verbreitung des Sprichwortes gehabt haben, gleichwohl darf die Tradition der erasmianischen Adagia nicht als ausschließliche Ursache betrachtet werden, berücksichtigt man, wie lebendig es im griechischen Volksmund ist und wie es gelegentlich bereits in einfachen Stücken mittelalterlicher Literatur begegnet. Denn auch in den Volkssprachen hat es z. T. schon vor den Adagia seinen Platz. Belegt ist es in einer alphabetischen Sprichwörtersammlung, die auf das ausgehende 13. Jahrhundert datiert wird, als Cangniuola frectolosa fa cangniuoli cie37
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Vgl. Salomon et Marcolfus, hrsg. v. W. Benary, Heidelberg 1914,7 (Nr. 22a/b), dazu Anm. auf S. 52. Zur Datierung auf nachkarolingische Zeit und dem Nachleben dieses Unterhaltungsbuches in den Volkssprachen vgl. M. Curschmann, Art. ‹Dialogus Salomonis et Marcolfi›, Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, II, Berlin-New York 21980, Sp. 80–86. Vgl. C. Chabaneau, Les Sorts des Apôtres – Appendice, Rev. d. lang. rom. 18 (1880) 264–274, hier 264 Anm. 2; Benary (wie zuvor) VIIIsq. Fraglich ist, inwieweit beide Texte schon zu den im sog. Dekret des Gelasius verbotenen Büchern gehörten, vgl. Rocquain 463; Chabaneau (beide Anm. 35) 158; Benary VII. Daß Galen durch eine lateinische Übersetzung hier fortwirkt, ist unwahrscheinlich, da es sich bei de semine um einen recht fachspezifischen Text handelt, dessen erste lateinische Übersetzung erst von Niccolò da Reggio (ca. 1280 – ca. 1350) stammt, vgl. Corpus Galenicum. Verzeichnis der galenischen und pseudogalenischen Schriften. Zusammengest. v. G. Fichtner, erw. u. verbess. Ausg., Tübingen 1990,22 (Nr. 22). Vgl. Walther 35384 (II 7 p. 318) mit zahlreichen Belegen besonders aus dem 17./18. Jh. sowie aus den Adagia des Paulus Manutius (Florenz 1575); Ambrosii Calepini Dictionarium undecim linguarum, Basileae 1590,200 s.v. Canis; Adagia (Coll. abs.) 239 (1646; 1656; 1670 [= Erasm.]) und 611 (aus Polidoro Virgilio); R.P. Aloysii Novarini Veronensis Clerici Regularis Adagia, Formulaeque proverbiales Ex Sanctorum Patrum, Ecclesiasticorumque Scriptorum Monumentis accuratae promptae …, Tomus alter Posthumus, Veronae s. a. [1651?],173a (Nr. 539); Corbinianus Thomas, Professor der Mathematik und seit 1742 der Theologie in Salzburg, in den Noten zu seiner Edition von Tertullians De Baptismo und de Paenitentia (Salisburgi 1755), unvollst. abgedr. in PL 2,1155–1250 (Appendix quinta), hier 1218 (Notae ad Cap. VI): Perfectis, i.e. visu nondum perfecto, sicut nimirum in proverbio est: Canis festinans caecos parit catulos. Vgl. ferner (einfach verzeichnend) Margalits 84.92.197; Walther 35326d (II 7 p. 308; J. Gruter 1624) Cecos parit catellos festinans canis (iamb. Senar); 39385i (II 9 p. 13; Enchiridion [Gruter] 1625) Parit catellos, dum properat, cecos canis (iamb. Senar). J.J. Scaliger bildete den Hexameter Eρ 7 $&. B in seinen 1593 gedruckten PAXOIMIAI EMMETXOI (p. 7), ein Jahr später in den PROVERBIALES GRAECORUM VERSUS übersetzt von F. Morel mit Ignem Apua inspexit. Caecos gignit canis urgens (p. 6). Griechisch erscheint der Vers in den Ausgaben von 1600 (p. 11), 1605 (p. 134), 1615 (p. 135; in der ed. alt. von 1864 auf p. 131), in beiden Sprachen in Schotts Ausgabe der griechischen Sprichwörter (p. 390, Nr. 229) von 1612. Vgl. zu den Scaligerausgaben unten S. 142 m. Anm. 90.91. Der erste Halbvers gibt das Sprichwort $« 7/ $ («/ 0«) 7/ ? 7 $& wieder, vgl. Bühler I 252 mit Verweisen; zu solchen Zusammenfügungen zu einem Vers bei Scaliger vgl. dens. I 113sq.
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chi.40 In einer heute meistens Polizian zugewiesenen und von G. Folena als Detti piacevoli betitelten Sammlung von ‹facezie›, die unter dem Titel «Tagebuch» 1929 von A. Wesselski noch aus einer Cinquecentine von 1548 publiziert worden war und erst dadurch wieder größere Beachtung fand, ist notiert Cagna frettolosa fa catellini ciechi. 41 Eine feste Formulierung scheint der Gedanke in der italienischen Literatursprache nie gehabt zu haben: Bald liest man La cagna frettolosa fa i figliuoli ciechi, bald … fa i cagnolini (canini, cagnuoli) ciechi.42 Begiebt man sich auf die Ebene der italienischen Dialekte, ist die Form ohnehin viel freier: Cane pressosu, catteddu chen’ ojos, heißt es im Logudoresischen, einem sardischen Dialekt.43 Unter den weiteren Sprachen der romanischen Sprachfamilie läßt sich das Sprichwort im Portugiesischen und im Rumänischen belegen. 44 Deutsch begegnet Die eilende Hündin wirft blinde Junge, Ein flüchtiger Hund wirft blinde Junge, Hastige Hunde gebären blinde Junge o. ä., 45 wobei die Blindheit der Welpen in den beiden letztgenannten Fäl40
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F. Novati, Le serie alfabetiche proverbiali e gli alfabeti disposti nella letteratura italiana de’ primi tre secoli, GSLI 18 (1891) 104–147, hier 111 (ser. I C 66). Zur Datierung der Sammlung vgl. dens., Le serie alfabetiche proverbiali …, GSLI 15 (1890) 337–401, bes. 354 f.; sie stammt wohl aus der Toskana, wegen dialektaler Eigentümlichkeiten vielleicht aus Siena. Vgl. Angelo Polizianos Tagebuch (1477–1479) mit vierhundert Schwänken und Schnurren aus den Tagen Lorenzos des Großmächtigen und seiner Vorfahren. Zum ersten Male hrsg. v. A. Wesselski, Jena 1929,190 (mit einer Fülle von weiteren Belegen bes. aus dem Italienischen); Angelo Poliziano, Detti piacevoli, a cura di T. Zanato, Roma 1983,107 (380,8). Die Zuweisung des anepigraphen Textes an Polizian, vertreten von Wesselski VIIsqq., war zunächst nicht unumstritten, vgl. L. Di Francia, GSLI 101 (1933) 131–138, doch gilt der Text heute im allgemeinen, nicht zuletzt durch neugefundene Handschriften (Florenz, BNC Conv. Soppr. B 7 2889; BNC cod. Magl. VI 196) als von Polizian verfaßt, vgl. etwa G. Folena, Sulla tradizione dei ‹Detti piacevoli› attribuiti al Poliziano, Studi di filologia italiana 11 (1953) 431–447, bes. 431; dens., Umori del Poliziano nei Detti piacevoli, L’Approdo 3 (1954) 24–30; A. Perosa im Catalogo der Mostra del Poliziano, Firenze 1954,123 f. (dazu Nr. 157 f.); E. Garin, La letteratura degli umanisti, in Storia della letteratura italiana dir. da E. Cecchi e N. Sapegno, III, Milano 1966, hier 544; T. Zanato, Sull’attribuzione e la cronologia dei ‹Detti piacevoli›, Cultura neolatina 43 (1983) 79–102; vgl. auch Rossella Bessi, Un nuovo testimone dei ‹Detti piacevoli› di Angelo Poliziano, Interpres 9 (1989) 284–287. Für die reichen Literaturangaben danke ich Augusto Guida (Florenz). Vor allem die Zuweisung an Polizian ist in letzter Zeit wieder angefochten worden von B.C. Bowen, The Collection of Facezie attributed to Angelo Poliziano, BHR 56 (1994) 27–38, auch mit dem Hinweis darauf, daß eine solche Sammlung nicht unbedingt nur einen einzigen Verfasser haben muß. Vgl. Düringsfeld/Reinsberg-D’feld I 172a (Nr. 340); Vocabolario degli accademici della Crusca. Quinta impressione, VII, Firenze 1866,365 f. s.v. cagna, hier 366 § IV mit Verweis auf Grazzini und L. Salviati; S. Battaglia, Grande Dizionario della lingua italiana, II, Torino 1962 (Nd 1971) 505 s.v. cagna (Nr. 6). Vgl. auch die vornehmlich aus der Literatur schöpfende Sammlung «Proverbi Vulgari» von Charles Merbury (1581), p. 11 = I ij, neue Ausgabe: Ed., with Introd. and Notes by Ch. Speroni, University of California Publications in Modern Philology 28,3 (1946), Berkeley and Los Angeles 1954, 63–158, hier 91.121, dort auch weitere Belege aus dem 16. Jh. Vgl. Düringsfeld/Reinsberg-D’feld 172b (Nr. 340); Pitrè III 363 f. Vgl. Gottschalk I 172: Cachorra apressada pare as filhos cegos und Cateaua de pripa isi naste cateii far de ochi, «Die Hündin in Eile bringt blinde (wörtl.: ohne Augen) Welpen zur Welt» (Übersetzung von M. Oppermann). Aus dem Spanischen und Französischen finden sich bei ihm keine Belege verzeichnet, was man kaum glauben möchte. Zu den spanischen und französischen Versionen des Mittelalters vgl. oben S. 131 m. Anm. 34–36. Vgl. Wander II Sp. 904 s.v. Hündin (Nr. 1); Sp. 834 s.v. Hund (Nr. 359); Sp. 846 (Nr. 656); auch Sp. 827 (Nr. 184), zitierend die Lehmannsche Chronik von 1712/13; J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, IV 2. Bearb. v. M. Heyne, Leipzig 1877, Sp. 1931 s.v. Hündin. Einen Nachtrag, die lateinische Version des Erasmus, aus Johann Ludwig Gottfrieds (um 1584–1633) Historischer Chronica … bis auf das Jahr 1619 …, Nürnberg 1674 (zuerst Frankfurt/M. 1629) liefert C.E. Gleye, Die Moskauer Sammlung mittelgriechischer Sprichwörter, Philologus 71 (1913) 527–562, hier 539 = 13 im Separatdruck, Leipzig 1913. In einem irrealen Bedingungsgefüge wird der Gedanke zu Wenn die Hündin nicht eilte, würfe sie nicht blinde Junge: Wander II Sp. 904 s.v. Hündin (Nr. 3); ähnlich I Sp. 777 s.v. Eilen (Nr. 27); Köhler 89 (Nr. 85).
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len zwar auf eiliges Gebären zurückgeführt, die Eile selbst aber gar nicht mehr als zwingend mit jeder Hündin verbunden gedacht wird. The hastye bitche bringeth furth blind whelpes, schreibt Ralph Robynson in einem mit «The translator to the gentle reader» überschriebenen Brief, der in der zweiten Auflage seiner Übersetzung der Utopia des Thomas Morus (1556) gleich dem Titelblatt folgt. Robynson bemüht das Sprichwort, um the rudenes seiner Übersetzung zu entschuldigen, tut dies aber mit der bezeichnenden Einleitung But as the latin proverbe sayeth. Frühere, vor die Adagiorum Chiliades des Erasmus fallende englische Belege zu finden, scheint schwierig. 46 Über das Englische kam die eilende Hündin nach Nordamerika: Früh, vielleicht sogar schriftlich als erster verwendet das Sprichwort Benjamin Franklin im Poor Richard’s Almanach von 1755. 47 Woher das Russische sein Die Hündin gebiert zwar schnell, jedoch Blinde hat – sei es aus dem Griechischen, sei es aus Westeuropa –, ist nicht sicher zu entscheiden, da das Altrussische, das eher auf griechische Herkunft führen würde, keinen entsprechenden Beleg aufweist. 48 Kaum zu klären scheint die Frage auch bei der ostseefinnischen Gruppe der finnisch-ugrischen Völker, da neben dem Deutschen und dem Russischen auch das Dänische, eine weitere germanische Sprache, das Gleichnis von der eilenden Hündin kennt. Das zur baltischen Sprachfamilie gehörende Lettische läßt mit «Geschwind geeilt, blind geboren» die Angabe, um welches Tier es sich handelt, fort. Bemerkenswert ist, daß von den sechs Vertretern der Gruppe der Finno-Ugrier im Ostseeraum, den Finnen, Kareliern, Esten, Woten, Wepsen und Livländern, jeder das Sprichwort in irgendeiner Form bietet. Dabei beziehen es das Finnische, Karelische und Wepsische auf die Hündin. 49 46
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Vgl. zur zweiten Ausgabe der Utopiaübersetzung von Robynson The Utopia of Sir Thomas More by J.H. Lupton, Oxford 1895,lxxiv. Ich zitiere nach Sir Thomas More, Utopia … repr. from Hearne’s edition 1716 … Ed. … by J. Rawson Lumby, Cambridge 1902, wo der Brief von 7–9 abgedruckt ist. Vgl. weitere Stellen bei G.L. Apperson, English Proverbs and Proverbial Phrases, London-Toronto-New York 1929 (Nd Detroit 1969),289; M.P. Tilley, A Dictionary of The Proverbs in England in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Ann Arbor 1950 (Nd ebd. 1997),52b (B425), vgl. auch dens., Elizabethan Proverb Lore in Lily’s Euphues and in Pettie’s Petite Pallace with Parallels from Shakespeare, New York 1926,78 (Nr. 39) mit Verweis u.a. auf das Schottische; The Oxford Dictionary of English Proverbs, Second edition, Oxford 1952,281b (die 3rd edition war mir nicht zugänglich), beide mit weiteren Belegen; V.S. Lean, Collectanea, III, Bristol-London 1903,391. Wenn John de Trevisa 1398 in seiner englischen Übersetzung von De proprietatibus rerum des Bartholomaeus de Glanvilla sagt The bytche bringeth forth blynde whelpes, vgl. The Oxford English Dictionary, II, Oxford 21989,228 s.v. bitch 1.a., so handelt es sich einfach um eine Beobachtung ohne Deutung. Es fehlt das Moment der Eile, das für die Blindgeburt verantwortlich gemacht wird (vgl. auch Aristoteles und Plinius d. Ä. oben S. 128 f.). Vgl. B.J. Whiting, Early American Proverbs and Proverbial Phrases, Cambridge (MA) and London 1977, 34 (B194) und W. Mieder/St.A. Kingsbury/K.B. Harder, A Dictionary of American Proverbs, New York-Oxford 1992,53 s.v. bitch: The hasty Bitch brings forth blind Puppies. Vgl. R. Altenkirch, Die Beziehungen zwischen Slaven und Griechen in ihren Sprichwörtern. Ein Beitrag zur vergleichenden Parömiographie, Archiv f. slavische Philologie 30 (1909) 1–47.321–364, hier 17.345 f. (Nr. 39). Ich danke Michael Lurje (Göttingen) für eine wortgetreue Übersetzung des russischen Sprichwortes. Vgl. Kuusi 42.100 (Nr. 34) mit Belegen. Das dort aufgeführte russische Sprichwort lautet wörtlich: «Wenn sie es schnell machen, kommt es blind heraus» (Übersetzung von Michael Lurje), ist also ähnlich wie das oben zitierte lettische (Kuusi 100 und Wander II Sp. 904 s.v. Hündin) schon etwas abstrakter (und wohl auch das von Kuusi angeführte Livländische). Vgl. noch die kleinruss. Parallele bei Wander loc. cit.: «Wer rasch arbeitet, bringt blinde Jungen zur Welt.» Schon weiter Entferntes wie «Hastiges Werk gilt für den Hund» oder «Eilige Arbeit – krummes Kind» bringt K. Grigas, Litauische Entsprechungen zu germanischromanischen Sprichwörtern bei Düringsfeld (Forts.), Proverbium 17 (1971) = Sprichwörterforschung. Hrsg. v. W. Mieder, Bd. 9,2, Bern u. a. 1987,631–641, hier 638. Zur Katze als Muttertier v. a. im Estnischen und Wotischen vgl. unten Anm. 61. Zu ungarischen Sprichwörtersammlungen, insbesondere der an Eras-
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Das Arabische scheint unser Sprichwort nicht zu kennen, wohl aber gibt es unter den irakischen Juden den Ausdruck, daß die Hündin in ihrer Eile blinde Junge wirft, der in seinem sprachlichen Aufbau ähnlich wie das Griechische der akkadischen Version ähnelt. 50 Im Türkischen ist zumindest die allgemeine Form des Weibchens, das vor Eile blind wirft, belegt. 51 Nachgewiesen werden kann das Sprichwort auch in Ruanda. 52 Nicht nur Welpen werden blind geboren, sondern auch Kätzchen. So fiel es im Lauf der Zeit leicht, das eine dem Menschen gewohnte Tier durch das sich in seiner Nähe befindliche andere zu ersetzen. Die Stelle der Hündin nimmt die Katze vor allem im Italienischen ein, wo diese Form des Sprichwortes im gesamten Sprachgebiet recht häufig ist und in vielen Mundarten sogar die gewöhnliche zu sein scheint, wie im Toskanischen oder Sizilischen: La gatta frettolosa fa (fece) i gattini ciechi o. ä. bzw. La gatta priscialora (fricalora) fa li gattareddi (li figghi) orvi. 53 Man findet sie ferner auf der Appenninhalbinsel auch in Kalabrien, Apulien, Lukanien, Neapel, der Romagna, in Venezien und im Piemont, wo jedoch aus der eilenden eine dumme Katze werden kann. 54 Zurückverfolgen läßt sich diese Va-
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mus orientierten Sammlung von János Baranyai Decsi (1598), die ich wegen ihrer Seltenheit nicht einsehen konnte, vgl. V. Voigt, Paremiology in Europe 400 Years ago, Acta Ethnographica Hungarica 45 (2000) 257–270. Immerhin dürfte die «eilende Hündin» auch zu den von Ferenc Szárászi vor 1604 an den Rand seines Exemplars der Adagia des Erasmus (Frobeniana von 1559) geschriebenen ungarischen Übersetzungen der ersten 2001 Sprichwörter gehören, vgl. ebd. 258 f. Vgl. Y. Avishur, Additional Parallels of an Akkadian Proverb Found in the Iraqui Vernacular Arabic, Die Welt des Orients 12 (1981) 37 f., der das Aramäische als Vermittler ansieht. Vgl. P. N. Boratav, Quatre-vingt quatorze proverbes turcs du XVe siècle, restés inédits, Oriens 7 (1954) 223–249, hier 239 (Nr. 44), der die Sprichwörtersammlung der Hs. Ancien Fonds Turc 237 der Bibliothèque Nationale, vollendet Anfang März 1526, heranzieht (hier f. 5r), und die korrigierte Übersetzung mit bitch statt la famelle von Frye und Shaw bei E.I. Gordon, A New Look at the Wisdom of Sumer and Akkad, Bibliotheca Orientalis 17 (1960) 122–152, hier 151; Alster 3. Aber auch in dem von Ikonomov 36 (Nr. 179) aufgeführten Beleg Acele kancik gözsüz dogurur ist mit kancik allein nicht gesagt, um welches weibliches Tier es sich handeln soll. Vgl. Aquilina (unten Anm. 60) 451 mit Verweis auf F.M. Rodegem, Sagesse Kirundi, Tervuren 1961, Nr. 909, und dessen französischer Übersetzung: «La chienne dans sa hâte a mis bas des chiots aveugles.» Vgl. Düringsfeld/Reinsberg-D’feld I 172 (Nr. 340); Giusti 9.276; F. Bellonzi, Proverbi toscani, Firenze 1995,135 (Nr. 1833); Vocabolario degli accademici della Crusca. Quinta impressione, VII, Firenze 1893,73–76 s.v. gatta, hier 76; A. Arthaber, Dizionario comparato di proverbi e modi proverbiali, Milano 1929 (Nd ebd. 1986),289 (Nr. 565); Gottschalk I 196; S. Battaglia, Grande Dizionario della lingua italiana, VI, Torino 1970 (Nd 1972),608–610 s.v. gatta, hier 610; vgl. auch die von Wesselski (Anm. 41) 190 und von Politis (nächste Anm.) gesammelten Belege. Einschlägig für Siena ist A. Pecchioli, Chi la sa non la insegna – raccolta di proverbi e modi di dire senesi a cura di C. Fini e L. Oliveto con una nota di F. Mugnaini, Siena 1995,24, doch vgl. zum 13. Jh. oben Anm. 40. Zum Sizilianischen vgl. Pitrè III 363 f. und IV 397a.402b (zu fricaloru und priscialoru); I. Copani, Cu’ cunta ci menti ’a iunta. Locuzioni e proverbi di Sicilia, Catania 1990,89. Pitrè III 364 zitiert aus L. Passarini, Modi di dire proverbiali e motti popolari, Roma 1875, Nr. 1190 (mir nicht zugänglich, Nd Bologna 1970): «Il prov. La gatta frettolosa ecc. è popolarissimo e d’uso universale …» Kalabrien: A gatta prescialora fici i gattarej orbi, vgl. A. Piccolo, Detti e proverbi calabresi come espressioni culturali, Oppido Mamertina 1982,16 (Nr. 25). Apulien: La gatte pe la fodde facì le figghie cecàte, vgl. A. Giovine, Proverbi pugliesi, Firenze 1998,30 (Nr. 173). Lukanien: A gatta p’a presse a ffatte i gattarielle cecate, vgl. R. Bigalke, Mille sentenze e detti lucani, Heidelberg 1986,229 (Nr. 426). Neapel: La ’atta pe’ ghì ’e presse facette ’e figlie cecate, vgl. V. Gleijeses, I proverbi di Napoli, Napoli 1978,195, und ’ A gatta pe fa ’ ampressa facette ’e figlie cecate, vgl. Paliotti (unten Anm. 100) 65. Romagna: La gata ch’l’aveva priscia la fasé i gaten igh, vgl. A. Spallicci, Proverbi romagnoli, Firenze 1996,29 (Nr. 186), und zum Polesine Proverbi e modi proverbiali del Polesine raccolti da P. Mazzucchi, Castelguglielmo 1913 (Nd Bologna 1981),22. Venezien: I gati nati in pressa i nasse orbi, vgl. C. Pasqualigo, Raccolta di proverbi veneti, III, Venezia 1858,37; La
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riante wahrscheinlich mindestens bis in das 14. Jahrhundert.55 Dem griechischen Volksmund ist eine solche Ausdrucksweise ebenfalls nicht fremd: H , $µ κ ' | 9 » ' . 56 Im Bulgarischen weiß man nicht nur, daß «eine schnelle Katze auch blinde Jungen zur Welt bringt», sondern auch: «Eine schnelle Stute bringt ein blindes Fohlen zur Welt.» 57 Sogar im Deutschen läßt sich die Version mit der Katze nachweisen. 58 Es ist nicht auszuschließen, daß es sich um jeweils eigenständige Schöpfungen in Anlehnung an das bekannte Sprichwort von der Hündin handelt. Doch ist bemerkenswert, daß die eilende Katze, die deshalb blinde Kätzchen wirft, auch im Arabischen vorkommt 59 und auf Malta bezeugt ist.60 Eine gegenseitige Beeinflussung im Mittelmeerraum, etwa über Sizilien und Unteritalien, wegen des Griechischen und des Venezianischen aber vielleicht nicht nur dort, sondern auch in der Levante, wird man hier zumindest erwägen können. Erstaunlich ist, daß diese Version mit der Katze auch bei den bereits für die Hündin erwähnten FinnoUgriern des Ostseeraumes bekannt ist und hier sogar die etwas häufigere zu sein scheint: Finnen, Karelier, Esten, Woten und Wepsen weisen entsprechendes Sprichwortgut auf. 61 Die eilende Hündin wirft blinde Junge ist ein internationales, Kontinente verbindendes und nicht nur auf eine Epoche beschränktes Sprichwort. Die Bedeutung des Erasmus und auch des Apostolios ist daher eine andere als in manchen der unten zu behandelnden Fälle: Weder Apostolios noch Erasmus sind es, die hier erst ein «Sprichwort» erschaffen bzw. seine Verbreitung im Lateinischen und in den Volkssprachen ermöglichen, sondern der Gedanke in einer mehr oder minder festen Form ist volkstümlich. Das Sprichwort von der blinden Hündin hätte es sicher auch ohne diese beiden Autoren in den europäischen Sprachen der Neuzeit gegeben. Heißt dies aber nun, daß Apostolios und Erasmus nichts weiter als zwei Zeugen für die Verbreitung eines Ausdrucks unter vielen anderen Bezeugungen sind, die auch hätten wegfallen können? Eine solche Annahme würde einiges übersehen. Zunächst muß unterschieden werden zwischen Apostolios und Erasmus. Im Fall des Apostolios ist
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gata fretolosa, fa i gatèi orbi (Vicent.), vgl. dens., Raccolta …, Treviso 31882 (Nd Bologna 1976),298. Piemont: La gata fola fa i gatin borgnu, vgl. T. Richelmy, Proverbi piemontesi, Firenze 1996,54 (Nr. 644). Doch ist auch die eilende Katze gut belegt, vgl. Maria Cecilia Mantelli, Raccolti di proverbi e detti popolari solerini, Alessandria 1995,186 (Nr. 1713): la gata an con tanta prèsa – l’à fac i gaté òrb; aus dem etwa 30 bis 40 Kilometer südöstlich von Turin gelegenen Val Pellice stammt La chata qu’i à prèsa – i fai li chatin bornhou, vgl. Simona Negri, Raccolta di proverbi e detti popolari in Val Pellice, Alessandria 1996,180 (Nr. 1316); aus Val della Torre, 24 Kilometer nordwestlich von Turin, la ciata spresòira – al à fàit i ciatin borgnu, vgl. Raccolta di proverbi e detti popolari in Val Ceronda e Casternone a cura di Andreina Francesia. Pref. di L. Massobrio, Alessandria 1990,168 (Nr. 1504). Vgl. aus der zweiten Sprichwörtersammlung bei Novati (Anm. 40 [1891]), hier 140 (ser. II L 5): La gatta per pressa fa li gatini orbi. Zur Datierung und Herkunft dieser Sammlung (vielleicht Lombardei) vgl. dens. (Anm. 40 [1890]) 356 f. Vgl. Politis III 108 s.v. ' () mit Belegen aus Zakynthos und Lesbos; vgl. auch III 115 s.v. ',@: Tµ λ 7 ',@ , . Vgl. Ikonomov 36 (Nr. 179) mit Belegen aus Ochrid (Katze) und Dupnica (Stute); deutsche Übersetzung nach M. Oppermann. Eine albanische Version hat ebenfalls eine junge Stute (métsiga), vgl. Meyer (Anm. 33) 402 (Nr. 16). Vgl. Wander II Sp. 1190 s.v. Katze (Nr. 476): Weil’s die Katze nicht erwarten kann, wirft sie blinde Junge. Vgl. Avishur (Anm. 50) 37 mit Verweis auf die «Proverbs of Baghdad» von Scheich Jalal Al-Hanafi. Vgl. J. Aquilina, A Comparative Dictionary of Maltese Proverbs, Malta 1972,450 (XXXVI 15). Vgl. Kuusi 100 (Nr. 34): Finnisch mit kissa (zweimal), Karelisch mit kaz´i, Estnisch mit kass, Wotisch mit katti und Wepsisch mit kazˇi. Die Deutung dieser Wörter ist durch Lexikon im Finnischen und Estnischen gesichert, in den drei anderen Fällen von mir erschlossen.
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in der Tat nicht zu sehen, daß er eine besondere Stellung in der Formulierung und Verbreitung des Sprichwortes eingenommen hat, zumal es gedruckt nicht vor der Ausgabe der Göttinger vorlag.62 Er scheint sich vielmehr durch seine Formulierung K 9 » am Wortlaut der vor ihm liegenden mittelgriechischen Sprichwörtersammlungen, insbesondere dem der «Äsop» zugeschriebenen Moskauer Sammlung, bzw. am Volksmund zu orientieren, und auch Erasmus folgt ihm nicht in seinem Adagium, so daß er nicht über diesen Weg im Westen gewirkt hat. Tatsächlich kommt für Erasmus hier eine andere Quelle in Frage, die Scholia zum Frieden des Aristophanes, die er in der Aldina von 1498 mitlesen konnte. 63 Seine Version des Sprichwortes, H , stimmt genau mit dem Schol. vetus et Triclinii zu Ar. Pax 1078i (p. 158 Holwerda) überein, ohne daß er jedoch seine Quelle nennt. Nachdem er auf Aristoteles und Galen, dessen fünfbändige Aldina von 1525 er wahrscheinlich seit 1526 besaß, 64 verwiesen hat, erwähnt er die Aristophanesscholien mit Aristophanis interpres erst, um auf die Frage einzugehen, quid sit Acalanthis, doch handelt es sich diesmal um das Schol. vetus et Triclinii zu V. 872e der Vögel, was deutlich an dem Vorschlag wird, das Wort «Acalanthis» µ $, (sic) herzuleiten.65 Erasmus selbst hat die eilende 62
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Dübner trägt es in seiner ebenfalls zum Halensis gehörenden Beilage zu Apostolius, Nr. 2, S. 2r nach zur S. 138, nach 66. Zur Aristophanesausgabe vom 15. Juli 1498 bei Aldus Manutius (GW 2333), die noch nicht die Lysistrata und die Thesmophoriazusen enthielt, vgl. M. Flodr, Incunabula classicorum. Wiegendrucke der griechischen und römischen Literatur, Amsterdam 1973,18 mit Verweis auf ältere Verzeichnisse; Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog (BSB-Ink), I, Wiesbaden 1988,194 f. (A-673); Bibliothecae Apostolicae Vaticanae Incunabula. Ed. by W.J. Sheehan, I, Città del Vaticano 1997,111 f. (A-404); auch Graesse I 206a; N. Barker, Aldus Manutius and the Development of Greek Script and Type in the Fifteenth Century, New York 21992, 54 f.85 ff.; M. Sicherl, Griechische Erstausgaben des Aldus Manutius. Druckvorlagen, Stellenwert, kultureller Hintergrund, Paderborn-München-Wien-Zürich 1997,114 ff. Vers 1078 mit den entsprechenden Scholien befindet sich auf P iiii. Zur Bedeutung des Aristophanes als Sprichwörterlieferanten für Erasmus schon 1500 vgl. Appelt 79.117 f.128; Phillips 48. In den Adagia von 1526 wird nach Appelt 144 f. nur Homer mit 676 Fällen öfter als Aristophanes (379 Fälle) angeführt. Vgl. auch Phillips 94, die p. 395 (Appendix III) in der Frobeniana von 1533 auf insgesamt 596 Erwähnungen kommt; häufiger werden ihr zufolge nur Cicero, Homer und «Plutarch» erwähnt. Zu den von Erasmus 1536 in seiner Bibliothek hinterlassenen Büchern gehörten auch die bei Aldus Manutius erschienenen Ausgaben des Aristophanes (1498), des Aristoteles (1495–1498) und Galens (1525, s. folgende Anm.), vgl. Husner 239 (Nr. 116).241 (Nr. 214). 239 (Nr. 137), ferner dens. 234 f.250 f.258. Vgl. Patrizia Armandi, Erasmo da Rotterdam e i libri. Storia di una biblioteca, in Bibliothecae selectae da Cusano a Leopardi a cura di E. Canone, Firenze 1993,13–72, hier 30 f. mit Verweis auf Brief 1746 (datiert auf 1526) im Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami von P.S. und H.M. Allen, VI, Oxonii 1926 (Nd ebd. 1992),405sq., in dem sich Erasmus bei Francesco d’Asola für die Zusendung bedankt. Gewünscht hatte er sich den Galen schon auf der Bücherliste wohl aus dem Jahr 1525, publiziert als Appendix XX von P.S. und H.M. Allen, VII, Oxonii 1928 (Nd ebd. 1992),547. Die Galenstelle nimmt Erasmus erstmals in die Ausgabe der Adagia von 1528 auf, wie er auch im Vorwort, einem an die studiosi gerichteten Brief vom 13. August 1528 (f. aa 2 r = Allen VII 438–440 [Nr. 2022]) schreibt, daß vor allem der neue Galen ihn dazu bewogen habe, entgegen früherer Absicht nun doch eine neue Ausgabe seiner Sprichwörtersammlung vorzulegen (439,20–24). Zum hohen Marktwert der Galenausgabe vgl. Armandi 38.44. Vgl. zu den genannten Autoren oben Anm. 19.15; Schol. vetus et Triclinii ad Ar. Av. 872e (p. 137 Holwerda), in der Aldina von 1498 auf [I viii r] zu finden, wo die Verbindung 0- auf den ersten Blick in der Tat mit einfachem $– verwechselt werden kann (von mir wurde das Exemplar der ULB Halle, Sign. Ce 1386.4° Ink, eingesehen). Ferner nennt Erasmus für den Vorschlag «Suidas» ( 785 s.v. #A*«) und den «Etymologus» (ps.-Zonaras, Lexicon col. 102 s.v. #A*«, ed. I.A.H. Tittmann, I, Lipsiae 1808 [Nd Amsterdam 1967]?).
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Hündin nach den Adagia von 1508 noch 1514 in seine Parabolae sive Similia aufgenommen. 66 Wie steht es aber nun mit seinem Anteil an der Verbreitung des Sprichwortes in Westeuropa? Es hat sich oben gezeigt, daß die eilende Hündin schon vor Erasmus im Lateinischen, Italienischen, Provenzalischen, Französischen Katalanischen, Aragonesischen und Kastilischen bezeugt ist, doch sind andererseits die erasmianischen Adagia oft gedruckt worden und haben auf nachfolgende Sprichwörtersammlungen gewirkt und, wenn sie im vorliegenden Fall nicht sogar Quelle des Sprichwortes einer Volkssprache sein sollten, gewiß zu dessen größerer Bekanntheit beigetragen. In England, wo ein vor das 16. Jahrhundert zu datierender Beleg bislang noch nicht gefunden ist, und damit auch für Nordamerika scheint Erasmus sogar das entscheidende Bindeglied zwischen der Antike und dem englischen Sprichwort zu sein. Das Sprichwort lag Erasmus unmetrisch vor, und so sah er keinen Anlaß, es lateinisch in gebundener Form wiederzugeben: Canis festinans caecos parit catulos. Dies geschah im Westen zuerst in den romanischen Volkssprachen: So kann die Version des volgarizzamento von Latinis Tresor, cane frettoloso fa catelli ciechi, als doppio senario aufgefaßt werden, das spätere la cagna frettolosa fa i canini ciechi hingegen als doppio settenario (mit «dialefe» nach fa). 67 Das Sprichwort von der eilenden Katze ergibt im Toskanischen einen doppio settenario mit «dialefe» bzw. «sinalefe»: La gatta frettolosa fa / fece i gattini ciechi. 68 Griechisch erscheint die eilende Hündin in metrischer Form im B « Scaligers, lateinisch in der entsprechenden Wiedergabe Morels und in Sammlungen wie der Gruters. 69 Zu einem Vers, oft unterstützt durch Reime der Vershälften, konnte das Sprichwort auch im griechischen Volksmund werden: Es scheint, daß alle von Politis gesammelten Beispiele rhythmisiert sind, zum Teil in der Form politischer Verse. 70 Was Erasmus im Fall der eilenden Hündin von den anderen Sprichwörtersammlern abhebt, ist nicht nur seine größere Nachwirkung in Westeuropa, sondern auch, daß er als erster Erklärungen gibt, die über eine moralisierende Paraphrase hinausgehen. Die gelehrte Beschäftigung mit dem Sprichwort hat begonnen.
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Parabolae sive Similia ed. J.-C. Margolin, ASD I 5 (1975) 1–332, hier 284,27sq.: Uti canis properans in enitendo, caecos parit catulos, ita praecipitata opera non possunt esse absoluta. Zu Latini vgl. oben Anm. 34 (auch zur kastilischen Übersetzung), zum doppio settenario Anm. 42; bei der mit cagnolini gebildeten Version müßte man «sinalefe» nach fa annehmen. Die französische Übersetzung der Sortes Apostolorum, Li liesse suet par trop haster | Aveules kienchons enfanter (Anm. 36), ist gereimt und könnte altfranzösisch als doppelter Neunsilber (suet einsilbig) gelesen werden. Vgl. oben Anm. 53. Das venezianische I gati nati in pressa i nasse orbi (oben Anm. 54) könnte mit zweimaliger «sinalefe» und einer «dialefe» nach nasse einen endecasillabo ergeben, La gata fretolosa fa i gatèi orbi aus Vicenza (ebd.) hingegen nur mit zweimaliger «dialefe» im zweiten Teil einen doppio senario. Vgl. zu Scaliger und Gruter oben Anm. 39. Politische Verse sind ' Nr. 6: H $µ κ ' &« | , ,' mit Elision, Synizese und konsonantisiertem ; Nr. 15 über die Katze: Tµ λ 7 ',@ | , mit konsonantisiertem . Die übrigen Fälle haben als Grundelement den Iambus, meist in der Form zweier katalektischer Tetrapodien, wie auch der Par. gr. 1409 (Nr. 14): H « ,@ | @ # & mit Konsonantisierung des Iota, vgl. Krumbacher (1887) 49 f.55 und oben Anm. 27. Hinzu kommen Reime, z. B. Politis s.v. ' Nr. 5: H $µ κ ', &« | , , &«; Nr. 4 über die Katze: H , $µ κ ' | 9 » ' .
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II Diogenesbriefe Eine gelegentliche Quelle für Sprichwörter sind Apostolios die Diogenesbriefe gewesen, die er mehrfach kopiert hat, ohne daß eine genaue Datierung möglich ist. 71 Daß die Zitate aus den Briefen schon in einer von Apostolios benutzten Quelle gestanden haben, kann zwar nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, erscheint aber wegen seiner bezeugten guten Kenntnis der Briefe unwahrscheinlich. Ep. Diog. 2: Y « ² 7 = , , entgegnet Diogenes einigen , … * ! , die ihn als Hund bezeichnet hatten. Diesen Ausspruch wie auch die übermütigen , übernimmt Apostolios XIII 23 wörtlich von hier. 72 Dübner trägt das Ganze zusammen mit O=ξ Z Ν , , κ µ« (sic) am oberen linken Rand von S. 180 der Pantiniana aus dem Par. gr. 3059 nach 73 und zeigt durch einen Strich an, daß er es zwischen dem Ende von XIII 22 (XIV 98 Pant.) und XIII 25 (XIV 99 Pant.) eingefügt sehen will. Leutsch druckt es dann als erster im Göttinger Corpus. ep. Diog. 9: … @ , <* κ 0λ Ρ, = $ξ« schließt Diogenes einen Brief an Krates, in dem er ihm rät, umgehend aus Theben abzureisen. Apostolios XIII 17 verändert zu O= $ξ« @ , <* 0 Ρ, wobei die Hinzufügung des « vielleicht durch ep. 10,2 leichtfiel. 74 Erstdruck ist das Corpus Paroemiographorum.75 ep. Diog. 10,1: … µ ξ H : $* λ λ 0 ', bringt Diogenes als ein Beispiel unter vielen dafür vor, daß ein Kyniker seinen Lebensunterhalt von seinen Mitmenschen fordern dürfe, was Apostolios IX 33 (CPG II 471) umformt zu Kλ H« : $* 0 ,' .76 Den 71
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Par. gr. 2755, ff. 61–197 (RGK II A Nr. 379), mit den Kynikerbriefen auf ff. 114v-131v; Par. suppl. gr. 205, ff. 31–61.90–91v.92v (RGK II A Nr. 379), mit den Kynikerbriefen auf ff. 51v-60r. Beide Hss. bieten jeweils epp. Diog. 1–29 und epp. Crat. 1–14, vgl. Müseler I 11–13. Im Par. gr. 3044 stammen von des Apostolios Hand nur 46v-47v (epp. Diog. 7.8.9 und 10 bis [Z. 2 Müseler], die auf f. 48r endet, wo ep. 11 sich anschließt, wie mir Tiziano Dorandi mitteilt [per litt., 2. Okt. 2002]); vgl. RGK II A Nr. 379; Müseler I 12 f.52.154. Den Text Müselers in den vier folgenden Briefen hat Tiziano Dorandi freundlicherweise mit dem der drei Parisini verglichen und bis auf 7 ( 7 Müseler) in 3044 mg. keine Abweichungen festgestellt (per litt., 2. März 2002). CPG II 580 = Giannantoni V B 145 (ohne die Abhängigkeit von ep. Diog. 2 [V B 532] klarzustellen). Diog. Laert. 6,45.61 (Giannantoni V B 145), von den Göttingern im Testimonienapparat angeführt, weicht in Wortlaut und geschilderter Situation von Apostolios ab und dient daher eher zur Illustration. Aus Diog. Laert. 6,45 schöpft Arsenios p. 207 Walz = Giannantoni V B 145 in seiner Aufzählung von Aussprüchen des Kynikers, deutlich durch die wörtliche Übereinstimmung: K = * ( 7 ist Variante von Par. gr. 1759 und Laur. 69,13 nur in 6,61). Doch hat er p. 324 Walz (Apost. X 30a [CPG II 493]), was Giannantoni l.l. und Marcovich in seiner Ausgabe des Diog. Laert. (p. 402) entgangen ist, noch K 7 = * . Köhler 88 (Nr. 81) benutzt Diog. Laert. 6,45 und hat deshalb (sic). Er verwendet dabei kein Siglum und schreibt in schwarzer Tinte, vgl. seine Explicatio signorum: Alles nicht Signierte im Arsenius ist aus 3058, im Apostolius aus 3059. Das Sprichwort O=ξ Z … wird Apost. XIII 24. CPG II 578, ebenso Arsenios p. 394 Walz. Petzolds (S. 50 ) Ansicht, hier handele es sich um einen Fall von ea Byzantina, quae ex auctoribus serioribus ignotis excerpta esse videntur (S. 47; vgl. S. 55: Videntur autem ex poematis Byzantinis et ex libris rhetoricis deprompta esse …) und dann in die Sammlung des Apostolios geflossen seien, ist durch die offensichtliche Abhängigkeit von den Diogenesbriefen hinfällig. Dübner führt es in seiner Beilage zu Apostolius, Nr. 4, S. 1v an mit dem Hinweis: S. 179, nach 96 (sc. der Pantiniana). Übernommen wird das Sprichwort samt lateinischer Übersetzung aus der Pantiniana (p. 129, X 84), jedoch mit $* , von der Clavis Homerica, sive Lexicon Vocabulorum omnium, quae continentur in Homeri Iliade et potissima parte Odyssaeae, cum brevi De Dialectis Appendice. Nec non Mich. Apostolii Pro-
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dunklen Ausdruck versucht er mit Ρ λ $# λ 2 $*! zu erhellen.77 Dübner fand bei seinen Kollationen zur Pantiniana (p. 129, X 84) im Par. gr. 3059 < vor. 78 ep. Diog. 11: Kλ « $, « « 9 $9 » Ω ? Ν eröffnet Diogenes einen Brief an Krates und empfiehlt so einem anderen, zu Übungszwecken Statuen anzubetteln, was bei Diog. Laert. 6,49 und Plut. de vit. pud. 7,531F 79 über ihn selbst berichtet wird. Apostolios I 66 (CPG II 257) verkürzt zu A? λ « $, « Ν und gibt als Erklärung λ : $*:, wie ja die Sprach- und Bewegungslosigkeit – körperlich wie geistig – von Statuen eine der Antike geläufige Vorstellung war.80 Form und Sinn des so geschaffenen Sprichwortes finden sich aber verändert bei dem von Apostolios hier abhängenden Erasmus. In Adag. III ii 89, Exigit et a statuis farinas, liest man A0 λ « $, « Ν , id est Sane cibum et signis ab ipsis exigit.
In eum dicendum, qui nullius misertus vndecunque quod potest auellit, vel ab ipsis mortuorum statuis. Simillimum illi K$µ 7 «, id est Et a mortuo tributum colligis. Competit in principes expilatores plebis, qui nulla non ex re vectigal exprimunt, vel ex lotio. Aut in auaros sacerdotes, apud quos ne sepulchrum quidem gratis conceditur. 81
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verbiis Graeco-Latinis …, Londini 1727,307. Das von mir benutzte Exemplar der ULB Halle (Sign.: Cf 2003) stammt aus dem Besitz von Adalbert von Chamisso, vgl. den entsprechenden Eintrag auf dem Vorsatzblatt und, in derselben Tinte, auf dem vorderen Spiegel die Signatur «A. 320C». Auf dem Titelblatt steht «Ex libris Guilielmi Neumann. Hamburgi 1805». Zu diesem Druck von 1727 vgl. English Short-title Catalogue 1473–1800 on CD-ROM, British Library (London) 1998, Record Number t067151. Zu den weiteren englischen Drucken des 17. und 18. Jahrhunderts der Clavis, die den Auszug aus Apostolios als Anhang haben, vgl. die Nummern r033531 (1656); t150879 (1758); t128424 (1771); t068535 (1784); n004987 (1796); nicht eindeutig ist die Angabe bei t120690 (1741). Entsprechend korrigiert werden muß das Verzeichnis bei O.E. Moll, Sprichwörterbibliographie, Frankfurt a. M. 1958,62 (Nr. 814). Pantin schreibt in seinen Notae auf p. 318: Fabula quae tangitur, ignoro. An illa ut infra (i.e. XIII 1 [CPG II 569]) exponam, qua Hercules mortuus ex nidore perdicis (sic) assae revixisse dicitur? an potius de cornu Amaltheae capiendam? In der Tat ist die Anspielung im Diogenesbrief erklärungsbedürftig, aber ob sie etwas mit der Wachtel (coturnix) zu tun hat, wird schon wegen des pluralischen Ausdrucks $* fragwürdig. W. Capelle, De cynicorum epistulis, Diss. Göttingen 1896,60 f. (zu ep. 10) behandelt nur den auch Herakles beigelegten Gedanken, dem Weisen gehöre alles. Vgl. zur Wachtel des Herakles Zen. Ath. II 84 (Bühler V 424sqq. mit weiteren Belegen). Wenn Abweichungen mit schwarzer Tinte ohne Siglum verzeichnet sind, so möchte man nach der Explicatio Signorum (s. oben Anm. 73) das Autographon des Apostolios verstehen. Ferner notiert Dübner zu : war erst «; zu : λ. Giannantoni V B 247. Zum Betteln des Diogenes vgl. Giannantoni, IV p. 512. Vgl. R. Kassel, Dialoge mit Statuen, ZPE 51 (1983) 1–12 = Kleine Schriften, Berlin-New York 1991,140–153, hier 140 f. Mit Apostolios stimmt Arsenios p. 28 Walz überein. ASD II 5 (1981) 152 (Nr. 2189), edd. F. Heinimann et E. Kienzle; in der Aldina von 1508 ging die Erklärung nur bis colligis, im Basler Druck Frobens von 1515 setzte Erasmus den Rest hinzu. Überliefert sind $ « und $µ, wie ich an folgenden Ausgaben nachgeprüft habe: Aldina 1508, Frobenianae von 1518, 1520, 1528, 1533, 1536, 1540. Clericus (LB II [1703] 768A) bietet $ «, hat aber K9 $µ (sic). Auch solche Orthographica festzuhalten (vgl. zur Praxis der Editoren die Einl., S. 11) erscheint sinnvoll, weil Unsicherheiten in Akzentuierung Rückschlüsse auf die Sprachbeherrschung erlauben, und erhält im vorliegenden Fall besonderes Gewicht, da im selben Satz mit 0 noch eine Akzentabweichung vorliegt. Das $ « der Pantiniana (p. 16, II 91) korrigiert Dübner, wohl nach Par. gr. 3059. Stephanus (in seiner Ausgabe, abgedruckt bei Clericus) konjiziert « für «.
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Erasmus hat durch eine kleine Änderung, die Einfügung eines , aus einem prosaischen Ausdruck einen jambischen Trimeter hergestellt, den er auch in seiner Übersetzung nachbildet, und damit eine Textänderung vorgenommen, die wir Späteren als remedium Heathianum bezeichnen. 82 Durch die andere Akzentuierung – 0 statt ? – geht der Imperativ verloren, und es entsteht eine finite Verbform, dadurch aber auch ein vollkommen anderer Sinn: Jemand ist in seiner Gier so unverschämt, daß er auch noch von den Statuen etwas abzupressen sucht. Um zu der neuen, gewundenen Deutung zu gelangen, bezieht Erasmus die Erklärung λ : $*: offenbar nicht auf die teilnahmslosen Statuen, sondern auf den 0 : selbst, was erleichtert oder vielleicht sogar erst ausgelöst wurde durch die von ihm zitierte scheinbare Parallele K$µ 7 «.83 Die Frage indes, ob Erasmus eine fehlerhaft akzentuierte Apostolioshandschrift hatte und deshalb vom Richtigen abkam oder ob er selbst die Akzentänderung vorgenommen hatte, weil er sich verlesen oder von vorneherein das Sprichwort nicht anders gedeutet hat, scheint, solange wir seine Vorlage nicht haben, nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden zu können, wenngleich man annehmen mag, daß erst Erasmus der Verursacher ist. 84 Seiner zeit- und gesellschaftskritischen Natur, für die die Adagia ein wichtiges Zeugnis sind, 85 kam nämlich eine solche, vor allem kirchliche und politische Mißstände treffende Deutung sehr entgegen, und wie leicht er im Griechischen straucheln konnte, zeigt zum Beispiel das im selben Jahr 1508 aufgenommene Adagium Statuam faucibus colas, wo er das Adynaton #A, @ «, das ebenfalls auf die Regungslosigkeit von Standbildern abzielt, als #A, @ « mißverstanden hat. 86 Später, in der Frobeniana von 1515, erscheint dann aber Statua taciturnior (Adag. IV iii 99).87 Es ist jedenfalls im folgenden diese bei Erasmus verändert vorliegende Form des Sprichwortes, die in den nichtgriechischen, teilweise auch in den griechischen Sammlungen weiterlebt. Erasmus selbst führt den Ausdruck noch einmal im Adagium A mortuo tributum exigere (I ix 12) seit der Frobeniana von 1515 an, jedoch mit einer anderen, aber ebenfalls iambischen Übersetzung Ipsis farinas poscit a statuis quoque.88 Paulus Manutius nimmt in seine 1575 gedruckte Sprichwörtersammlung 82
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Weitere Beispiele aus den Adagia in Heinimanns/Kienzles Anm. zu 2189 (p. 153). Auch A. Nauck, Parerga critica. Fasciculus II, Philologus 2 (1847) 144–160, hier 158 fühlte sich in Unkenntnis der Herkunft des Sprichwortes bewogen, einen Trimeter zu restituieren: A0 « $, « Ν ; Petzold 10, die mit einem proverbium vulgare rechnete, zog die Lösung des Erasmus vor. Ähnlich ist Diog. V 84 (CPG I 267), auch Diog. I 9 (CPG I 182).Vgl. auch Greg. Cypr. Leid. II 37 (CPG II 73); Greg. Cypr. Mosq. III 92 (CPG II 119); Vat. gr. 113 (F; S. 9 in Keils Kollation, vgl. unten Anm. 104); Greg. Cypr. II 84 (CPG I 366); Apost. IX 41 (CPG II 471); Arsen. p. 316 Walz; Arist. Rhet. 2,6.1383 b25. Tiziano Dorandi hat die Autographa Par. gr. 3059 und Mazarineus 1235, außerdem den Par. gr. 3060 eingesehen und mir mitgeteilt (per litt., 15. Mai 2002), daß es auch in der Akzentuierung keine Abweichung gegenüber dem in CPG II 257 gedruckten Text gibt; Par. gr. 3072 enthält das Sprichwort nicht. Vgl. Appelt 48 ff.; Phillips 34 ff.96 ff. Adag. III iv 56 (Nr. 2356), ASD II 5 (wie Anm. 81), 268 mit den Bemerkungen von Heinimann und Kienzle. Es stammt möglicherweise aus Apostolios II 84 (CPG II 284). Die Aldina von 1508 und die Frobenianae von 1518, 1520 und 1528 haben #A, (teils wie die Aldina ohne Spiritus), doch 1536 erscheint #A (ohne Spiritus), das 1540 im Text geblieben ist. Clericus (LB 2 [1703] Sp. 816) hat #A . Ed. R. Hoven, ASD II 7 (1999), 182sq. (Nr. 3299). ASD II 2 (1998), edd. M.L. van Poll-van de Lisdonk/M. Cytowska, 330–335 (Nr. 812), hier 332,184sq.; die Aldina von 1508 hört mit 332,160 auf, wie die beiden Herausgeberinnen angeben und ich selbst nachgeprüft habe. Aber auch sie machen nicht deutlich, daß sie den Akzent von $ « zu $, « korrigiert haben: Das Proparoxytonon begegnet in den Frobenianae, soweit ich sie eingesehen habe (1518, 1520,
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Farinas exegit a statuis auf.89 Der von Erasmus abhängende Joseph Justus Scaliger bietet in seinen P < , 1593 erstmals gedruckt, unter den Iamben A0 λ « $, « Ν mit Akzentkorrektur, in der 1594 publizierten lateinischen Fassung lautet der Vers Ipsis farinas poscit à statuis quoque, es steht dem gelehrten Drucker Morel also Adag. I ix 12 vor Augen. 90 In den erweiterten B « : von 1600, die Opuscula diversa (1605) und die Poemata omnia, Ex museio Petri Scriverii (1615, ed. alt. 1864) ist der griechische Vers aufgenommen, griechische und lateinische Version zusammen finden sich in der von Andreas Schott 1612 besorgten Ausgabe der P E&. Adagia sive proverbia Graecorum. 91 In der Apostoliosausgabe Pantins von 1619 finden sich «richtige» griechische Akzentuierung – 5A (sic) – und abweichende lateinische – Statuis ab ipsis hic farinas exigit – Übersetzung nebeneinander. 92 Nach diesen Darlegungen dürfte nun das von Wander unter dem Lemma «Bildsäule» verzeichnete Sprichwort mit dem Zusatz «altrömisch», Auch von den Bildsäulen Zoll fordern,93 nach seinem Ursprung wie auch im Hinblick auf den Weg seiner Vermittlung erklär-
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1528, 1533, 1536, 1540) und in der LB II (1703) Sp. 337, von der die Auswahlausgabe Theresia Payrs in Erasmus, Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. W. Welzig, VII, Darmstadt 1972 (Nd ebd. 1995), hier S. 444 abhängt. A.J. Gail (Stuttgart 1983 [Nd 1994],44), der in seiner Ausgabe von zehn Adagia auch A mortuo tributum exigere hat, folgt zwar ebenfalls grundsätzlich dem Text des Clericus, verändert aber zu $, «. Eine englische Übersetzung, in der leider auch die hier interessierenden Graeca übersetzt sind, bietet Phillips 225–229. Walther 36859a (II 7 p. 813). Einfach übernommen ist Erasmus in Adagia (Coll. abs.) 79 (1646; 1656; 1670). Exigit et a statuis farinas bei Margalits 181.191.483 gibt hingegen genau die Wortabfolge bei Apostolios wieder. PAXOIMIAI EMMETXOI. Proverbiales Graecorum Versus. Ios. Scaliger, Iul. Caes. f. pridem collegit, composuit, digeßit. Lutetiae 1593,14; PROVERBIALES GRAECORUM VERSUS Latinis eiusdem generis versibus expreßi, partim ab Erasmo olim, partim nunc à Fed. Morello Prof. Regio, Lutetiae 1594,11 (Nr. 28), dabei der Hinweis «Ad. 12» am Rand; zu den Drucken vgl. Bühler 113 f. Bernays 285 und Scaliger Collection 76 ordnen auch die griechische Fassung dem Jahr 1594 zu, Scaliger Collection 128 aber richtig dem Jahr 1593. Das von mir (und Bühler I 114 n. 38) benutzte Exemplar der SUB Göttingen (Auct.gr.I 3852) hat «M.D.XCIII.» auf dem Titelblatt. Die griechische Fassung wurde 1594 noch einmal zusammen mit der lateinischen gedruckt, vgl. den Catalogue of Printed Books des British Museum (heute: British Library), Vol. 213, London 1964, Sp. 1091; Bühler I 114sq. B «, Lugduni Batavorum 1600: p. 19 = C2, vgl. Bernays 285 (Nr. XIX) und Bühler I 115; Opuscula diversa Graeca et Latina partim nunquam hactenus edita, partim ab auctore recensita atque aucta, Parisiis 1605: p. 141, vgl. Bernays 290 f. (Nr. XXV), Bühler I 115 und Scaliger Collection 75 f. (Nr. 160); Poemata omnia, Ex museio Petri Scriverii. Ex Officina Plantiniana Raphelengii 1615: p. 141 (p. 136 in der ed. altera, Berolini 1864), vgl. Bernays 301 ff. (Nr. XXXV), Bühler 116 n. 54 und Scaliger Collection 77 (Nr. 164). P E&, Antverpiae 1612: p. 602 (gr.) und 603 (lat.) als Nr. 434, vgl. zum Druck Bühler I 110–112.116; Scaliger Collection 81 (Nr. 172). Schott verweist in einer Fußnote auf das Adagium A mortuo tributum exigere und auf den Ausdruck #A* K (Diog. I 9 bei ihm) auf p. 176, der nun seinerseits mit dem Adagium A mortuo … illustriert wird. Cent. II 91 (p. 16); die Erklärung wird übersetzt mit In eos, qui nullo compassionis et commiserationis affectu tanguntur. Der Text wird wiederholt in Clavis Homerica … cum … Appendice. Nec non Mich. Apostolii Proverbiis Graeco-Latinis …, Londini 1727,281 (vgl. oben Anm. 76). Wander I Sp. 379. Auf das Adagium A mortuo tributum exigere zielen Den Todten Steuer abfordern und Es müssen jm auch die todten Tribut geben ab, vgl. Wander IV Sp. 1258 s.v. Todte (der), Nr. 99 und 108. Allgemeiner sind Er nehme es von den Todten (IV Sp. 1258 Nr. 106) und Steuer und Bett von todten nemen (IV Sp. 843 s.v. Steuer (Abgabe), Nr. 10), vgl. hierzu L. Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, III, Freiburg i. Br. 1992,1550 f.; zur Emblematik vgl. Emblemata. Hrsg. v. A. Henkel u. A. Schöne, Stuttgart 1968 (Sonderausgabe 1978),994.
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bar sein. Es ist eine Kontamination aus Sane cibum et signis ab ipsis exigit bzw. Ipsis farinas poscit a statuis quoque und A mortuo tributum exigere und leitet sich aus den Adagia des Erasmus her, die das entscheidende Bindeglied zwischen einem erst von einem griechischen Gelehrten der Renaissance aus einer pseudepigraphen antiken Briefsammlung ausgehobenem Zitat und seinem Nachleben mit verändertem, Herrscher wie Priester anklagendem Sinn abgeben. III Phalarisbriefe Kenntnis der Phalarisbriefe verrät Apostolios nicht nur in XIV 79 (CPG II 623, ep. Phal. 83,1) und XVII 78 (CPG II 706sq., ep. Phal. 122), 94 sondern auch in dem Zitat K)« « ’Iµ« = $ @ X 37 (CPG II 495). Es entstammt ep. Phal. 86 und erlangte große Berühmtheit in der Renaissance, jedoch ohne daß ein maßgebender Einfluß des Apostolios dabei erkennbar wäre; vielmehr muß Erasmus als bedeutender Vermittler angesehen werden.95 Als mittellateinisch kann es nur bezeichnet werden, wenn man das 15. Jahrhundert noch zu dieser Epoche hinzurechnet, da es lateinisch nicht eher begegnet. 96 Bis weit in die Neuzeit hinauf findet es sich immer wieder in Sprichwörtersammlungen, zum Teil mit Abweichungen vom wörtlichen culicem elephas Indus non curat, wie es der Übersetzer der Phalarisbriefe, Francesco Griffolini, um die Mitte des 15. Jahrhunderts wiedergegeben hatte. 97 Eine dieser Abweichungen ist der Ersatz der Mücke (culex) durch einen Floh (pulex).98 Auch das Toskanische kennt L’elefante non sente il morso della pulce.99 In Neapel weiß der Floh aber einen Ausweg, weil er die schwache Stelle des Dickhäuters kennt: Nu polece cecai n’uocchie a n’alifante.100 94
Vgl. Verf., Nunc Phalaris doctum protulit ecce caput. Antike Phalarislegende und Nachleben der Phalarisbriefe, München-Leipzig 2001,139 Anm. 481. Zum Laudianus gr. 10 vgl. ebd., 161 Anm. 561. 95 Vgl. bes. zum Quattrocento ebd. 179 ff., wo auf 184 und 250 für Erasmus Adag. I x 66 die Ausgabe von M.L. van Poll-van de Lisdonk/M. Cytowska, ASD II 2 (1998) 464 (Nr. 966) nachzutragen ist. Das Sprichwort vom indischen Elefanten steht auch in Adagia (Coll. abs.) 138 (1646; 1656; 1670 [= Erasm.]). Dübner führt es, weil es in der Pantiniana noch nicht steht, in der Beilage zu Apostolius, Nr. 3, S. 1r an. 96 Mißverständlich ist daher der Eintrag im TPMA 8 (1999) 252 als «Mlat»; die Sammlung Georg Hauers, publiziert von J. Knepper, Zeitschr. f. dt. Philologie 36 (1904) 128–133.387–390 als «Eine alte verdeutschung lateinischer Sprichwörter», in der auch der indische Elefant nicht fehlt (S. 131), wurde am 26. März 1515 von diesem gewidmet. Düringsfeld/Reinsberg-D’feld, II 59b (Nr. 100) verzeichnen das Sprichwort einfach als lateinisch. 97 Walther 34410 (II 7 p. 55; Fausto Andrelini 1508, vgl. Verf. 184 Anm. 655); 35896 (II 7 p. 476; 1606 und 1887); 36542a (II 7 p. 675; P. Manutius 1575); 37517 (II 8 p. 160; 1646, 1716 und 1740); 38840i (II 8 p. 697; Gruter 1625); 38877c (II 8 p. 725; Fausto Andrelini, s. zuvor). Zu Griffolini vgl. Verf. 150 ff.182 f. 98 Pulices elephas non curat: Walther 22869a (II 3 p. 1020), dessen Quelle, Wander I Sp. 804 f. s.v. Elefant, auf W. Binder, Novus Thesaurus Adagiorum Latinorum, Stuttgart 1861 (Nd Vaduz 1986),69 (Nr. 635) verweist. Binder hat aber Culices … und führt ferner zwei Knittelverse an: Der Elephant bemerkt es nicht, Wenn eine Mück’ (Singular) ihn etwa sticht. Er hängt ab – ebenfalls bei Wander verzeichnet – von J. Webers Dicta Sapientium Selectiora et insigniora graeco-latina, Frankfurt 1705,26sq. (Cent. II 7): K) « (sic) « = $ @ . Culices elephas non curat, dazu die Knittelverse Ein Elephante achtet nicht / Ob ihn gleich ein <e> Mücke (Sing.) sticht. Die Stufe, auf der hier aus Mücken Flöhe wurden, ist also Wanders Sprichwörter-Lexikon. Anders sieht es dagegen aus bei dem von Wander zitierten [P. Winckler], Zwey Tausend Gutte Gedancken zusammen gebracht von dem Geübten, Görlitz 1685, Zehendes Hundert, 80: Der Elephant achtet keine Floehstiche. Margalits nimmt sowohl culicem als auch pulices auf, vgl. dens. 129.132.175 und Suppl. 85.221. 99 Vgl. Giusti 60. 100 D.i. «Una pulce fu capace di accecare un elefante», vgl. V. Paliotti, Proverbi napoletani, Firenze 1995,68 (Nr. 415).
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IV «Wolfsflügel»: Ein Fall von #A ! S #A &@ Die 1889 unter dem Namen des Hippolyte Noiret erschienene Edition einiger neuer Apostoliosbriefe ist ein postumes Werk, da der Editor ein Jahr zuvor jung verstorben war und sein Freund Desrousseaux im wesentlichen die Drucklegung betreut hatte, wie man in einer kurzen Vorbemerkung liest. So kann es nicht verwundern, daß manches noch als Problem erscheint, was nach einer abschließenden Überarbeitung diesen Rang wohl nicht mehr hätte beanspruchen können. In einem Appendice edierte Noiret u.a. aus dem Parisinus graecus 1760, ff. 238–245, einen !« !« des Apostolios, in dem die Italiener aufgefordert werden, Griechisch zu lernen, und den er selbst nach dem Zeugnis seiner Briefe in den Jahren 1471–1473 in einer lateinischen Übersetzung verschickte.101 Apostolios legt unter anderem dar, daß es nur ausnahmsweise wie im Anfangsunterricht, nicht aber in der gesamten Lernphase Zweisprachigkeit geben darf: Denn nicht der Lehrer will von seinen Schülern eine Sprache lernen, sondern umgekehrt. Der Absatz schließt mit einer Kette von Adynata: Ν9 & ω ν (Tournier: Ν9 & Ν& cod.) @& λ ^*« ,; λ Ρ« ω 0« & * $ .102 Die Identifizierung der beiden letzten Sprichwörter hat dem Herausgeber weniger Schwierigkeiten bereitet, wohl aber die Herkunft des ersten: «Quant au premier, il semble n’ètre cité nulle part; on ne le trouve point dans le recueil de Proverbes d’Apostolis.» 103 Tatsächlich ist jedoch D @& « in der Sammlung des Apostolios und auch sonst in parömiographischer Tradition belegt.104 «Wolfsflügel» und «Vogelmilch» zusammen als 101
Noiret 143–153. Auf den Text hatte zuvor Legrand I (1885) LXIXsq. (Nr. 19) aufmerksam gemacht. Zum Par. gr. 1760 und seinem Kopisten, Michael Suliardos, vgl. RGK II A 392 und Müseler I 11. Zu den Briefen (Nr. CX Noiret, vielleicht auch Nr. CXV) vgl. M. Manfredini, Michele Apostolis scriba, dalla sua corrispondenza, Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia della Università di Napoli, n.s. 16 (1985–1986) 139–153, hier 150. Eine englische Übersetzung, jedoch nicht des gesamten Textes, gibt D.J. Geanakoplos, Greek Scholars in Venice. Studies in the Dissemination of Greek Learning from Byzantium to Western Europe, Cambridge (MA) 1962,101–107, der als Hintergrund für die Abfassung des !« die Notlage angibt, in der sich Apostolios nach dem Tod seines Gönners, des Kardinals Bessarion, 1472 befand. 102 152,16sq. Noirets negativer Apparat läßt nicht zweifelsfrei erkennen, ob Ν& ν oder nur Ν& überliefert ist. Tiziano Dorandi hat mir nach Autopsie bestätigt (per litt., 2. Okt. 2002), daß Letzteres der Fall ist. Aus Ν& wird also ω ν hergestellt. 103 Noiret 152 Anm. Für die vor allem aus der Komödie gut bekannte «Vogelmilch» verweist er auf schol. vet. Tr. ad Ar. av. 733b'/c' (p. 115 Holwerda) und Suda 19 s.v. `, P* (weitere Stellen bei Eupolis fr. 411 K.-A. und bei Tosi 341 [Nr. 727], das Menanderfragment nun 880 K.-A., Alexis fr. 123 K nun 128 K.-A.), für das sprichwörtliche «Faß ohne Boden» auf Arist. oec. 1,6.1344b25 (vgl. auch hier Suda 321 s.v. E0« µ & , weitere Belege gesammelt von Theodoridis zu Photii Lexicon 333 [II p. 38]; E. von Prittwitz-Gaffron, Das Sprichwort im griechischen Epigramm, Diss. München 1911, Gießen 1912,50 f.; D.K. Karathanasis, Sprichwörter u. sprichw. Redensarten des Altertums in den rhet. Schriften des M. Psellos, des Eustathios u. des M. Choniates sowie in anderen rhet. Quellen des XII. Jh., Diss. München 1936,32 f. [Nr. 32]; F. Graf, Eleusis und die orphische Dichtung Athens in vorhellenistischer Zeit, Berlin-New York 1974,107 ff.; Tosi 204 zu Nr. 441); beide haben Eingang auch in die parömiographische Tradition gefunden, vgl. Tosi und Theodoridis, so auch in Apostolios V 19 (CPG II 335) bzw. VI 79 (CPG II 387). 104 X 80 (CPG II 509), gedruckt ohne den aus Aelian HA 8,14 stammenden Zusatz (vgl. Petzold 67) schon in der Hervagiana, Basel 1538,123=[h 6r]; zu ihr vgl. Graesse I 167b; Legrand III (1903) 373 (Nr. 371); Index Aureliensis II, Aureliae Aquensis 1966,39; VD 16 A 3154 (sie gehört zur Familie des Mazarineus 4461, vgl. Bühler I 294). Die Pantiniana (p. 145 als XII 14) hat diesen Zusatz, nicht jedoch der Par. gr. 3072, wie aus Dübners in grüner Tinte geschriebenem om. erkennbar wird. Einfaches ,: λ : $, ohne jede weitere Zufügung haben Prov. Bodl. 590 (p. 70 Gaisford); Arsen. p. 338 Walz; Greg. Cypr. Leid. II 64 (CPG II 78); Greg. Cypr. Mosq. IV 29 (CPG II 122) und Greg. Cypr. im von mir einge-
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Ausdruck des Unmöglichen finden sich bei Libanios,105 alle drei genannten und in der Sammlung des Apostolios erscheinenden sprichwörtlichen Redensarten unter den $ des ps.-Plutarch, die bei den «Wolfsflügeln» und der «Vogelmilch» @& « stehen haben.106 Durch die erste Sammlung des Miller’schen Athous und die der recensio B (Prov. Bodl.) nahestehende Rezension des Par. suppl. gr. 676 wissen wir, daß das Sprichwort in Menanders Eunuchus vorkam; zuvor hatte schon der Komödiendichter Krates mit weiteren Absurditäten wie einer kochenden Meeresschildkröte und windschnellen Krebsen zusammengestellt.107 Auch in Verbindung mit anderen Tieren erschei-
sehenen Vat. gr. 113, f. 89v l. 15 (vgl. CPG II p. IX, wo es als II 44 = Greg. Cypr. Leid. II 64 erscheint); zum Codex (datiert auf s. XIII-XIV und XV) vgl. Bühler I 257sq. Grundlage der Göttinger war eine Kollation Heinrich Keils, die sich unter den Materialien des Halensis Y g 4°. 81 befindet (dort auf S. 9 das Sprichwort). Mit , Ρ : ! ² !'« 9 Z fahren fort Suda 822 s.v. D ; Diog. Vind. III 7 (CPG II 37); Prov. Par. suppl. 676 (Cohn, CPG Suppl. I 63), om. , mit ?& π Ρ : ! Ν'« 9 Z Zen. Ath. I 87 (cod. M, vgl. p. 359 Miller), nur mit Ρ : ! Ν'« Z Zen. Ath. IV 68/I 54 (codd. LE, vgl. Jungblut, CPG Suppl. VI 410; Cohn, CPG Suppl. IV 210). Daran schließen :« ω &!« « «; an Diog. Vind. III 7; Diog. VI 4 (CPG I 270), om. –9 Z; Prov. Par. suppl. 676 ( &! ); Zen. Ath. I 87/IV 68 (codd. ML). Den Schluß & &« M « E=9 haben nur Zen. Ath. I 87 (cod. M) und Prov. Par. suppl. 676. Zur Textkritik vgl. Kassel-Austin zu Menander fr. 148 (PCG VI 2 p. 116); Crusius CPG Suppl. II 53 (II 80.100 Anm. 3 Vermutungen zur Herkunft). P prov. vulg., Exzerpte aus Zen. Ath. I u. II (vgl. Bühler I 79sqq., hier 82), ist verkürzt und im Lemma entstellt: D« @& α λ : $, (vgl. Treu, Philol. 47 = N.F. 1 [1889] 198). Die Erklärung von Macar. V 68 (CPG II 186) λ : & µ« ^ $S λ $, , Ρ : ! ² !'« 9 lehnt sich am ehsten an die Prov. Par. suppl. 676 an. Für eine Verwendung des Sprichwortes bei byzantinischen Autoren vgl. den Dialog 6E« ν λ $ « 2,40 (p. 40 Kroll-Viereck); den ,« des Manuel Palaiologos auf seinen Bruder Theodoros, ed. Sp.P. Lambros, P! λ P &,, III, #A*« 1926,1–119, hier 76,20 (II 1142E – 1143A Combefis; PG 156,252C). 105 Ep. 1351,3; @& allein in epp. 515,3 (vgl. Köhler 187 [Nr. 11]); 1184,11. Vgl. E. Salzmann, Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten bei Libanios, Diss. Tübingen 1910,78 (80 f. weiteres zur «Vogelmilch»). Abschriften von Libaniosbriefen durch Apostolios sind mehrfach bezeugt: Vat. Pal. gr. 275 (nach 1463), Auswahl von 200 Briefen auf den ff. 98v – 176v, vgl. Vogel-Gardthausen 309; Foerster-Richtsteig 82 (Nr. 30); RGK III A Nr. 454; Vat. Urb. gr. 127, ff. 1r – 219r, vgl. C. Stornajolo, Codices Urbinates Graeci Bibliothecae Vaticanae, Romae 1895,229sq.; Vogel-Gardthausen 309; Foerster-Richtsteig 82sq. (Nr. 31); RGK III A Nr. 454; Dresdensis D 9, der unter 254 Briefen auf ff. 1–64v epp. 515.1184 hat, vgl. Förster 87–89.90.97.104; Vogel-Gardthausen 306; Foerster-Richtsteig 160sq. (Nr. 179). Auf Kreta hat Apostolios den Par. gr. 2755, ff. 61–197, der auf ff. 77–80 (so Omont, Inventaire III 35sq.) ep. Lib. 501 und fünf Briefe des commercium epp. hat, geschrieben, vgl. Noiret 27; Foerster-Richtsteig 229 (Nr. 408) und oben Anm. 71. Zu Par. gr. 3044, der aber nicht von ihm geschriebene Libaniosbriefe enthält, vgl. ebenfalls Anm. 71. Den Lincopiensis Benzelianus A (Klassiska Forfattare 17) rechnen Vogel-Gardthausen 307 unter die Apostolioshss., doch der von ihnen zitierte Förster, SBPAW 1885, 899–918 äußert dies nicht, ebensowenig ders. (1878) 135 f. und Foerster-Richtsteig 113sq. (Nr. 78). Der Scorialensis B-1–14 = gr. 74 (VogelGardthausen 306) ist subskribiert auf f. 85v « $ !« S ; (85r Förster 87 Anm. 3 nach dem Katalog von Miller p. 68 und 134), am Schluß auf f. 161v « $ !&« … (vgl. Förster a.a.O.), doch sind die Libaniosbriefe auf ff. 116r – 156v von einer anderen Hand geschrieben, vgl. für alle Angaben P.A. Revilla, Catálogo de los códices griegos de la Biblioteca de el Escorial, I, Madrid 1936,262–266. Nicht zugänglich war mir J.M. Fernández-Pomar, Copistas en los codices griegos escurialenses. Complemento al catálogo de Revilla-Andrés, Madrid 1986. 106 Ps.-Plut. Prov. 4.19.38.46, Boissonade, Anecd. Gr. I 394.396.397.398 = CPG I 343.345.347(bis), vgl. auch Bühler I 290. Prov. 38 hat den von Apostolios verwendeten Singular ^*«, den aber auch die recensio D 2 mit λ ^*« , bietet, vgl. Cohn, CPG Suppl. IV 252.266. Arsenios p. 462 Walz (abgedr. als Apostol. XVII 80b [CPG II 708]) hat > λ ^« , λ : Ν =!. 107 Menander fr. 148 K.-A., zum Zenobius Athous und zum Parisinus s. Anm. 104; Crates fr. 32 K.-A.
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nen Flügel als Ausdruck des Unmöglichen: Aristides, or. 42,7 (p. 331,24 Keil), erhöht die Macht des Dionysos so weit, daß er λ ^« 7, = 5« !, also nicht nur einen Pegasus schaffen könnte. Der Verfasser des Epigramms AG XI 436 (ps.-Lukian) meint, es sei leichter, weiße Raben &,« )« zu finden als einen glänzenden Redner aus Kappadokien. Die Langsamkeit der Schildkröte wird hier durch Flügel ins Gegenteil verkehrt. Nichtgriechisch ist der Ausdruck lupi alas belegt bei Erasmus, Adag. I iv 81, der ihn aber wahrscheinlich aus Diogenian hat, zumal er zu Apostolios’ Sammlung nicht vor 1508 Zugang hatte.108 Volkssprachlich läßt sich das Sprichwort zwar in Sebastian Francks Sammlung von 1541 finden,109 doch scheint es die griechische Antike und die sich auf sie beziehenden Sprichwörtersammlungen nicht in größerem Ausmaß verlassen und im Volksmund einen festen Platz bekommen zu haben.
Abgekürzt zitierte Literatur Adagia (Coll. abs.)
Adrados Alster Apostolios, ed. Pantiniana 1619
Appelt ASD
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Adagia, Id est Proverbiorum, paroemiarum et parabolarum omnium, quae apud Graecos, Latinos, Hebraeos, Arabes, etc. in usu fuerunt, Collectio absolutissima in locos communes digesta … Francofurti, Sumptibus Iohannis Pressii Viduae, Anno 1646; ibid., Sumpt. Ioh. Wilh. Ammonii, Apud Nicolaum Schumannum, Anno 1656; ibid., Ex Officina Joh. Petri Zubrodt. Typis Joh. Andreae. Anno 1670 F.R. Adrados, History of the Graeco-Latin Fable, transl. by L.A. Ray, I-III, Leiden-Boston-Köln 1999–2003 B. Alster, An Akkadian and a Greek Proverb. A Comparative Study, Die Welt des Orients 10 (1979) 1–5 MIXAHDOY APOBTODIOY PAXOIMIAI. MICHAELIS APOSTOLII PAROEMIAE: Nunc demum, post Epitomen Basiliensem, integrae, cum Petri Pantini versione, ejusque et Doctorum Notis, in lucem editae. LUGDUNI BATAVORUM, Ex Officinâ ELZEVIRIANA. Anno 1619 Th.Ch. Appelt, Studies in the Contents and Sources of Erasmus’ Adagia. With Particular Reference to the First Edition, 1500, and the Edition of 1526, Diss. Chicago 1942 Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata, Amsterdam 1969 ff.
Edd. M.L. van Poll-van de Lisdonk/M. Mann Phillips/Chr. Robinson, ASD II 1 (1993) 463 (Nr. 381), abgedruckt in Adagia (Coll. abs.) 17 (1646; 1656; 1670). Zu Diogenian vgl. Appelt 131–133 (Nr. 626, vgl. S. 106); zu Erasmus’ Kenntnis von Diogenian schon 1500 vgl. Bühler I 226sq.308sq.311. Auf die Suda verweist Margalits Suppl. 7.149. 109 TPMA 13 (2002) 194 (H.R., rev. V.M.). Die Erklärung von Köhler 187 (Nr. 11), «Flügel des Wolfes suchen, sagt auch der Deutsche, um mit etwas zu drohen, was noch gar nicht vorhanden ist. – Der Wolf kommt, wenn er nahe ist, von selbst schnell heran, man braucht ihn nicht erst zu beflügeln.», scheint eine von den Parömiographen angeregte Erklärung zu sein. Zum Abschluß danke ich Rudolf Kassel (Köln) für eine kritische Durchsicht des Manuskriptes und manch bedeutenden Hinweis, Rainer Jakobi (Halle) für seine Bemerkungen zum Text und Ulf Scharrer (Halle) für seine Korrektur der Abschnitte, in denen es um Fragen des Akkadischen geht.
«Die eilende Hündin wirft blinde Junge» und einige andere antike Sprichwörter
Bernays Bühler CPG
Düringsfeld/Reinsberg-D’feld
Förster Foerster-Richtsteig Giannantoni Giusti Gottschalk Graesse Husner
Ikonomov Köhler Krumbacher (1887) Krumbacher (1893) Krumbacher (1900) Kuusi
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J. Bernays, Joseph Justus Scaliger, Berlin 1855 (Nd Osnabrück 1965) Zenobii Athoi proverbia vulgari ceteraque memoria aucta ed. et enarr. W. Bühler, I (Prolegomena).IV (II 1–40).V (II 41–108) …, Gottingae 1987.1982.1999sqq. Corpus Paroemiographorum Graecorum, edd. E.L. a Leutsch et E.G. Schneidewin, I-II, Göttingen 1839–1851 (Nd2 Hildesheim 1965); Supplementum cont. K. Latte, Hildesheim 1961 (2. Nd Hildesheim-Zürich-New York 1991) Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen vergleichend zusammengestellt von Ida von Düringsfeld u. O. Frh. von Reinsberg-Düringsfeld, I-II, Leipzig 1872–1875 (Nd Hildesheim-New York 1973) R. Förster, Francesco Zambeccari und die Briefe des Libanios. Ein Beitrag zur Kritik des Libanios und zur Geschichte der Philologie, Stuttgart 1878 Libanii Opera rec. R. Foerster, IX, imprim. cur. E. Richtsteig, Lipsiae 1927 (Nd Hildesheim 1963) Socratis et Socraticorum Reliquiae coll., dispos., apparatibus notisque instruxit G. Giannantoni, I-IV, Napoli 1990 Raccolta di proverbi toscani nuovamente ampliata da quella di Giuseppe Giusti e pubblicata da Gino Capponi, Firenze 1911 (Nd Livorno 1971) W. Gottschalk, Die bildhaften Sprichwörter der Romanen, I-III, Heidelberg 1935–1938 J.G.Th. Graesse, Trésor de livres rares et précieux ou nouveau dictionnaire bibliographique, I-VII, Dresde-GenèveLondres-Paris 1859–1869 (Nd Milano 1950) F. Husner, Die Bibliothek des Erasmus, in Gedenkschrift zum 400. Todestage des Erasmus von Rotterdam. Hrsg. v. d. Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel, Basel 1936,228–259 Folk Wisdom of the Balkan Peoples. Parallel Proverbs and Sayings in Bulgarian, Serbian, Turkish, Rumanian, Albanian and Greek. Compiled by N.I. Ikonomov, Sofia 1968 C.S. Köhler, Das Tierleben im Sprichwort der Griechen und Römer. Nach Quellen und Stellen in Parallele mit dem deutschen Sprichwort, Leipzig 1881 (Nd Hildesheim 1967) K. Krumbacher, Eine Sammlung byzantinischer Sprichwörter, SB d. kgl. bayer. Akad. d. Wiss., Philosoph.-philolog. u. hist. Classe, 1887, 2,43–96, München 1888 Ders., Mittelgriechische Sprichwörter, SB d. kgl. bayer. Akad. d. Wiss., Philosoph.-philolog. u. hist. Classe, 1893, 2,1–272, München 1894 (Nd Hildesheim-New York 1969) Ders., Die Moskauer Sammlung mittelgriechischer Sprichwörter, SB d. Bayer. Akad. d. Wiss., Philosoph.-philolog. u. hist. Classe, 1900,339–464, München 1901 M. Kuusi, Proverbia septentrionalia. 900 Balto-finnic Proverb Types with Russian, Baltic, German and Scandinavian Parallels, Helsinki 1985
148 LB Legrand Margalits
Martin Moran Müseler Noiret Petzold Phillips Pitrè Politis RGK Scaliger Collection Tosi TPMA VD 16 Vogel-Gardthausen Walther Wander
Vinko Hinz
Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia emendatiora et auctiora … doctorumque notis illustrata, I-X, Lugduni Batavorum 1703–1706 (2. Nd Hildesheim 2001) É. Legrand, Bibliographie Hellénique ou description raisonée des ouvrages publiés par des grecs aux XVe et XVIe siècles, I–IV, Paris 1885–1906 (Nd Bruxelles 1963) E. Margalits, Florilegium Proverbiorum universae Latinitatis. Proverbia, proverbiales sententiae gnomaeque classicae, mediae et infimae Latinitatis, Budapestini 1895; Supplementum, ibid. 1910 P. Martin, Studien auf dem Gebiete des griechischen Sprichwortes, Diss. Erlangen, Plauen i. Vogtl. 1889 W.L. Moran, Puppies in Proverbs – from Sˇamsˇi-Adad I to Archilochus?, Eretz Israel 14 (1978) = H.L. Ginsberg Volume, Jerusalem 1978,32*–37* E. Müseler, Die Kynikerbriefe, I-II, Paderborn-MünchenWien-Zürich 1994 Lettres inédites de Michel Apostolis publiées d’après les manuscrits du Vatican avec des opuscules inédits du même auteur, une introduction et des notes par H. Noiret, Paris 1889 Maria Petzold, Quaestiones paroemiographicae miscellaneae, Diss. Monac. a. 1913, Lipsiae 1914 Margaret M. Phillips, The ‹Adages› of Erasmus. A Study with Translations, Cambridge 1964 Proverbi siciliani raccolti e confrontati con quelli degli altri dialetti d’Italia da G. Pitré, I-IV, Palermo 1880 (Nd Bologna 1969) N.G. Politis,M λ 7 ' λ « )&« 7 E&7 7. P, I-IV, #A*« 1899– 1902 (Nd ebd. 1965) E. Gamillscheg/D. Harlfinger, Repertorium der griechischen Kopisten 800–1600, I-, Wien 1981 ff. R. Smitskamp, The Scaliger Collection. Preface by A. Hamilton. Supplement: Joseph Scaliger. A Bibliography by A.T. Grafton and H.J. de Jonge, Leiden 1993 R. Tosi, Dizionario delle sentenze latine e greche, Milano 14 2000 Thesaurus Proverbiorum Mediae Aetatis. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begr. v. S. Singer, I-XII, Berlin-New York 1995–2001 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, I-XXIV, Stuttgart 1983–1997 Marie Vogel/V. Gardthausen, Die griechischen Schreiber des Mittelalters und der Renaissance, Zentralblatt f. Bibliothekswesen, Beih. 33, Leipzig 1909 (Nd Hildesheim 1966) Proverbia Sententiaeque Latinitatis Medii (nova series: ac Recentioris) Aevi (Carmina Medii Aevi Posterioris Latina II), Göttingen 1965–1986 K.F.W. Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, I-V, Leipzig 1867–1880 (Nd Augsburg 1987)
Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock
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Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock* Rivarolade: Ich bin ganz verwundert, daß du die deutsche Sprache so genau kennest. Euphonia: Ich liebe die Töne, und höre gern reden. Seitdem meine Sprache verstummt ist, höre ich denen zu, die noch reden; und es heitert mich auf, wenn ich dann Worte antreffe, die mit den ihrigen ähnliches Lautes sind.1
I. Einleitung Auch wenn F. G. Klopstock (1724–1803) heute nur mehr selten gelesen wird, ist seine literarische Wirkung unbestritten. Zu Lebzeiten war er einer der bekanntesten Dichter Deutschlands. Mit dem Messias (1748–1773) und den Oden (erster autorisierter Druck 1771) hatte er wesentlichen Anteil an der Entwicklung einer eigenständigen deutschen Nationalliteratur. Weniger geläufig sind seit jeher Klopstocks theoretische Schriften zu Sprache und Dichtung,2 die dennoch in engem Zusammenhang mit dem literarischen Werk entstanden. Das unsystematische Wesen dieser Schriften war mit ein Grund für die geringe Beachtung. Vieles blieb Fragment, so auch eine geplante Grammatik, von der in der Staatsutopie Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) einige Bruchstücke präsentiert wurden. Anderes wie etwa die Grammatischen Gespräche (1794), Klopstocks letztes größeres Werk, war dialogisch, allegorisch, essayistisch statt abhandelnd, didaktisch, geordnet angelegt. Nur zwei theoretische Entwürfe aus dem Gebiet der Sprach- und Literaturwissenschaft sind einigermaßen abgeschlossen: zum einen Klopstocks Metrik, in der er den griechisch-römischen Versbau für das Deutsche adaptierte und nach seinen Vorstellungen weiterentwickelte;
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Dies ist die schriftliche und erweiterte Fassung eines auf den 25. Metageitnia 2004 in Besançon gehaltenen Vortrags. Ich danke den Organisatorinnen und Organisatoren für ihre Gastfreundschaft und für ihr erfolgreiches Bemühen um einen reibungslosen Ablauf. F. G. Klopstock: Grammatische Gespräche (1794), in: F. G. K.: Sämmtliche Werke, 10 Bde., Leipzig 1854/55, hier IX, 58. Da die sprachwissenschaftlichen Schriften Klopstocks in der historisch-kritischen Hamburger Klopstock-Ausgabe (HKA) noch nicht erschienen sind, benutze ich hierfür auch im Folgenden stets die Sämmtlichen Werke 1854/55 (abgekürzt als SW). Einen kurzen Überblick bietet Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart u. a. 2000 (Sammlung Metzler 325), 49–68.
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Stefan Tilg
zum anderen Klopstocks Reform der deutschen Rechtschreibung, die im Folgenden im Zentrum stehen wird. Einige später wieder aufgenommene Vorschläge zur deutschen Orthographie sind neben den erwähnten Proben einer Grammatik schon in Klopstocks Gelehrtenrepublik von 1774 enthalten.3 Die später 1778–82 erscheinenden Beiträge zur Rechtschreibung waren bereits selbst in der von Klopstock vorgeschlagenen Orthographie verfasst. Grundlegend ist die kurze, aber sehr dichte Abhandlung Über die deutsche Rechtschreibung, 1778 erschienen im zweiten Teil der Erziehungsschriften des Pädagogen Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Im folgenden Jahr wurde das Werk dann mit Zusätzen in Klopstocks Fragmente über Sprache und Dichtkunst (2 Tle., 1779/80) aufgenommen. Auf die schnell einsetzende Kritik an seinen Vorschlägen antwortete der Autor mit den Werken Von der Schreibung des Ungehörten (1779), Nachlese (1780), Über Etymologie und Aussprache (1781) sowie Grundsätze und Zweck unserer jetzigen Rechtschreibung (1782). Damit ist das Textcorpus genannt, in dem sich Klopstock eigens mit orthographischen Fragen auseinandersetzt. Während der Zusammenhang von Klopstocks metrischen Studien mit seinen Dichtungen unmittelbar einsichtig ist, tat man sich bei seinem Vorschlag einer neuen deutschen Orthographie immer schon schwer, darin etwas anderes als die «Grille eines großen Mannes» 4 zu sehen. Ich beabsichtige mit meiner Untersuchung nun nicht, Klopstocks System einer deutschen Rechtschreibung als solches zu retten oder zu verteidigen. 5 Dazu gibt es zu viele Eigenwilligkeiten, von denen einige im Folgenden noch besprochen werden. Ich möchte vielmehr 1.) herausarbeiten, dass Klopstock seine Orthographie zu einem maßgeblichen Teil in Auseinandersetzung mit der antiken Rechtschreibung bzw. antiken Schreibkonventionen entwickelte; 2.) als Interpretation dieses Befundes nachweisen, dass die Antikerezeption in Klopstocks Orthographie einem bestimmten, für ihn typischen Muster folgt. Es wird, um es hier kurz anzudeuten, das Muster einer Antikerezeption sein, die nach nationaler Originalität strebt, sich dabei aber nolens volens an antiken Vergleichsgrößen orientiert. Über dieses Muster der Antikerezeption lässt sich Klopstocks Rechtschreibung dann differenzierter und schlüssiger als bisher in sein Gesamtwerk einordnen. Zwei Einschränkungen scheinen noch angebracht, um falschen Erwartungen gleich zu entgegnen: zum einen ist Klopstocks Reformorthographie kein Beispiel einer erfolgreichen Antikerezeption, sondern ein gescheitertes Experiment. Nach dem Bekanntwerden der Reformorthographie brach ein Sturm der Entrüstung los, dem die wenigen zaghaften Verteidiger nichts entgegenzusetzen hatten. Mit Herder waren viele der Meinung, dass der an-
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SW VIII, 174–176 (= HKA Werke VII 1 [1975], 125 f.). Heinrich Christian Boie in einem Brief an Bürger vom 1.12. 1781, hier zitiert nach Karl Weinhold: Heinrich Christian Boie, Halle 1868, 172. Eine insgesamt positive, im Einzelnen aber durchaus kritische Beurteilung gibt Renate Baudusch-Walker: Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthographiereformer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Grammatik im 18. Jahrhundert, Berlin 1958. Seither finden sich wiederholt positive Einschätzungen, die aber nur einzelne Aspekte herausgreifen und gerade auf die größten Ungereimtheiten nicht eingehen: Robert D. King: In Defense of Klopstock as a Spelling Reformer. A Linguistic Appraisal, in: Journal of English and Germanic Philology 66 (1967), 369–382. – Burckhard Garbe: Klopstocks vorschläge zur rechtschreibreform, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock, München 1981 (Text und Kritik, Sonderband), 45–58. – Christopher J. Wells: German. A Linguistic History to 1945, Oxford 1985, 327–331.
Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock
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sonsten so bewunderte Klopstock nun «dem Delirio nahe» 6 sei. Der Dichter selbst behielt seine Rechtschreibung noch einige Jahre in seinem Briefwechsel bei. Das philanthropische Erziehungsinstitut in Dessau versuchte sich in einer Nachahmung der Reformorthographie. Damit erschöpfte sich dann aber auch schon die praktische Umsetzung von Klopstocks Vorschlägen. Bald wurden sie ganz vergessen. Soweit die erste Einschränkung. Die zweite ist die, dass Klopstocks Orthographie keineswegs bloß eine Orthographie im heutigen Sinn als Regelung der Schreibnormen, sondern mindestens ebenso sehr eine Lautanalyse und präskriptive Aussprachelehre ist. 7 Es gilt also nicht nur das Prinzip: «Schreib, wie du sprichst!», sondern auch: «Sprich wie du schreibst!». In einer Zeit, in der es eine allgemein anerkannte deutsche Standardsprache noch nicht gab, war es freilich in einem gewissen Grad notwendig, vor einer Orthographie die zugrundeliegende Orthoepie, die richtige Aussprache festzulegen. Der Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung (1732– 1806) z. B., der mit seiner Grammatik, seinem Wörterbuch und seiner Rechtschreibung tatsächlich jene verbindliche Geltung erlangte, die sich Klopstock gewünscht hätte, schrieb die obersächsische Mundart als vorbildliche Sprache und Aussprache fest. Allerdings ließ er sich in der Orthographie auch stark vom Prinzip des Gebrauchs leiten und nur teilweise von phonetischen Grundsätzen. Klopstock wiederum nimmt weniger Rücksicht auf den Usus und versucht im Großen und Ganzen, das phonologische Prinzip der Rechtschreibung durchzuführen, nach dem genau ein Laut durch genau ein Schriftzeichen dargestellt wird.8 Als zugrundeliegende Orthoepie definiert er das Hochdeutsche in niederdeutschem Mund. Terminologisch unterscheidet er diese vorbildliche norddeutsche «Aussprache» von der vielfältig dialektal beeinflussten «Aussprecherei», wie sie besonders im Süden Deutschlands vorkommt. 9 Tatsächlich geht Klopstock aber über seine zunächst regional definierte Orthoepie hinaus und will oft eine sehr persönlich gefärbte Lautung zum allgemeinen Standard machen, eine Lautung die u. a. seinen Vorstellungen von der wirksamen Deklamation dichterischer Texte entspricht.10 So hängen in der Rechtschreibung des Dichters in mehreren Fällen orthographische Regeln von der Kategorie «Wohlklang» ab. Das Muster einer «wohlklingenden» Sprache war für Klopstock nun aber v. a. das Griechische,11 sodass er 6
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Brief Herders an Hamann vom 29. 12. 1778, in: Johann Georg Hamann: Briefwechsel, hrsg. v. Walter Ziesemer und Arthur Henkel, 5 Bde., Wiesbaden u. a. 1955–1965, hier IV, 40. – Für Weiteres zur zeitgenössischen Kritik vgl. Baudusch-Walker 1958 (wie Anm. 5), 37–41. Dass Klopstocks Orthographie eigentlich mehr an der der mündlichen Lautung als an der schriftlichen Umsetzung dieser Lautung interessiert ist, hat m. W. nur King 1967 (wie Anm. 5) erkannt: «[…] what is presented there in the guise of a spelling reform is in reality a sound and quite systematic phonological investigation […]». – Allgemein zu Klopstocks «Viva-vox-Habitus», zu seiner unbedingten Orientierung an der Mündlichkeit vgl. Klaus Hurlebusch: Friedrich Gottlieb Klopstock, in: Gunter E. Grimm / Frank R. Max (Hg.): Deutsche Dichter III: Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 1988, 150–176, hier bes. 168 f. SW IX, 331 (Über die deutsche Rechtschreibung, zweite Grundregel): «Kein Laut darf mer als Ein Zeichen; und kein Zeichen mer als Einen Laut haben.» – Zu den Unterstreichungen unter einzelnen Buchstaben vgl. hier II,2, b am Anfang. Vgl. SW IX, 326 (Über die deutsche Rechtschreibung), 360 f. (Nachlese). Vgl. nur die achte Grundregel in Über die deutsche Rechtschreibung, wo die prosodische Wortverbindung im Fall von Apokope behandelt wird: «B, w, d, g, (wen dis auf den Selbstlaut der Silbe folgt) und s gehen, so bald si ir e ferliren, zur folgenden Silbe über. Diser Wolklang wird durch ein Häkchen (’) bezeichnet.» Klopstock gibt u. a. das Beispiel: «Dem Rand’ entsank», zu lesen als «Ran-dent» (SW IX, 347 f.). Vgl. nur das Der Wohlklang betitelte dritte Gespräch aus den Grammatischen Gesprächen (1794). Darin vergleichen die allegorischen Figuren «Wohlklang» und «Euphonia» einzelne Wörter ihrer Sprachen, der deutschen und der griechischen, auf einen gegenseitigen Anklang und einen gemeinsamen Wohlklang hin (z. B.
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seine Gedanken in Auseinandersetzung und im Wettstreit mit dem Griechischen entwickelte. Das riss ihn zu einigen zweifelhaften Analogieschlüssen hin, wie wir im Folgenden noch sehen werden.
II. Der Befund 1) Allgemeines Dass die antike Orthographie für Klopstocks Entwurf Modell stand, ist in der bisherigen Forschung keineswegs erkannt. Einen Ansatz in diese Richtung gibt es einzig in der alten, nicht publizierten Dissertation von Siegfried Levy über Klopstocks Antikerezeption.12 In einem eigenen kleinen Kapitel zu Klopstocks Orthographie begründet Levy allerdings des Dichters «ungemischte Freude» über die antike Rechtschreibung durch «eine ganz zufällige Uebereinstimmung in der Tendenz der alten und der Klopstock’schen Orthographie».13 Gemeinsam sei lediglich das phonetische Prinzip, das Klopstock unzulässig von der antiken auf die deutsche Rechtschreibung übertrage. Während in den alten Sprachen, besonders im Griechischen die Laute angeblich klarer definiert waren und also phonetisch leicht abgebildet werden konnten, sei das im Deutschen nicht der Fall, weshalb Zusatzbezeichnungen (gedacht ist v. a. an Dehnungszeichen hinter Vokalen) nötig wären: «[…] das wollte Klopstock in seinem Eigensinn nicht zugeben.» 14 Die neuere Forschung verfolgte diesen Ansatz nicht weiter. Renate Baudusch-Walker hat Levys Arbeit in ihrer maßgeblichen Monographie über Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthographiereformer gar nicht im Literaturverzeichnis. Sie zitiert zwar einige wenige einschlägige Stellen aus Klopstocks sprachwissenschaftlichen Schriften, zieht daraus aber keinerlei Schlüsse. Sie erklärt die Reformorthographie Klopstocks im Wesentlichen aus seiner Liebe zum Vaterland und seinem daraus entstandenen sprachpatriotischen Enthusiasmus.15 Katrin Kohl dagegen stellt Klopstock in ihrem Gesamtüberblick fast in allen seinen literarischen Äußerungen in die Tradition der Antike, besonders in die Tradition der antiken Rhetorik. Gerade die Rechtschreibung bildet für sie aber nur ein winziges Randthema und wird als solches nicht mit der Antike verbunden.16 Wenn man nun allerdings die einschlägigen Äußerungen aus
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SW IX, 56–60). Über «Wohlklang» als zentrale Kategorie in Klopstocks Verstheorie vgl. Hans Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, München 1973, 213–215. – Von einer einzigartigen sprachlichen Verwandtschaft des Deutschen mit dem Griechischen überzeugt, zog Klopstock in Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen (1755) sogar einen noch spezifischeren Vergleich: «Kennern des griechischen Wohlklangs glaube ich meine Vorstellung von dem Klange unsrer Sprache noch deutlicher zu machen, wenn ich sage, daß sie mit dem Dorischen des Pindar Ähnlichkeit habe […]» (SW X, 4). Siegfried Levy: Klopstock und die Antike, Diss. München 1923. Ebd. 48. Ebd. 49. Immerhin erkennt Levy grundsätzlich, dass Klopstock den Anschluss an das antike Vorbild sucht. Vgl. ebd. 24 zu seinem: «[…] Aufsatz über die deutsche Rechtschreibung, in der [!] Klopstock die phonetische Schreibung der Alten im Gegensatzt zu der historischen Orthographie der neueren rühmt». Einzelne Beobachtungen dazu finden sich außer in dem erwähnten Kapitel «Orthographie» (48–50) noch in dem Kapitel «Wohlklang» (44–48). Vgl. Baudusch-Walker 1958 (wie Anm. 5), 51–53, 109 f. Kohl 2000 (wie Anm. 2), 55.
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Klopstocks Schriften über die Rechtschreibung zusammenstellt und zusätzlich auch noch seine in Einzelthemen oft verwandten metrischen Schriften berücksichtigt, ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild. Zunächst einige grundsätzliche Stellungnahmen Klopstocks. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen liegt lange vor den orthographischen Abhandlungen in seinen metrischen Studien. Schon 1755 erkennt der Dichter im Traktat Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen: «Denn dies alles [die vielfältige klangliche Variation im homerischen Hexameter] in dem höchsten Grade des Wohlklangs [!], und nach den feinsten Grundsätzen desselben, hervorzubringen, sind vorzüglich die griechische, und denn auch die römische Sprache am geschicktesten. Die Anzahl ihrer Buchstaben und Töne ist beinah einander gleich, und jedes einzelne Wort hat daher schon viel Wohlklang [!], eh es noch durch die Stelle, die es in der Verbindung des Verses bekömmt, wenn ich so sagen darf, in den Strom der Harmonie einfließt, und dadurch seinen bestimmtesten und vollsten Wohlklang [!] hören läßt.» 17 Wie ein Echo davon klingt dann eine Stelle in Über die deutsche Rechtschreibung. Klopstock stellt hier fest, dass sich die Deutschen zwar mit den Engländern und Franzosen trösten könnten, die es in der Rechtschreibung vergleichsweise «noch fil toller» treiben: «Aber wen wir es nun wi di Grichen und Römer machten, und dan nicht nötig hetten uns zu trösten?» 18 Man vergleiche auch die resümierende Betrachtung am Ende der Nachlese, in der Klopstock seine Vorschläge gegen Angriffe verteidigt hatte: «Ich möchte doch wol dem widergekomnen Grichen zuhören, där in Deütschland gereist wäre, und angefangen hette, uns nicht für Barbaren zu halten; aber jetzt unsre Rechtschreibung ansichtig würde. Ich fürchte fast, der Man bricht der Kleinigkeit wägen auf, und zit seiner Strasse. Denn är folgert aus ir auch sonst noch allerlei.» 19 Im selben Werk verwehrt sich Klopstock ironisch gegen die Forderung nach etymologischer Schreibweise und weist auf die Vorbildlichkeit der phonologischen Schreibung der Griechen hin: «Wen wir also unsre Regel durch aufgegäbne Anwendung nicht selbst ferachten wollen; so müssen wir: Fluüß getrost darauf los schreiben, und die Grichen weit hinter uns finden, daß si nicht wenigstens wägen der ferschidnen Umendung fon « schriben.» 20 Diese Stellen beweisen ganz klar, dass die antike Orthographie Klopstock zumindest einmal ganz allgemein als Muster diente. Dass die Rechtschreibung der Griechen und Römer in Wirklichkeit natürlich nicht nur dem phonologischen Prinzip folgte, dass sie sich, soweit überhaupt verbindlich, natürlich auch historisch wandelte, steht auf einem anderen Blatt.21 Wenn Klopstock von der Orthographie der Griechen und Römer sprach, meinte er sicher nichts anderes als den Schreibgebrauch, wie er ihn in den zeitgenössischen Ausgaben der Klassiker beobachten konnte. Und hier ist die Annahme einer lautgerechten Orthographie, zumindest in höherem Maß als im Deutschen, sicher richtig. Dieser Orthographie folgt Klopstock ganz of17 18 19 20
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SW X, 3; Hervorhebung von mir. SW IX, 334. SW IX, 397. SW IX, 388; vgl. ebd.: «Allein wo müste nun das gotische Beiwerk nicht angebracht wärden? Etwa nur in: Sinn [statt: Sin], weil wir: Sinne sagen? und nicht auch in: Fluüß, wägen: Flüsse?» Vgl. nur s. v. «Orthographie» in DNP IX (2000), 73–77 (Vera Binder); DNP XV/1 (2001), 1243–1246 (Dieter Steinbauer); RE XVIII.2 (1942), 1437–1484 (Wladyslaw v. Strzelecki). – Ein wirkungsmächtiges Plädoyer für die phonologische Schreibung gibt Quint. 1,7,30 f.: Ego, nisi quod consuetudo optinuerit, sic scribendum quidque iudico quomodo sonat. Hic enim est usus litterarum ut custodiant voces et velut depositum reddant legentibus. Itaque id exprimere debent quod dicturi sumus.
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fensichtlich in der Beseitigung der bisherigen Bezeichnung von Langvokalen auf vier verschiedene Arten, der seiner Meinung nach schlimmsten Ungereimtheit in der deutschen Rechtschreibung.22 Die Berufung auf die antiken Sprachen wäre sinnlos gewesen, wenn sie Klopstock in diesem Punkt nicht als Vorbild gedient hätten. Wie im Griechischen und Lateinischen verzichtet der Autor auf ein unausgesprochenes Dehnungszeichen hinter langen Vokalen. Die herkömmliche Schreibung etwa von Dehnung, viel, Moos ersetzt er durch Denung, vil, Mos. In diesem zentralen Punkt ist die Antike als Muster offen ersichtlich. In einigen weiteren Fällen stellt Klopstock den Anschluss an die alten Sprachen explizit her. In anderen Fällen ist eine Analogie erschließbar, deren Erkenntnis sogar einige bislang ungelöste Rätsel in der Reformorthographie des Dichters zu deuten helfen. Zuerst drei Beispiele, in denen Klopstock sich ausdrücklich auf die Autorität der antiken Rechtschreibung beruft. Ich bitte um Verständnis, dass ich den größeren Kontext, in dem diese Punkte in Klopstocks Rechtschreibung stehen, unterdrücken muss. Eine vollständige Darstellung der Reformvorschläge ist in diesem Rahmen weder möglich noch sinnvoll.
2) Einzelne Punkte a) Ausdrückliche Berufung Intervokalische Konsonantengemination Klopstock vereinfachte zwar geminierte Konsonanten am Wortende (z. B. nim für nimm), wollte aber an der Geminierung von Konsonanten zwischen zwei Vokalen festhalten, also z. B. wie bisher Kappe schreiben, nicht Kape. Das ist vom rein synchron-phonetischen Standpunkt aus nicht verständlich: ein doppeltes ‹p› wurde zu Klopstocks Zeiten genausowenig wie heute doppelt ausgesprochen. 23 Warum Klopstock der Meinung sein konnte, dass diese intervokalische Konsonantengemination tatächlich ausgeprochen werden muss, erklärt u. a. seine Berufung auf die griechisch-römische Metrik: «Wen di Grichen und Römer, nach der Regel der Posizion, durch den Zusaz noch Eines Buchstabens, aus der kurzen Silbe eine lange machten, z.E. in: tosos, tossos; Jupiter, Juppiter: so war denn doch wol die Meinung nicht, daß di hinzugekomnen s und p, als das Or nichz angehend, unausgesprochen bleiben, und also, fürs Auge, ferlengern solten».24 Nasalassimilation Seiner Aussprache gemäß, wollte Klopstock ‹n› vor labialen Konsonanten zu ‹m› assimilieren, also z. B. «samft» statt «sanft» schreiben. Als Zeuge für die Richtigkeit dieser Schreibung werden die Griechen herbeigerufen, «welchen man, denk ich, denn doch wol in Sachen des Wolklangs [!] trauen darf».25 So entstehe ja z. B. auch das Wort aus 22
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SW IX, 400 (Nachlese): «Das firfache Bezeichnen ist di Krone unsrer jetzt herschenden Rechtschreibung; und si ferdint keine bessere …». Dehnungs- ‹ h › , langes ‹ ie › und Vokalverdoppelung beanstandet Klopstock schon in Über die deutsche Rechtschreibung (SW IX, 337). Dass auch Vereinfachung von folgender Doppelkonsonanz zur Bezeichnung langer Vokale dient, erkennt er erst in der Nachlese (SW IX, 400). Vgl. King 1967 (wie Anm. 5), 372: «Klopstock, whose hearing was quite fallible, as we shall repeatedly see, believed that double consonants between vowels were pronounced as such […]». SW IX, 365f (Nachlese). Vielleicht werden antike Sprech- und Hörweise hier auch zur Rettung von Klopstocks System der drei «Töne» heraufbeschworen (vgl. den Anfang von II,2,b mit Anm. 31). SW IX, 370 (Nachlese).
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- . «Wär also in: sanft das n in Schuz nimt, […] där mus seiner Sache ser gewis sein, daß är hir an Feinheit des Ors di Grichen übertreffe.» 26 Groß-/Kleinschreibung Im Gegensatz zu heute war die Groß- und Kleinschreibung der Substantive im Deutschen zu Klopstocks Zeiten ein untergeordnetes Thema. 1778 vertrat er in Über die deutsche Rechtschreibung noch den Standpunkt, dass man Großbuchstaben in der Aussprache nicht höre, dass es also eigentlich egal sei, ob man Substantive groß oder klein schreibe. Demzufolge blieb er in seiner Reformorthographie bei der Großschreibung der Substantive. Nur ein Jahr später aber bedauert Klopstock diese Entscheidung in Über die Schreibung des Ungehörten. Ungehörtes, so heißt es jetzt, solle in keinem Fall geschrieben werden, und da man eben Großbuchstaben nicht als Großbuchstaben höre, haben sie in der Schreibung eigentlich keine Berechtigung (Klopstock verwendet sie trotzdem nach wie vor, weil er sein erst im Vorjahr vorgelegtes System nicht schon wieder verändern will). Verstärkt wird die Argumentation gegen die Großbuchstaben durch die Autorität der Antike: «Die Alten fangen ni di Benennungen damit an.» 27 Auch in diesem Punkt also ein expliziter Verweis. – Einen verfremdeten, auf den ersten Blick versteckten Bezug zur antiken Rechtschreibung weisen die folgenden Beispiele auf, die ich etwas länger behandeln muss. b) Verfremdete Rezeption Unterscheidung von drei «Tönen» und Einführung eines Dehnungszeichens («Häkchen») Klopstock unterschied drei verschiedene «Töne» der akzentuierten Vokale, nämlich «den ofnen, den gedenten, und den abgebrochnen»28 Ton. Um das Folgende besser zu verstehen, weise ich zunächst darauf hin, dass Vokallänge und Ton bei Klopstock korrespondieren, d. h. dass jeder betonte Vokal (auch ein von Natur aus kurzer wie das erste /e/ in «Westen» oder das /ü/ in «müssen») gleichzeitig auch als langer Vokal gilt. Diese Auffassung kommt von der deutschen Metrik her, in der Klopstock ja das quantitierende Prinzip der antiken Sprachen durch ein akzentuierendes Prinzip ersetzt sah. Da hier nun eine antike Länge einer modernen Betonung entspricht, wurde Klopstock zu der – in sprachwissenschaftlichorthographischem Kontext missverständlichen – Behauptung verlockt, dass es im Deutschen grundsätzlich nur «zweizeitige» Vokale gebe, also solche, die je nach Betonung oder Nicht-Betonung lang oder kurz sind.29 Die drei von Klopstock unterschiedenen Qualitäten einer solchen Betonung sind Funktionen der Sprechsilben: 30 Den offenen Ton hat ein Vokal in offener Silbe (z. B. «loben», «Stromes»). Den gedehnten Ton hat ein – wir würden sagen: langer – Vokal in geschlossener Silbe (z. B. «Strom»). Den abgebrochenen Ton hat ein – wir 26 27 28 29
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SW IX, 370 (Nachlese). SW IX, 404 (Von der Schreibung des Ungehörten). SW IX, 328 (Über die deutsche Rechtschreibung). SW IX, 328 (Über die deutsche Rechtschreibung): «Gleichwol hatten nur die Griechen [sic, statt Grichen] auch kurze Selbstlaute; und wir [sic, statt wir] haben lauter zweizeitige.» Klopstock meint offensichtlich die griechischen Buchstaben Epsilon und Omikron, die im Unterschied zu den grundsätzlich «zweizeitigen» deutschen (und lateinischen) Vokalen per se kurz sind. Im Kontext der Stelle ist von Metrik gar nicht die Rede, ohne diesen Hintergrund bleiben Klopstocks Äußerungen aber völlig unverständlich. Vgl. King 1967 (wie Anm. 5), 371 f.: «Klopstock did not recognize vowel length as such. He was convinced that length in German was a function of the syllable, a conclusion he was no doubt led to by his intensive study of Greek and Latin metrics. Specifically, he assumed for German only one kind of syllable, a long syllable, which could have three modifications or ‹Töne›, as he called them.»
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würden sagen: kurzer – Vokal in geschlossener Silbe (z. B. «Westen», «müssen»).31 Um den besonderen «Wohlklang» des gedehnten Tones auch für jene kenntlich zu machen, die ihn in ihrer Mundart nicht haben, führt Klopstock ein eigenes Dehnungszeichen, das sog. «Häkchen» ein.32 Dabei handelt es sich um einen nach oben offenen Bogen unter dem Vokal (ich stelle dieses Zeichen hier behelfsmäßig immer durch Unterstreichungen dar). – Klopstocks System von drei Tönen blieb für seine Mit- und Nachwelt rätselhaft, vor allem an der phonologisch offenbar irrelevanten Unterscheidung des offenen und gedehnten Tons schieden sich die Geister: «Stroh klingt in Strohmes nicht mer, wi es in Strom klang.»33 Niemand von Klopstocks Apologeten und schon gar nicht von seinen Kritikern verstand, warum der Dichter hier in seiner sonst auf Einfachheit bedachten Rechtschreibung das Gras wachsen hören möchte. Einen entscheidenden Hinweis auf die Motivation Klopstocks bei der Einführung seines Tonsystems gibt nun aber die zusammen mit dem Traktat Über die deutsche Rechtschreibung in den Fragmenten über Sprache und Dichtkunst 1779 erschienene metrische Abhandlung Vom deutschen Hexameter. Hier entwickelt der Dichter das System der drei Töne in Auseinandersetzung mit den drei griechischen Akzenten.34 Klopstock geht es dabei nicht um Nachahmung, sondern um überbietende Absetzung im weiteren Kontext eines Vergleichs der deutschen mit der antiken Metrik (wobei die Töne als Betonungen für die deutsche Metrik relevant, die Akzente für die griechische Metrik irrelevant sind). Es war ihm selbst klar, dass die beiden Betonungssysteme funktional nicht vergleichbar sind, dass ein deutscher Ton sich grundsätzlich von einem griechischen Akzent unterscheidet. Dennoch zeigt der ausdrückliche Vergleich eine Orientierung am Griechischen an. Besonders hervorzuheben ist hier Klopstocks Bemühen, eine Parallele zwischen dem Klang des griechischen Zirkumflex und den deutschen Tönen zumindest nicht auszuschließen. Der Akut habe laut dem Dichter deshalb nichts mit seinem Tonsystem zu tun, weil er ja auch auf kurzen Vokalen stehen könne, die betonten Vokale im Deutschen aber immer lang sind. Der Gravis wiederum sei als «sinkender Accent» per se nicht vergleichbar.35 «Nur die [Längen] mit dem doppelten Accent dürfen vielleicht den unsrigen ähnlich gewesen seyn.» 36 Das vor Klop31
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Hätte Klopstock übrigens Kape statt Kappe geschrieben (siehe oben unter II,2,a am Anfang), wäre der offene Ton mit dem abgebrochenen Ton in der Schrift zusammengefallen. Hier liegt wohl auch ein unausgesprochener Grund für das Festhalten an der intervokalischen Konsonantengemination. SW IX, 330 (Über die deutsche Rechtschreibung): «Man kan nicht wissen, ob die Aussprecherei den Ton der Denung da überal auch, und nur da hören lasse, wo es di Aussprache tut. […] Durchgengige Bezeichnung würd’ uns in den Stand sezen, di Stimmen über disen Ton zu sammeln. Seine öftere Widerkumft gehört zum Wolklange einer Sprache.» SW IX, 337 (Über die deutsche Rechtschreibung). Durch das ‹ h › möchte Klopstock wohl einen Hauchlaut am Ende des Vokals im offenen Ton im Unterschied zum Vokal im gedehnten Ton andeuten. – Vgl. King 1967 (wie Anm. 5), 375: «[…] he felt that the /o:/ in Stromes was different from the same sound in Strom, an understandable misconception in view of his scheme for designating vowel length, by which he would mark the latter for length but not the former.» – Vgl. Baudusch-Walker 1958 (wie Anm. 5), 149. SW X, 81–83 (Vom deutschen Hexameter). Vgl. SW X, 80 (Vom deutschen Hexameter): «Wenn wir sagen, daß die Länge den Ton habe, so meinen wir die Erhebung der Stimme». SW X, 81 (Vom deutschen Hexameter); vgl. ebd.: «In phõotes konnte phõo nicht wie Strom klingen. Vielleicht klang es wie lo in loben [offener Ton]. Nur õon in theõon und andre solche wurden vermutlich wie bei uns Strom ausgesprochen.» Zwar könne man nicht wirklich wissen, ob der Zirkumflex ähnlich wie die deutschen Töne geklungen habe, vielleicht müsse man ihn im Vergleich mit diesen sogar «tonlos» nennen: «Ich thue es aber gleichwohl nicht, um, so viel mir nur immer möglich ist, einzuräumen.» (ebd. 82). Als ein
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stock nicht bekannte «Häkchen» als Dehnungszeichen ist dann wohl auch in formaler Anlehnung an den griechischen Zirkumflex entstanden, nämlich als umgedrehter und unter den Vokal versetzter Zirkumflex (das setzt natürlich die Schreibung des Zirkumflex als einen Bogen, nicht als Wellenlinie voraus). Bei der Verteidigung seines neuen Diakritikums scheint Klopstock dann sein Vorbild sogar indirekt zu benennen: «Auch das wird denn doch wol kein Einwurf wider di Bezeichnung sein sollen, daß unsre Drukkereien noch keine Buchstaben mit dem Zeichen haben. Denn das Grichische ist ja ser fil zalreicher an dieser (sic, statt diser) Art Buchstaben.»37
‹Ätazismus› Unter diesem Punkt versuche ich eine der größten Eigenwilligkeiten in Klopstocks Orthographie wieder als einen versteckten Rückgriff auf das Griechische zu erklären. Klopstock verwendete für kurze /e/-Laute immer ‹e›, für lange aber je nach der für ihn richtigen Aussprache entweder ‹ä›, was häufiger der Fall ist, oder nochmals ‹e›. Das /ä/ kann nach Klopstock gar nicht kurz ausgesprochen werden, es gibt nach ihm also gar keinen kurzen offenen /e/-Laut, zumindest nicht in der vorbildlichen Aussprache. Man müsse demnach z. B. gemäß der Orthoepie – und gleichzeitig auch um zur richtigen Orthoepie zu gelangen – statt wie üblich «Bäche», «Fächer» richtigerweise «Beche», «Fecher» schreiben. Umgekehrt sei in vielen Wörtern, in denen bisher der lange /e/-Laut mit ‹e› geschrieben wurde, nach der richtigen Aussprache ‹ä› zu schreiben und zu sprechen, z. B. «Läben», «gäben», «är», «däm» für «Leben», «geben», «er», «dem». Praktisch führt das im Schriftbild zu einer weitgehenden Ablöse des ‹e› durch ‹ä› für lange /e/-Laute. Für die meisten von uns klingt das reichlich seltsam. Die zeitgenössische norddeutsche Aussprache Klopstocks ist nur eine Erklärung für seine Behandlung der /e/-Laute, eine Erklärung, die vom Standpunkt der Sprachgeschichte allein nicht ausreicht. Zwar nahm Klopstock offensichtlich eine Tendenz der damaligen niedersächsischen Aussprache des Hochdeutschen auf, doch entwickelte er sie auch persönlich – weniger schmeichelnd formuliert: idiosynkratisch – weiter.38 Ich denke, dass hinter der Propagierung des langen /ä/-Lautes auch das Bestreben steht, einen
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aus Akut und Gravis zusammengesetzter «doppelter Accent» wurde der Zirkumflex schon in der antiken Theorie empfunden, vgl. z. B. Henry W. Chandler: A Practical Introduction to Greek Accentuation, Oxford 21881, § 21. SW IX (Über die deutsche Rechtschreibung), 376 f. – Vielleicht möchte Klopstock auch ‹griechischen Wohlklang› evozieren, indem er gerade dem seiner Meinung nach besonders «wohlklingenden» gedehnten Ton dieses zirkumflexartige Zeichen gibt. Nach Klopstocks Definition des gedehnten Tons passt der «doppelte Accent» des Zirkumflex auch inhaltlich, weil die in der geschlossenen Silbe mitschwingenden Konsonanten einen ‹Unterton› ergeben, vgl. SW X, 82 f. (Vom deutschen Hexameter): «Der […] Ton der Dehnung läßt den Selbstlaut auf den folgenden Mitlaut ausschallen, fast wie die Stimme über den nicht zu stark gespielten Instrumenten schwebt.» Vgl. King 1967, 379: «Like many educated Germans in the eighteenth century, Klopstock had two long e-phonemes […]». – Die /e/-Laute stehen im Zentrum der Untersuchung von Friedrich Neumann: Wie sprach Klopstock seine Laute aus?, in: Indogermanica (FS Wolfgang Krause), Heidelberg 1960, 125–134. Neumann berücksichtigt allerdings offenbar nicht, dass in Klopstocks Aussprache kein kurzer offener /e/-Laut, sondern nur ein geschlossener vorkommt (vgl. ebd. 129). Sein Ergebnis: Klopstocks Aussprache «entspricht im Zuge jenes Strebens, das sich seit dem frühen 17. Jahrhundert auf eine hochdeutsche Gemeinsprache richtet, der Sprech- und Hörweise der Niederdeutschen, die nordwärts des thüringisch-obersächsischen Sprachgebietes zu Hause sind.» (131). Neumann räumt allerdings ein, dass «Klopstock gelegentlich der Sicherheit seines Hörens zu viel zutrauen mag» und spricht bezüglich des /ä/ von einer «[…] mundartlich bedingten und zugleich persönlichen Sprechweise» Klopstocks (131).
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Anklang an das griechische Eta nach der erasmischen Aussprache zu schaffen. Dazu passt die Behauptung, dass ein kurzes /ä/ nicht ausgesprochen werden könne. Dazu passt Klopstocks eigene Umschrift des griechischen Eta mit ‹ä›, wie er sie in seinen Texten vornimmt. 39 Dazu passt schließlich eine zeitgenössische polemische Kontroverse um die Schreibung griechischer Namen, die sich genau in jenen Jahren entspann, als Klopstock seine Reformorthographie vorschlug. Auf der einen Seite stand dabei Johann Heinrich Voss, der in seinen Übersetzungen griechischer Eigennamen Eta durch ‹ä› wiedergab, also z. B. «Thäbä», «Athän» schrieb. Auf der anderen Seite standen Christian Gottlieb Heyne und Georg Christoph Lichtenberg, die Voss dafür kritisierten. 40 Das ‹ä› war als Schreibung für griechisches Eta also jedenfalls gängig und präsent. Voss, der auch Briefpartner von Klopstock war, gehörte übrigens zu den gemäßigten Verteidigern von dessen Reformorthographie, Lichtenberg zu ihren schärfsten Gegnern. – Es würde zu Klopstocks Faszination durch griechischen «Wohlklang» passen, wenn er ihm durch eine höhere Frequenz der /ä/-Laute in der Schreibung auch im Deutschen Gehör verschaffen wollte. 41 Damit wäre übrigens auch eine ziemlich genaue Analogie zur Verteilung der /e/-Laute in der erasmischen Aussprache des Griechischen gegeben: dem geschlossenen kurzen Epsilon 42 entspricht bei Klopstock das kurze geschlossene /e/, dem langen offenen Eta das lange offene /ä/. Dem langen Diphtong /ei/ entspricht schließlich das lange geschlossene /e/. 43 – Der nächste und letzte Punkt leitet schon zur Interpretation meines Befundes über. Schreibverkürzungen Neben dem phonologischen Prinzip, nach dem genau ein Zeichen genau einen Laut darstellt, formuliert Klopstock das Prinzip der Sparsamkeit in der Bezeichnung der Laute. Dadurch werden die von ihm gepriesenen «Schreibverkürzungen» gerechtfertigt. Neben dem ‹qu›, das Klopstock zu einfachem ‹q› mit dem Lautwert /kw/ verkürzen will (Qelle statt Quelle), gehören hierher die Buchstaben ‹x› und ‹z›, denen schon an sich ein Lautwert von zwei Lauten entspricht: /ks/ und /ts/. Klopstock möchte diese Buchstaben nicht nur beibehalten, sondern sogar viel weiter gehend als bisher einsetzen. So schreibt er z. B. «Glüx», «ferwexeln», «nichz» für «Glücks», «verwechseln», «nichts». Ein analoges Vorbild bieten 39 40
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Vgl. nur z. B. SW X, 77 (Vom deutschen Hexameter). Lichtenberg brachte seine Kritik dabei – wie so oft – satirisch vor, z. B. in einer Streitschrift Über die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands verglichen mit der Pronuciation ihrer neueren Brüder an der Elbe [Voss], oder über beh, beh, und bäh, bäh, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 1781, 454–479. – Allgemein zum Streit von Heyne / Lichtenberg und Voss vgl. auch HKA Briefe VII (1776–1782), Nr. 154 mit Kommentar. Den ersten Angriff lancierte Heyne in einem Brief an Voss vom 28. 5. 1778. Ich habe keine Stelle gefunden, in der Klopstock das /ä/ ausdrücklich als «wohlklingend» bezeichnet. Dass er sonst aber nicht-wohlklingende Laute am liebsten abschaffen möchte (so ersetzt er z. B. das /pf/ nicht zuletzt aus euphonischen Gründen durch einfaches /f/) und das /ä/ so zäh verteidigt, deutet auf eine sehr positive Wahrnehmung des Lautes hin. Die erasmisch geschlossene Aussprache des Epsilon wird von modernen Aussprachelehren freilich abgelehnt, vgl. nur W. Sidney Allen: Vox Graeca. A Guide to the Pronunciation of Classical Greek, Cambridge 3 1987. Schon vor Klopstock verglich der Dichter und Sprachwissenschaftler Michael Richey die zwei langen /e/-Laute der hamburgischen Mundart ausdrücklich mit der Qualität des griechischen Epsilon und Eta (Idioticon Hamburgense, Hamburg 1755, 378 f.). Auf einer solchen Äußerung könnte der von 1770 bis an sein Lebensende in Hamburg wohnhafte Klopstock aufgebaut haben.
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hier die griechischen Zwiekonsonanten Zeta, Psi und Xi, gerade auch in Schreibungen, wo zwei Wortbestandteile in dem Zwiekonsonanten verschmelzen, wie in oder . Daneben ist in diesem Fall noch eine besondere Form des Wettkampfs mit den antiken Sprachen zu berücksichtigen. Einer der hervorstechendsten Züge dieser Sprachen war nach Klopstock die Kürze ihres Ausdrucks auf allen Ebenen. Im Wetteifer mit der Antike wollte er beweisen, dass auch die deutsche Sprache kurz, ja sogar kürzer als Griechisch und Latein sein kann. Klopstocks Spätwerk Grammatische Gespräche von 1794 ist dann auch eine regelrechte Inszenierung eines solchen Wettkampfs, in dem der Dichter durch Übersetzungen u. a. aus Homer und Horaz beweisen will, dass seine deutschen Versionen alles Wesentliche ausdrücken und doch kürzer sind als die Originale. 44 Die Beibehaltung, ja das Ausbauen von Schreibverkürzungen in der deutschen Rechtschreibung gegen das grundlegende phonologische Prinzip möchte also das Deutsche auch auf der Ebene der Schreibung im Vergleich mit den antiken Sprachen ‹wettkampftauglicher› machen.
III. Interpretation Klopstocks Lebenswerk lässt sich ohne Mühe als eine große Auseinandersetzung mit der Antike interpretieren. Als Zögling der Fürstenschule Schulpforta übte er sich bereits von früher Jugend an intensiv in den klassischen Sprachen. Sie blieben ihm ein Leben lang Maßstab und Bezugsrahmen. Schon in seiner lateinischen Abschiedsrede von Schulpforta (1745)45 drückte Klopstock seine Hoffnung auf einen künftigen deutschen Ependichter aus, der es mit Homer und Vergil aufnehmen könne. Der Gedanke eines Wettkampfs der deutschen Nation mit der Antike war schon hier voll ausgeprägt. Es ging um nichts weniger als um die Befreiung deutscher Literatur und Sprache vom Ruf der Inferiorität. Der damalige Zeitgeschmack richtete sich nach klassizistisch-französischen Modellen. Noch 1780 behauptete Friedrich der Große in De la littérature allemande die Minderwertigkeit der deutschen Literatur gegenüber der Französischen. Klopstock wollte einer solchen Einschätzung entgegenwirken, indem er den Wettkampf mit den antiken Sprachen, vor allem mit dem Griechischen aufnahm. Von den lateinischen Autoren konnte daneben nur Horaz bestehen. Der von Winckelmann vollzogene Paradigmenwechsel im Deutschland des 18. Jhs. von den Römern zu den Griechen zeichnete sich während Klopstocks Jugend ab. Er selbst dürfte daran nicht unbeteiligt gewesen sein. In der Literatur hatte Klopstocks Antike-aemulatio dann auch großen Erfolg: Mit dem Messias wurde er selbst zu dem heraufbeschworenen deutschen Homer und überbot das heidnische Epos durch christlichen Inhalt. In den Oden wetteiferte er mit Horaz. Mit beiden Werken gab er der deutschen Literatur neue Gattungen und der deutschen Sprache, oft in Anlehnung an antike Muster, völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten (harte Fügungen, gewagte Komposita etc.). In den Sechzigerjah44
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Vgl. Stefan Elit: Die beste aller möglichen Sprachen der Poesie. Klopstocks wettstreitende Übersetzungen lateinischer und griechischer Literatur, St. Augustin 2002 (Die Antike und ihr Weiterleben 3). – Ders.: Übersetzen als internationaler Dichterwettstreit. Klopstocks Übersetzung horazischer Oden als doppelter poetischer Überbietungsversuch, in: Manuel Baumbach (Hg.): Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike, Heidelberg 2000 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe 106). Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset F. G. Klopstockius …, publiziert erst von Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er; und über ihn. Erster Theil 1724–1747, Hamburg 1780, 99–132.
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ren des 18. Jhs. trat Klopstock dann in eine nationalistische Phase ein, die das antike Erbe verdeckte, ja sogar oft verleugnete. So begann er zwar in horazischen Strophen zu dichten, entwickelte aber davon ausgehend eigene, neue Metren und war um die Schaffung einer spezifisch deutschen Ode bemüht.46 Auch die in den Oden enthaltene antike Mythologie wurde zu einem guten Teil durch germanische ersetzt. Der Lehrling der Griechen, so der Titel von Klopstocks erster Ode von 1747, wurde zum germanischen Bardensänger, wie sich der Dichter gern selbst darstellte. Charakteristisch für diese nationale Retouchierung ist allerdings, dass Klopstock weiterhin stillschweigend der Antike als einzigem anerkannten und vorbildlichen Bezugsrahmen verpflichtet bleibt. Dieses Streben nach Originalität bei gleichzeitiger Traditionsgebundenheit führt zu jenem paradoxen Verhältnis zur Antike, das in der Klopstock-Forschung immer wieder hervorgehoben wird.47 Die Bausteine, aus denen der Dichter eine Nationalsprache und Nationalliteratur schaffen will, bleiben antik. Seit den Siebzigerjahren wollte Klopstock nationale Stärke und Eigenständigkeit auch in der Sprache selbst als Fundament der Literatur nachweisen. Dieses Projekt war weniger erfolgreich als das literarische. Dass seine Rechtschreibung in diesem nationalpatriotischen Projekt ihren Platz hat und von daher einen integrativen Bestandteil in Klopstocks Gesamtwerk bildet, wurde schon gesehen.48 Dass auch dieser Teilbereich aber im Zeichen von Klopstocks Antikerezeption steht, ist eine neue Perspektive, die das vermeintlich nur nationalpatriotische Unternehmen in ein etwas anderes Licht stellt. Das Muster der Auseinandersetzung mit der Antike blieb dasselbe wie zuvor. Klopstock orientierte sich an den antiken Vorbildern, wollte sie aber gleichzeitig noch übertreffen. Damit drang in seine erklärtermaßen an der gegenwärtigen deutschen Lautung orientierte Rechtschreibung eine Art ‹ämulatorisches Prinzip› ein, das mit ein Grund für den Misserfolg wurde. Die nationale Umformung führte diesmal zu einem Ergebnis, das weder der Antike noch der Moderne gerecht wurde. Klopstocks ambivalente Antikerezeption, die in der Literatur großen Erfolg hatte, offenbart in der Sprachwissenschaft ihre Widersprüchlichkeit.
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Vgl. hierzu v. a. Hellmuth 1973 (wie Anm. 11). Vgl. z. B. Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 2000, 135: «Klopstocks Verhältnis zur Antike ist […] durch die ständige Spannung zwischen einer Verehrung und einer Kritik der ‹Alten› charakterisiert.» – Eine durchgehend ambivalente Stellung in der Querelle des anciens et des modernes wird Klopstock auch von Elit 2002 (wie Anm. 44) zugewiesen, vgl. ebd. 81, 101 f., 378 f., 390 f., 396. Baudusch-Walker 1958 (wie Anm. 5), 49–53.
Giacometti, Twombly und die Antike
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Giacometti, Twombly und die Antike Die Realität als Frage versus fragwürdige Idealitäten* Alberto Giacometti, geboren 1901 in Borgonovo bei Stampa/Graubünden, gestorben 1966 in Chur, war Sohn eines Malers, der ihm auch bereits eine entsprechende kunsthistorische Bibliothek bieten konnte. Sein Interesse für die Antike zeigte sich schon früh: 1917 hielt er auf dem Ev. Gymnasium zu Schliers ein Referat über die Frage «Welche Kultur ist größer? Unsere oder die ägyptische?», in dem er darauf verwies, daß alle Kultur auf der Antike basiere und die ägyptische der unsrigen, auch der griechischen, überlegen sei.1 Im Anschluß an seine Schulzeit fuhr er nach Florenz, wo er sich vor allem im Archäologischen Museum umtat, dann nach Rom, wo er Skizzenhefte mit Studien von spätantiker bis barocker Kunst füllte sowie die Tragödien des Aischylos2 und Sophokles las, schließlich weiter nach Neapel, Pompeji und Paestum.3 Er hat während seines ganzen Lebens exzessiv Kunstwerke kopiert, von den Höhlenmalereien bis zu Mondrian4; er hat sich auch dazu geäußert, wie er überhaupt für ausgedehnte Diskussionen zu haben war. Giacometti vertrat eine Position, die explizit auf die Subjektivität und Stilgebundenheit einer Wiedergabe von Realität abhob: 1*
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Häufiger zitierte Literatur wird wie folgt abgekürzt: Bonnefoy (1992) Y. Bonnefoy, Alberto Giacometti. Dt.: H. von Gemmingen. Wabern-Bern 1992 Diálogo (2000) El diálogo con la historia del arte: Alberto Giacometti. Kat. Valencia 11. 12. 2000–25. 2. 2001. Hrsg.: M. Casanova. Valencia 2000 Giacometti-Kopien (o. J.) A. Giacometti, Begegnung mit der Vergangenheit. Hrsg.: L. Carluccio. Dt.: A. K. Ulrich-Debrunner. Zürich o. J. [ca. 1968] Giacometti-Schriften (2001) A. Giacometti, Écrits. Hrsg.: M. Leiris/J. Dupin. Paris 22001 Hochdörfer (2001) A. Hochdörfer, Cy Twombly. Das skulpturale Werk. Klagenfurt/Wien 2001 Szeemann (1987) Cy Twombly. Bilder – Arbeiten auf Papier – Skulpturen. Hrsg.: H. Szeemann. München 1987 Twombly-Ilias (1990) Cy Twombly. Fifty Days at Iliam. Hrsg.: H. Bastian. Stuttgart-Bad Cannstatt 21990 Twombly-Skulptur (2000) Cy Twombly. Die Skulptur/The sculpture. Hrsg.: K. Schmidt. Ostfildern-Ruit 2000 Varnedoe (1994) K. Varnedoe, Cy Twombly. A retrospective. New York 1994 C. Di Crescenzo, Diálogos con el arte/Dialogues with art. In: Diálogo (2000) 45, nach Registro dell’Associazione degli Studenti Amicitia, VL Semestre, estate 1917. 7–10. 1913 war im Rahmen des Handbuches der Kunstwissenschaft von Ludwig Curtius «Die Antike Kunst I» erschienen, welche Ägypten und den Alten Orient behandelte; Giacomettis Vater hatte die Lieferungen des Handbuchs abonniert. Das Buch ist offensichtlich noch erhalten: Eschilo, Tragedie. Mailand o. J. (Diálogo (2000) 72 Kat. 10). Zur Biographie etwa V. Vogelsang, Lebenschronik. In: Alberto Giacometti. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen – Graphik. Hrsg.: P. Beye/D. Honisch. München 1987. 9–51, hier 13 f. Überblick bei Giacometti-Kopien (o. J.); Diálogo (2000) 1–168.
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Pour moi, la plus grande invention rejoint la plus grande ressemblance, cela me frappe l’été, quand je vois les femmes nues, elles ressemblent à des peintures égyptiennes, c’està-dire à l’art le plus symbolique et le plus reconstitué, le moins direct … (…) En fait, on ne copie jamais que la vision qu’il en reste à chaque instant, l’image qui devient consciente … Vous ne copiez jamais le verre sur la table; vous copiez le résidu d’une vision.5
Gleichwohl sah er sich entschieden nicht als Konzeptkünstler, sondern intensiver Beobachter: D’abord, je suis esclave d’une tradition parce que pour moi, comme pour tout le monde, la sculpture réaliste qui ressemble à une tête, c’est bel et bien la tête gréco-romaine. Donc qui est vue comme volume (…) Quand Rodin faisait ses bustes, il prenait les mesures encore. (…) Il voulait faire au fond le parallèle en terre, l’équivalent exact de ce volume dans l’espace. Donc, au fond, ce n’est pas une vision, c’est un concept. Il savait qu’elle est ronde, avant de la commencer, (…) il faisait un volume dans l’espace, tel qu’au fond il ne le regarde jamais instinctivement. (…) Parce que dans la vie, je n’ai pas l’idée de me lever et de tourner autour de vous. Et d’ailleurs, si je tourne autour de vous, je vous vois de face. Si je ne savais pas que votre crâne a une certaine profondeur, je ne pourrais pas le deviner. Donc, si je faisais absolument la perception que j’ai de vous, en sculpture, je ferai une sculpture assez plate, à peine modulée, qui serait beaucoup plus proche d’une sculpture des Cyclades, qui a l’air stylisé, que d’une sculpture de Rodin (…) qui ont l’air vrai.6
In diesen Worten wird bereits die gewisse Widersprüchlichkeit deutlich, die sich bei der näheren Betrachtung von Giacomettis Œuvre verschiedentlich zu zeigen scheint – daß er mit aller Kraft einen eigenen Weg zur Erfassung von Wirklichkeit suchte, dabei aber doch von der Tradition in gewisser Weise nicht loslassen konnte oder wollte. 7 Seiner Auffassung angemessener Realitätserfassung ganz entsprechend, finden wir eine Skulptur, die gewiß der von ihm mißtrauisch betrachteten Tradition angehört, den Apollon aus dem Westgiebel des Zeustempels von Olympia, durchaus kopiert, 8 aber mit Blick genau en face und möglichster Vermeidung jeglicher Tiefenerstreckung. Es ist in diesem Zusammenhang sicher kein Zufall, daß als Vorlage der Kopie eine Photographie anzunehmen ist, also ihrerseits bereits eine Übersetzung ins Flächige. Doch die Einsichten, daß der bildende Künstler erstens ein inneres Erscheinungsbild darzustellen habe und zweitens ein Gegenüber immer «de face» zu Gesicht bekomme, hatte, wie ebenfalls an der Kopie dieses Apollon zu erkennen, noch eine weitere, für Giacomettis Œuvre entscheidende Konsequenz – die häufige Beschränkung auf den Kopf und den Blick: 5
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A. Giacometti, Entretien avec André Parinaud. In: Giacometti-Schriften (2001) 273 [zuerst erschienen 1962]. A. Giacometti, Entretien avec David Sylvester. In: Giacometti-Schriften (2001) 287 f. [zuerst erschienen postum 1971]. So verwundert es immerhin nicht, daß Giacometti, als er im Alter eine Reihe seiner Kopien für einen Sammelband zusammenstellte, sein Vorwort schloß mit der Bemerkung: «Les deux activités (sc. travail personnel et copier) sont complémentaires, ou elles l’étaient jusqu’à il y a peu de temps, car maintenant je ne copie que très rarement des œuvres d’art. L’écart entre toute œuvre d’art et la réalité immédiate (…) est devenue trop grand (…).»: A. Giacometti, Notes sur les copies. In: Giacometti-Schriften (2001) 98 [zuerst 1967 postum erschienen]. Kugelschreiber/Papier 210 × 295 mm; Giacometti-Kopien (o. J.) 300 f. Taf. 132. Vorbild: Olympia, Mus.; einst ca. 3,15 m h; um 460 v. Chr.; passende Abb.: M. Andronikos/M. Chatzidakis/V. Karageorghis, Die Museen Griechenlands. Dt.: G. Blümlein u. a. Athen 1976. 193.
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(…) qu’il s’agisse de sculpture ou de peinture, en fait, il n’y a que le dessein qui compte. Il faut s’accrocher uniquement, exclusivement au dessin. Si on dominait un peu le dessin, tout le reste serait possible. (…) Ce qui faisait la différance entre le mort et la personne: c’était son regard. (…) dans le vivant il n’y a pas de doute, ce qui le fait vivant, c’est son regard. (…) La sculpture des Nouvelles-Hébrides est vraie, et plus que vraie, parce qu’elle a un regard.9 Ce n’est pas l’imitation d’un œil, c’est là bel et bien un regard. Tout le reste est le support du regard. Par contre, la sculpture grecque n’a pas de regard. C’est le corps que je regarde et que j’analyse. Alors se produit une chose étrange. (…) c’est la tête qui est l’essentiel. Le reste du corps est réduit au rôle d’antennes qui rendent la vie possible aux personnages – vie qui se trouve dans la boîte crânienne.10
Wir verstehen nun, was ihn an dem Apollo angezogen hat – vermutlich die deutlich von den Lidern umrahmten Augen und seine rein auf Blick und Weisung beschränkte, doch entscheidende Tätigkeit in dem Drama der Giebeldarstellung. Gleichwohl, in dem Zitat geht europäische Tradition mit ihrer Ablehnung in eigenartigster Weise zusammen – einerseits die uralte klassizistische Maxime vom unbedingten Vorrang der Zeichnung und die alte Hegelsche These von der Blicklosigkeit der griechischen Skulptur11 – andererseits das Bekenntnis zur Skulptur der Südsee, die im Gefolge Gauguins die europäischen Ateliers erobert hatte. Alles verbunden mit einer strikt neuplatonisch anmutenden Klammer.12 So war dann auch die Anverwandlung eines griechischen Vorbildes möglich, einer Mänade von der Spitzamphora des Kleophrades-Malers in München 13 (Abb. 1). Liebevoll ist sie, wie die skizzierte Rahmung aber auch die Datierung 1943 erweisen, abermals nach einer Photographie kopiert worden, lediglich unter Auslassung einiger Oberflächendetails 14 (Abb. 2). Ihre Umsetzung erfolgte 1947 unter dem Eindruck des Todes seines Hausverwalters Tonio Pototsching im Nachbarzimmmer, von dem ihm «la tête jetée en arrière, la bouche ouverte» in traumatischer Erinnerung blieben und insbesondere auch das ebenso lebensprägende Jugenderlebnis des plötzlichen Todes eines Reisegefährten neben sich im Hotelzimmer wieder in Erinnerung riefen 15 – als «Tête sur tige (Kopf auf einem 9
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Vgl. etwa die Kopie von Masken Neukaledoniens; Tinte/Papier 110 × 175 mm; Giacometti-Kopien (o. J.) 48 f. Taf. 6. A. Giacometti, Entretien avec Georges Charbonnier. In: Giacometti-Schriften (2001) 246 f. [zuerst erschienen 1959]. «(…) was ihnen (sc. den griechischen Götterbildern) aber fehlt, ist die Wirklichkeit der für sich seienden Subjektivität in dem Wissen und Wollen ihrer selbst. Äußerlich zeigt sich dieser Mangel darin, daß den Skulpturgestalten der Ausdruck der einfachen Seele, das Licht des Auges, abgeht. Die höchsten Werke der schönen Skulptur sind blicklos, (…)»: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II. Hrsg.: E. Moldenhauer/K. M. Michel. Frankfurt am Main 1970. 131 f. Vgl. die Betrachtungen von etwa 1923: «L’âme et le corps forment une unité. Le corps est matière, (…). L’âme est une parcelle de l’esprit qui, uni à la matière, forme l’univers. (…) Le corps (…) cherche le point d’attache, la fusion avec la terre; l’âme cherche la fusion avec le grand esprit.»: A. Giacometti, ‹L’âme et le corps forment une unité›. Frz.: M. L. Palmer/F. Chaussende. In: Giacometti-Schriften (2001) 105. München, Mus. antiker Kleinkunst 2344; 56 cm h; ca. 500/490 v. Chr.; E. Simon, Die griechischen Vasen. München 21981. 103 f. mit Taf. 123. Basel, Kupferstichkabinett; Bleistift/Papier 34 × 24,9 cm; 1943; D. Koepplin, Warum kopierte Alberto Giacometti ältere Kunst? Basel 1995. 26; Diálogo (2000) 120. 163 f. Kat. 56. A. Giacometti, Le rêve, le Sphinx et la mort de T. In: Giacometti-Schriften (2001) 29. 33 [zuerst erschienen 1946].
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Stab)» 16 (Abb. 3), reiner Kopf, nur mit einer der erwähnten ‹Antennen› versehen bzw. auf einen Stab gespießt wie ein triumphal Enthaupteter oder ein toter Schmetterling in einer Insektensammlung. Rundlicher, doch in der Form, auch durch die Bemalung, eher gestörter Kopf und massiv kubischer, unbemalter Sockel sind hier zum Äußersten an antipodischer Kontrastierung gebracht, es ist der denkbar weitestgehende Versuch gemacht, mit plastischen Mitteln den reinen Todesschrei in den Raum zu stellen wie ein gesockeltes archäologisches Fragment 17. Es handelt sich bei dem Kopf um ein Schlüsselwerk, hervorgegangen aus tief prägenden Erlebnissen der Todesverfallenheit des Menschen, die bei Giacometti immer mit wahrgenommen werden müssen. Nachts mußte er an dem noch aufgebahrten Leichnam Pototschings vorbei in sein Zimmer, das Licht war ausgefallen, Panik befiel ihn: (…) j’eus la vague impression que T. était partout, partout sauf dans le lamentable cadavre sur le lit, ce cadavre qui m’avait semblé si nul; T. n’avait plus des limites (…). À ce moment-là, je commençais à voir les têtes dans le vide, dans l’espace qui les entoure. (…) Tous les vivants étaient morts, et cette vision se répéta souvent, dans le métro, dans la rue, dans le restaurant, devant mes amis. (…) Mais en même temps que les hommes, les objets subissaient une transformation, (…) jusqu’aux arbres et aux paysages.18
Die Figur stand ihm erstarrt im Nichts. Der Kopf ließ sich auf einen Stab setzen. Wie aber bei einer Ganzfigur? Am Ende von Giacomettis Schaffenskrise der Dreißigerjahre, nachdem er den Surrealismus als Sackgasse erkannt hatte, stand die aus ihrem rollbaren Sockel, der für ihre Füße steht, emporwachsende «Frau auf dem Wagen» von 1942/4319 (Abb. 5), die nach ägyptischen Statuen20 gestaltet sein mag. Selbstverständlich ist auch der griechische Kuros als bekannt vorauszusetzen 21 (Abb. 4). Die eindrucksvollste Formulierung in dieser Richtung wurde dann freilich «Le chariot» von 1950 22 (Abb. 6). Zuoberst eine kerzengerade und starr stehende Frauengestalt mit schwungvoll ausgreifenden Armen und sockelartig zusammenfließenden Füßen. Sie steht auf einem Brett, das seinerseits auf zwei kleinen Pfeilern steht, die ihrerseits auf der Achse zweier verbundener und nicht drehbarer Räder stehen, die wiederum sich in Holzsockel einfügen. Für den «Wagen» (Abb. 6) ist auf
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Zürich, Alberto-Giacometti-Stiftung, deponiert in Basel, Öffentliche Kunstsammlung; Gips bemalt 50 × 12,5 × 17 cm; 1947; Bonnefoy (1992) 294 f. Abb. 269; L. Aragon mit anderen, Wege zu Giacometti. Hrsg.: A. Matthes. München 1987. 62 Abb. 17. Vgl. etwa Frauenkopf aus Mykene, 13. Jh. v. Chr.; Athen, Archäologisches Nationalmus. 4575; Kalkputz 16,8 cm h (ohne Sockel hier); M. Andronikos/M. Chatzidakis/V. Karageorghis, Die Museen Griechenlands. Dt.: G. Blümlein u. a. Athen 1976. 63 Abb. 39. A. Giacometti, Le rêve, le Sphinx et la mort de T. In: Giacometti-Schriften (2001) 30 f. Duisburg, Wilhelm Lehmbruck-Mus.; Gips bemalt, Holzwagen 164 cm h; Bonnefoy (1992) 282 f. Abb. 257. Vgl. Nofretete aus der Gruppe mit Echnaton: Paris, Louvre; Kalkstein bemalt 23 cm h; ca. 1352 v. Chr.; Ägypten II. Hrsg.: J. Leclant. Dt.: S. Edzard/Ch. Strauss. München 1980. 181 Abb. 162. Vgl. Diálogo (2000) 131. 165 Kat. 67: Künstlerexemplar von A. von Salis, Die Kunst der Griechen. Leipzig 1922. Taf. 11 (d. h. München, Glyptothek 169; Marmor 2,08 m h; ca. 540/530 v. Chr.). Kopie von ca. 1950/55. Zürich, Alberto-Giacometti-Stiftung; Bronze auf Holz 142,5 × 62 × 70 cm, mit Holzsockeln 167 cm h; 1950; Alberto Giacometti. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen – Graphik. Hrsg.: P. Beye/D. Honisch. München 1987. 212 f. Kat. 94. Die Zugehörigkeit der Holzsockel ergibt sich zweifelsfrei aus dem Gemälde «Annette mit dem Wagen»: Privatslg.; Öl/Lw. 73 × 50 cm; 1950; Bonnefoy (1992) 366 f. Abb. 340 oder auch nach der Atelierphotographie von ca. 1950 in Diálogo (2000) 20.
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den fahrbaren etruskischen Weihrauchständer im Louvre 23 (Abb. 7) als Vorbild verwiesen worden, die Reduktion auf die Zweirädrigkeit läßt auch an andere antike Vorbilder denken 24. Die geistige Tendenz des Blickes ist ergänzt um eine höchstmögliche Entrückung des Körpers von der Erde mittels vielfacher Sockelung, die Figur selbst ist erstarrt. Es ist gleichsam alles im Extrem labiler Bewegungslosigkeit, rein potentiell. «Elle s’est realisée par la nécessité de nouveau d’avoir la figure dans le vide pour mieux la voir et pour la situer à une distance précise du plancher»25, wie Giacometti selbst seine Intention beschrieb. Bei Giacomettis Figuren wird, auch durch die zerfließenden Umrisse, die jeder klassizistischen Theorie des disegno strikt widersprechen, versucht, eine Verzeitlichung und Vergeistigung der menschlichen Gestalt gleichermaßen zu erreichen. 26 Diese Skulpturen definieren sich also gerade durch ein mehrseitiges Nicht! gegen den breiten Strom der Tradition. Dabei sperrte sich Giacometti aber dezidiert gegen den Gedanken eines linearen Fortschrittes in der Kunst: On a tendance à penser (…), que la posterité, l’avenir mettent toute les œuvres d’art une fois pour toutes à leur plàce. Où? Quand? Il suffit de se rappeler ce qu’on pensait au XVIIIe siècle du Laocoon27 et ce qu’on en pense aujourd’hui. D’une place de choix il y a vingt ans au Louvre, on l’a exilé devant une fenêtre, invisible.28 (…) Rien ne se fixe jamais, chaque époque fait ressurgir du passé les époques et les œuvres qui lui sont nécessaires, et puis ces œuvres et ces époques s’enfoncent de nouveau dans l’ombre pour peut-être ressurgir des siècles ou des millénaires plus tard. (…) Pour ma part, le Laocoon m’intéresse aujourd’hui autant que les archaïques et m’apporte, je crois, davantage.29
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Paris, Louvre; Bronze 30 cm h; ca. E. 6. Jh. v. Chr.; A. de Ridder, Les bronzes antiques du Louvre II. Paris 1915. 150 f. mit Taf. 111 Kat. 3143; A. Schneider, Giacometti und die Antike. In: Alberto Giacometti. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen – Graphik. Hrsg.: P. Beye/D. Honisch. München 1987. 112. Etwa Loutrophore des Analathosmalers: Paris, Louvre CA 2985 [erworben 1935]; Terrakotta 80 cm h; attisch ca. 690 v. Chr.; M. Denoyelle, Chefs-d’œuvre de la céramique greque dans les collections du Louvre. Paris 1994. 22 f. 189 Kat. 6. A. Giacometti, Lettre à Pierre Matisse. Stampa, 28 XII 50. In: Giacometti-Schriften (2001) 51 f. Vgl., mit etwas anderer Akzentuierung, G. Boehm, Das Problem der Form bei Alberto Giacometti. In: L. Aragon mit anderen, Wege zu Giacometti. Hrsg.: A. Matthes. München 1987. 61. 64. Vatikan, Mus.1059, 1064, 1067; Marmor 1,84 m h; 2. H. 1. Jh. v. Chr.; R. Lullies, Griechische Plastik. München 41979. 146 f. mit Taf. 302. Vgl. Giacomettis Kopie: Kugelschreiber/Papier 210 × 295 mm; Giacometti-Kopien (o. J.) 122 f. Taf. 43. Vermutlich bezieht sich Giacometti auf den Bronzenachguß, den Primaticcio 1543/44 durch Vignola für Franz I. hatte herstellen lassen und der sich heute wieder im Schloß von Fontainebleau befindet: M. Walcher Casotti, Il Vignola II. Triest 1960. Abb. 28. Dazu demnächst P. Weitmann, Benvenuto Cellini, die Antikenkopien am Hof Franz I. von Frankreich oder das Original als säkularisiertes theologoumenon. In: «Original – Kopie – Fälschung». Tagung Stendal 12./13. 4. 2002. Hrsg.: M. Kunze/ R. Stupperich. Stendal ca. 2005. A. Giacometti, Diderot et Falconet étaient d’accord. In: Giacometti-Schriften (2001) 82 [zuerst erschienen: 1959].
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Cy Twombly (Edwin Parker Twombly jr.), 1928 in Lexington/Virginia als Sohn eines Baseballspielers geboren, 1947 an der Boston Museum School of Fine Arts unter anderem von Giacomettis Werken nachhaltig beeindruckt,30 stand seit seiner Ausbildung 1951 am Black Mountain College (North Carolina) in engem Kontakt zu der Avantgarde der amerikanischen Kunst der Nachkriegszeit.31 Zu seinem Werk verweigert er weitgehend jede Äußerung. Doch Anfang 1952 bewarb er sich zusammen mit Robert Rauschenberg um ein Reisestipendium des Virginia Museum of Fine Arts/Richmond und schrieb dazu: In the complexity of modern art, in the wide and diverse background of causes and origins it is fatal to look merely on the surface for cause, but to go back to the arts of the primitive cultures, classic construction and even national traditions (…). What I am trying to establish is – that Modern Art isn’t dislocated, but something with roots, tradition, and continuity. For myself the past ist the source (for all art is virtually contemporary). I’m drawn to the primitive, the ritual and fetish elements, to the symmetrical plastic order (peculiarly basic to both primitive and classic concepts, so relating the two). (…) I will be able to study the prehistoric cave drawings of Lascaux (…). The French, Dutch and Italian Museums, the Gothic, Baroque architecture, and Roman ruins. Such experience will provide energy and material for my work. It will broaden my own knowledge and concepts, not only for the painting I intend to do there, but for a lifetime of work. 32
Unter diesen Auspizien reiste er sodann nach Italien, Nordafrika und Spanien, um unter anderem etruskische Gräber und antike Ruinen zu studieren; in Tanger will er sich auch an der Ausgrabung eines römischen Bades beteiligt haben 33. In Rom fand man ihn mit der Rekonstruktion einer Lyra beschäftigt34, und der mitreisende Rauschenberg klagte: We went to Rome. It was good and interesting for about two weeks. Then Cy started collecting antiques. He still collects great antiques. He discovered a flea market, (…). Anyway, the farmers would bring in Etruscan things and occasionally a marble bust. He just went crazy. He kept his half of the money and started spending mine on antiques. I ended up not only being furious and hating him, but also needing to do something to make money to live on.35
Anschließend absolvierte Twombly seine Militärzeit, wobei er wegen seines hohen Intelligenzquotienten in eine Abteilung für Kryptographie gesetzt wurde, was nach seiner Aussage allem weiteren die Richtung gab.36 Ende der Fünfzigerjahre ließ er sich in Italien nieder und heiratete eine Italienerin. Der 1959 geborene Sohn erhielt programmatisch die Namen Cyrus Alessandro, und gleichzeitig entstand ein Gemälde «The Age of Alexander»37. Seitdem hat ihn die Antike in ihrer orientalischen wie griechischen Ausprägung nicht mehr losgelassen.38
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Vgl. Hochdörfer (2001) 16–18. Zur Biographie vgl. Biographie/Biography. In: Twombly-Skulptur (2000) 182–186. Varnedoe (1994) 56 Anm. 48. Brief an Leslie Cheek jr. aus Tanger, undatiert: Varnedoe (1994) 57 Anm. 56. Photographie von Robert Rauschenberg; Twombly-Skulptur (2000) 165. Brief von Robert Rauschenberg an Barbara Rose: Varnedoe (1994) 57 Anm. 53. Varnedoe (1994) 19 mit 59 Anm. 73. Rom, Privatslg.; Öl, Kreide, Farb- und Bleistift/Lw. 300 × 500 cm; 1959; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings I. Hrsg.: H. Bastian. München 1992. 211–213 Kat. 133. Außer den in der Folge zitierten Abhandlungen sind zum Verhältnis von Twombly zur Antike noch zu nennen: S. Delehanty, The Alchemy of Mind and Hand. In: Writings on Cy Twombly. Hrsg.: N. Del Ros-
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1961 reiste er erstmals nach Griechenland, nach Mykonos, wo die Zeichnungsserie der 56 «Delian Odes»39 entstand, deren Titel wohl nicht zufällig an die Werke Pindars erinnert. Um 1960 entstanden eine Reihe von Werken, die sich auf berühmte Gemälde der Vergangenheit beziehen. So etwa «Triumph of Galatea»40 nach dem Fresko Raffaels in der Farnesina zu Rom41. Der Vergleich dieser beiden Gemälde vermag die Art und Radikalität der Anverwandlung von Kunstwerken der Vergangenheit durch Twombly deutlich zu machen: Die äußerste Reduktion des Vorbildes ist offenbar – obwohl die Leinwand ein kolossales Format aufweist, ist keine Figur als solche mehr erkennbar, lediglich die markanten Farbakzente wurden in getupfter oder skizzenhafter Weise übernommen. Der weiße Grund bleibt bestimmend deutlich und auf ihm die vorwiegend roten und teilweise verfließenden Markierungen, die den Zusammenhang mit der vergeblichen Liebe des Polyphem bzw. dem von ihm deswegen bewirkten Tod des Konkurrenten Acis42 evozieren mögen. Einzelne Elemente der figürlichen Darstellung bleiben als kräftig farbige Akzente bestehen – der Kopf des Seepferdes links, das rechte Bein Galatheas, ihr linker Oberschenkel (soll man die Scham assoziieren?) als Drehpunkt der Komposition, in wirbelnder Form die Spitze des Muschelwagens, Kopfumriß und Auge eines der Delphine. Das wehende Gewand breitet sich wo möglich noch weiter über das Bild aus, farblich und formal fließt es mit den Eroten zusammen, wobei die Flügel des rechtesten, der Raffaels Komposition schließt, als schwarz geränderte, hervorstechend, aber doch gebrochen rote Farbakzente in Form weiblicher Brüste nicht nur gleichfalls einen konkretisierten und wie triumphierenden Zielpunkt der Komposition abgeben, sondern auch als einzige deutlich gegenständliche Elemente den tragisch-emotionalen Kern des mythologischen Geschehens offenlegen. Selbstverständlich sind die wesentlichen Darstellungsmittel Raffaels strikt negiert, erkennbare Figuren auf linearer Basis wie perspektivischer Bildraum wie sonstige das Materielle mimetisch rekonstruierende Inszenierung. Man soll aber nicht glauben, daß Twombly ein Bewunderer Raffaels wäre, weil er ihn kopiert: «the most boring painter I know, aside from some of the portraits.»43 Selten gestaltet er mittels Photographien, wie etwa die Fotoserie «Domitilla»44. Der gelbliche Marmorkopf wurde, mit der Frontansicht beginnend, in einer Abfolge von fünf Bildern nach links um den Kopf herum aufgenommen, aber er ist nie in ‹wissenschaftlicher› Vollständigkeit zu erkennen, stets so verschattet, daß nur unregelmäßige, an ihren Rändern fließend in das Schwarz übergehende und an anatomische Trennlinien nicht gebundene Teilbereiche ins Licht treten, der Kopf also immer nur evoziert wird und von Aufnahme zu
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cio. München 2002. 61–73 [zuerst: 1975/76]; K. Schmidt, Way to Arcadia: Thoughts on Myth and Image in Cy Twombly’s Painting. Engl.: D. Britt. In: ebd., 143–173 [zuerst: 1990]. Ölkreide, Filzstift, Kugelschreiber, Bleistift/Papier meist ca. 330 × 350 mm; 1961; Cy Twombly. Serien auf Papier 1957–1987. Hrsg.: K. Schmidt. Bonn 1987. 33–66. 171–174. 12 Blätter wurden bereits auf Mykonos von Kindern zerrissen … Privatslg., Leihgabe in Houston, Cy Twombly Gallery, The Menhil Collection; Öl, Kreide, Bleistift/Lw. 294,3 × 483,5 cm; 1961; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings II. Hrsg.: H. Bastian. München 1993. 72–74 Kat. 19; Szeemann (1987) 223 mit Taf. 14. Rom, Villa Farnesina, Gartensaal; Fresko 295 × 224 cm; 1511–14; L. Dussler, Raffael. München 1966. 109 f. Kat. 11, 12; B. Santi, Raffael. Antella 1991. 53 Abb. 64. Vgl. Ovid, Metamorphosen XIII 740–897; (Theokrit, Eidyllion 11). Varnedoe (1994) 33, aus einem Gespräch mit dem Künstler. 5 Farbphotographien in portfolio; 10 + 2 Exemplare, Vorlagen 30,16 × 27,94 cm, Druck auf Baumwollpapier 44,77 × 34,93 cm; photographiert 1984, gedruckt 1990/91 von M. und J.-F. Fresson; C. Twombly, Photographs. Kat. New York 15.10.–4. 12. 1993. New York 1993. s. v.
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Aufnahme stärker in die Unkenntlichkeit entschwindet. Man fühlt sich an eine Demonstration von Giacomettis These der prinzipiellen Flächigkeit des menschlichen Kopfes erinnert. Die seit 1976 entstandenen Plastiken sind, wie die Bildhintergründe, überwiegend strikt weiß gefärbt, was Twombly als ‹seinen Marmor› zu bezeichnen pflegt45; als Grundmaterial kommen Holz, Gips, dann auch Bronze vor. Der neuen Beschäftigung mit Skulptur unmittelbar parallel ging 1977/78 der zehnteilige, monumentale Zyklus «Fifty Days at Iliam»46 nach Alexander Popes Iliasübersetzung 47. Was die Anfertigung dieser Bilder im Atelier zu Bassano betrifft, muß man sich ergänzend die Dekoration des Hauses mit römischen Skulpturen, Tapeten mit Schlachtenbildern und während des Malens Musik von Wagner im Atelier vorstellen.48 Sieht man das erste Bild des Zyklus’, «Shield of Achilles» 49, mit seinem unheilsschwangeren Ineinander der Kontrastfarben von Ozean-Schwarzblau und Erd-Rot, so will man gerne glauben, daß es zur Ouvertüre des «Rheingoldes» gemalt wurde. Im Tenor passend, wurde der Schild gleich in den nächsten Bildern zum aggressiven Phallus griechischer Rache entfaltet. 50 Erregt angesichts der beobachteten radikalen Reduktionsweise Twomblys bei der Adaption von Vorbildern schon eine der allerersten Skulpturen nach der Unterbrechung, ohne Titel, von 1977,51 den noch durch ihre außergewöhnlich geringe Tiefenerstreckung bestärkten Verdacht, sie könnte griechische Wagen wie auf einem spätgeometrischen Krater in New York52 aufgreifen, so wird eine Berücksichtigung dieser Denkmälergattung zur Gewißheit angesichts eines Papierbildes von 1983 mit dem aufgeschriebenen Titel «Anabasis»53 (Abb. 9), die man schon allein im Blick auf die Fahrtrichtung des Wagens nach links mit einer Athener Halshenkelamphora der Sammlung Stahatos in Beziehung setzen wird 54 (Abb. 8). Die Aufschrift evoziert den Titel des Buches von Xenophon über die Kriegszüge in Kleinasien unter seiner Beteiligung und geht wiederum auf eine lockere Assoziierung des Schauplatzes von Homers «Ilias» zurück, mit der sich Twombly, wie erwähnt, in jenen Jahren besonders beschäftigte; Bild 8 von «Fifty Days at Iliam» greift das Wagenmotiv auf55. 45
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J. Stewart, Cy Twombly: The Sculpture. September 2004 unter: http://www.nga.gov/exhibitions/ 2001/twombly/twombly7.htm. Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings IV. Hrsg.: H. Bastian. München 1995. 68–83 Kat. 13; Twombly-Ilias (1990). Varnedoe (1994) 45, nach Gespräch mit dem Künstler. Varnedoe (1994) 45, nach Gespräch mit dem Künstler. Philadelphia, Mus. of Art; Öl, Kreide, Bleistift/Lw. 192 × 170 cm; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings IV. Hrsg.: H. Bastian. München 1995. 70 f. Kat. 13; Twombly-Ilias (1990). Zu Homer, Ilias 478–608. Teil 3 («Vengeance of Achilles») und 4 («Achaeans in Battle»): Philadelphia, Mus. of Art; 300 × 239 cm bzw. 300 × 380 cm; 1977/78; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings IV. Hrsg.: H. Bastian. München 1995. 70. 73–75 Kat. 13. Twombly-Ilias (1990). Privatslg.; Kunstharz bemalt 87 × 80 × 17 cm; 1977; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 78 f. Kat. 30; Szeemann (1987) 228 mit Taf. 104. New York, Metropolitan Mus. 14.130.14; Werkstatt des Hirschfeldmalers; 1,22 m h; 750/740 v. Chr.; B. Schweitzer, Die geometrische Kunst Griechenlands. Köln 1969. 353 mit Taf. 41. Privatslg.; Öl, Kreide, Bleistift/Papier 100 × 70 cm; 1983; Szeemann (1987) 228 mit Taf. 93. Athen, Nationalmus. 222; 60 cm h; um 700 v. Chr.; B. Schweitzer, Die geometrische Kunst Griechenlands. Köln 1969. 353 mit Taf. 47. «Ilians in Battle»; Philadelphia, Mus. of Art; Öl, Kreide, Bleistift/Lw. 300 × 380 cm; 1977/78; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings IV. Hrsg.: H. Bastian. München 1995. 70. 80 f. Kat. 13; Twombly-Ilias (1990).
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Wiederum sind in «Anabasis» Mensch und Tier vollkommen ausgeblendet, Wagen und Beiwerk dagegen erkennbar beibehalten, ja die Füllinien des Vorbildes sogar als Deichsel an den Wagen gesetzt. Insgesamt jedoch lagen Twombly offenbar diese frühen Vasenmalereien mehr als das Gemälde Raffaels, denn der Grad der Reduktion ist deutlich geringer, ja der Zeichnungscharakter ließ sich direkt übernehmen. Eine weitere Skulptur ohne Titel von 197956 (Abb. 10) fügt sich problemlos als auf den Kern weiter reduzierte und fast flächige Umsetzung eines derartigen zweirädrigen Wagens an. Finden wir Twombly auf diese Weise mit frühgriechischen Denkmälern aus dem Umkreis des Todes beschäftigt und hören ferner, daß er bei seinen Ägyptenreisen 1962 und 1985 insbesondere sich die Möbel- und Fahrzeugmodelle in den Vitrinen des Museums von Kairo angesehen habe57, so verwundert es nicht, daß er in diesem Zusammenhang auch auf Ägyptisches zurückgriff. «Winter’s Passage: Luxor» von 1985 58 (Abb. 20) war nicht nur die Folge einer Ägyptenreise in diesem Jahr, sondern spiegelt die Darstellungen altägyptischer Nilschiffe mit ihrer gleichmäßig leichten Abflachung an Bug und Heck sowie dem als Rechteck abbreviierten Wasser darunter 59 (Abb. 18) wider. Schiffe, wie sie uns im Rahmen des altägyptischen Totenkults überliefert sind, und insofern gut passend zu der Assoziation von Winter und Tod. Die Form auf dem Schiff steht wohl für einen Sarkophag; Gerichtetheit der mastartigen Form darüber in Verbindung mit der symmetrischen Ausgestaltung von Bug und Heck kann zusätzlich den Gedanken von Passage und zyklischer Erneuerung nahelegen.60 Über das Ägyptische vermochte sich Twombly sogar der Darstellung der menschlichen Gestalt zu nähern, wenn man etwa eine unbetitelte Skulptur von 1980 61 mit Werken wie dem Standbild Thutmosis III. in Kairo 62 vergleichen darf. Auf sicheren Boden und wiederum in den griechischen Bereich kommen wir hier mit «(To F. P.) The Keeper of Sheep» von 199263 (Abb. 11), der wohl auf den fast doppelt so großen Widderträger von Thasos 64
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Zürich, Kunsthaus; Gips, Sand 50,1 × 45 × 22,8 cm; 1979; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 100 f. Kat. 41; Twombly-Skulptur (2000) 52. 198 Kat. 16; Hochdörfer (2001) 66 Farbtaf. 30 a. Anderes Exemplar Privatslg.; Bronze bemalt 49 × 42 × 22 cm; 1979; Szeemann (1987) 229 mit Taf. 109. Varnedoe (1994) 48, nach Gespräch mit dem Künstler. Zürich, Kunsthaus; Holz, Nägel, Papier, weiße Farbe und Kupfersulfat 54 × 105,7 × 51,4 cm; 1985; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 168 f. Kat. 75; Twombly-Skulptur (2000) 77. 200 Kat. 37; Hochdörfer (2001) 122 Farbtaf. 71. Modell-Begräbnisbarken: Luxor, Mus. of Ancient Egyptian Art; Holz, bemalt und vergoldet 19,5 bzw. 25 cm h; 1347–1336 v. Chr.; The Luxor Museum of Ancient Egyptian Art. Catalogue. Kairo 1979. 135 Kat. 199 f. Oder auch: Saqqara, Grabmastaba des Ti, Opferraum: Ti bei der Nilpferdjagd; bemaltes Relief; 5. Dynastie, um 2500 v. Chr.; K. Lange/M. Hirmer, Ägypten. München 31985. Taf. 66. Vgl. auch R. Langenberg, Cy Twombly. Hildesheim/Zürich/New York 1998. 195 f. Zur «Seefahrt als Daseinsmetapher» allgemein Hochdörfer (2001) 156–160. 163–166. Rom, Slg. des Künstlers; Holz, Nägel bemalt 273 × 63 × 40,5 cm; 1980; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 112 f. Kat. 47; Twombly-Skulptur (2000) 59. 198 Kat. 20. Kairo, Mus. 400; graugrüner Schiefer 2 m h; ca. 1. H. 15. Jh. v. Chr.; K. Lange/M. Hirmer, Ägypten. München 31985. 86 mit Taf. 140. Houston, Cy Twombly Gallery, The Menil Collection; Holz, Stoff, Gips, Nägel weiße Farbe 194,6 × 29,2 × 63,5 cm; 1992; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 248 f. Kat. 115; Twombly-Skulptur (2000) 68. 202 Kat. 55; Hochdörfer (2001) 79 Farbtaf. 56.
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(Abb. 12) zurückgreift. In beiden Fällen jedoch ist die menschliche Gestalt auf das bloße Aufragen und das Ausgreifende des Schrittes, auf die grundlegenden Konstruktionslinien reduziert; ferner wurde wiederum das Originalmaterial Marmor ersetzt. Aber die dem Titel vorangestellte Widmung weist noch in eine andere Richtung, auf den portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa, der 1911/12 ein Buch mit 49 Gedichten verfaßte, das englisch unter dem Titel «The Keeper of Sheep» läuft. Das einleitende Gedicht lautet: Eu nunca guardei rebanhos Mas é como se os guardasse. Minha alma é como um pastor, Conhece o vento e o sol E anda pela mão das Estações A seguir e a olhar. (…) Pensar incomoda como andar à chuva Quando o vento cresce e parece que chove mais. Não tenho ambições nem desejos Ser poeta não é uma ambição minha. É a minha maneira de estar sozinho. (…) E ao lerem os meus versos pensem Que sou qualquer coisa natural – Por exemplo, a árvore antiga À sombra da qual quando crianças Se sentevam com um baque, cansados de brincar, E limpavam o suor da testa quente Com a manga do bibe riscado Nie habe ich Herden gehütet, und dennoch ist es, als ob ich sie hütete. Meine Seele ist wie ein Hirte, kennt den Wind und die Sonne und geht an der Hand der Jahreszeiten, folgt ihnen und schaut. (…) Denken ist lästig wie ein Gang durch den Regen, wenn der Wind zunimmt und es stärker zu regnen scheint. Ich habe weder Ehrgeiz noch Wünsche. Dichter zu sein ist nicht mein Ehrgeiz. Es ist meine Art, einsam zu sein. (…) Beim Lesen meiner Verse mögen sie denken, ich sei ein Stück der Natur – beispielsweise der alte Baum, 64
Thasos, Mus.; Marmor 3,5 m h; um 580 v. Chr.; J. Boardman, Griechische Plastik. Die archaische Zeit. Dt.: G. Hornbostel. Mainz 1981. 67 Abb. 69. Die Deutung auf eine angelehnte Hacke bei K. Schmidt, Cy Twomblys Skulptur sehen/Looking at Cy Twombly’s Sculpture. In: Twombly-Skulptur (2000) 66 muß schon allein deswegen falsch sein, weil dieses Werkzeug nur schwer mit dem vom Titel des Werkes geforderten Schafhirten zu verbinden ist.
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in dessen Schatten sie sich als Kinder, ermattet vom Spielen, fallen ließen und mit dem zerrissenen Schürzenärmel den Schweiß von der heißen Stirne wischten. 65
Man ist versucht, auf dieser Basis den «Keeper» im Rahmen des Möglichen als Selbstbildnis des Künstlers und seine Rückbindung an kosmische Kreisläufe zu deuten. Auch diese Plastik rückt zunächst in den Umkreis von Tod, Übergang und Vergänglichkeit. Von der traditionellen Skulptur distanziert sich Twombly also nicht allein durch den Verzicht auf die menschliche und tierische Gestalt, nicht allein durch bemalte, eher ärmliche Materialien statt des Marmors, sondern auch durch Konzentration auf zeitliche statt räumlicher Bezüge in den Werken, ganz gegen die freilich höchst bezweifelbaren Forderungen, die Lessing in seinem «Laokoon» erhob66. Ein abermals nicht betiteltes Werk von 1985, das an einen Grabstein erinnert, trägt eine blutrote Aufschrift «Rose» nebst einer unten roten Blattform obenauf67. Rote Farbe ist über das ganze Objekt wie über einem Hinrichtungsblock verlaufen. Das Werk wird erklärbar durch das kurz danach entstandene Gemälde «Analysis of the Rose as Sentimental Despair»68, dessen vierte Tafel auf Rilkes selbstgewählte Grabschrift verweist: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. 69
Man beachte freilich Twomblys Betonung der Verzweiflung, die sich bei Rilke nicht findet. Mit wenigen Veränderungen entspricht diese Skulptur der «Anadyomene» von 198170, in der sinnig ein unten blau gefärbtes Brettchen des ansonsten weißen Werkes den Aufstieg aus blauem Wasser und Schaum zum blauen Himmel evoziert – ganz, wie sich das Rosenblatt aus dem blutrot überströmten leichenfarbigen Grabstein- Objekt erhebt. Geburt und Tod werden so in gleicher Weise unter dem Zeichen der Liebe umschlossen und wiederum unter dem Gedanken des Überganges wie zugleich der coincidentia oppositorum faßbar.
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Alberto Caeiro (Fernando Pessoa), O Guardador de Rebanhos. In: Fernando Pessoa. Alberto Caeiro · Dichtungen. Ricardo Reis · Oden. Port.-dt. hrsg.: G. R. Lind. Zürich 1986. 10–13. Vgl. P. Weitmann, Der ‹fruchtbare Augenblick› im antiken Monument. In: «Der fruchtbare Augenblick». Zum Problem der Gattungsgrenzen in der Kunst aus wissenschaftsmethodischer Sicht. Hrsg.: Winckelmann-Gesellschaft e.V. Stendal 2003. 19–21 mit Anm. Houston, Cy Twombly Gallery, The Menil Collection; Holz, Gips, Kunststoffblatt, Nägel bemalt 33 × 46 × 60,3 cm; 1985; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 182 f. Kat. 82; Twombly-Skulptur (2000) 90 f. 200 Kat. 38. Teil 4: Houston, Cy Twombly Gallery, The Menil Collection; Öl, Wachskreide/Lw. 245,4 × 257,2 cm; 1985; übergesetzter titulus: «Rose Oh Sheer/contradiction/Sheer» (weitere 2 Zeilen unleserlich); Cy Twombly IV. Hrsg.: H. Bastian. München 1995. 114. 118 Kat. 27; Hochdörfer (2001) 113 Farbtaf. 74. R. M. Rilke, Sämtliche Werke II. Hrsg.: Rilke-Archiv/R. Sieber-Rilke/E. Zinn. Frankfurt am Main 1963. 185. Rom, Privatslg.; Holz, Nägel, blaue Kreide, Stoff bemalt 47 × 57,1 × 73,6 cm; 1981; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 136 f. Kat. 59; TwomblySkulptur (2000) 82 f. 200 Kat. 26.
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Es folgte 1991 «Thermopylae» 71 (Abb. 13), passend zum Zeitereignis des ersten Golfkrieges eine Anspielung auf die verlorene Schlacht gegen die Perser 480 v. Chr. unter formalem Rückgriff auf den nach Olympia geweihten persischen Helm aus diesen Kriegen 72 (Abb. 14), aber mit Tulpen versehen, Blumen aus dem Orient, die aus dem Symbol des Todes wie auf einem Hügel sprießen. Die Blume begegnete bereits 1975 in einer Collage «Mars and the Artist» 73 (Abb. 15), in welcher die Beischrift sie unzweideutig als «Artist» identifizieren läßt. Der Künstler blüht also auf dem Boden des Krieges. Die Gipsfassung von «Thermopylae» ist mit der englischen Übersetzung des Anfangs eines gleichnamigen Gedichtes von Konstantin Kavafis aus der Zeit 1901/03 beschriftet: «HONOR TO THOSE WHO I N TH E LI FE / TH EY LEAD DEFI N E AN D GUARD / A TH ERMOPYLAE / (CAVAFI)». Den elegischen Schluß des Gedichtes unterschlug Twombly: Tκ # « Ρ κ
— λ «. (…) Kλ κ « Ρ ! (λ λ ! ) Ω« ² ’E« $% & µ «, # ¹ M'( « $% (!) .74 Ehre jenen, die in ihrem Leben Thermopylen grenzten und bewachten. (…) Und gebühret größre Ehre denen, Wenn sie vorhersehn (und viele sehn vorher) Wie der Ephialtes kommen wird am Ende, Und hindurch die Meder ziehn zum Ende.
Unmittelbar nach Vollendung des Werkes reiste Twombly auf der Route Byrons durch Griechenland.75 Zu den Thermopylen darf also wohl auch der (Künstler-)Tod in Missolunghi hinzugedacht werden. Freiheit und Kunst erwachsen anscheinend aus der letztlich besiegten orientalischen Unterdrückung. Hemmungsloser Triumph in dieser Richtung brach sich schließlich Bahn in dem «Epitaph» von 1992, einer Art Reliquienkästchen, dessen Inhalt nachgerade überzuquellen scheint wie eine lässig zurückgelassene Schmuckkiste, und dessen Dach das Zitat einer frei erweiterten Übersetzung von Worten des Archilochos trägt:
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Houston, Cy Twombly Gallery, The Menhil Collection; Gips auf Weidengeflecht und Stoff, Graphit, Holzstöcke, Blumen auf Plastikstilen 137 × 89 × 66 cm; 1991; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 240 f. Kat. 111; Twombly-Skulptur (2000) 118. 202 Kat. 53; Hochdörfer (2001) 70 Farbtaf. 35. Olympia, Mus. B 5100; Bronzeblech 23,1 cm h; kurz nach 500 v. Chr.; Aufschrift: «* A$ M(
! «»; Die Funde aus Olympia. Hrsg.: A. Mallwitz/H.-V. Herrmann. Athen 1980. 96 mit Taf. 58. Rom, Slg. A. Twombly; Öl, Kreide, Kohle, Bleistift/Papier 142 × 127,5 cm; 1975; Szeemann (1987) 224 mit Taf. 29; Hochdörfer (2001) 115 Farbtaf. 62. K. P. K!, P (1896–1933). In: K!« I. Hrsg.: Ph. G. Phexes. Athen 1982. 27. Bezieht sich das Gedicht vielleicht auch auf den 1897 in Thessalien gegen die Türken verlorenen Krieg? Biographie/Biography. In: Twombly-Skulptur (2000) 186.
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in the HOSPITALITY of WAR We left them their DEAD AS a GIFT to REMEMBER US BY ARCHILOCHOS.76
Man beachte die böse Mehrdeutigkeit von «US». Die bittere Ironie des Archilochos ist in ihr Gegenteil verkehrt. Es folgten auch (mit einem Vorläufer 198177) ab 1990 mehrere Plastiken unter dem Titel «Thickets»78 (Abb. 16), in denen man unschwer die Rezeption des Ziegenbockes am Blütenstrauch aus den sumerischen Königsgräbern von Ur im British Museum79 (Abb. 17) erkennt, zumal verschiedene altorientalische Städtenamen als Aufschrift des Stammes bzw. als angehängte ‹Blätter› vorkommen. Der Lebensbaum aus dem Grab trägt somit die Stätten früher Kultur als Blätter, alles freilich in künstlicher Todesweiße, setzt also die Akzente beim nun schon bekannten Thema des Vergehens und Werdens – man beachte die Reihenfolge – auf Vergehen und Werden der Kultur. Aber der Baum mit Inschriften entstammt der Tradition bukolischer Dichtung80, es ist der Dichter Gallus, dessen geliebte Lycoris fern im eisigen Lande des Mars weilt, den Vergil seine Liebe in Bäume zu ritzen heißt, um hernach die Ziegen literarisch nach Hause zu führen.81 Die Liebe des Künstlers zur Kultur arkadisch verschwimmender Vergangenheit in der Tradition seiner römischen Wahlheimat ist es demnach, die Twombly vor Augen stellen will. Den Topos «Arkadien» hatte er schon in einem seiner frühesten Gemälde82, wohl mit Bezug auf Poussins berühmte zweite Fassung von 76
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Houston, Cy Twombly Gallery, The Menil Collection; Holz, Gips bemalt 40,7 × 38,7 × 38,1 cm; 1992; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 258 f. Kat. 125; Twombly-Skulptur (2000) 120. 202 Kat. 61. Die Aufschrift zitiert Archilochos, Fragment 184 nach der Übersetzung von Archilochos Sappho Alkman. Engl. G. Davenport. Berkeley/Los Angeles/London 1980. 58. Diese Übersetzung bezieht sich ihrerseits auf das Fragment 6 Tarditi bzw. 14 Lasserre: «+ ( % - » 2 (Archiloque, Fragments. Hrsg.: F. Lasserre/A. Bonnard. Paris 1958). Rom, Slg. des Künstlers; Holz, Weidenäste, Plastikblumen, Nägel, Draht bemalt 123,8 × 29,8 × 54,6 cm; 1981; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 140 f. Kat. 61; Twombly-Skulptur (2000) 99. 200 Kat. 28. Etwa Rom, Slg. des Künstlers; Holz, Zement, Draht, Schnur, Papier, Nägel, Tinte und weiße Farbe 260,3 × 58,4 × 57,1 cm; 1991; Aufschrift des Stammes: «THiCKETS of AKKAD · SUMER», Aufschrift der Blätter v.o.n.u.: Uruk, Tell Al Ubai, Eridu, Umma, Zabalan, Isin, Ur, Nippur; Cy Twombly. Catalogue raisonné of sculpture I. Hrsg.: N. del Roscio/A. Danto. München 1997. 238 f. Kat. 110; TwomblySkulptur (2000) 100. 202 Kat. 52. London, British Mus. 122 200; Gold, Silber, Lapislazuli, Muschel, roter Kalkstein auf Holz 45,7 cm h; ca. 2685–2645 v. Chr.; E. Strommenger, Fünf Jahrtausende Mesopotamien. München 1962. 68 mit Taf. 80. Farbtaf. XIV. Vgl. Vergil, Ecloga X 53 f., auch V 13–15. «nunc insanus amor duri me Martis in armis/tela inter media atque aduersos detinet hostis./tu procul a patria (nec sit mihi credere tantum)/Alpinas a! dura niues et frigora Rheni/me sine sola uides. a, te ne frigora laedant!/(…)/certum est in siluis inter spelaea ferarum/malle pati tenerisque meos incidere amores/arboribus: crescent illae, crescetis, amores./(…)/ite domum saturae, uenit Hesperus, ite capellae.» (Vergil, Ecloga X 44–48. 52–54. 77). «Arcadia»; Privatslg.; Öl, Kreide, Farb- und Bleistift/Lw. 182,9 × 200 cm; 1957/58; Cy Twombly. Catalogue raisonné of the paintings I. Hrsg.: H. Bastian. München 1992. 152 f. Kat. 97; Szeemann (1987) 223 mit Taf. 11.
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«Et in Arcadia ego»83, evoziert, er ist als künstlerische wie sozialutopische Landschaft bekanntlich zuerst im vergilischen Klassizismus fassbar84. Auch das beschriftete Grab gehört in diesen Kontext;85 wohl nicht zufällig ähnelt Twomblys ‹Rilkeepitaph› dem gleichfalls beschrifteten Sarkophag in Poussins Gemälde, nach Panofskys berühmter Interpretation eine Meditation über den Tod anhand der Aufschrift des Sarkophages86. Aus dem ersterbenden oder erstorbenen Alten entsteht das Neue – im Nachhinein erweist sich, wie sehr der Stipendiumsantrag des jungen Twombly als Programmschrift seiner Kunst verstanden werden kann. Die Sarkophagform des ‹Rilkeepitaphs› hat freilich eine weitere ästhetische Funktion – sie fungiert als Sockel. Die meisten von Twomblys Skulpturen verfügen über dieses heutzutage durchaus nicht mehr zwingende Element. Besonders auffällig ist die Sockelung im Falle von «Winter’s Passage: Luxor» (Abb. 20), da dort die schon bei den Ägyptern sokkelartige Angabe des Wassers mittels eines untergesetzten Rechtecks durch einen weiteren Sockel ergänzt wird. Vielleicht mag uns das fast durchgängig verwendete weiß bemalte Holz über die Assoziation des Todes oder auch elitärer Distanzierung im Sinne Mallarmés87 hinaus die Richtung von Twomblys Interpretation anzugeben, ist es doch das typische Material der Häuser der Gründerjahre in den Südstaaten der USA 88, Twomblys Heimat, und von diesem obendrein als «sein Marmor» bezeichnet. Dann fände die Erneuerung der europäisch-asiatischen Tradition also in Amerika statt, der vernichtete Orient aus amerikanischer Sicht erneuerte sich im amerikanischen Okzident, mit ‹amerikanischem› Material, und bei Twombly natürlich. Das Tier in «Thickets» (Abb. 16) ist abermals eliminiert – doch die Pflanze, der Lebensbaum, ist geblieben, in triumphierender Größe von 2,6 m. Hier ist Twombly in mancher Hinsicht an seinen Quellen angekommen, denn Advokaten der späten Moderne verkünden ja noch immer triumphierend die Überwindung der europäischen Tradition und insbesondere auch des Antikenbezuges, und damit einen angeblich völligen Neuanfang, in der amerikanischen Kunst der Nachkriegszeit. Aber so neu sind die Dinge nicht. Der Verzicht auf Darstellungen von Mensch und Tier und zugleich die Beschriftung von Kunstwerken hat eine alte orientalisch-islamisch-jüdische Tradition 89. Man wüßte gerne, ob auch diese Konsequenz Twombly bewußt war – daß seine amerikanisch-okzidentale Erneuerung der Kunst in orientalisierender Form stattfindet und sich dahinter eine weitere coincidentia oppositorum auf höherer Ebene eröffnen würde. Man mag freilich einwenden, daß es guter griechischer Tradition entspräche, schon sprachlich keinen Unterschied zwischen «malen» 83
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Paris, Louvre 7300; Öl/Lw. 85 × 121 cm; ca. 1638; Nicolas Poussin 1594–1665. Hrsg.: P. Rosenberg/L.-A. Prat. Paris 1994. 283–285 Kat. 93. Von enger Bekanntschaft Twomblys mit diesem Bild schon in den Fünfzigerjahren geht Varnedoe (1994) 62 Anm. 126 aus. Vgl. B. Snell, Arkadien/ Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Die Entdeckung des Geistes. Göttingen 51980. 262 f. Vgl. das Grab des Daphnis: Vergil, Ecloga V 42–44. E. Panofsky, Et in Arcadia ego. In: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Dt.: W. Höck. Köln 1978. 351–377 [zuerst erschienen 1936]. Vgl. Hochdörfer (2001) 111 f. 129–132. Vgl. J. Stewart, Cy Twombly: The Sculpture. September 2004 unter: http://www.nga.gov/exhibitions/ 2001/twombly/twombly7.htm. Pars pro toto: Koran von Arghûn Shâh, Zierseite; Kairo, Nationalbibl. ms. 54; 705 × 509 mm; ca. 1368–88; R. Ettinghausen, Arabische Malerei. Genf 1962. 174.
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und «schreiben» zu machen, sondern beides unter « » zu fassen. Der mit Twombly befreundete Roland Barthes hat darauf hingewiesen, daß der Kritzelcharakter der Beschriftungen bei Twombly darauf verweise, daß «l’essence de l’écriture, ce n’est ni une forme ni un usage, mais seulement un geste, le geste qui la produit en la laissant traîner»90. Seine weitere Folgerung, und derartiges findet sich bei vielen der, freilich nicht sehr zahlreichen, Interpreten von Twomblys Werk, die zudem, und gewiß nicht zufällig, fast durchweg die Skulpturen ausblenden – daß diese Schrift «est déchiffrable, ce n’est pas interpretable; les traits eux-mêmes peuvent bien en être précis, discontinus; ils n’en ont pas moins pour fonction de restituer ce vague qui empêcha TW, à l’armée, d’être un bon déchiffreur des codes militaires» 91 erweist sich freilich angesichts der überdeutlichen und mehrfachen Bezüge, die vor allem in den Skulpturen zu fremden wie auch eigenen Werken hergestellt werden, als unhaltbar und damit auch alle Philosophismen, die man darauf aufbauend an diesen schweigenden Künstler anzuhängen versucht. Es liegt weithin eine Geste vor, aber diese will sehr wohl Zeichen sein; nicht immer sofort deutlich ist lediglich die ihm zuzuordnende Bedeutung, ist das, was es evozieren soll. Gottfried Boehm hebt in anderer Weise auf die Vagheit von Twomblys Bildern ab, wenn er ihm ein inneres, erinnerndes Sehen zuschreibt, das sich darin manifestiere, ein Sehen, das wie das Erinnern durch Vergessen, Verschwinden ergänzt sei.92 Aber dazu bedürfte es wohl zunächst schon der Gewißheit, daß die Bilder, die sich mit Vorbildern verbinden lassen, aus der Erinnerung gemalt sind, und außerdem sind die Aspekte, die «vergessen» werden, bei den Skulpturen doch allzu einheitlich und konsequent immer dieselben. Auch mit dieser Theorie ist Twombly nicht beizukommen. Der Schlüssel zu seinen Werken liegt eher in seiner Kryptographietätigkeit: Insbesondere die Bilder sind als Geheimschriften zu lesen. Als solche müssen sie dann aber einen zwar verhüllten, doch faßbaren Sinn haben, den es lediglich auf geeignete Weise zu decodieren gilt. Twombly war, wie gesagt, während seiner Ausbildung von Giacometti fasziniert gewesen, und in mancherlei Kompositionsprinzipien scheinen beider Skulpturen identisch zu sein. Giacomettis «Wagen» (Abb. 5. 6) thematisiert das Problem des Stehens im Nichts, im Tode. Bei Twombly dagegen (Abb. 9. 10) dient er als aggressives Zitat konkreter historischer wie auch allgemeiner Verläufe in der Skulptur. Twombly baut in mancherlei Hinsicht mit seinen Skulpturen auf Giacometti auf: «Winter’s Passage: Luxor» (Abb. 20) etwa ist kaum denkbar ohne «Homme qui marche sur la pluie» (Abb. 19), der als Selbstportrait gemeint und auf Giacomettis Gang an jenem regnerischen 5. September 1921, dem Tag des ersten seiner traumatisch erlebten Todesfälle, bezogen ist 93. Rückt dort die absolute Glätte der Oberfläche des aufgesetzten Sockelbrettes die dagegen rauh gearbeitete Figur mit ihren großen Füßen aus sich hinaus wie wenn diese auf Wasser laufen und nur vom schweren Schlamm des Irdischen auf diesem gehalten würde – auch bei dieser Skulp90
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R. Barthes, Cy Twombly ou «Non multa sed multum». In: Œuvres complètes III. Hrsg.: É. Marty. o.O. [Paris] 1994. 1033 [zuerst erschienen 1979]. R. Barthes, Cy Twombly ou «Non multa sed multum». In: Œuvres complètes III. Hrsg.: É. Marty. o.O. [Paris] 1994. 1034. G. Boehm, Cy Twombly. In: Kunstforum 127, 1994. 250 f. Zürich, Alberto-Giacometti-Stiftung; Bronze 46,5 × 77 × 15 cm; 1948; Bonnefoy (1992) 322 Abb. 295. A. Giacometti, Lettre à Pierre Matisse. Stampa, 28 XII 50. In: Giacometti-Schriften (2001) 52. 61; ders. in ebd., Le rêve, le Sphinx et la mort de T., S. 33.
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tur findet sich wieder der mehrfach in sich selbst verneinte Sockel – so ist bei Twombly nicht mehr die Erdgebundenheit oder genauer Körperlichkeit des Schiffsmastes oder Schiffes problematisch, es ist auch weder mit einem verankernden noch gar sich selbst negierenden Sockel versehen, sondern wird wie ein Zitat auf den Schild gehoben. Für Giacometti stand die formale Bewältigung im Vordergrund, für Twombly die Aufgeladenheit mit Bedeutung. Bei allen platonistischen Anwandlungen, aller Abneigung gegen die griechische Darstellungsweise des Menschen, hat Giacometti jedenfalls nach dem II. Weltkrieg doch nicht die Bindung an die menschliche Figur aufgegeben; selbst ein «Wald/La forêt» 94 (Abb. 21) bestand für ihn aus einer Ansammlung von Menschen, wiederum lastend über dem Nichts und auf gerundeten Basen aus dem Grund wachsend wie archaische Skulpturengruppen 95 (Abb. 22). Wenn Twombly sich Apollon zum Thema nimmt, im Pendant zu «Mars and the Artist» (Abb. 15), 96 tritt dieser uns hingegen gestaltlos als Name auf einem virtuellen Sokkel vor Augen, darüber ein Pfeil mit der Angabe «50 000 (?) M.», mutmaßlich als Streckenangabe des die Künstler-Blume überfliegenden und erleuchtenden Kunst- und Sonnengottes zu verstehen. Wenn Giacometti den Apoll vom Belvedere kopiert 97 (Abb. 23), dann weist schon die Ausarbeitung der Zeichnung auf das Vorbeihuschende, Verschwindende, Epiphanische dieser Apollonplastik hin, bei der alles Lichttragende der Skulptur im Weiß des Papiergrundes verschwindet, die Ergänzungen des römischen Kopisten ohnehin fortgelassen sind. Aber es ist doch eine konkrete menschengestaltige Figur. Bei Gelegenheit mag sie uns, spiegelverkehrt, als «L’homme qui montre» 98 (Abb. 24) dem Giacomettischen Formenkanon anverwandelt, wieder begegnen, Experiment äußerster Raumgreifendheit einer Skulptur dieser Art und insofern wieder Verwandlung einer ephemeren Gestalt in eine statische. Ein weiterer Beweis, daß Giacometti den Weg zu den Skulpturen seines Spätwerkes, bei allen stilistischen Vorbehalten, wesentlich über die Formen griechisch-römischer Skulptur fand. In der allgemeinen Herangehensweise sowie in der Rolle der menschlichen Figur liegen also zwei wesentliche Unterschiede zwischen Giacometti und Twombly. Ein dritter liegt in den Darstellungszielen jedenfalls der Skulpturen: Twombly geht es um Evokation der Ver94
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Zürich, Kunsthaus; Bronze 57 × 61 × 49,5 cm; 1950; Bonnefoy (1992) 350 f. Abb. 324. Vgl. A. Giacometti, Lettre à Pierre Matisse. Stampa, 28 XII 50. In: Giacometti-Schriften (2001) 59. Gruppe des Geneleos von Samos; Vathy/Samos, Mus. und Berlin, SMPK; Basis 6,08 m l; ca. 560/550 v. Chr.; A. Stewart, Greek Sculpture II. New Haven/London 1990. Taf. 97–99; J. Boardman, Griechische Plastik. Die archaische Zeit. Dt.: G. Hornbostel. Mainz 1981. Abb. 91. Rom, Slg. A. Twombly; «Apollo and the Artist»; Öl, Kreide, Bleistift/Papiercollage 142 × 127,5 cm; 1975; Szeemann (1987) 224 mit Taf. 30. Vorbild: Vatikan, Mus. 1015; Marmor 2,24 m h; Kopie ca. 130/140 nach griechischem Original ca. 330/320 v. Chr.; P. Weitmann, Œuvre d’art et historicité à l’exemple de l’Apollon du Belvédère. In: la part de l’œil 15/16, 1999/2000. 268–270. Kopie: Kugelschreiber/Papier 210 × 295 mm; Giacometti-Kopien (o. J.) 126 f. Taf. 45. London, Tate Gallery; Bronze 176,5 × 90,2 × 62,2 cm; 1947; Bonnefoy (1992) 325 Abb. 298. Es ist bemerkenswert, daß diese Ausarbeitung einst ein Gegenüber erhalten sollte, das jedoch nie gelang (vgl. Ch. Klemm, Alberto Giacometti 1901–1966. In: Alberto Giacometti. Kat. Zürich 18. 5.–2. 9. 2001/New York 11. 10. 2001–8. 1. 2002. Hrsg.: Ch. Klemm/C. Lanchner/T. Bezzola/A. Umland. Zürich/Berlin 2001. 184 f. mit 264 Anm. 132. 276 Kat. 125). Dies entspricht genau dem scheinbaren Bedürfnis des Apoll vom Belvedere nach einem Gegenüber, einem Objekt, für das er aber zugleich zu transitorisch ist, vgl. P. Weitmann, Œuvre d’art et historicité à l’exemple de l’Apollon du Belvédère. In: la part de l’œil 15/16, 1999/2000. 272.
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gangenheit zum Zwecke der Thematisierung von Vergänglichkeit, zeitlichen Übergängen, biographischer Reflexion, Einordnung politischer Ereignisse in gewisse scheinbare historische Konstanten. Er versucht, zyklische Naturvorgänge wie auch wirkliche oder intendierte historische und kulturelle Gegebenheiten ins Werk zu fassen. Ihm geht es um die Aufnahme der Zeit in eine traditionell statisch gebildete Skulptur. Giacometti dagegen ging es um Formung der Realität der gleichzeitigen Außenwelt wie sie sich seiner Wahrnehmung darbot, wobei er die Kunst der Vergangenheit lediglich als formales Vehikel benutzte und die historische Dimension strikt überging. Diese Haltung geht an den Kern seines Kunstbegriffes, und obgleich nur selten Antiken in seinem Werk genau identifizierbar sind, ist das Kopieren, und zwar unter strikter Ausblendung zeitlicher Aspekte der Erscheinungen, damit untrennbar verbunden: Je ne crée pas pour réaliser de belles peintures ou de belles sculptures. L’art ce n’est qu’un moyen de voir. (…) Alors, il faut essayer de copier simplement, pour se rendre un peu compte de ce qu’on voit. C’est comme si la réalité était continuellement derrière les rideaux qu’on arrache … (…) La distance entre moi et le modèle a tendance à augmenter sans cesse; plus on s’approche, plus la chose s’éloigne. C’est une quête sans fin.99
Twomblys Antikenrezeptionen stellen suggestive Antworten in den Raum – Giacometti hat nur Fragen und Fragen zu schaffen. Beide Künstler thematisieren die Vagheit des Verschwindens. Bei Twombly führt dies in eine todessehnsüchtig bis militaristisch gefärbte arkadische Aura, bei Giacometti in die harte Aufgabe des ewig ungelösten Problems eines BeStehenkönnens vor der Leere des Todes, des Nichts. Der eine vermag daher alle Antiken affirmativ zu verwenden, ja leidlich erkennbar in der Form zu zitieren. Dem anderen stellten die griechisch-römischen Antiken ein zu pralles Konzept irdischen Lebens vor, er durchschaute sie bis auf ihr Skelett. Das «Et in Arcadia ego» lesen beide – aber Twombly sieht dabei sich in Arkadien, Giacometti in Arkadien sich.
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A. Giacometti, Entretien avec André Parinaud. In: Giacometti-Schriften (2001) 275.
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Nachweis der Abbildungsquellen zum Aufsatz von P. Weitmann: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13a 13b 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
E. Simon, Die griechischen Vasen. München 21981. Taf. 123 El diálogo con la historia del arte: Alberto Giacometti. Hrsg.: M. Casanova. Valencia 2000. 120 Kat. 56 Y. Bonnefoy, Alberto Giacometti. Wabern-Bern 1992. Abb. 269 El diálogo con la historia del arte: Alberto Giacometti. Hrsg.: M. Casanova. Valencia 2000. 131 Kat. 67 Y. Bonnefoy, Alberto Giacometti. Wabern-Bern 1992. Abb. 257 Alberto Giacometti. Hrsg.: P. Beye/D. Honisch. München 1987. Kat. 94 A. de Ridder, Les bronzes antiques du Louvre II. Paris 1915. Taf. 111 Kat. 3143 B. Schweitzer, Die geometrische Kunst Griechenlands. Köln 1969. Taf. 47 Cy Twombly. Hrsg.: H. Szeemann. München 1987. Taf. 93 A. Hochdörfer, Cy Twombly. Klagenfurt/Wien 2001. 66 Farbtaf. 30a Cy Twombly. Die Skulptur/The sculpture. Hrsg.: K. Schmidt. Ostfildern-Ruit 2000. 68 oben Kat. 55 nach Diapositiv der Universität der Künste, Berlin Cy Twombly. Die Skulptur/The sculpture. Hrsg.: K. Schmidt. Ostfildern-Ruit 2000. 118 oben Kat. 53 A. Hochdörfer, Cy Twombly. Klagenfurt/Wien 2001. 70 Farbtaf. 35 Die Funde aus Olympia. Hrsg.: A. Mallwitz/H.-V. Herrmann. Athen 1980. Taf. 58 A. Hochdörfer, Cy Twombly. Klagenfurt/Wien 2001. 115 Farbtaf. 62 Cy Twombly. Die Skulptur/The sculpture. Hrsg.: K. Schmidt. Ostfildern-Ruit 2000. 100 rechts Kat. 52 E. Strommenger, Fünf Jahrtausende Mesopotamien. München 1962. Farbtaf. 14 The Luxor Museum of Ancient Egyptian Art. Catalogue. Kairo 1979. 135 Kat. 199 ff. El diálogo con la historia del arte: Alberto Giacometti. Hrsg.: M. Casanova. Valencia 2000. 195 Kat. 107 A. Hochdörfer, Cy Twombly. Klagenfurt/Wien 2001. 122 Farbtaf. 71 Y. Bonnefoy, Alberto Giacometti. Wabern-Bern 1992. Abb. 324 B. Freyer-Schauenburg, Samos XI. Bildwerke der archaischen Zeit und des Strengen Stils. Bonn 1974. Taf. 44 oben A. Giacometti, Begegnung mit der Vergangenheit. Hrsg.: L. Carluccio. Zürich o.J. 127 Taf. 45 la part de l’œil 15/16, 1999/2000, 295 rechts.
Alle Reproduktionen von Werken Alberto Giacomettis (Abb. 2–6. 19. 21. 23 f.): © Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, Bonn 2003.