Ethos der Weltkulturen Religion und Ethik herausgegeben von
Anton Grabner-Haider
Mit einem Vorwort von Hans Küng
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Ethos der Weltkulturen Religion und Ethik herausgegeben von
Anton Grabner-Haider
Mit einem Vorwort von Hans Küng
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Bibliografische lnfoonalion Der Deutschen BibliOlhek Die Deulsche Bibliothe,k verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: delaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrulbar. ISBN 13: 978-3-525-57305-1 ISBN 10: 3-525-57305-7
Gefordert von der Karl Franzens Universität Gral..
CI 2006. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG. Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Umerrichlszweckc. Primed in Geonany. Salz und Layout: Helmut Lenhan. Druck und Bindung: Hubert & Co.. Göuingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Bayerische Staatsbibliothek München
Inhalt
Vorwort (Hans Kiing)
Einleitung
__
7
11
AIltOIl Grabner-Haider
Ethos und Kulmr
17
Amotl Quack
2 Ethos der Starnmeskulturen
37
Heike Michael·Murmann 3 Indische Kultur
5S
Amotl Grabtler·Haider 4 Buddhistische Kultur
75
AnIon Grabner-Haider 5 Chinesische Kultur
103
Amoll Grabller·Haider 6 Japanische Kultur
131
Karl Premier 7 Werteordnung des Alten Orients und Ägyptens
159
Johanll Maier 8 Ethos des Judentums
179
Anton Grabner-Haider 9 Ethos des Christentums
243
Karl Premier 10 Islamische Kultur
277
6
lnhah
Amotf Qllack
11 Afrikanische Kulturen
Mar;ano De/gado 12 Zum Ethos der lateinamerikanischen Kultur
319
__
331
Grabner-Haider 13 Europäische Philosophie der Moral
349
Anhang Namensregister
399
AlIIon
Autorenverzeichnis Delgado. Mariano: Prof. fLir Patristik. Universität Fribourg. Grabner-Haider, Aman: Prof. für Religionsphilosophie. Universität Graz. Maier. Johann: Prof. fUf Judaistik. Universität Köln. Michael-Munnann. Heike: Indologin. Universität Mainz.. Prenner. Karl: Prof. rur Religionswissenschaften. Universitäl Graz. Quack. Anion: Prof. rur Religionswissenschaft. Theologische Hochschule SI. AugustinIBonn. Remeie. Kurt: Prof. rur Soz.ialethik. Universität Graz.
Vorwort Hans Küng
..Dogmatik trennt - Ethik eine'; das ist nur bedingt richtig! Für den ersten Teil des Satzes sprechen die Erfahrungen vieler, dass in Glaubensfragen sich Religionen vielfach uneins sind und sich gegenseitig verketzern und verteufeln. Doch gibt es gerade in neueslcr Zeit auch Erfahrungen. dass sich Religionen in ihrem Glauben annähern und feststellen. dass sie trotz aller Differenzen sich in vielem nahestehCl1. Man denke an den christlich-jf.idischcn. aber zunehmend auch den christlich-muslimischen Dialog, denke aber auch an die Annäherungen zwischen Konfuzianismus und Daoismus - "Dogmatik" braucht also nicht unbedingt zu trennen. Auch in Glaubensfragen ist Konvergenz möglich und erwünscht.
Umgekehrt gibt es auch in Mora/fragen zwischen den Religionen und selbst innerhalb der Religionen viele Gegensätze, man denke nur an die Sexual moral. Doch ist es ebenfalls eine Erfahrungstatsache, dass auch Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Dogmatik recht gut zusammenleben können, solange sich alle an bestimmte Regeln des Umgangs halten. Ja, es ist möglich, trotz Unterschieden in der Dogmatik in der Ethik übereinzustimmen. Ethik kann einen. Doch ist dies zu präzisieren. Es ist heute allgemein anerkannt: Nonnen sind kulwrabhängig. In verschiedenen Kulturen gewachsen, bleiben sie von ihnen geprägt und auch durch die jeweilige Kulturstufe bestimmt. Doch ist es eine Einsicht der neuesten Zeit, dass es auch gewichtige kulturübergreijellde ethische Werte und Nonnen gibt. Die ethischen Systeme. also die Ethik im Sinn der Doktrin, unterscheiden sich gewiss mannigfach. Aber Übereinstimmung gibt es bezüglich elementarer konkreter ethischer Normen, Werte ulld Einsichten. Diese haben sich freilich allmählich - in einem höchst komplizierten soziodynamischen Prozess - herausgebildet. Je nachdem, wo sich Bedürfnisse des Lebens anmeldeten. wo sich zwischenmenschliche Dringlichkeiten und Notwendigkeiten zeigten, da drängten sich von Anfang an Handlungsorientierungen und -regulative für menschliches Verhalten auf: bestimmte Konventionen. Weisungen, Sitten, kurz: bestimmte ethische Maßstäbe, Regeln, Normen. Sie wurden im Lauf der Jahrhunderte. ja Jahrtausende überall in der Menschheit erprobt. Sie mussten sich sozusagen einschleifen.
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Hans Küng
Es ist auffallig: Bestimmte elementare sittliche Standards scheinen sich überall auf der Welt zu gleichen. Ungeschriebene ethische Norme" bilden nach Auffassung von Kulturanthropologen den ,.Felsen", auf dem die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist. Man kann dies ein "Ur-Ethos" nennen, das den Kern eines gemeinsamen Menschheitsethos, eines Weltelhos. bildet. Dies ist gerade nicht im Sinn einer einzigen, in irgendeinem Stamm oder Volk vorfindbaren (aber tatsächlich nirgends auffindbaren) "Urreligion" gemeint. Im Gegcnlcil: Ein solches ..Ur-Ethos" findet sich in allen möglichen Stämmen und Völkern. Ein "Well· Ethos" hat also sein Fundament nicht nur (syn+chronisch) in den heule gemeinsa-
men Grundnonnen der verschiedenen Religionen und Kulturen. Es gründet sich auch (dia-chronisch) auf den schon in vorgeschichtlicher Zeit (vor dem Einsetzen schriftlicher Quellen) sich durchsetzenden Grundnonnen der Stammeskulturen. Auch wenn selbstverständlich nicht jede Nonn Element eines ursprünglich schon gegebenen Ethos ist, lässt sich doch zur Betonung der bei allen Transformationen gegebenen Kontinuität sagen: Heute gelebtes Welt-Ethos im Raum basiert letztlich auf einem biologisch-evoluliv vorgegebenen. in der Zeit erprobten Ur-Ethos. Erst nach Perioden von Eingewöhnung und Bewiihrung kam es zur allgemeillen Allerkellfllmg solcher eingelebter Normen. die später auch satzhaft formuliert. ja. in einzelnen Kulturen werden sie unter eine höhere religiöse Autorität. ja. unter den Willen des Einen Gottes gestellt. exemplarisch in den "Zehn Geboten" der Hebräischen Bibel. wie sie Israel nach der Sinai-Tradition durch eine Gonesoffenbarung erhielt: Nicht nur .,nicht morden. stehlen. falsches Zeugnis ablegen. Unzucht treiben". sondern: "Ich bin der Herr. dein Gott ... Du sollst nicht ,., !" (Exodus 20,1-17; DeUieronomium 5.6-21), Man entdeckt nun, dass bei allen Unterschieden und all dem verschiedenen Eingebettetsein es doch gemeinsame ethische Werte und Maßstäbe gibt. die in ähnlichen Lebensbedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten gründen. Es ist also keine Zufälligkeit. wenn sich schon beim Begründer des Yoga. Patanjali. wie auch im buddhistischen Kanon. aber auch in Judentum. Christentum und Islam analoge ethische Imperative finden: nicht morden. nicht lügen. nicht stehlen. nicht Sexualität missbrauchen, Es ist kein Zufall. dass gerade diese Nonnen sich in verschiedenen Kulturen zeigen. Geht es doch um zentrale Bereiche menschlichen Zusammenlebens: den Schutz des Lebens, des Eigentums. der Wahrheit, der Geschlechtlichkeil. Dass dabei ethische Anschauungen in manchen Interpretationen divergieren. ist angesichts der Verschiedenheit der Kulturen selbstverständlich. Doch wichtiger ist es für unsere heutige globalisierte Welt. in der Kinder verschiedener Religionen in derselben Schulklasse, Studenten verschiedener Länder an derselben Universität. Männer und Frauen aus verschiedenen Kulturen und Religionen in demselben
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Vorwort
Büro, in derselben Fabrik, in derselben Geschäftsleitung zusammen sind und zusammen arbeiten, dass es ethische Werte und Nonnen gibt, die überall und für alle gehen. Doch wenn man sich selber als ,.Dogmatiker" nicht nur in das Glaubensverständnis. sondern auch in die Ethiken der verschiedenen Religionen einarbeiten musste. weiß man, wie viel Mühen dies kostet. wie sehr es sich aber auch lohnt. So werden denn viele Leser dem Herausgeber des Buches, Prof. Dr. Anton Grabner-Haider, dankbar sein für diese Initiative, in diesem Buch einen Überblick über die Ethiken der verschiedenen Religionen zu geben; der Herausgeber hat darüber hinaus in einer ausführlichen Einleitung überzeugend dargelegt. wie auch die größten philosophischen Geister der Menschheit- von den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles über Augustin und Thomas von Aquin, über die Philosophen der Aufklärung und zu Immanuel Kant bis zu den Heutigen - um die Maßstäbe eines echt menschlichen, humanen Verhaltens gerungen haben. Erst recht dankbar wird man den verschiedenen Autoren sein, die sich in die so unterschiedlichen und doch in manchem ähnlichen Ethiken der einzelnen Kulturen eingearbeitet haben - vom chinesen und japanischen religiösen Stromsystcrn über das indische bis hin zum nahöstlich-scmitischen (Judentum, Christentum und Islam), während andere Autoren auch die Ethiken der altorientalischen, der afrikanischen und süd~ amerikanischen Kulturen behandeh haben. Unterschiede und Gemeinsamkeiten treten auf diese Weise plastisch hervor. Ich wünsche dem Leser viel Freude auf der Entdeckungsreise durch das Ethos der Religionen und Philosophien. Tübingen. im Juli 2005
Hans Küng
Einleitung AntOll Grabner-Haider
Mit der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft rücken auch die Lebensformen und Lebenswerte fremder Kulturen vermehrt in unser Blickfeld. Wir schauen häufiger und deutlicher auf die Regeln des Verhaltens. auf die Normen des richtigen Handeins, auf Gebote und Verbote, auf das Verhältnis der Geschlechter und auf praktische Lebenswelten in fremden Regionen der Erde. Unter Ethos bzw. Moral fassen Wif die Gesamtheit der Lebenswerte und der Verhaltensregeln in einer Kultur zusammen. Ethik ist dann die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit diesen Regeln und Werten befasst. Dabei erkennen wir. dass Lebenswerte, Pflichten und Normen immer von der Entwicklung einer Kultur bzw. von Kulturstufen abhängen und sich folglich verändern. Gleichzeitig wird deutlich. dass die Grundwerte des sozialen Lebens in aBen Kulturen sehr ähnlich bzw. fast gleich sind. Sie gehören nämlich zu den Überlebensbedingungen menschlicher Gruppen. Zum einen folgen unsere Lebenswerte einer biologischen Struktur, sofern sie es ermöglichen. elementare Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Zum andern aber werden sie in bestimmten Lebenssituationen von normsetzenden Personen und Gruppen festgelegt. um konkrete Problemfelder auf vernünftige Weise zu bewäl~ tigen. Offensichtlich haben Lebenswerte auch einen emotionalen Hintergrund, sofern in ihnen emotionale Prozesse und Dynamiken zum Ausdruck kommen. Sie gehören zu den Überlebensstrategien menschlicher Kulturen, denn mit beliebigen Werten und Verhaltensweisen konnte keine Sozietät überleben. Dieses Buch versucht. in übersichtlicher und gestraffter Weise die Nonnensyslerne und Wertordnungen der großen Kulturen der Welt zusammen zu stellen und in allgemein verständlicher Weise darzulegen. Am Anfang steht ein allgemeiner Beitrag über Ethos und Kuhur,derdie Verflochtenheit von moralischen Werten mit der menschlichen Kulturentwicklung zeigt. Es folgt ein Überblick über das Ethos der Srammeskulturen in verschiedenen Kontinenten, welche ihre Lebenswerte vor allem mündlich tradieren, weil sie noch keine Schrift entwickelt haben. Dann folgen die Darstellungen des Ethos der großen Schriftkulturen Ostasiens, nämlich Indiens, des Buddhismus. Chinas und Japans. Dabei wird deutlich. dass die verschiedenen sozialen Schichten unterschiedliche Wertordnungen gebildet
12
Anion Grabncr-Haidcr
haben. die ihnen helfen, das Leben z.u bestehen. Es wird erkennbar, wie philosophische Schulen der Lcbensweisheit auch die Wcrtordnungen verändert haben.
Einen anderen Schwerpunkt bilden die Wertordnungen der Kulturen des Alten Orients (Ägypten, Sumerer, Babylonien. Persien Kanaan), sowie der jüdischen Kultur. der christlichen und der islamischen Religion. Heute wird mehr als die Hälfte der Menschheit, nämlich ca. 2 Milliarden Christen und 1,4 Milliarden Moslems. von den Wertordnungen dieser beiden Großreligionen geprägt. Es folgt ein Überblick über die Wcrtordnungen der afrikanischen und der lateinamerikanischen Kulturen und ihrer Anpassungen an modeme lebensbedingungen.
In einer kompakten Kurzfassung wird die Wertediskussion der europäischen Philosophie. von den griechischen Anfangen bis zu den Modellen der Gegenwart umfassend wiedergegeben. Dabei gehl es darum. die rationale Triebfeder der europäischen und der nordamerikanischen bzw. australischen Werteniwicklung scharf in den Blick zu bekommen. Deswegen werden die großen Themen der philosophischen Wertediskussion übersichtlich dargestellI. Im Blick auf den beginnenden .. Dialog der Kulturen" wird es uns möglich. die Lebensformcn fremdcr Kulturräume besser zu verstchen. Denn wenn wir dcren moralischen Werte und Zielsetzungen. ihre Pflichten und Gebote besser kennen. dann wird uns ihr alltägliches. ihr politisches und wirtschaftliches Handeln ver· trauter. Kulturen TÜcken dann näher zusammen. wenn sie beginnen. einander zu verstehen. Denn dann können viele der alten Vorurteile und Feindbilder abgelegt werden. Der Dialogder Kulturen aufvielen Ebenen ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen möglichen Weltfrieden. Er ist im weitesten Sinn Friedensarbeit. Trotz aller Verschiedenheiten und daraus resultierenden möglichen Konflikten scheint es real möglich, dass wir uns in vielen kleinen Schritten auf ein globales "WeIlethos" zu bewegen, von dem Hans Küng nachhaltig spricht. Die Verständigung und Versöhnung der Religionen scheint eine Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben der Völker zu sein. Das Buch verfolgt ähnliche Grundannahmen und Zielwerte. indem es zeigen will. dass die Grundwerte des Überlebens und des Zusammenlebens in allen Kulturen und auf allen Kulturstufen der Tendenz nach sehr ähnlich sind. Denn es darf aufgrund unseres biologischen Wissens angenommen werden. dass die Grundbedürfnisse des Lebens für alle Menschen dieselben sind. Dazu gehören die Bedürfnisse nach Schutz, nach Nahrung. nach Überleben, nach SchmerLfreiheit, nach sozialem Austausch, nach Orientierung und nach Lebensdeutung u.a. Diese Bedürfnisse werden je nach Kulturstufe, nach wirtschaftlicher oder klimatischer Möglichkeit unterschiedlich befriedigt. Wahrscheinlich haben nur solche Gruppen und Kulturen überlebt, welche die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse hinreichend gewährleisten konnten. Denn Lebenswene fallen nicht vom Himmel und sind keineswegs beliebig. sie entwickeln sich aus biologischen und emotionaJen Wurzeln und speichern eine
Einleitung
13
Vielfalt von empirischen Erfahrungen und von Problemlösungsstrategien. Denn unsere evaluierenden Lebensorientierungen sind reflexive Standards zu Bewer· tungen unserer Präferenzen, aber auch stark emotional besetzte Vorstellungen über Wünschenswertes und Notwendiges. Sie stützen sich auf Gefühle der Evidenz und Gewissheit und haben immer mit dem ganzheitlichem Erleben einer Person zu tun. l Denn unser Bewertungsgedächtnis gehört neben dem Orientierungsgedächtnis zu unserem ältesten biologischem Erbe. 2 Wenn die Grundwerte des Zusammenlebens und des Überlebens in einer Kultur gesichert sind, dann erscheint die Pluralität der praktischen Lebenswerte nicht als Bedrohung. sondern als Berei· cherung einer Lebensweltln der westlichen Zivilisation bzw. in den "atlantischen Kulturen" hat sich der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte bzw. an die Menschenwürde und Sakralität der Person weitgehend durchgesetzt. Doch dieser Lernprozess wurde erst durch den exzessiven Kulturschock der beiden Weltkriege und des Holocaust möglich. Denn darin sind auch die Religionsbilder und Menschenbilder auf der Basis der Herrschaft des Stärkeren weitgehend zusammen gebrochen. Erst heute beginnen wir zu begreifen. was hier im Bezug auf die moralische und religiöse Orientierung eigentlich passiert ist Die alten Goltcsbildcr und Moralvorschriften der Kleriker. auf die sie seit Kaiser Konstantin gesetzt haben. wurden von den Laienchristen weitgehend verabschiedet J Seit ca. sechzig Jahren buchstabieren wir aufs neue die Grundwertedes Zusammenlebens, wie sie von der griechischen Aufklärung (Sophisten) und viel später von der europäischen Aufklärung fornlUliert wurden. Es sind dies die Orientierungen an den allgemeinen Menschenrechten. an Religionsfreiheit und Demokratie, an der freien und sozialen Marktwirtschaft und an der Erhaltung des Weltfriedens. Denn dieser ist die notwendige Voraussetzung für den freien Handel an Gütern und für die Optimierung des individuellen und des soziaJen Lebensglücks. Manche Soziologen (z.B. Emile Durkheim) vertreten die Meinung, dass der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte zur Primärreligion der modemen und postmodernen Gesellschaft werde bzw. schon geworden sei. Die politische und kulturelle Universalisierbarkeit dieser Wertorientierung sei real möglich geworden. 4 Woher kommen nun die Widerstände gegen den Glauben an die Universal isierbarkeit der allgemeinen Menschenrechte und damit gegen das Projekt "WeItethos"? Zunächst wird betont, dass sich die menschlichen Kulturen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und daher differente Wertordnungen bilden. Die großen Religionen (z.B. Islam, Buddhismus, indische Religionen) transportieren Lebenswerte. die kaum mit einander verträglich seien. Ein DiaH. Joas, Die Entwicklung der Wene. Frankfun 1997.44-60. Ders.. Braucht der Mensch Religion? Freiburg 2004. 44ff. I J. Kuh!. Der Kalle Krieg im Kopf. Freiburg 2005. 68-77. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfun 1994, 198ff. J R. Polak (Hg.). Megatrend Religion? Neue Religiositälen in Europa. Sluttgan 2002. 38ff. • H. Joas. Braucht der Mensch. 155-168. I
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AnIon Grabncr-Haidcr
log oder Polylog der Kulturen (Jacques Derrida, Franz Wimmer) sei wegen der behaupteten Offenbarungsbezüge und MonopolanspTÜche fast unmöglich. Nur durch die Relativierung und Auflösung starker religiöser Überzeugungen seien kulturelle Lernprozesse möglich. Diese Einwände sind gewiss sehr ernst zu nehmen. doch sie widersprechen nicht dem angestrebten Austausch der Kulturen.
Gewiss muss der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte mit der Akzeptanz der allgemeinen Menschenpflichten verbunden werden, wie wir z.B. aus den Kulturkreisen des Islam oder Chinas lernen können. So wird der Dialog der Kulturen zu einem wechselseitigem Austausch an Überzeugungen. Orientierungen und Lebenswerten. Heute strebt eine interkulturelle Philosophie danach, alle philosophisch relevanten Probleme und folglich auch alle moralischen Fragen im Blickfeld aller Kulturen zu beleuchten, die uns darüber Reflexionen hinlerlassen haben. 5 Angestrebt wird dabei eine ..Entkolonialisierung'" der philosophischen und der moralischen Begriffe und Denkkonzepte. denn der traditionelle Euro- bzw. Amerikanozcntrismus sei überwindbar. Dem Dialog der Kulturen und dem Projekt "Weltethos" hinderlich ist eine subtile Mentalität der "Herrenmenschen", die ursprünglich aus der christlichen Religion stammt und vom Nihilisten Friedrich Nielzschc ins Unerträgliche persifliert wurde. Mit dieser oft unbewussten GrundeinsteIlung können die lebensordnungen fremder Kulturen vorurteilsfrei gar nicht gesehen werden. Wer von der zeitlosen Überlegenheit seiner Weltdeutung überzeugt ist, kann kein Gespräch auf gleicher Augenhöhe führen. Nicht weiter kommen auch jene philosophischen und theologischen "Erbsenzähler", die möglichst viele unterschiedliche Details der Wehdeutung heraus arbeiten und dann die großen Konvergenzen gar nicht mehr sehen können oder wollen. Hinderlich sind auch alle religiösen Monopolisten und kulturellen Fundamentalisten, die sich geistig nicht bewegen können. Sie schreien dann lauthals, ein Austausch der Kuhuren auf der Basis der Gleichwertigkeit sei gar nicht möglich, Nicht weiter kommen auch jene Philosophen, welche die gesamte Moralphilosophie auf Fragen der Metaethik und der Methodik des Diskurses reduzieren wollen. Sie tragen nicht nur zur Marginalisierung der Philosophie bei, sondern folgen auch einem konsequent skeptischem und relativistischem Standpunkt, indem sie auf Wertpräferenzen verzichten. Da auch sie ohne Wertungen nicht leben und überleben können, verhalten sie sich wertkonservativ und lassen alles, wie es ist. Für den Austausch der Kulturen scheint hingegen ein Standpunkt der Pragmatischen Philosophie optimal zu sein. wie ihn William James und in seinem Gefolge Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty fonnuliert haben. 6 Denn es geht beim
'F. Wimmer.lnlerkulturelle Philosophie. Wien 2004, I63ff. • W. James, Thc variclics of religious cltperiencc. London 1902. L Wingenstcin. Philosophische Untersuchungen. Frankfun 1967. R. Rony. Dewey zwischen Hegcl und Darwin. In: H. 103S (Hg.), Philosophie der Demokratic. Frankfun 2000. 20-43.
Einleitung
15
Projekt ..Wehethos" und der interkulturellen Philosophie grundsätzlich um einen Austausch von Lebensfonnen und Lebenswerten, von gedeuteten Lebenswelten und von ..Sprachspielen". Nun bringen nicht alle Teilnehmer am interkulturellem Dialog bzw. am Polylog die gleichen Voraussetzungen mit. Wichtig erscheint eine gefestigte kulturelle Identität, welche zu einem hohem Maß an Toleranz für fremde Überzeugungen und Wertungen fahig ist. Dann kann nämlich auf alle MonopolanspfÜche der Lebcnsdeutung verzichtel werden. Gemessen an den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens zeigl sich dann sehr schnell, dass unsere Lebenswerte niemals beliebig sein können, wenn das Überleben der Gruppe gesichert werden soll. So scheitert ein strikter Kulturrelativismus schon an unserem biologischem Erbe. Der Maßstab aller Lebenswerte ergibt sich aus dem Bedürfnis nach Überleben und nach Lebcnsentfaltung. Auch hier erkennen wir, dass die allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten universalisierbar sein können. Ein weiteres Hindernis für den wechselseitigen Lernprozess der Kulturen ist jene Grundhaltung vieler Wissenschaftler. die Julius Kuhl den "kalten Krieg im Kopr' genannt hat. Er meint damit die strikte Trennung zwischen der kognitiven und der emotionalen Intelligenz. Denn viele Kulturwisscnschaftler, auch Philosophen und Theologen, sind nicht fahig oder bereit, das Integrationsgedächtnis mit dem Extensionsgedächtnis zu verbinden bzw. das objektive Erkenntnissys· tem mit dem intuitivem Steuerungssystem zu vernetzen. 7 Mit dieser epistemisehen ,.Apartheid" bzw. mit einem szientistischem Monopolismus lässt sich kein herrschaftsfreier Dialog oder Polylog der Kulturen führen. Hier sind nachhaltige Lernprozesse vieler Wissenschaftler dringend nötig. Das vorliegende Buch geht von der starken Überzeugung aus, dass der Dialog bzw. der Polylog der Kulturen möglich ist und dass wir mit dem globalen Projekt "Weltethos" voran kommen können, wenn sich genügend Wissenschaftler, Philosophen und Theologen, Journalisten, Juristen, Techniker und Künstler. Politiker und interessierte Laien daran beteiligen. Es weitet den Blick für die Lebensformen und Lebenswerte fremder Kulturen, es zeigt Unterschiede, aber auch Konvergenzen der Daseinsdeutung auf. Seine Absicht ist es, das moralische Jmegrotionsgedächrnis mit dem kulturellem Extensionsgedächrnis zu verbinden und zu vernetzen. Es hegt die Hoffnung. dass der "Kampf der Kulturen" (Samuel Huntington) nicht unser unausweichliches Schicksal ist. In der Tat scheint die Versöhnung der Religionen und der Wcrtordnungen eine unabdingbare Voraussetzung für den Weltfrieden zu sein. 8
J. Kuhl. Der Kalte Krieg. l50ff. ~ H. KüngfD. Senghaas (Hg.). Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. München 2003. 17-56. J. Habermas. Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt 2005. 7
324-365.
Anton Grabner-Haider
Der Begriff "Ethos" leitet sich vom griechischen Wort ethos ab. das "Gewöhnung". "Sitte"... Brauch" und "Charakter" bedeutet. Es hat entfernt auch mit aidos (Scham) zu tun. Folglich verstehen wir unter Ethos die Gesamtheit dereingespielten Regeln des Verhaltens der Einzelnen in sozialen Gruppen und Gemeinschaften. Diese formen die Verhaltensweisen und Lebensformen der Menschen in einer Kultur. das Zusammenwirken der Gruppen, die Weisen der Kommunikation und das gesamte soziale Leben. Geregelte Verhaltensweisen sind die Voraussetzung dafUr. dass menschliche Gruppen überleben können. Unsere Verhaltensweisen sind uns zum Teil angeboren und biologisch determiniert. wie wir aus der vergleichenden Verhaltensforschung erkennen können. Zum andem Teil aber werden sie in den Gruppen gelernt. also ..sozialisiert" und im Lauf der Kulturentwicklung verändert. Wir Menschen folgen einem biologischen Grundprogramm. das wir mit den Hominiden weitgehend gemeinsam haben. Gleichzeitig haben wiraberdie Möglichkeit. dieses Grundprogramm durch fortschreitende rationale Erkenntnis zu verändern und weiter zu entwickeln. Die sprachliche Formulierung des Ethos ist ein wesentlicher Schritt in der menschlichen Kulturentwicklung.
Das biologische Programm Blicken wir nun zuerst auf jenes ererbte Programm unseres Verhaltens. mit dem wir unser Überleben sichern. Dieses können wir aus der vergleichenden Verhaltensforschung an höher entwickelten Säugetieren. die in Gruppen zusammenleben. vor allem aber an den Hominiden gut erkennen. Sie alle haben wie wir Menschen ein begrenztes Reservoir an Verhaltensmöglichkeiten. Da sie auf das Überleben der Gruppe. aber auch des Individuums programmiert sind, verhalten sie sich überlebenssichernd. Nur wenige scheren aus diesem Programm aus. die Mehrheit verfolgt instinkthafldie MaximierungderLebenschancen.lnderGruppe
18
AnIon Grabncr-Haider
geben sie einander Schutz. sie sichern ihre Nahrungsquellen und verteidigen ein Territorium. 1 Zu dieser biologischen Programmierung kommt schon bei den höher entwickelten Säugetieren das soziale Lernen. das die Überlebensvorteile verstärken soll. Jungtiere lernen bald nach ihrer Geburt. meist von den Müttern. aber auch von anderen Bezugstierenjenes Verhalten. das ihr Leben optimal schützt. Fehlver· halten wird durch Körpersprache bestraft. das bestrafte Tier erleidet körperlichen Schmerz. der es vor Verhaltensfehlem bewahren soll. Das richlige d.h. überlebenssichemde Verhalten wird in der Gruppe vor allem durch Imitation gelernt. die jungen Tiere ahmen die äheren nach. Sobald das Überleben für die Gruppe gesichert ist. werden die Verhaltensspielräume für die einzelnen Gruppenmitglieder größer. Sehr ähnlich verläuft die Sozialisation des überlebenssichernden Verhaltens bei uns Menschen. Auch wir lernen zum einen durch Imitation der erwachsenen Bezugspersonen. zum andern aber durch Belohung und Bestrafung. Schmerz und Frustration sollen uns vom falschen Verhalten abhalten. Die Belohung als Befriedigung ursprünglicher Bedürfnisse leitet uns zu einem Verhalten an. das unser Überleben sichen und die Gruppc zusammenhält. Als soziale Wesen können wir unser Leben nur im Bezug auf andere Menschen sinnvoll und befriedigend gestaltcn. 2 Die Regeln des richtigen Verhaltens werden in der menschlichen Kultur über lange Zeitepochen hin durch Körpersprache weitergegeben: durch Bewegungen. Gesten. Laute. Zeichen, Mimik des Gesichts. durch manuelle Belohnungen z.B. Streicheleinheiten. und Bestrafungen. Bereits höher entwickelte Tiere (z.B. Bonobos) warnen einander mit unterschiedlichen Lauten vor unterschiedlichen Feinden. um zum richtigen Verhalten anzuregen. In der menschlichen Kultur ist die Körpersprache vielfaltig weiter entwickelt worden. sie ist unsere ursprüngliche Sprachfonn. die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Mit ihr kommunizieren wir vor allem unser emotionales Erleben. Wir erkennen. dass viele Regeln des riChtigen Verhaltens mit unserem emotionalem Erleben (z.B. Angst) zusammenhängen. Wir fühlen uns durch das Verhalten von Mitmenschen gestön, geängstigt oder bedroht. darauf reagieren wir mit dem Repcnoire unserer Körpersprache. Noch immer stellen sich uns die inzwischen kurz gewordenen Körperhaare auf. wenn wir Angst erleben. Das biologische Programm sagt uns. dass wir dann für den Angreifer größer und bedrohlicher aussehen. Ganz anders reagien unser Körper. wenn wir uns glücklich und sicher fühlen.! F. Wukclits. Warum uns das Böse fasziniert. Die Nalur des Bösen und die Illusion der Moral. Slullgart 1999. 110-121. : K. l..orenz. Der Aufbau des Menschlichen. München 1983. 171-180. I. Eibl-Eibcsfckh. Die Biologie des menschlichen VerbalIens. München 1984.4>-56. I
, I. Eibl-Eibesfeldl. Universalien menschlichen Sozialverhahens und ihre Bcdcurung rur die
Normenfindung. In: D. Neumann u.a. (Hg.). Die Nalur der Moral. Stuugart 1998. 99-111.
Ethos ulld Kultur
19
Ethos und Sprache Mit der langsamen Entwicklung der verbalen Sprache. die wir in der heutigen Fonn erst beim ern-Magnon-Menschen (seit 200.000 Jahren in Afrika. seit 40.000 Jahren in Europa) erkennen können, werden die Regeln des richtigen Verhaltens verbal sprachlich ausgedrückt. Die Menschen enlwickeln aufgrund eines veränderten Kehlkopfes bestimmte Laule, Lautfolgen. Wörter. Wortverbindungen und Sätze. um das erwünschte oder geforderte Verhalten zu erreichen. Auf dieselbe Weise wird das störende. das nicht erwünschte und das gefcihrliche Verhalten bestimmt. Nun werden die verbalen ..Sprechakte" (speech acts) der Warnung. des Verbots. des Tadels. aber auch des Wunsches, des Gebots und des Lobes entwickelt. Später kommen noch viele andere Sprechhandlungen hinzu. um Verhalten in der Gruppe zu regeln. Auch in der verbalen Sprache drücken wir erleble Gefühle aus. die durch das Zusammenleben ausgelöst werden: etwa GefOhle der Abgrenzung, der Abwehr, der Aggression. der Feindschaft. des Hasses, der Zerstörung. des Neides oder der Rache fur erlittenen Schmerz. Auf diese Weise kommunizieren wir ebenfalls Gefu hle der Geborgenheit. der Zune igu ng. der Hingabe. der Zugehörigke iI. der Liebe. der Versöhnung. des Lebensglücks u.a. Grundsätzlich kommunizieren wir unsere Gefühle sowohl durch Körpersprache. als auch durch verbale Sprechakte.· Die sprachlichen Fonnulierungen der Regeln des richtigen und falschen Verhaltens kennen wircrsl seit derZeit. als einigeAckerbaukulturen begonnen haben. sprachliche Zeichensysleme und Schriften zu entwickeln. Mit den frühen rudimentären Zeichen konnte nur eine partielle Orientierung zum Ausdruck gebracht werden; z.B. ,.Gefahr"..,richtiger Weg", ..Wasserstelle" u.a. Mit der Entwicklung der Schriftsysteme wurde es aber möglich. alle Ausdrücke der verbalen Sprache durch Symbole und Zeichen darzustellen. Jetzt wurden auch die Anweisungen zum richtigen Verhalten bzw. die Verbote des falschen Verhaltens detaillierter und komplexer. Es wurden Regeln fonnuliert. die das annähernd konfliktfreie Zusammenleben in der Gruppe sichern sollten. Gleichzeit wurden Verbote aufgestellt. die bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen unter Strafe stellten. Ersl von den frühen Schriftkuhuren (Sumer. Babyion. Ägypten. China. Indien u.a.) haben wir ein genaueres Wissen über die Regeln des Zusammenlebens in menschlichen Gruppen. Diese Regeln verändern sich mit der Größe der Gruppen, mit den Kulturtechniken und den sozialen Strukturen. Frühe Jäger und Sammler folgten anderen Regeln als spätere Hirtennomaden oder Ackerbauem. Wir erkennen eine große Variationsbreite bei den Regeln des erwünschten Verhaltens. auch bei den angesetzten Belohnungen und angedrohten Strafen.~
• F. WuketiLS. Warum uns das Böse. 148-157. R.D. Ale:under. Thc biology of moral syslems. Ncw Yon: 1987.]4 44. R. Axelrod. Die Evolution der Kooperation. MOnchen 1987,65-76.
s eh. Redman, Die ältesten schriftlichen Dokumente. In: G. Burenhult (Hg.), Die Kuhuren der Alten Welt - die ersten Sllidte und Sta;llen. Augsburg 2000, 21-26.
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Anion Grabner-Haidcf
Kulturen der Jäger und Sammler Die Menschen lebten die längste Zeit auf dieser Kuhurstufe. über 99% ihrer bis· herigen Geschichte, in kleinen Gruppen zwischen 15 und 50 Personen. ln den im 19. Jh. erforschten Kulturen erkennen wir egalitäre Strukturen, weder eine Dominanzder Männer, noch der Frauen. Erwachsene wurden aufgrund ihrer Leistungen fUf die Gruppe als höher bewertet als Kinder und Alte (sofern es diese gab). Die Gruppen hanen keine stabilen Führerrollen. die Anflihrer wurden für jedes Unternehmen neu bestimmt. Zwischen den Gruppen war auch Auktuation möglich. Zu den Grundregeln des Verhaltens gehörte der Schutz der Gruppe vor wilden Tieren und anderen Menschengruppen, die Sicherung des Lebcnsraums zum Sammeln von Nahrung und zur Jagd von Tieren. die Weitergabe des Lebens. die Schlichtung von Streit und die hinreichende Verteilung der Nahrungsmittel. Die Regeln des erwünschten Verhaltens wurden durch Riten und Kultfeiem internaIisiert. 1I In den verschiedenen Riten der Abwehr wollten die Gruppen lebensfeindliche Kräfte von ihrem Lebensraum fernhalten. Deswegen erzeugten sie Lärm. riefen bedrohliche Laute und zeigten aggressive Gesten. Sowie sie fremde Menschen· gruppen fernhiehen. so wollten sie es auch mit den vorgestellten unsichtbaren Kräften tun. Beim Ritual kommunizierten die Teilnehmer ihre erlebten Geftihle (z.B. Angst) und stabilisierten die Gruppen. Mit den Riten der Vertreibung wollten die Menschen böse Lebenskräfte aus ihrem Lebensbereich austreiben. von denen sie annahmen, dass sie dort eingedrun· gen waren. Zu diesem Zweck erzeugten sie wiederum Länn oder sie entzündeten Feuer. entwickehen Rauch. schlugen mit Hölzern und Steinen aufeinander. Nun werden diese Riten nur im Kontext der mythischen Wehdeutung verständlich. Jäger glaubten. dass in den gejagten Tieren unsichtbare Kräfte wirkten, die sie in sich aufnehmen konnten. Gleichzeitig glaubten sie an imaginäre Schutzkräfte der Tiere und der Menschen. die sie als göttliche Wesen anriefen. Und sie lebten mit der Überzeugung. dass auch in jedem Menschen eine unsichtbare Seelenkraft wirksam ist. Diese Seelenkraft kann beim Tod des Körpers nicht sterben, sie lebt in einem Seelenland weiter. Dieser Glaube ist der Hintergrund der Ahnenverehrung. die imaginären Ahnen sollten nun bei den Lebenden die Einhaltung der Regeln des richtigen Verhaltens überwachen. Denn es wurde unterstellt. dass jadieAhnen diese Regeln aufgestellt und eingerichtet hatten. Von ihnen wird nun angenommen. dass sie das riChtige Verhalten mit Lebensglück belohnen. das falsche Verhalten aber mit Krankheit und Unglück. bestrafen. Die Regeln des richtigen Verhaltens werden durch den Bezug auf imaginäre Wesen und Kräfte legitimiert. Jedes Unglück im Leben wird nun als Folge eines moralischen Fehlverhaltens gedeutel.'
• F. Vjvclo. Handbuch der Kuhuraßlhropologie. Sluttgan 1981. 71-79. J J. Campbcll. Mythen der Mcnschheit. München 1993. 7-14.
Elhos und Kultur
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Die Regeln der Moral werden durch den erzählten Mythos legitimiert. Zuerst waren es die Schamanen und Mantiker. welche diese Regeln aufstellten und vorgaben. Sie sagten. diese Regeln seien ihnen von den Ahnen oder den Schutzgöttern ..geoffenbart" worden. Dies ist die stärkste denkbare Motivation. um diese Regeln zu befolgen. Deul1ich mit der moralischen Nonnsetzung verbunden sind die Riten der Reinigung von Schuld. Die ..Sünde" galt als Verstoß gegen die Regeln des geforderten Verhaltens. sie beschmutzte und schwächte die Seelenkraft des Übeltäters. Wie Staub legte sie sich auf die Seele und hatte beim Sünder Krankheit und den frühen Tod zur Folge. Beim Ritual der Reinigung versuchten die Menschen. sich vom Staub der Sünde zu reinigen. Sie wollten den Tabustoff des Bösen aus ihrem Leben venreiben. Deswegen besprengten sie sich mit Wasser oder tauchten in dieses ein. um alle Kräfte des Bösen abzuwaschen und die Lebenskraft zu erneuern. Frühe Jäger fühlten sich schuldig. wenn sie ein Tier töteten. Außerdem fürchteten sie die Rache der Seelenkraft des getöteten Tieres. Deswegen feierten sie ein Ritual der Versöhnung mit der Seele des gejagten Tieres (z.8. Bärenritual). Dabei saglen sie. sie häuen aus Irrtum und Versehen dns Tier getötet. oder fremde Jäger hätten dies getan. Schamanen verkündeten. die Seele des getöteten Tieres würde im Seelenland weiterleben und zu einem neuen Leben geboren werden. Mit diesem Ritual wollten sie sich mit dem lier versöhnen und gleichzeitig dessen Lebenskraft auf ihr eigenes Leben übertragen.' Wenn die Feiernden die Masken von Bären oder Löwen lrUgen. wähnten sie. deren Kräfte in sich zu tragen. Ähnlich verhielten sich spätere Kulturen bei den Menschenopfern. Die Priester sagten den Opfern vor ihrem gewaltsamem Tod. ihre Seelenkräfte würden im Land der Ahnen einen besonderen Platz erhalten oder sie würden zu einem neuen Leben aufstehen. Mit den Riten der Reinigung wolhen sich die Menschen von der zerstörenden Kraft der Sünde (Regelverletzung) befreien. Deswegen besprengten sie sich mit dem Blut der geopferten liere oder Mitmenschen.
Kulturen der Hirtennomaden Mit dieser Kulturstufe wurden die Gruppen wesentlich größer (50 bis 200 Personen). es mussten neue Regeln des Zusammenleben gefunden werden. Jägergruppen hatten durch die Technik des Einpferchens entdeckt. dass sie wilde Tiere in Pferche sperren konnten und dass diese sich dort vennehrten. Auf diese Weise begannen sie. Tiere zu domestizieren und in ihre Verfligbarkeit zu zwingen. Die Menschengruppen konnten zeitweilig sesshaft werden sofern die Futtervorräte für die Tiere reichten. Sie lebten nun mit dem Schaf. der Ziege. dem Esel. dem Rind. dem Hund. dem Pferd und dem Kamel zusammen und nutzten deren Milch, das Aeisch und die Haut. IW. Burken. Kulte des Allenums. Biologische Grundlagen der Religion. München 1998. 50-63.
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Doch sie mussten für ihre Tierherden genügend Weideland finden und sie muss· ten beide gegen andere Menschengruppen verteidigen. Nun bildete sich eine frühe Arbeitsteilung, bewaffnete Krieger mussten das Weideland und die Herden schützen.ln diesen Gruppen entwickelte sich nun einedeudiche Dominanzder Männer. denn sie zähmten die wilden liere und entwickelten die Waffen zur Veneidigung. Frauen betreuten dje Kinder und waren für die Zubereitung der Nahrung und der Kleider verantwortlich. Dieses geänderte Geschlechterverhältnis erkennen wir in den Mylhen. den Riten und später in den schriftlich fixierten Gesetzen der
Hirtennomaden (z.B. Gesetze des Hammurapi).' So bildeten Hirtennomaden die ersten patriarehaien Kulturen: Männliche Gölter leiten die Gruppen. Männerpriestervollziehen die großen Riten. Männerhäuptlinge führen die Krieger an. Weibliche Schutzgöuinnen des Lebens werden in den Mythen degradiert. sie müssen sich den männlichen Himmelsherren unterordnen. Der Himmel wird als großes Nomadenzelt vorgestellt. Männliche Gesetzgeber le· gen fest. dass sich die Frauen in der Ehe den Männem unterordnen müssen und dass sie nicht selbständig die Ehepartner wählen dürfen (Gesct7-c des Hammurapi). Je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten dürfen Männer mehrere Frauen haben. Nun verändern sich die Regeln des Zusammenlebens. die Sippen beanspruchen den Besitz von Tieren und Herden. Die soziale Schichtung wird deutlicher. die Träger der Waffen gewinnen an politischer Macht und an Besitz. Die Sippen vereinigen sich zu größeren Stämmen. diese führen gegen andere Stammesbündnisse Kriege um Herden und um Weideland. Auch Menschen werden von fremden Stämmen geraubt und zu Sklaven degradiert, in diesen Kulturen beginnt ein früher Sklavenhandel. Die moralischen Werte orientieren sich am Besitzrecht von Tieren. von Waffen. von Werkzeugen und von Menschen. Der Verstoß gegen diese Besitzrechte wird als Raub oder Diebstahl schwer geahndet. den Dieben und Räubern werden häufig die Hände oder die Füße abgehackt oder sie werden mit der Tötung bestraft. Die Männer beanspruchen Eigentumsrechte über ihre Frauen und Kinder, der ..Ehe· bruch" wird als Einbruch im männliche Besitzrechte bestraft. Ehebrecher werden ihrer Geschlechtsteile beraubt (Kastration) oder sie werden durch Steinigung getötet. Reste dieses Strafrechtes finden sich noch in der jüdischen Bibel (christlich: Altes Testament) und in den Schriften des Islam (Koran). 10 Auch in diesen Kulturen werden die Regeln des riChtigen Verhaltens durch den Bezug auf die Ahnen und die Schutzgötter legitimiert. Die männlichen Hirn· melsgöner geben den Menschen die Gesetze und wachen über deren Befolgung. Auch männliche Stammeshäuptlinge oder Stammväter gehen die Regeln des ge· wünschten Verhaltens vor. Die Mitglieder der Sippe oder des Stammes müssen sich dem Häuptling unterwerfen und seinen Befehlen folgen. Es gelten die Regeln der unbedingten Treue zum Stamm bzw. zur Sippe, die Unterwerfung unter den • F. Vivelo. Handbuch. 122-132. .. K. Prenner. Die Stimme Allahs. Religion und Kultur des Islam. Graz 2002. 57-70.
Ethos und Kullur
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Häuptling. die Ehrlichkeit in der Kommunikation. die Arbeit flir den Lebensunterhalt der Gruppe. sowie die Verpflichtung zur Lebensweitergabe. Nun tragen auch hier Riten zur Internalisierung und Indoktrination der moralischen Regeln bei. Hier sollen nun die Opfeniten näher betrachtet werden, die bei den Hirtennomaden weit verbreitet sind. Die Menschen opfern ihren Ahnen und den Schutzgönern regelmäßig wertvolle liere, oft die Erstgeburten eines Jahres. Sie opfern aber auch Mitmenschen, nämlich Sklaven und Besiegte an ihre Götter, um ihre eigene Kampfkraft zu stärken. Den rituellen Mord an Mitmenschen deuten sie als Stärkung dereigenen Lebenskraft. denn sie glauben. dass sie die Seelenkraft des geopferten Menschen in sich aufnehmen können. Die Hirtennomaden opferten ihren Schutzgöttern Tiere und Mitmenschen. Unter ihnen bildete sich ein eigener Priesterstand, der mit den Opfern und Riten befasst war. Sie versprachen den Menschenopfern einen besonderen Platz im Seelenland der Ahnen oder eine baldige neue Geburt. Sei den Opferriten zeigten sich die Häuptlinge und die Priester als die Herren über Leben und Tod ihrer Mitmenschen. Auch dadurch wurde die Geltung der Geselze und der moralischen Normen eingeschärft. ll Beim Opfer erlebten die Menschen auch tiefe Angst. denn sie wussten, dass bei Regelverstößen auch ihr Leben den Schutzgöttern geopfert werden konnte. Die Feiernden mussten unter der Anleitung der Priester die genaue Einhaltung der priesterlichen Gesetze beschwören. Mit den Todesstrafe werden bedroht: der Ehebruch. der Viehraub. der Verrat der Stammesgeheimnisse. die Untreue zum Häuptling U.3. Das Opfer deuten die Priester als die Verbindung zur Welt derAhnen und der Schutzgötter. jede Opferhandlung kann zur Sühne von Schuld beitragen. Wer aus seinem BesilZStand TIere oder Sklaven opfert. kann damit viele SUnden tilgen. Im Lauf der Kulturentwicklung wurden die Menschenopfer schrittweise durch Tieropfer ersetzt. Dies sehen wirz.S. in der jüdischen Geschichte vom Stammvater Abraham. dem ein göttlicher Bote mitteilte, dass Gott ab sofort keine Menschen· opfer. sondern nur noch Tieropfer möchte. Eine andere Entwicklung ging dahin, statt eines Menschenlebens nur mehr einen Körperteil den Göttern zu opfern (Teilopfer). Die Feiernden opferten dann einen Finger. einen Zahn. ein Ohrläppchen oder Geschlechtsteile (Beschneidungsriten). Bei den Opferriten zeigten sich die Priester und Häuptlinge als die Herren über Leben und Tod. Die Feiernden mussten unterTränen und Klagen beschwören. dass sie die Gesetze der Herren genau einhalten wollten. Eine solche Szene sehen wir in der jüdischen Bibel, wo die Priester dem Volk die göttlichen Gesetze vorstellten. Den Gesetzesübertretern werden harte Strafen und häufig die Todesstrafe angedroht. So lebten die Menschen in großer Angst. ihr Leben zu verlieren, wenn sie gegen die Grundregeln des Stammes oder des Volkes verstießen. ll W. Bun::ert. Kulte des Altertums. 63-14. C. Bell. Ritual theory. ritual prnctice. New Von 1992.61-14. U N. Bischof: Das Rätsel des Ödipus. Die blologischen Wurzeln des Ur\:onftikts von Intimität und Autonomie. München 1985.94-117. D.P. Barnsh. Soziobiologie und Veffialten. Bertin 1980.46-60. 11
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In der weiteren Entwicklung traten Mantiker und Propheten gegen die Priester und Häuptlinge auf, indem sie sich aufeine direkte Botschaft oder Offenbarung der Ahnen oder der Schutzgötter beriefen. Sie verkündeten öffentlich, der Bundesgolt oder die Schutzgötter hätten nun an Tier- und Menschenopfern gar kein Interesse mehr; sie forderten vielmehr ein reines Herz der Menschen. eine aufrichtige Ge· sinnung und die Verwirklichung der moralischen Tugenden. Damit ist der Punkt erreicht. wo die archaischen Opferriten in gelebte Moral transformiert werden. Eine allgemeine Moral der Mitmenschlichkeil löst nun langsam die Opferriten ab. doch die Priester widersetzen sich diesen lehren. Wir erkennen dies etwa am persischen Reformer zarathustra oder an den jüdischen Propheten.
Kulturen der Ackerbauern
In einigen Flusstälern und deren Scitcnannen haben Menschengruppen erkannt. dass sie wilde Gräser an ein und demselben Ort vermehren und kuhivieren konnten. Sie lernten. den Wild weizen. dieGerstc. die Hirse. den Reis und den Wildhafer auf bewässerten und schlammigen Feldern auszusäen und zu ernten. Nun konnten die Menschengruppen für längere Zeit oder dauerhaft sesshaft werden. Sie bauten Wohngruben in die Erde. später errichteten sie Dörfer aus Lehm und aus Stein aus der Erde heraus. Ihre Gruppen wurden größer. sie lebten zwischen 200 und 1.000 Personen in Dörfern zusammen. Gezähmte liere gehörten ebenso zu ihrer wirtschaftlichen Grundlage. l ) Die niederen Ackerbauem (ohne den Pflug. das Rad und die künstliche Bewässerung) veränderten ihre soziale Struktur und entwickehen deutliche Arbeitsteilung. In ihren Mythen erzählen sie. dass die Frauen eine besondere Rolle bei der Aussaat. der Pflege und der Ernte des Getreides spielten. So wird erzählt. die Erde sei ein weiblicher Schoß. aus dem das Getreide geboren werde. Beide Geschlechter flihrten die Riten der Fruchtbarkeit aus. um das Wachstum des Getreides zu stärken. Bei vielen Riten hatten die Frauen eine leitende Funktion. Die Feiernden tanzten um die Felder oder an den Kuhplätzen und riefen die weiblichen Schutzgöttinnen der Fruchtbarkeit an. Männer und Frauen paarten sich an den Festzeiten am heiligen Ort oder auf den Feldern. um die Kräfte der Fruchtbarkeit zu stärken und das Wachstum zu wecken. Die moralischen Regeln beziehen sich nun auf die Verteilung der Früchte. den Schutz der Ernten. die Kooperation bei der Arbeit. die Achtung vor privatem Eigentum. Die Männer roden neue Felder und machen sie bebaubar. sie verteidigen die Dörfer und die Felder. sie bilden Gruppen von Kriegern. die auf die Waffen spezialisiert sind. Nun wird die soziale Schichtung deutlicher. es bildet sich die Oberschicht der Besitzenden und der Krieger. dann die Mittelschicht der Feldarbeiter, der Hirten. der Handwerker und der Händler. und als Unterschicht
" F. Vivclo. Handbuch. 89--96. E.R. Wolf. Peasants. Englc:woddlCliffs 1986.84-102.
Ethos und Kuhur
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die Unfreien und Sklaven. Für alle drei Schichten gelten besondere Regeln des riChtigen Verhaltens. Die höheren Ackerbauem entwickeln das Rad. den Pflug und die künstliche Bewässerung: bald lernen sie. ihre Werkzeuge und Waffen aus Metall (Kupfer, Bronze und Eisen) herzustellen. Ihre Gruppen werden nochmals größer. sie bilden die ersten Stadtkulturen mit I.OOQ bis 6.00Q Einwohnern (Jericho. Catal Hüyük). Die Dominanz der Männer im Bereich der Waffen, der Werkzeuge und des Rituals schreitet voran. Der ArbeilSbereich der Frauen bleibt die Sorge um die Kinder, die Zubereitung der Nahrung und der Kleider, aber auch Feldarbeit und partiell das Ritual. Diese Sozialstruktur spiegelt sich in den erzählten Mythen. männliche Götter fUhren die Krieger an und herrschen über den Götterhimmel, Göttinnen werden häufig in ihrem Rang degradiert (z.B. Athena. Hera). ihnen bleibt der Bereich der Fruchtbarkeit. 14 Auch die Ackerbauern haben ihre Opferriten. sie opfern ihren Schutzgöttern und Ahnen die Erstlingsfrochte ihrer Felder. aber auch Tiere und Mitmenschen. In ihren Städten bauen sie große Tempel und richten eine zentrale Tempelwirtschaft ein. die Stadtkönige. die Priester und die Schreiber werden für die Verwaltung des Landes zuständig. Sie selZen die Regeln des richtigen Verhaltens und die Gesetze des Zusammenlebens fest, die sie jetzt in Stein einmeisein und in den Städten aufstellen lassen. Sie haben flir Verwaltungszwecke die erste Schrift entwickelt (Donaukulruren. Sumer. Ägypten u.a.). Die Mythen dienen weiterhin der Legitimalion des geforderten Verhaltens. So lehren die Priester. aber auch Mantiker und Propheten. dass die vielen Schutzgötter der Sippen und der eine Bundesgott der Stadt dje guten Taten der Menschen mit Glück und Gesundheit belohnen. dass sie aber die Übeltäter mit Unglück und Krankheit bestrafen. Da die Belohnung oder Bestrafung in diesem Leben oft nicht erkennbar sind, werden sie hinter die Todesgrenze verschoben. Die moralisch Guten werden im Land der Ahnen ein glückliches Leben haben. die Übeltäter werden dort viel leiden müssen. Auch hier dient der Mythos dazu. das moralische Leben zu unterstützen und die Einhaltung der Gesetze zu erleichtern. Bei den großen Kuhfeiern am Tempel werden die moralischen Nonnen und die Gesetze der Stadt regelmäßig vertieft. Dies geschieht bei den kleinen und großen Opferriten, bei den Versöhnungsfeiern mit den Schutzgöuern und bei den Kultmählern. Die Menschen wollen sich mit den göttlichen Kräften vereinigen. um ein langes und gutes Leben zu haben. Wenn sie die göttlichen Kräfte in sich aufnehmen. stärken sie ihre Lebenskraft.l~ Zu den Riten der Vereinigung gehören vor allem die Tänze am heiligen Ort. Durch langsame und schnelle Bewegungen können die Tanzenden in Ekstase ge-
,. eh. Redman. Friihe mesopotamische Sliche und ihre Umgebung. In: G. Burenhuh (Hg.): Die Kuhuren der Alten Weh. Augsburg 2000. 21-26. J. AMmann. Hemchaft und Heil. München 2(XX). 76-84. "J. Campbell. Mythen. 7-16. K. Hubig. Die Sumerer. München 1989.34--45.
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raten, dann wissen sie sich mit den göttlichen Kräften verbunden. Oder sie feiun sexuelle Riten und heilige Hochzeiten. um die Kräfte der Fruchtbarkeit in sich zu stärken. Die Feiernden umannen und küssen einander am heiligen Ort. heilige Personen legen ihnen die Hände auf und salben sie mit dem Öl von Pflanzen. Und im kultischen Mahl verbinden sie sich mit den Schutzgöttern der Stadt und den Ahnen der Sippe.
Die moralischen Regeln sind hier eng milden Riten undden Lehren der Mythen verflochten. Bei den Hirtennomaden und den höheren Ackerbauem schreitet die männliche Dominanz in der Kultur und der Moral deutlich fort. Männer erhalten mehr Rechte als Frauen. Männliche Göuer verdrängen die weiblichen oder degradieren sie. Herrschaft und Anwendung von Gewalt sind auch im Himmel der Gölter vorwiegend männlich. Einige Kulturen von Hirtennomaden und Ackerbauern entwickeln sogar Kuhmonopole für männliche Bundesgöuer. das deutlichste Beispiel liefern die jüdische und die islamische Kultur. 16 So hatte der ägyptische König Echnaton im 14. Jh. v.Chr. versucht, die Verehrung der vielen Reichsgöuer durch ein Kultmonopol für den Sonnengott Aton zu ersetzen. Er ist damit gescheiten. denn seine Nachfolger haben wieder die Vielheit der göulichen Wesen hergestellt. Zarathustra in Persien hatte die Herrschaft eines obersten Gottes verkündet. in Babyion galt die Herrschaft des obersten Stadtgottes. Priester in Israel bzw. Juda konnten durchsetzen, dass in Zeiten des Krieges nur der Kriegsgolt Jahwe verehn werden durfte. Später versuchten sie. durch ein großes Schriftwerk (Tora. Bibel) das Kultmonopol dieses Bundesgottes zu erzwingen. Das Christentum und der Islam sind ihnen auf diesem Weg später gefolgt. So wurden die Gottesbilder und die Tempel von den Priestern und Königen immer zur Legitimation ihrer Herrschaft benötigt. Stadtgöuer und Bundesgötter setzten dann die Normen des richtigen Verhaltens fest. Aufgabe der Priester war es. diese Normen zu verkündigen. So sind alle Religionen der Erde mit klaren moralischen Vorgaben verbunden. sie haben wesentlich zur Ausbildung von Ethiksystemen und von Lebensformen beigetragen. Doch immer spiegeln sie dabei bestimmte Kulturstufen und Formen der Sozialisation. 17 Schon früh wurden in verschiedenen Kulturen die Nützlichkeit der sog. "GoldeIle" Regel" des richtigen Verhaltens erkannt. Sie geht von der Einsicht aus. dass es sinnvoll und nützlich ist. den Mitmenschen das Leidvolle und Schmerzliche nicht anzutun. das man selber nicht erleben möchte. Ins Positive gewendet bedeutet diese Einsicht. den Mitmenschen alles das an Befriedigung zu geben. was man selber bekommen möchte. Diese Einsicht in die Reziprozität des menschlichen Verhaltens hat wohl den größten Lernschritt in der menschlichen Kultur ausgelöst. Freilich ist es ein weiter Weg von dieser Einsicht zu ihrer praktischen Verwirklichung. Nun zeigt sich. dass diejenigen Kulturen die größten Chancen der •• J. Assmann. Ägypcen. Theologie und Frömmigkeit einer Hochkuhur. Stuugan 1984. 21-T. Den.. Herrschaft und Heil. 102-114. lJ J. Assmann. Hernchaft und Heil. Politische 1beologie in Ahägypten. Israel und Europl. München 2000. 145--156. B. Lang. Jahwe. der biblische Gou_ München 2002. 65-84.
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Entwicklung und der Überlebens hatten, die der Verwirklichung der Goldenen Regel am nächsten gekommen sind. Heute bauen fast alle großen Kulturen auf dieser Einsicht auf, nur intolerante Gruppen wollen sie nicht akzeptieren. Zunächst wurde diese Regel nur innerhalb der eigenen Gruppe angewandt. dort gab es die Verpflichtung, einander in Not zu helfen und wichtige Bedürfnisse des Lebens hinreichend zu befriedigen. Ein weiterer Lernschritt der Kultur wurde erreicht, als die Goldene Regel auch auf Mitglieder fremder Sippen ausgedehnt wurde. Nun galt die Pflicht zu gegenseitiger Hilfeauch gegenüber fremden Gruppen, was aber nicht kontrollierbar war. In der chinesischen Kultur hat diesen Übergang der Lehrer Mo Ti (3. Jh. v.ehr.) vollzogen, im Judentum wurde er von einigen Propheten angedeutet, im frühen Christentum wurde er von Jesus von Nazareth gelehrt. Die Menschen erkannten, dass sie dann auch selbst auf fremde Hilfe hoffen konnten, wenn sie anderen in No(situationen unter die Arme griffen. Auf dieser Einsicht basiert die gegenseitige Kooperation in allen großen Kulturen der Erde. la
Ansätze matriarchaler Ethik
Wir erkennen in den Kulturen deutlich patriarchale und matriarchale Ethikformen, die in den Inhalten erheblich differieren. Häufig können sie direkt einer bestimmten sozialen Schicht zugeordnet werden. Als Beispiel einer matriarchalen Ethik soll die Lehre des chinesischen Daoismlls (Taoismus) skizziert werden, sie ist die Daseinsdeutung der unteren sozialen Schichten, nämlich der Bauern, der Hirten und der Unfreien. Z.T. auch der Handwerker und Händler. Diese Gruppen hatten nie Zugang zu den Waffen der Krieger und damit zur Herrschaft, folglich haben sie andere Verhaltensregeln entworfen. In China (aber auch in Indien und Japan) sind uns auch die Morallehren der unteren sozialen Schichten in schriftlicher Form überliefert worden; z.B. im Buch ..Tao teh ching" und bei einigen Philosophen. Nach dieser Lehre ist der göttliche Urgrund (Dao) des ewigen Anfangs weiblich und wird mit einer Urmutter bzw. einem Urweib verglichen. Aus diesem Urgrund werden die beiden Kräfte des Werdens Vin und Yang, und aus diesen entstehen alle Dinge und Lebewesen. 19 Nun kämpfen diese beiden Urkräfte nicht gegen einander, sondern sie greifen in einander und ergänzen sich. Das Dunkle verbindet sich mit dem Lichten, das Weiche mit dem Harten, das Weibliche mit dem Männlichen, die Erde mit dem Himmel. Doch das Dunkle. Weiche und Weibliche ist das Ursprüngliche, es ist dem ewigen Dao am nächsten. In der patriarchalen Kultur Chinas ist die weib· liehe Kraft jetzt abgewertet, aber auf Dauer wird sie stärker als die männliche sein. Auch das Wasser ist das weichste Element und höhlt doch auf Dauer den härtesten Stein aus. W. Bauer. Geschichte der chinesischen Philosophie. Mi1nchen 2002. 127-138. 19 Tao Ich ching. Dt. von R. Wilhe1m. Köln 1978. Kap. 1-5. 11
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Damit wird das Wasser zum Symbol für das ewige Dao. aber auch für die Kräftc des Weiblichen, des Weichen und des Lebendigen. Es sucht immer den unterstell Platz in der Weh, spendet aber allen Wesen das Leben. Das Weiche ist näher beim Leben als das Harte. denn wenn ein Mensch geboren wird, ist er weich und zart: wenn er auf den Tod zu geht, ist er hart und steif. 20 Ausdiesen Lehren werden nun die Regeln des richtigen moralischen Verhaltens
abgeleitet. Diese Regeln haben den unieren sozialen Schichten das Überleben und die optimale Entfaltung ennöglicht. Der weise Mensch lässt sich vom weiblichen Urgrund leiten, er lebt nicht überheblich und stellt sich nicht über Mitmenschen. Vielmehr ist er bestrebt. allen nützlich zu sein. Er sucht in der Gesellschaft die unieren sozialen Ränge, weil erdas Wasser zum Vorbild hat, das immer nach unten Aießt. Die unteren sozialen Schichten nehmen ihre niederen Ränge bewusst an und erkennen darin sogar einen Vorteil: sie sehen sich näher beim ewigen Urgrund. Sie wissen darum, dass es im Leben auf Dauer keine Vorteile geben kann. mit dellen nicht auch Nachteile verbunden sind. Der Nachteil der oberen sozialen Schichten besteht darin, dass sie vom ewigen Ursprung weiter weg sind und mit ihrer einseitigen Herrschaft die ursprüngliche Kommunikalion stören. Freilich gibt es im Leben auf Dauer auch keine Nachteile. die nichl mit einem Vorteil verbunden wären. Die Menschen der unteren sozialen Schichten können weitgehend ohne Herrschaft miteinander umgehen. Der weise Mensch, der sich vom ewigen Dao leiten lässt. lebt nicht hektisch und nicht aggressiv gegen Mitmenschen. Er lässt sein Leben geschehen (wu wei), sowie es kommt, und versucht, aus allen Situationen das Beste zu machen. Auf keinen Fall will er als mehr erscheinen, als er tatsächlich ist. Auch macht er keine schönen und großen Worte. denn das Leben ist oft nicht schön, es ist oft sehr klein. Seine Worte sollen wahr sein und nicht täuschen. Seine Mitmenschen überzeugt er durch seine moralische Lebensfonn und nicht mit Worten. 21 Wer vom ewigen Urgrund her lebt. hilft den Mitmenschen. wenn sie in Not geraten sind. Er hält sich bei den Kleinen und Niedrigen auf. Und weil er anderen hilft. darf er hoffen, dass auch ihm geholfen wird, wenn es ihm übel ergeht. Er arbeitet für andere und schafft unentwegt Neues und Nützliches. Aber er hält das Geschaffene nicht fest, sondern gibt es an andere weiter. Mit seiner Lebenskraft geht er sparsam um, denn er will lange leben. Den Streit und den Krieg meidet er, denn dabei wird immer Leben zerstört. Im Krieg und Kampf gibt es keine Sieger. sondern nur Verlierer. Dennoch verteidigt sich der Weise mit allen geeigneten Mitteln, wenn er von anderen angegriffen wird, denn sein Leben ist ihm heilig. Zu diesem Zweck entwickelt er viele Kampftechniken der Abwehr und der schnellen Reaktion. die harten Schläge des Angreifers lässt er ins Leere laufen. Die Frauen nehmen ihr Schicksal an mit
ZOG. Bekey. Die Welt des Tao. MUnchen 1983,85-105. Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. Dannstadt 1997. 68-85. 11 Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. 68-80.
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der Überzeugung, dass sie auf Dauer stärker als die kämpfenden Männer sein werden. Aus dieser Sichtweise haben die Harten, die Starken. die Männer und die Krieger keinen dauerhaften Vorteil gegenüber den Schwächeren und den unteren sozialen Schichten. Viele Männer aus diesen Schichten haben diese weiblichen Lebenswerte internalisiert und zu leben versucht.lm Grunde besteht die Hoffnung. dass am Ende der Zeit der weibliche Urgrund die Gegenkräfte des Lebens und des Todes wieder miteinander verbinden wird. Diese Morallehren gehen von der ursprünglichen Gleichwertigkeit aller Menschen aus. 22 Spuren einer weiblichen Ethik finden wir auch imjrühell Buddhismus. obwohl er von männlichen Wanderasketen geprägt wurde. Hier gelten als Grundwerte die Ehrfurcht vor allem Leben, der Verzicht auf Rache und Kriege. die Forderung des Mitgefühls mit den leidenden Wesen. die Forderung der geeigneten Selbstverteidigung. Auch Buddhisten lehen auf der Seite der Kleinen. der Schwachen und der Geringen, sie suchen die Versöhnung der Feinde. die Venneidung der Kriege. Wenn sie von anderen angegriffen werden, dann verteidigen sie sich mit allen geeigneten Mitteln. Es ist ihnen selbstverständlich. dass vom ewigen Urgrund (nirvana) her alle Menschen denselben Wert haben. n Reste einer weiblichen Ethik bzw. einer Morallehreder unteren sozialen Schieh· ten erkennen wir auch im Lebensprogramm des Jesus von Nazareth und der frü· hen Christen. Dort wird soziale Gerechtigkeit gefordert. die Feinde sollen sich versöhnen. Hass. Neid und Krieg sollen vennieden werden. Die Kleinen und die Annen sind dem Göttlichen näher als die Reichen und die Starken. Alle sollen ihren Mitmenschen in der Not helfen und auch ihren Gegnern mit Wohlwollen begegnen. Diese weiblichen Lebenswerte wurden aber schon früh von patriarchalen Lebensordnungen zugedeckt. 24 Zum Ethos der Unleren sozialen Schichten gehört die sichere Erkenntnis, dass von NalUr her alle Menschen denselben Wen hahen. Weil alle dieselbe Luft atmen. sagen griechische Sophisten. haben alle denselben Wert. dieselben Rechte und dieselben Pflichten. Von Natur aus und von der göttlichen Ordnung her gibt es keine Herren und keine Sklaven. alle Menschen werden als Freie geboren. Die Männer haben keinen größeren Wert als die Frauen. sie sollen auch nicht mehr Rechte haben. Diese Denkansätze der allgemeinen Menschenrechte gehen in allen Kulturen von den unteren sozialen Schichten aus.
Ansätze patriarchaler Morallehren
In den patriarchalen Kulturen der Hirtennomaden und der höheren Ackerbauern prägten zunehmend männliche Lebenswcrte das Verhalten der oberen sozialen Tao Ich ching. Kap. 17-24. uM. Hutlcr. Das ewige Rad. Rc:ligion und Kultur des Buddhismus. Graz 2001. 201-224. :I< G. ~ißcn. Die Religion der erslcn Chrislcn. GÜlcr.;loh 2000. 101-120.
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Schichten. Von ihnen haben wir seil Beginn der Schriftkulturen reiche Kenntnisse. sie prägen bald auch die Lebensfonn der minieren sozialen Schichten, die nun
entstehen. Von den Lebenswel1en der unteren sozialen Schichten. der Unfreien und der SchuldskJaven, haben wir kaum Kenntnisse. Die Lebenswerte einer patriarchaJen Kultur lassen sich an einigen Eckpunkten darstellen. als Beispiel möge wieder die chinesische Kultur dienen. Der Wanderlehrer Kungju Ise (Kong 21) hatte im 6. und 5. Jh. v.Chr. zusammen mit seinen Schülern die Grundwerte der Lebensordnung der Krieger und der Verwaltungsbearnten aufgeschrieben. Er halte an mehreren Schulen für junge
Krieger und Schreiber die Kunst der Schrift, die Kampftechniken. die AhnenriteD. die alten Lieder, die Gesetze und Verträge, sowie die moralischen Regeln des tugendhaften Lebens unterrichtet. Die Grundtugenden der Krieger waren die absolute Treue zum Fürsten. die Unterordnung unler den Valer und die Ergcbung untcr dcn Lehrer. Es wurde angenommen. dass der Fürst. der Valer und der Lehrer dicsclben Forderungen an den Schüler steillen. Eine Grundforderung an die Krieger war die absolutc Unterordnung und der blinde Gehorsam, selbständigcs Denken war unerwünscht. Dic allen Regeln und Lcbensgewohnheiten mussten hochgehahen werden. sie haben sich in langen Zci· tepochen bewährt. Kriegerund Beamte mussten ihre Pflichten erfüllen. den Körper abhärten und den Willen trainieren. Von ihnen wurde verlangt. zu heiraten. Kinder zu zeugen und für die Familie zu sorgen. Die Frauen und Kinder mussten sich den Vätern unterordnen. In den Sippen der Adeligen galt die Tapferkeit im Kämpfen als Ziel wert. Schmerz musste ertragen werden. die LOge war zu vermeiden und die Autoritäten waren zu achten. U Die Schüler des Meister Kung haben seine Lehre weiter entwickelt. Einige lehrten. dass in allen Situationen die richtige Mitte zu suchen sei. Extreme im Verhalten müssen vermieden werden, maßlose Verweichlichung und übermäßige Abhärtung schaden dem Leben. Der Lehrer Meng lse (Meng Zi) war überzeugt. dass von der Natur her alle Menschen gut seien und zum Guten strebten. Erst durch schlechtes Beispiel und durch widrige Lebensumstände werden einige zu Verbrechern und Übeltätern. Sie müssen für ihre bösen Taten bestraft werden, um aus der Strafe das richtige Verhalten zu lernen. Alle Menschen. auch die Übeltäter. können das moralische Gute erlernen. wenn sie dazu gezwungen werden. In der konfuzianischen Schule galt die alte Lehre. dass der Fürst dem ganzen Volk ein moralisches Vorbild sein muss. Aber auch die Krieger und Beamten mussten gerecht. tapfer und gehorsam sein. Der Lehrer Mo Di kam zur Überzeugung. dass die sozialen Verpflichtungen über die Sippengrenzen hinaus Gellung haben müssen. Von der allgemeinen Nächstenliebe im Volk haben alle den größten Nutzen. 26
2S W. Ba~r. Geschichle. 57--64. Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. 47-55. »H. Schleichen. Klassische chinesische Philosophie. Münchcn 1980.84-96.
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Eine besondere Fonn der patriarchalen Moral vertreten die sog. LegalisteIl. Denn sie gehen davon aus, dass alle Menschen von ihrer Naturher böse sind und zu bösen Taten neigen. Nurdurch strenge Gesetze und harte Strafen können sie davon abgehalten werden. einander zu schädigen und zu zerstören. Die Strafen müssen öffentlich durchgeführt werden. um das Volk von Übeltaten abzuschrecken. Die Menschen müssen vor dem Herrscher zittern. sie dürfen ihn nicht lieben. Und dieser verachtet und fUrchtet das Volk. Ein größerer Staat kann nur durch Härte und Schrecken regien werden. Die Lehrer dieser Schule gelten in China als die Vordenker des autoritären Staates. 27 Eine patriarchale Moral und Rechtsordnung haben uns auch die aristokratischen Philosophen Griechenlands. Platon und Aristoteles. hinterlassen. Sie treten entschieden gegen die Lehre der Sophisten auf. dass von der Natur her alle Menschen gleichwcrtig seien. Für Platon ist die soziale Ordnung im Staat eine göttliche Einrichtung. Denn die Götter hällen den Herren und Adeligen Gold in das Blut gemiSCht. der minIeren Schicht nur Silber und den unteren sozialen Schichten gar nur Er/.. Von den Göttern erhielten die Adeligen und Krieger das Recht. über die Mitmenschen zu herrschen. Für alle drei sozialen Schichten galten unterschiedliche moralische Regeln und Pnichtcn. Die Tugend der Weisheit komme nur den Herrschenden zu, die Tugend der Tapferkeit sei den Wächtern vorbehalten. und die Tugend der Mäßigung sei für die unteren sozialen Schichten eingerichtet. Die Gerechtigkeit aber sei rür alle Menschen. sie teile jedem das seiner Schicht Gemäße (to heauton) zu. 2I Die Menschen setzen sich nicht selber die Maßstäbe des richtigen Verhaltens. wie einige Sophisten gelehrt hatten; nein. die Götter setzen diese unverrückbaren Maßstäbe. Auch für Aristoteles setzt der Gott. den die Menschen mit ihrer Vernunft erken· nen können. die Maßstäbe für das sittliche und unsittliche Handeln. Er hat es so eingerichtet. dass die Männer den Frauen überlegen sind. weil bei den Männern die Vernunft höher entwickelt sei. Die Frauen seien "Mängelwesen" und müssten durch die männliche Weisheit und Planung gelenkt werden. Nur den freien Männern in der Stadt kommt es zu. die Gesetze festzulegen und das richtige Verhalten für beide Geschlechter zu bestimmen. 29 Das frühe Christentum hat diese patriarchale Moral geerbt und weitcr entwickelt. Ln den Anfangen hatten Frauen die christliche Lebensfonn maßgeblich mitgestaltet. doch schon im 2. und 3. Jh. n.Chr. übernahmen die Männer die Dominanz. Frauen bekamen dienende Rollen und mussten in der Versammlung schweigen. sie mussten sich in der Familie den Männem unterordnen. Die Männertheologen sagten, Frauen seien leicht zur Sünde verflihrbar und sowohl körperliche. als auch geistige Mängelwesen. W. Bauer. Geschichte. 177-190. H. Schlekhen. Klassische. 127-136. 1lI A. Graeser. Die Philosophie der Antike 11. München 1983. 168-187: 232-250. ~ A. Graeser. Die Philosophie. 234-246.
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Der Islam hat bis heute eine extrem patriarchaJe Moral und Rechtsordnung. die kaum zu verändern ist. Durch die Reformen des Propheten Muhammad im 7. Jh. n. ehr. hauen die Frauen viele Rechte. die sie bisher hauen. verloren. Die weiblichen Götter wurden zu bösen Dämonen degradiert. nun herrschte im Götterhimmel nur mehr der Gott Allah. Seither bestimmen bei den Menschen die Männer die Regeln des moralischen Verhaltens und die GeselZe. Die Frauen haben sich diesen Regeln unterzuordnen, sie haben nicht die gleichen Rechte wie die Männer. JO
Moral der Herrenmenschen Schon in einigen frühen Stadtkuhuren erkennen wir die Absicht. über andere Städte herrschen zu wollen. Auch die Hirtennomaden wollten andere Stämme unter ihre Abhängigkeit zwingen. In China bereiteten zur ..Zeit der streitenden Reiche" (ca. 500 bis 221 v.Chr.) mehrere Fürstentümer die Herrschaft über andere vor. Ihre Lehrer entwickelten optimale Gesetze für die Herrschaft und ein hartes Training der Krieger. Sie zeigten. wie ein Fürstentum organisicrt scin muss. damit es über andere Stadtkulluren die Herrschaft erringen und für lange Zeit auch behahen kann. Die beiden Säulen eines solchen Staates sind der Ackerbau und die Krieger. J ' Der Mythos von der Überlegenheit der eigenen Schutzgötter gab dann die Le· gitimation für die Eroberung fremder Fürstentümer. Mit dieser Motivation gelang es dem Stadtstaat Qin im 3. Jh. v.Chr.. andere Städte zu erobern und ein k.leines Reich zu schaffen. Immer wurden der Mythos und die Religion auch dazu benutzt. um die eigene Überlegenheit über fremde Länder und Kulturen zu behaupten. Der oberste Himmelsgolt (tien) wurde nun zum Herrscher über alle Menschen im neu· en geeinigten Reich. Die Religion stellte eine Ideologie der Herrschaft bereit. Dieses Modell gilt im Grunde rur alle späteren Großreligionen. Auch im Christentum hat sich der eine Weltgolt und Schöpfer aller Menschen nur den Christen geoffenbart. Deswegen sind sie befugt und ermächtigt. über andere Länder und Völker Einfluss zu gewinnen. ja die Herrschaft zu errichten. Mit dieser Überzeugung hatten christliche Fürsten durch viele Jahrhunderte hindurch fremde Länder und Kulturen erobert. um deren Schätze auszubeuten und den Menschen den wahren Glauben und die einzig richtige Moral zu bringen. Der ..Herrengou" der Christen legitimierte alle Kriege der Eroberer und auch den Handel mit Millionen von versklavten Menschen. J2 Denselben Anspruch auf Eroberung und Herrschaft finden wir in der Religion des Islam. Muhammad halte diesen Anspruch von den Juden und den Christen gelernt. Allah war nun nicht nurder Herrschergott über allearabischen Stämme. nein .. er war der Herrscher über alle Völker und Länder der Erde. Deswegen mussten lO K. Prcnncr. Die Slimme. 289-311. J' W. Bauer. Geschichle. 180-195. H. Schleichen. Klassische. 90-98. Jl R. Wilken. Die frühen Chrislen. Wtc die Römer slc sahen. Gm 1986. 190-197. B. Lang. Jahwe. 211-230.
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sich alle gläubigen Moslems bemühen, den allein wahren Glauben und die allein richtige Moral über alle erreichbaren Länder zu verbreiten (dschihad). Im Grunde untermauern alle Religionen mit einem Monopolanspruch auf den wahren Glauben eine Moral der Herrenmenschen. Denn weil sich ihnen der eine Weltgott geoffenbart habe, erheben sie den Anspruch auf Überlegenheit und Herr~ schaft. Im 19. Jh. entstanden in Europa säkulare Ideologien der Herrenmenschen, die den religiösen Anspruch säkularisiert hatten. Da wurde von nordischen oder arischen Rassen gesprochen, denen als Urvölkern das natürliche Recht der Weltherrschaft zukomme. Aus den Erkenntnissen der Biologie (Ch. Darwin) wurde das natürliche Recht der Stärkeren auf Herrschaft abgeleitet. Einige Philosophen (z.B. F. Nietzsehe) hatten für dieses Modell der "Herrenmenschen" angeblich philosophische Argumente beigebracht. Die blonde nordische Rasse sollte über das "Hornvieh" der GeSChichte herrschen und bestimmen. Der "Übermensch" müsse sich um keine Regeln der herkömmlichen Moral mehr kümmern, denn er setze selber ständig neu und völlig autonom die Regeln des richtigen Verhaltens. Etwas später sah sich auch die marxistische und kommunistische Ideologie zur Weltherrschaft bestimmt. Am Ende des 20. Jh. hatten diese Ideologien der Herrenmenschen mehr als 120 Millionen gewaltsam getöteter Menschen zur Folge gehabt.J3
Oie allgemeinen Menschenrechte
Es waren in allen Kulturen die unteren sozialen Schichten, die im Ansatz an die Gleichwertigkeit aller Menschen glaUbten. Die griechischen Sophisten (AlkidamaSt Lykophro1l. Antiphon) gingen von der allgemeinen menschlichen "Natur" (physis) aus, die nicht zwischen den Herren und den Sklaven unterscheide. Daraus haben viele Denker späterein allgemeines Naturrecht abgeleitet, welches das Verhalten der Menschen bestimmen soll. Sowohl die griechische, als auch viel später die europäische Aufklärung argumentieren mit diesem Naturrecht. wenn sie für alle Menschendieselben Rechte und Pflichten einmahnen. Fürdie europäische und westliche Kultur sind die griechischen Sophisten und einige sokratische Schulen (Kyniker, Stoiker. Epikuräer) die Vordenker der allgemeinen Menschenrechte. 34 Das erste Argument dafür war, dass alle Menschen dieselbe Luft atmen und dieselben Bedülinisse haben. Daher seien von der Natur her die Männer und die Frauen, die Freien und die Unfreien, die Griechen und die Nichtgriechen gleichwertig. Von der Natur her gäbe es keine Wertunterschiede der Menschen, dies müsste nun auch in den Gesetzen und Moralregeln der Städte zum Ausdruck kommen .. Diese Ideen wurden von den Stoikern und Kynikern aufgegriffen und verbreitet, vom frühen Christentum wurden sie geerbt. Der christliche Missionar Paulus aus Tarsos war in der stoischen Philosophie gebildet und lehrte, auch in 1. Derrida. Politik der Freundschaft Frankfurt 2000,158-190. }I A. Gracser. Die Philosophie. 20-32: 63-80.
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der Schule der Christen seien die Rangunlcrschiede der Menschen aufgehoben (Gal 3.28). Die allgemeinen Rechte und Pflichten der Menschen seien in der göttlichen Weltordnung (Logos) vorgegeben. Freilich hat sich die chrisl1iche Reichskirche sehr schnell von diesen allgemeinen Rechten und Pflichten der Menschen verabschiedet und das aristokratische Modell der Moral verbreitet. Humanistische Denker der Renaissancezeit haben sich wieder der Denkmodelle der Stoiker und der Kyniker erinnert, sie sprachen fortan von einer allgemeinen "Menschenwürde". die jedem zukommt (Pico von Mirandola).3~ In der europäischen Neuzeit begannen einige "Freidenker", mehr Freiheit im Denken. im Glauben und in der praktischen Lebensgestahung zu fordern. Sie glaubten, dass dadurch das persönliche Lebensglück jedes Einzelnen verbessert werden könnte. Das geschlossene und autoritäre Moralsystem wurde Stück für Stück aufgebrochen und die Freiräume der Einzelnen wurden größer. Einige Län~ der (USA und Frankreich) machten die allgemeinen Menschenrechtc zur Grund· lage ihrer neucn Staatsverfassungen. In den nächsten 200 Jahren sind diese Freiheitsrechte in fast allen demokratischen Staaten der Welt verwirklicht worden. Durch den Dialog mi~ fremden Kulturen mussten neben den Menschenrechten auch die allgemeinen Pflichten für die Gemeinschaft und den Staat in Erinnerung gerufen werden.
Sichtweisen der Ethik Heute tasten wir uns in mehreren Sichtwcisen an das Phänomen der Ethik heran, um unser soziales Vcrhallen besser zu verstehcn. Eine biologische Sichtweise macht uns darauf aufmerksam, dass wir in unscrem Verhalten immer unseren bi~ alogischen Vorgaben folgen und dass folglich unser Vcrhaltensrepertoire begrenzt ist. Mit der soziologischen Sicht weise erkennen wir die Abhängigkcit unscrer Lebenswerte von sozialen Schichtungen und Strukturen einerGeseUschaft. Dabei achten wir auf die Formen der Kommunikation, das Verhältnis der Geschlechtcr. die Verteilung der Arbeit und die Weisen der Abhängigkeit. Wir nehmen an, dass sich in jedem Moralsystem soziale Strukturen spiegeln. auch wenn einige Grundwerte allgcmein akzeptiert werden. Subgruppen der Gesellschaft können in Teilbereichen ihre eigenen Wertesysteme entwickeln. Als Beispiele dafür mögen Pazifisten. Umweltschützcr, Esotcriker oder Fundamen~ talistcn dicnen. Seit langem betrachten wir unsere Wertordnungen auch untcr psychologischen Gesichtspunktcn. Wir fragen, welche emotionale Dynamikcn in bestimmten Geboten und Verpflichtungen zum Ausdruck kommen. Starke Angstgefüh le vor Feinden oder vor Bedrohung kann zu strcngcn Normen und Gesetzen führen. 36 Ein "Erasmus von Rouerdam. Ciceronianus. Vgl. A. Gail, Erasmus. München 1999.34--50. J& E. Fromm. AnalOmie der menschlichen Destruktivität. Reinbck 1917, 84-96.
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negatives Menschenbild, das alle Menschen als böse bewertet, hat offensichtlich rigide Moralnormen zur Folge. Wird von einem positiven Menschenbild ausgegangen, werden den Einzelnen mehr Freiräume des Verhaltens erlaubt. So hängen Wertordnungen immer auch von den Personstrukturen der wertsetzenden Personen ab. Die großen europäischen Diktaturen des 20. Jh. hatten alle ein sehr negatives Menschenbild und folglich ein autoritäres und totalitäres Moralsystem. Die wertsetzenden Personen waren durch ein negatives Selbstbild und durch starke destruktive Dynamiken geprägt. wie wir heute wissen. Viele \Ion ihnen wollten subtil oder offensichtlich Leben zerstören. dabei fanden sie ihre begeisterten Anhänger für diese Ziele. Wirsehen in manchen Moralsystemen auch eine selbstzerstörende Dynamik, die gar nicht so leicht zu erkennen ist. Andere Wertmodelle prägen Personen mit einem positiven SeJbslbild. mit einer lebensfreundlichen GrundeinsteIlung und mit unbedingter Lebenserlaubnis. Sie gehen davon aus. dass alle Menschen mehr das Gute als das Böse wollen, um das eigene Leben optimal zu entfalten. Auch sie wissen um die destrukti\len Dynamiken des sozialen Lebens. aber sie wollen sich optimal da\lor schÜI7..en. Die Strafe für Verbrechen erhält einen therapeutischen Sinn. damit auch Rechtsbrecher soziale Verantwortung lernen und einüben können. Die Wcrtordnungen der demokratischen Staaten gehen heute zumeist von diesen positiven Grundeinsteilungen zum Leben aus. n Wenn wir uns kulturgeschichtlich an Moralsysteme annähern. dann achten wir auf die kulturellen Bedingungen der Wertsetzung. Alle Kulturstufen entwickeln Lebenswerte als Überlebensstrategie der Gruppen. In größeren Gruppen werden die Wertordnungen komplexer. sie bekommen flexible Strukturen. Wenn wir uns mittels der sprachlichen Analyse den Wertordnungen nähern. sofern diese sprachlich ausgedruckt werden. dann versuchen wir. Inhalte und Gehungsbereiche besser zu verstehen. Wir untersuchen logische Strukturen der Normensysteme und fragen nach deren semantischen Gehalten. Oder wir fragen nach dem pragmatischen Lebensbezug, nach der "Lebensfonn" und der ..LebensweIt" (Ludwig Wittgenstein 11). aus der moralische Werte entstehen. In einer philosophischen Metaethik untersuchen wir die sprachlichen und logischen Regeln \Ion moralischen Werten. Mit der Beliebigkeit moralischer Werte ist keine Gruppe und keine menschliche Kultur überlebensfahig. Dies erkennen heute auch die Theoretiker der postmodernen Werte lehre. Die erkannte Relativität der moralischen Werte besagt keineswegs ihre Beliebigkeil. Denn diese würde nur den sozial Stärkeren nützen und die sozial Schwächeren schwer schädigen. Heute blicken wir vennehrt auf die Handlungsfolgen von moralischen Werten und fTagen nach den praktischen Konsequenzen von Moralnormen (Konsequentialismus). Wir erkennen. dass unsere Einstellungen und Gesinnungen in vielen F.men nicht ausreichend sind, um uns in der Gesellschaft sozial verträglich und kooperativ zu verhalten. J1
E. Fromm. Psychologie der Religion. Frankfun 1967. 57-65. J. Oerrida. Politik. 112-158.
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Ebenso erkennen wir. dass wir mit einer reinen Pftichtcnethik im praktischen Leben nicht das Auslangen finden. Denn wenn wir blind und ohne kritischen Blick bestimmten Pflichten folgen. dann können wir unter den Mitmenschen auch großes Unrecht anrichten. Daher scheint es nötig. dass wir die praktischen Folgen unserer Entscheidungen und Handlungen im Auge haben. Auch unsere Rechtsordnung misst problematische Handlungen immer an den konkreten Handlungs-
folgen. Sozial veranlwonJiches Handeln besteht dann darin, die Handlungsfolgen zu bedenken. sodass keine nachteiligen Wirkungen ftif konkrete Mitmenschen zu erwarten sind. Auch in der Moral sind wir immer Lernende. wir haben in keiner Lebenssituation die optimalen Regeln fUT unser Zusammenleben. Die Relativität unserer Wertordnungen erkennen wir im Blick auf fremde Kulturen und deren Nonnen. Viele nähern sich heute auf selektive Weise solchen Wertordnungen. um sie mit den eigenen Lebensregeln in Verbindung zu setzen. Der wirtschaftliche Dialog zwingl uns zum wechselseitigen Kennenlernen auch der Wcrtordnungen der Kulturen. Darin erkennen wir wohllihnliehe Grundwerte des Verhaltens. aber große Variationsbreiten in der konkreten Umsetzung dieser Grundwerte. J8 Wenn wir in einen interkulturellen Lernprozess eintreten. dann sind wir Ge· bende und Nehmende. Der Dialog der Kulturen ist wohl nur auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten erfolgreich zu führen .
H. KüngID. Sc:nghaas (Hg.). Friedenspolitik. Ethische Grundlagen inlemalionaler Bezie· hungen. München 2OIB. 71-99. J. Habermas. Zwischen Naturalismus und Religion. Fl1Inkfun 2005.155-165. .11
Ethos der St
eskulturen
Anton Quack
Das Ethos der Stammeskulturen. ihre Wertordnung in den Grundzügen darzustellen, ist nicht ganz einfach, zumal in der hier gebotenen Kürze. Zum einen sind die Begriffe Stamm. Stammeskulturen. Stammesgesellschaflcn, Stammesreligionen in der Ethnologie nicht unumstritten. ihr Gebrauch bedarf dahereiner Erläuterung; zum anderen ist die Thematik "Ethos" von Stammenskulturen den Ethnologen als eigenes Stichwort, als eigener Gegenstand von Forschung und ethnographischer Darstellung bisher kaum in den Blick gekommen. Dies spricht natürlich auch für die Notwendigkeit dieses Beitrages. Die vergleichsweise gute Überschaubarkeit von Stammesgesellschaftcn und -religionen erleichtert ihre Darstellung, sie erlaubt es, auch im engen Rahmen dieses Beitrages ihr Ethos vorzustellen. wenigstens in groben Strichen. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden. dass wir es im Bereich der Stammeskulturen mit fast unendlich vielen unterschiedlichen Variationen und Ausprägungen von Lebens· und Denkweisen. von Religionen und charakteristischen Geisteshaltungen und Verhaltensweisen zu tun haben. Diese Darstellung wird also nicht allen Stammeskulturen gerecht werden können. Doch sollen einige der wichtigsten Aspekte ethischen Verhaltens vorgestellt werden.
Klärung wichtiger Begriffe Im Sprachgebrauch der Ethnologie und Soziologie bezeichnet Stamm die Menschen einer ethnischen Einheit mit gemeinsamer oder verwandter Sprache, Religion und Kultur, die eine gemeinsame Verwandtschaft und Geschichte. bzw. der Glaube daran, verbindet und deren Mitglieder ein Siedlungsgebiet teilen. Ein Stamm kann eine politische Organisationseinheit bilden (z.B. Häuptlingstümer), in der Regel fehlt ihm jedoch eine politische und rechtliche Zentralautorität; man spricht dann von akephalen oder segmentären Gesellschaften. Charakteristisch für den Stamm ist das Wir-Gefühl seiner Mitglieder; er bildet vielfach den Rahmen für
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Anton Quack
religiöse Riten und Feiern. Mehrere Stämme können sich lweck- und zielgerichtct zu Konföderationen zusammenschließen, die meist zeitlich eng befristet sind. ' Über die Nützlichkeit und Brauchbarkeit der Begriffe "Stamm", "SIammesgesellschaften" , "Stammesreligionen" usw. lässt sich bei Ethnologen keine Einmütigkeit feststellen. Während an einer Stelle z.B. ein wenig apodiktisch dekretiert wird: ,.Der Begriff .Stamm' ist nach unserem heutigen Sprachempfinden untragbar"',2 urteilen andere Kollegen zurückhaltender. Man lässt etwa den Begriff durchaus gelten; zum einen sei der Begriff "StammesgeseUschaften" wertnculraleT als andere Termini. zum anderen verweise er ..auf die große Bedeutung. die der realen oder auch fiktiven verwandtschaftlichen Zugehörigkeit als Grundlage sozialer Organisation in nicht-staatlichen Gesellschaften zukommt".) Doch die meisten der einschlägigen Einführungs- und Nachschlagewerke enthalten sich jeglicher wertender Kommentierung: allenfalls schließt man sich E. W. Müller an. der lapidar festhält: ..Der Gebrauch dieses Terminus ist in der Ethnosoziologie uneinheitl ich'·.4 Eine gewisse Unschärfe ist dem Begriff ..Stamm" freilich nicht abzusprechen. Doch cr hat nicht den pejorativen Beigeschmack, der dem englischen und fran1.Ösischen Äquivalent tribe b1.w. Irihu zugcscllricbcn wird. In jedem Falle z.iehe ich die Begriffe .,Stammeskulturen, Stammesgesellschaften, Stammesreligionen" Begriffen wie "Naturvölker", ,.schriftlose Völker" ooer gar ..Primitivkulturen" .~ "ethnische Religionen" ...Elementarreligionen" usw. vor. Wenn hier also von Stammeskulturen die Rede ist. im Gegensatz zu Wellkul~ luren, gehl es um die Denk- und Lebensweise der Menschen eines Stammes. Was Stammeskulturen von anderen. komplizierteren kulturellen Organisationsfonnen abhebt und sie eigentlich charakterisiert, ist ihre relativ große Geschlossenheit. ist die Tatsache, dass bei ihnen Kultur und Religion dem Umfang nach deckungsgleich sind. Kultur und Religion und ihr Verhaltenskooex sind allen Mitgliedern einer solchen kulturellen Gruppe gemeinsam, in der Regel jedenfalls. Und wenn von Religion oder Gesellschaft einer Stammeskultur die Rede ist. geht es immer auch um Fragen der Wertordnung, "Kultur" sei hier in einem weiten Sinn verstanden. 6 Dieser holistische, umfassende Kulturbegriff der Ethnologie unterscheidet sich von dem engeren. wie er dem landläufigen Sprachgebrauch eigen ist. Man denkt bei letzterem eher an ..geistige Kultur, Geistesleben", etwa im Sinne der deutschen Umgangssprache.
A. Quack. Stamm. In: LThKl, Bd. 9; 920-921. Freiburg 2000; Quack. A.. Heiler. Hexer und Schamanen. DarmstadI2004. IIL 1 F.J. Thiel. Grundbegriffe der Ethnologie. Berlin 1992, 86. l K.H. Kohl, Ethnologie. München 1993,25 . • E.W. Müller, Stamm. In: W. Bemsdorf (Hg.). Wörterbuch der Soziologie. Stuugart 1969. 1121 f. S Vgl. W. Duprt, Kultur und Ethos. Zum Problem der Sittlichkeit in Primitivkulturen. In: CH. Ratschow (Hg). Ethik der Religionen. Ein Handbuch. Stuttgart 1980, 79-176. • A. Quack. Inkulluration und Synkretismus. Religionscthnologische Anmerkungen. Theologie der Gegenwart 36. 1993. 134-145. I
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und assoziiert damit Begriffe wie Bildung, Erziehung, Literatur, Kunst, das Schöngeistige. Kultur in diesem Verständnis umfasst also all das, und nur das, was sich im Feuilleton einer Zeitung wiederfindet. So lässt sich von höherer und niederer Kultur reden, von Kulturgesellschaften gegenüber Naturgesellschaften; so kann man sagen, jemand habe Kultur oder jemand habe keine Kultur. Natürlich wurde über diesen zentralen Begriff der Ethnologie. der Kultur\vissenschafl par excellence, immer diskutiert, und Einheitlichkeit wird es auch in dieser Frage sicherlich nie geben. Doch würde man heute bei Ethnologen wahrscheinlich große Übereinstimmung für folgende Definition finden: Kultur ist das erworbene und mit anderen geteilte Wissen, das Menschen dazu dient. ihre Erfah* rungen zu interpretieren und gesellschaftliches Verhalten zu bestimmen. Kultur wäre demnach, kurt gesagt, der einer Gruppe gemeinsame geistige Horizont, der ihr Handeln bestimmt: die Denk- und Lebensweise einer Gruppe von Menschen, der "way of life" und seine Dokumente und Ergebnisse. alle Eigenarten und Besonderheiten, die einem an einem fremden Volk auffallen. Kuhur ist den Mcnschen nicht angeboren, sie wird durch Sozialisation odcr Enkulturation crworben. Man wächst in eine Kultur hinein. Der Begriff KulIOr umfasst also: Sprache. Philosophie. Religion, Weltanschauung, Riten, Werte, Vorurteile. JX>litische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhaltensweisen. technische Fertigkeiten usw. Kultur. so verstanden. kann nicht, entgegen der Metapher von der kulturellen Einkleidung, wie ein Kleidungsstück angezogen und bei Bedarf abgelegt werden. Kultur ist wesentlich dynamisch und der geschichtlichen Entwicklung unterworfen. sie ist offen für Veränderungen und Einflüsse von außen. Das erschwert natürlich ihre Erforschung und Untersuchung, wie sie der Ethnologie obliegt. Da Kultur eine komplexe Einheit ist. in der alle Elemente zusammenhängen und zusammenwirken, ist es unmöglich, einen Teil herauszulösen und isoliert zu verändern. ohne dass dies Auswirkungen auf das gesamte System hat. Ändert sich ein Teil. hat das Auswirkungen auf alle anderen Teile der Kultur, etwa auch auf ihr Ethos. Legt man den umfassenden. ganzheitlichen Kulturbegriff der Ethnologie zu Grunde. muss ..Religion" verstanden werden als Teil der Kultur. als ein Aspekt, der in allen Bereichen der Kultur gefunden werden kann. Was für die Definitionen von Kultur gilt, gilt auch für die Definitionen von Religion. Es gibt fast soviele Definitionen von Religion, wie es Leute gibt, die über Religion nachdenken und schreiben. Gelegentlich wird zwischen "substantiellen" und "funktionalistischen" Definitionen von Religion unterschieden. Erstere sagen, was Religion ist, letztere sagen, was Religion leistet. was ihr Sinn ist.' Die folgende Begriffsbestimmung versucht
G. Kehrer. Definitionen der Religion. In: H. CancikJB. GladigowlK.-H. Kohl (Hg.). Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart 1998. Bd. 4; 418-425. 1
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einen Mittelweg,' sie fasst beide Aspekte von Religion zusammen: darüberhinaus wird auf die emotionelle Dimension religiösen Verhaltens hingewiesen: Religion umfass!: Glaubensvorslcllungen und -überzeugungen: die darauf auf· bauenden Verhaltensweisen (Kult. Riten); Verhaltensnormen; Gefühle.
Also: I) Vorstellungen zur Erklärung von Phänomenen und Erfahrungen der Wirklichkeit, deren Existenz durch Methoden der sog. exakten Wissenschaft nicht
nachweisbar iSI - ein System von Glaubellsvorstellllllgell also. Glaube an übermenschliche Wesen undloder Mächte. Die Lebenserfahrung einer Gruppe. vorhandene kulturelle Strukturen, wie z.B. das politische und soziale Geflige. wirken auf diese Vorstellungen ein. Diese Vorstellungen dienen ihrerseits zur ErkHirung der Umwelt und ihrer Entstehung. sowie zur Ordnung der sozialen Beziehungen und empfangener Eindrücke. 2) Den Killt. die Riten. in denen Menschen Beziehungen zu übennenschlichen Wesen aufnehmen. sei es um auf das Einwirken dieser Mächte in den menschlichen Bereich zu rC
Verwurzelung des Ethos Ethos lind Mythos Das Ethos der Slammeskulturen iSI in der Tradition verwurzelt. Es gründel im Wort der Alten. wie es z.B. im Mylhos greifbar wird. Mythen sind eine universale • Q. GächtcrlA. Quack. Symbole. Magie und Religion. AntJrropos 84. 1989. 521-529.
• Vgl. H. Vorgrimler. Ethos. In: LThK, Freiburg 19591• Bd. 3: 1136-1137.
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Erscheinung. Sie finden sich in allen Religionen und Kulturen. Sie gehören zu den drei wichtigen Formen religiösen Ausdrucks: Heilige Worte. heilige Handlungen. heilige Plätze. In Stammeskulturen bilden sie einen wesentlichen Teil der oralen Literatur. Sie sind, plastisch ausdrückt, was die Bibel für die Christen und der Koran für die Moslems ist. "In ihnen sind die ganze Glaubenslehre. die Ethik und der Kult festgelegf'.10 Sie sind Worte, die das Handeln bestimmen. Mythen sind anschauliche Erzählungen vom Beginn der Dinge, von den lebenden Wesen der Urzeit. von den Taten göttlicher Gestalten und ihrem Verhältnis zu den Menschen; sie sind die "anschauliche Darstellung der Weltanschauung von Gemeinschaften". wie es H. Baumann formuliert. 11 Erklärung, Begründung und Beglaubigung dessen. was ist und geschieht. sind die entscheidenden Aufgaben oder Funktionen des MythosY Von anderen Textformen kann Mythos abgegrenzt werden. vor allem vom Märchen. in dem zwar auch religiöse oder weltanschauliche Elemente vorkommen können. die jedoch niemals ins Zentrum rücken. In vielen Stammeskulturen wird geradezu eine Dichotomie von Mythos und Märchen betont. Man unterscheidet ..wahre" Geschichten von ..fiktiven" Geschichtcn. wobei "wahr" mit Urzeitlichem und .. fiktiv" mit Zeitlosem assoziiert wird. Baumann fasst zusammen: ..Mythen und Märchen lassen sich also im Sinneder Naturvölker selbst wesentlich scheiden nach den Gesichtspunkten: profan - sakral. urzeitlich - nichturzeitlich. wahrempfunden _ nicht wahrempfunden" .11 Funktionalistische Definitionen bestimmen Mythos als "Leistungswert einer kulturellen Institution".14 "als fundierende, legitimierende. weltmodellierende Erzählung".J5 Die Hauptfunktion des Mythos ist es, .,die an ein Vorzeitgeschehcn anknüpfende Darstellung des, Wesentlichen' in der Welt so zu gestalten, dass jenes Vorzeitereignis unmittelbar in das Bewusstsein zu rücken vermag: diese Bewusstmachungdes. Ur' dient dann zurBegründigung und Festigungdermit ihm in Verbindung stehenden Jetztzcitverhältnisse ... Bewusstmachen des Sinns einer Institution oder Idee. ihr Erklären, Begründen und Beglaubigen sind zweifellos die wichtigsten Funktionen des Mythos" .16 GeradederbeglaubigendeCharakterdes Mythos wird auch von Malinowski betont. Der lebendige Mythos sei unmittelbarer Ausdruck seines Gegenstandes, die
F.J. Thie!. Religionsethnologie. 76. 11 H. Baumann. Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrikanischen Völker. Berlin 1936.2. n H. Baumann. Mythos in ethnologischer Sicht. Studium Generale 12. 1959. 1-17. 111
583-597. " H. Baumann. Mythos
In
ethnologischer Sicht. Swdilml Generale 12. 1959. 1-17.
583-597. H. Baumann. Mythos. 583. I) A. AssmannlZ. Assmann. Mythos. In: H. Cancik. B. Gladigow und K.-H. Kohl (Hg.). Handbuch religionswissenschafllicher Grundbegriffe. Stungart 1998. Bd. 4; 179-200. 16 H. Baumann. Mythos. 583. I'
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narrative Wiederherstellung einer ursprünglichen Wirklichkeit. deren Erz.ählung tiefe religiöse Bedürfnisse. die Sehnsucht nach Moral, soziale Ergebenheit und Zuversicht und sogar Erfordernisse der Praxis befriedige. Unabdingbare Aufgabe des Mythos in Stammeskulturen sei: "Er formuliert. sleigert und kodifiziert den Glauben; er schützt und vertieft die moralischeOrdnung, bezeugt die Wirksamkeit des Rituals und vennittelt praktische Orientierungsregeln. So ist der Mythos ein Lebenselement der Zivilisation, nicht eine müßige Fabel. sondern eine solide. wirksame Kraft, weder intellektuelle Erklärung noch künstlerische Imagination. sondern eine pragmatische Charta des primitiven Glaubens und des moralischen Wissens",17 Die Themenvielfalt der Mythen ist außerordentlich groß. Fast alle Aspekte einer Religion. einer Gesellschaft verlangen nach Erklärung des Ursprungs. nach Beglaubigung. nach Rechtfertigung. nach einem Mythos. So gibt esAstralmythen. Schöpfungsmythen. Urstandmythen. Mythen von Kulturheroen und Heilbringem. Mythen vom Menschen (Entstehung. Geschlechtsleben. Geburt. Leben. Tod. leben nach dem Tod). Mythen von den elementaren Naturkräften. Mythen von den Ursprüngen der kulturellen Institulionen (Gesellschafts- und Wirtschaftsfonnen. Nutzpflanzen und Tiere. handwerklichen Tätigkeiten usw.). Ein weiterer Gedanke lässt sich anfügen: Die These vom engen Zusammenhang zwischen MYlhen und Riten bei Stammeskulturen war seit Ende des 19. Jh.. also seit vielen Jahrlehnlen. Allgemeingut der Religionswissenschaftler und -ethnologen. Mit viel Intensität und Phantasie versuchte man. dieses Beziehungsgeflecht zu erhellen und daraus einen theoretischen Rahmen zu gewinnen. Gegensätzliche Theorien waren das Ergebnis. Während eine Theorie in den Mythen eine Übersetzung von vorher existierenden Riten in Bilder und visionäre Geschichten sah oder davon überzeugt war. dass die Mythen aus Riten hervorgingen. sah eine andere Theorie die Riten als spätere Dramatisierungen von Mythen. Schließlich kann das Erzählen des Mythos selber zu einem Ritual. einer Kulthandlung werden. Dass also ein enger Zusammenhang zwischen Mythos und Kult gerade bei Stammeskulturen bestehl.läsSI sich kaum von der Hand weisen. Mit den Worten von A.E. Jensen: ..Die mythische Welt-Erkenntnis hat alle Lebensfonnen des Menschen emscheidend beeinflusst. Wir finden sie deshalb als wichtige geistige Grundlage nicht nur in den Kulten im engeren Sinn wieder. sondern auch viele andere Bereiche menschlicher Lebensgestaltung ... sind inhaltlich und fomlal von den mythischen Anschauungsformen her bestimmt". '! Und man argumentiert wohl zu Recht, dass für Menschen aus Stammesreligionen Tal und Wort eng zusammenhängen und dass im lebendigen Gefüge einer solchen Religion oft ein Mythos einem Ritus entspricht.
B. Malinowski. Die Rolle des Mythos im Leben. In: B. Malinowski. Schriften in vier Bänden. Bd. 4n: Schriften zur Anthropologie. 139-144. A. Jensen. Mythos und Kult bei Naturvölkern. Rcligionswissenschaflliche Belrachtungen. Wiesbaden 1951. 53. 11
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Ethos und Ahnenkult Sind für die Stammeskulturen Mythen heilige Worte, die das religiöse und gesellschaftliche Handeln ihrer Menschen bestimmen, also der Boden. in dem die Wertordnungen verwurzelt sind, so sind es oft Wort und Wille der Ahnen, in dem sich die Wcrtordnungen der Stammesgesellschaften konkretisieren. Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten in den Stammeskuhuren stößt man auf zwei Themenbereiche. die eng zusammenhängen und miteinander verbunden sind: das Menschenbild, das Verständnis von Person einerseits, die Ahnenverehrung, der Ahnenkult andererseits. Es geht hier um Denk- und Verhaltensweisen. die sich in vielen traditionellen Kulturen Afrikas. Asiens, Amerikas. Ozeaniens in der einen oder anderen Form finden; sie zeigen ein Grundmuster, das sich in europäischwestlichen Kulturen so nicht findet. Von Menschenbild und Personenverständnis wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Hier geht es um Ahnenverehrung und Ahnenkult, die fast einen universalen Hintergrund der Wertordnungen von Stammeskuhuren bilden. Am Beispiel der Bulsa soll dies erläutert werden. Die Gesellschaft der Bu!,tia in Nordghana ist patrilinear organisiert; die Verwandtschaft wird nach der väterlichen Linie gerechnet. die Verwandtschaftsgruppeo (Gehöft/Großfamilie. Lineage, Klan) sind exogam. Die Wohnordnung ist patrilokal: die Frauen ziehen bei der Heirat zurGruppe des Mannes. der verheiratete Sohn nimmt mit seiner Familie Wohnung beim Vater. Es handelt sich bei den Bulsa nicht um eine Ethnie oder einen Stamm im Sinne einer festen übergreifenden politischen Organisation unter der Oberherrschaft eines Häuptlings. Die Funktion eines Oberhäuptlings oder Paramount-Chiefs wurde erst zu Anfang des 20. Jh. von der britischen Kolonialmacht geschaffen. Der Gesellschaft der Bulsa ist eine solche Institution fremd. Überhaupt stellt diese Gesellschaft einen Zusammenschluss von einer Vielzahl von Verwandtschaftsgruppen dar. die wohl zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen RiChtungen in ihr heutiges Wohngebiet eingewandert sind. 19 Die Abstammungsgruppen Klan und Lineage sind in erster Linie Kultgemeinschaften. Sie respektieren gemeinsame "Totems", d.h. sie glauben sich und ihre Ahnen mit bestimmten Tieren besonders eng verbunden, doch einen eigenen Kult für solche Totemtiere gibt es nicht. Mit den Vorfahren sind die Bulsa durch Ahnenverehrung und Ahnenkult, durch Gebete und Opfer verbunden. Die verschiedenen Verwandtschaftsgruppen siedeln zusammen. Die Gehöfte werden zu Lineages, die Lineages zu einem Klan zusammengefasst. Das besiedelte und bebaute Land gehört der Verwandtschaftsgruppe, hier sind die Gräber und Altäre der Ahnen. hier sind die Lebenden und Verstorbenen der Gruppe lokal vereint. Das Gehöft der patrilinearen Großfamilie stellt die unterste Wirtschafts-, Sozial- und Ritual-einheit dar. Zur Großfamilie gehören der Gehöftherr mit seinen Frauen, seinen unverheirateten Schwestern und Töchtern, seinen jüngeren BrüR. Scholt. Aus Leben und Dichlung eines westafrikanischen Bauernvolkes. Opladen 1970,55. I.
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dem und seinen Söhnen mit deren Frauen und Kindern. Polygamie ist die soziale Norm,jedoch keineswegs die Regel der Praxis. Der Gehöftherr ist verantwortlich für das materielle Wohl und den sozialen Frieden in seinerGroßfamilie; er vollzieht die Opfer für die Ahnen des Gehöftes und für die Erde; wenn es fürirgendjemanden der Großfamilie notwendig wird (Unglück, Krankheit, Missgeschick), wendet er sich an den WahrsageT, um zu erfahren. welche übermenschliche Macht welche An Opfer von ihnen verlangt. damit die Situation bereinigt werden kann. Einige wichtigeelhische und religiöse Vorstellungen haben die Bulsa mit vielen anderen afrikanischen Völkern gemein: I) Der Wahrsager spiel! eine zentrale Rolle. Es ist nicht so sehr seine Aufgabe, die Wahrheit über bestimmte Dinge herauszufinden oder die Zukunft vorherzusagen; sondern er erforscht den Willen der Ahnen und der übermenschlichen Wesen, die für ihre "Dienste" von den Menschen Opfer verlangen; seine Aussage muss durch ein Opfer bestätigt werden, sonst gill sie nicht als glaubwürdig. 2) Es gilt in der sozialen, rechtlichen und religiösen Ordnung der Bulsa das wichtige Prinzip der Seniorität, das Prinzip der Allershierarchie. Mach!. Rechte und Pflichten sind nach dem Aller abgestuft, daher tragen die Älteren auch für die Jüngeren Verantwortung: die Ältesten sollten die Streitfalle schlichten: und die Ahnen ihrerseits sind die mächtigsten Ältesten. 3) Die Erde gill als die heilige Macht schlechthin, sie steht jenseits des Bereichs der Ahnen und Allen. Sie wird an besonderen Heiligtümern verehrt (Bäume, Aüsse, Felsen usw.). sie kann töten und ist damit die letztmögliche Sanktion für moralisch falsches Verhalten. Bei den Bulsa wie in großen Teilen Afrikas gilt die Erde vielfach als heilige Macht, die jeden verfolgt, der ihre Vorschriften verletzt; sie rächt jede Fonn von Blutvergießen, aber auch Z.B. Selbstmord, Diebstahl. Hexerei. Ehebruch, Inzest usw.. schließlich auch viele trivialere Vergehen. Die Erde nimmt niemanden auf, der ihre Gebote verletzt hat: solche Verstorbene können nicht begraben werden, sondern werden in den Busch geworfen. Oberster Priester der Erde, der Venniuler zwischen den Menschen und der Erde. ist der "Erdherr"': er entstammt meist der Gruppe, die am längsten in einem Gebiet wohnt, und er wird auch von späteren Zuwanderern geachtet und anerkannt. Bei den Bulsa heißt jedes Abweichen von den überlieferten Verhaltensnormen .. Verderben der Erde, das Land verderben". Die Autorität der Ällesten und des Erdherrn leitet sich von ihrem Recht auf religiöse Sanktionen ab, Sanktionen, die soweit gehen können, dass zur Strafe getötet wird. Das Land ist Kollektivbesitzder Gehöfte und Lineages: wer auf diesem Land bauen will, braucht dazu die Erlaubnis seines Erdherrn. Der Erdherr opfert vor Beginn der Pftanzzeit: er opfert der Erde immer. wenn böse Dinge geschehen sind, "um das Land abzukühlen". Den Willen des Erdherrn missachten. heißt den Zorn der Erde auf sich ziehen. Gegen Ende der jährlichen Trockenzeit kommen kleine Gruppen der benachbarten Tallensi zu den Bulsa. um dort Erdopfer darzubringen. Die Opfertiere werden von den Bulsa geliefert, Zweck dieser Opfer durch die Gäste aus Taleland ist
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die Bitte um Regen; einige Klansektionen der Bulsa haben keine eigenen Regenmacher und sind ganz auf die Opferdienste der Tallensi angewiesen. Die der Erde entgegengesetzte Macht. der Himmel (die Sonne, wen; es ist der gleiche Begriff. der für das Lebensprinzip der Bulsa gebraucht wird), ist in Glaube. Ritual und Alltag der Bulsa offensichtlich von geringerer Bedeutung. Die Bulsa glauben an einen otiosen "Hochgott",den sie lIawell nennen. Häuptling des Himmels. Er hat alles geschaffen und besitzt eigentlich die höchste Macht; doch er greift in die Alltagsgeschäfte der Menschen nicht ein, er hat sich von der Erde zurückgezogen. Die Bulsa zitieren gerne den Spruch: Nawen ale reng le maari ju! - Goll und die Erde mögen dir helfen! Für Schou liegen in dieser frommen Wunschfonnel. die mehr ist als eine obernächliche Redewendung, die religiösen Grundvorstellungen der Bulsa beschlossen. 20 wobei. wie ausgeführt. Gott von den Bulsa sehr viel weiter weg zu sein scheint als die Erde. Der Tod hat für die Bulsa wie für viele Stammesgesellschaften in und außerhalb Afrikas keinen absoluten Trennungscharakter. Das Leben geht weiter; es ist zwar nicht mehr menschliches Leben. es ist eher eine Überhöhung menschlichen Lebens. denn die Toten. die Ahnen sind mächtiger noch. als sie zu Lebzeiten waren. Der Tod ist nur ein Übergang in ein anderes, ncues Stadium der Existenz.. Die Toten- und Bestaltungsriten haben den Zweck. dem Verstorbenen den Weg ins Reich. ins Dorf der Ahnen zu ebnen. Die Ahnen sind und bleiben Mitglieder von Klan und Lineage. Sie spielen ihre Rolle vor allem dadurch, dass sie über das Tun und Verhalten der Menschen auf Erden wachen und aufpassen, dass die Traditionen eingehalten werden. Die Ahnen sind in den Augen der Bulsa auch die eigentlichen Eigentümer des Viehs in einem Gehöft; der Gehöftherr gill nur als Treuhänder, als Vertreter der Ahnen. Wenn mit Vieh leichtfertig umgegangen wird, wenn man es für überflüssige Luxusgüter z.B. verkauft, kann das den Zorn der Ahnen heraufbeschwören. der Mensch und Vieh im Gehöft treffen kann. Hinterlässt ein Mann bei seinem Tod seinen Brüdern und Söhnen Vieh. so sind diese zunächst verpflichtet, davon Ahnenopfer darzubringen; denn den Ahnen gehört der erste Anteil an diesem Vieh, erst später darf man an andere Zwecke denken. Vieh gilt in erster Linie als Opfergabe, und da alle Opfer für die Ahnen vom ranghöchsten Mann im Gehöft dargebracht werden müssen, ist er es, der de facto das übergeordnete Recht über alles Vieh in seinem Gehöft besitzt. Neben der "Erde" sind bei den Bulsa alsodie Ahnenjene. die über das Verhalten ihrer Leute urteilen und Sanktionen verhängen. Zunächst werden von den Ahnen die noch lebenden Ältesten für das rechtmäßige und ordentliche Verhalten ihrer Leute verantwortlich gemacht. Wer keinen guten Tod stirbt oder wer sich eines schweren Vergehens gegen die Solidarität der Gruppe schuldig gemacht hat (Unfallopfer, Selbstmörder, Diebe, Giftmischer, Ehebrecher. Hexen usw.), wird von den Ahnen nicht in ihr Land gelassen. Solche Tote irren als Geister auf der Erde 10
R. Schott, Aus
Leben,
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umher. bis sie irgendwie zugrunde gehen. Wer die Einheit des Klans. der Lineage, des Gehöftes in schwerer Weise stört. gefahrdet das Überleben der Gruppe. den Zusammenhalt der Gruppe. Er verletzt die Solidarität zwischen Lebenden und Toten. Jene. die in der Gruppe die Macht und Verantwortung tragen. die Ältesten und die Ahnen, sorgen dafür, dass die Übeltäter bestraft werden; nicht selten hat Strafe auch vorbeugenden und abschreckenden Charakter.
Die Verehrung der Ahnen gehört gleichzeitig zu den kulturellen Teilbereichen .,Religion" und "Gesellschaft", Wird der Aspekt der Religion betont (Riten. Abhängigkeit von ..übermenschlichen" Wesen), spricht man von Ahnenkult; steht der Aspekt der Gesellschaft im Vordergrund (Zugehörigkeit zur Lineage. Verantwortung für die Lineage. Garantie für die Aufrechterhaltung der Gruppenordnung), spricht man von Ahnenverehrung. J. F. Thiel definiert: .. Unter einem Ahn versteht man eine im Jenseits lebende Person der eigenen Verwandtschaftsgruppe. die bereits zu Lebzeiten einen hohen sozialen Status innehalte. der durch den rite de passage des Todes aber noch wesentlich erhöht wurde".21 Ahnenkult oder Ahnenverehrung kann verschiedene Formen annehmen. je nachdem von wem. von welcher Gruppe sie getragen wird: es gibt I) die persönliche Verehrung (eine einzelne Person). 2) Riten im Haus oder Gehöft (Kemfamilie oder Großfamilie). 3) Riten einer größeren Verwandtschaftsgruppe (Lineage. Klan). 4) jährlich wiederkehrende Riten am Todestag eines Ahn und schließlich 5) jährliche Riten für das Kollektiv der Ahnen. Gerade im Ahnenkult und in der Ahnenverehrung. die für viele afrikanischen Religionen und Kulluren charakteristisch sind. zeigt sich die Stellung. die die Alten in diesen Gesellschaften innehaben. Doch wir solhen nicht übersehen, dass dieses eine eher abstrakte Feststellung ist Die in politischer.juridischer, religiöser Hinsicht mächtige Position. die nach dem Senioritätsprinzip den Alten vorbehalten ist. bedeutet nicht. dass jeder alle Mensch eine solche Position erwerben kann. Das Aller ist für diese Rolle zwar unerlässliche Voraussetzung, aber nicht die einzige. Zum einen ist die zahl der Führungspositionen begrenzt; schließlich kann eine Familie nur ein Familienoberhaupt haben. ein Klan nur einen Chef oder Häuptling. Zum andem gilt auch die persönliche Eignung und Fähigkeit des Einzelnen als Auswahlkriterium. In Stammeskulturen sind also die Ahnen die Hüter der Tradition und damit die Garanten der Wertordnung. Sie sanktionieren das Verhalten ihrer Nachfahren, oft als verlängerter Arm höherer übennenschlicher Wesen und Mächte.
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F.J. Thie!. Religionslheologie, 138f.
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Ethos in seiner Kulturgebundenheit Werte. Nonnen, Verhallen eines Menschen richten sich aus nach seinem Menschenbild. das ihm von seiner Kultur vorgegeben ist. Was richtig und was falsch ist, was gut und was schlecht ist, was man tut und was man nicht tut, gehört zum Lernprogramm der Sozialisation, der Enkulturation, der Erziehung (bewusst und unbewusst), mitderman aufwächst. Es istdaherein groBer Unterschied, ob jemand in einer Kultur groß wird, in der das Individuum mit seinen Rechten und Pflichten im Vordergrund steht, wo also Individualwerte dominieren, oder ob jemand in einer Kultur zu Hause ist, wo der Mensch sich zuerst als Gemeinschaftswesen sieht und erfahrt. wo also Solidarwerte dominieren, wie das in vielen Stammes~ gesellschaften der Fall ist.
Zum afrikanischen Menschenbild Im traditionellen afrikanischen Kontext z.B.. wie übrigens auch in vielen anderen Teilen der nichtwestlichen Welt, definiert sich der Mensch nicht zuerst als lndivi~ duum sondern als Teil einer bestimmten Gruppe (meistens einer verwandtschaft~ lichcn Gruppe: einer Familic. einer Großfamilie, einer Lineage. eines Klans). Afrikanischcs Selbstverständnis ist also eher soziozentriert als individualzentriert. Sundenneier bemerkt zum Thema Individuum versus Gemeinschaft: "Für den Abendländer ist Leben Individualität. Lebewesen kennen wir in Gestalt von Indi~ viduuen, Entwicklung des Lebens wird als Einkehr zur Individualität verstanden. Gemeinschaft, Zusammensein mit anderen, ist sekundär".u Für das afrikanische Lebensverständnis gelte umgekehrt: ..Nur weil es die Gemeinschaft gibt. gibt es den Einzelnen .... DieGemeinschaft ist das Vorgegebene. Sieerstreckt sich zeitlich über den Horizont der Jetztzeit, rückwärts zu den Ahnen und vorwärts in Richtung auf die Nachkommen, auf die zukünftigen Geschlechter. Der Einzelne ist nur. insofern er Mitglied einer Gruppe ist." Oder wie es an anderer Stelle fonnuliert wurde: ..Menschsein gibt es nur als Familie". Zur Rolledes Individuums in afrikanischen Kulturen bemerkt Mbiti: ..Im Leben Afrikas kann der Einzelne nicht einfach für sich existieren, sondern nur als Glied derGemeinschaft .... Der Einzelne wird sich nur im Hinblick aufandere Menschen seiner Eigenart, seiner Pflichten, Vorrechte und Verantwortlichkeiten sich selbst und anderen gegenüber bewusst. ... Was immer dem Einzelnen widerfahrt, geht die ganze Gruppe an, und was der ganzen Gruppe widerfahrt, ist ebenso Sache des Einzelnen. Das Individuum kann nur sagen: ,Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich.' Dies ist der Kernpunkt in unserem Verständnis des afrikanischen Menschenbildes".23 Selbstverständlich kennt afrikanisches Denken auch das Individuum mit seiner ihm eigenen Personalität, seinen Eigenarten und Talenten, seinen persönlichen n T. Sundemleier, Nur gemeinsam können wir leben. Das Menschenbild schwanafrikanischer Religionen. Gütersloh 1988. 26. lJ J .M. Mbiti. Afrikanische Religion und Wellanschauung. Bedin 1974. 136.
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Bedürfnissen, Nölen und Ambitionen. Doch ist das Verhältnis Individuum-Gemeinschaft mindestens genau ausbalanciert, meistens jedoch mit einem leichten Übergewicht in Richtung Gruppe, Gesellschaft. Individualismus westlicher Tra· dition und Prägung ist unafrikanisch. Als Ideal afrikanischer Lebensweise könnte man also nennen: Die hannonische Integration des Individuums in seiner sozialen Umwelt. Am Beispiel des Stammes der Tallellsi möchte ich im folgenden Grundelemente eines Personenbegriffes und der daraus folgenden Verhaltensweisen in einer weslafrikanischen Kultur darslellen. 24 Die Tallensi. ca. 40.000 Leute. wohnen in Nordghana; wie die benachbarten und verwandlen Bulsa gehören sie zur Gur· sprachigen Gruppe der Obervolta-Völker. Ihr Lebensraum ist die parkähnliche Savanne der Sudanzone mit ausgeprägter Trocken- und Regenzeit. Sie betreiben Feldbau (Hirse- und Bohnenanen, Erdnüsse. andere Gemüsepflanzen) und Viehund Geflügelhallung (Schafe, Ziegen. Hühner). Die Gesellschaft der Tallensi ist patrilinear organisien. d.h. die Verwandtschaft wird nach der väterlichen Linie gerechnet; die Verwandtschaftsgruppen (Gehöft/Großfamil ie. Lineage, Klan) sind cxogam, innerhalb dieser Gruppen wird nicht geheiratet; die Heirat öffnet also die Gruppe nach außen. Die Wohnordnung der Jungverheiralctcn ist patrilokal, d.h. die Frauen ziehen bei der Heirat zur Gruppe des Mannes, der verheiratete Sohn nimmt mit seiner Familie Wohnung beim Vater. Bei den Tallensi gibt es eine Grundpolarität zwischen persönlichem Geschick, Schicksal. Bestimmung einerseits und sozialer Identität, sozialer Rolle andererseits. Das persönliche Geschick ist bereits vor der Gebun bestimmt, es gibt einem Menschen die unverwechselbare Individualität, die sich im Laufe des Lebens erst voll entfaltet. Was eine Person ausmacht, ist im wesentlichen fremdbestimmt: Sein Geschick ist ihm vorgegeben. seine Position in der Gesellschaft ist durch Tradition und Kultur genau definien. Die Gesellschaft macht einen Menschen zur Person. Doch Person ist ein dynamischer Begriff. Man wird nicht als solche geboren, man wird zu einer Person. Es handelt sich also um einen Prozess, um Personwerden. üb jemand eine Person war, ein vollweniger Mensch, kann man erst entscheiden, wenn er gestorben ist. Gebun und Tod sind der notwendige Rahmen. Voraussetzung für dieses Personwerden ist zunächst, dass der Mensch in einer normalen Geburt zur Welt kommt: es muss eine Einzelgebun sein (d.h. es darf z.B. keine Zwillingsgebun sein), das Kind muss gesund sein und in eine legale Familie. d.h. eine Großfamilie, eine Lineage (Sippe), einen Klan hineingeboren werden. Dem Kind wird eine festumschriebene Position zugeteilt. Nur so hat es die Chance. zur Person zu werden, als Individuum eine soziale Rolle einzunehmen, den Platz einzunehmen, der ihm kulturell vorgegeben ist. Das Ideal einer vollwenigen Person ist in der patrilinearen Gesellschaft der Tallensi ein älterer erwachsener Mann. der dem Alter und der Position nach an der l'lch SIÜlze mich dabei vor allem aufM. Fones. aufden wichtigslen Elhnographen dieses Volkes (Religion, Morality. and the Person. Cambridge 1987,247-286).
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Spitze seiner Lineage steht. männliche Nachkommen hat und einen nonnalen Tod stirbt. somit zum Ahnen werden kann. Denn der Tod entscheidet letztlich. ob einer eine Person war. Ein guter Tod beweist. dass jemand sich voll zur Person entwickelt hat, zur vollen juridischen und rituellen Autonomie gekommen ist. Dieser Tote erhält die ihm zustehende Beerdigung mit ihren Feierlichkeiten. die ihm den Weg zum Reich der Ahnen öffnet. Wer eines schlechten Todes stirbt (Unfalltod, Ertrinken. Selbstmord LB.) kann nicht Ahne werden. Er wird vergessen. er ist endgültig tot. Nach der Philosophie der Tallensi kann also erst im Nachhinein entschieden werden. wer eine richtige. eine volle Person war: Ein Mensch. nonnal und gesund geboren. legitimes Mitglied einer sozialen Gruppe, der seine gesellschaftliche Rolle verantwortungsvoll ausübt, männliche Nachkommen hat. zur vollen juridischen und rituellen Autonomie kommt. einen guten Tod hat und Ahn wird. Die Spannung zwischen I.ndividuum und seiner sozialen Identität wird durch die heiden Namen ausgedrückt. die ein Tallensi erhält: Der erste. öffentliche Name benennt seinen Ort und Platz in der Gruppe. er identifiziert ihn als Mitglied einer Familie; der zweite Name ist privat.er ist nicht öffentlich bekannt; um ihn weiß nur er selber. er und seine engstc Familie; dieser verbindct ihn mit einem persönlichen Schutzahnen. cr macht ihn zu einem eigenen. unverwechselbaren Individuum. Die Individualität eines Menschen wird auch ausgedruckt durch die ihm eigenen persönlichen Tabus und rituellen Besonderheiten. die jemand beachten muss; auch sie stehen in Beziehung zum persönlichen Ahnen eines Menschen. Die patrilineare, patriarchalische. männerdominierte Gesellschaftsordnung der Tallensi wird z.T. ausbalanciert durch eine parallele matrilineare Struktur, die die Kinder auch an die Mutter und ihre Lineage bindet. Während in der patrilinearen Struktur Autorität, Fonnalität. Pflichten und Rechte das kennzeichnende Merkmal sind. bedeutet das matrilineare Prinzip. die Beziehung zur mütterlichen Linie. zu der Verwandtschaftsgruppe der Mutter, eine Betonung der affektiven Werte: hier geht es um rein zwischenmenschliche Werte, wie Zuneigung. Freundschaft, Liebe. Vertrauen (all das ohne den strengen juridischen und rituellen Rahmen der patriarchalen Familie). Man sieht. welche Stellung eine solche Lebensanschauung dem Alter, den Alten zuerkennt. Das Leben entfaltet sich von der Jugend zum Alter hin. Das Leben nimmt an Fülle zu. es wächst zum Alter hin. Ein Kind. ein junger Mensch ist keine volle Person; das kann nur ein alter Mensch sein. Diese Sicht des Lebens hängt eng zusammen mit der Lebensweise in einer solchen Kultur. Im Beispiel der Tallensi ist dies eine Pflanzer-, eine Bauemkultur. Die Felder, das Ackerland. also die materielle Grundlage des Lebens. liegen nicht in der Hand von Individuen. Das Land gehört der ganzen Gruppe (dem Gehöft, der Lineage oder dem Klan), zu der die Lebenden und die Ahnen gehören. Die Entseheidungsträger dieser Gruppe sind die Alten. Sie sind die eigendichen Träger der wirtschaftlichen und der religiösen Macht. Denn sie vertreten die Ahnen und die Verstorbenen. sie stehen am Schnittpunkt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Ahnen. Sie geben den Willen der Ahnen an die Lebenden weiter.
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Ein weiteres Element. das für die hohe Bewertung des Alters in traditionellen afrikanischen Gesellschaften wie derTallensi große Bedeutung hat. ist die Schrift· losigkeit dieser Kulturen. Wissen ist Macht. Und wo Wissen nicht in schriftlicher Fann gespeichert werden kann. kommt dem Gedächtnis und dem gesprochenen Wort große Macht zu. Bei den Alten sammelt sich also über die Jahre der Schatz des Wissens eines Volkes. Die Alten wissen, wie es früher war. wie es heule sein sollte. So werden die Alten zu Garanten und Kontrolleuren ihrer Tradition. Und was im modemen Europa etwa durch die Schule vennittelt wird. wird in traditionellen afrikanischen Stammeskuhuren von der Generation der Großeltern übernommen. Die Großeltern kümmern sich um die Enkelkinder. Damit wäre wenigstens auch der emotionelle Faktor noch einmal kurz angedeutet. der selbst· verständlich auch fürafrikanische Kuhuren von großer Bedeutung ist Und er wirkt sich für Frauen anders aus als für Männer. Es ist eine universale Erscheinung. etwas was für alle Kulturen der Welt zu gelten scheint. dass zwischen Müttern und Kindern. zwischen Großmüttern und Enkelkindern. enge persönliche Bindungen wachsen. die auch im Alter tragen.
Zum Ehe\'erstli"d"is i" StammeskIllture" Die Diskussion des Begriffs der Person. des Menschenbildes. im afrikanischen Kontext erweist die Kulturgebundenheit menschlichen Verhaltens. Die Ethik einer Kultur, die gemeinschaftszentriert ist. die altershierarchisch strukturiert ist. wie es viele Kulturen außerhalb Europas sind, gerade auch die Stammeskultu.ren. entwickelt andere Vemahensnormen als die Ethik einer Kultur. die individualistisch und leistungsorientiert ist. wie es cum grano salis von den sogenannten modemen westlichen Kuhuren behauptet werden kann. Am Beispiel der Heirat. der Eheschließung (in Afrika und in lndonesien) soll dies erläutert und diskutiert werden. Zum afrikanischen Eheverständnis und zur Heirat im afrikanischen Kontext schreibt Benezet Bujo: ..In [der afrikanischen) Gemeinschaft spielen Ehe und Fortpflanzung eine entscheidende Rolle .... Wer kinderlos stirbt. gerät bald in Vergessenheit und schadet gewollt oder ungewollt der Sippengemeinschaft. Ge· rade hierin muss der Hauptgrund für die afrikanische Erappe,,·EIle [Probe·Ehe! gesehen werden. Nach der herkömmlichen westlich geprägten Moral wird die Ehe als Vertrag verstanden (durch den sich zwei rechtsfahigen Personen verschiedenen Geschlechts das Recht aufeinander unwiderruflich übertragen]. Wird die Ehe aber so definiert, dann kann sie nur punktuell geschlossen werden. Genau diese Auffassung ist dem afrikanischen Eheverständnis fremd. In der Tat: Ehe ist kein Vertrag. der gesetzlich festgelegt werden kann. sondern sie ist ein dynamischer Prozess. der ein Leben lang dauert". l l
Z!
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B. Bujo. Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik.
Stimm~n d~r
bit 207.1989.591-606.
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Westliche. europäische. christliche Ehevorstellung sieht Ehe als Vertrag zwisehen zwei Partnern. Wieein Vertrag zu einem genau feslgelegten. fixen Zeitpunkt in Kraft lrilt. so auch die Ehe. Dem wird das afrikanische Eheverständnis gegenüber gestellt Bujo spricht von der Ehe. die sich in Etappen, in SlUfen entwickelt, also ein andauernder Prozess iSl-ein erstes Elemenl, das die heiden Auffassungen von Ehe unlerscheidet. Ein zweites unterscheidendes Element. einen zweiten wichtigen Aspekt nennt Bujo an anderer Stelle~: ..Ist die Ehe im Westen eine individuelle Angelegenheit die allein die beiden Partner betrifft. so ist das afrikanische Modell hauptsächlich gemeinschaftsbezogen. Die Ehe ist dort nämlich kein Vertrag zwischen zwei Partnern. sondern sie ist ein Bund zwischen zwei Gemeinschaften. die beiderseits sowohl die diesseitige als auch die jenseitige Gemeinschaft umfassen. Die Ehe iSl zum Überleben der ganzen Familie bestimmt. ... Wer heiratet, muss also wissen. dass er/sie nicht nur sich selbst gehört, sondern der Sippengemeinschaft. ... Folglich wird die Ehe nicht einzig durch den Konsens der heiden Betroffenen gültig. sondern sie wird erSl durch eine gemeinsame Versländigung mit der Sippcngcmeinschaft cinschließlich dcr Ahnen möglich." Ehe ist im afrikanischen Kontext also wesentlich gemeinschaftsbezogen. eineAngelegenheit die nicht nur Braut und Bräutigam angeht sondern auch und vor allem die beiden betroffenen Familien oder Verwandtschaftsgruppen. Fruchtbarkeit. Kinder. Nachkommen sind selbstverständlich auch ein Ziel afrikanischer Ehe. denn ohne sie überlebt die Familie. der Klan. das Volk nicht. Ein weiteres. wichliges Merkmal. ein driues Elemenl also. afrikanischer Ehe sind daher MUlter.;chaft und VateßChaft...Die Fruchlbarkeitsidee spielt eine grundsätzliche Rolle. Abgesehen von sozioökonomischen MOliven. die ein unfruchtbares Ehebündnis als untauglich erscheinen lassen müssen. sind die liefer gehenden Gründe religiöser Natur. Der Afrikaner überlebl nämlich in seiner Nachkommenschaft. die sein Gedächtnis lebendig bewahrt und der kommenden Generation weitertradiert. Die Nachkommen pflegen Gemeinschaft mit ihm über das Grab hinaus und sorgen durch Gebete und Opfer fur das jenseilige GIÜck".27 Eine Ehe gilt oft erst dann als dauerhaft geschlossen, wenn sich Nachwuchs einstellt. Doch das physische und kuhurelle Überleben des Individuums wie der Gruppe braucht entsprechende Rahmenbedingungen. Und eine wichtige Bedingung ist eben das Bündnis zwischen unterschiedlichen Verwandlschaftsgruppen bei und durch die Ehe. Der eben geschilderten afrikanischen Auffassung von Ehe entspriCht in vielen Punkten das Eheverständnis in der Kullurder Ren/bang in der Manggarai in WeslFlores. Indonesien. Im folgenden wird dieses indonesische Eheverständnis kurz
lJIo
B. Bujo. Afrikanische Anfragen an das europäische Menschenrcchßdcnken. In: J. Hoffmann
(Hg.). Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unlCrschicdlicher Kullurcn. 211-224. Frank· fun 1991.221. n B. Bujo. EhefFamilie. 11. In afrikanischen Slammesreligioocn. In: H. Waldcnfels (Hg.). Le· xikon der Religionen. 128-129. Frciburg 1987. 128.
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vorgestellt; es wird zudem der Konflikt mit der katholischen Mission in diesem Punkt gezeigt und der Versuch. ihn zu übervtinden. 21
Zum Thema Gemeinschaftsbezogenheit und Prozesshaftigkeit der Ehe heißt: ,,Jede Heirat ist ein Vorgang. der alle Mitglieder der betroffenen Familen berührt. währenddieGeflihJe und Wünsche von Braut und Bräutigam praktisch keine Rolle spielen. Bis heute gilt bei den Rembong der Grundsatz. dass bei einer Eheschlie· ßung ideologische. soziale. ökonomische und politische Aspekte absoluten Vorrang haben vor den Interessen der Brautleute." Der Eheabschluss sei ein Prozess. der sich über Jahre hinziehe...Ein Paar wird sozusagen schrittweise verheiratet. es gibt verschiedene. aufeinander folgende Stufen des Verheiratetseins. Die Verbindung wird schrittweise fester und gewinnt an Unauflöslichkeit". 29 Wie in Afrika stoßen auch hier zwei unterschiedliche Eheauffassungen zusammen, die unvereinbar zu sein scheinen: die einheimische. indonesische und die katholisch-kirchliche, westl iche: t) Auf der einen Seite sind die beteiligten Familien die Konsenspartner - auf der anderen Seite sind es die Brautleute. 2) Auf der einen Seite ist die Ehe erfüllt und erreicht den Status der Unauflöslichkeit. wenn nach einer Reihe von Jahren und nach zahlreichen Riten das Paar die volle Erwachsenenreife erreicht hat und seine Fruchtbarkeit erwiesen hat. - Auf der anderen Seite ist die Ehe gültig und unauflöslich abgeschlossen. wenn das Brautpaar vor dem Priester den Konsens erklärt hat. Wie lässt sich dieser Zwiespalt bei den katholischen Rembong lösen? Antwort: ..Praktiziert wird ein Kompromiss.. Dorf-Ehe· genannt. Danach lebt das junge Paar zusammen, üblicherweise im Elternhaus der Braut, ohne dass die beiden .wirklich' [d.h. kirchlich I verheiratet sind. Erst dann. wenn der Brautpreis in voller Höhe bezahlt ist. darf die kirchliche Trauung erfolgen. Bis zu diesem Zeitpunkt können Jahre vergehen. so dass im Nonnalfall schon mehrere Kinder an der Trauung der eigenen Eltern teilnehmen". lO Die beiden unterschiedlichen Auffassungen bleiben letzten Endes nebeneinander stehen. Die katholische Kirche hält daran fest. dass erst mit der kirchlichen Trauung die Ehe beginnt und damit der Geschlechtsverkehr erlaubt ist: sie besteht zudem darauf, den Konsens der Eheleute zu erfragen. Die IraditioneUeAuffassung andererseits setzt sich aber letztlich im praktischen Leben, im Alltag durch: Die Ehe wächst langsam heran. begleitet von vielen traditionellen Riten: das Interesse der beteiliglen Familien kommt vor dem privaten Interesse der BrautJeute: das Zusammenleben der Brautleute seit Beginn des Eheprozesses hat für die Tradition der Rembong mit Sünde nicht das Geringste zu lun.
ZI Ich SIÜtze mich dabei auf einen Aufsal2 von M. Erb (1991) und seine deutsche Kurzversion, In: M. EroID. Hieb. Verheiratet - und doch Min Sünde lebend", Christliche Moral und tradilionelles Recht bei den Rembong auf Aares. Sl~'/ korrespondenz 19/41. 1991. 3--6. :. M. EroID. Hieks. Verheiratet. 3-4. :JO M. EroID. Hieb. Verheiratet. S.
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Schlussbemerkungen Das Ethos der Stammeskulturen konme hier natürlich nicht in allen Aspekten und Fomlen vorgestellt werden. Dazu ist die Wirklichkeit der Stammeskulturen zu disparat und variantenreich. Zu unterschiedlich sind die Ausprägungen und Ausformungcn von Lebens· und Denkweise. von Religionen und Verhaltensweisen solcher Völker. Vieles musste also zu kurz kommen oder ausgespart werden, etwa Bereiche wie Ethos und Magie. Schamanismus. Nur angedeutet wurde. dass gerade die meisten Stammeskulturen sich. vor allem seit dem Einbruch der Kolonialzeit. in einem rabiaten Kulturwandel befinden. der nicht zuletzt auch die traditionellen Wertordnungen in ihren Grundfesten erschüttert. Doch die Begegnung der Kulturen, forciert von den modemen Kommunikationsmöglichkeiten. muss nicht notwendig zum unabwendbaren Untergang traditioneller Grundwerte führen. Die Lebenskraft und Dynamik der Kulturen. ihre Fähigkeit. auch in den Verhaltensweisen und ihren Maßstäben Synkretismen mannigfaltiger Art herauszubilden. sollte nicht unterschätzi werden.
Indis Heike Michael-Murmann
Ethik im abendländischen und indischen Kontext Der Begriff Echik ist von dem griechischen Wort i/hos abgeleitet. das zunächst GewoJlIlheil, Brauch, Siue und dann Charakrer, Denkweise. SinnesarI bedeuten kann. Als Untcrdisziplin der Philosophie befasst sich die Ethik im Kern mit der Frage. inwiefern sich das Handeln des Menschen mit festgelegten sittlichen Prinzipien in Einklang befindet. inwieweit sein Tun. gemessen an einer zuvor bestimmten Wertorientierung. gerechtfertigt ist. Aufgabe der Elhik ist es, allgemein verbind· liehe Normen zu entwickeln. an denen das menschliche Handeln ausgerichtet sein muss, wenn es als moralisch korrekt gelten will; ein Handeln hingegen. das diese Nonnen nicht befolgt, ist als unmoralisch zu verurteilen und in geeignetem Umfang zu sanktionieren. Notwendigerweise fragt die Ethik nach dem richtigen Leben einer jeden Einzelperson wie auch der Gesellschaft als ganzer. nach dem in moralischer Hinsicht guten Leben des Menschen und den Grundsätzen für ein gutes Sozial leben der menschlichen Gemeinschaft. Nicht zwangsläufig aber besitzen die ethischen Normen. die zu befolgen uns selbstverständlich erscheint. universalen Charakter. Vielmehr können andere. vom abendländisch-christlichen Kulturkreis verschiedene Gesellschaften über eigenständige und damit von den unseren abweichende Vorstellungen von Moral und Rechtschaffenheit verfugen. über ihren je eigenen Satz an Richtschnüren und Maßstäben. an denen der Einzelne sein Leben auszurichten hat. will er sich in Einklang mit seiner Gemeinschaft befinden. Im Folgenden werden jene ethischen Konzepte näher betrachtet, die fUrdie auf dem indischen Subkontinent beheimateten Religionen des Hinduismus und des Jainismus als verbindlich gelten. Freilich sind dies nicht alle Religionen. die in Indien vorzufinden sind. Zu nennen sind neben dem Islam. dessen Anhänger eine starke Minderheit bilden. Sikhismus. Zoroastrismus. Christentum und Judentum,
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schließlich der Buddhismus. der seinen Ursprung in Indien hat. dort aber weilgehend verschwunden ist. Da diese aber bereits in eigenen Kapiteln behandeh werden. sollen sie hier in Bezug auf Indien unberücksichtigt bleiben.
Grundlagen indischen Denkens Zu Beginn sind einige Begriffe zu klären. dje für das Verständnis indischer Religionen unerlässlich sind. Was heutzutage mit dem Begriff.. Hinduismus" bezeichnet wird. umfasst eine Vielzahl von religiösen Lehren. Gemeinschaften und Prakti. ken. Die Bandbreite reicht vom Monotheismus, wie man ihn im Vi:glUismus oder Sivaismus findet. bis hin zu Stammesriten. wie sie bei den Ureinwohnern (Adivtlsl) bis heute praktiziert werden. Ursprünglich ist Hindu ein geographischer Name für Indien, abgeleitet von dem Fluss Indus. Nach der muslim ischen Invasion etwa 1000 n.Chr. waren Hindus all jene, die sich nicht Muslime nannten und deshalb eine eigene Kopfsteuer zahlen mussten, von der die Muslime befreit waren. Erst die britischen Kolonialherren wandten im 19. Jh. den Begriff Hinduismus auf alle religiösen Gruppen und Praktiken an, die sie in Indien vorfanden und nicht anderweitig z.B. als Islam identifizieren konnten. Dass es sich hierbei teils um eigenständige Religionen handelte, k.am ihnen angesichts des friedlichen Zusam· menlebens ihrer Anhänger nicht in den Sinn. Trotz der heterogenen Struktur dessen, was wir heute als Hinduismus bezeichnen, lassen sich einige Grundzüge ausmachen. die von den meisten akzeptiert werden. Dazu gehört die Lehre vom Kanna. der Glaube an die Wiedergeburt und die Anerkennung des Veda als höchste Autorität.
Karma lind Wiedergebllrt Die Grundannahme besteht darin. dass mit dem Tode nicht alles endet. sondern ein neues Leben. eine neue Wiedergebult folgt. Somit durchläuftjedereine unendliche Zahl von Existenzen. Die Qualität einer neuen Ellistenz wird dabei durch die Taten (karma) bestimmt. Jede Handlung erzeugt materielle Spuren. die sich im Armal/ festsetzen. Atman wird oft mit "Seele" wiedergegeben, was die Bedeutung des Begriffes jedoch nicht ganz trifft. Es handelt sich dabei vielmehr um das Selbst, den Kern des Menschen. der Träger der Individualität ist und als Subjekt von Sinneswahrnehmungen fungiert. Jegliche Regung des Atman ist bereits als Tat zu werten. Gute Taten führen dabei zu einer guten Existenz. schlechte Taten zu einer schlechten. Dieses Prinzip der Tatvergehung dient als schlüssige Erk.lärung für das unterschiedliche Schicksal. dem die Menschen unterworfen sind. Gleichzeitig bietet es ein System, das jedem Einzelnen erlaubt, Einfluss auf seine nächste Ellistenz durch den Erwerb guten Karmas zu nehmen. Dabei gibt es flinf Lebensbereiche. in die man hineingeboren werden kann: als Gott im Himmel, als Gandharva oder Apsaras (himmlische Musikanten und Nymphen) im Luftraum, als Mensch oderlier auf der Erde. als Dämon in der Unterwelt oder als Foltelteufel und Gequälter in der Hölle. In jedem dieser Lebensbereiche
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verweilt man so lange. bis das angesammelte Kanna verbraucht ist, dann folgt wieder eine neue Existenz. ErlösungsHihig ist daher nur der Mensch und unter diesen besonders der Brahmane. Selbst eine Wiedergeburt als Gott ist nicht hilfreich, da die Götter so von den himmlischen Freuden geblendet sind, dass sie keine Einsicht in die Notwendigkeit der Erlösung haben, einzig der Mensch hat die Fähigkeit dazu. Diese Lehre impliziert ein dualistisches Menschenbild. Der Mensch besteht aus einem grobstofflichen Körper und dem feinstofflichen Ätman. Dieser ist der Träger des Kamms, ewig und unveränderlich. Die Erlösung besteht darin, aus dem Wiedergeburtskreislauf (safTJSc7ra), der als leidhaft empfunden wird, auszubrechen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sämtliches Karma aufgebraucht ist und in der gegenwärtigen Existenz kein neues mehr angesammelt wird. Gemäß der angenommenen Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos wird der Ätman als Individualseele mit dem Brahman, der Universalseele, identifiziert. Alles ist in Wahrheit eins. Die Erkenntnis dieser Einheit führt zur Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Das Bemühen eines Hindu besteht vor allem darin. über seine eigene Person hinauszugehen und seine Identität mit der höchsten Realität zu erkennen. Eine ethische Lebensführung steht aber nur am Anfang dieser Bemühung und bildet die Voraussetzung für den weiteren Weg. Der Veda Der Veda (Wissen) bezeichnet die älteste Literatur Indiens. Träger der vedischen Kultur waren die Indoarier, die sich ab 1750 v.ehr. vom Nordwesten aus in Indien ansiedelten. Der Veda umfasst vier Teile. die alles enthalten, was für das vedische Opfer notwendig ist. I. ~gveda: Dies ist der älteste Teil der vedischen Literatur und enthält in zehn Zyklen vomehmlich Preislieder auf die Götter. die zum Opfer geladen sind. 2. Sa.maveda: Dieser enthält die Verse. die der Vorsänger während des Opfers rezitiert. 3. Yajurveda: Hier finden sich die Opfersprüche, die die einzelnen Opferhandlungen begleiten. 4. Atharvaveda: Dieser besteht aus einer Sammlung metrischer Zaubersprüche.
An diese vierTeile schließen sich späterhin die Brahmanas, ÄraQyakas (Waidtexte) und Upani~aden an. Der Veda gilt als Offenbarung (srIlri) und hat als solche höchste Autorität. Was immerder Veda vorschreibt, ist füreinen Hindu daher ohne Einschränkung zu befolgen.
Der Dharmabegriff Sucht man in der indischen Kultur nach einem Ausdruck fur Ethik. so stößt man schnell auf den Begriff dharma. der in hinduistischem Kontext die Grundlagen ethischen Verhaltens bezeichnet. Doch sein Bedeutungsspektrum umfasst weit
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mehr als unser Wort Ethik. Von der Wurzel dhr(tragen) stammend bezeichnet er das Tragende, die Ordnung im. vor und nach dem Vollzug.' Ursprünglich kommt Dhanna aus dem Bereich des vedischen Opferrituals und steht ruf alle Regeln und Vorschriften. deren korrekte Ausführung die Wirksamkeit eines Opfers garantiert. Der Dhanna vor dem Vollzug sind die Regeln und Vorschriften, im Vollzug ~zeichnet er die ausgeführte Handlung und nach dem Vollzug ist darunter die Wirkung zu verstehen. die ein mit dhormll (= dharmagemäß) oder adharma (nicht dem Dhanna entsprechend) zu beurteilendes Verhalten auf die Dauer hat. Makrokosmisch steht Dharma ftjrdie Grundlage der Welt. ftirdas. was alle Abläufe steuert und allen Vorgängen zugrundeliegt, einschließlich der Naturgesetze. So ist es der Dharma der Sonne. jeden Morgen aufzugehen und der Dharma des Mondes, stets ab· und wieder zuzunehmen. Der Dharma ist als solches allumfas· send. unabänderlich und nicht in Frage zu stellen. Dieses Verständnis von dharma liegt auch zugrunde. wenn ein Hindu seine Religion als SWIOIWI(l dharma (den ewigen Dharma) bezeichnet. Dieser universale Dharma hat mikrokosmisch sein Gegenslück im Svadharma, dcm individuellen Dharma. Dieser weist jedem Ding und jedem Wesen innerhalb der Welt seinen Ort und seine Aufgabe zu. Eine genaue Befolgung des Svadharma hat positive Auswirkungen auf den universalen Dharma. Der Svadhanna ist je nach Aller. Geschlecht. Herkunft oder Beruf unterschiedlich und ändert sich im Laufe eines Lebens. Damit beinhaltet er fUr jeden etwas anderes. Seinen Svadharma gewissenhaft zu erfüllen ist je· doch kein Selbstzweck, sondern heilvoll und bringt religiöses Verdienst. Dies gilt jedoch nur. wenn die Erflillung des Dharmas nicht aus eigennützigen Motiven geschieht. So schreibt Kumärila. ein Systematiker des 8. Jh. n.ehr.: ..Wenn gute Menschen etwas nach bestimmten Regeln ausfUhren. ohne dass dabei ein Motiv oder Handlungsziel im Bereich des Wahrnehmbaren vorliegt. so muss man es als dharma verstehen. "2 Im älleren Hinduismus besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Dhar· ma und Schicksal. Das Schicksal (daiva) kommt von den Göllern (deva). die ihrerseits wiederum auch einen Svadharma haben, dem sie unterworfen sind. Verstoßen die Gölter gegen ihren Svadharma, indem sie einem Menschen ein ungerechtes Schicksal auferlegen. hat er die Möglichkeit. sich z.B. durch überge· naue Erfüllungen seines Svadharma dagegen zu wehren. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Geschichte der Königstochter Savitrf. die aufgrund ihrer Askese den TOlengott dazu bringt. ihr ihren Mann wiederzugeben: Als sie den Prinzen Satyavan heiraten will, wird ihr vom Götterboten Narada verkündet. der einzige Fehler an dieser Verbindung sei der. dass Satyav:ln in genau einem Jahr sterben werde. Dies erzeugt einen Dhannakonflikt. da S:lvitJ1 als Witwe nicht mehr ihren Dharma als Frau. nämlich Ehefrau und Mutter zu sein. erfullen kann. Ebenso 1
P. Haclr.:er. Dhanna im Hinduismus. In: Kleine Schriften Paul Hader. hrsg. von Lamben
Schmithausen. Wiesbaden 1978.496-.509.506. I Kuma:rila. Tanlravllrttilr.:a. Übersetzung nach P. Hack.er. Dharma. 500.
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ist es nicht die Schuld Satyaväns, dass er so früh sterben muss, sondern ein ihm vom Todesgott Yama ungerechtfertigter Weise auferlegtes Schicksal. Um diesem zu begegnen, übt SävitrT von dem Tage ihrer Hochzeit an Askese: Sie legt allen Schmuck ab und widmet sich asketischen Übungen. Diese sind nicht Teil ihres Svadharma, sondern werden von ihr freiwillig auf sich genommen. Kurz vor dem Todestag Satyavans legt sie ein Gelübde ab, drei Tage lang nur zu stehen und fastet in dieser Zeit. Obwohl sie dadurch stark geschwächt ist. besteht sie darauf, ihren Mann in den Wald zu begleiten, wo er Holz für das Feueropfer schlagen will. Dabei überanstrengt er sich und stirbt. Als der Totengott kommt, um Satyavan ins Totenreich zu führen, folgt SavitrT ihm. Es gelingt ihr durch die Macht der Askese, ihm einen Wunsch abzutrotzen. den er ihr erfüllen muss. Sie wählt das Leben ihres Mannes. Darauf erwacht ihr Mann wie aus einem Schlaf und kehrt mit ihr zusammen wieder nach Hause zurück. Der Dharma erweist sich hier als das neutrale Prinzip. das über den Menschen und sogar über den Göttern steht. Nutzt der Mensch seine Leidensfahigkeit, so kann er es selbst mit den Göttern aufnehmen. In späterer Zeit nimmt der Gegensatz zwischen dharma und adharma an Bedeutung zu. Dabei ist dharma das Verhalten, das in Einklang mit dem persönlichen und universalen Dharma steht, adharma ein solches, welches diesem zuwiderhandelt. In diesem Zusammenhang steht Dharma für das höchste Rechtsprinzip und findet ebenfalls Eingang in die Rechtssprechung.
Quellen des Dharma Die erste und früheste Quelle für den Dharnla ist der Veda, der von den Hindus als heiliger Text und höchste Autorität akzeptiert wird. Direkt mit dem Dharma beschäftigen sich DharmasDtras und Dhannasastras. Dabei gehören die DharmasDtras (Leitfaden des Dharma) streng genommen noch zur späten vedischen Literatur und damit eigentlich zur Offenbarung (Smti), wäh· rend die Dharmasästras (Lehrbücher des Dharma) zur Überlieferung (sm(fi) gezählt werden. Einige Werke dieser Kategorie tragen die Bezeichnung sm(fi sogar im Namen. Auch stilistisch unterscheiden sie sich voneinander. Die DhannasDtras bestehen aus kurzen, aphoristischen Lehrsätzen, die meistens nicht ohne die Erläuterung eines Lehrers verständlich sind - ein typisches Merkmal der SDtraliteratur (mit Ausnahme der buddhistischen Werke). Der älteste Text dieser Gattung stammt etwa von 500 v.ehr. Die Dharmasästras dagegen sind metrisch abgefasst und weisen Übereinstimmungen mit dem groBen indischen Epos Maha.bharata auf. Eines der bekanntesten ist die Manusmpi (Überlieferung des Manu) und ist zwischen 200 v.Chr. und 200 n.Chr. entstanden. Die Dharmalehrbücher enthalten eine Fülle von Geboten und Verboten, die alle Bereiche des Lebens regeln. Dabei wird nach Stand (varpa) und Lebensabschnitt (asrama) unterschieden. Sie behandeln daher eigentlich den Svadharma, den individuellen Dharma, nicht den universalen Dharma. Obwohl oft der Begriff Rechtsliteratur auf die Dharmawerke im Allgemeinen angewendet wird. ist dies
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sachlich nicht ganz richtig, denn das, was wir unter Recht verstehen, ist in indischem Kontext Teil des Dhanna des Königs (rOjadharma). Neben den heiden schriftlichen Quellen gibt es noch eine drille Instanz, die als Quelledes Dharmagilt. nämlich der Brauch derGuten: "Was die Ärya loben, wenn es getan wird, das ist Dhanna; was sie tadeln, das ist Adharrna."3 Dabei sind mit Ärya die Angehörigen der oberen drei Stände gemeint. Diese guten Menschen, die Arya. werden auch geographisch lokalisiert: Sie sollen in einer Gegend Nordin· diens namens Äryavarta leben, deren Bewohner für ihr beispielhaftes Verhalten bekannt und dadurch normgebend waren. Diese Definition des Dharma. die das
Verhalten von moralisch qualifizierten Menschen zugrundelegt, wird von Hacker für die älteste gehalten, da dies auch vor der Fixierung von Veda und Dhannalehrbüchern als Richtschnur gelten konnte. 4
Zllsamme,ljassllng Diese drei Quellen des Dharma, Veda, Dhannalehrwerke und vorbildliches Ver· halten guter Menschen belegen, dass der Dharma ausschließlich empirisch, nicht aber theoretisch begründet wird. Es gibt kein höheres Prinz.ip, aus dem sich dlwrlila und adlwrma ableiten ließen. Zudem besteht eine enge Verbindung zwischen universalem und individuellem Dhanna - eine Störung des einen hat auch immer eine Störung des anderen zur Folge. Diese Implikation garantiert den Fortbestand der Verhaltensregeln, da ein Zuwiderhandeln nicht nur im menschlichen Bereich Auswirkungen hat, sondern auch die Ordnung der Welt an sich durcheinander geraten lässt. Der Dhanna bestimmt sich nach sozialem Status, Lebensstadium und Geschlecht und bezieht sich auf den gesamten Bereich des ethischen moraJischen Verhaltens, des Kultes, des Rechts und der Sitten und Gebräuche.
Ethik des Hinduismus Der Dharma der vier Lebellsstadietl Die Dharmavorschriften richten sich in erster Linie nach dem sozialen Status eines Menschen und dem Lebensabschniu, in dem er sich befindet. Der soziale Status wird von zwei verschiedenen Komponenten bestimmt: zum einen der Zugehörigkeit zu einem der vier Stände (var(lCl), die die vedische Gesellschaft kennzeichneten; zum anderen durch das Lebensstadium, in dem sich der Einzelne gerade befindet. Stand (varpa) Ursprünglich standen an der Spitze der vedischen Gesellschaft die K!;iatriya. die Krieger, die für den Schutz der Gemeinschaft zuständig waren. Dann kamen die Brahmanen, die das vedische Opfer zu vollziehen hatten. Die Vaisyas bildeten den Apaslamba-Dharmasotr3. 1.7.20.6-8: Übersetzung nach P. Hacker, Dharma, SOL • P. Hacker, Dharma. 50 I.
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dritten Stand, die Händler, Bauern und Handwerker, also den Nährstand. Auf der untersten Stufe dieser Gesellschaftsordnung standen die SOdms, der Dienststand. Außcrhalb dieses indoarischen Gesellschaftssystems befinden sich die indischen Ureinwohner (dllsr). die sich selber Dalil nennen. Heute werden sie als die Unberührbaren (aspffi'a1a) bezeichnet. Im Laufe der Zeit gewannen das Opfer und das OpferrituaJ zunehmend an Gewicht. so dass die Brahmanen an die Spitze dieses GeseJlschaftsmodells rückten. Die obersten drei Ständen werden Dvija (Zweifach Geborene) genannt. da es ihnen erlaubt war, den Veda zu studieren und ihre Söhne eine Initiation (upanayana) durchlaufen mussten, die als zweite Geburt angesehen wurde. Jeder dieser vier Stände hat seinen Svadharma: Die Brahmanen sollen den Veda lehren und für andere Opfer durchführen. das die Götter günstig stimmen sollte. Die Aufgabe der K$atriyas ist es, den Umgang mit Waffen zu üben, um das Gemeinwesen zu schützen. Die Vaisyas sollen Viehzucht, Landwirtschaft und , Handel betreiben, während der Dharma der SOdras, des niedrigsten Standes, darin besteht. den Angehörigen der anderen drei Stände zu dienen. Von diesem idealtypischen Ständesystem, das vor allem brahmanischer Tra~ dition entstammt, sind die Kasten (skt. jl1tis), die sich in der hinduistischen Gesellschaft ab dem 3. Jh. v.Chr. entwickeln, streng zu unterscheiden. JOti (w. Geburt) bezeichnet zunächst einmal jegliche Form von Existenz. also auch die von Pflanzen und Tieren. Im speziellen wird der Begriffjedoch fur die soziale Gruppe verwendet, in die man hineingeboren wurde. Eine Kaste definiert sich nach Blutsverwandtschaft. der Zugehörigkeit zu Berufsgruppen und ebenso geographischen Gesichtspunkten. Die Kasten sind endogam und hierarchisch nach ihrem eigenen Grad an Reinheit geordnet. wobei die Brahmanen die höchste Reinheit besitzen. Kommen sie in Kontakt mit Mitgliedern niedrigerer Kasten.so werden sie dadurch verunreinigt. Daher gelten strenge Regeln fur Heirat und Kommensuralität. Obwohl sich alle Kasten - inzwischen gibt es mehr 3000 - zu einer der vier Stän~ de zuordnen. sind siejedoch nicht aus ihnen entstanden. Auch ist das Kastensystem nicht so starr. wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Trotz dereigentlich streng beachteten Endogamie ist es durchaus in Einzelfallen möglich gewesen. beispielsweise durch Heirat seine eigene Position zu verbessern bzw. zu verschlechtern.ja, es ist sogar ganzen Kasten möglich, in der Hierarchie aufzusteigen. Jede Kaste hat ihren eigenen Dhanna. d.h. ein Korpus von Regeln, das ihr Verhalten im täglichen Leben und im Kontakt zu Mitgliedern anderer Kasten regelt. Lebensswdium (airama) Etwa ab 500 v.Chr. entstand die Lehre der vier Lebensstadien (asrama). Diese gelten vor allem rur die männlichen Angehörigen der ersten drei Stände. Die vier Lebensabschnitte sind: Schüler (brahmacl1rya). Familienvater (g,hostha, w. Hausvater). Waldeinsiedler (vanapraslha) und Weltentsager (saf1Ulydsa). Diese Lebensstadien werden durch Übergangsriten (saTJISkiIras) eingeleitet. die den gläubigen Hindu von der Zeugung bis zur Bahre begleiten.
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Laut der Manusmrti. dem bekanntesten der Dharmalchrbücher. beginnt die Schülerschaft (brahmacar)'a) mit der Initiation (upa1laYQlla). wobei das Einlrittsalter abhängig von der Slandeszugehörigkeit variiert. Der Dharma eines Schülers besteht darin. bei seinem Lehrer zu wohnen. den Veda zu lernen und enthaltsam zu leben. Am Ende des Studiums unterzieht er sich einer Weihe (dTk$t'1). bei der ihm in einer Zeremonie die Brahmanenschnur (J'ajiiopavrta) umgelegt wird. Wenn er nach seiner Lehrzeit nach Hause zurückkehrt. ist er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und ftihig. eine Familie zu gründen. Als Hausvater (grhaslha) bemüht er sich um materielle Güter (art/ra). sinnliche Freuden (kanUl) und die Erfullung seiner sozio-religiösen Pflichten (dhanntl). Gleichzeitig muss er drei Schulden (~) abtragen: Für die Götter (dem) muss er opfern. rur die Väter (pitn. seine Vorfahren. einen Sohn zeugen. damil dieser die Ahnenopfer weiterfuhrt und für die Seher (~) muss er sich um das Vedastudium bemühen. Deshalb wird der Hausvaler als wichtigster Lebensabschnitt angesehen. denn ..wie alles Lebendige durch die Unterstützung der Luft am Leben bleibt. SO leben die Angehörigen der anderen drei Lcbcnssladien durch die Unterslützung des Hausvaters:') Alles hängl also von der Position des Hausvaters ab. der für das Wohl der anderen Slände sorgt. indem er seinen innerwehlichen Pflichten nachkommt. Wenn erdie drei Schulden abgetragen hat. kann er die Verantwortung an seinen Sohn übergeben und sich um seine eigene Erlösung kümmem./l Sobald die Haut eines Hausvaters faltig und sein Haar weiß wird und er die Söhne seiner Söhne sieht. kannersich inden Wald zurückziehen und imdriuen Sta· dium als Waldeinsiedler (vallaprastha) leben.} Entweder von seiner Frau begleitet oder sie bei seinem Sohn zurücklassend gründet er eine Einsiedelei (airama) im Wald. Zurückgezogen vom weltlichen Leben vollzieht er noch die Hausriten und studiert die Waldbücher (lIra{1)'akas). die einen Teil des Veda bilden. Das Ziel dieses Lebensstadiums wie auch des folgenden ist es. die eigene Erlösung (mok:;a) anzustreben. Hai er den dritten Teil seiner voraussichtlichen Lebensspanne im Wald zuge· brachl. kann er in die vierte Slufe eintrelen und als Wanderasket (saqmyasill). der alle Bindungen an die Weil gelöst hai. umherwandern. Hierbei iSI er allein und unterzieht sich den verschiedenslen Übungen. von denen im Abschnitt über die Askelenethik noch die Rede sein wird. Dieses Modell der vier Lebensstadien ist ein ideahypisches Konstrukt. das vor allem durch die Brahmanen geprägt ist. Nicht jeder Hindu durchläuft tatsächlich alle vier Stadien. sondern bleibl Familienvater. ohne in die Einsiedelei zu ziehen oder alle Besitztümer aufzugeben. Andere wählen schon direkt nach dem Ende der Studienzeit die Waldeinsamkeil oder ein Leben als Wanderaskel. ohne die Pflichten eines Hausvaters auf sich zu nehmen. 'Manu U1. 77: Übersetzung nach G. Bühler. The Laws o( Manu. Translated with extraclS o( seven commentaries by G. Bühler. Reprint Delhi 1975. • Manu lIJ. 257. J Manu VI. 2.
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In diesem System der vier Lebensstadien erkennt man den Versuch, zwei völlig unterschiedliche Lebenskonzepte miteinander zu vereinen: das Leben in dieser Welt mit allen sozialen Verpflichtungen und das der Weltentsagung. Damit begegnelen die Brahmanen der Vielzahl von Reformbewegungen, die um die Mitte des ersten Jahrtausends v.ehr. entstanden und viele Anhänger fanden. Diese verließen ihre Familien und lebten ohne die sozialen Verpflichtungen, die der Svadharma vorschreibt. Zu diesen neuen Bewegungen gehörten auch der Buddhismus und der Jainismus, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird. Dharma der Frauen Nicht nur Lebensstadium und Kastenzugehörigkeit selzen die Eckpunkte für das sittliche Verhalten. auch der Dharma von Männem und Frauen ist grundlegend verschieden. Die Regeln. die für Frauen gehen, ihr strTdharma, ordnen sie stets ihren männlichen Verwandten unler: Als Kind untersteht die Frau dem Vater. in der Ehe ihrem Ehemann und als Witwe ihrem Sohn - sie ist zu keiner Zeit unabhängig.' Ihre pnicht ist der Gehorsam gegenüber den Männem, denen sie untergeordnet ist. selbständiges Handeln ist ausgeschlossen. Sie soll "stets guter Laune sein, geschickt in der Führung des Haushalts. vorsichtig bei der Reinigung ihrer Haushaltsgeräte und sparsam bei den Ausgaben.· l9 Selbst über den Tod ihres Mannes hinaus darf sie nichts tun, was ihm missfallen hätte. Die später praktizierte Witwenverbrennung ist also kein Gebot der Dharmalehrbücher. Obwohl sie dem Mann in jeder Hinsicht untergeordnet ist. hat die Frau in einer Ehe dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen: "Nachkommenschaft. die Durchführung religiöser Riten, treuer Dienst, höchstes eheliches Glück und himmlische Glückseligkeit für die Ahnen und für sich selbst hängen allein von der Ehefrau ab". lo Das bedeutet. dass die Frau für alle Aspekte des Familienlebens und das häusliche Glück die Verantwortung trägt. Sie unterstützt ihren Mann beim Streben nach den drei Gütern: durch Sparsamkeit und effektives Wirtschaften hütet sie seinen materiellen Besitz (arrha), so dass dieser sich vermehren kann; auch die Liebeskunst (kt7ma) ist einer ihrer Svadharmas, sodass der Ehemann mit ihr gemeinsam sexuelle Befriedigung erlangen kann: durch Beachtung der religiösen Riten (hauptsächlich der Hausriten) und Gehorsam ihrem Manne gegenüber gibt sie ihm die Möglichkeit, seine religiösen Verpflichtungen (dharma) und damit auch seinen Svadharma zu erfüllen. Die wichtigsteAufgabeeiner Ehefrau ist es jedoch, dem Mann männliche Nachkommen zu schenken, denn nur Söhne können die Ahnenverehrung durchfuhren. Wird kein Sohn geboren, ist nach dem Tod des Mannes niemand mehr berechtigt, die Ahnenspeisung vorzunehmen, so dass diese dann verhungem. Deshalb heißt es auch, dass ein Sohn den Vater (nach dem Tode) relle. Nach hinduistischer Vor-
, Manu V. 148. , Manu V. 150. 10
Manu IX. 28.
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stellung ist die Frau dabei nur das Gefaß, der Schlauch, in den der Mann seinen Samen legt. Die Nachkommen gehören daher auch immer zur Familie des Mannes, niemals zur Familie der Frau. Eine Frau, die ihren Dharma vorbildlich erfüllt und ihrem Galten immer trcu ist, nennt man auch porivrarll, die Gattcntreue, und sie wird von allen gepriesen. Als Beispiel für besondere Gattentreue gilt Sna, die Frau des Rama, der der Held des Ramayal)a ist. Diese wird vom Dämon R3val}3 entführt und nach Sri Lanka verschleppt. Dort soll sie ihm zu Willen sein, doch sie bleibt standhaft. Rama zieht ihr nach und es gelingt ihm auch, sie mit Hilfe des Affenkönigs Hanuman zu befreien. Allerdings glaubt er nicht, dass sie ihm treu gewesen iSI und verstößt sie deshalb. Sie beschwört ihre Unschuld und besteigt zum Beweis einen Schei· terhaufen. Der Feuergott Agni rettet sie aus den Flammen und übergibt sie Ra.ma mit der Versicherung. dass sie ihm immer treu gewesen sei. Als er erneut ihre Treue anzweifelt. ruft sie die Erde als Zeugin an. Diese öffnet sich darauf und die Erdgöttin nimmt sie in ihr Reich auf. Auch auf Ramas Bitten gibt sie sie nicht mehr heraus, um ihn für sein mangelndes Vertrauen zu bestrafen. Obwohl STla stelS die Gattcntreuc bewahrt hat. ist ihr Unrecht widerfahren. so dass die Göttin sich ihrer erbannt und sie ihrem Galten entzieht. Verstößt die Frau jedoch gegen ihren Dhanna. beispielsweise durch Ungehorsam dem Manne gegenüber oder Ehebruch. drohen ihr harte Strafen, ja sogar der Tod.
Asketenethik Etwa um die Mitte des ersten Jahrtausends v.ehr. treten verstärkt Asketenbewegungen auf, aus denen auch der Buddhismus und der Jainismus hervorgegangen sind. Diese lehnten die brahmanische Opferritualistik ab und postulierten andere Wege. um zur Erlösung zu gelangen. Asketentum war jedoch auch in der vedischen Tradition nichts Fremdes. die Asketen waren berühmt. geachtet und ihrer Weisheit wegen geschätzt. Der indische Begriff, den wir mit Askese übersetzen. ist tapas (w. Hitze). Dahinter steht die Vorstellung. dass durch das freiwillige Erdulden von Leid Hitze entsteht, die Glut (tejas) erzeugt. Diese kann sich physisch als Flamme manifestieren, zeigt sich aber auch auf psychischer Ebene als Willenskraft und überwäl· tigende Ausstrahlung. der niemand widerstehen kann. Starke Askese kann selbst das Tejas. das den Göttern eigen ist, übertreffen und diese dann dazu zwingen. sich dem Willen des Asketen zu beugen. An mehreren Stellen in der Literatur wird berichtet, dass durch starke Askese der Thron des Indra zu glühen beginnt, so dass dieser um seine Macht fürchten muss. Das hauptsächliche Ziel beim Üben von Askese ist tatsächlich der Erwerb übennenschlicher Kräfte und magischer Fähigkeiten. Diese sind auch heute noch Grund für das hoheAnsehen. das Asketen in der indischen Gesellschaft genießen. Ursprünglich ist Askese in indischem Kontext also ethisch neutral. Zwar kann sie auch dazu dienen, schlechtes Kanna zu verbrennen. jedoch geschieht dies rein mechanistisch mit Askese als Mittel zum Zweck.
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Eine Ethisierung asketischer Praktiken geschieht erst in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v.Chr. So erwirbt man sich durch das Üben von Askese re· [igiöses Verdienst. Überdies sieht man nun in der Askese auch zunehmend eine Möglichkeit, erlösende Erkenntnis zu gewinnen. Dabei steht das Asketenturn in enger Verbindung mit dem Heilsweg des Yoga. Yoga (w. Anspannung) bezieht sich auf die Anspannung des Geistes, der nach Erlösung strebt. Der Yoga ist eng mit dem philosophischen System des Sarpkhya verknüpft, denn beide vertreten einen dualistischen Ansatz. Es wird streng zwischen der unbewussten Urmaterie und den verschiedenen Einzelseelen Urva) unterschieden. Die Ursache des Leidens (denn auch hier gilt: "Für einen, der zu unterscheiden vennag. ist alles Leid."lI) besteht darin, dass ein jeder fälschlich seine Seele mit der Materie identifiziert. Erst die Erkenntnis, dass beide voneinander verschieden sind, führt zur Erlösung. Der Haupttext des Yoga sind die Yoga-Sotras (Leitfaden des Yoga). die von Patanjali etwa im 2. Jh. v.Chr. verfasst wurden. Der Heilsweg, der hier entwickelt wird. ist achtfach. ähnlich wie im Buddhismus. An seinem Anfang stehen die sitt· lichen Gebote ()'oma). die die Grundlage für alles weitere bilden: Gewaltlosigkeit (allil115o), Wahrhaftigkeit (s(If)'a), Nichtstehlen (aparigralw). sexuelle Enthaltsamkeit (brahmacarya) und Besitzlosigkeit. Diese fünf Tugenden verbinden sich mit der Selbstzucht (niyama), deren verschiedene Arten als "Reinheit. Zufriedenheit, Askese. eigenes Studium und Hingabe an Gou"12 bezeichnet werden. Askese ist Selbstzucht, die bis hin zur SelbstqUälerei gehen kann. Zu den Übungen gehören Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit und Schlafentzug. Einige Asketen kleiden sich in Baumrinde oder gehen nackt. stehen lange auf einem Bein. schneiden sich weder Haare noch Nägel, waschen sich nicht usw. Aus diesem Umfeld entstand auch das Bild vom indischen Fakir, der auf einem Nagelbett schläft. Einige üben Schweigen, andere starren so lange in die Sonne, bis sie erblinden. Diese Praktiken sind unter Asketen relativ weit verbreitet und nicht unerheblich für die Achtung verantwortlich, die ihnen entgegengebracht wird. Zudem sichern sie ihnen den Lebensunterhalt. Auch der in Indien weitverbreitete Vegetarismus hat seinen Ursprung in asketischen Praktiken. Aufgrund der Reinheit, die mit dem Verlieht auf Fleisch verbunden wurde, übernahmen auch andere gesellschaftliche Gruppen diese Lebensweise und ernähren sich bis heute von Pflanzen und Milchprodukten. Dennoch finden sich in den frühen Texten des Hinduismus, besonders in vi~lJ.u· itischem Kontext, Passagen, die diese gewaltsame Form der Askese entschieden ablehnen und den Begriff einer Umdeutung unterziehen. So bezeichnet die Bhagavadgna solche, die sich dergestalt selber quälen, als dumm und wirft ihnen Selbstsucht, Leidenschaftlichkeit und Gewalttätigkeit vor. Sie schädigten ihren Körperdurch Praktiken. die in den heiligen Texten nicht vorgeschrieben seien und " YogasOlrll.s 2. 15 1) YogaSOtr:ls 2. 32
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damit auch die Gottheit. nämlich Vi~Qu, in ihnen. I) Das implizien gleichzeitig. dass dieses Verhalten adharma ist also nicht ihrem Svadhanna entspricht. Stau dieser grausamen Askese werden die folgenden drei Praktiken aufgezählt;14 I. Askese des Körpers (Sarrram tapas): Diese umfasst die rituelle Verehrung (pujono) von Göttern, Brahmanen. Lehrern und Weisen. dazu noch Reinheit (Sol/ca), Aufrichtigkeit (I1rjava). sexuelle Enthaltsamkeit (brahmacarya) und Gewaltlosigkeit (ahimsa). 2. Askeseder Rede (Vl1rimayam tapas): Diese besteht vor allem in einer wahrhaft'igen. freundlichen und angenehmen Rede. die keine Verwirrung oder Aufregung (udvega) stiftet sowie Vedarezitation.
3. Askese des Denkens (manasam tapas): Diese iSI dieAbgeklärtheit des Denkens. weiterhin Milde. Schweigen. Selbslherrschung und Reinheit des Sinnes. Für diese drei Arten von Askese fügt der Text noch eine Bewertung ein. die die Motivation als Kriterium nimmt. Askese. die mit höchstem Eifer und ohne den Wunsch nach eigenem Vorteil geschieht (auch nicht nach religiösem Verdienst). ist am höchsten zu bewerten. Askese. die nur deshalb geübl wird. um das Ansehen zu erhöhen und den Respekt anderer zu erwerben. iSI unbeständig und schwankend und daher als schlechter zu bewerten. Die niedrigste Fonn Askese ist jedoch die mil Selbstquälerei verbundene Askese oder die zur Vernichtung eines anderen unternommene Askese. Zusammenfassend lässt sich sagen. dass die Askese von ihrer ähesten Form. nämlich der Selbslkasteiung zur Erlangung magischer Ausstrahlung und Fähigkeilen durch die ethisierende Interpretation des Begriffs eine Umdeutung erfahren hat. Askese in diesem Sinne ist jedem Menschen in jedem Lebensstadium möglich. Kriegerefhik
Äußerungen über den Svadharma eines Angehörigen der K~atriya finden sich genauso in den Dhannatexlen wie über die anderen Slände auch. doch sind sie brahmanisch geprägt. Ein eindrucksvolles Zeugnis für einen elhischen Konflikt findet sich in der Bhagavadgntl (Lied des Erhabenen). Dieser Text. dessen Einfluss auf die indische Kultur bis heute immens ist und der auch Gandhi als der wichtigste galt, ist Teil des Mahabharala. des großen indischen Sanskrilepos. das zwischen 400 v.Chr. und 400 n.Chr. entstanden ist. Es erzählt in 18 Büchern die wechselhafteGeschichte zweier Königsfamilien. die in eine verheerende Schlacht mündet. Die Bhagavadgna ist eine der vielen Einschübe. die das Werk kennzeichnen und befindet sich im 6. Buch. Kap. 25-42. Am Vorabend der entscheidenden Schlacht kommen Arjuna Zweifel daran. gegen seine Verwandten. die ihm im Kampfe gegenüber stehen. anzutreten. Er unterhält sich mit seinem Wagenlen·
u Bh3gavadgTl3 17. 5-6 I' BhagavadgTlll 17. 14---16
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ker, der eigentlich K~Qa, eine Inkarnation des Gottes Vi~Qu, ist. K~Qa zerstreut Arjunas Zweifel, indem er ihm in drei Postulaten die Grundsätze des ethischen Verhaltens darlegt. Das erste Postulat ist Karma, die Taten. Diese lassen sich nicht venneiden, da niemand ohne Handeln leben könne, ja. man sei sogar zum Handeln verpflichtet. Schließlich habe jede Kaste und jedes Lebensstadium einen Svadharma, den es zu erfüllen gelte. Ausschlaggebend sei aber, dass die Handlung nicht zielgerichtel. sondern in völliger Selbstlosigkeit (1I;~ama) geschehe. Ein solches Handeln sei einer völligen Untätigkeit jederzeit vorzuziehen. Für einen Krieger, d.h. einen Angehörigen der gesellschaftlichen Klasse, die die politische Macht innehat, bedeutet dies, dass er im entscheidenden Moment die Verpflichtung zum Kampfe hat, um seine Schutzbefohlenen zu schützen. Der zweite Grundsatz für ethisches Handeln ist das Wissen Vi/ana). Ohne dieses Wissen. bei dem es sich um religiöse Einsicht handelt, ist ethisches Handeln nicht möglich. Wissen dient dabei zur Läuterung des Handeins und macht es frei von jeglichem Eigennutz. Das dritte Postulat ist die hingebungsvolle Liebe (hJUlkti), die den schnellsten Weg zur Vereinigung mit der Gottheit. in diesem Falle Vi~Qu bietet. In Gestalt des Wagenlenkers verspricht KnQa demjenigen. der ihn mit Hingabe verehrt, die Befreiung von allen Sünden und Kümmernissen und die Vereinigung mit ihm. Die Lehre von der Bhakti durchzieht denn auch die gesamte Bhagavadgna und hat einen tief greifenden Einfluss auf die anderen religiösen Bewegungen, beispielsweise den Buddhismus, ausgeübt. Ein Sonderfall der Kriegerethik ist der Rajadharma, der die Pflichten des Königs umfasst. Der König war in erster Linie darum bemüht, zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Reich zu vennitteln und damit Sorge zu tragen, dass die göttliche Macht sich positiv auf sein Reich auswirkt, so dass Friede und Wohlstand darin herrschen. Als höchster Hausvater muss er ebenso wie alle anderen Opfer vollziehen und seinem Dhanna gemäß leben. Die Aufgaben des Königs bestehen im Schutz seines Volkes, der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, d.h. der Beachtung der Kastengrenzen und die Ausübung von Gerechtigkeit (daQ(ia w. ,.Stock·' mit dem die Strafe ausgefÜhrt wird). Der Dhanna des Königs ist es also, streng genommen, dafür zu sorgen, dass jeder seiner Untertanen ebenfaUs seinen Dhanna genauestens erfüllt und somit die Harmonie nicht nur der Gesellschaft, sondern des gesamten Universums gewahrt bleibt.
Ethik des Jainismus Der Jainismus ist. wie der Buddhismus auch. eine Stifterreligion und in Opposition zur vorherrschenden brahmanischen Ritualistik um die Mille des ersten Jahrtausends v.ehr. entstanden. Der BegTÜnder trägt den Titel jina (Überwinder), weshalb ebenfalls die Bezeichnung Jinismus gebräuchlich ist. Nach dem CenSlIs oJ India von 2001 leben etwas mehr als 4 Millionen Jainas in Indien - im Ver-
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gleich zu 827 Millionen Hindus eine verschwindend geringe Zahl. Zwar hat der Jainismus es nicht zur Weltreligion gebracht, sondern blieb weitgehend auf Indien und Südostasien beschränkt,jedoch kann er auf eine ununterbrochene Geschichte zurückblicken. Obwohl die Jainas nur 0,42% der indischen Bevölkerung ausmachen, sind sie doch von einigem Einfluss, da sie vor allem in Handel, Industrie und Technik tätig sind. Der Begründer ihrer Religion. Vardhamana MahavTra. soll nach der JainaTradition im Jahre 527 v.ehr., nach neueren Forschungen 477 v.ehr. ins NirvliQa gelangt sein. Er war also ein äJterer Zeitgenosse des Buddha. Die Biographien beider Religionsstifter weisen so viele Ähnlichkeiten auf. dass man von einer allgemeinen Legendentradition in Bezug auf einen Welterlöser ausgehen muss. Auch steht der Jina nach jainistischer Vorstellung in einer Reihe von 23 Vorgängern, den so genannten Furtbereitem (trrrhailkara). Er wanderte als nacKter Asket umher und verkündete seine Lehre. Nach seinem Tode wurden auf einem Konzil um 370 v.Chr. die heiligen Texte gesammelt lind später zu einem Kanon zusammengefasst. Ab dem 2. Jh. v.Chr. breitete sich der Jainismus zunehmend in den Westen und Süden Indiens aus. Etwa gleichzeitig erfolgt die Aufspahung in Digambaras (die Nackten) und , Sverambaras (die Weißgekleideten). Diese Spaltung ist weniger auf grundsätzliche Unterschiede in der Lehrauffassung zurückzuführen. Allerdings sprechen die Digambaras den Frauen die Erlösungsfahigkeit ab. da diese nicht als nackte Asketen umherziehen können. Die Lehre ist stark von dem Versuch geprägt, die Weil durch Kategorien und Zahlenreihen zu fassen. Die Welt und die Nichtweh bestehen aus Schichtungen der fünf Grundsubstanzen (asrikdya): Regung, Halt. Raum, Seelen urlla) und Stoffe. Alle sind anfangslos und ewig. bis auf jrva sind auch alle unbeseelt. Die ersten drei gibt es nur einmal. während Seelen und Stoffe in unendlicher Zahl vorhanden sind. Die Seele eignet sich durch Vibrieren atomkleine Stoffleilchen (paramdQII) an. Dadurch werden Einströmungen (dsalla) von Karmasubstanz möglich. die aufgrund der Leidenschaften (ka$('1ya) an der Seele haften bleiben. Diese Bindung zwischen Seele und Karmasubstanz aufzulösen, ist das Bemühen der Jainas. Diese Auflösung wird vor allem durch strenge Askesevorschriften erlangt. Dem Mönch sind die folgenden großen Gelübde auferlegt: Gewaltlosigkeit. d.h. Schonung alles Lebendigen Nichtverletzung (ahifTlSa.). Wahrheit. Nichtaneignung, sexuelle Enthaltsamkeit und Besitzlosigkeit. Diese fünf entsprechen den sittlichen Geboten, die am Beginn des Heilswegs des Yoga stehen. Ein weiteres Gelübde. wenn auch kein großes. ist die Enthaltsamkeit von Essen und Trinken in der Dunkelheit. Dies dient vor allem dazu. das erste Gebot der Schonung des Lebens zu erfüllen. da im Dunkeln versehentlich Kleinstlebewesen übersehen und getötet werden könnten. Für den Laien gehen neben den fünf oben genannten Geboten noch sieben weitere. also insgesamt zwölf: Enthaltsamkeit von zwecklosen schädlichen Handlungen. Beschränkung des Untemehmungsbereiches. Maßhal-
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ten. tägliche mehnnalige Andacht, Begrenzung des Wohnbereichs, Fasten und Spenden. Das Gelübde der Gewaltlosigkeit nimmt einen besonderen Raum ein. Man sieht auch heute noch häufig Jainas, die einen Mundschutz tragen, um nicht versehentlich ein Tier (z.B. ein Insekt) zu verschlucken. Auch trifft man sie beim Fegen des Weges, den sie gehen wollen, um nicht ungewollt auf ein Insekt zu treten. Auch der Vegetarismus. der ebenfalls von den Hindus praktiziert wird, ist als Ausdruck derGewaltlosigkeit zu sehen. Eine Vielzahl von Vorschriften sorgt dafür. dass das Leben geschützt bleibt. DieseGelübde haben vor allemden Zweck. ein neuerliches Einströmen von Karmasubstanz und ihre Bindung an die Seele zu verhindern. Neben diesen Gelübden gibt es auch eine Abwehr (sOTpvara) der Kannabindung, nämlich ein dreifaches Maßhahen bei Denken, Rede und Körper, zudem die fünffache Behutsamkeit zum Schutz des Lebens, die im Gehen, Handeln, Sprechen. Almosenbetteln und Ausscheiden beachlet werden muss. Zudem sollte der Mönch in seinem sittlichen Verhalten Langmut. Demut. Lauterkeit. Begierdelosigkeit. Wahrhaftigkeit. Selbstzucht, Askese. Enthaltung. freiwillige Armut und geistlichen Gehorsam zeigen. Diese zehn sill lichen Gebote werden von zwölf Betrachtungen aus Weltschmerz und Welt verachtung ergänzt, denen das Ertragen der 22 AnfeChtungen folgt. Man erkennt hier unschwer die Vorliebe für zahlenreihen. Der äußeren Askese steht die innere Askese gegenüber, die auch die Meditation (dhyafla) mit einschließt. Zum jainistischen Heilsweg gehört aber nicht nur das Verhindern und Abwehren neuer Kannaeinströmungen, sondern auch das aktive Tilgen der Kannasubstanz. Dies ist möglich, solange diese noch nicht durch Empfindungen aktiviert ist, sondern ruht. Die Tilgung wird durch Askese bewirkt. Dabei postuliert die jainistische Lehre 14 Stufen. die dem sittlichen Zustand des Individuums entsprechen. angefangen von Irrgläubigen bis hin zum Alleskenner, dessen letzte Karmatilgung seine Seele direkt in das Nirvlh;1a katapultiert. Die ethischen Werte des Jainismus entsprechen weitgehend der Asketenethik, mit starker Betonung der Gewaltlosigkeit gegen alle Lebewesen.
Ethik im modernen Indien Der Kontakt mit christlichen Missionaren und der harschen Kritik. die diese angesichts der vielen verschiedenen. teils widersprüchlichen religiösen Praktiken übten, ließ in Indien eine Gegenbewegung entstehen. Träger dieses Refonnbe· mühens war vor allem die indische Oberschicht. die in der Auseinandersetzung mit dem Christentum und einer Rückbesinnung auf die traditionellen Werte der hinduistischen Religionen ein neues Selbstverständnis schaffen wollte. Neuerungen betrafen vor allem das Kastenwesen und die Betonung sozialer Aspekte. So unterstützten sie beispielsweise das von den Brilen erlassene Verbot der Witwenverbrennung und setzten sich für die Einführung des englischen Bildungssystems em.
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Ethik des politischen Widerstandes: Gandhi und Sat)'agraha Eine der wichtigsten Gestalten des 20. Jh. war Mohandas K. Gandhi (1869-1948). Seine Familie stammte aus Gujarat und stand dort im Dienstedes Fürsten. Er wurde mit 13 Jahren verheiratet. nahm jedoch späterein Jurastudium in London auf. Von dort aus ging er nach Südafrika, wo er neben seinem Engagement für England
im ersten Weltkrieg als Sanitäter später die ersten Erfahrungen im Kampf um die sozialen Rechte der Inder machte. Dort gründete er auch seinen ersten Äsram. in dem erdas Leben in einer Gemeinschaft, die auf Wahrheit (sarya) beruht. erprobte. Wieder nach Indien zUlückgekehrt. selzte er seine Bemühungen um die Wahrheit fort. Auf privater Ebene gründele er wiederum einen Asram, in dem er seine ..Experimente mit der Wahrheit" - so der Tilel seiner Autobiographie - durchführte. politisch engagierte er sich in der Kongress-Partei. Durch konsequente Aufkündigung der Zusammenarbeit mil den britischen Kolonialherren und zivilen Ungehorsam gegen ungerechte Gesetze erreichte er. dass die Brilen Indien 1947 in die Unabhängigkeit entließen. Trotz aller Bemühungen konnte er die Teilung in einen hinduistischen Staat Indien und einen muslimischen Staat Pakistan nicht verhindern. Am 30. I. 1948 wurde er von einem fanatischen Hindu. der ihn für diese Teilung verantwortlich gemacht hatte. erschossen. Seine Melhode nannte er Sllt)'agrahll (Festhalten an der Wahrheil). Sie beruhte auf derGewaltlosigkeit (ahiqua), die auch als Grundlage des yogischen Heilsweges gilt. mil dem Ziel des Wohlslandes für alle (sllrvodll)'ll). Er postulierte sowohl für politische Aktivitäten als auch im persönlichen Leben bestimmte ethische Prinzipien. deren Befolgung er auch allen abverlangte. die in seinem Sinne leben wollten. Denn er war der Überzeugung. dass eine Reinigung der Politik nur möglich sei. wenn die moralischen Prinzipien der Selbslreinigung und Selbstdisziplin auch in die Öffentlichkeit getragen werden. Er suchte nach ethischen Prinzipien. nach denen der einzelne als private Person. aber auch ganze gesellschaftliche Gruppen und Nationen gleichermaßen handeln können. Diese Selbstverpflichtungen oder auch Gelübde haben zwar ihre Wurzeln im traditionellen Hinduismus und dem Jainismus. ihre Anwendung wird jedoch von Gandhi weiter gefasst: I. Wahrheil (satya) ist fürGandhi die Richtschnur allen Handeins. Aus der Wahrheil ergeben sich sämtliche Regeln riChtiger Lebensführung so dass man instinktiv richtig handelt. 2. Gewaltlosigkeit (ahilJUa) beschränkt sich nicht allein darauf. nichts Leben· diges zu töten. sondern ,.das Prinzip von Ahil"J1sa wird durch jeden bösen Gedanken verletzt. durch unnötige Eile. durch Hass. durch böse Wünsche für andere. Es wird auch dadurch verletzt. dass wir Dinge für uns zurückbehalten. die die Welt benötigt."l~ Jede nicht angemessene Handlung wird hier als Gewalt interpretiert. Dabei sind Wahrheit und Gewaltlosigkeit unauflöslich 11
M.K. Gandhi. Wohlfahn für Alle. Hg. von Bharalan Kumarappa. Würzburg 1983. 17.
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miteinander verbunden. denn Ahirpsa ist das Mine!. die Wahrheit dagegen das Ziel. 3. Keuschheit (brahmacarya): Traditionell war unter Keuschheit vor allem se· xuelle Enthaltsamkeit verstanden worden. Gandhi definiert es als "dasjenige Verhalten. das uns in Verbindung zu Gott bringt. Dieses Verhalten besteht in der vollständigen Kontrolle über alle unsere Sinne."'6 Er schließt also in die lraditionelle Auffassung auch die Mäßigung aller Sinnesorgane mit ein. Was den Umgang der Geschlechter miteinander angeht, so schlägt er vor, dass auch Eheleute einander wie Bruder und Schwester betrachten, um dieses Gebot zu erfüllen. 4. Furchtlosigkeit ist für ihn unbedingt zur Beachtung der anderen Gebote not· wendig. denn wer die Wahrheit suche. müsse furchtlos sein. 5. Nichtstehlen: Auch hier greift Gandhi auf eine traditionelle Tugend zurück. versteht aber darunter nicht nur. dass man nichts stiehlt, sondern auch. dass man nichts nimmt. das man nicht braucht. auch wenn man die Erlaubnis hat, dass man also nicht über seinen eigentlichen Bedarf lebt. Dazu zählt auch der Diebstahl von geistigem Eigentum. 6. Nichtbesilzen: Alles was man ohne Notwendigkeit besitzt. gilt für Gnndhi als gestohlen. Besitz ist Vorsorge für die Zukunft und damit etwas, dass ein Wahrheitssuchender nicht mehr braucht. Wenn jeder nur soviel besitzen würde. wie er wirklich braucht, gäbe es keine Armut mehr auf der Welt. 7. Zurückhaltung im Essen und Trinken: Dies umfasst nicht nur die Abkehr von allen Rauschmitteln. sondern auch von allen körpervergiftenden Nahrungsmitteln. zu denen er auch Fleisch zählt. Der Stellenwert dieses Gebots ist jedoch nicht hoch. seine Befolgung kein Selbstzweck. Es geht also hier nicht um eine Fastenvorschrift, sondern wieder darum. nur das zu sich zu nehmen. was der Körper braucht. um keinen Schaden zu nehmen. 8. Entsagung und Selbstaufgabe: Beide Begriffe sollten nicht als Abkehr von der Welt missverstanden werden. Selbstaufgabe soll im Gegenteil dazu dienen, mit aller Energie der Menschheit und nicht individuellen Interessen zu dienen. Dabei ist es der Geist der Entsagung, der das Handeln leiten soll. Das Leben ist Pflicht, nicht Vorrecht. 9. Broterwerb durch Handarbeit: Hier geht er davon aus, dass sichjederdas Brot. das er isst, verdienen muss. Die einzige rechte Art ist die körperliche Arbeit. Diese Tugend lehnt sich an christliche Vorstellungen an und wird dadurch begründet, dass die Arbeit leichter wird, wenn jeder Hand anlegt und die sozialen Unterschiede schwinden, arbeitet man nebeneinander. Auch hier gilt. dass jeder nur soviel arbeiten müsse. wie zum Broterwerb notwendig ist. 10. Vorrang für heimische Belange (Svaddi): Diese Tugend verlangt. dass man sich zuerst um die Belange derer kümmert, die sich in nächster Nähe befinden. also Verwandte. Nachbarn und Freunde. Denn wenn sich jeder daran I~
M.K. Gandhi. Wohlfahrt rur Alle. 19.
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hält, kommt es allen zugute, da jeder dann jemanden häue. der sich auch seiner Belange annimmt "In weit gefasster Auslegung bedeutet Svadesi den Gebrauch aller Inlandserzeugnisse unter Ausschluss ausländischer Waren. insoweit ihr Gebrauch notwendig ist zum Schutz der heimischen Industrie. genauer gesagt derjenigen Gewerbezweige, ohne die Indien verarmen wür· de:;j7 Deshalb wird dieser Punkt auch oft als Autarkiestreben bezeichnet, dessen Symbol das Spinnrad isl. Jedoch lehnt Gandhi nicht pauschal alle ausländischen Erzeugnisse ab. sondern nur diejenigen Produkte, deren Kauf die heimische Industrie schädigen.
11. AchlUng vor allen Religionen: "Religionen sind verschiedene Wege. die zum selben Ziel führen,"18 Er lehnt auch das Reden über den Glauben ab, da dieser gelebt und nicht diskutiert werden müsse. Von anderen Religionen die annehmbaren Wesenszüge zu übernehmen. ohne jedoch den eigenen Glauben aufzugeben. ist für ihn ebenfalls eine Pflicht. 12, Gegen die Unberührbarkeit: Die Gleichbehandlung und Gleichstellung der Unberührbaren. der niedersten Gruppe der indischen Gesellschaft. war Gandhi sehr wiChtig. Er nannte sie Harija/lS (Kinder Gottes) und demonstrierte. wo immer möglich. dass der Kontakt mit ihnen nicht zu religiöser Unreinheit führe. Auch wurden in seinem Asram die Aufgaben. die üblicherweise von Unberührbaren ausgeführt wurden. z.B. Latrinenreinigung. von allen über· nommen. ganz gleich, welcher Kaste sie angehörten.
Jemand. der Weisheit und Reinheit besitzt. würde - auch ohne sich darum bemü~ hen zu müssen - niemals diesen Pflichten zuwiderhandeln. und wenn nötig. sein Leben geben, um der Gemeinschaft zu dienen. Diese Tugenden. die in Gandhis Augen bis auf die Wahrheit alle Aspekte von Gewaltlosigkeit sind, nutzte er im politischen Kampf. Durch Selbstkasteiung. beispielsweise Fasten, erzielte er auch politisch erstaunliche Erfolge. Insgesamt folgt er in seinen Auffassungen dem traditionellen Weg der altindischen Asketen. verbunden mit Elementen des Yoga und des Jainismus. Diese erweiterte er u.a, auch unter Einfluss westlicher Theorien zu einer sozialen Ethik. Dabei gelingt es ihm. dies als Millel im politischen Kampf zu nutzen, indem er die Gewaltlosigkeit und das Festhalten an der Wahrheit auch auf andere wirken lässt. Im Westen findet sich dieser Gedanke z.B. in der Friedensbewegung wieder, die bemüht war. ihre Ziele durch gewaltfreien Widerstand durchzusetzen. Aber auch in Indien selber wirkten die Gedanken Gandhis fort. So war u.a. die Landschenkungsbewegung der 1960er Jahre von Gandhi inspiriert. Dabei ging es darum. die Großgrundbesitzer davon zu überzeugen. freiwillig der Umvcrleilung ihres Landbesitzes zuzustimmen.
M.K. Gandhi. Wohlfahn für Alle. 34. " M.K. Gandhi. Wohlfahrt für Alle. 34.
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Der Einfluss, den Gandhi durch sein Beispiel auf die Entwicklung eines Wel tethos ausgeübt hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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Nationaler Hinduismus
Während Gandhi die Gewaltlosigkeit voranstellte, um ein friedliches Leben nach seinen ethischen Grundsätzen für das ganze Land zu verwirklichen. existierte eine andere Gruppe nationalistischer Hindus, die ihr Ziel, ein vereintes Indien der Hindus. wenn nötig auch mit Gewalt. erreichen wollte. Aus diesen Reihen kam auch der Attentäter, der Gandhis Leben ein Ende setzte. Diese fanatischen Hindus verstehen unter Hindutum (hilldlltvG) gemäß Artikel 25 der indischen Verfassung, der die Religionsfreiheit behandelt, auch die Sikhs. die Jainas und die Buddhisten. Diese Subsumierung aller Religionen, die auf indischem Boden entstanden sind und Indien als ihr heiliges Land anerkennen, stammt aus den 1920er Jahren. Dies haue einen klaren politischen Hintergrund: Dabei ging es vor allem darum, im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens die zahlen mäßige Überlegenheit über die Muslime zu erreichen. Prominente Kräfte in diesem Bemühen sind die ViSIICl Hilldn Pari$lul (VHP, die Well-Hindu-Versammlung). die ähnlich einem Geheimbund eher im Untergrund tätig ist. Politisch wird diese Vorstellung von Hindutva durch die BharatfyCl lCll/ata Part)' (BJP. die Indische Volkspartei), vertreten, die in den letzten Jahren auch die Regierung gestellt hatte. Beide Organisationen postulieren die Einheit der Nation als Land der Hindus. in dem die traditionellen. in den Dhannalehrbüchem gelehrten Gesetze für aUe verbindlich gelten sollen. Dies verstößt gegen die indische Verfassung. in der sich Indien als säkulare demokratische Republik konstituiert. Die Haltung der Befürworter der Hindutvä ist also kein Nationalismus im eigentlichen Sinne, sondem ein kommunalistisches Ansinnen. da hier die Interessen von nureiner gesellschaftlichen Gruppe, einer commllllity. durchgesetzt werden sollen. Um dieses Ziel zu erreichen, schrecken sie auch vor Gewalt nicht zurück. So ist es der Initiative der Visva Hindo Pari~d zu verdanken. dass 1992 die Babrt-Moschee in Ayodhya von fanatischen Hindus gestünnt wurde. Die blutigen Unruhen. die folgten. forderten viele Menschenleben. Motivation für diese Gewalttat war die "Bewegung zur Befreiung des Geburtsortes des (Goues) Rama" (Rama-janma-bhami-mukti A",lolall), der sich genau am selben Platz. befinden soll. wie die Moschee. Die Existenz eines Rama-Tempel. der dort vor dem Bau der Moschee gestanden haben soll, lässt sich jedoch archäologisch nicht belegen. Nichtsdest0 trotz wird die VHP nicht müde. immer wieder darauf zu verweisen. dass sie eines Tages diesen Tempel bauen werden. Dies ist nur eine von vielen Aktionen, in denen sich die kommunalistischen Gruppierungen bemühen. durch gezielte Provokation der muslimischen Bevölkerung Unruhen herbeizuführen. Die Legitimation für ihr Handeln entnehmen sie den beiden großen Epen MaMbha:rata und Ramayana. in denen jeweils der Kampf zwischen den Guten 4
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Heike Michael-Munnann
und den Bösen beschrieben wird. In die Gegenwart transponiert ist Hindutva das Gute. also dharma. die Muslime dagegen das Böse. adharma. So rechtfertigen sie die Aktionen gegen Moscheen, in dem sie sie als den gerechten Krieg (dharmay· IIddha) bezeichnen. In der Bhagavadgna findet sich die Aussage: ,.Denn etwas Besseres als einen gerechten Krieg gibt es für einen Krieger nicht."19 Sowohl Gandhi als auch die HinduMI-Anhänger berufen sich auf die BhagavadgTUL in der sich die Askelentugend der Gewaltlosigkeit neben dem Aufruf zum Kampf findet. Gerade die Ideale der Kriegerelhik sind es jedoch. die sich die HindUlVa zum Vorbild genommen haben. Um die Einheit Indiens zu erreichen, postulieren die Hindutva die universale Gültigkeit des Dhanna. Dazu gehört auch die Ablehnung des Kastensystems. Zwar ist dieses in der indischen Verfassung bereits verboten, seine Bedeutung hat aber in den letzten Jahnehnten kaum nachgelassen. Um die indische Gesellschaft mit ihren verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen tatsächlich zu einen, muss man die Unterschiede beseitigen. Dies gilt nicht nur für das Kastensystem. sondern auch für sämtliche Glaubensrichtungen auf dem indischen Subkontinent, die sie in einem einheitlichen Hinduglauben zusammenfassen wollen. der damit auch für Christen, Buddhisten, Sikhs und Jainas Gültigkeit hiitte. Durch die Niederlage, die die BJP bei der Wahl im April 2004 hinnehmen musste, ist die Umsetzung dieser Ideen vorerst ins Stocken geraten,jedoch scheint sie entschlossen, sich auch weiterhin diesen Zielen zu widmen. Ähnliche Tendenzen gibt es auch auf muslimischer Seite in Bangladesh, das sich seit 1971 als unabhängiger demokratischer Staat konstituiert hat. Bislang galt es immer als Musterbeispiel für einen toleranten Islam und das friedliche Miteinander aller Religionen. Doch in den letzten Jahren setzen sich. wie beim großen Nachbarn Indien. auch hier nationalistische Tendenzen durch. die betonen, dass Bangladesh in erster Linie ein muslimischer Staat sei. Dies äußert sich vor allem in einer wirtschaftlichen Benachteiligung der Hindus und der Ablehnung westlicher Einflüsse. Insgesamt sind diese religiös motivierten nationalistischen Strömungen mit Besorgnis zu sehen, wenn bei ihnen die Gewaltbereitschaft den Willen zur friedlichen Koexistenz überlagert.
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BhagavadgTI3 2. 31
Buddhis
e Kultur
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Antoll Grabller-Haider
Die buddhistische Kultur haI seit langem eine globale Ausstrahlung. weltweit wissen sich zwischen 500 und 600 Millionen Menschen ihr verbunden. Genaue Zahlen lassen sich nicht angeben. weil die Grenzen der Mitgliedschaft nicßcnd sind und weil große Länder wie China keine Religionsstatislik erlauben. Seit mehr als 150 Jahren sind buddhistische Lebenswerte auch in der westlichen Kultur bekannt geworden und haben ihre Sympathisanten gefunden. Auch die Formen der Meditation und der Daseinsdeutung werden von vielen Zeitgenossen geschätzt. Der Buddhismus versteht sich als eine universale Lebensorientierung bzw. Religion, zu der alle Menschen aus aUen Kulturen freien Zultiu haben. Er überliefen eine Daseinsdeutung und Lebensfonn, die sich sehr unterschiedlichen Zivilisationen anpassen kann. Entstanden ist er im 5. oder 4. Jh. v.Chr. in Nord indien, seine Wuneln liegen in alten Asketenbewegungen, die mit noch älteren YogaTraditionen in Verbindung stehen. Die prägende Gestalt dieser Lebensfonn war Siddharra Galltama, der nach westlichen Forschungen wohl zwischen 448 und 368 v.Chr. gelebt haI. Die früheste griechische Nachricht über diese Asketenbewegung in Indien haben wir seit 300 v.Chr., nach dem Kriegszug des Makedonierkönigs Alexander nach Westindien. Siddharta Gautama aus dem Adelsgeschlecht der Shakya (Shakyamuni) lebte in der Nähe von Kapila vastu. im heutigen Grenzgebiet zwischen Nepal und Indien. Er kannte die vedisch-brahmanische Tradition nur zum Teil, denn er gehörte der Shramana-Tradition an (1. Bronkhorst), der auch die Lebensdeutung des Jainismus (1ina) und der Upanishaden zuzuordnen ist. Die Shakya-Könige waren kaum von der Lebensordnung der Brahmanen geprägt, was an ihrer Heildtsordnung erkennbar ist. Siddharta Gautama soll mit 29 Jahren seine Sippe verlassen und den Weg der "Hauslosigkeit" gewählt haben. Er schloss sich einer Gruppe von Wanderasketen an, die es in dieser Region wohl schon lange Zeit gab. l , M. Huuer. Das ewige Rad. Religion und Kultur des Buddhismus. Graz 2001. 18-22. K. Meisig. Klang der Stille. Der Buddhismus. Freiburg 1996. 10-15.
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AnIon Grabner-Haider
Seine beiden ersten Lehrer lebten in der Yoga-Tradition. von ihnen lernte er die Techniken der Meditation und die strenge Askese des Hungerfaslcns. Ein Wendepunkt in seinem Leben war das Erlebnis einer Meditation in Bodh Gaya, bei der er sich als ein ..Erweckter" (Buddha) bzw. als ein "Erleuchteter" erlebte. Vorher soll er vom Gott Mara intensiv zum Erleben der Sinnlichkeit versucht worden sein, um ihn vom begonnen Weg der "Erlösung" (moksha) abzubringen. Denn er wolhe von den Leiden des Lebens. von der Angst vor dem Tod. vom Tun des Lebensfeindlichen und Bösen erlöst werden. Er halte nämlich erkannt, dass alles Leben leidvoll ist. weil Menschen krank werden. unter dem Alter leiden und slerben müssen. 2
Bei seinem Erleuchtungserlebniserinnert sich Gautama Siddharta seiner vielen früheren Existenzen, an die er glaubte. Er teilte also den nachvedischen Glauben. der in Indien seit dem 7. Jh. v.ehr. verbreitet wurde. dass jede Menschenseele in mehreren Leben wieder geboren werden müsse, um sich von alter Schuld zu reinigen. Zum andern erkannte er die Kraft des Kanna. das nach diesem Glauben durch die menschlichen Gedanken, Worte und Taten entsteht und dann über die neue Form der Geburt der Seele entscheidet. Seine dritte Einsicht bestand darin. dass zum einen das Nichtwissen um die wahren Zusammenhänge. zum andem die sinnliche Leidenschaft zu ständig neuen Geburten führt. Doch werden die vielen Geburten als leidvoll erfahren, weil sie immer mit neuen Schmerzerfahrungen verbunden sind. J
Oie Grundlehren der Daseinsorientierung Diese dreifache Erkenntnis soll nun zur Erlösung vom Leiden führen, denn der ständig sich wiederholende Kreislauf des Lebens kann unterbrochen werden. Der Erleuchtete (Buddha) glaubte zuerst nicht, dass auch andere Lebewesen und Menschen seine Einsicht verstehen werden. Doch der Schöpfergott Brahma drängle ihn, seine Erkenntnis auch anderen Lebewesen zu verkünden. Nun verließer Bodh Gaya und zog in die Ebene des Flusses Ganges, bei Benares soll er seine erste öffentliche Rede gehalten haben. Damit aber selzle er das .,Rad der Lehre" in Bewegung. indem er die vier "edlen Wahrheiten" erläuterte und den achtteiligen Pfad zur Erlösung verkündete. Seine Lehrtätigkeit soll 45 Jahre gedauert haben. mit 80 Jahren soll er meditierend gestorben sein. Die erste der edlen Wahrheiten ist die vom Leiden aller Wesen. denn die Geburt. das Altwerden, die Krankheit und das Sterben sind leidvoll. Kummer. Wehklage. Schmerz, Unmut und Unrast begleiten das Leben. Die fünf Arten des Festhahens am Sein (skandhas) sind immer mit dem Leiden verbunden. Nun betrifft die zweite edle Wahrheit die Entstehung des Leidens. Es ist der Durst nach dem Sein, der zu ständig neuen Geburten führt. Dieser intensive Durst verbindet sich mit der
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K. Meisig. Klang. 12-16. H. Dumoulin. Spiritualität des Buddhismus. Mainz 1995. 16-26. R.A. Gare!. Der Buddhismus. Genf 1981,71-84.
Buddhislische Kultur
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sinnlichen Lust und dem Vergnügen, mit dem Trieb nach erorischer Liebe. nach Selbsterhaltung und nach Reichtum. Die dritte edle Wahrheit bezieht sich auf die mögliche Aufuebung des Leides und hängt an der Aufuebung des Durstes nach Sein bzw. an seinem Loslassen. Und die vierte der edlen Wahrheiten besteht in der Erkenntnis des achlteiligen Pfades, der zur Erlösung vom Leiden führt. Er besteht in der rechten Einsicht, im richtigen Entschluss. in der rechten Rede, im richtigen Tun, im rechten Lebenswandel, im richtigen Streben, in der rechten Wahrheit und in der riChtigen Versenkung in der Meditation. Mit diesem achtteiligen Pfad ist das Grundprogramm der buddhistischen Ethik bzw. Lebensfonn umschrieben. 4 In der Gangesebene traf der Buddha auf die von den Brahmanen geprägten Kultur. Mit zwei Brahmanen, Vasishtha und Bharadvaja. diskutiert er und zeigt ihnen die Überlegenheit seiner Lehre. Er sagt ihnen. dass sie den Schöpfergolt Brahma nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hätten und dass ihre Lebensform dem Gou zuwider sei. Denn dieser sei besitzlos und zu allen Wesen freundlich. er sei allmächtig und tue keinem Menschen Böses. Doch die Brahmanen hälten viel Besitz und Reichtum. sie seien zu den Annen fcindselig und böse. und sic hällen keine magischen Kräfte. Folglich erkennen die Brahmanen nicht den Weg ihres Gottes. Allein der Buddha habe aufgrund seiner Erleuchtung den Weg des Gottes erkannt. er müsse diesen nun allen Geschöpfen verkündigen. j Nach der Sicht des Buddha können nur die Asketen die Vereinigung mit dem Gott Brahma erreichen. Denn sie leben besitzlos und gehen nach ihrem Tod in die Welt des besitzlosen Gottes ein. Der asketische Buddhist vereinigt sich also mit dem Gott der Schöpfung. Nun erkennen die beiden Brahmanen die Richtigkeit der Lehre des Buddha, weil er Umgestürztes wieder aufrichtet. das Verborgene enthüllt, den Verirrten einen Weg weist und den Menschen in der Dunkelheit eine Öllampe bringt. Sie nehmen deswegen zum Erleuchteten, zu seiner Lehre und zu seiner Asketengemeinschaft ihre Zuflucht, d.h. sie schließen sich ihnen an. 6 In diesem Gespräch wird der Gott Brahma als der Urheber der neuen Lehre gesehen, die Buddhisten verstehen sich als die neucn bzw. als die wahren Brahmanen. Sie sagen, die alten Priester hätten asketisch gelebt und ihre Leidenschaf· ten gezügelt, sie hätten ihr inneres Selbst gehütet. Sie hätten keine Viehherden besessen und kein Geld genommen, vielmehr hüteten sie Brahma und die Lehre der Weisheit als ihren Schatz, zu jeder Zeit hätten sie voll Tugend und Redlichkeit gelebt. Zu den Mitmenschen seien sie gütig und milde gewesen, mit Geduld und Freundlichkeit seien sie den Annen begegnet. Diese frühen Brahmanen waren der ewigen Weisheit des Gottes noch sehr nahe. Doch dann sei der Wandel zum Schlechteren gekommen, die Brahmanen woll· ten wie die Krieger und Könige leben. Deswegen schmückten sie sich mit Prunk • K. Mylius. Die vier edlen Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus. München 1996 204-206. } K. Mylius. Die vier. 210-220. 6 K. Mylius. Die vier. 108-110.
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Anton Grabncr-Haider
und Pracht, sie fuhren Kriegswagen mit edlen Rossen, sie sammelten bunte Teppiche. Ihre Frauen liebten den Reichtum, so wurden die Brahmanen gierig nach Besitz und Gold, sie dichteten große Hymnen und verlangtcn von den Reichen große Opfer. Sie fanden Gefallen am Reichtum, doch von der ursprünglichen Weisheit des Gottes seien sie abgefallen. Der Buddha zeige nun mit seiner Besitzlosigkeit den ursprünglichen Weg des göttlichen Brahma und der ewigen Weisheit. Folglich seien die Buddhisten die wahren Brahmanen.' Auf diese Weise kritisierten die frühen Buddhisten den Reichtum der Brahmanen und das Opfenvesen. Denn die großen Tieropfer waren nur den Reichen möglich. Sie kritisierten die brahmanische Lehre von den vier sozialen Kasten und relativierten die starre Ordnung der arischen Krieger. Der Zugang zur göttlichen Welt geschehe nicht durch die Riten und Opfer der Brahmanen, sondern durch gelebte Askese, durch regelmäßige Meditation und durch die gelebte Ethik des Mitgefühls. Dieser Erlösungsweg aber sei allen Menschen möglich. unabhängig von Besitz oder Armut. von Geschlecht und Kastenzugehörigkeil. Auf diesem Weg haben alle Menschen grundsätzlich die gleichen Chancen.
Das Modell der Erlösung Dieses egalitäre Erlösungsmodell wird nun ein Kennzeichen der buddhistischen Bewegung. Für sie ist die gelebte Ethik des Mitgefühls mit allen Lebewesen wichtiger als die Zugehörigkeit zu den Kasten. Am Anfang seien alle Menschen vor den Lichtgöltern gleich gewesen. es habe keine Sklaven gegeben. alle seien frei gewesen, die Männer seien nicht über den Frauen gestanden. Später sei diese Gleichheit verloren gegangen, die Hellen {Arier} hätten sich über die Dunklen (Ureinwohner) gestellt, die Stärkeren über die Schwachen. Dies wollen nun die Buddhisten verändern, sie wollen zur urspriinglichen Gleichheit aller Menschen zurück kehren. Die reichen Brahmanen und die Krieger seien nicht höher gestellt als die Besitzlosen und Armen. Wenn kein Lohn für unsere Taten erwartet wird und kein Karma angesammelt wird, dann kommt das Rad der vielen Geburten zum Stillstand,8 Jeder Mensch kann fortan sein Schicksal selbst bestimmen, er braucht nicht mehr die großen Opferriten der Priester. Das Ahnenopfer. das Somaritual und der Analogiezauber haben überhaupt keine Wirkung. Die blutigen Tieropfer sollen gänzlich aufuören, denn fortan gilt das Gebot der Nichtschädigung (ahimsha) von Leben. Kein Mensch und kein Tier sollen fortan verletzt oder getötet werden. Der Glaube an die Kraft der Riten wird durch die gelebte Moral des MitgefÜhls zu allen Lebewesen ersetzt. Dieser kulturelle Lernschritt transformiert die archaischen Opferriten in gelebte Ethik. 9
K. Mylius. Die vier, 220-224. , K. Meisig. Klang, 35-45. HJ. Greschat: Die Religion der Buddhisten. München 1980. 47-62. 9 R.A. Gare!' Der Buddhismus, 47-60. K. Meisig. Klang. 35-45. 7
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Wer regelmäßig den Annen Almosen spendet und seine Zuflucht zum Buddha nimmt. braucht keine Opfer auszuführen. Die vedischen Götter und die Lehren der Brahmanen werden damit relativiert. Es mag göttliche Wesen geben, doch sie bestimmen nicht das Schicksal der Menschen. Jeder Mensch soll sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, denn der erste Buddha ist mit seiner Erleuchtung über die Weh der Göller hinausgelangt. Diese wirken fortan als Hilfsgeister für den Buddha und für alle nach Erlösung Suchenden. Jeder kann auf dem Weg der Erlösung über die Brahmanen hinaus gelangen, ihre Autorität wird nicht länger anerkannt. In der Folge werden auch die metaphysischen Lehren der Brahmanen relativiert, die Wanderasketen glauben nicht mehr an die magische Kraft der priesterlichen Riten. Sie wenden sich von der brahmanischen Seelenlehre ab. indem sie nicht länger an eine gleich bleibende Seelensubstanzglauben. Was die Brahmanen Seele nannten, ist in Wahrheit eine vorüber gehende Ansammlung von Wirkkräften und Elementen. Es gibt im Menschen keine gleich bleibende Seele (atman), die sich mit dem Gott Brahma verbinden könnte. Unser Selbst ist ständig in Bewegung. im Werden und in Veränderung.. Deswegen hängt der Buddhist nicht an diesem Selbst, sondem er übt sich. es loszulassen. 10 Nun weiß ein Buddhist, dass er sich weder mit seinem Körper. noch mit seinem Gefühl oder seiner Wahmehmung. seinem Bewussten oder Nichtbewussten identifizieren kann. Alle diese fünf Faktoren unseres Daseins sind Rüchtig und veränderlich. Sie sind nicht das Selbst und nicht der Ort der Seele. Wer über diese Einsicht meditiert, wird sich nicht mehr an sein Selbst klammem. sondem er nähert sich dem Nirvana (Nibbana) und entkommt dem bisherigen Kreislauf der Geburten. Nirvana bedeutet Verwehen und ist nicht beschreibbar, es ist kein paradiesischer On. sondern das Ende der vielen Geburten. Die Erleuchtung bzw. das Erwachen (bodhi) besteht in der Einsicht, dass uns Menschen kein Selbst und keine bleibende Seele gegeben ist. sondem dass ständig sich ändemde Faktoren und Kräfte unser Leben bestimmen. Damit schafft er kein neues Karma mehr und meidet jede Verursachung einer neuen Geburt. Vom ersten Buddha wird erzählt, dass er in das endgültige Verwehen eingegangen sei. Weder die übertriebene Askese. noch der sinnliche Lebensgenuss bringen die Erlösung vom Leiden. allein der mittlere Weg zwischen den beiden Extremen führt uns an dieses Ziel. Kein Mensch soll sich durch Askese quälen, aber keiner soll auch nur für die sinnliche Lust leben. ll Im Disput mit dem Brahmanen Shona Tandya sagte der erste Buddha, für den Erlösungsweg seien nur die Sittlichkeit und die Entfaltung des Verstandes nötig. Die anderen Tugenden der Brahmanen, nämlich die Zugehörigkeit zu einer hohen Kaste, die Gelehrsamkeit in den Schriften der Veden und die Hellhäutigkeit der K. Meisig. Klang. 51-61. R. Gombrich (Hg.), Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart. München 1989.44-60. 11 K. Meisig, Klang. 68-74. M. Baumann. Buddhismus-Buddhism. Hannover 1999. 100-110. 10
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Aryas seien dafür ohne Nulzen. Jeder Laie sei angehalten. die Grundwene der Sittlichkeit zu leben und seine Vernunft zu entfalten. Allgemein gehen die fünf Verbote, die auch von den Yogaanhängem befolgt wurden: kein Leben lölen, kein fremdes Eigentum siehlen oder rauben, keine Lügen und Täuschungen verbrei~ teo, keine unerlaubten sexuellen Beziehungen leben und keine berauschenden Getränke trinken. 12
Oie moralischen Vorgaben Auf der gelebten Sinlichkeil und der Entfaltung des Verstandes baut die buddhistische Lebensform auf. Der Verstand hat die Aufgabe. den sittlichen lebenswandel zu lenken, zu kontrollieren und zu reinigen. Umgekehrt trägt die gelebte $iltlichkeit zur Entfaltung des Verstandes bei. der ohne moralische Nonn in die
Beliebigkeit gleitet. So sind die Sittlichkeit und der Verstand wie zwei Hände. die sich gegenseitig waschen. Das sittliche Handeln wird vom gesunden Menschenverstand gelenkt und kontrolliert. er sucht in allem den mittleren Weg zwischen den möglichen EKtremen. Deswegen folgen die Buddhisten in ihrer praktischen Lebensgestahung dem Vorbild des ersten Buddha. sie richten sich nach seiner Lehre (dhanna) und wissen sich der Gemeinschaft der Glaubenden (Sangha) ver· bunden. 13 Der Lohn für ein moralisches und sittliches Leben wird den Gläubigen schon in diesem Leben zuteil. Durch sie wird Leiden verringert, die Verletzungen durch Gewalt nehmen ab, die Lügen bestimmen nicht mehr das Leben. Es entstcht eine Lebenswelt. in der alle Vorteile haben und sich sicher fühlen dürfen. Nach dem Tod des ersten Buddha nahm die Zahl seiner Schüler stetig zu. dic asketisch lebenden Mönche wurden von den vielen Laienanhängern unterstützt. In den beiden Königreichen Koshala und Magadha, wo der frühe Buddhismus entstand. ist zu dieser Zeit ein wirtschaftlicher Wohlstand erkennbar. Die Laienanhänger waren in der Lage. die Mönche und Nonnen zu ernähren und ihnen während der Regenzeit feste Unterkunft zu geben. Erstaunlich ist, dass unter den frühen Laienanhängern viele Kaufleute und Landbesitzer waren und dass die Hälfte der Mönche in der Frühzeit aus den Städten und aus reichen Familien kam. Der frühe Buddhismus machte sich die wirtschaftliche Blüte seiner Zeit zunutze, denn der erste Buddha war ein Mitglied der Kriegerkaste. Er hinterließ seinen Schülern die Lehre (dharma) und die Ordenszucht (vinaya). damit sollten sie ihr Leben gestalten können. Als Grundsatz gah. dass alles Vergängliche durch das Leiden bestimmt werde. In jedem Menschen seien fünf verschiedene Daseinselemente (skandha); nämlich der sinnlich wahrnehmbare Körper (rupa). Empfindung und Gefühl (vedana). Wahrnehmung R.A. Gan!. Buddhismus. 102-108. K. Meisig. Klang. 70-78. K. H. Golzic. Werden Bogen beherrscht. Der Buddhismus. Dilsscldorf 1995.102-112. I) R.A. Gard. Buddhismus. 75-85. K. Meisig. Klang. 70-78. K.J. Notz (Hg.). Lexikon des Buddhismus. Freiburg 1998.65-82. U
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und Unterscheidung (samjna), Gestaltung und Willenskraft (samskara) und Bewusstsein (vijnana).14 Da aUe diese fünf Daseinselemente vergänglich und unbeständig sind, ist das Leben jedes Menschen leidvoll. Der menschliche Körper ist ein Teil der Natur und ihren Wandlungen unterworfen. Doch diese fünf Daseinselemente des Menschen bilden kein Selbst und keine Seele. Zwar ist vom frühen Buddha keine TextsteIle überliefert, in der er explizit die Existenz einer gleich bleibenden Seele leugnet. doch die jüngeren Kommentare zu seinen Lehren tun dies, indem sie vom NichtSelbst (anatman, anaua) sprechen. Weil die fünf Daseinselemente des Menschen vergänglich sind, gibt es kein bleibendes Selbst. Das Begehren (trishara) nach Sein und nach Leben ist die Ursachen von allem Leiden. Das Nirvana ist nun das Ende des Begehrens und der Leidenschaft, sodass die menschlichen Taten kein gutes und kein böses Karma mehr zur Folge haben. Wer das Nirvana erreicht hat, ist nach der Sichtweise des Theravada-Buddhismus (Hinayana) ein .. Heiliger" (arhant). Der Mahayana-Buddhismus hingegen richtet sich nach den Idealen des Bodhisauva, der solange auf das Eingehen in das Nirvana verzichtet. bis auch alle anderen Lebewesen dorthin gelangen. Der Weg zu diesem Ziel setzt das rechte Wissen voraus, die gelebte Sittlichkeit, die regelmäßige Meditation. Alle Handlungen, die fremdes Leben verletzen, müssen gemieden werden. Buddhisten sollen nicht als Schlächter, als Jäger, als Fischer. als Kerkerwächter und als Henker tätig sein.'~ Durch die Techniken der Meditation sollen die Gläubigen von den fünf störenden Affekten frei werden; nämlich von der Begierde, vom Hass, von derTrägheit, von derEitelkeit und vom Zweifel. Positiv gewendet sollen sie nach Gleichmut und innerer Ruhe streben, das Mitgefühl mit allen Wesen soll den Hass überwinden. Das eifrige Streben und Arbeiten darf die Trägheit gar nicht aufkommen lassen. Demut und Unterordnung wirken dem Stolz und der Eitelkeit entgegen. Wer an die Wahrheit der Lehre glaubt, wird von den Zweifeln des Lebens nicht mehr geplagt. Durch diesen neuen Lebensweg wird die Erlösung vom Tod gefunden, denn die Gläubigen haben keine Angst mehr vor dem Sterben. 16 Der Glaubende erreicht damit einen Glückszustand im Leben, der nicht mehr von der Angst vor neuen Geburten beeinträchtigt wird. Bald bildet sich im Bud~ dhismus die Unterscheidung zwischen dem kleinen und dem großen Erlösungsweg. Das kleine Fahrzeug (Hinayana) bietet vor allem den Eliten der Mönche und Nonnen den vollen Weg zur Erlösung an, während das große Fahrzeug (Mahayana) allen Menschen, den Mönchen und den Laien den Weg zum Nirvana anzeigt. Seit dem Konzil von Pataliputra lässt sich dieser Laienbuddhismus auch in den Lehrtexten deutlich erkennen. Darin wird der historische Buddha immer mehr zu einer überweltlichen und transzendenten Gestalt der Verehrung. Der Mensch
K. Meisig, Klang, 68-72. I' M. HUlIer, Das ewige. 36-42. I. H. Oldenburg. Reden des Buddha. Freiburg 1993,93-96. I'
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Gautama Siddharta ist für die Verehrung nicht mehr wichtig. die Hingabe gilt allein der überirdischen Buddhageslall. Der Laienbuddhismus unterscheidet sich vom Mönchsbuddhismus in weileren Aspekten. So geht der Bodhisattva erst dann in das Nirvana ein, wenn er mitgeholfen hat, dass alle Wesen erlöst werden. Das Mitleid mit allen Lebewesen konkretisiert sich in den sechs moralischen Vollkommenheiten, nämlich im freizügigen Geben von Gütern an die Mönche und die Annen, in der gen auen Befolgung der fünf Grundgebote bzw. Verbote. in der Geduld mit sich selbst und mü allen Lebewesen, in der inneren Kraft, um auf dem Erlösungsweg voran zu kommen; in der regelmäßigen Meditation und in der Vertiefung des Wissens um die große Lehre. 17 Im Glauben des Volkes fungieren göttliche Wesen als Hilfskräfte des himmli· schen Buddha. Dieser begegnet den Menschen in drei Körpern, nämlich als Körper der Erscheinung, als Körper des Genusses und als Körper der ewigen Weisheit (dharma). Die Frömmigkeit der Laien zeigt sich in den Sutren der vollkommenen Einsicht und in der Lehre vom Lotos des wahren Dharma. Sie folgt der ewigen Weisheit. die den Schein der Dingwelt erkennt und aufdeckt. Das höchste Sein ist uns Menschen unfassbar. es ist ohne Entstehen und ohne Vergehen. ganz ohne die Grenzen des Anfangs. der Mitte und des Endes. Es ist in seinem Wesen leer. und die Betrachtung dieser Leerheit des Seins führt zur Erlösung vom Leiden. Die Glaubenden versuchen. das Verhältnis zwischen der Dingwelt und der Leerheit des Seins richtig zu bestimmen. l ! Diesen Spekulationen der Mönche konllIe der volkstümliche Buddhismus kaum folgen. Deswegen verehrte das Volk vor allem die Weisheit und das gren· zenlose Mitgefühl des ersten Buddha, er war das große Vorbild in der praktischen Lebensgestaltung. Durch die Meditation der Achtsamkeit soll die Vergänglichkeit des Lebens erkannt und vertieft werden. Der Meditierende achtet auf die Vorgänge in seinem Körper, im Gefühl und im Denken. auf diese Weise erkennt er ihre Flüchtigkeit. Er löst sich von seinen sinnlichen Strebungen und konzentriert sich auf inneres Erleben. Darin erfahrt er das Gefühl der Überlegenheit über die Dinge der Außenwelt und erlebt tiefes Glück. Die Schule des Nagarjlma im 2. Jh. n.ehr. konzentrierte sich auf den Erlö· sungsweg der mystischen Erfahrung, der in der Verbindung des Seins mit dem Nichtsein erfahren wird. Hingegen versteht sich die Yogacara-Sclltlle als ein Weg der Handlung. das praktische Leben der Glaubenden orientiert sich an den sechs moralischen Vollkommenheiten. Die Erlösung soll erreicht werden durch gelebte Barmherzigkeit, durch reichliche Spenden, durch Geduld mit den Lebewesen. durch Ausdauer im moralischen Streben, durch Geschicklichkeit im Leben und durch die Suche nach der Weisheit. Die Glaubenden streben zur Erkenntnis. dass alle Dinge und Lebewesen in der Welt aus reinem Geist geschaffen wurden. Die M. Huttcr. Das ewige. 53-56. R. A. Gard. Buddhismus. 127-134. 11 K. Meisig. Klang. 36-44. M. Hutter. Das ewige. 56--60. 11
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Meditation soll den Schülern helfen. zu dieser Einsicht zu gelangen und mit ihr das Leben zu gestalten. Wenn alles Wahrnehmbare nur Geist (citta) ist, wie Vasubandhu lehrte, dann ist unsere Wahrnehmung das Ergebnis unserer schöpferischen Vorstellungen. Denn unser Bewusstsein rührt an den absoluten und ewigen Geist. der wie ein großes Meergedacht wird. in das alle unsereGedanken und Erfahrungen zurück kehren. In diesem Speicherbewusstsein werden alle Samen und Keime des Kanna aufgenommen. aus diesem alles umfassenden Speicher kommt dann wieder das individuelle Bewusstsein der Menschen. Damit stammt jedes einzelne Bewusstsein aus der Quelle des absoluten Geistes. Nach der Lehre des LolOs·Sutra (2. Jh. n.Chr.) ist der Buddha der große Arzt der Menschen. der die Glaubenden von allen Leiden befreit. die Blinden sehend macht und der wie ein Vater für seine Kinder sorgt. 19 Nach dem Lotos-Sutra hat der himmlische Buddha den Weg des rechten und des guten Lebens wieder hergestellt. von dem die Brahmanen abgeirrt sind. Die Schüler des Mahayana glauben. d.1SS es in der Welt viele Buddhas gibt. ja dass jede Weltgegend und jede Zeitepoche ihren Erwecktcn bzw. Erleuchteten hat. dcr den Menschen geschenkt wird. Diese Erleuchteten verkünden uns die Lehre vom Mitgefühl mit allen Leidenden und die Überwindung des Schmer.les. Aus dem Urbuddha seien fünf himmlische Buddhas geworden. der unerschütterliche Herr des Ostens. der edle Herr des Südens. der glänzende Herr des Westens, der wunderbare Herr des ordens und der sonnengleiche Herr der Mitte. Die Hilfs· bereitschaft dieser Buddhageslahen ist ohne Grenzen. die Gläubigen können sich in jeder Notlage voll Vertrauen zu ihnen wenden. zo
Die Ethik des Laienbuddhismus Der Mahayana-Buddhismus wird stark von altruistischen Lehren und Einstellungen geprägt. Denn weil alle Wesen vom Leiden erlöst werden sollen. ergibt es keinen Sinn. wenn nur wenige nach der Erlösung streben und wenn nur die eigene Erlösung angestrebt wird. Der Bodhisattva geht erst dann in die volle Erlösung ein. wenn cr die vielen Wesen dorthin mitgenommen hat. Nun geschieht die Er· lösung aber durch die Gnadenkraft des ersten Buddha, die von den Glaubenden erfleht werden kann und soll. Die moralischen Verdienste (punya) der Gläubigen können auch auf andere Lebewesen übertragen werden. Auf diese Weise kann jeder Mensch zu jeder Zeit der Buddhanatur teilhaftig werden. alle sind ohne Unterschied zur vollen Erlösung vom Leiden fahig. Nach Möglichkeit sollen ein Leben lang die zehn moralischen Vollkommenheiten angestrebt werden. Jeder soll seinen Mitmenschen mit Güte und Bann· herzigkeit begegnen, die sittlichen Gebote sind genau zu befolgen; Geduld mit allen Lebewesen prägt das alltägliche Verhalten. Die innere Kraft soll durch die M. HUller. Das ewige. 64-66. H. Dumoulin. SpirilUaliläl. 112-122. JO M. Huuer. Das ewige. 70-74. H. Bechen. Der Buddhismus. Sfullgan 2OClO. 65-70.
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regelmäßige Meditation gesteigert werden, dann schreitet der Glaubende auf dem Weg der Erkenntnis weiler. Er übt sich in der Geschicklichkeit. um das Gelernte im alltäglichen Leben anzuwenden. Bei allem orientiert er sich an der Weisheit des ersten Buddha und bittet um seine Gnadenkraft. Er hat viele geistige Helfer. auch weibliche Buddhas stehen ihm zur Seite; besonders beliebt ist die liebliche Göttin Kannon mit dem Kind in den Armen. So erscheint der erste Buddha den Glaubenden in vielen himmlischen Gestalten. ll Der chinesische Choon-Buddhismus kam im 6. Jh. n.Chr. nach Japan und entwickelte sich dort zum Meditations-Buddhismus (Zen) weiter. Der Mönch DosJro gründete in der alten Hauptstadt Nara die erste Medit3lionshalle. Die Basis dieser Lehre ist der Laienbuddhismus. der sich sehr früh mil daoistischen Lehren aus China verbunden haUe. Er unterscheidet sich deutlich vom volkstümlichen Glaubensbuddhismus (Shin). der das kindliche Vertrauen der Gläubigen auf den ersten Buddha betont. Die Lehre des Zen setzt vielmehr auf die eigene Anstrengung jedes Gläubigen bei der Meditation und im moralischen Leben. Durch strenge Disziplin und Askese ist es möglich. aus eigener Kraft auf dem Weg zur Erlösung voran zu schreiten. Wer sich von den Bindungen an die Dinge der Außenwelt gelöst hat. kann mit Gelassenheit sein Leben gestalten. Denn alles ist in Bewegung und Veränderung. wir bewegen uns über den Abgründen des Namenlosen. Alle unsere sprachlichen Begriffe sind ungenügend. um das Namenlose zu beschreiben. Daher sucht der Mystiker den Weg der Stille und des Schweigens. Darin erkennt er die tiefe Wahrheit des Seins und des Nichts und durchschaut die Außenwelt als Täuschung. Wer einmal die Leerheit der Außenwelt erkannt hat. vermag alle Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu ertragen. Deswegen sucht der Mystiker das Erlebnis der Erleuchtung (satori) inmitten der alltäglichen Arbeiten und Verpflichtungen. Der Gläubige ist bestrebt. die täglichen Verpflichtungen der Arbeit genau auszuftihren. in allem sucht er die Gelassenheit und das innere Gleichgewicht. Bei der regelmäßigen Meditation versucht er. sein Denken. sein Reden und sein Handeln von bösen Einflüssen zu reinigen. Er ist überzeugt. dass die richtige Grundhaltung sein Denken. Reden und Tun moralisch gut macht. Der Gläubige übt sich in der Achtsamkeit gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und allen Lebewesen. er achtet auf die kleinen Dinge des Lebens. Er weiß um die Vergänglichkeit der Dinge und dringt in die wahre Natur seines Geistes ein. Indem er sein Leben nach innen orientiert, erfIihrt er den tiefen Grund des Seins und des Nichts. Erwill im Einklang mit der Natur leben. denn sie steht dem ewigen Urgrund sehr nahe. Das Leben lässt er geschehen. wie es auf ihn zukommt Auf keinen Fall will er durch hektisches Handeln etwas erzwingen. Beim Essen und Trinken ist er maßvoll. er will nichts übertreiben. Wenn er alle Bindungen an die Außenwelt ablegen kann. dann erlebter Ruhe und Zufriedenheit. Intuitiv schaut er
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d.ieewige Welt des Buddha, dieer mit dem ewigen Urgrund des Dao in Verbindung bringt. Auf dem mittleren Weg will er sein Leben ohne Qual gestalten. 22 Anders orientiert sich der japanische Volksbuddhismus. der sich vor allem auf den festen Glauben (shi,,) an den ersten Buddha verlässt. Die Anhänger suchen die fromme Hingabe an den Erleuchteten, von dem sie sich in allen Notlagen Hilfe erwarten. Sie rufen ihn als den Amida-Buddha an, als den glanzvollen Herrn des himmlischen Paradieses. Sie erzählen von einem "reinen Land" des Westens, in dem sie wieder geboren werden wollen. Allein durch die Gnadenkraft des ersten Buddha wollen sie von den Leiden und vom Bösen erlöst werden, die eigene moralische Anstrengung halten sie dabei nicht für wichtig. Sie verlassen sich voll Vertrauen auf den himmlischen Buddha als den Verkünder der großen Wahrheit und den Erlöser aus allen Leiden. Als Ziel ihres Lebens stellen sie sich einen Paradiesgarten mit Vögeln und Blumen, mit Düften und Wohlgeruchen vor. Dort fließen Bäche mit klarem Wasser, überall ertönt liebliche Musik. alle Menschen leben glücklich und im inneren Gleichgewicht. Doch die Zweifler können den himmlischen Buddha gar nicht sehen, nur die Gläubigen können vom Leiden erlöst werden. Freilich müssen alle Glaubenden auch gute Taten vollbringen, um vom Bösen erlöst zu werden. Doch wird die eigene Anstrengung immer durch die Gnadenkraft des Buddha ergänzt. Wenn die Glaubenden an ihn denken und seinen Namen aussprechen, wenn sie ihn voll Vertrauen anrufen, dann wird ihnen Hilfe zuteil. Auch die Verbrecher und Übeltäter können den himmJischen Buddha anrufen. doch er ruft sie zur Umkehr von ihren bösen Taten. 23 Der Vajrayalla-Buddhismlls oder das "Diamantene Fahrzeug" wird heute noch in Tibet und in Japan gelebt und hat auch in der westlichen Kultur Anhänger. Er nahm Elemente der indischen Tamralehre und der tibetischen Volksreligion in sich auf. Deswegen wurden die verschiedenen Riten wichtig, denn auch sie tragen zur Erlösung vom Leiden und vom Bösen bei. Der Diamant (vajra) ist das Symbol für die Leerheit der letzten Wirklichkeit. Die Gläubigen sprechen magische Fomleln, um sich in der Meditation zu vertiefen. Sie verehren neben dem ersten Buddha viele Bodhisattvas, aber auch alte Volksgötter (Devas) und Heilige. Sie werden als Vorbilder der konkreten Lebensgestaltung angesehen. Voll Vertrauen rufen die Glaubenden den glanzvollen Amida-Buddha an, von ihm erbitten sie Hilfe in der Not und Glück des Lebens. Von den weiblichen Bodhisattvas erbitten sie Hilfe bei Krankheiten und heilende Kräuter. Sie kennen viele Zauberspruche, um Unheil abzuwenden und Lebensglück zu vermehren. Dabei rufen sie männliche Hilfsgötter (Devas) und weibliche Gottheiten (Devis) an, um Not abzuwenden. Durch Riten und gemurmehe Fonneln sollen böse DämonenausderMenschenwelt vertrieben werden. Die Mönche und Nonnen gelten als die wahren Vorbilder des moralischen Lebens. sie sind an besondere :l K. Meisig, Klang, 163-183. Hol. Grcschal. Die Religion. 76-88. :J
K. Meisig. Klang, 177-182.
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Gebote und Verbote gebunden. Doch alle Gläubigen wissen sich zu Mitgeflihl mit den Leidenden, zum Almosengeben. lurGeduld und zur Achtsamkeit verpflichtet. Auch sie wollen durch die Meditation ihre Gedanken. Worte und Taten von bösen Einstellungen reinigen. z• Auch altindische Tantrarilcn werden ausgeführt. um auf dem Erlösungsweg voran zu kommen. Doch derGnadenweg des Buddha soll dieeigenen moralischen Anstrengungen der Gläubigen verstärken. Jeder Gläubige benötigt Ausdauer und Geduld. er muss sich auf die großen Lehren konzentrieren. Lieder und Gesänge. Bilder und Riten helfen mit. die Meditation zu vertiefen und dem Buddha nahe zu kommen. Die Mönche und Nonnen leben nur zeitweilig asketisch und in Klöstern. einige von ihnen können nach der Zeit im Kloster heiraten und eine Familie grunden. Die Gläubigen schätzen das Erleben von Sinnlichkeit und Sexualität als ein Mittel auf dem Weg zur Erlösung. Im volkstümlichen Buddhismus leben auch Elemente der indischen Shak· ti-Lehre weiter. Denn die Shakti ist die weibliche Lebenskraft des männlichen GOlles. die dieser benötigt. um ganz zu sein. Frauen leiten die Rituale. weil die weibliche Lebenskraft die Erlösung vom Bösen und vom Leiden voran bringt. Deswegen werden weibliche Buddhas und Bodhisauvas angerufen und verehrt. auch die Freudenmädchen haben zu den Riten und Gebeten Zutriu. Das Erleben der Sexualität am heiligen Ort wird als Begegnung mit der Buddhawelt gedeutet. In den sexuellen Riten nehmen Frauen und Männer die Lebenskraft des anderen Geschlechts in sich auf. In Tibet wird die alte Munergönin Tara verehrt. sie soll die Polarität der Geschlechter überwinden helfen. Das Erleben von sinnlicher Lust gilt als eine Vorstufe zur Erlösung. es muss sich aber mit gelebter Moral verbinden. Es gehen die Ziel werte des Mitgeflihls mit den Armen und Leidenden und die liebevolle Hingabe an die Welt der Buddhas. Auf Rache soll verzichtet werden. Gewalt soll nur zur Verteidigung angewendet werden. Feinde mOssen sich versöhnen. damit der Friede bewahrt werden kann. Wir erkennen in dieser Moralordnung deutlich weibliche Lebenswerte. l l
Moralregeln des täglichen lebens In den AnHingen wurde die buddhistische Moral vor allem von den Mönchen und Nonnen geprägt, denn sie beanspruchten, der Erlösung näher zu sein als die Laien mit ihren Familien. Im Lauf der Entwicklung formten die Laien ihre eigene Spiritualität und Lebensform. die allerdings auf das Vorbild der Mönche und Nonnen bezogen blieb. Auch wenn gelehrt wurde. dass beide Geschlechter zur Erlösung fahig sind und dass Körper und Geschlecht vergehen. so blieb doch eine männliche Dominanz auch in der Ethik. Zuerst wurde sogar gelehrt. dass nur l
l'
HJ. Greschat. Die Religion. 85-98. K_ Meisig. Klang. 183-190. M. Baumann. Buddhismus. 105-112. K. Meisig. Klang. 188-190.
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Männer in das Nirvana eingehen konnten. Später wurde diese Lehre aufgegeben bzw. im Volk nicht mehr akzeptiert. Für Mönche und Nonnen gelten strengere moralische Regeln als für Laien; sie sollten nur einmal am Tag essen. Tanz und Gesänge. Musik und Schauspiel meiden. auf Schmuck, Duftstoffe und Salben verzichten. Auf hohen und großen Betten sollten sie nicht liegen. Gold und Silber durften sie nicht als Geschenke annehmen.1#) Sie verpflichteten sich. nahe bei der Natur zu leben und aufVerweich· lichung zu verzichten. Musik. Gesang und Tanz kennen sie nur beim Ritual. an den Belustigungen des Volkes nehmen sie nicht teil. Um der Natur nahe zu sein, liegen sie auf Strohmatten oder auf der Erde. Schmuck verträgt sich nicht mit ihrem Gelübde der Armut. Besitz dürfen nurdie Klöster aisGemeinschaften anhäufen. die einzelnen Mönche und Nonnen sollen privat nichts oder nur sehr wenig besitzen. Die Gläubigen sind angehalten. den Klöstern reichlich Gaben zu geben. So gelingt es diesen. rei· che Kulturschiitze zu sammeln. auf die Mönche und Laien stolz sind. Die Mönche und Nonnen sollen nur eine Almoscnschale. einen Wasserfilter. eine Haarschere. eine Nadel. einen Stab und einen Zahnstocher als Holz bei sich tragen. Alle anderen Güter gehören der Gemeinschaft des Klosters. die im Verhähnis zu den Laien sehr reich sein konnten. Zu Neumond und zu Vollmond wird injedem Kloster ein Ritual derGewissens· erforschung und der inneren Reinigung durchgeführt (uposatha). In einem Rezitationstext werden 227 mögliche moralische Vergehen aufgezählt und verinnerlicht. Die Mönche und Nonnen denken darüber nach, ob sie dagegen verstoßen haben. Wer sich einer Verfehlung bewusst wird. muss sie in der Versammlung öffentlich bekennen. Dreimal wird die Frage nach einer möglichen Verfehlung an jeden Teilnehmer gestellt. Wer eine Sünde verschweigt, fallt auf dem Erlösungsweg weit zurück. Wer sich keiner Verfehlung bewusst ist, schweigt im Ritual. l1 Vor diesem Ritual bekennen sich die Mönche und Nonnen gegenseitig ihre Verfehlungen. Das Kloster ist ein Ort der Lehre und der Unterweisung. der Meditation und der Bildung. und zwar für Mönche und Nonnen. aber auch für Laien. Diese besuchen für kurze oder längere Zeit ein Kloster, um sich in der Lehre weiter zu bilden, um die moralischen Pflichten zu vertiefen. um die Meditation zu üben und die richtige Lebensfonn zu lernen. Klöster sind immer Ürte der moralischen Bildung und Fonnung für Mönche und Laien. Die Lebensform der Buddhisten ergibt sich aus der großen Lehre (dharma). aus den moralischen Geboten und aus den Formen der Meditation. Das Wissen meint die Einsicht in die Unbeständigkeit der Dinge und Lebewesen und in die Möglichkeit. den Kreis der Geburten zu beenden. Die Handlungen derGlaubenden werden durch die innere Gesinnung und Einstellung geprägt. Und bei der Meditation übt sich der Glaubende im rechten Denken. in der Aufmerksamkeit und in der inne· M. WinlcmilZ. Der illere Buddhismus nach Tcucn des Tipilaka. Tübingcn 1929. 131-t34. n K. Mylius. Dic vicrcdlen. 314--320. ~
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ren Stille. Die Ethik besteht in der Anwendung der erkannten Wahrheiten in der praktischen Lebensgestahung. Wichtig ist die Formung der inneren Einstellung. die dann zu guten Taten des Mitgefühls und der Hilfe führen soll. Wir haben es offensichtlich mit einer Gesinnungselhik zu tun, die überzeugt ist. dass die gute Gesinnung auch zum guten Handeln führen wird. Von Buddha wird der Satz überliefert: ..AlIes Böse meiden. das Gute tun und das eigene Herz läutern". Das moralische Handeln verfolgt das Ziel. die innere Einstcllungzu läutern. um zum Nirvana zu gelangen. Die Leiden aller Lebewesen sollen verringert und schrittweise überwunden werden. Das friiheGelöbnis der Glaubenden lautete: .. lch gelobe. mich desTötens zu enthalten. mich des Stehlens zu enthalten. mich der Lüge zu enthalten. mich des unrechten Wandels in der Sinnenlust zu enthalten". Erst später kam das fUnfte Versprechen dazu: ..Ich gelobe. mich der Berauschung zu enthalten·'.21 Die frühen Kommentare zu diesen fünf Grundgeboten betonen das Mitleid (karuna) mit allen Lebewesen und die Güte (maitri) zu den Mitmenschen. Bald wurden als moralische Regeln die sechs bzw. später die zehn Vollkommenheiten entwickelt. denen jeder Gläubige folgen sollte. Lange Zeit diskutiert wurde das Verbot, Leben zu töten: denn es war nicht klar. ob sich dieses Verbot auch auf das Leben der Tiere bez.ieht. Bis heute ist keine scharfe Grenze gezogen. doch wer das Fleisch von Tieren isst. kommt auf dem Erlösungsweg langsamer voran als der vegetarisch Lebende. Viele Gläubige leiten aus diesem Verbot aber einen besonderen Schutz der Tiere ab.
Die Suche nach Weisheit und Mitleid Nach der indischen Lehre von der Wiedergeburt der Seele konnte ihre Einkörpe· rung in einem Menschen, einem Tierodereiner Pflanze erfolgen. Damit waren die Grenzen zwischen den Lebewesen grundsätzlich durchlässig geworden. Gewiss wurde das menschliche Leben viel höher gewertet als das tierische. doch Buddhisten kultivierten die Ehrfurcht vor jeder Fonn von Leben. auch von Pflanzen. Das Programm des Nichtschädigens (ahimsha) bedeutet ursprung Iich: nichl erschlagen und nicht verletzen. Die Jainas halten in Indien schon seit dem 5. Jh. gelehrt, dass alle Lebewesen geschützt werden müssen. Damit standen auch sie in Opposition zu den Tieropfern der Brahmanen. Für die Buddhisten bedeutet ahimsha Respekt vor dem eigenen Leben, vor dem Leben der Mitmenschen, und abgestuft vor dem Leben der Tiere und der Pflanzen. Ein Text des Königs Ashoka zeigt diese moralische Grundhaltung an . ..Was früher nicht geschehen ist. wird heute durch die dhanna-Unlerweisung des Königs gefordert: das Nichnölen von Tieren, das Nichlverletzen von Lebewesen. anständiges Benehmen zu den Verwandten, zu den Shramanas und Brahmanen. Gehorsam gegenüber den Eltern. Ehrfurcht vor den Alten". l9 K. M)'lius. Die vier edlen. 128-131. :- U. Schneider. Die großen Fclscnediktc Ashokas. Wiesbaden 1978. 107-109. ZI
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Einige Pali·Texte betonen. dass die Nichtbefolgung des ahimsha·Gebotes mit drei bösen Geisteshaltungen zusammenhängt. nämlich mit der Gier nach Besitz und Reichtum (lobha). mit dem Zorn (krodha) und mit der Täuschung der Sinne (moha). Auch die Yoga-Anhänger waren überzeugt, dass die Zähmung von Gier und Zorn und die Überwindung des Nichtswissens die Voraussetzung fur den Erfolg der Meditation darstellen. Denn nur durch das Zusammenwirken von regelmäßiger Meditation und moralischem Verhalten im täglichen Leben können die Gläubigen auf dem Weg der Erlösung voran kommen. Wer sich vom Durst nach Leben und von der Gier nach Besitz und Reichtum zu lösen vennag. kann ganz ohne Anwendung von Gewalt sein Leben bestehen. JO Nur unerleuchtete Wesen. die im Nichtwissen verstrickt sind. wenden Gewalt gegen fremdes oder das eigene Leben an. Sie fuhren Kriege und töten andere Menschen. denn sie kennen nicht die negativen Folgen ihres Handeins. Folglich beginnen glüubige Buddhisten nicm,lls von sich aus einen Kampf oder Krieg gegen Frcmde oder sog. Feinde. Aber sie verteidigen sich mit allen möglichen Mitteln. wenn sie von anderen angegriffen werden. Sie üben ein Leben lang die Gewaltlosigkeit. weil sie überzeugt sind. dass jede Anwendung von Gewalt die Täter auf dem Erlösungsweg weit zurück wirft. Eine starke Motivation für das soziale Verhalten beinhaltet die MahayanaLehre. dass alle Lebewesen vom Leiden erlöst werden sollen. Von diesem Ziel her müssen alle Gläubigen rur alle Wesen mitsorgen und mitfUhlen, auch für Tiere und Pflanzen. Wenn die Menschen sich gegenseitig helfen und rur einander Sorge tragen. dann wird es möglich. dass viele Wesen im Frieden leben können. Jeder Gläubige soll dazu beitragen. das Leiden aller Wesen zu verringern. In der Gesellschaft bedeutet dies. dass jeder Mensch eine hohe Achtung vor dem Leben seiner Mitmenschen hat, wie auch immer dieses beschaffen sein mag. l l Die Gewaltfreiheit gilt auch in den familiären Beziehungen. in der ehelichen Partnerschaft und zu den Kindern. vor allem aber beim Erleben der Sexuali· täl. Freilich zeigen viele buddhistische Texte eine ambivalente Einstellung von Männern zu Frauen. auch deutliche Abwertung des weiblichen Geschlechts ist erkennbar. Doch der ttmtriscJre Buddhismus sieht im Erleben der Sexualität und der sinnlichen Lust ein Fortschreiten der Gläubigen auf dem Weg zur Erlösung. Für ihn ist der Körper der Sitz der Glückseligkeit. in der sexuellen Vereinigung wird die Polarität der Geschlechter aufgehoben. Männer und Frauen erleben eine tiefe Einheit. Folglich müssen alle sexuellen Beziehungen durch Gewaltlosigkeit geprägt sein. kein Partner darf abgewertet oder verletzt werden. Das dritte buddhistische Gebot (shila) besagt. dass in der sexuellen Beziehung kein Partner verletzt ooer geschädigt werden darf. Gemäß der strengen Auslegung wäre damit auch die Abwertung der Frauen in patriarchalen Kulturen verboten. Aus Achtung vor dem Leben und aus Solidarität mit allen Lebewesen müssen 'G )1
M. Hutter. Das~wige. 218-220. K.H. Golzic. Werden Bogen. 134-145. M. Baumann. Buddhismus. 112-118. M. Hulter. Das ewige. 218-222.
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Kinder in der Familie angenommen werden. Sie dürfen keinesfalls ausgesetzt oder getötet werden. Auch die Abtreibung von ungewollten Schwangerschaften ist nicht erlaubt, denn dabei wird werdendes Leben getötet. In Ländern. wo die Abtreibung als Minel der staatlichen Geburtenkontrolle eingesetzt wird. müssen die betroffenen Frauen viele Riten der Reinigung vollziehen. Und Frauen. die eine Fehlgeburt erlitten haben. rufen weibliche Bodhisattvas an. um in Zukunfl eine glückliche Geburt zu haben. Die sexuelle Prostitution wird nicht generell verboten. denn sie gehört zum Kreislauf des Lebens. Weil aber die sich prostituierenden Frauen und Männcr negatives Karma auf sich laden. sollen die Gläubigen ihnen viel Mitleid entgegen bringen, um die negativen Folgen rur den Erlösungsweg auszulöschen. Da vor allem die Männer sich den sexuellen Begierden hingeben. gehört die Prostitution zum weil lichen Leben. Die sich der käunichen Liebe hingebenden Frauen bekommen bei den Nonncn Hilfe und Zuwendung. sie müssen sich vom böscn Karma reinigen und ein neucs SelbstwertgefOhl aufbauen. Für viele Frauen. z.B. in Thailand. kann das Überleben der Familie nur durch Prostitution gesichert werden. Die Nonnen bieten ihre spirituelle und rituelle Hilfe auch dcn Fmuen nach Fehlgeburtcn oder nach Abtreibungen an. l2
Arbeit und Schub der Umwelt Die Menschen benötigen Besitz. um überleben zu können. Auch Reiche und Besitzende können den Weg des Buddha gehen. sie müssen allerdings ihre Gier nach Besitz und ihre Verhaftetheit am Reichtum innerlich aufgeben. Sie können viel von ihrem Besitz als Almosen rur Klöster. oder rur Anne und Leidende geben. Der Reichtum soll fur soziale Stiftungen und Verpflichtungen genutzt werden. denn alle Menschen sollen die Chance zum Überleben haben. Erst wenn kein materieller Mangel mehr besteht und das Überleben gesichert ist. können die Gläubigen beginnen. sich auf den spirituellen Weg der Erlösung zu begeben. Alle Gläubigen werden zu eifriger Erwerbstätigkeit ennahnt. um mit ihren Erträgen auch Mitmenschen ernähren zu können. Daher soll jeder Gläubige einer Arbeit nachgehen. ob Mönch. Nonne oder Laie. Alle müssen ihren Beitrag für den Unterhalt der Gesellschaft leisten. Wenn wirtschaftlicher Wohlstand erwirtschaftet wird, dann sollen alle in einem übcrschaubarem Bereich daran teilnehmen können. Folglich müssen in einer Gesellschaft alle Menschen die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen und dafür entlohnt zu werden. Doch niemand soll sich aus Gier nach Besitz und Reichtum von der Arbeit versklaven lassen. Auch in der Arbeitsethik gill der Weg des mitt· leren Maßes. sowohl die Faulheit. als auch die körperliche und geistige Überanstrengung sollen vennieden werden. Die rechte Tat ist ein wesentlicher Teil des achtgliedrigen Weges. ': M. Huner. Das ewige. 222-224. K. Mcisig. Klang. lO8-t 16.
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Diese rechte Tat umschließt bestimmte Aufgaben. sie schließt aber bestimmte Berufe und Tätigkeiten aus. Buddhisten sollen nicht als Schlächter. als Jäger. als Fischer und als Henker arbeiten. der Handel mit Menschen ist ihnen verboten. Sie sollen sich auch nicht an der Verwertung und Vermarktung von Fleisch beteiligen, auch Geschäfte mit Waffen und mit Drogen sind ihnen verboten. Die rechte Tat soll so gewählt werden. dass die Arbeit fur die Gemeinschaft nützlich und flir den eigenen Erlösungsweg fOrderlich ist. Sie darf gegen keines der fünf Grundgebote verstoßen. Für Mönche und Nonnen gelten bei der Arbeit noch strengere Verbote. sie sind an ihre funf Gelübde gebunden. Grundsätzlich gill. dass keine Form der Arbeit andere Menschen und Lebewesen schädigen und zerstören darf.J3 Eine besondere Betonung findet die Solidarität mit dem nichtmenschlichem Leben. Vom ersten Buddha wird berichtet. dass er tiefes Mitleid mit den Tieren gezeigt habe. Und frühe Legenden erzählen, dass sich ein Tier dem Jäger geopfert habe. Doch es habe ihn dann überzeugt. weiterhin aufFleischgenuss zu verzichten. Einige Texte sagen. dass die Buddhanatur sich auch in den Tieren zeigen könne. Vor allem die Mahayana-Buddhisten sind überleugt. dass alle Lebewesen an dieser hinunlischen Natur Anteil haben können. Vom König Ashoka wird berichtet. dass er die Tötung von Tieren fOr Opferlwecke verboten hat. ja dass er sogar Heilungsorte für verletzte Tiere eingerichtet habe. Er wies die Ärzte an. nach Heilkräutern für die Menschen und die Tiere zu suchen.~ Diejenigen Tiere. welche von Menschen zur Arbeit eingesetzt werden, dürfen nicht gequält und überfordert werden. Denn sie stellen ihre Kraft den Menschen freiwillig zur Verfügung. Der Gläubige muss rur das Wohl seiner Haustiere sorgen. auch in ihnen kann die Buddhanatur versteckt sein. Das nichtmenschliche Leben ist ein Teil der Natur. deswegen hat der gläubige Buddhist hohe Achtung vor ihm. Er unterlässt es. die Mitnatur zu schädigen oder zu zerstören. sie bietet den Lebensraum für Menschen und für Tiere. Japanische Buddhisten betonen das Einssein von Mensch und Natur. beide sollen in einer harmonischen Beziehung leben. dann geht es heiden gut. Im 20. Jh. sind in den buddhistischen Ländern Bewegungen zum Umweltschutz und zur Bewahrung der Natur entstanden. Sie werden unter dem Sammelnamen .. Öko-Buddhismus" zusammen gefasst. Vor allem die japanischen Rinzai-Tempel pflegen die Naturfrömmigkeit und leiten die Gläubigen zu Ehrfurcht vor der ganzen Mitnatur an. Manche Lehrer zählen die Natur und die Umwelt zur Gemeinschaft der Glaubenden (Sangha). deswegen müssen sie in besonderer Weise geschützt werden. Andere Organisationen bemühen sich um die nationale und die globale Bewahrung des Friedens (Buddhist Peace Fellowship). denn zum sozialen Frieden der Menschen zählen sie auch die Bewahrung der Schöpfung und den Schutt der Natur.
HJ. Greschat. Die Religion. 124-128. M. Hulter. Das ewige. 222-226. )00 U. Schneider. Die großen. 105-107.
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Die International Society for Ecology and Cullure (seit 1978) bemüht sich
weltweit um den Schutl der natürlichen Umwelt. um die Entwicklung der Ku)· turen und um soziale Gerechtigkeit in den einzelnen Gesellschaften. Alle diese Bemühungen werden vom Prinzip der Gewaltlosigkeit (ahimsha) getragen und motiviert. Dazu kommt das geforderte Mitleid mit allen Lebewesen. die Angst vor den negativen Folgen der Gewalt und die Sorge um das Fortschreiten auf dem Weg lUT Erlösung. Denn die moralische Lebensfonn ist die Voraussetzung für die erfolgreiche Meditation. Das gelebte Mitgefühl. die rechte Aufmerk· samkeit und die regelmäßige Meditation prägen die Lebensform des gläubigen Buddhisten." Ein Buddha ist ein erleuchteter Mensch. der sich von den Mitmenschen durch sein tiefes Mitgefühl mit anderen Lebewesen. durch seine starke Liebe zu ihnen und durch die innere Gnadenkrafl. vor allem durch seine moralische Reinheit deutlich abhebt. Seine Gedanken. seine Worte und Handlungen streben nichts Böses mehr ;:In. in ihm sind überwehliche Kräfle wirksam. folglich kann sein körperliches Leben sein wahres Sein gar nicht ausdrücken. Über dem irdischen ist ein geistiger Körper wirksam. der von der ewigen Lehre und Wahrheit geformt wird. Dieser geistige Körper ist unsichtbar und unvergänglich. er ist mit der letzten Wirklichkeit in Verbindung. In diesem ewigen Dharma-Körper vereinigen sich alle Buddhas. So lebt ein Erleuchteter in einem Körper der Freude und der Wonne. dies ist die Folge seiner moralischen Verdienste. die er in einem langen Leben angesammelt hat. Diese Grundlehren des Mahayana prägen die moralischen Lebensziele des Gläubigen. Denn jeder Schüler des ersten Buddha soll sich bemühen. die Buddhanatur in seinem Leben zu entdecken und zu entfalten. Dies gelingt ihm in kleinen Schriuen. wenn er MitgefÜhl zu den anderen Lebewesen zeigt. wenn er auf Rache rur erlittenes Böses verzichtet. wenn er keinerlei Gewalt anwendct und wenn er solidarisch mit den Armen lebt. Er soll sein Leben lang nach der bleibenden Wahrheit suchen und sich in Barmherzigkeit und Milde üben.:wi Im späteren Mahayana werden die Barmherzigkeit und das Mitgefühl noch stärker betont als das innere Suchen nach der ewigcn Wahrhcit. Deswcgen soll ein Mönch haus los leben und sich von den Dingen der Welt trennen. denn sein Dasein muss sich nach der ewigen Lehre richten. Zu jeder Zeit muss er seinen Körper abhärten und seinen Geist schulen. dazu aber benötigt er die Freundschaft mit weisen Männem und Frauen. Die weltlichen Geschäfte sollen ihn nicht von seinem inneren Streben abbringen. denn sein Auge blickt immer auf die Wahrheit des Erleuchteten. Die Hitze und die Kälte. Leiden und Schmerz muss er ertragen lernen. denn er weiß um die Vergänglichkeit aller Dinge und Erfahrungen. Je besser er seine Buddhanatur erkennt. umso mehr schreitet er auf dem Erlösungsweg fon. M. HUller. Das ewige. 225-231. H. Bechert. Der Buddhismus. t48-150. ~ R.A. Gard. Buddhismus. 100-106. K.H. Golzic. Wer den Bogen. 134-145.
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Auchdie Nonnen sollen sich von den äußeren Sorgen frei machen. wenn sie sich der Gemeinschaft anschließen. Sie müssen lernen, die erlebte Lust und den erfahrenen Hass loszulassen. Wenn sie sich fürdie ewige Weisheit öffnen. erkennen sie ihre Schwächen und Fehler. Deswegen schauen sie auf den großen Buddha. dem sie nachfolgen wollen. Ihr Leben erhält einen neuen Wert. von ihm erbiuen sie Gnadenkraft. Denn sie wollen voll Mitgefühl zu allen Wesen leben. den Zweifel überwinden und die innere Ruhe finden. In der Nachfolge des Buddha erleben sie eine innere Freiheit, die sie bisher nicht kannten.J7 Mönche. Nonnen und Laien sind gemeinsam auf dem achueiligen Pfad unterwegs. um der Erlösung vom Leiden näher zu kommen. Die rechteAnschauung sagt ihnen. dass die Übel in der Welt aufhören können. Und durch das rechte Trachten erkennen siedie Möglichkeit der Entsagung. der Güte und der Freundlichkeit. Auf dem Pfad der rechten Rede lernen sie. der Lüge zu entsagen. die Verleumdung, die Beleidigung und das leere Gerede aufzugeben. Das rechte Tun sagt ihnen. dass es nie erlaubt ist, andere zu schiidigen. elwas zu stchlen oder sich der unerlaubten Lust hinzugeben. Den rechten Lebensunterhalt erwerben sie durch eifrige Arbeit und harte Anstrengung. Beim rechten Bemühen geht es darum. die Willenskmft zu stärken und den Geist zu formen. alle Lebensenergie soll auf das Ziel der Erlösung hin gelenkt werden. Durch die rechte Aufmerksamkeit erkennen die Gläubigen die Vergänglichkeit aller Dinge und des Lebens. Immer aber benötigen sie innere Begeisterung und Willensstärke. um auf dem begonnen Weg voran zu schreiten. Die Meditation hilft ihnen. die innere Ruhe, die tiefe Freude und die heitere Gelassenheit zu gewinnen. So erklären frühe Texte die Verwirklichung des achueiligen Weges. In der Pali-Theravada-Tradition flihrt die Übung der Moral zur höheren Einsicht. Denn wer seine sinnlichen Begierden reduziert und seinen Willen stärkt. der versteht die Entstehung der Übel in der Welt. Er lernt dann die moralischen Zielwerte der Geduld mit allen Lebewesen. der Hingabe an den Buddha. des Mitgefühls mit den Leidenden. der Freigiebigkeit. der Gewaltfreiheit und der Bewahrung des Friedens. Er freut sich an der Schönheit dieser edlen Ziele und schreitet in der Erkenntnis der letzten Wahrheit fort. Auf diese Weise lernt er die Liebe zu allen Lebewesen und die innere Gelassenheit. Denn immer sind es innere Einstellungen. welche die Lebensform eines Menschen prägen. 38
Ethikdiskussion im modernen Buddhismus Der Buddhismus zeichnet durch die Vielfalt der Lehren und Lebensformen aus, auch wenn die moralischen Grundwerte in allen Schulen sehr ähnlich sind. Deswegen hat er sich vielen Kulturen und Zivilisationen angepasst und lebt auch in modemen Gesellschaften mit reicher Kreativität weiter. Seit dem 19. Jh. gibt es in n R.A. Gant, Buddhismus. 132-134. HJ. Greschat. Die Religion. 144-160. )I M. Hulter. Das Ewige. 180-196. H. Dumoulin. Spiritualitäl. 134-148.
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buddhistischen Ländern Erneuerungsbewegungen. welche die Grundwerte ihres Glaubens den modemen Lebensbedingungen anzupassen versuchen. Seil mehr als 150 Jahren sind buddhistische Lehren auch in westlichen Ländern bekannt geworden. sie wurden auf unterschiedliche Weise rezipiert. In Indien engagierte sich Anagarika Dharmapala rur die Wiederbelebung der buddhistischen Lebensform in seinem Land. ErwolltedieseGlaubensform in ganz Südost-Asien erneuern. Durch neue Formen der Meditation sollten neue soziale Schichten ftirdiese Lehren und Lebenswerte gewonnen werden. Die Mönche übernahmen vennehn auch politische und soziale Verantwortung in ihren Ländern. Gleichzeitig griffen sie nationale Ideen und Denkmodelle auf. Eine buddhistische Politik sollte sich vor allem der unteren sozialen Schichten annehmen und die soziale Gerechtigkeit fördern. Dazu kam das Ziel der Befreiung von den europäischen Kolonialherren. die durch dcn gcwaltfreien Widerstand erreicht werden sollte. In Burma unterstütztcn die Buddhisten einen Aufstand der Bauern gegen ihre Grundherren (1930-1932). um mehr Rechte zu erhalten. Doch es ging den politischen Mönchen nichl nur um die Verminderung der Armut. sondern langfristig um dic Errichtung eines buddhistischen Idealstaales. Zu dieser Zeit wurden auch marxislische Ideen von der Revolution der Amlcn und von der klassenlosen Gesellschaft mit Begeisterung aufgenommen. Die buddhistischen Lehrer erkannten. dass die soziale Ungerechtigkeit vor allem durch die Gier weniger Menschen nach Reichtum und Besitz. durch den Hass der Reichen gegen die Armen und durch die Lüge in der Politik weiter getragen wird. Nach diesem Denkmodell sollte die Gütergemeinschaft der Mönche und Nonnen ein Vorbild für einen kommunistischen Staat werden. in dem es ebenfalls kein privates Eigentum geben sollte. Die Mönche lehrten. der Marxismus bringe dem einfachen Volk die niedere Wahrheit des Lebens. die höhere Wahrheit aber liege im buddhistischen Glauben verborgen. Diese Lehre von einer doppelten Wahrheit sollte die Zusammenarbeit zwischen marxistischer Politik und buddhistischer Lebensform ermöglichen. In dieser Zeit erhiehen einige Klöster sogar die Gerichtsbarkeit bei Besitzstreitigkeiten wieder zurück. J9 Nach einem religiösen Kongress in Rangun (1954-1956) wurde der Buddhismus als Staatsreligion für Burma bestimmt. Als später andere Religionen wie der Islam oder das Christentum auch staatliche Anerkennung anstrebten. gab es von den buddhistischen Klöstern heftigen Widerstand. Doch die spätere Politik des Landes wandte sich von den marxistischen Ideen ab und griff sozialdemokratische Vorstellungen auf. um sie mit buddhistischen Grundwerten zu verbinden. Hier zeigt sich. dass die buddhistische WeJ1eordnung mit vielen politischen Programmen vCJ1räglich erscheint und sich sehr unterschiedlichen geseUschaftlichen Situationen anzupassen vermag. In Ländern mit kommunistischer Politik (Laos. Kambodscha) wurden die politischen Aktivitäten der buddhistischen Klöster stark eingeschränkt. Die Mönche l'
M. Hutter. Das ewige. 233-240. H. !kehen. Buddhismus. J 60-180.
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und Lehrer bemühten sich. die buddhistischen Ziel werte mit der marxistischen Ethik zu verbinden. Die allgemeinen Rechte und Pflichten der Bürgerwurden vom autoritären Staat verordnet. Anders entwickelte sich der Buddhismus in Thailand. das niemals kommunistisch regiert wurde. Dort bildete er eine Säule des nationalen Bewusstseins und der Staatslehre. Danach sollten alle Menschen für die Gemeinschaft mit fleiß und Ausdauer arbeiten, um den Wohlstand des Staates zu vermehren. Denn der materielle Reichtum ist die Voraussetzung dafür. dass die Gläubigen den Klöstern reichlich Spenden geben können. Auch die gewissenhafte Arbeit im Beruf ist ein Mittel. um auf dem Weg zur Erlösung voran zu kommen. Doch die Arbeitenden sollen sich auch derregelmäßigen Meditation hingeben, um ihre inneren Lebenskräfte zu stärken. Viele Mönche ringen in der Gegenwart um eine Erneuerung der buddhistischen Lebenswerte, sie sollen auch in eincm säkularisierten Staat ihre GellUng behalten. Auch wenn natun.. . isscnschaftlich Gcbildetc die mctaphysischen Lehren nicht mehr annehmen können, so sollten sie die Nützlichkcit der moralischen Lebcnswerte erkennen. Denn auch der Buddhismus leistet seinen Beitrag zu den allgemeinen Menschen· rechten und Menschenpflichten im modemen Staat. Der thailändische Mönch Buddhadasa (gest. 1993) ....ersuchte sogar. westliche und christliche Vorstellungen mit buddhistischen Lebenswerten zu verbinden..ao In dieser Sichtweise wird die christliche Lehre von der Kreuzigung Jesu mit der Verwandlung des Leidens und dem Aufgeben des eigenen Selbst verbunden. Die vier edlen Wahrheiten werden als Verpflichtungen gedeutet. dafür zu sorgen, dass alle Menschen genügend zum Essen. sowie Arbeit und Wohnung bekommen. Aus der Einsicht in die Gleichheit aller Wesen folgt die grundsätzliche Verpflichtung. in einer Gesellschaft andauernd um soziale Gerechtigkeit zu ringen und die wirtschaftlichen Unterschiede zu verringern. Für alle Menschen im Staat soll es die gleichen Rechte und Pflichten geben. Die Politiker müssen bestrebt sein. durch soziale Einrichtungen die Armut zu lindern und allen Bürgern ein menschenwür· diges Leben zu ermöglichen. Auch der Neo-Buddhismus in Indien. welcher von der Maha-Bodhi-Gesellschaft getragen wird. verfolgt ähnliche politische und soziale Ziele. Die weItflüchtige Deutung des Lebens wird aufgegeben, alle Gläubigen haben die Aufgabe, diese Welt besser und gerechter zu gestalten. Das Leben soll bejaht und als Aufgabe in die Hand genommen werden. ein blinder Glaube an ein Schicksal verhindert soziale Veränderungen. Einige Lehrer übernahmen sozialistische und marxistische Ideen und verbanden sie mit buddhistischem Glauben. Für sie vertragen sich sogar materialistische Wehdeutungen durchaus mit dem moralischen Lebensprogramm des Buddha. Einige Lehrer (z.B. Anebedkar. gest. 1956) bemühten sich. den sozialen Status der ..Unberührbaren" zu heben und ihre Gleichwertigkeit im Recht zu erlangen.
• M. Huner. Das ewige. 238-244. H. Bechen. Buddhismus. 182-195.
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In China hatte sich die buddhistische Lehre schon früh mit daoislischen Le· benswenen verbunden. Vor allem die unteren sozialen Schichten konnten sich mit diesen Lehren und Wcrtordnungen identifizieren. Doch in langen Zeitcpochen standen die Mönche und Lehrer mehrheitlich auf der Seite der Stärkeren und der Besitzenden. Dies war ein Grund damr. dass die Kommunistische Partei (gegründet 1921) den Kampf gegen alle Religionen. auch gegen die Buddhisten. auf ihr Programm schrieb. In ihrer Sicht hauen die Religionen immer die Herrschaft der Starken gestülZt. Religion wirke als Opium für das Volk. es betäube zwar den
Schmerz. beseitige aber nicht die Gründe rur das
Leiden.~'
Als Mao Zedong 1948 mit seiner Kommunistischen Partei im Land die Macht ergriff. da ließ er viele buddhistische Klöster und Meditationszentren schließen. Doch die Gläubigen blieben bei ihrem Glauben an den Buddha. die Riten übten sie in privaten Räumen der Familien aus. Besonders stark war die Unterdrückung des Buddhismus in Tibet. als die chinesische Armee im Jahr 1950 das Land eroberte. Die Klöster wurden als Horte der Unterdrückung und der Ausbeutung angesehen und zu 80% zerstört. In China war die sog... Kulturrevolution" eine Zeit der Zerstörung auch für die buddhistische Kultur. die Gläubigen lebten ihren Glauben aber im Untergrund. In den letzten dreißig Jahren gibt es wieder vernlehne Freiheit für religiöse Gruppen. auch rur Buddhisten. doch ihre Tätigkeiten werden vom Staat kontrolliert. So gibt es heute in China wieder buddhistische Tempel. in denen die Gläubigen belehrt werden, wo sie ihre Riten ausführen und sich der Meditation hingeben. Viele dieser Tempel werden auch von den Daoisten mitbenutzt in ihnen finden sich buddhistische und daoistische Symbole und Bilder. Viele Tempel werden aber nur mehr als Museen geführt. Trotzdem lebt im Volk die buddhistische Moral weiter. sie prägt die alltägliche Lebensgestaltung. Die Lehrer betonen verstärkt die aktive Lebensgestaltung jedes Einzelnen und die soziale VerantwonJichkeit fur die Gemeinschaft. Nach kommunistischer Lehre sollen alle Religionsgruppen ihren Beitrag zur Erreichung einer klassenlosen Gesellschaft leisten.~2 Auch der chinesische Buddhismus hat von der neuen politischen und gesellschaftlichen Situation gelernt. Die Mönche geben ihre passive Lebenseinstellung. auf und ennahnen die Laien zur intensiven Mitarbeit an einer besseren Gesellschaft. Die marxistische Religionskritik zwingt alle Religionen in China. ihre Opiumfunktion aufzugeben und für eine humane Lebcnskultur zu arbeiten. Nicht wenige Lehrerentdecken diesozialen Potentiale inderbuddhistischen Ethik. wenn ihre weltfremde GrundeinsteIlung abgelegt wird. Auch sie wollen zu wirtschaftlicher Effizienz, zu den allgemeinen Menschenrechten und Menschenpflichten ihren Beitrag leisten:&3 In dem Maß. als sich China heule flirdie kapitalistische Wirtschaftsform öffnet. werden auch die Religionen des Landes genötigt. ihre Lebensdeutung und Wert., F. Reiler, Religionen in China, München 2002,147-159. •: F. Reiler, Religionen. 180-187. H. Bcchcn. Buddhismus. 186-192. ' l F. Reifer, Religionen, 187-190, M. Baumann. Buddhismus. 124-136.
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ordnung weiter zu entwickeln und der neuen Situation anzupassen. Denn nach marxistischer Sichtweise spiegeln Religionen immer gesellschaftliche Zustände und Prozesse. Durch den globalen Austausch von Wirtschaftsgütern ergeben sich auch neue Möglichkeiten für einen Diskurs der Religionen und der Kulturen. Dabei ist China nicht bereit. einfach westliche Wertsysteme (z.B. Menschenrechte) zu übernehmen. Vielmehr pocht es auf seine eigenen Werttraditionen und mahnt neben den allgemeinen Menschenrechten die allgemeinen Menschenpflichten je· des Einzelnen für die Gemeinschaft und den Staat ein.
Japanischer und westlichen Buddhismus Der japanische Buddhismus ist seit 140 Jahren in einen intensiven Lernprozess eingetreten. Seit der Öffnung Japans zur westlichen Kultur und Technik mit der Meji-Dynastie (1868) wurden auch die Religionen gezwungen. sich zum einen den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu stellen, und sich zum andem mit der philosophischen Religionskritik auseinander zu setzen. Die Buddhisten begegneten der westlichen Kultur auf selektive Weise. sie übernahmen von ihr solche Elemente. die ihnen nützlich erschienen. Auf diese Weise waren sie in ihrer langen Geschichte auch mit den Lehren des Shinto und der Daoisten umgegangen. Einige Lehrer und ihre Schulen suchten den Austausch mit christlichen Vorstellungen und Lebenswerten. andere wiederum gingen stärker auf die philosophische Moraldiskussion ein. In der Tradition des Mönchs Nichiren (12. Jh.) wurden nationalistische Lehren entwickelt bzw. unterstützt, Japan sollte seine technische und geistige Überlegenheit gegenüber anderen Völker Asiens unter Beweis stellen. Doch die nationalistischen Programme führten bald in die großen Kriege Japans gegen das Zarenreich Russland, gegen China, gegen Indonesien und zuletzt gegen die USA. Nach militärischen Siegen beendeten zwei Atombomben im August 1945 den großen Krieg und zum Großteil auch den japanischen Nationalismus. Buddhistische Denker (z.B. Tanabe Hajime) bemühten sich danach um eine Philosophie der "Reue" und der •.Umkehr" vom "Weg des TocIes". den der Nationalismus bereitet hatte. Die Neuorientierung der buddhistischen Philosophie orientierte sich an einem "Weg des Lebens". auf dem die Menschen friedvoll zusammen leben sollten. Auch die meisten Schulen in der Nachfolge des Mönchs Nichiren sind heute pazifistisch ausgerichtet. Sie haben erkannt. dass alle Menschen mehr Vorteile aus dem Frieden und dem wirtschaftlichen Wohlstand haben. als wenn sie große Kriege gegen vermeintliche Feinde führen. Die Schule des "Tempels vom wunderbaren Dharma" will sehr aktiv zu einer Ethik der Versöhnung. der Reue und des Friedens beitragen. Die Reiyukni-Scllllle versucht. die Formen der Ahnenverehrung mit der buddhistischen Lebensform zu verbinden. Die Schule Rissho Koseikai fOrdert die Sozialarbeit im Staat. um den Armen. den Schwächeren und den Außenseitern wirksam zu helfen. Sie will in einer Zeit der freien Marktwirtschaft auf die soziale Verpflichtung der Stärkeren aufmerksam machen und die moralische Sensibilität Bayerische Slaatsblbliolhek Munchen
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im Volk fördern. Nur wenn Schuld kreativ aufgearbeitet wird, ist ein persönliches Lernen möglich.'" Die Soka-Gakkai-Scllule versteht sich als eine Vereinigung zur Schaffung und Verbreitung buddhistischer Lebenswerte in einer pluralistischen Gesellschaft. Die alten Werte. die sich bewährt haben. sollen an die neue Zeitsituation angepasst werden und sich weiterhin als nützlich erweisen. Der wirtschaftliche Wohlstand aller soll gefördert werden. körperliche Ertüchtigung. die Verbesserung der Gesundheit und die moralische Bildung sind Lebensziele für alle. Vor allem Laien wollen dem Werteverlust in der modemen Gesellschaft Japans entgegenwirken. Sie übernehmen Erkennlnisseder modemen Psychologie. um zur Persönlichkeitsbildung und zur aktiven Lebensgestaltung beitragen zu können. Von den buddhistisch geprägten Philosophen der KYOl04Schule haben vor allem Nishida Kitaro und Tatlabe Hajime um die Verbindung von herkömmlichen und neuen Lebenswerten gerungen. Nishida wollte Zen-Lehren mit den Erkenntnissen der westlichen Philosophie in Einklang bringen. Deswegen betonte er die Fähigkeiten des menschlichen Willens. welche sich immer mit den Kräften des Denkens verbinden. Im letzten tun wir das moralisch Gute (zen) nur in der Einsicht in die alles vereinigende Kraft der Gottheit. Erst diese Einsicht befähigt uns dann zu vennehrter Selbstliebe und zur aktiven Nächstenliebe. Wir erleben dann die Einheit des Universums und werden zu einem glücklichen und friedvollen Leben fahig. Das Wesen unseres Bewusstseins liegt im Willen. den wir hart trainieren können. um das Schöne und das Gute zu erstreben.4~ Der Philosoph Tanabe Hajime weiß sich dem Mahayana4Buddhismus verbun 4 den. Deswegen glaubt er. dass sich die östliche Lehre vom Nichts mit der west 4 lichen Vorstellung vom Sein ergänzen müssen. In der Leerheit des Seins werden bereits kreative Potentiale gesehen. welche Neues erzeugen werden. Nach dem Schock der Atombombe wollte Tanabe zu einer Neuorientierung des Denkens in Japan beitragen. Dazu wollte er den ..Reueweg" der Philosophie beschreiten. um Fehler abzulegen und eine moralische Wiedergeburt des Landes vor zu bereiten. Sowohl die Religion. als auch die Philosophie müssen umdenken. der Überlegenheitsanspruch über andere Völker muss aufgegeben werden. Die Menschen dürfen auf ihrem Weg auch auf die Fremdkraft des Buddha. auf die Gnadenkraft des Amida-Buddha. vertrauen. Eine neue Moral der FriedensHihigkeit braucht die Unterstützung der Religion. denn die Argumente der Philosophie sind dafür zu schwach. Die nationalistische Philosophie Japans benötigt ein Umdenken (metanoia). damit übernimmt Tanabe bewusst einen christlichen Schlüsselbegriff in seine Morallehre. Nur im Bezug auf das Göttliche bzw. das absolute Nichts lässt sich das moralisch Gute vom Bösen unterscheiden. Das radikal Böse besteht immer in der Selbstverabsolutierung des Menschen bzw. der menschlichen Gruppen. Dadurch ... M. Huller. Das ewige. 250-253. L. Brüll. Die japanische Philosophie. Dannstadt 1989.42-47. 4$ L. Brüll. Diejapanische. 155-168.
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entstand in der japanischen Politik ein "Hinweg" (oso) zum Krieg und zum Tod. Jetzt muss ein ,.Rückweg'· (genso) der Reue und der allgemeinen Menschenliebe folgen. Allein das Zusammenwirken von Reue und von Liebe führt zur Erlösung vom Leiden. Das Atomzeitalter ist für Tanabe eine Epoche des Todes, denn die Naturwissenschaft entfaltet jetzt ihre zerstörenden Kräfte. Deswegen muss dringlich eine neue Philosophie des Lebens gefunden werden, um den zerstörenden Potentialen der Wissenschaften Einhalt gebieten zu können. Wenn wir den Tod bedenken und ihm gelassen in die Augen sehen. dann kann uns ein "Umschlag zum Leben" gelingen. Denn dann erfahren wir so etwas wie .,Auferstehung" und neue Lebensfreude wird in uns wachsen. Denn allein die Liebe zum absoluten Urgrund bzw. zum Nichts macht uns zu aktiver Nächsten~ liebe und zu einer Kultur des Friedens fahig. 46 Dieser Denker zeigt uns, dass die japanische Philosophie ungleich deutlicher die Fehler des nationalen Denkens betrauert hat, als dies in der europäischen Philosophie der Fall war. Buddhistische Lebenswerte wurden seit dem frühen 19. lh. auch in Europa und in den USA übernommen. Bereits I. Kant. die Brüder Fund A.W. Schlegel. G.W.F Hegel und FWJ. Schelling hallen auf buddhistische Ideen Bezug genommen. Besonders Arthur Schopenhauer war von der Idee des Mitgefühls und der Willensstärke berührt. Selbst Richard Wagner und Friedrich Nietzsche haben sich mit buddhistischen Lehren auseinander gesetzt. Die "Theosophische Gesellschaft" (gegründet 1975) neigte zu einem esoterischen Buddhismus und übernahm soziale Lebenswerte. Auch das erste Weltparlament der Weltreligionen in Chikago (1893) hat buddhistische Lehen und Lebensfonnen in den westlichen Ländern bekannt gemacht:H Der Lehrer Daisetz Teiraro Suzllki (gest. 1966) hat lange Zeit versucht, die Lehren und Meditationsmethoden des Zen-Buddhismus in den westlichen Ländern zu verbreiten. Auffallend ist dabei, dass in Europa vor allem die Lehren des südlichen Theravada-Buddhismus (Hinayana) übernommen wurden. während in den USA sich mehrheitlich die Lehren des Mahayana verbreiten konnten. Einige westliche Philosophen sahen im Buddhismus eine Religion der Vernunft. die auch mit naturwissenschaftlichem und k.ritischem Denken durchaus vereinbar sei. Seit der Mitteder 1960erlahreerwachte in den westlichen Ländernein breites Interesse an buddhistischen Meditationsmethoden und Lebensfonnen. Dabei werden Elemenle der buddhistischen Kultur vor allem auf seleklive Weise übernommen. Zur Verbreitung buddhistischer Vorstellungen und Morallehren im Westen haben vor allem die Schriften des tibetischen Da/ai Lama und des vietnamesischen Mönchs Thich Nhat Hallh beigetragen. Sie betonen die allgemeine Verpflichtung der Menschen, alles Leben und die ganze Natur zu lieben. Denn wenn wir bewusst atmen. erleben wir die Gegenwart und finden uns selbst. ledern Menschen sei es möglich. mit geänderten Einstellungen sich sein k.leines Lebensglück zu schaffen. .. L. Brüll. Die japanische. 168-179. ., M. Hutler. Das ewige. 254-260.
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Denn immer suchen wir die Gemeinschaft mit anderen, doch ihre Verwirklichung fallt uns schwer. Heule sei es sinnvoll, die Geschwindigkeit im Leben zu verrin~ gern und bewusster zu leben. Dann werden wir der Natur und der Erde weniger Schmerz zufügen, als wir es heute mit dem westlichen Lebensstil tun. In der regelmäßigen Meditation können wir dem stillen Glück unserer Kindheit begegnen. Selbst wenn Wif auf der Straße im Stau stehen, ist es uns möglich. zu meditieren. den Mitmenschen ein Lächeln zu schenken und positive Lebenskraft in uns zu verspüren. Wenn wir unser Leben alsein Kunstwerk ansehen, werden wir die kleinen Dinge um uns herum beachten und tiefe Lebensfreude verspüren. Die friedvolle Gesinnung komme aus einem ruhigen Herzen, das nicht mehr von der Gier nach Besitz, vom Neid über Reichere und vom Hass auf Fremde bewegt wird. Wenn wirdieAußenwelt unddie Mitmenschen mit einem liebevollen Grundgefühl betrachten. dann verändert sich unsere moralische Lebensfonn. 48 Ähnliche Gedanken vertritt der Dalai Lama in vielen Schriften. der seit 1959 im Exil in Indien lebt. Wenn wir unser Leben vom Mitgefühl und der Nächstenliebe leiten lassen. dann werden wir Großes erreichen und unser Dasein wird kostbar. Das Weltgcsctz des Dharma lehrt uns das Mitgcfühl mit allen Lebcwesen. mit konkreten Mitmenschen und mit uns selbst. Nur wenn wir unsere inneren Einstellungen verwandeln können, werden wir zum nachhaltigen Frieden in der Welt fahig. Buddhisten sehen es als ihre Aufgabe an. mehr an Mitgefühl. an Nächstenliebe und an Selbstlosigkeit in die Welt zu bringen. Die Kraft der Meditation kann wesentlich dazu beitragen, innere Einstellungen positiv zu verändern. Die Aufgabe jedes Menschen bestehe darin, für das Wohl konkreter Mitmenschen zu arbeiten. Wer anderen Gutes tut und ihnen wesentliche Bedürfnisse erfüllt. wird selbst tiefes Glück erleben. Zuerst müssen wir das moralisch Gute denken und vorstellen, dann können wir es aussprechen, und zuletzt werden wir es dann tun. Doch wir müssen uns ständig üben. unser Mitgefühl mit anderen Lebewesen zu verfeinern und nicht allein auf das eigene Wohlergehen bedacht zu sein. Liebe ist im Grunde der Wunsch. dass alle empfindsamen Wesen sich ihres begrenzten Glücks erfreuen könne. Mit der Kraft der Meditation besiegte der erste Buddha seine bösen Strebungen, mit derselben Kraft können wir unsere Fähigkeit zu Liebe und MitgefÜhl stärken. 49 Viele meditative Bücher verbreiten heute buddhistische Lebcnsweisheit und Moral in den westlichen Ländern. Wir sind im Bereich der Spiritualität längst in einen kulturellen Austausch eingetreten. der nach beiden Richtungen wirksam wird. Buddhistische Lehrer übernehmen Erkenntnisse der westlichen Psychologie und verbinden sie mit ihrem Glauben. Menschen im Westen suchen auf dem freien "Markt" der Religionen diejenigen Angebote an Lebenssinn und Moral, die ihnen für ihre persönliche Lebensgeschichte am geeignetsten erscheinen .
.. Thich Nhat Hanh. Ich pflanze ein Lächeln. Freiburg 1991.88-100. <9 Dalai Lama. Die Weisheit des Herzens. München 1987,218-228. Ders.. Im Einklang mit der Welt. München 1992. 95-107. Den.. Der Weg zur Freiheit. München 1996. 140-152.
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Insgesamt leistet der Buddhismus mit seiner Vielfalt und Toleranz einen wichti· gen Beitrag zum Dialog der Kulturen, dies seit mehr als I50 Jahren. Dieser Beitrag kann in einer Zeit des allgemeinen Werteverlusts gar nicht hoch genug geschätzt werden. In der gesellschaftlichen Verwirklichung der sozialen Grundwerte war die westliche Kultur sicher voraus. Doch buddhistische Länder holen heute das Versäumte nach, wohl wissend, woher diese Werte kommen. Da der Buddhismus keine Monopolansprüche auf seine Lehren kennt, ist seine Anpassungsfahigkeit an neue politische und gesellschaftliche Situationen besonders groß. Im Grunde vertritt er ähnliche Grundwerte der menschlichen Lebensgestaltung wie die christliche Religion. Von daher erscheint eine kreative Zusammenarbeit dieser beiden Religionen weltweit wünschenswert und möglich. um der sozialen Härte des globalen Kapitalismus entgegen treten zu können und diese in wesentlichen Bereichen aufzuweichen. Beide Religionen vermitteln von ihren Anfangen her die moralischen Werte der unteren sozialen Schichten. sie transformieren diese und machen sie einer globalen Weltkultur zugänglich.
Kultur Antorl Grabner-Haider
China hai uns eine alte Schriftkultur hinterlassen. deren Anfange (Orakeltexte) bis ung. I.()(X) v.ehr. zuriick.reichcn. In den Tälern und Seitentälern der großen Flüsse
(Gelber Fluss und Jangtse) siedelten frühe Ackerbauem seit ca. 7.000 v.ehr. Ein steinzeitliches Dorf (Peinan) zeigt bereits seil 5.000 v.ehr. rechteckige Häuser, Sicheln und Äxte aus Stein. Speicher für Getreide, sowie Schmuck aus Jade und Pyrit. Frühe Bodenbauem kultivierten Hirse und Reis, sie hatten den Grabstock. später den Holzpflug. Sie halten bereits Tiere domestiziert, Bewässerungsgräben für die Felder angelegt und Gefaßc aus Ton hergestellt. Seit ca. 2.500 v.ehr. sind bereits die ersten Sladtkulturen archäologisch nachweisbar. Die frühen Städte wurden von den Kriegern geschützt, die Wirtschaft war zen· tral gelenkt. Die umliegenden Dörfer standen mit den Städten in einem Austausch des Handels. Sippen schlossen sich zu Stämmen zusammen. aus deren Bündnissen entstanden frühe Fürstentümer und Stadtkönigtümer. Nun war der Stadtkönig der Anführer der Krieger. zusammen mit den Stammeshäuptlingen verwahete er das Land von einem fürstlichen "Hor' aus. Zu dieser Zeit wurden Waffen und Gef.äße bereits aus Bronze hergestellt. die ersten Streitwagen und Kriegspferde wurden im Kampf eingesetzt. ' Aus dieser Frühzeit sind uns einige Fürstentümer und ihre Herrschersippen bekannt. Auf eine Sippe der Xia folgte ein Fürstentum der Schang-Sippe, danach die lange Herrschaft der Zhou-Sippe. In dieser Zeit stritten mehrere Fürstentümer um die Vorherrschaft, es war die "Zeit der streitenden Reiche". Sie endete mit einer ersten Vereinigung mehrer Fürstentümer unter der Qin-Dynastie (221 v.ehr.). Darauffolgte die Zeit der Han-Fürsten, das anHinglich kleine Reich wurde vergrößert. Es zerfiel noch zweimal und wurde durch große Kriege neu hergestellt. Chu Yun Hsu. China. Von den frühen Staaten zur Nalion.ln: G. Burenhull (Hg.): Die Kulturen der Alten Welt. Die ersten Slüdle und Slaaten. Augsburg 2000. 101-110. I
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So entstand mit dem chinesischen Reich (Qin) ein einheitlicher politischer und kultureller Lebensraum. 2 Die Sippen verehrten zu dieser Zeit ihre Ahnen mit einer Vielzahl von Riten, denn es wurde angenommen, dass von jedem Menschen eine unsichtbare See-
lenkraft (hun) in einem femen Land weiler lebt. Die Ahnen und Vorfahren haben den Menschen die Regeln des richtigen Verhaltens gegeben, diese Regeln müssen unbedingt befolgt werden, um glücklich leben zu können. Die Ahnen sehen jede Regelübertretung und bestrafen sie. indem sie den Übeltätern Krankheit und Unglück senden. Die Befolgung der moralischen Regeln aber belohnen sie mit
Gesundheit, Glück und Reichtum. Die Sippen und Dörfer, aber auch die Fürsten. die Krieger, die Bauern. die Hirten, die Handwerker und die Händler verehrten außerdem noch ihre jeweiligen Schutzgötter. Auch von ihnen wurde angenommen. dass sie die Befolgung der moralischen Regeln überwachten. In der Frühzeit wurden männliche und weibliche Schutzgötter verehrt. Es wur· de enählt. dass eine Göuin Niü Kua die Menschen aus Lehmerde gefonnt habe. Eine Erdgöttin Houtu schenkte den Bauern die Früchte der Felder. Doch in der patriarchalen Zeit wurden die vielen Götter unter dem Namen •. Himmel" (tien) zusammen gefasst. der Himmel war nun männlich geworden. Er war die oberste Kontrollinstanz für das richtige Verhalten der Menschen. l Die Beamten und die Krieger verehrten nun den obersten Himmelsgott. während die Bauern. die Hirten. die Handwerker und die Händler noch lange Zeit eine weibliche Göttin des Uran· fangs verehrten. welche sich den Menschen in der Erde und im Wasser zeigte. Mit dem Beginn der sozialen Schichtung in den frühen Stadtkulturen erkennen wir auch eine unterschiedliche Weltdeutung. z. T. sogar verschiedene Regeln für das richtige VerhaJten. Im sog. "Daoismus" werden die Lebensdeutungen und die moralischen Regeln der mittleren und wohl auch der unteren sozialen Schichten tradiert. Spätere Lehrer der Weisheit haben sie zusammengefasst und ihre Schüler haben sie aufgeschrieben. Auf viel breiterer Basis wurden aber die Lebensdeutun· gen und Morallehren der oberen sozialen Schichten aufgeschrieben. denn diese halten den primären Zugang zur Schriflkultur. Wir erkennen aus den Schriften der chinesischen Kultur zwei unterschiedliche Systeme der Weltdeutung und der Moral: nämlich die konfuzianischen Lehren für die oberen sozialen Schichten. und die daoistischen Traditionen für die Bau· em, Hirten. Händler. Handwerker und wohl auch die Unfreien und Sklaven. Wir erkennen hier. dass moralische Lehren und Weltdeutungen auch von sozialen Schichtungen. sowie von den wirtschaftlichen. politischen und kulturellen Mög· lichkeiten abhängen.
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Yun Hsu. China. 105--110. W. Eichhom. Die Religionen Chinas. Stullgan 1973.29-31.
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Daoistische Morallehren Die Fruhfonnen des Daoismus (Taoismus) gehen aufdiealte Schamanenkulturzuruck. in der männliche und weibliche Schamanen (wu) die Regentänze ausführten, die Heilungsriten leiteten und mit ihren Gesängen die Fruchtbarkeit der Felder wecken wollten. Die Menschen glaubten, dass ein Seelenteil (hun) des Schamanen sich im Erleben der Ekstase mit den Schutzgöttern und den Ahnen verbinden könne. Diese frühen Schamanen lehrten die Kunst der Heilung von Krankheiten und der Lebensverlängerung, die Lebenskraft (po) des Körpers sollte durch Riten gestärkt werden. Sie lehrten ihre Mitmenschen, sparsam mit ihrer Lebensenergie umzugehen und sie nicht zu vergeuden. Die Schamanen entwickelten verschiedene Techniken der Meditation, um sich mit den Lebenskräften der Erde und der Gestirne zu verbinden. Dabei regelten sie den Atem. denn dieser sollte gleichmäßig durch alle Energiebahnen des Körpers fließen. In diescm Kontext entstand die Lehre. dass dcr ewige ..Urgrund" (dao) der Wclt und der Sterne weiblich sei. Denn die geordnete Welt der Menschen und der Gestirne stammt von eincr göttlichen Unnutter ab. vom ..dunklen Weib" des Anfangs. Dieser anfängliche Urgrund umfassl noch alle gegensätzlichen Kräfte. nämlich das Dunkle und das Helle. das Harte und das Weiche, das Gute und das Böse.· Im Lauf der Zeit gehen ausdemewigen Urgrund die gegensätzlichen Kräfte des Lebens und der Welt hervor. Das Dunkle (yin) trennt sich vom Hellen (yang), das Weiche vom Harten, das Erdhafte vom Himmel. das Weibliche vom Männlichen. In der jetzigen Menschenwelt sind nun die Männer stärker als die Frauen und herrschen über diese. Doch in der Dauer der großen Zeitepochen wird es nicht so bleiben, denn dann wird sich das Dunkle, das Weiche und das Weibliche als stärker erweisen als das Helle. das Harte und das Männliche. Jetzt leben wir in der Welt der gegensätzlichen Kräfte, jetzt streiten die dunklen Kräfte gegen die lichtvollen, die guten gegen die bösen, die harten gegen die weichen. Aber sie kämpfen keinen bipolaren Kampf, sondern im Grund ergänzen sie sich wechselseitig. Die weiblichen Kräfte des Yin und die männlichen Kräfte des Yang Rießen ineinander und werden erst in dieser Vereinigung wieder ganz. Die männlichen Heilkräfte (hsi) und die weiblichen Heilungskräfte (wu) fließen ineinander. Und im Erleben der sexuellen Vereinigung verbinden sich die beiden Urkräfte zur ursprunglichen Ganzheit. 5 Deswegen wird das Erleben der Sexualität als Fonn der Lebensverlängerung gedeutet. Wenn weibliche und männliche Lebenskräfte ineinander fließen. begegnen sie dem eigen Urgrund des Anfangs. Männer nehmen weibliche Kraft in sich auf, Frauen empfangen männliche Energie. Beide Geschlechter stärken ihre Seelenkräfte des Körpers (po) und des Geistes (hun). Aus dieser Weltdeutung • H. Schleichen. Klassische chinesische Philosophie. Frankfun 1980. 86-92. J H. Schleichen. Klassische. 89-94. w. Bauer. Geschichte der chinesischen Philosophie. München 200 I. 76-84.
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ergeben sich die Regeln des richtigen Verhaltens. Als weise gilt ein Mensch, der seine eigenen Lebenskräfte und die der Mitmenschen zu stärken versteht. Wer nun vom ewigen Urgrund her lebt. der weiß, dass Schönes und Hässliches im Leben sich ergänzen. Auch das Gute und das Böse bedingen einander, die Schwere und das Leichte vollenden sich gegenseitig, das Sein und das Nichtsein gehen in einander über. Wer darum weiß. der lebt nicht in Hast und Gier. sondern lässt sein Leben geschehen (wu wei). Er nimmt das Schöne dankbar an und verwandelt das Nichlschöne, das er erlebt. Er macht nicht viele Worte. sondern wirkt auf seine Mitmenschen durch sein Vorbild. Weil er vom anfanglichen Urgrund her lebt, verweigert er sich nicht den Mitmenschen. Er arbeitet ohne Hast und hält nichts fest, was er geschaffen hat. Er hat gelernt, die Dinge loszulassen, weil für ihn alles im Werden und im Vergehen ist. 6 Im dieser Sichtweise werden im Staat die Tüchtigen nicht bevorzugt, denn das Leben hat alle gleich gemacht. Kostbarkeiten und Edelsteine verwirren die Herzen der Menschen, diese aber möchten ihre ursplÜnglichen Bedürfnisse befriedigen. Deswegen lebt der weise Mensch nicht für sich selber, sondern für die Mitmenschen in seiner Sippe. Sein Begehren setzt er hintan, dadurch kommt sein inneres Selbst voran. Weil er viele Wünsche loslassen kann, wächst seine innere Person. Wer nicht begierig nurdieeigenen Vorteile im Leben sucht. vollendet seine ursplÜnglichen Strebungen (Dao Oe Jing, Kap. 7). Er lernt bildhaft vom Wasser, das weich ist und keine Kriege führt. Weil auch er nicht kämpferisch lebt, nutzt er allen Lebewesen. Nun sucht der Weise nicht die oberen Ränge in der Gesellschaft, weil auch das Wasser immer die tiefsten Plätze sucht. Dort ist er dem ewigen Urgrund am nächsten. Das moralisch Gute besteht dann darin. den Mitmenschen und allen Lebewesen zu nutzen (Kap. 8). Die Reichen und Vornehmen sind nicht die Glücklichen. denn in ihrem Hochmut schätzen sie sich selbst falsch ein. Wer vom ewigen Urgrund her lebt. wird in seiner Seele weich wie ein Kind. Das Weiche ist immer näher beim Leben, das Harte ist nahe beim Tod. Das angesammelte Wissen macht die Menschen moralisch nicht besser. Doch der Weise arbeitet mit Augenmaß und erzeugt für andere Güter, die er nicht festhält. Auf diese Weise nährt er andere, ohne über sie zu herrschen. Dies sei der Weg des ursprunghaften Lebens. 1 Wer in seinem inneren Selbst wächst und die Welt liebt, der vermag andere Menschen zu leiten. Er geht vorsichtig auf die Mitmenschen zu und schreitet nur vorsichtig durch einen Fluss. Der ewige Urgrund erscheint ihm gestaltlos und dinglos. als ungeordnetes Dunkel. Er verankert sich in der Stille und im Ewigen, dabei lernt er Duldsamkeit und Gerechtigkeit. Im Alltag erfüllt er seine sittlichen Verpflichtungen und liebt die Kinder. Da er selbst klein sein will, wird er von
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Dao Oe Jing, Kap. 2. Dao Oe Jing, Kap. 10.
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den Kindern geliebt. Da er mit Wenigem gut leben kann, benötigt er nicht den Überfluss (Kap. 16--18). Vielen Zeitgenossen erscheint er als töricht, denn er hält sich nahe an die Natur. Weil er vom ewigen Urgrund her lebt, ist er anderen Mitmenschen ein Vorbild. Er leuchtet von innen her und tut für die Gemeinschaft Wichtiges. Weil er den Streit meidet, kann niemand mit ihm streiten. Doch verteidigt er sich mit geeigneten Mitteln, wenn er von anderen angegriffen wird. Wer nach außen hin groß sein will, bleibt in seinem Inneren sehr klein. Der Weise versteht es. seinen Mitmenschen in allen Situationen zu helfen. Für ihn gibt es keine Ausgegrenzten und Verworfenen (Kap. 27), er will immerzu Leben retten. Er meidet das Zu viele und das Zugroße, denn er will nicht herrschen. Ohne Übennut und Stolz trifft er seine Entscheidungen, auf Gewalt verzichtet er. s Den Krieg meidet er. denn Waffen sind für ihn unheimlicheGerätc. Siegesfeiern sind wie Trauerfeiern, denn immer gibt es Besiegte und Tote zu beklagen (Kap. 31). Da er sich selbst besiegt, muss er nicht über andere siegen. Das Wenige ist ihm genug, weil er von innen her reich ist Sein Leben gewinnt Dauer im ewigen Urgrund. Jedes Leben will er aufblühen lassen. denn aufdie Dauer wird das Weiche stärker sein als das Harte (Kap. 36). Wer in der namenlosen Einfalt lebt. lässt sein Leben geschehen und versucht. allen Lebewesen nützlich zu sein. 9 Wenn in der Menschenwelt die Orientierung am ewigen Urgrund verloren geht, dann verkümmern die Gerechtigkeit, die Treue und die Liebe. Dann suchen die Menschen das Starke und Schnelle. doch ihr Leben leidet. Wer im Leben Vieles sammelt, kann auch viel verlieren. Doch wer einfach lebt, sucht sein Ziel im ewigen Urgrund. Das Erleben der Stille und die Reinheit der Gedanken zeigen dem Weisen das rechte Maß. Auf intuitive Weise erkennt er, was er zu tun und was er zu lassen hat. Darüber muss er nicht lange forschen. Wer den "mütterlichen" Anfang der Welt kennt, lernt das Kleinste zu schätzen und das Weiche zu lieben. Wer von innen her lebt, dessen Leben wird reich und er kann viele Menschen beschenken. Sein Glück besteht darin, Streitende zu versöhnen und die Lebenskraft zu stärken. Seine Seele fühlt wie ein neugeborenes Kind, das viel Liebe braucht (Kap. 55). Er spricht nicht viele Worte, sondern will die Mitmenschen durch Liebe und Zuwendung leiten. Weil er das Unglück kennt, weiß er, worin das Glück besteht. Seine Begierden hält er im Zaum, deswegen erlebt er die Fülle des Anfangs. Wer seine Wünsche einschränken kann, vennag andere zu leiten. Wer sein Leben frei fließen lässt, hat seine Wurzeln bei der "Unnutter" der Welt. Bei ihr gewinnt er ewige Dauer (Kap. 59). Auf lange Zeit siegt immer das Weibliche über das Männliche, das Stille über das Laute, das Langsame über das Schnelle. Wie das Wasser so muss das Große immer unten bleiben, beim ewigen Urgrund kann jeder Mensch Ge· borgenheit erleben . • Dao Oe Jing. Kap. 30. q Dao Oe Jing. Kap. 55.
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Der Weise lut das Große schon. wenn es noch ganz klein ist. Das Schwierige plant er, wenn es noch leicht ist. Den Hass und den Neid, den er erfahrt. vergilt er mit den Kräften des Lebens. Da er das Schwere leicht nimmt. kann er viele Schwierigkeiten bestehen. Das Kleine lässt sich leicht zerbrechen. das zarte leicht zerstreuen, doch der Weise lässt beides gedeihen. Weil er nichts im Leben fest hält, kann er nichts verlieren. So lebt er ohne großen Wünsche und folgt dem natürlichen Lauf des Lebens. Wer andere anführen will, muss sich unter diese stellen. 10 Und wenn er ihnen vorangeht, dann verletzt oder belastet er sie nicht. Die drei Schälze des guten Lebens sind: Liebe zu allen Lebewesen, die Ge· nügsamkeil mit dem Wenigen und die Bescheidenheit in den sozialen Rängen. Wenn der Weise zum Kampf gezwungen wird. dann kämpft er mit Mitgefühl mit dem Gegner. Er ist ein Meister der Verteidigung. weil er nie andere angreift. Er weiß sich vom Himmel gelenkt und von der Kraft der Liebe geschützt (Kap. 67). Er schätzt seine Gegner richtig ein. dann kann er nicht besiegt werden. denn er weicht den Schlägen aus. die sie ihm schlagen. Wenn er im Leben leidet. vermag er durch die Kraft der Liebe Leiden zu verwandeln. Weil er sich selbst liebt. kann er das Fremde annehmen. Er muss sich nicht größer machen. als er ist. Wenn cin Mensch geboren wird. ist cr weich und schwach. Doch wenn er alt ist und auf den Tod zugeht. dann ist er hart und steif. Deswegen ist das Harte und Starke immer näher beim Tod. das Weiche und Schwache aber näher beim Leben. Der Weise gibt denen, die niedrig sind und wenig haben. Er nimmt denen. die zuviel besitzen. Da er seine moralischen Pflichten kennt. braucht er wenig Gesetze im Leben. Die schönen Worte meidet er. denn er weiß. dass sie selten wahr sind. Für ihn sind wahre Worte oft gar nicht schön. Sein Lebensziel ist es. die Urkräfte des Lebens zu fördern und kein Leben zu schädigen. 1I Lao lse (Laozi) gilt als ein großer Lehrer der daoistischen Moral und Lebensweisheit. doch seine Autorschaft des Buches Dao Oe Jing (Tao teh ching) ist unwahrscheinlich. Für ihn lässt der Weise in allem der Natur den freien Lauf. er greift nicht in natürliche Prozesse des Lebens ein. Wenn ein Herrscher weise ist. dann hält er sich im Hintergrund und sorgt dafür. dass alle Menschen ihre natürli· chen Bedürfnisse befriedigen können. Er sorgt für das Volk in der Weise. wie der Himmel der Erde den Regen schickt. Auch der Lehrer Zhuang Zi (4. Jh. v.ehr.) lobte das einfache Leben und sah im Überfluss den Abfall vom natürlichen Leben. Er meinte. dass die Menschen der Frühzeit wenig moralische Regeln benötigten. weil sie intuitiv den riChtigen Weg erkannten. Die Mystiker der Natur erkennen auch weiterhin die ursprünglichen Werte des Daseins. Zhu{mg Zi kritisiert die vielen Verhaltemsregeln der konfuzianischen Lehre. sie engen das Leben der Menschen ein. Denn absolute Wahrheiten und letzte Er· kenntnisse sind uns Menschen gar nicht möglich, das ewige Dao sei unbegreiflich. Auch in der Moral müssen wir uns mit veränderlichen Regeln zufrieden geben. Dao Oe Jing. Kap. 64-66. " Dao Oe Jing. Kap. 81. IQ
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immer neu sind wir auf der Suche nach dem Richtigen. Unsere Selbsteinschätzung und unscr Glückserleben wechseln, unsere Ideale der Schönheit bleiben nicht die gleichen. Wir sprechen von schönen und hässlichen Dingen, doch unserc Bewertungen ändern sich ständig. Aus diesem Grund wendet sich der Weise auch den angeblich hässlichen und unnützen Dingen zu, denn er erkennt ihre verborgene Schönheit und Nützlichkeit. 12 Auch der verkrüppelte Mensch hat seinen Wert und der gekrümmte Baum seine Schönheit. Mit verkrüppelten Mitmenschen vermag der Weise tiefe Gespräche zu führen, untcr dem gekrümmten Baum meditiert er. Vieles, was wir als nutzlos ansehen. führt uns zum Weg des Ursprünglichen. Wenn ein Opferpriester erkennt, dass seine Opfertiere viel lieber leben möchten. als auf dem Altar zu verbluten, dann begreift er das Ursprüngliche. Denn wer vom ewigen Urgrund her lebt. braucht keine Opfertiere für die Ahnen oder die Schutzgötter zu töten. Folglich führt der Weise ein sanftes und stilles Leben, auf diese Weise folgt er dem "Weg des Himmcls". Da er zur rechten Zeit ruht und rastet, bekommt sein Leben eine Leichtigkeit und Weichheit. Zu jeder Zeit strebt er nach der inncren Ruhe und dem Frieden, die drückenden Sorgen des Alltags lässt er los. er will nichts festhalten. Wenn cr ruht. dann wird er von den dunklen Kräften der Erde (Yin) bewegt, doch wenn er arbeitet, dann folgt er den lichtvollen Kräften des Himmels (Yang). Auch das Unglück bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht, denn er ist auf jedes Schicksal gefasst. Die GeSChäftigkeit meidet er, denn er will keine Lebenskräfte vergeuden. Er will lange leben. Doch wenn der Tod auf ihn zukommt, dann glaubt er an die Verwandlung seines Lebens und sucht seinen Platz im ewigen Urgrund. In der Frühzeit lebten viele weise Menschen nahe bei der Natur und ohne große Sorgen. Doch mit dem Fortschritt der Zivilisation wuchsen die Sorgen, Unruhe verbreitete sich. Viele sind von ihren inneren Strebungen und Gefühlen hin und her gerissen. Sie können nicht genug an Besitz und Reichtum horten, doch die innere Ruhe haben sie verloren. Allein die weisen Menschen suchen das wahre Leben, ihre widersprüchlichen Gefühle wollen sie ablegen. Sie meditieren regelmäßig und tief. um ein langes Leben zu haben. Dabei achten sie auf ihre erlebten Gefühle. im Umgang mit den Mitmenschen verwirklichen sie MenschlichkeitY Für Zhuollg Zi (Chung Tse) ist der Tod kein erschreckendes Ereignis, der Weise nimmt sein Lebensende an, wenn es kommt. Er glaubt, dass sein Leben in den ewigen Urgrund eingeht und dort verwandelt wird. Jeder Mensch hat an diesem Prozess des Werdens und des Vergehens teil. Nur die Törichten haben vor dem Tod Angst und flüchten ihn, sie stürzen sich in Trauer und Hektik. Die Weisen lernen ein Leben lang, den Tod anzunehmen; für sie ist er ein großes Erwachen aus einem Traum. Sie wollen nicht wieder geboren werden. denn der Tod macht alle Ränge gleich. Da gibt es nicht mehr die Reichen und die W. Bauer. Geschichte. 83-89. H. Schleichen. Klassische, 120-124. lJ H. Schleichen. Klassische. 124-130.
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Annen, die Herren und die Sklaven. Jeder Mensch geht in den ewigen Urgrund des Dao ein. Nun ist dieser ewige Urgrund für uns Menschen nicht aussprechbar, nur in Gleichnissen reden wir von ihm. Der Mystiker schaut diesen Urgrund im Schweigen der Meditation und wird von tiefem Glück erfüllt. Der Urgrund ist sich selbst Wurzel und Ursprung, er bleibt ohne Gestalt. Längst vor den Göttern und Dämonen, vor dem Himmel und der Erde war dieser Abgrund. er wird immer sein. Ohne Grenze und Form wird er ständig neu, nur die Mystiker schauen ihn. wenn sie ihre Wünsche und Sorgen ablegen. So steigt der Mystiker im Erleben der Ekstase in eine andere Weil ein. sein Körper wird Slarr wie Holz und seine Gedanken stehen still. Doch wenn er aus der Ekstase aufwacht, kann er nicht mit Worten sagen, was er geschaut hat. Es ist, als ob er auf dem Wind geritten oder auf den Wolken geflogen wäre. Er bewegte sich außerhalb der vier Meere, wie im Bereich der Sonne und des Mondes. Deswegen hat er jede Angst vor dem Sterben verloren. Wer in der Ekstase das Ewige geschaut haI. für den wird die vergängliche Welt unwichtig. Er strebt dann nicht mehr nach den Erkenntnissen der Wissensch'lft. auch nicht nach den vielen Regeln der Moral und der Gesetre. Wir erkennen in den daoistischen Lehren einen starken mystischen Hintergrund und Impuls. der das tägl iche Leben prägt. 14 Auch der Lehrer Lie Zi (Lieh Tse) im 4. Jh. v.Chr. verbreitete daoistische Lehren und Moral. Er erzählte Fabeln und Geschichten, um die Menschen zum urspriinglichen Leben anzuleiten. Den Menschen wollte er die Angst im Leben verringern. So erzählte er von einem Mann. der mit der Angst lebte. der Himmel könnle herabstürzen und alles Leben töten. Ihm sagte der weise Lie Zi. der Himmel sei nur angesammelte Luft, sie kann uns Menschen nicht erdrücken. Auch der Mond. die Sonne und die Sterne seien nur gesammelte Luft und könnten uns nicht geHihrden. Die Erde habe keine Hohlräume. kein Mensch könne plötzlich darin verschwinden. Der Himmel und die Erde seien nur kleine Teilchen im leeren Raum. doch für uns Menschen seien sie unbegreiflich und nicht messbar. Einmal werden sie sich in ihre Bestandteile auflösen. aber dies wird erst in ferner Zukunft sein. Wer lebt, weiß nichts über den Tod. Und wer gestorben ist, weiß nichts mehr vom Leben. Folglich sollen die Weisen keine Angst vor dem Tod und dem Weitende haben. Außerdem können wir gar nicht sicher sagen, dass der Himmel, die Erde und die Gestirne ein Ende haben werden. Aus diesem Grund vermag der Weise in Ruhe und Gelassenheit zu leben, er fühlt sich in seiner Welt geborgen. IS Lie Zi erzählte von drei verschiedenen Ländern, in denen Menschen lebten. Im Land des Westens ist es ständig dunkel, die Menschen schlafen die meiste Zeit und halten ihre Traumwelt für die Wirklichkeit. Im Ostland scheint ständig die Sonne. H. Schleichert. Klassische. 132-138. IS G. DcbonIW. SpeiseT (Hg.). Chinesische Gcis!eswell. Hanau 1987. 80-82.
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die Menschen können nicht schlafen und sind ständig in Eile. Erst im "Land der Mitte" gibt es den Tag und die Nacht. die Menschen wachen und schlafen. sie arbeiten und ruhen sich aus. In diesem Land der Mitte leben die weisen Menschen, sie kennen das richtige Maß für die Ruhe und dieArbeit. Sie lernen auch. zwischen dem Traum und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Als der Weise über das Land reiste, kam er in eine Herberge. Der Wirt hatte zwei Freudenmädchen. die eine galt als schön, die andere als hässlich. Da fragte der Weise nach dem Grund dieser Unterscheidung. Ein junger Mann sagte, die Schöne halte sich selbst für schön, doch in den Augen der Männer sei sie hässlich. Die andere hielt sich selbst für unschön. doch die Männer liebten ihre Schönheit. Da sagte der Weise, niemand solle sich selbst für schön oder weise halten, denn ob wir das wirklich sind, darüber urteilen die anderen. Nur wer um seine Grenzen weiß. wird von den Mitmenschen gehört und geachtet. 16 Der Lehrer Huai Nan Zi (2. Jh. v.Chr.) kritisierte den Staat. weil der Fürst und die Adeligen zu weit vom Weg des Ursprungs abgewichen seien. Allein der weise Mensch schaue in das Dunkel der Stille. er ruhe in sich und erlebe innere Erleuchtung. In der Folge gebraucht er die Dinge des Alltags so. indem er sie der Natur lässt. Er sucht nicht das Wissen über die vielen Dinge, auf intuilive Weise schaut er die Menschlichkeit. Gleichzeitig weiß er um sein Nichtwissen. deswegen bleibt er klein. Er bildet sein Herz und sein Gefühl und stärkt dabei seine Lebenskraft. Er freut sich an den kleinen Dingen des Lebens. denn alles Große hat einmal klein angefangen. Statt nach Besitz und Reichtum zu streben sucht er gute Freunde. von ihnen lässt er sich fonnen. Weil er vom Ursprung her lebt. bleibt sein Leben heiter und gelassen. 11 Auch der Dichter Hsi Kang (3. Jh. v.Chr.) vennittelte in seinen Schriften daoistische Lebenswerte. Viele Anhänger dieser Lebensschule suchten nach einem ruhigen und stillen Dasein. sie wollten ein langes Leben haben. Sie übten sich in der Meditation. im regelmäßigen Atmen. im Erleben der Sexualität. Gleichzeitig entwickelten sie Kampfkünste, um sich optimal zu verteidigen, wenn sie angegriffen wurden. Auch in der Nahrung suchten sie das Natürliche und Urspriingliche, sie suchten ein langes Leben im Frieden mit anderen, denn sie waren stolz, als menschliche Wesen leben zu dürfen. 18 So wurde die daoistische Lehre zur Lebensorientierung der mittleren und der unteren sozialen Schichten. Doch ein Volksdaoismus unterschied sich von einem philosophischen Daoismus. Seiden gemeinsam war das Misstrauen gegen reines Sachwissen, gegen Reichtum und Besitz, gegen Macht und Herrschaft. Als im 2. Jh. n.Chr. bllddhistische Mönche nach China kamen, verbanden sie sich mit daoistischen Lehren und entwickelten neue Modelle der Lebensweisheit und der Moral. Beide Schulen suchten das einfache Leben. die verschiedenen Fonnen der DebonIW. Speiser. Chinesische. 80-85. '1 G. DebonIW. Speiser. Chinesische. 134-137. ,. G. DcbonIW. Speiser. Chinesische. 144-147. '~G.
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Meditation und die innere Erleuchtung. Sie wollten jedes Leben schonen und mit allen Lebewesen Mitgefühl zeigen. Wichtig war ihnen das Einswerden mit der Natur und das friedvolle Dasein. Der Weise erlebt die Schöpferkraft des ewigen Urgrunds, die jetzt auch als .,Leerheit" gedeutet wird. Wer sich dieser schöpferischen Leerheit hingibt, weiß sich mit allen Lebewesen vcnvandt. Und wer aus der Kraft der Stille lebt, vermag alle Gegenkräfte des Lebens zu vereinen. Er erfahrt die wechselseitige Ergänzung von Großem und Kleinem, von Hartem und Weichem, von Männlichen und Weiblichem. Nur wer sein inneres Selbst verwirklicht, gewinnt ein langes Leben, seine Seelenkraft endet im ewigen Urgrund des Anfangs. 19 Dieses Denken prägt auch die Körpererfahrung und das Erleben von Sexualität. Denn im erotischen Liebesspiel fließen männliche und weibliche Lebensenergien ineinander. Männer nehmen weibliche Lebenskraft in sich auf. Frauen erleben die männliche Dynamik. Die Aktivitäten von Körper und Geist fließen ineinander. das Erleben der Gefühle und das rationale Denken ergänzen sich. Wer vom ewigen Urgrund her lebt, stärkt sein Selbstwertgefühl und spürt seine vitalen Kräfte. Er fühlt sich wie ein Tänzer mit dem Prozess des Werdens und des Vergehens verbunden. So begibt er sich auf eine spirituelle Reise und stärkt seine mentalen Kräfte. Diese setzt er ein, um seine körperlichen Bewegungen zu koordinieren und zu lenken. Durch visuelle Bilder übt er sich im posit'iven Denken, sein Leben erscheint ihm zutiefst wertvoll und voller Wunder. Wer vom ewigen Urgrund her lebt. übt sich in der Meditation und in der intuitiven Schau. er lebt aus seiner Körpermiue heraus. Durch das Erleben der Stille und der Ruhe will er die Ängste des Lebens verringern, Tiefpunkte überwinden. Verletzungen heilen, Schuld aufarbeiten und seine eigenen Grenzen besser erkennen. Die LebelIsschule des Dao stärkt das Selbstvertrauen der Einzelnen und gibt ihnen Mut zum Risiko und innere Lebendigkeit. Sie vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit und der Heimat. Die Anhänger dieser Lebensschule wissen sich von festen Vorstellungen frei. sie sind geistig beweglich und wollen egozentrische Strebungen vermindern. um mit ihren Mitmenschen fair leben zu können. In Kampfsituationen sind sie Meister der Abwehr. nicht des Angriffs. So setzt die Lebensschule des Dao klare und erreichbare Ziele. jeder soll im Leben zu einem Gewinner werden, Verlierer soll es nicht geben. Denn vor dem ewigen Urgrund sind alle Menschen gleichwertig. Männer sollen nicht länger die Frauen abwerten. Gesucht werden die Integrität der eigenen Person. die Anpassungsfahigkeit an alle Lebenssituationen, die Beharrlichkeit beim Verfolgen von Zielen, die innere Ausgeglichenheit und die Einfachheit im Lebensstil. Die Menschen erkennen. dass alle einen größeren Vorteil haben. wenn sie optimal zusammen arbeiten. als wenn sie gegen einander kämpfen. Diese uralten Lebensweisheit wird heute auch in vielen modemen Sportarten angewendet. 20 l~
Chang Chung Yuan. Tao. Zen und schöpferischer Geist. München 1975. 64-70. l(l Chung Liang AI HuanglJ. Lynch. Tao-Spon. Denkender Körper. lanzenJer Geist. Frankfurt 1995.48-62.
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In allen Kulturen waren es die unteren sozialen Schichten. welche von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgingen und diese zu verwirklichen suchten. Denn diese Menschen hatten keine Waffen, welche den Kriegern und den Adeligen vorbehalten waren. Die Daoisten sind von der Gleichwertigkeit aller Menschen überzeugt. denn vom ewigen Urgrund her gibt es nicht Herren und nicht SkJa· ven. Die Kooperation bringt allen Gruppen, Stämmen. Ländern. Staaten größere Vorteile als die Konfrontation. Dieses Lebensmodell hat auch die europäische Aufklärung entwickelt und es zur Formulierung der allgemeinen Menschenrechte weiter entwickelt.
Konfuzianische Morallehren Diese Morallehre wurde von den oberen sozialen Schichten, den Kriegern. den Adeligen und den Beamten entwickelt und prägte die chinesische Kultur über 2.500 Jahre. Kong Fit Zi (Kung fu tse, Kong Qiu. Konfuzius) hat sie als Wanderlehrer studien, zusammengefasst und an seine Schüler weiter gegeben. Er lebte zwischen 551 und 479 v.ehr.. stammte aus der Kriegerschicht und wurde in einer Schule für junge Krieger ausgebildet. Don lernte er die alten Riten der Ahnenverehrung. die Tanzkunst. die Musik. das Schreiben bzw. Malen und das Rechnen. die Geschichte seines Fürstentums. das Bogenschießen den Ringkampf. den Schwertkampfund andere Kampftechniken. WiChtig war in dieser Schule der moralische Ehrenkodex für Adelige und Krieger. Dazu gehörten die unbedingte Treue des Sohnes zum Vater, die Unterordnung des Schülers unter den Lehrer und die Unterwerfung der Adeligen unter den Fürsten. Nach einer kurzen Verwaltungstätigkeit in einem fremden Fürstentum konnte Kong selbst eine Kriegerschule leiten. Don studierte und lehne er die alten Traditionen der Moral. die Gesetze des Fürstentums. die alten Lieder, die Riten und die schriftlichen Verträge. China hatte zu dieser Zeit schon seit ca. 400 Jahren eine Schriftkultur. denn Priester und Mantiker hatten schon frühzeitig (um 1.000 v.Chr.) die Orakelspriiche in einer Bildersprache aufTierknochen aufgezeichnet. Meister Kong sammelte die alten Traditionen auch fremder Fürstentümer und gab sie seinen Schülern weiter. Zu seiner Zeit gab es noch kein einheitliches Reich, die vielen Fürstentümer stritten um die Vorherrschaft. 21 Zu den alten moralischen Werten für die Adeligen und Krieger gehörte die Unterordnung unter den Fürsten. der blinde Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und die getreue Ausübung aller befohlenen Dienste. Jedes Fürstentum suchte nach den besten Gesetzen und Lehren. um erfolgreiche Stadtstaaten bilden zu können. Die Adeligen brachten den Ahnen regelmäßig die Opfer. um Glück und Fruchtbarkeit zu erbitten. Einige FOrsten wollten dem Volkein moralisches Vorbild sein. damit das Volk friedlich zusammen lebe. Doch andere suchten die strenge Herrschaft mit vielen abschreckenden Strafen. :, H. Schleichen. Klassische. 22-24. W. Bauer, Geschichle. 51-57.
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Die aristokratische Gesellschaft war hierarchisch geordnet, die sozialen Schichten der Adeligen und Krieger. der Bauern. Hirten, Handwerker und Händler. der Unfreien und Sklaven waren streng von einander getrennt. Diese Ordnung wur~ de \Ion den Herrschenden als göttliche Ordnung des ,.Himmels" (tien) gedeutet, die Opferriten mussten diese ewige Ordnung bestärken. Deswegen verehrten die Adeligen und Krieger den obersten HimmeJsgou (Tien). die Schutzgötter ihrer Sippen und die Seelen ihrer Ahnen. Die unIeren sozialen Schichten verehrten die Schutzgötter der Fruchtbarkeit und des Lebensglücks. Das moralische Verhalten wurde durch den Bezug auf den Himmel bzw. auf die Schulzgölter legitimiert. die Gölter wachten über die Befolgung der Gesetze. In der Morallehre des Meisters Kong Zi finden sich die tragenden Grundbegriffe für das rechte Verhallen. Da ist von ..Siulichkeif' (li) die Rede, was die Befolgung der alten Sitten meint. Die Bedeutung des Schriftzeichens meint zum einen: dienen und verehren: zum andern aber das Opfergefaß. Zur allgemeinen Sittlichkeit gehön also das richtige Verhalten zu den Ahnen. das OpferrilUal und die Begräbnisriten. aber auch die Befolgung der gelernten Regeln des Verhaltens, die Höflichkeit im Umgang mit den Mitmenschen, das gegenseitige Wohlwollen in der Sippe.22 Der zweite moralische Grundbegrifflaulet .. ren", das Schriftzeichen bedeutet Mensch und die Zahl 2. Es meint also das richtige Verhallen zweier Menschen zueinander und wird gewöhnlich mit ..Menschlichkeit" übersetzt. In der Frühzeit bedeutet es das richtige Verhalten des Höheren gegenüber dem Niedrigen; später meint es Wohlwollen. Güte und Großzügigkeit gegenüber dem Gleichgestellten. Ein weiterer moralischer Grundbegriff lautet "yi", er bedeutet ,.ich" und .,gut" und meint also das Tun des Guten und RiChtigen in der sozialen Ordnung, den Respekt vordem Höheren,die Pftichtgegenüberden Mitmenschen und die abgestufte sozialeGerechtigkeit: kurz das geordnete Verhalten zwischen Gleichrangigen. Ein anderer moralischer Zielwen heißt "xiao", das Schriftzeichen steht für Kind und Alter; dabei ist das Kind tiefer gestellt als das Alter. Gemeint sind alle Pflichten der Kinder gegenüber den lebenden und den toten Eltern. Zu den Pflichten des Sohnes gehön es, die Begräbnisriten würdig auszuführen, die Trauerzeit einzuhalten und den Ahnen die Opfer zu bringen. Kinder müssen den noch lebenden Eltern mit Ehrfurcht begegnen. Wenn der Fürst die moralischen Tugenden lebt und dem Volk ein Vorbild ist, dann werden die Menschen ihn nachahmen und der Staat wird gefestigt. Er braucht dann nicht viele Gesetze und Strafen. wenn die Menschen mit Güte, gegenseiti· gern Wohlwollen und mit Menschlichkeit zusammen leben. Die unteren sozialen Schichten werden vom Lehrer Kong Zi abgewertet, er nennt sie ungebildet, grob und dumm. Den Bauern, den Hinen, den Händlern, den Handwerkern und den
II
W. Bauer, Geschichte. 54--6). H. Schleichert. Klassische, 22-28.
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Unfreien stehe es zu, flir die Gemeinschaft zu arbeiten. ihren Vorgesetzten zu gehorchen und niemals nach Veränderung zu streben.ll Die soziale Ordnung muss so bleiben. wie sie ist. Die Herrschenden dürfen das Volk aber nicht ausbeuten und nicht ungerecht behandeln. Die Beamten müssen milde sein zu den Untergebenen und ftir ihr Wohlergehen sorgen. Sie müssen Vor· räte an Nahrungsmineln anlegen ftir Zeiten der Dürre oder der Überschwemmung. Nach der Ordnung des Himmels aber haben sie viele Privilegien und Reichtümer, die ihnen niemand streitig machen darf. Die Lehren des Meisters Kong Zi wurden von seinen Schülern aufgeschrie· ben und in mehreren Schulen weiter gegeben. Ihn beschäftigten die Fragen des richtigen Verhaltens, die Pflichten der Untertanen gegenüber dem Fürsten. Die froheren Zeiten werden als ideal gesehen. sie geben das Maß für die Gegenwart. Die beste Swatsfonn sei die absolute Herrschaft des Fürsten mit seinen Beamten. Doch der Fürst ist an die alten Traditionen gebunden, die Menschlichkeit darf er nicht verlctzen. Auf das Volk wirkt er durch sein moralisches Vorbild, seine Untertanen ahmen sein Verhalten nach. Wie der Polarstern ruht er am festen Ort. wie Sterne kreisen die Untertanen um ihn. Weil er gerecht handelt. braucht er nicht viele Befehle. seine Gerechtigkeit wird von allen nachgeahmt. Die Todesstrafe ist kein geeig· netes Minel. um die Menschen zum Gehorsam zu zwingen. Wenn die Gesetze des Fürsten gerecht sind. dann werden sie befolgt. Wenn ein Land 100 Jahre von gerechten Fürsten regiert wurde, dann braucht es nicht mehr die TCKlesstrafe. Wenn alle Menschen die Sittlichkeit verwirklichen und einander schätzen. kann der Staat gedeihen. 2A Der Fürst muss dafür sorgen. dass genug Kriegerda sind und dass alle Menschen Nahrung haben. Die sozialen Ränge und die Bezeichnungen der Ämter müssen beibehalten werden. Das Ziel jeder Erziehung ist der edle Mensch Gun), der nach moralischer Vollkommenheit strebt. Dafür braucht er keinen großen Reichtum, er muss nur seine moralischen Entscheidungen in die Tat umsetzen. Für die un· teren sozialen Schichten sind diese Ziele nicht erreichbar. weil es ihnen an der Bildung des Hertens mangelt. Meister Kong verweigert den unteren Schichten die Bildung. Doch der edle Mensch der oberen Schichten studiert dic alten Schriften der Weisheit und der Moral, er übt sich täglich im tugendhaften Leben. Er redet we· nig und handelt zuerst, bevor er darilber spricht. Seinen Wert hat er in sich, kein anderer darf ihn bloß für seine Ziele benutzen. Wenn er in Not gerät, bleibt er bei der Tugend und schämt sich der Annut nicht. Großer Gewinn ist ihm unwichtig. aber er strebt immer nach der Menschlichkeit. Rein theoretische Diskussionen meidet er, im Gespräch drängt er seine Meinung anderen nicht auf.~ H. Schleichen. Klassische. 24-26. W. Bauer. Gcschichle. 57-60. :. W. Bauer, Geschkhle. 58-62. H. Schleichen. Klassische. 26-28. 3 H. Schleichen. Klassische. 29-31. W. Eichhorn. Religionen, 161-177. lJ
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So versteht sich der Weise auf die Ordnung und Gerechtigkeit im Staat. den Ackerbau und die Verteidigung überlässt er anderen. Dem Fürsten will er ein guter Ratgeber sein, selbst nach dem Tod soll sein Name noch gelobt werden. Das Verstehen der Weisheit kann nicht befohlen werden. es wird erlernt. Erlittenes Unrecht soll mit Gerechtigkeit vergolten werden. denn gelebte Tugend macht auch die Mitmenschen gütjg. Unser Zusammenleben basiert auf der Regel der Gegenseitigkeit, denn was wir selber nicht wünschen. dürfen wir auch keinem anderen tun. Dies ist die ..Goldene Regel" des sozialen Verhaltens. die sich in allen Kulturen findct. 26 Die Menschen der minieren und der unIeren sozialen Schichten streben vor allem nach dem wirtschaftlichen Gewinn. die Edlen streben nach der Gerechtig. keit. Der Fürst behandelt die Beamten nach der Regel der Sittlichkeit. sie aber müssen ihm in unbedingter Treue dienen. Der weise Mensch handelt immer nach dem ..Maß der Mine" und meidet die Extreme des Verhaltens. Das Unsittliche will er nicht sehen und nicht tun. Die Sitte aber besteht im Verhalten der Väter. in der Ehrfurcht vor den Oberen. in der Menschlichkeit. Die Söhne müssen den Vorgaben der Väter folgen. Die Sippe bzw. die Familie sind die Grundzellen des Staates. Wenn die Mcn· schen in geordneten Familien friedvoll zusammen leben. dann wird der Friede im Staat garantiert. Wenn es aber in den Sippen andauernd Streit gibt. ist der Staat gefahrdet. Wenn der Sohn etwas gestohlen hat. soll ihn der Vater nicht vor ein Gericht bringen. denn die Sippe muss zusammenhallen. Wenn die Eltern Fehler machen. werden sie von den Kindern maßvoll kritisiert. Erlittenes Unrecht soll in der Sippe ohne Murren ertragen werden. Weil Kinder ungefahr 3 Jahre die Eltern brauchen. um überleben zu können. soll auch die Trauerzeit rür die verstorbenen Eltern drei Jahre dauern. Wer die Menschlichkeit will. kann sie auch erreichen. denn die Tugend ist lernbar. Der Weise befolgt die Riten in den Tempeln. er ehrt die Schutzgötter und hält sich von bösen Dämonen fern. Wenn er krank ist. glaubt er nicht mehr an die magische Kraft des Setens. Über den Tod denkt er wenig nach, denn seine Aufgaben liegen in diesem Leben. So strebt der Weise nach Heiterkeit im Leben. die Sorgen des Alltags erdrlIeken ihn nicht. Mit den Trauernden und Leidenden zeigt er Mitgefühl und will ihnen helfen. Doch der Reichtum ist ihm unwiChtig. weil er schnell vergeht. 21 Die Schule des Meisters Kong Zi schätzt die Lehren der klassischen Bücher der chinesischen Kuhur. Im .,Buch der Urkunden" (Shu chiliS) werden die Ideale des guten Herrschers vorgestellt. Wenn dieser den Gesetzen der Menschlichkeit folgt. ist er im Einklang mit dem Himmel. Nur wenn er seinen Charakter bildet. kann er die Ordnung im Staat aufrecht erhalten. Die soziale Ordnung ist das Abbild
» H. Schleichen. Klassische. 30-32. W. Bauer. Geschichle. 54-62. TI
W. Bauer. Geschichte. 58-60. H. Schleichen. Klassische. 33-35.
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der himmlischen Welt, sie darf nicht verändert werden. Alles, was die Menschen tun, das sehen die Ahnen, die im Land der Toten weiter leben. 28 Die Fürsten der Frühzeit liebten das Volk, deswegen lebten die Menschen rechtschaffen. Im "Buch der Lieder" (Shi dring) wurden die allen Gesänge gesammelt, mit denen die Regeln der Moral verbreitet wurden. Denn die Musik bildet den Charakter und spornt zum tugendhaften Leben an. Wenn alle den Himmel ehren, nach Weisheit streben und den rechten Umgang mit der Natur suchen, werden sie glücklich leben. Wer sich von der Schönheit der Natur leiten lässt, findet die innere Hannonie seines Lebens. Da die Musik aus dem Herzen kommt und dieses trifft. formt sie den Charakter. Jede Erziehung muss mit der Dichtkunst beginnen, dann zur Moral fortschreiten und mit der Musik enden. In den Liedern lernen die Menschen Lebensfreude und ein reines Herz. 29 Das ..Buch der Wandlungen" (/ dring) ist ein altes Orakel buch, enthält aber auch Grundsätze des moralischen Lebens. Die Menschen suchen nach dem Glück und gcben sich den Wandlungen im Kosmos hin. Alles ist in Veränderung, nichts bleibt gleich. Das Wesen der Wandlung besteht darin, neues Leben zu spenden. Aufgabe der Tugend ist es. Leben zu ennöglichcn und zu entfalten. Durch das verwirklichte Gute wird neues Leben erschaffen. nur durch Güte und Menschlichkeit kann Leben wachsen. Der große Kosmos ist im Werden und folgt einer göttlichen Ordnung. Wenn wir im Gleichklang mit dem Kosmos leben, finden wir das rechte Maß für unser Handeln. Wer sich der Kraft des Werdens aussetzt,dessen Leben kann gedeihen. Wer dem Werden Widerstand entgegen setzt, der wird scheitern. Jeder Mensch hat seinen Platz im Leben, der Ort der Frauen ist das lnnere des Hauses. Die Männer beraten den Fürsten, die Frauen erziehen die Kinder. Wer im Einklang mit den Gesetzen des Himmels lebt, darf ein langes Leben erwarten. Wer aufrichtig ist, dem werden viele ihr Vertrauen schenken. Der Lügner aber wird allein bleiben. Kein Mensch setzt sich selbst das Maß, dies tut allein der Himmel. Wenn die Menschen mit dem Himmel überein stimmen, dann ergeht es ihnen gUL)(l Die Annalen des Fürstentums Lu tragen den Titel "Frühling und Herbst", darin wird von der Rechtmäßigkeit des Fürsten gesprochen. Die Söhne leben inderTreue zu ihren Vätern und folgen ihren moralischen Vorgaben. Die Gesetze des Himmels verbieten uns, zu lügen, zu stehlen, zu rauben. fremdes Leben zu bedrohen und zu töten. Wenn ein Staat diese Werte hochhält, kann er nicht besiegt werden.)' Ein altes "Buch der Riten" (Li ki) sammelt die Regeln des Ahnenkultes und der Verehrung der Schutzgötter. Im Ritual nehmen die Menschen mit den Ahnen Kontakl auf, es verbinden sich die Kräfte des Himmels mit denen der Erde. Die Menschen nehmen neue Lebenskraft in sich auf, sie lernen die Weisheit des Lebens
l.I
A. Cavin. Der Konfuzianismus. Genf 1981. 110-114.
A. Cavin, Konfuzianismus. 112-116. JO Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. Dannstadt 1997. 40-44. lt A. Cavin. Konfuzianismus. 116--120. l'I
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und die Regeln der Moral. Beim Ritual flihlen sie sich geborgen und geschülu. sie erleben ihre Gemeinschaft. Durch die Kunst der Dichter wird das Volk sanft in seinen Gefühlen. gut im Handeln und einfach im Streben. Durch die Kenntnis der Geschichte im Fürsten· lum werden die Menschen weise. durch die Gesänge und die Musik werden sie freigiebig und hilfsbereit. Die Tugend der Güte wird in den Gesängen gelernt. Wenn die Menschen die .,Weisheit der Wandlungen" begriffen haben, werden sie nachdenklich und ehren einander. Diese moralischen Regeln lernen sie bei der Ausfuhrung der Riten. J2
Nun überzeugt der Weise seine Mitmenschen durch seine Lebensform. er lut viel Gutes und lebt die Gerechtigkeit (Lun yü 18.7). Nur wenn er die Menschlichkeitlebt. bleibt er stark und hilft den anderen zum Erfolg. Da er alle Extreme venneidet. lebt er aus der Mitte der Erde. Seine Nächstenliebe ist eine abgestufte. sie gilt zuerst den Menschen seiner Sippe (Lun yü 14.33). Er lebt ruhig und besonnen. traut nicht jedem und geht vorsichlig durch das Leben. Das Recht will er nicht verletzen. so blcibt er im Gleichgewicht (Lun yü 6.20) Ein Lehrer lenkt scine Schülcr behutsam auf dcm Weg zur Weisheit und zum Wissen. Die moralische Abhandlung über die ..Große Lehre" (Ta hsüeh) betont die Fähigkeit jedes Menschen. das Gute zu tun und sein Glück aus eigener Kraft zu verwirklichen. Weil das Weltall harmonisch geordnet ist. muss auch das Leben der Menschen ins Gleichgewicht kommen. Erziehung und Studium helfen. die Ausgeglichenheit zu finden, die eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen und unaufhörlich nach dem Wissen und der Tugend zu streben. Unsere Zuneigung zu den Mitmenschen ist eine Fähigkeit unserer Natur, wir müssen sie durch Herzens· bildung entfalten. Wer sein Innenleben regelt und seinen Charakter fonnt. fordert das Zusammenleben in der Sippe und im Staat. Wer in der Sippe gelernt hat. seine Mitmenschen zu lieben, der wird es auch im Staat tun. Ein Fürst mit st'arkem Charakter sorgt für das Wohlergehen des ganzen Volkes. Doch der Wohlstand besteht nicht nur in dcr Anhäufung von Gütern. sondern auch in der Ausübung der Gerechtigkeit. Auch die Schrift über •.Die richtige Mitte" (Tsclumg yung) lehrt die Menschen das Gleichgewicht zwischen dcm Glück und dem Leiden. zwischen der Liebe und dem Hass. Wer aus der rcchten Mitte lebt. folgt den Gesetzen des Himmels und erreicht seine selbst gewählten Ziele. Das Wesentliche erreichen heißt, das Gute wählen und sich ein Leben lang daran halten.33 Wer sein inneres Ich bildet. orientiert sich am ewigen Weltgesetz, nach dem alle Wesen wachsen und sich entfalten wollen. Er liebt seine Mitmenschen. trägt den Staat mit und erkennt die Weisheit des Himmels. Der gute Mensch bildet mit seinem Leben die sittliche Weltordnung ab. sein Blick umfasst das Weltall. Mit Ehrfurchttnu er allen Lebewesen entgegen und erkennt die inneren Bedürfnisse Jl
A. Cavin. Konfuzianismus. 120-t24.
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Tschuang Yung. 2Off.
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seiner eigenen Natur. Wenn er den ,.Weg der Mitte"' geht und unaufhörlich strebt und arbeitet. leitet er seine Mitmenschen zum guten Leben an. Auf die Erkenntnis des Guten folgt die moralische Tat. die allein uns bleibendes Glück verschafft.'w
Spätere Lehrer der Moral Der Lehrer Meng Zi (Meng tse. Mencius) entfaltete im 4. Jh. v.ehr. die konfuzianischen Lehren weiter, sein Blick gah mehr dem Leben des beherrschten Volkes. Er wollte alle zu Rechtschaffenheit und Menschlichkeit anleiten. Nun war er überzeugt. dass von der Natur her alle Menschen gut sind und auch zum Guten streben: und zwar aufgrund der allen angeborenen GefUhle (Buch Meng Tse6, 1.5) So wie das Wasser von oben nach unten läuft. so streben alle Menschen mit ihren GefUhlen nach dem Guten. dem Lustvollen und dem Glück. Das Herzeines Kindes ist rein, erst durch den Einfluss unmoralischer Menschen kann es böse werden. Doch vermag sich jeder Mensch ein reines Herz zu bewahren, indem er auf Raub. Diebstahl. Lüge und Totschlag verl.ichtet. l5 Ein gerechter Fürst wird vom Volk wie ein Vater geachtet. denn das Volk nimmt den ersten Rang im Staat ein. nicht der Fürst. Zuerst kommen die Bauern, die das Getreide säen und ernten. Von ihnen leben die Krieger und der Fürst. In jedem Menschen ist die Fähigkeit des Wohlwollens gegenüber anderen. dies lernen wir vom Himmel. Wer sein inneres Wesen wieeinGäItnerkultiviert. glaUbt an das Gute in jedem Menschen. Denn er vertraut auf die Kraft der Vernunft und die Weisheit des Volkes. ur wenn allen Menschen die Gerechtigkeit widerfahrt. können sie die Fähigkeit zu guten Taten entfalten. Wenn nun ein Fürst seine Pflichten grob und lange Zeit verletzt, dann verliert er die Herrschaft. l6 Doch ein Fürst ist dann stark. wenn er das Volk mit Menschlichkeit und ohne Gewalt regiert. Dann ahmen die Untergebenen seine Tugend nach. Sein guter Ruf verbreitet sich schneller. als seine Boten reiten können. Wenn wir mit den Tieren mitleiden. dann müssen wir dies erst recht bei Mitmenschen tun. Wer am besten für das Volk sorgen kann. der soll Fürst oder König werden. Denn es ist immer die innere Gesinnung. die uns das Gute tun und das Böse vermeiden lässt. Ein gerechter Fürst muss mit allen Milleln den Frieden bewahren. nie darf er fremde Fürstentümer angreifen. Lieber soll er Bestechungsgelder zahlen. um Kriege zu venneiden. In jedem Krieg werden Menschen getötet und es geschieht BösesY Das Wohlergehen eines Fürstentums gelingt nur durch die hohe Moral seiner Menschen und des Fürsten. Wenn die Kinder lernen. ihre Ehern zu achten, dann werden sie später auch ihre Mitmenschen achten. Die Jüngeren und Stärkeren müssen fUr die Älteren und Schwächeren Sorge tragen. Der Sohn muss den Vater verteidigen. im Ernstfall muss er fUr ihn sogar sein Leben opfern. Kein Mensch Tschuang Yung. 27. ß A. Cavin. Konfuzianismus. 158-161. ... H. Schlckhen. Klassische. 34-38. " Buch Meng Tsc 3. 88: I BIS.
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kann andere Menschen leiden sehen, deswegen darf ein Fürst vom Volk keine unnötigen Leiden verlagen. Wir alle haben in uns die Fähigkeit zum Mitgefühl mit anderen. zur Scham über das Böse, zur Bescheidenheit. Doch das Mitleid ist die Grundlage der Menschlichkeit. auf dem Schamgefühl baut sich die Gerechtigkeit auf. aus der Bescheidenheit wächst die Moral und durch die Unrerscheidung kommen wir zur richtigen Erkenntnis. lI Die Fähigkeiten zu Menschlichkeit. Rechtschaffenheit. Sittlichkeit und Erkenntnis sind allen Menschen angeboren. deswegen können alle von Natur aus als gut bezeichnet werden. Sie müssen im Leben dieses naturhafte Gute bewahren und festigen. Wer aber Böses Iut. Icbt in der geistigen Verblendung. Doch auch der Übeltäter kann das Gute wieder lernen. So kann jeder Mensch sein Schicksal selbst gestalten. das vom Himmel verhängte Unglück gibt es nicht (Buchdes Meng Tse 2.A4). Folglich gilt Meng Zi als der ..zweite Heilige" der konfuzianischen Tradition und als der große Lehrer der allgemeinen Menschlichkeit. Aus seinen Lehren lassen sich bis heute die Prinzipien der chinesischen Menschenrechte und Menschenpfl ichten herleiten. 39 Eine abweichende Schule der Lebensweisheit und der Moral begann der Lehrer Mo Di (Mo Ti. Me Ti. Micius). der im 5. und 4. Jh. v.Chr. lebte. Er berief sich auf einen Gou der Vorsehung. der das Volk lenken solhe. Nun müssen die Menschen lernen. das Prinzip der Nächstenliebe und der Nächstenhilfe über die Grenzen der eigenen Sippe auch auf fremde Sippen auszudehnen. Denn alle im Staat haben den größten Nutzen und Vorteil. wenn alle für einander Sorge tragen. Denn dann kann jeder in Not Geratene hoffen. dass auch ihm geholfen wird. Freilich muss er lernen. anderen Notleidenden hilfreich zur Seite zu stehen. Mo Di hat in der chinesischen Kultur die Lehre der allgemeinen Menschenliebe verbreitet. doch nur eine Minderheit ist seinen Lehren gefolgt. Mo Di stammte aus der miuleren sozialen Schicht und verachtete die Privi~ legien der Höheren. Für ihn ist die allgemeine Nächstenliebe die tragende Säule für jede soziale Ordnung. denn sie bringt allen den größten Nutzen und maximale Sicherheit. Die Befolgung der bloßen Pflichten genügt nicht für ein gutes Leben für alle. Nächstenliebe geht über alle Pflichten hinaus. Der Krieg muss auf alle Fälle vermieden werden. denn er bringt allen Beteiligten Schaden. In der Frühzeit haben die Menschen einfacher und glücklicher gelebt. die Herrscher brachten dann die Prunksucht unter das Volk. Nach langen Kämpfen mussten sich die Schwächeren den Stärkeren unterwerfen. soentstanden die Fürstentümer mit ihren Gesetzen. 40 Was der Herrscher für gut und richtig hielt. das wurde Gesetz. Durch Belohnung und Bestrafung wurden die Menschen gezwungen. die Gesetze einzuhalten. Doch jetzt sollen im Fürstentum die Fähigsten aus allen sozialen Schichten als Buch Meng Tsc 2. A6. JlO H. Schleichen. Klassische. 45-50. 01(1 A. Cavin. Konfuzianismus. 150-155. H. Schkichen. Klassische. 58-60.
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Beamte ausgewählt werden. erst dann gedeiht ein Staat. Auch Niedrige sollen aufgrund ihrer Leistung zu hohen Ämtern aufsteigen können. Wenn das Volk ohne Gewalt regiert wird. wird es den Frieden bewahren. Die Beamten im Staat sollen gemäß ihrer Leistung entlohnt werden, nicht gemäß ihrer Herkunft. In der realen Welt herrschen die Starken über die Schwachen, die Reichen verhöhnen die Armen. Doch das muss nicht so bleiben, denn die allgemeine Menschenliebe ist möglich. Wenn der Fürst die Kriege befehlen kann. dann kann er auch die allgemeine Nächstenliebe anordnen. Denn wer den Mitmenschen hilft, kann damit rechnen, dass auch ihm geholfen wird, wenn er in Not gerät. Es genügt nicht, den alten Traditionen zu folgen und die Riten auszuführen, darin ist viel an Ungerechtigkeit enthalten. Der Weise muss immer fragen, ob die alten Moralregeln für ihn und die Mitmenschen brauchbar sind. Die einzelnen Fürstentümer haben sehr verschiedene Sitten. dies zeigt. dass sie veränderbar sind. Wenn der Fürst und die Beamten den Luxus und die Verschwendung meiden. dann haben alle Menschen genug zu essen. Der Nulzen des ganzen Volkes ist das höchste Gut im Staat. zu diesem allgemeinen Nutzen müssen aJle ihren Beitrag leisten. Auch die Künste sollen allen Menschen zugänglich werden, denn sie machen unser Leben schöner.oI1 Das einfache und natürliche Leben macht die Menschen glilcklicher als der Reichtum nur Weniger. Wenn alle dem Willen des Himmels folgen. werden sie gut zusammen leben können. Denn der Himmel ist wohlwollend, menschenfreundlich und allwissend. Er bestraft die Übeltäter und belohnt die Tugendhaften. Kein Mensch soll mehr an ein blindes Schicksal glauben, jeder soll mit eigener Kraft sein Leben gestalten. Alle müssen ein Leben lang ihren Charakter formen. um für die Gemeinschaft nützlich zu sein. Diese Lehre Mo Dis blieb in China in der Minderheit und wurde von den orthodoxen Konfuzianern bekämpft. Seit dem 18. Jh. wurde sie wieder verbreitet. Dem Lehrer ZJmang Zi (Yang Zhu) wird ein Buch ..Lie Zi" zugeschrieben. das aus dem 3. Jh. v.Chr. stammt. Nach dieser Lehre sucht jeder Mensch nach dem optimalen Glück. denn alle wollen ihre Wünsche befriedigen. Weil aber das Leben kurz ist. soll jeder lernen, sein kleines Glück zu genießen. Dafür ist aber auch ein gesunder Egoismus nötig. der an die eigenen Bedürfnisse denkt. Jeder soll die Freude an der Schönheit der Natur, der Musik und der Sexualität lernen, denn unser Leben ist kurz. Und es gibt keinen Lohn im Land der Ahnen, deswegen müssen wir unser jetziges Leben genießen. Der Tod macht alle Menschen gleich. dort hören alle sozialen Ränge auf. Die Begräbnisriten sind ohne NUllen, denn keine Seele lebt nach dem Tod des Körpers weiter. Dennoch ist der Weise kein reiner Egoist. denn erteilt seinen Reichtum und sein Glück mit anderen. Er unterdruckt keine Wünsche und Bedürfnisse und will sie mit anderen befriedigen. Wer sinnliche Lust erlebt, seine Gedanken frei entfaltet und sich an den Schönheiten des Lebens freut, kommt dem Glück sehr nahe. Der ~I
W. Bauer, Geschichte, 64-70. H. Schleichert. Klassische. 68-71.
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Ruhm und das Ansehen bei den Mitmenschen sind dafür nicht wichtig, das Glück liegt in den kleinen Dingen. Wer mit wenig Gütern glücklich sein kann, ist der Weisheil des Daseins sehr nahe gekommen. Werein erfülltes Leben anstrebt, kann den Tod akzeptieren, auch wenn er an kein Leben nach dem Tod mehr glaubt. 42
Morallehren der Legali,ten Zur Zeit der "streitenden Reiche" (4. und 3. Jh. v.ehr.) kämpften einzelne Fürsten um die Vorherrschaft über andere. Da entstand in der konfuzianischen Tradition eine Morallehre. die eine strenge Herrschaft der Fürsten zum Ziel hatte. Als die Bevölkerung wuchs und die Fürstentümer gröBer wurden. da genügte nicht mehr das Vorbild des Fürsten für ein gutes Zusammenleben. Nun überlegten einige Lehrer, wie ein Staat organisiert sein müsse. damit er über andere herrschen kön· neo Der Lehrer Siumg rallg (4. Jh. v.ehr.) wirkte im Fürstentum Qin und trug zu dessen Erstarken wesentlich bei. Denn cr teihe die Arbeiter auf den Feldern in 5er und IOer Gruppen ein. um ihre Leistung besser beaufsichtigen zu können. Er ordnete an. dass zwei erwachsene Söhne nicht in einem Haus wohnen durften. sondern jeder musste eine eigene Familie gründen. Er organisierte die Ordnung der Krieger neu. führte einheitliche Maße und Gewichte für die Händler ein. Außerdem ließ er die vielen Bilderschriften vereinheitlichen. die Wagen mussten die gleiche Spurbreite bekommen. Denn ein starker Staat muss klare und strenge Gesetze haben, ihre Einhaltung muss kontrolliert werden. Jeder muss einen Gesetzesübertreter bei den Beamten anzeigen; bei Unterlassung droht ihm die Todesstrafe. Räubern und Dieben werden die Hände oder Füße abgehackt. oder sie werden öffentlich hingerichtet. Denn die Strafen müssen die Menschen von den Übeltaten abschrecken. Das Volk muss vor dem Fürsten zittern. es darf ihn nicht lieben. Doch auch der Fürst zittert vor dem Volk und liebt es nicht. 43 Denn alle Menschen sind von ihrer Natur her böse und neigen zu Lügen, Diebstahl und Totschlag. Nur durch strenge Gesetze können sie von diesen Übeltaten abgehalten werden, In der Frühzeit kämpften alle Menschen gegen einander, bis ein weiser Gesetzgeber auftrat und klare Gesetze schuf. In der Frühzeit waren nur die Mülterder Kinder. nicht aber die Väter bekannt. Als die Sippen größer wurden. mussten Gerichte eingesetzt werden. um den dauernden Streit zu schlichten. Kluge Gesetzgeber verfassten die Gesetze und die Fürsten begannen, mit den Kriegern zu herrschen. Nur durch die Androhung von Gewalt können die Menschen von den Übeltaten abgehalten werden. Da die Übeltäter nicht zum moralischen lernen fahig sind. müssen sie getötet werden. Die Todesstrafe erzielt die stärkste Abschreckung für Verbrecher jeder Art. Die öffentlichen Hinrichtungen zeigen dem Volk die Folgen von Gesetzesübertretungen. 44 H. Schleichen. Klassische, 76-85. 4J W. Bauer. Geschichte. 109-114. H. Schleichen. Klassiscllc. ... H. Schleichen, Klassische. 145-150. 41
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Die beiden Säulen eines Staates sind die Landwirtschaft und die Krieger. Mit Menschlichkeit und moralischem Vorbild ist kein größerer Staat zu regieren. Allein die Angst vor den harten Strafen lässt die Menschen das Böse vermeiden. Außerdem stärken die Strafen die Macht des Fürsten. Der adelige Lehrer Hall Fei Zi (3. Jh. v.Chr.) verband diese Lehren sogar mit daoistischen Gedanken. Er lehrte, dass ein kluger Herrscher sich ständig im Hintergrund halten müsse, während die Beamten regieren. Er lebt in Distanz zum Volk und braucht nicht dessen Zuneigung. Im Grunde ist er einsam und voller Misstrauen gegen jeden Untertanen. Seine Autorität wächst mit der Härte seiner Gesetze, seine Moral ist zum Regieren sekundär. Nur mit strenger Organisation der Krieger kann er zum Kampf rüsten. Dieser autoritäre Herrscher hat keine Freunde, er muss das Verhalten der Untertanen ständig durch seine Beamten kontrollieren lassen. Die Moral und die Bildung des Gewissens tragen wenig zu einem starken Staat bei. Die alten Lehren der Konfuzianer seien nicht mehr ausreichend. 4s Einige Herrscher sind nach der ersten Reichseinigung (221 v.Chr.) diesem Modell des autoritären Staates gefolgt. Doch es scheiterte und wurde sehr schnell vom konfuzianischen Modell des Staates abgelöst. Dieses Modell hat mit seiner Herrschaftsethik über 2.000 Jahre die chinesische Kultur geprägt; nämlich bis zum Ende des Kaiserreiches 1912. Die Diktatur der Kommunistischen Partei hat seit 1948 wieder auf die Ideen der Legalisten zurück gegriffen.
Andere Schulen der Moral Der nicht orthodoxe Lehrer Xun Zi (Hsün Tse) im 3. Jh. v.Chr. ging ebenfalls davon aus. dass die Menschen von ihrer Natur her böse sind und zu Übeltaten neigen. Deswegen müssen sie durch strenge Strafen und harte Gesetze zum Wohiverhai· ten gezwungen werden. Doch herrschen sollen im Staat nur Personen mit hoher Moral,denn die Menschen brauchen Vorbilder des guten Lebens. Der Himmel teilt jedem Menschen seine Aufgabe zu, die Tugendhaften belohnt er mit Reichtum und hohen Ämtern. Jede Herrschaft beruht auf moralischer Stärke, nicht allein auf der Kraft der Krieger. Wenn ein Fürst egoistisch und unsittlich lebt, verleitet er das Volk zu Raubgier und Neid. Doch die Menschen sehnen sich nach einem tugendhaften Herrscher, deswegen sollen im Staat die Tüchtigen und die moralisch Aufrechten herrschen. Das Volk kann durch die moralische Bildung gebessert werden. deswegen muss es ständig über das rechte Verhalten belehrt werden. Wenn die Menschen die Gesetze verstehen, dann werden sie diese auch befolgen. Und wenn ein Volk zur Tugend erzogen wird, dann braucht ein Staat nur wenig Gesetze. Über diese vernünftigen Gesetze soll der Herrscher mit dem Volk diskutieren. Ein guter Herrscher zeichnet sich durch moralische Autorität, durch Rechtschaffenheit und durch Menschlichkeit 4\
W. Bauer. Geschichte. 110-115. H. Schleichert. Klassische. 160-170.
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aus. Allein Schwerverbrecher müssen getötet werden. denn sie können das Gute nicht mehr lernen. Die kleinen Übeltäter werden durch sinn volle Strafen zum Guten erzogen. Auch die Musik,die Malerei und die Dichtkunst tragen zur moralischen Bildung bei. Der Himmel erschuf das Volk nicht für den Fürsten. vielmehr ist der Fürst für das Volk da. Auch die Beamten müssen tugendhaft leben, nur dann dienen sie dem Volk. In schlecht regierten Staaten herrschen im Volk Angst und Misstrauen, die Sittlichkeit verfallt. Doch unter tugendhaften Beamten und Fürsten lernen die Menschen die allgemeine Menschenliebe. Ein Staat. der auf der Tugend seiner Bürger aufgebaut ist, plant keine Eroberungskriege, doch erTÜslet zu seiner optimalen Verteidigung. Das Volk darf den Herrscher auch kritisieren, wenn er Fehler macht. 46 Die Musik kann zur moralischen Bildung beitragen. Die Menschen neigen zwar von ihrer Natur her zum Bösen, doch sie können zum Guten erzogen wer-
den. Die Tugend ist lernbar, die Menschen können ihr übertriebenes Streben nach Gewinn und Reichtum mäßigen. Auch der Neid und der Hass können reduziert oder gar überwunden werden. Deswegen braucht ein Staat die weisen Lehrer. die selber die Tugend leben und die Menschen zu Mitgefühl erziehen. Alle zwi~ schenmenschlichen Beziehungen lassen sich durch Regeln der Moral und dureh gelebte Tugenden ordnen. Durch das Gewaltmonopol zwingt der Herrscher die Menschen zum Wohlverhalten. Nun haben alle Menschen ihre Talente. die sie für die Gemeinschaft einsetzen müssen. Jeder Bürger soll lernen. für sein Handeln die Verantwortung zu übernehmen. Die Adeligen und Beamten müssen Vorbilder des guten Lebens sein. allein sie können schreiben und lesen. Nun sind die Grundregeln der Moral für alle sozialen Schichten dieselben. Doch die sozialen Ränge sind notwendig. um im Staat die Ordnung aufrecht zu halten. Die alten Tugenden haben sich bewährt. sie sollen auch in den neuen Zeiten gelebt werden. 47 Nun muss jeder Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. dem Himmel darf keiner sein Leben überlassen. Der Weise glaubt an keine bösen Vorzeichen in der Natur, den Göuern und Ahnen bringt er keine Opfer mehr. Der Lehrer Wang Chong (I. Jh. n.Chr.) kritisierte das alte mythische Weltbild, weil es den Menschen unnötige Angst bereitet. Unsere menschliche Geschichte hängt nicht von kosmischen Ereignissen ab, sie wird allein von Menschen gestaltet. Den Lauf des Kosmos können menschliche Riten und Gebete nicht beeinflussen. Der Schnee und der Regen kommen unabhängig von menschlichem Verhalten. Blitz und Donner sind keine göulichen Strafen für Fehlverhalten der Menschen. Oie Welt und die Menschen sind durch Zufall entstanden, im Weltgeschehen ist kein Ziel zuerkennen. Allein wir Menschen setzen uns Ziele und planen Unternehmungen. Oie Natur aber ist passiv, sie gestaltet nicht unsereGeschichte. Deswegen müssen wirunserealten Lehrtraditionen kritisch überprüfen. ob sie in neuen Zeiten .. H. Schleichert. Klassische. 178-192. 01 H. Schleichcrt. Klassische. 184-194.
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noch nützlich sind. Die alten Mythen helfen uns wenig, sie entstammen unseren Träumen. Die magischen Riten und Opfer der Priester haben keinerlei Wirkung auf die Natur. DieToten erkennen nichts mehr und kontrollieren nicht ihre Nachfahren. Die alten Opfer der Priester sollten jetzt durch die moralischen Tugenden ersetzt werden. denn sie allein nützen dem Leben in der Gemeinschaft. Freilich wird jedes Menschenleben von einem Schicksal bestimmt. das wir nur gering verändern können. Der wirtschaftliche Erfolgt hänge auch nicht von unserem tugendhaftem Leben ab. In unserem Leben spielen Angeborenes. Gelerntes und persönliche Entscheidungen eine Rolle. oll
Buddhistische Morallehren Mit dem Eintreffen buddhistischer Mönche ab dem 2. Jh. n.Chr. kamen neue metaphysische Ideen und moralische Lehren nach China. Die buddhistischen Schriften wurden aus dem Indischen übersetzt, häufig wurden sie mit daoistischen Lebensdeutungen verbunden. Die vier Grundlehren befassen sich mit dem Leiden der Menschen. mit der Entstehung des Leidens, mit seiner Aufllebung und mit dem achlteiligen Pfad des guten Lebens, um zur "Erlösung" vom Leiden zu gelangen. Von der Geburt bis zum Tod ist das Leben leidvoll, der Schmerz entsteht immer aus dem Durst nach der Lust des Werdens. Nun kann das Leiden überwunden werden, wenn es gelingt. diesen Werdedurst schrittweise zu verringern. Der achtteilige Weg des rechten Lebens führe zur Aufllebung des Leidens. Er besteht im rechten Glauben an die Lehren des Buddha, im rechten Denken und Reden. das aus diesem Glauben folgt. Daraus ergibt sich das rechte Handeln den Mitmenschen gegenüber. das rechte Gedenken an die Lehrer. das rechte Streben nach der Erlösung vom Leiden und die richtige Lebensform. Gekrönt werden diese GrundeinsteIlungen durch die regelmäßige Meditation. Wer ein Leben lang um diese Lebensform ringt. ist auf dem Weg zur Leidensüberwindung. 49 Die Buddhisten haben von den indischen Yogalehrern fünf zentrale Gebote bzw. Verbote übernommen. Zunächst wird jedem Glaubenden verboten, Leben zu töten; das eigene Leben, das Leben der Mitmenschen, im strengen Fall auch der Tiere. Fremdes Eigentum darf nicht gestohlen oder geraubt werden, persönlicher Besitz an Gütern muss anerkannt werden. Lüge und Täuschung sind untersagt, sie stören das Zusammenleben. Ungesetzliche sexuelle Beziehungen sind verboten, berauschende Getränke müssen gemieden werden. Empfohlen wird den Gläubigen das Mitgefühl und Mitleiden mit allen Lebe· wesen, Barmherzigkeit zu den Schuldnern, der Verzicht auf Besitz, die Geduld im Streben nach Erlösung, die Stärkung der inneren Lebenskraft, die regelmäßige Meditation, das Streben nach Weisheit und Geschicklichkeit, die Erkenntnis des rechten Weges. Der Arhat bzw. der Bodhisattva streben danach. alle Lebewesen os W. Bauer. Geschichte. 131-138. H. Schleichen. Klassische, 206--225. ,9 M. Huttcr. Das ewige Rad. Religion und Kuhur des Buddhismus. Graz 2002, 21-44.
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vom Leiden zu erlösen. Im Grund kannjedcr Mensch diesen Erlösungsweg gehen. die sozialen Unterschiede und die Ungleichwcrtigkeit der Geschlechter werden generell aufgehoben. X1
Mit dem Buddhismus kam die indische Lehre von der mehrfachen Wieder· geburt der menschlichen Seele nach China. Die Kraft des Karma bestimmt das Schicksal einer Seele. es wird durch das Denken. das Sprechen und Handeln eines Menschen gefonnt. Von den indischen Upanishaden übernommen wurde die
Lehre. dass sich das menschliche Selbst (alman) mit der göttlichen Schöpferkraft (Brahman) verbinden kann. Jede Seele wird durch viele materielle und mentale Elemente (guna) aufgebaut. Sie zerfallt mit dem Tod des Körpers. baut sich aber bei einer Wiedergeburt von neuem nach den Vorgaben der Kannakräfte wieder auf. Denn sie trägt alle positiven und negativen Einprägungen mit sich. Nach buddhistischer Lehre ist die Seele bzw. das Selbst des Menschen nichts Dauerhaftes. sondern nur eine vorübergehende Zusammensetzung von Elementen. von Erlebnissen und Eindrücken. Die Lehre von der Nicht-Seele bzw. vom Nicht-Selbsl (analman) gehört zum Kern des buddhistischen Denkens. Aber genauso flüchtig und veränderlich wie die Seele sind alle Dinge und Erscheinungen der Außenwelt. Wer die Leerheit der Dinge erkennt. kommt der Erlösung sehr nahe. Inder Ethik verbindet sich der Buddhismus mit den Lehren der Daoislen. beide leiten die Menschen dazu an. der Natur nahe zu bleiben und das Leben geschehen zu lassen. Die Gläubigen sollen die wandelbaren Dinge der Außenwelt nicht festhalten. Die frühen buddhistischen Schulen in China lehrten das ursprüngliche Nichtsein (ben wu) und die Leerheit der Dinge. dje Kraft des Denkens und der Vorstellungen. sowie die innereGelassenheit. Die Welt der Erscheinungen winlerst durch die Vorstellungen der Menschen geprägt (Weishi-ScJlIIle). Die Gläubigen sollen zwischen den Gegensätzen immer den Weg der Mitte wählen (Saulun·Schule). Andere lehren die Identität zwischen der absoluten Welt des Buddha und der Welt der Erscheinungen (nlllai-Schule). Leben und Tod sind ohne Selbst. doch der Buddha in seiner erlösten Gestalt ist das wahre Selbst. In der Schule vom "Reinen Land" (Jillgw) leben die Menschen in der Hoffnung auf die Wiedergeburt im Paradies des Ainutabha, wo sie unendliches Licht erwartet. SI Die Schule des Meditationsbuddhismus (ChaII) will vor allem durch mentale Versenkung und durch Körperbeherrschung die Erlösung vom leidvollen Dasein erreichen. Das Ziel ist die Aufuebung aller Gedanken und Gefühle. und damit die innere Leerheit. Die buddhistischen Schulen der Lebensweisheit erlebten ihre Blüte zwischen dem 4. und dem 7. Jh. n.Chr., danach wurden sie von konfuzianischen Lehrern hart bekämpft. Es wurde ihnen vorgeworfen. mit ihren metaphysischen Spekulationen nichts zur praktischen Lebensgestaltung beizutragen und die wirtschaftliche Tätigkeit der Menschen zu behindern. Diese Kritik zwang die buddhistischen Lehrer zu nachhaltigen Lernprozessen. ,.. K. Meisig. Klang der Stille. Der Buddhismus. Freiburg 199.5. 87-94. ,. W. Bauer. Geschichte. 210-221. M. Huller. Das ewige:. 7 8.5.
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Morallehren des Neokonfuzianismus Im 10. und 11. Jh. n.Chr. wurde die konfuzianische Lehre erneut belebt und ergänzt. Der Lehrer CJIOU Tlln lehrte die Identität von Nichtsein und höchstem Sein. Der weise Mensch strebe nach dem Weg des Himmels. bei seinen Handlungen folge er der rechten Mine. außerdem strebe er ein Leben lang nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Mit dieser Einstellung hat er die Macht über Glück und Unglück seines Lebens. böse Dämonen muss er nicht mehr ftirchten.lndem er seinen Mitmenschen hilft und ihnen Gutes tut, trägt er zum Fonschriu der Kultur bei. Weil alle Menschen von ihrer Natur her zum Guten streben. sind sie zum moralischen Lernen fahig. Die Ziehvene des richtigen Handeins vermineln ihnen die Lehrer der WeisheitY So streben die Weisen nach dem ewigen Ordnungsprinzip (Ii) im Kosmos und in der Menschenwelt. Sie sind überzeugt. dass die Liebe zu den Mitmenschen und zu allen Lebewesen lernbar ist. Wer sie einmal gelernt hat. folgt dem Recht und der Sille. seine Taten sind zuverlässig und seine Worte wahr. Einem liebenden Menschen kann man mit Vertrauen und Achtung begegnen. Wer in der rechten Mitte innehalten kann. hat das Ordnungsprinzip des Kosmos verstanden. Und wer durch die Meditation seine inneren Einstellungen verändert. vermag die Weh richtig zu gestalten und den Frieden zu bewahren. Wer der Stimme seines Herzens (xin) folgt, erkennt das angeborene Wissen um das Gute und Nützliche. Die menschliche Natur zeige uns. dass es gut ist, die Eltern zu ehren und die Übehäter zu bestrafen. Der Lehrer Li Zhi (16. Jh.) war überzeugt. dass alle Menschen von der Natur her gleichwertig sind. Folglich müssen alle sozialen Ränge überwunden werden. Als die Mandschu-Herrscher im Jahr 1644 an die Macht kamen. entwickelten viele neokonfuzianische Lehrer nationalistische Denkmodelle. Die Gebote der allgemeinen Menschenliebe sollen sich nur mehr auf die Chinesen. nicht auf die Mandschus beziehen. Hier liegen die Wurzeln des chinesischen Nationalismus. der im 19. Jh. stark anwuchs. 53
Öffnung zur westlichen Kultur Seit der Mille des 19. Jh. wurden in China vereinzelt westliche Moralkonzepte angenommen und modifiziert. Als die Lehren von Charles Darwin bekannt wurden. wurde in der Ethik vor allem auf die natürlichen Anlagen und Strebungen der Menschen Bezug genommen. Gut ist ein Verhalten dann, wenn es dem Überleben des Einzelnen und der Gruppe nützt. Positivistische Ideen trugen dazu bei, die überlieferten Moralwerte und Gesetze als letzte Gegebenheiten zu sehen. Ideen der europäjschen Lebensphilosophie regten das Nachdenken über die Entfaltung der menschlichen Lebenskraft an. Breiter rezipiert wurden die Morallehren der amerikanischen Pragmatisten (W. James. Y. Royce. eh. S. Peirce.J. Dewey). denn sie zeigten. dass alle unsere moraG. Oebon/W. Speiser. Chinesische:. 178-t8O. W. Bauer. Geschichte. 238-241. 53 R. MallIH. Hülsmann. Die drei Geburtsone der Philosophie. Bonn 1999.67-81 51
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lischen Werte durch bestimmte Lebenswelten und Lebensformen geprägt werden. Folglich sind unsere Wertordnungen veränderbar. sie müssen ständig den neuen sozialen Gegebenheiten angepasst werden. Die Philosophie und alle Formen der Wissenschaft müssen dem praktischen Leben dienen. lebensfremde Spekulationen haben keinerlei Wert. Die Lehrer Hu Shih (gest. 1962) und FUlIg Yulan (gest 1970) versuchten. die konfuzianischen Morallehren mit dem pragmatischen Denken zu verbinden. Im Jahr 1934 wurde die erste Geschichte der chinesischen Philosophie und Ethik geschrieben..so& Idealistische Denker (z.B. Hsiung Shih Li. gest. 1%8) verbanden idealistische Lebenswerte derwestlichen Kultur mit buddhistischen und daoistischen Morallehren. Im Prozess des Werdens. der Veränderung und der Transformation müsse es bleibende Grundwene geben, die wir nur in der Weil der Ideen erkennen können. So leitet die Idee des Guten unser ganzes Leben und Denken. Immer müssen sich die maleriellen Kräfte den geistigen Welten unterordnen. Die Kommunistische Partei. die 1921 gegründet wurde. wurde deswegen kritisiert, weil sie die ideellen Lebcnswene vernachlässigt und die Moral nur als ein Produkt der gesellschaftli· ehen Entwicklung ansicht. Für eine Öffnung gegenüber der westlichen Kultur argumentiene Ku HU"K Mi"K (gest. 1932). der in konfuzianischer Tradition dachte. Er kritisiene die lebensform der Europäer und Amerikaner. denn sie sei zu stark von der Quantität. von der Rationalität und von Oberflächlichkeit geprägt. Hingegen drücke die chinesische Kultur tiefe Geftihle, Lebensqualität und die Stimme des Herzens aus. Sie werde von der Einfachheit im Leben. der Nähe zur mur und der Sanftheit im Umgang mit anderen geprägt. Da es den Chinesen an Härte. Wildheit und Tatkraft fehle. seinen sie den Europäern unterlegen. Dennoch soillen sie nicht die Einseitigkeiten der Europäer imitieren, der Weg der ..richtigen Mitte" behalte seine Gültigkeit. Nur im Gleichgewicht zwischen der Vemunftentfallung und der Kultur der GefUhle sei die Zukunft zu bewältigen. Auch wenn die Menschen die technische Vernunft entfalten. sollten sie das Herz eines Kindes bewahren. ss Der Philosoph und erste Präsident der Republik China Yat Sen engagierte sich für die alten Moralwerte seines Landes. sie behalten auch in der Republik ihre Gültigkeit. Wenn die Menschen bisher dem Kaiser die Treue hielten, so gilt ihre Treue jetzt dem chinesischen Volk. Es gelten weiterhin die Zielwerte der Elternliebe. der Menschlichkeit und derGeschwisterlichkeit. Ohne Aufrichtigkeit im Reden, ohne Befolgung der Gesetze und ohne Friedensliebe kann kein Staat bestehen. Das Gift der Unmoral bedrohe die menschliche Gemeinschaft. vom Lehrer Mo Di sollte die allgemeine Menschenliebe gelernt werden. China kann viele soziale Einrichtungen (Schulen. Krankenhäuser) von den Europäern übernehmen. doch es muss seinen alten Morallehren treu bleiben.S«o
5""
.,.. R. MalVI·1. Hülsmann. Die drri. 147-160.
"G. Debon/W. Speiscr. Chinesische. 291-299. ,. G. DebonIW. Spciscr. Chinesische, 300-303.
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Die Kommunistische Partei strebte die gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Situation an. Die Herrschaft der Besitzbürger und der Aristokraten sollte gebrochen werden. nun muss die Klasse der Arbeitenden die Gesellschaft gestalten. Die Güter des Landes gehören dem ganzen Volk. durch einen revolutionären Prozess sollte eine klassen lose Gesellschaft entstehen. Der Vordenker Mao Zedo"g (Mao Zi Dong) (gest. 1976) kämpfte zwanzig Jahre lang mit seinen Anhängern gegen die Herrschaft der Großgrundbesitzer und des Kapitals. Im Jahr 1949 wurde China eine kommunistische Volksrepublik. Nun solhe auch eine neue moralische Ordnung aufgebaut werden. Die kommunistischen Ideologen griffen die Morallehren der Legalisten auf: Da die Menschen von ihrer Natur her böse sind und zu bösen Taten neigen. müssen sie durch strenge Gesetze regiert werden. Die Kommunistische Partei hat die oberste Kontrolle über das Verhallen der Menschen. das nun gleich geschaltet wird. Die Lebenswerte der Daoisten und der Buddhisten gelten als nutzlos und gefährlich. sie werden bekämpft. Die konfuzianischen Lebenswerte müssen der neuen politischen Situation angepasst werden. Alle sollen in Treue zum Volk leben und sich den Anweisungen der Kommunistischen Partei unten.ycrfen. In der sog. ..Kulturrevolution" (1966-1976) sollten nicht nur die allen Kull.urformen zerstört. sondern auch die allen bürgerlichen Wertordnungen ausgcrottet werden. Nach dem Tod Maos begann in China wieder eine vorsichtige Öffnung gegenüber der westlichen Kultur. Die Wirtschaft wird in kleinen Schritten liberalisiert. es können sich kapitalistische Wirtschaftsfonnen bilden. Durch die Kooperation mit westlichen Firmen gewinnt die freie Marktwirtschaft an Boden, die europäischen Menschenrechte werden ansatzweise in den politischen Diskurs eingebracht. Doch viele Denker beharren auf der chinesischen Tradition der Menschenrechte und der Menschenpflichten, diese seicn der westlichen Tradition keineswegs unterlegen. Sie kritisieren die europäisch-amerikanische Lebensfonn. welche nur die Freiheiten des Einzelnen betone. seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft aber fast vergesse. Die Kommunistische Partei behält die politische Lenkung und Kontrolle über alle Lebensbereiche. Sie lässt aber im Bereich der Moral und der Religion größere Spielräume zu, solange ihre Dominanz nicht in Frage gestellt wird. Durch die Globalisierung in der Wirtschaft und den Austausch im modemen Sport kommen vennehrt westliche Lebenswerte und Lebensformen in die chinesische Kultur. Es zeigt sich. dass die freie Marktwirtschaft einige demokratische Elemente in der Entscheidungsstruktur benötigt, um optimal zu funktionieren. Damit besteht die realistische Hoffnung. dass demokratische Lebenswerte S7 vennehrt auch in die Gesellschaft Eingang finden werden. Doch wie schnell dieser Prozess voran kommen wird. lässt sich heute nicht abschätzen.
)7
F. C. Reiter. Religionen in China. Frciburg 2002. 7-\3.
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Kultur
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Die iiltestc Kultur Japans. von der wir Kenntnis haben. ist die Jomon-Kultur. welche zwischen 10.000 und 300 v.Chr. archäologisch nachzuweisen ist. Die Menschen lebten in kleinen Gruppen, als Sammler, Jäger und Fischer. Ihre Nahrungsquellen waren Knollen und Nüsse, Rothirsch und Wildschwein, Lachse und Krustentiere. Sie verehrten die Ahnen und die Schutzgölter der Tiere, in der Natur sahen sie unsichtbare Kräfte und Geistwesen am Werk. lhre Nahrung bewahrten sie in Erdgruben auf. in Gruben hatten sie auch ihre frühen Wohnplätze. Seit 5000 v.Chr. sind bereits Bohnen und Flaschenkürbisse bekannt, ebenso Hirse und Buchweizen. Spuren von Brandrodungen weisen daraufhin. dass es zu dieser Zeit bereits marginal den Ackerbau gab. Die frühesten Spuren des Reisanbaus in feuchten Feldern finden wir seit 1000 v.ehr. Doch eine volle Ackerbaukultur entwickelte erst die Yayoi-Periode zwischen 300 v.ehr. und 300 n.Chr. Da wurden die Felder künstlich bewässert und eingezäunt. gleichzeitig wurden domestizierte Tiere gehalten. Es entstanden kleine Dorfsiedlungen. Grubenhäuser wurden mit Schilf bedeckt. Die Vorräte wurden bereits in Keramikgefaßen aufbewahrt. auch waren schon Waffen und Werkzeuge aus Bronze im Gebrauch. Die Menschengruppen wurden größer. es begann die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und den Subgruppen. Die frühen Schutzgötter dieser Reisbauern waren weiblich und die Ahnen galten als die Garanten der sozialen Ordnung. I
Mythologie und Ritual Die japanische Kultur wurde stark von China und Korea geprägt. von wo die einzelnen Stämme und Volksgruppen einwanderten. Sie entwickelten eine Kultur G. Bames. Korea und Japan. In: G. Burenhuh (Hg.). Die Menschen der $leinzeil. Augsburg 2000.140-146. I
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von Ackerbauem. die noch lange Zeit mit Sammlern und Jägern zusammen lebten. Der Fischfang blieb weiterhin eine wichtige Nahll.lngsquelle. Im 8. Jh. n.ehr. wurde die Bilderschrift von China übernommen und spätcrzurjapanischen Schrift weiter entwickelt. Die ältesten schriftlichen Quellen sind das Werk "Kojiki" (ein Berichl über die alle Zeit. im Jahr 712 vom Schreiber Oi no Yasumaru in japani+ scher Sprache verfasst) und das Buch ••Nihongi'" (Japanische Annalen. im Jahr 720 von Toneri Shinno in chinesischer Sprache verfasst); sodann das Opferbuch ,.NoriIo" aus dem frühen 10. Jh .. Aus diesen frühen Zeugnissen erkennen wir die Grundregeln der Moral und die Mythen der Weltdeutung. Bald entstanden frühe Dörfer und kleine Städte. Stadtkulturen wurden von Kriegern und Fürsten regiert. Die frühen Sippen schlossen sich zu Stämmen zusammen. um ihre Felder und Siedlungen zu verteidigen. Sie verehrten die Seelenkräfte der Ahnen (kami), von denen sie glaubten, dass sie ihr Leben schützten und begleiteten. Sie waren überzeugt. dass die Regeln des Zusammenlebens von den Ahnen gegeben wurden und dass diese die Befolgung dieser Regeln überwachten. Den tugendhaften Menschen schenkten die kam i das Glück und den Reichtum. den Übeltätern aber brachten sie Unglück und den frühen Tod. An den Kultplätzen wurden die Ahnen regelmäßig verehrt und angerufen. es gab Prozessionen mit Gebeten. Gesängen und Opferriten. Da die Seelen der Ahnen wie Vögel vorgestellt wurden. bauten ihnen die Men· schen zwei senkrechte und zwei waagrechte Stangen und verbanden diese mit Stricken. Dort solhen sich die Ahnenseelen niederlassen. um bei den Riten der Nachfahren anwesend zu sein. In der Frühzeit leiteten Schamanen und Mantiker das Ritual, sie befragten die Ahnen nach ihrem Willen und nach den Ereignissen der Zukunft. Danach verkündeten sie den Mitmenschen die Regeln der Moral als Gebote der kami. Auch die Schutzgötter der Sippen. der Stämme. der Bauern. der Hirten. der Jäger wurden verehrt. auch sie gaben den Menschen die Regeln des rechten Verhaltens. Allein mit diesen Regeln konnten die Gruppen überleben. 2 Die Grundregeln des sozialen Verhaltens kennen wir aus den frühen Mythen. Da wird von der Sonnengöttin Amaterazu erzählt. wie sie mit ihren Dienerinnen die Reisfelder betreute und die Spinnstuben leitete. Als ihr göttlicher Bruder, der Meeresgott. mit seinen Kriegern die Reisfelder. die Bewässerungsgräben und die Spinnstuben verwüstete. da wurde dieser von der Versammlung der Götter schwer bestraft. Folglich ist es auch bei den Menschen verboten. in fremde Reisfelder einzubrechen. die Kanäle aufzureißen und in die Häusereinzudringen. Verboten ist außerdem die Lüge. denn sie beschmutzt die Seele des Menschen und vermindert seine Lebenskraft. Auch dürfen die Haustiere der fremden Sippen nicht entführt oder getötet werden. Geschützt ist vor allem das Leben der Mitmenschen.) Die Riten wurden fortan von Priestern und Priesterinnen geleitet, denn sie stellten die Verbindung zu den Ahnen und den Schutzgöuern her. Ihre Aufgabe war es. z Th. Irnmoos. Ein bunter Teppich. Die Religionen Japans. Graz 1990. 20-24. lTh. Immoos. Ein bunter. 24-28. W. Gnmden. Japanische Religionsgeschichte. Tübingen 1975. 56-67.
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um Regen und gute Ernten zu bitten, die Lebenskraft der Mitmenschen zu stärken und die Zukunft voraus zu sagen. Sie leiteten die Prozessionen zu den heiligen Orten, riefen durch Händeklatschen die kami herbei und brachten ihnen kleine Opfergaben. In den Sippen feierten sie die Riten nach der Geburt eines Kindes. die Initiation in das Erwachsenenalter. die Hochzeit und die Verabschiedung der Toten. Sie beteten um Schutz für die Sippen, die Haustiere und die Felder, von den Ahnen hörten sie Botschaften an die Nachfahren. Sie gaben die Mythen weiter und leiteten die Riten der Reinigung. Wenn ein Mensch oder eine Gruppe gegen die moralischen Gebote der Ahnen verstoßen hatten, dann fiel nach der Lehre der Priester Staub auf den ,.spiegel" der Seele. dieser konnte die Kraft der Sonne nicht mehr aufnehmen und schwächte die Lebenskraft. Deswegen mussten die Sünder verschiedene Riten der Reinigung ausführen. Bei der kleinen Reinigung (Harai) schwingt ein Priestereinen Stab mit Farbbändern über dem Kopf des Sünders und vcrtreibt dic bösen Wirkungen der Schuld. Das große Reinigungsritual (0 Harai) wird zweimal im Jahr gefeiert und vom Fürsten geleitet. Reinigungen von Schuld werden durch Waschungen, durch Meditation und durch Askese vollzogen. Die Priester lehren, dass jeder Verstoß gegen die moralischen Regeln des Zusammenlebens die Lebenskraft der Menschen schwächt und die Strafe der kami nach sich zieht. Jeder Mensch sei von seiner Natur her gut und strebe nach dem Erleben des Guten, er sei zu guten Handlungen für sich und andere fahig. Wenn einerdurch widrige Umstände oder durch ein schlechtes Beispiel etwas Böses tut. so kann er von seinem schuldhaften Verhalten umkehren und sich wieder dem Guten zuwenden. Jedes Ritual der Reinigung gibt einen Anstoß, die moralischen Gebote des Zusammenlebens zu befolgen. Jeder Mensch könne sich aus eigener Kraft zum Tun des Guten aufschwingen. kein Mensch müsse ein Leben lang ein Übeltäter bleiben. Denn der göttliche Geist wünscht das Glück für jeden Einzelnen. Nun ergeben sich die moralischen Werte aus der menschlichen Natur. die als gut gewertet wird. Wer seinen natürlichen Neigungen folgt, wird viele Kinder mit Liebe groß ziehen. er wird seinen Mitmenschen in der Sippe helfen, wenn sie in Not geraten; er wird die Lüge meiden und die Wahrheit sagen. Es widerspricht unseren natürlichen Bedürfnissen, das Leben der Mitmenschen zu bedrohen, zu stören oder zu zerstören. weil jeder Mensch unverletzt sein Leben bewahren möchte. Wer den Regeln der kam i folgt, kann ein langes und glückliches Leben erwarten. Jedermuss für seine Taten und Unterlassungen die Verantwortung übemehmen. 4 Zu den bösen Taten gehören neben der Lüge das Zerstören der Zäune der Reisfelder und der Bewässerungsgräben. das Aussäen von Unkraut in fremde Felder, das unerlaubte Öffnen der Schleusen, die Tötung der Haustiere des Nachbarn, die Verhexung von Mitmenschen durch magische Sprüche und Zeichen, Brutalität und Gewalt in den sexuellen Beziehungen, die Blutschande bzw. der Inzest in der Familie. Das Ideal des moralischen Verhaltens gibt die innere und äußere Reinheit • J. Herben. Shintoismus. London 1981. 34-44.
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an. Die erste wird durch gute Gedanken und die Vermeidung böser Absichten erreicht. die zweite folgt aus dem Meiden böser Taten. Diese zweifache Reinheit ist die Voraussetzung für ein gutes und glückliches Leben. Der moralisch Lebende verzichtet auf Lüge und Täuschung. auf Diebstahl und Raub. auf Mord und Totschlag. Er hält sich an die Regeln der Ehe. schwört keinen falschen Eid, häh seine Versprechungen und zerstört keine Einrichtungen des Ackerbaus. Er weiß um seine Verantwortung in der Sippe. um seine Verpflichtung, das Leben weiter zu geben und die Kinder zu schützen. Die Liebe zu den Kindern entspricht der menschlichen Natur. Wer den Weg der kam i geht. wird auch von den Schutzgöttern geachtet und darf ein glückliches Leben er.varten. Die letzte Motivation für moralisches Verhalten liegt im Glauben an die Ahnen und Schutzgötter. der Mythos legitimiert die Moral. Auch beim jährlichen Fest für die Ahnen (matsuri) wcrden die Regcln des friedvollcn Zusammenlebens in der Sippe eingeschärft. Durch eine Prozession werden die Ahnenseelen zum Kultplatz gebracht. dort werden ihncn Opfer gebracht. es werden ckstatische Tänze getanzt. Die Krieger üben sich im Schwertkampf. um die Sippen zu verteidigen. Priester bitten um die Fruchtbarkeit der Felder. der Haustiere und der Menschen. dann tragen sie die Regeln des moralischen Lebens vor. Zuletzt leiten sie die Regeln der Reinigung und geben Orakel für das nächste Jahr. Die bösen Tatcn dcr Menschen werden auf symbolische Weise einem Holzpflock oder einem Tier aufgebunden. Nach dem Kultmahl werden die Ahnenseelen in nächtlicher Prozession wieder zu ihren Wohnorten auf den Hügeln begleitet. 5 Sowohl die mythische Erzählung. als auch das Ritual haben die Funktion. die moralischen Gebote und Pflichten in Erinnerung zu rufen und zu verticfen. Jedes neue Fruchtjahr der Bauern beginnt mit einem Ritual der Reinigung, um die Kräf· te des Lebens zu stärken. Auch die regelmäßige Meditation und die zeitweilige Askese tragen dazu bei. dass Sünder ihre Übeltaten erkennen und sich von ihnen abwenden. Die Askese besteht im kurzzeitigen Verzicht aufEssen und Trinken. auf Schlaf und Sex.ualität. In der Meditation nehmen die Menschen mit den Kräften des Lebens, mit den Seelen der Ahnen und mit den Schutzgöttern Kontakt auf. um ihre eigene Lebenskraft zu stärken. Der Mythos vom Götterpaar Izanagi und Izanani weist auf eine matriarehale Eheordnung und Lebensfonn der flÜhen Ackerbauem hin. Der Gott Izanagi und die Göttin Izanani standen auf der HimmelsblÜcke und holten mit langen Stangen Schlamm aus dem Unneer. Aus diesem Schlamm fonnten sie die Inseln Japans und auf diesen die Reisfelderder Bauern. Von den Vögeln lernten sie die Paarung. dann richteten sie die Eheregeln und die Hochzeitsriten für die Menschen ein. Zuerst schritt die Göttin um einen Pfahl und rief: "Was bist du für ein schöner Mann!" Danach schritt der Gott um den Pfahl und rief: "Was bist du für eine schöne Fraul" ) E. Rochedieu. Der Shintoismus. Genf 1982. 91-103.
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Danach paarten sie sich,dieGöttin wurde schwanger und gebar viele Söhne und Töchter. Doch ihre Kinder erkrankten und hatten nur ein kurzes Leben. Deswegen änderte das göttliche Paar das Hochzeitsritual, nun schritt zuerst der Mann um den Pfahl und danach erst die Frau. Sie hatte sich ihm untergeordnet, doch jetzt gebar sie viele gesunde Kinder, die lange Zeit lebten. Was die Götter im Himmel taten. das taten nun auch die Menschen auf der Erde. Auch sie veränderten das Hochzeitsritual, die Frau ordnete sich dem Mann unter.i> Mit diesem Mythos sagen die Männer einer höheren Ackerbaukultur, dass sie die Dominanz und die Verteidigung der Siedlungen übernommen haben. Doch sie erzählen, dass es in der Frühzeit der niederen Ackerbauern anders war, dass die Frauen beim Reisanbau und beim Ritual führend waren. Ähnliches erzählten sie im Mythos von der Sonnengöttin Amaterazu, der Beschützerin der Reisfelder und der Spinnstuben. Als Spenderin des Lebens ist sie weiterhin die "Königin" des Himmels. In der späteren Mythologie wurde sie zur Urmutter des obersten Fürsten (tenno) im Land. Wir erkennen in der Mythologie deutliche SpufCn einer matrifokalen Lebensdeutung.
Das Ethos der Krieger Schon die höheren Ackerbauern entwickelten mit der Teilung der Arbeit eine deutliche soziale Schichtung. Die Dörfer und Städte, die Viehherden und Reisfelder mussten gegen nomadisierende Stämme verteidigt werden. Damit bildete sich schrittweise der Berufsstand der Krieger, welche Befestigungsanlagen bauten und ständig die Waffen trugen. Seit Beginn der Metallzeit wurden die Waffen von spezialisierten Handwerkern aus Kupfer, dann aus Bronze, zuletzt aus Eisen hergestellt. Doch der Einsatz der Waffen war den Kriegern überlassen, sie entwickelten die Kunst der Verteidigung. Durch den Besitz der Waffen wurden die Krieger zur dominanten Gruppe bzw. sozialen Schicht, sie beanspruchten den größten Teil des Besitzes an Feldern. Tieren, Häusern und Sklaven. Die Sippen schlossen sich zum Zweck der Verteidigung zu Stämmen und zu Kampfbündnissen zusammen. Die Anführer der Krieger übernahmen bald auch Funktionen der Organisation. der Leitung und der Herrschaft. Zum Anführer wurde der Stärkste der Krieger gewählt, seine Rolle war in der Frühzeit nicht stabil. Wer im Kampf gegen fremde Stämme Erfolg hatte, trug eine Zeitlang die Macht der Führung, Bei Misserfolg wurde er durch einen anderen Anführer ersetzt. Die Krieger waren auch dazu übergegangen, fremde Dörfer und Städte zu erobern und über sie ihre Herrschaft auszudehnen. Die siegreichen Anführer der Krieger wurden zu Fürsten, die für längere Zeit über Dörfer, Städte und Stadtstaaten herrschten. Um ihre Herrschaft zu sichern. brauchten sie die Unterstützung der Priester und den Bezug auf die Mythen. Die Priester lehrten dann. die Fürsten seien von den Schutzgöttern eingesetzt und ~
E. Rochedieu, Shintoismus. 100-121.
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hütten besondere Kräfte. So konnten sie von ihren Konkurrenten nicht so leicht
verdrängt werden. Zur Moral der Krieger gehörte die Unterordnung unter die Anführer. die unbedingte Treue und der Mut zum Kämpfen. Sie üblen sich in der Kampfkunsl der Verteidigung. aber auch des Angriffs. 7 In den Fürstentümern entwickelten die Krieger Schulen der Kampfkunst. wo auch die moralischen Pfl ichten. die Gesetze des Fürsten. die Geschichte der Kriege. die Riten der Ahnenverehrung und die Gesänge bei den Kultfesten gelehrt wurden. Mit dem Beginn der historischen Zeil lernten auch Krieger die Kunst des Maiens und des Schreibens. Sie verwendeten die Bildzeichen, um die Heldentaten der Fürsten darzustellen. Die Anführer der Krieger waren umfassend gebildet. sie übernahmen als Beamte auch Aufgaben der Verwaltung. sowie die Kontrolle des geforderten Verhaltens. Einige hauen die Funktion von Richtern. wenn Streit zu schlichten war. Die Krieger (Samurai) arbeiteten eng mit den Priestern zusammen. um ihre Herrschaft zu legitimieren. Sie entwickelten ein eigenes Moralsystem und einen EhrenkodeK (8I1sll;do). Konfuzianische Lehren waren aus China nach Japan gekommen und halten von dort die Lehren und Moralregeln der Krieger mitgebracht. Zu den Moralregeln der Krieger gehört die bedingungslose Unterwerfung unter den Anführer bzw. den Fürsten, die Abhärtung des Körpers und des Geistes gegenüber dem Schmerz. der Mut zum Kämpfen. die Überwindung der Todesangst, der blinde Gehorsam. 8 Gefordert wird die Tapferkeit im Kampf und der optimale Einsatz der Waffen. Der Krieger muss seinen Körper üben und abhärten. er muss bereit sein. für den Fürsten zu sterben. Die Priester lehrten. dass die Seelen der im Kampf gefallenen Krieger einen besonderen Platz in der Welt der Ahnen bekommen werden. Der Mythos hat auch hier die Funktion. die Todesangst zu verringern. Die besondere Ehre eines Kriegers darf von niemandem verletzt werden. sein Rang darf nicht in Frage gestellt werden. Wird seine Ehre verletzt. dann fordert der Krieger von seinem Gegner Genugtuung. Doch wenn die Ehre des Kriegers nicht wieder herLUsteJlen ist. dann wird von ihm das Selbstopfer (harakiri) gefordert. Er muSS sich in einem Ritual selbst töten, um sich für den Fürsten oder das Volk zu opfern. Er gilt fortan als besonderer Held. Denn durch die Ehrverletzung eines einzigen Kriegers wurde die Kampfkraft aller geschWächt. Zu den weiteren Pflichten des Samurai gehörte ein strenges und asketisches Leben, er musste viele Kinder zeugen und mit Liebe groß ziehen. Alle seine Aufgaben musste er mit Genauigkeit ausführen. Bestechlichkeit war ihm verboten. den Vorgesetzten gegenüber musste er ehrlich sein. Zu seinem Lebensstil gehörte die Härte zu sich selbst, aber auch zu den Sippenmitgliedem. Denn ein verweichlichter Krieger nützt dem Fürsten nicht. Die ..Männer des Schwertes"
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E. Rochcdicu. Shintoismus. 179-189. Th. Immoos. Ein bunlcr. 47-59.
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(Samurai) haben dem Fürsten unbedingte Treue geschworen, deswegen erhielten sie von ihm viele Privilegien und Reichtümer. 9 Ein Krieger musste die Kunst des Schreibens und Lesens lernen, er musste die Gesetze. die Riten und die Geschichte seines Fürstentums studieren. Die Ahnen musste er bis in die fünfte Generation verehren, zu anderen Kriegern und den Priestern musste er freundlich und höflich sein. Mit seinen Untertanen muss er gerecht verfahren, denn er muss erkennen, in welcher Situation Härte angebracht ist und wann er Güte wallen lassen muss. Wenn er richterliche Funktionen hat, darf er nicht bestechlich sein. Wenn er grob gegen seine Pflichten verstößt, wird er mit dem Tod bestraft. Im Kampf muss er bereit sein, für den Fürsten und das Volk zu sterben. Er trägt dazu bei. die Ordnung im Staat bzw. im Fürstentum aufrecht zu hallen. Die sozialen Ränge dürfen nicht angetastet werden. denn sie wurden von den Göllern und den Ahnen eingerichtet. Jeder Mensch muss nützliche Arbeit für das Volk leisten. Übeltäter werden hart bestraft. Die Krieger nennen ihreGemeinschaft den ..Bund der Treuen".
Die konfuzianische Ethik Seit dem 5. Jh. n.Chr. kamen konfuzianische Lehrer von China über Korea auf dem Seeweg nach Japan. Sie wandten sich an die frühen Fürsten, an die Krieger und Beamten und boten ihre Lehre vom gerechten Leben im Staat an. In der schriftlosen Zeit wurden diese Lehren mündlich weiter gegeben, erst später wurden sie aufgeschrieben. So verband sich die Morallehre derchinesischen Oberschicht mit den Lebenswerten der japanischen Krieger. Es entstanden Kriegerschulen, um die Kampftechnik zu verbessern. Der chinesische Lehrer KOrlgju Zi (6. und 5. Jh. v.Chr.) hatte die alten Lehren der verschiedenen Fürstentümer zusammen getragen und in seiner Schule weiter gegeben. Er glaubte, dass die Lehren der Vorfahren am besten geeignet seien, das Zusammenleben der Menschen im größer werdenden Staat zu regeln. Der "Himmel'; (tien) selbst habe die sozialen Ränge und die Moralordnung eingerichtet, beides darf deswegen nicht verändert werden. Auf der obersten Stufe der sozialen Leiter stehen die Krieger, die Priester, die Beamten. die Lehrer und die Schreiber. Unter ihnen stehen die Bauern, die Hirten, die Handwerker. die Händler. die freien Arbeiter. Ganz unten stehen die unfreien Arbeiter und die Sklaven. Die Frauen sind den Männern untergeordnet, dies gilt als ein Gesetz der Natur. Ihre Aufgabe liegt im häuslichen Bereich, bei der Aufzucht der Kinder, der Zubereitung der Nahrung und beim Ackerbau. Auch im Himmel sind die männlichen Götter den weiblichen übergeordnet. Bei der Ahnenverehrung werden die weiblichen Ahnen um Kinderreichtum. um Heilung von Krankheit und um ein langes Leben angerufen. Die männlichen Ahnen soUen den Menschen ~
E. Rochedieu, Shintoismus. 184-196.
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die Sicherheit in der Sippe, den Erfolg im Krieg, reiche Ernten und wirtschaftlichen Wohlstand sichern. Eine patriarchaJe Lebensordnung prägt die oberen sozialen Schichten. Zu den Grundwerten der konfuzianischen Ethik gehören die Sittlichkeit (li), d.h. die Befolgung der herkömmlichen Lebensnormen, und die Menschlichkeit (ren) gegenüber den Mitgliedern der eigenen Sippe. Wir haben es mit einer deutlich abgestuften Form der Mitmenschlichkeit zu lUn. Angestrebt werden in der Sippe gegenseitiges Wohlwollen. Güte als GrundeinsteIlung. Großzügigkeit bei der Verteilung der Güter. Rechtschaffenheit (yi) meint das Tun der vorgeschriebenen pnichten und die Einhahung der Gesctze,lO Mit der Frömmigkeit (xiao) ist die Unterordnung des Kindes unter die Eltern gemeint, aber auch die Ehrfurcht vor den Ahnen, die Ausführung der Riten, die Versorgung der Eltern mit Nahrung. Gegenüber dem Fürsten und seinen Beamten werden Unterordnung (zhong) und Treue gefordert. Mit diesen moralischen Regeln wird das Zusammenleben in den Sippen und im Staat geordnet. Die Gesetze des Fürsten verbieten das Töten fremden Lebens d. h. die private Blutrache. den Diebstahl oder Raub fremden Eigentums, den Einbruch in fremde Ehen und die gegenseitige Täuschung. 11 Über allem moralischem Verhallen steht als umfassende Klammer die sog. "Goldene Regel" des Zusammenlebens. Sie besagt, dass wir den Mitmenschen nichts tun dürfen, was wir selber nicht erleben wollen. Positiv gewendet heißt dies, dass wir den Mitmenschen jene Bedürfnisse erfüllen sollen, die wir selber befrie· digt haben möchten. Dieses Prinzip der sozialen Reziprozität ist die Basis für ein friedvolles Zusammenleben. Als soziale Wesen sind wir auf andere angewiesen, unser Lebensglück hängt von unseren Formen der Kommunikation ab. Die Beamten und Krieger müssen lernen, das ungebildete Volk der Bauern, Hirten, Fischer, Händler, Handwerker und Unfreien zu führen und lenken. Dabei müssen sie Strenge zeigen, doch ausnutzen dürfen sie das Volk nicht. Vielmehr müssen sie den Untergebenen ein moralisches Vorbild sein. indem sie Milde und Fürsorge zeigen. Das ungebildete Volk muss die Anweisungen der Beamten strikt befolgen. Wenn der Fürst sanft und mild ist, dann wird das Volk seine Tugend nachahmen. Doch zu eigenen Entscheidungen sind die Untertanen nicht fahig. Wenn im Staat alle die Moralregeln befolgen, haben alle einen Nutzen. Auch die Herrschenden müssen die Gesetze und die Regeln der Moral befolgen, dann ist ihre Funktion nicht gefahrdet. Freilich müssen sie auch Strafen einsetzen, um das Volk zur Einhahung der Gesetze zu zwingen. Der adelige Mensch strebt nach der Tugend, studiert die alten Lehren, redet wenig und handelt mit Überlegung. So festigt cr seinen Charakter, Besitz und Wohlstand sind nicht sein erstes Ziel. Vor seinen Ellern bezeigt er Ehrfurcht. er verehrt die Ahnen und hofft selbst Y. Fung. A hislory of Chinese Philosophy I. Princclon 1989.64-76. 11 H. Schleichcrt. Klassische Philosophie Chinas. Frankfun 1983. 84-97. W. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie. München 2002. 54-60. 10
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auf langen Nachruhm nach seinem Tod. Ein Leben lang strängt er sich an, seine Pflichten zu erfüllen. 12 Der Lehrer Meng Zi war noch stärker davon überzeugt. dass alle Menschen von ihrer Natur her gut sind und zum Guten streben, dass sie auch fahig sind. das Gute zu tun. Wenn jemand durch widrige Umstände oder durch schlechte Vorbilder ZUIll Übeltäter wird. dann muss er bestraft werden. Doch die Strafe soll ihn dazu zwingen. das Gesetz einzuhalten und das Gute zu tun. Im Staat muss streng regiert werden, weil sonst die Gruppen gegen einanderkämpfen. Der Fürstdarfkeine Lust am Strafen oder Töten haben, vielmehr soll er wie ein ..Menschenhirt" leben. Die Tugend wird dadurch gefördert, dass alle das Mitgefühl mit anderen Menschen. aber auch mit den Tieren lernen. Mitgefühl ist die Grundlage des richtigen Verhaltens. Wer Unrecht tut, muss lernen, sich dafür zu schämen. Jeder Mensch muss sein Schicksal selber übernehmen, er darf es nicht dem Himmel überlassen. Niemals soll der Fürst Angriffskriege gegen andere Fürsten planen, er muss sein Land optimal verteidigen. Ein unmoralischer Fürst verliert seine Herrschaft. er wird von den Kriegern gestürzt. Diese Lehre trägt die Hoffnung. dass die Kriege zwischen den Fürstentümern abnehmen und der Friede möglich wirdY Der Lehrer Mo Di ging davon aus. dass alle Menschen nach dem größten Nutzen für ihr Leben streben. Diesen optimalen Nutzen erreichen sie, wenn sie die allgemeine Menschenliebe verwirklichen. Denn wenn sie einander in Notfallen helfen. dann dürfen sie erwarten. dass auch ihnen in Notlagen geholfen wird. Folglich gill die Nächstenhilfe auch den Menschen fremder Sippen. nicht nurindereigenen. Dies ist ein entscheidender Lernschritt in der Kultur. Der Krieg bringt auf Dauer keinen Nutzen, deswegen muss er vermieden werden. In der Frühzeit lebten die Menschen einfacher und nahe bei der Natur. es gab aber viele Kämpfe. Dann haben sich die Sti.irkeren durchgesetzt und den Schwächeren ihre Gesetze aufgezwungen. Es wurden Lohn und Strafe eingeführt. damit alle die Gesetze befolgen sollten. Im Staat haben alle dann den größten Nutzen. wenn die Tüchtigsten zu Beamten und die Tapfersten zu Kriegern werden. Doch die sozialen Grenzen müssen gesprengt werden, es müssen auch Menschen der mittleren und der unteren sozialen Schichten zu Beamten und Kriegern aufsteigen können. Der Herrscher muss das Volk von seinen Gesetzen überzeugen. dann muss er wenig Gewalt anwenden. Die allgemeine Menschenliebe über die Grenzen der Sippen hinaus wird möglich, wenn alle darin ihren größten Vorteil erkennen. Die alten Sitten müssen kritisch geprüft werden. ob sieden neuen Anforderungen genügen. Denn moralische Werte sind veränderlich und auf bestimmte Lebenssituationen bewgen. Das naturnahe Leben führt am nächsten zum Glück heran. I. Auch die Lehren der Legalisren wurden in Japan bekannt. Für sie sind alle Menschen von der Natur her böse und sie neigen zu bösen Talen. Sie belügen Y. Fung. A hislory. 104--110. Il W. Bauer. Geschichle. 97-102. .. W. Bauer. Geschichte. 65-76. 11
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einander. rauben und stehlen, bedrohen und töten fremdes Leben. Weil das so ist, muss ein Staat strenge Gesetze erlassen und harte Strafen ansetzen. Das Verhalten der Menschen muss kontrolliert werden. nur so können sie von den Übeltaten abgehalten werden. Die Strafen. Z. B. Todesstrafe oder Abhacken der Hände. werden öffentlich vollzogen. um das Volk vom Bösen abzuschrecken. Die Menschen
müssen vor ihren Herrschern und den Beamten zinern. Jeder Übeltäter muss bei einem Gericht angezeigt werden. Doch die Gesetze müssen von weisen Männem erlassen werden. das Volk sei ungebildet und roh in den Sitten. Die Landwirtschaft und die Krieger bilden die beiden Säulen des Staates, sie müssen von allen getragen werden. Angriffskriege gegen fremde Fürsten sind erlaubt und sinnvoll. wenn daraus ein Nutzen für den Staat zu erwarten ist. Der Fürst muss sein Volk nicht lieben. er kann es auch hassen. Auch das Volk liebt seinen Fürsten nicht. es zittert vor seinen Strafen. Nur mit Strenge kann ein großer Staat regiert werden. 13
Daoistische Morallehren Diedaoistischen Lehren kamen schon früh von China nach Japan und vennischlen sich dort mit dem Shinto. dem ,.Weg der Götler'. der Lebensform der mittleren und der unteren sozialen Schichten. Diese Lehre vom rechten Weg (Dao) nimmt Elemente der alten Schamanenkultur auf und entwickelt sie weiter. Das gute Leben besteht darin. der Natur nahe zu sein und das Leben geschehen zu lassen (wu weil. Deswegen will der weise Mensch nichts erLwingen, sondern gibt sich dem Prozess der Natur hin. der sich im Werden und im Vergehen zeigt. Denn alles ist in Veränderung. aus dem Alten wird ständig Neues. Die Welt kommt aus einem ewigen .. Urgrund" (Dao), der weiblich gedacht wird. Er umschließt alle späteren Gegenkräfte, denn aus ihm werden das Dunkle und das Lichte, das Gute und das Böse. das Harte und das Weiche. das Männliche und das Weibliche. Doch diese Kräfte kämpfen nicht gegen einander, sondern sie greifen in einander und ergänzen sich. Weil das in der Natur so ist, sollen auch die Menschen nicht gegen einander kämpfen, sondern sich ergänzen. Deswegen ist der Krieg ein Übel für die Menschen, er soll vermieden werden. Eine Siegesfeier ist wie eine Totenfeier. immer sind Getötete zu beklagen. Der weise Mensch lebt vom ewigen Urgrund her, seinen Mitmenschen tut er vicl Gutes. Deswegen empfangt er von ihnen Hilfe und Hochachtung. Was er geschaffen hat, das hält er nicht fest. sondern gibt es an andcre weiter. Durch seine solidarische Lebensfonn überzeugt er viele. deswegen benötigt er keine großen Worte. Er weiß. dass die schönen Worte selten wahr sind. dass aber die wahren Worte selten schön sind. Mit seiner Lebenskraft geht er sparsam um, denn er will ein langes Leben errcichen. 16
"w. Bauer. Geschichte.
109-116. I. Shaoping Gan. Die chinesische Philosophie. Dannstadt 1997.68-80.
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Der weise Mensch lebt aus der Urkraft des Dao. deswegen sieht er die kleinen Dinge im Leben. er hält sich an das Niedrige. Wie das Wasser sucht er die unte~ ren Ränge im Staat. dort ist er näher beim ewigen Urgrund. In der patriarchalen Gesellschaft sind die Frauen unten und haben dienende Funktionen. Doch auf die Dauer werden sie stärker als die Männer sein. Denn so wie das Wasser in langer Zeit den Fels aushöhlt, so wird das Weiche das Harte fonnen. Wenn die Kinder geboren werden, sind sie weich und biegsam. doch wenn alle Menschen sterben, sind sie hart und steif. So ist das Weiche und Weibliche näher beim Leben. das HaI1e und Männliche aber näher beim Tod. Zur daoistischen Moral gehört die Verantwortung der Stärkeren für die Schwa~ ehen und Kleinen. Auch hässliche und verkrüppelte Menschen haben ihren Wert. es gibt keine unbrauchbaren Mitmenschen. Der Tod ist nicht zu fürchten. denn beim Sterben geschieht eine Verwandlung. Die Seelenkraft vereinigt sich mit dem ewigen Urgrund und findet dort Ruhe. Mit dieser Überzeugung können die Menschen gelassen leben. Reichtum und Ansehen sind ihnen unwichtig. Da sie in jedem Unglück auch ein Stück des Glücks erkennen. können sie mit Ruhe jedes Schicksal annehmen. Sie wissen, dass es das reine Glück gar nicht gibt. Denn bei jedem Vorteil im Leben ist immer auch ein Nachteil dabei. Dasselbe gilt aber auch für jedes Un~ glück. so sind Vorteile und Nachteile immer mit einander verbunden. Es bringt den Menschen keinen Nutzen. wenn sie gegen einander kämpfen. Deswegen suchen die weisen Menschen die Versöhnung der Gegner. Sie verzichten auf den Angriffskrieg, aber sie verteidigen sich mil allen geeigneten Mitteln. wenn sie angegriffen werden. Deswegen entwickeln sie viele Kampftechniken der optimalen Abwehr. Durch die Kraft der Meditation wollen sie ihre innere Lebenskraft stärken, sie denken immer an den ewigen Urgrund. 17 Diese daoistischen Lehren haben sich in Japan mit der Ethik des Shinto verbunden. zwischen beiden besteht Ähnlichkeit. In beiden Kulturen sind es die unteren und mittleren sozialen Schichten. die eine Kultur des Friedens leben wollten. Sie hatten keinen Zugang zu den Waffen. Wir erkennen deutliche Spuren einer matriarchalen Lebensdeutung und einer weiblichen Ethik. Mit diesen Grundwerten des Mitgefühls und der gegenseitigen Hilfe konnten die annen und kleinen Leute überleben. Seit längerem werden diese Lebenswerte auch in den westlichen Kulturen rezipiert.
Grundwerte der buddhistischen Ethik Die buddhistische Lehre und Lebensform entstand im 4. und 3. Jh. v.ehr. in Nordindien aus einer Bewegung von Wanderasketen. Der Kriegersohn Siddlulrla Gautama hatte sich ihnen angeschlossen und dann die neue Lehreentscheidend geprägt. Er suchte den mittleren Lebensweg zwischen der extremen Askese und dem 17
W. Bauer. Geschichte. 80-95.
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Leben im Genuss. Wanderasketen waren marginalisierte Personen, die entweder freiwillig von ihren Sippen weg gingen oder die von ihnen verstoßen wurden. Sie mussten sich abhärten, um in der Ausgesetztheit der Natur überleben zu können. So ernährten sie sich durch Sammeln von Früchten, waren aber auf die Gaben der
sesshaften Bevölkerung angewiesen. Schon früh hatten diese Asketen Yogatechniken übernommen. die in Indien in alten Steinzeichnungen seit 3000 v.ehr. bekannt sind. Bei der regelmäßigen Meditation gehl es um die Sammlung der inneren Lebenskraft und um die Desensibilisierung des Körpers. Die frühen Buddhisten übernahmen die Morallehren der Yogaanhänger, die sie in fünf Verboten zusammen fasslen: Verbot der Tötung von Leben. Verbot von Diebstahl und Raub, Verbot der Lüge und Täuschung. Verbot unerlaubter sexueller Beziehungen, Verbot berauschender Getränke. '8 Nun haben die frühen Buddhisten diese Gebote weiter entwickelt und modifiziert. Das Tötungsverbot wurde auch auf die Tiere ausgedehnt. die Anhänger der neuen Lehre solhen vegetarisch leben. Aus dem Verbot der unerlaubten sexuellen Beziehungen wurde für Mönche und Nonnen das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit. Die sozialen Ränge und Unterschiede wurden aufgehoben, alte Menschen solhen die gleichen Chancen auf dem Weg zur Erlösung vom Leiden haben, Angestrebt wurde die Loslösung vom Leiden und vom Bösen. kein Mensch sollte Böses tun und damit neues Leiden schaffen. Da alles Leben - vor allem für die Wanderasketen - leidvoll ist. das Leiden aber durch die Gier nach Leben und nach Besitz entsteht. wollen die Buddhisten der Gier nach Leben entkommen und entsagen. Das wird möglich durch den achueiligen Pfad. nämlich das rechte Denken, Streben, Handeln. Meditieren u.a. Von der Natur her sind alle Menschen gleichwertig. die Erlösung vom Leiden und vom Bösen ist allen möglich. Die Opferriten der Priester sind unwichtig, entscheidend sind innere Einstellungen, Wertungen und Lebensformen. Auch die alten Schutzgötter sind nicht mehr wichtig. der erleuchtete Buddha ist über sie hinaus geiangl. 19 Der Buddha ist zum wahren Leben erwacht und hat göttliche Lichtkraft in sich aufgenommen. Seine Schüler wollen wie er die vielen Geburten der Seelen überwinden. die als leidvoll erlebt werden. Durch ihr Handeln wollen sie keine neue Karmakraft mehr sammeln, um nicht neu geboren werden zu müssen. Wenn sie den achueiligen Weg gehen. dann wird sich ihre Seele bzw. ihr veränderliches Selbst in der Leere des Nirvana auflösen. Es ist keine gleich bleibende Seelenkraft in uns, diese besteht nur aus vorüber gehenden Empfindungen, Gedanken und Strebungen. Das Ziel des Lebens besteht darin. in die Lichtweh des Nirvana einzugehen, die der erste Buddha allen Menschen zugänglich gemacht haI. Die Anhänger dieser Lehre finden ihre Orientierung beim ersten Buddha, bei seiner Lehre (dharma) und bei der Gemeinschaft seiner Schüler, Sie wollen die eh. Eliot. Japanese Buddhism. London 1985. 34-48. " M. Hulter. Das ewige Rad. Religion und Kullurdcs Buddhismus. Graz 2001. 124-138. 'I
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Gier nach dem Werden und nach dem Zerstören beenden. um mit Gleichmut und innerer Gelassenheit durch das Leben zu gehen. Deswegen suchen sie nach der rechten Gesinnung, der rechten Rede. dem guten Handeln. dem andauerndem Streben. der rechten Achtsamkeit. der regelmäßigen Meditation. Sie wollen die vier erhabenen ..Verweilungen" verwirkJichen, nämlich die Freundschaft mit Gleichgesinnten. das Mitleid mit allen leidenden Wesen. die Mitfreude mit den Glücklichen und die innere Ruhe. Jedem Wesen wollen sie ihre freundliche Gesinnung zeigen. jede Form von Feindschaft wollen sie überwinden. Xl Folglich suchen auch Buddhisten nicht den Kampf oocr den Krieg gegen an-
dere. Doch sie wollen sich mit allen geeigneten Mitteln verteidigen. wenn sie angegriffen werden. Sie haben keine Erlaubnis. frühzeitig zu sterben oder sich selbst zu töten. Deswegen üben sie sich in der Selbstbeherrschung und in der Acht· samkeit. Bosheit. unnötige Aufregung. Müdigkeit und Zweifel an der Lehre sollen sie überwinden. Durch regelmäßige Meditation wollen sie ihre innere Lebenskraft und die Unerschütterlichkeit des Geistes stärken. AufGrobheil. Verleumdung und Lüge sollen sie verzichten. sie stören das Zusammenleben. Bald entwickelten sich zwei Fonnen des Buddhismus. nämlich der Mönchs· buddhismus (Hina)'ana) und der Laienbuddhismus (Maha)'ana). Im Jahr 552 n. Chr. kamen die ersten buddhistischen Mönche von China über Korea nach Japan. Sie brachten den Chan-Buddhismus mit. der sich in China gebildet hatte. Aus ihm entstand der japanische Zen-Buddhismus der Meditationstechniken. In der alten Fürstenstadt Nara wurde die erste buddhistische Meditationshalle eingerichtet. In der Frühzeit wandten sich Adelige. Krieger und Beamte der neuen Lehre zu. sie wollten durch die neuen Techniken der Meditation ihre innere Lebenskraft stärken. Bald aber schlossen sich auch Teile der mitlleren und der unteren sozialen Schichten dem Buddhismus an. 21 So bildeten sich in Japan im Lauf der Zeit zwei Fonnen des Buddhismus. nämlich der Meditationsbuddhismus (Zen). der vor allem von den oberen sozialen Schichten getragen wurde. und der Glaubensbuddhismus (5hin). dem das einfache Volk folgte. Die Ethik beider RiChtungen entstammt dem •.Großen Fahrzeug" des Laienbuddhismus. Die Grundregel des richtigen Verhaltens ist ein moralischer Altruismus. der mithelfen will. dass alle Wesen von der Kraft des Leidens und des Bösen erlöst werden sollen. Durch die Gnadenkraft des Buddha ist die Erlösung allen Menschen möglich geworden. Deswegen ruft das Volk voll Vertrauen zum Amida·Buddha und bittet um Erlösung. Die Vorbilder auf dem Weg. der Arhaf und der Bodhisauva. gehen erst dann in die volle Erlösung ein, wenn alle anderen Wesen dorthin gelangen. Sie können ihre moralischen Verdiensteaufandere Menschen und Lebewesen übertragen. Deswe· gen streben alle nach der moralischen Vollkommenheit. indem sie den Mönchen und Nonnen reichlich Spenden geben. den Annen und Schwachen helfen und den ~ 01.
Elioc. Japanese. 56-66 :1 H. Dumoulin. Der ErlcuchlUngswcg des ün im Buddhismus. Freiburg 1978.44-50.
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Regeln der Sittlichkeit folgen. Sie üben sich in der Geduld mit allen Lebewesen, durch die Meditation wollen sie ihre innere Energie stärken. Bei alledem streben sie nach der Erkenntnis der letzten Wahrheit. Indem sie nach der Weisheit des Lebens streben, üben sie sich in der Geschicklichkeit des Alhags. Sie arbeiten fleißig zum Nutzen der Gemeinschaft, doch die Anhäufung von Besitz ist ihnen unwichtig. Sie wollen die Leiden der Mitmenschen verringern und einander in Liebe und Freundschaft begegnen. In Japan verbindet sich der Volksbuddhismus sehr früh mit dem Weg des Shinto, dabei werden auch daoistische Lebensformen aufgenommen. Auch der Zen-Buddhismus übernimmt Elemente der Dao-Lehre, vor allem die Mystik. Der Buddhismus zeigt sich injeder Kultur als anpassungsfähig, ohne seine Identität aufzugeben. 22 Der Volksbuddhismus wird vom Vertrauen in die Lichtgestalt des ersten Bud· dha getragen. Die Gläubigen verehren viele göuliche Wesen und rufen männliche und weibliche Buddhas an. Über allen steht der "Glanzvolle" (AmidaBuddha), der allen seine Gnadenkraft schenkt. Wenn die Gläubigen intensiv an ihn denken oder voll Vertrauen seinen Namen anrufen. fließt ihnen die Kraft der Erlösung zu. Sie fühlen sich deswegen zurn Mitgefühl mit den Leidenden. "lur rechten Aufmerksamkeit und zur Nächstenhilfe verpflichtet. Einige Lehrer sagen, der intensive Glaube an die Kraft des Buddha sei wiChtiger als die gelebte Nächstenliebe. Wir erkennen im Volksbuddhismus eine gewisse Relativierung der gelebten Moral zugunsten des hingebungsvollen Glaubens. Der .. Weg des Buddha" (Buts,,· da) orientiert sich an der Lichtgestalt des himmlischen Buddha. Ihm werden drei Körperzugeschrieben.ein irdischer, ein verherrlichter und ein kosmischer. Zudem wird er als der Sonnengleiche angerufen. derdasewige Weltgesetz in sich schließt. Am Ende der Zeit wirdder letzte Buddha (Mai/reya) erwartet, der mit allumfassender Liebe in die Welt kommen wird. Die Schule vom "Reinen Land", die im 12. Jh. entstand, richtet alle Erwartungen der Gläubigen auf ein himmlisches Paradies. in dem alle Menschen vom Leiden und vom Bösen erlöst sein werden. 2J Der volkstümliche Buddhismus relativiert das eigene Streben der Gläubigen. denn kein Mensch könne aus eigener Kraft das Leiden überwinden. Jeder benötige dazu die Gnadenkraft des Amida-Buddha, die ihn auf dem Erlösungsweg voran bringt. Die Menschen vertrauen daher auf die andere Kraft (tariki) und suchen die Erlösung vor allem durch den Glauben an den Buddha des "grenzenlosen Lichts", Ihn stellen sie in vielen Bildern und Statuen dar, er strahlt für sie Weisheit. Gelassenheit und Erbarmen aus. Dieser Lichtgestalt wollen sich die Glaubenden hingeben, ihm wollen sie ihre Sünden bekennen und ihn wollen sie nachahmen, Auf diese Weise wird für jeden die Erlösung vom Leiden und vom Bösen schon jetzt in der Gegenwart eines harten Lebens möglich. Nach dem Tod hoffen die Gläubigen auf das ,.Reine Land" des himmlischen Paradieses. 11 S. Hanayama. A hislory of Japanesc Buddhism. Tokyo 1980.44-50. 1.1 H. Küng. Der Buddhismus. München 1999. 104-122. S. Hanayama. A hislOry. 56-70.
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Andere Schwerpunkte setzen die Anhänger des Meditationsbuddhismus (Zen). er ist mit den Techniken der regelmäßigen Meditation verbunden und will die innere Lebenskraft stärken. Das lange Sitzen in der Versunkenheit (zazen) und die Sammlung der mentalen und der emotionalen Kräfte gilt als Königsweg zur Weisheit und zur plötzlichen ,.Erleuchtung" (satori). Zen leitet sich vom chinesischen Wort chan ab (Sanskrit: dhyana) und bedeutet innere Sammlung. In dieser Meditationsfonn werden japanische und daoistische Techniken der Nalunnyslik verwirklicht. Bei der Meditation verschwimmen die Grenzen zwischen der Innenwelt und der Außenwelt. zwischen dem betrachtenden Subjekt und dem betrachteten Objekt. Der Meditierende erlebt sich eins mit der Natur. dem Kosmos und der Gestalt des Buddha. Auf diese Weise können alle Menschen, Männer und Frauen. Reiche und Arme. ihre Buddhanatur erkennen. Die Erfahrung der Meditation bleibt aber immer mit strengen moralischen Pflichten verbunden. Jeder Gläubige muss seine alltäglichen Pflichten genau erfüllen. konzentriert arbeiten. der Disziplin folgen und sein Leben vervollkommnen. Bei den Übungen der Meditation wird harte Disziplin des Körpers und des Geistes trainiert. lA Ein Zenmeister leitet mit Strenge die Meditation, die körperliche Abhärtung und das geistige Training. In alltäglichen Arbeiten und notwendigen Verrichtungen soll die .,Leerheil"' des Daseins erlebt werden. Diese innere Einstellung drückt die Gestaltung des Zengartens aus. oder das Erleben derTeezeremonie. die Kunst des Bogenschießens oder das No-Theater. Denn in der Kultur des Zen wird die Verbindung von mentalen Prozessen und körperlichen Bewegungen geübt. aber auch das Wartenkönnen auf den rechten Augenblick. tl Die Meditierenden wollen regelmäßig in ihre Person mitte gehen und damit ihre innere Lebenskraft stärken. Indem sie in die Stille eintreten. verbinden sie sich mit der Welt des Buddha und erleben trotz aller Vergänglichkeit die Schönheit des Daseins. Sie üben sich im mühelosen Arbeiten. in der Weisheit des Lebens und der Gelassenheit des Alltags. Vom Lächeln des Buddha lernen sie die Heiterkeit des Lebens. lrotz des bevorstehenden Todes überwinden sie die Bitterkeit. Es gelingt den Meditierenden. das Leiden des Daseins in die Lichtwelt des Buddha zu verwandeln und an seinen Kraftfeldern teilzunehmen. Immer sollen die Kräfte des Geistes geweckt werden, um das Leben auf schöpferische Weise zu gestalten. Diese Fonnen der Zen-Lehre finden auch in der westlichen Kultur seit langem Anhänger. Im 13. Jh. hat sich in Japan durch äußere Bedrohung durch die Mongolen ein sozialpolitischer Buddhismus gebildet. der sich später mit dem Nationalismus vermengte. In der Zeit des drohenden Mongoleneinfalls. der nur mühsam durch eine Seeschlacht abgewehrt werden konnte, begannt der Mönch Nichiren, einen M. Hutler. Das ewige. 104---114. S. Hanllyama. A hislory. 85-97. 1:1 E. Herrigel. Zen indcrKunst des Bogenschießens. München 1999.34--40. W. Lind. Budo. Der geistige Weg der Kampfkünste. München 1992. 66-70. W. Brockers. Zen. Philosophie und Karate 00. Lüneburg 1998.56--67. Th. Hoover. Die Kultur des Zen. München 1991.68-78. l'
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politischen Buddhismus zu verkünden. Er wollte in seinem Land ein ,.Buddha· Reich" aufbauen. in dem alle Menschen den moralischen Vorschriften des Buddha
folgen sollten. Denn der große Erleuchtete sei der wahre Retter der Nation. Alle müssen eng zusammen stehen. die Reichen müssen den Armen helfen, Lüge und Bestechung müssen hart bestraft werden. Erst wenn die eigene Ichbezogenheit überwunden wird. dann werden die Kriege und Gewalttaten zu Ende kommen.:!6
Philosophische Moralsysteme Seit der Entwicklung der Schriftkultur im 8. Jh. wird auch die philosophische Spekulalion im Land fassbar. In diesem Entwicklungsprozess gehen vermehrt rationale Überlegungen in die mythische und metaphysische Welldeutungein.AlIe genannten Glaubensrichlungen und Ethiksysteme bilden verschiedene Schulen der Lebensweisheil. Dort werden alle Lehren und Wertordnungen weiter entwickelt lind an neue Zeitsituationen angepasst. Dominant werden die konfuzianischen und die buddhistischen Schulen. sie fanden von den oberen Schichten wirtschaftliche Unterstützung. Wenig fassbar sind uns daoistische und shintoistische Schulen der Lcbensweisheit und der Moral. Die buddhistische Lehre und Ethik wurde in vielen Meditationszentren weitergegeben und vor allem am Hof der Fürsten (Tenno) und in den Sippen der Krieger und der Beamten aufgenommen. Der Kronprinz Shotoku (gest. 622) sandte japanische Priester und Schreiber nach China. um dort buddhistische Schriften zu studieren. von denen er gehört hatte. Er selbst verfasste Lehrgedichte (Sutras) und ließein Kloster und einen Tempel bauen. Nach diesem Modell wurden später viele Klöster und Medilationsschulen erbaut. Die Lehre des Buddha sollte zu einem Fundament des japanischen Staates werden. Die einzelnen Schulen setzten verschiedene Schwerpunkte in den metaphysischen Lehren und in der Moralkonzept'ion. So betonten die Kusha-Schule und die Jojitsu-SchuJe die Vergänglichkeit alles Seienden. alles sei nur Schein. Die bleibende Buddhawelt aber könne nur auf intuitive und meditative Weise erfasst werden. Die menschliche Seele sei nur eine vorüber gehende Verknüpfung veränderlicher Eindrücke. sie sei ein Bcwusstseinsstrom von gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen. Wenn aber das Denken und das Bewusstsein leer werden. dann kommen im Leben alle bösen Taten zu Ende. 21 Nach diesem Modell führt das Leerwerden des Denkens zum riChtigen moralischen Verhalten. nämlich zum Mitgefühl mit den Leidenden. zur rechten Aufmerksamkeit flir die Schwächeren und zur Überwindung des Leidens. Die Hosso·SchuJe lehrt. dass alle Dinge und Wesen erst durch unsere Vorstellungen geschaffen werden und dass nur die Weil des Buddha wirklich und unveränderlich sei. Die Erlösung vom Bösen geschehe nicht durch ein moralisches Leben. ;» 1'1
H. Küng. Buddhismus. 124-144. L. Brüll. Die japanische Philosophie. Dannsladt 1989. 2-6.
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sondern durch die höchste Erkenntnis der Buddhawelt. Die KegolJ-Schule vertritt die Überzeugung. dass alle Phänomene mü einander verbunden sind und einander durchdringen. Auch hier wird auf das moralische Verhalten wenig Wert gelegt, die metaphysische Spekulation sei wichtiger als die gelebte Solidarität. 2S Höher eingestuft wird das moralische Verhalten in der Tendai·Schu/e. die einen mittleren Weg zwischen der Spekulation und der gelebten Tugend anstrebt. Durch Mitgefühl und Hilfe ftirdie NoLleidenden erwerben wir moralische Verdienste. diese sind für das Erleben der Erleuchtung wichtig. Die verschiedenen Zen-Schulen betonen die Notwendigkeit der Reinigung des Geistes durch die Meditation, aber auch die genaue ErfliUung der moralischen Pflichten. die konzentrierte Arbeit für sich selbst und für die Mitmenschen. die Veränderung des falschen Bewusstseins und das innere Leerwerden. Doch auch hier werden die Meditation und das Erleuchtungserlebnis höher bewertet als das tugendhafte Leben. Ganz anders wird die Rolle der gelebten Moral in den kOl/fuzial/ische" Schule" bewertet. Ihr Ziel ist die innere Übereinstimmung des Einzelnen mit der Gesellschaft. dem Staat. der Sippe. der Gemeinschaft. Ab 600 n.Chr. gibt es in Japan konfuzianische Lehrer und Schulen für Krieger und Beamte. In den frühen Texten mit moralischen Lehren und Gesetzen (17 Artikel. Taiho-Kodex. Voro-Kodex. 8. Jh.) erkennen wir deul1ich konfuzianische Prinzipien. Das Volk wird in vier Klasscn unterteilt. nämlich in Krieger. in Bauern. in Handwerker und in Kaufleute. Für sie gelten neben den allgemeinen auch besondere Regeln der MoraL2'9 Die Lehre der Shushi-Schule geht von einem alles umfassenden Ordnungsprinzip aus. welches sowohl das kosmische Geschehen. als auch das menschliche Leben lenkt. Jeder Mensch ist von seiner Natur her in die Gesetze des Kosmos eingebunden und muss den ewigen Ordnungen folgen. Das ewige Ordnungsprinzip zeigt sich in vier Wirkkräften. nämlich in der gelebten Menschlichkeit (jin). im Befolgen der Gesetze (gi). in der AusfUhrung der guten Sitten (rei) und im Streben nach der Weisheit (chi). Mit diesen vier Zielwerten kann jeder Mensch in der Gemeinschaft bestehen, seine Eingliederung in die Gesellschaft bzw. den Staat macht den Sinn jedes Menschenlebens aus. Der Einzelne hat nur einen Wert als Teil der Gemeinschaft. deswegen muss er zu ihrem Nutzen leben. Von ihr wird er geformt, gleichzeitig fonnt er sie mit. Das Verhalten der Menschen wird auch von ihrer körperlichen Kraft bzw. von der Materie-Energie bestimmt. Diese Energie kann hell und licht oder dunkel und getrübt sein. Aus ihr folgen dann die sieben Grundgeflihle: die Freude. der Ärger. die Trauer. die Angst. die Liebe. der Hass und die Begierde. Ist nun die körperliche Kraft in einem Menschen dunkel und trübe, dann tut er viel Böses. Doch ist seine Körperkraft hell und licht. dann tut er seinen Mitmenschen viel Gutes. Nun kann jeder Mensch mir seiner Vernunft seine Wesensnatur erkennen, mit dieser
:s L Brüll. Die japanische. 6-8; 40-42. :" K. Shinada. Die neokonfuzianische Philosophie. Hamberg 1979. 85-98. L. Brüll. Die japanische. 62-64.
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Erkenntnis vermag er seine dunkle Energie aufzuhellen. Die Menschen haben in ihrer Natur das Böse nicht geerbt. deswegen kann jeder nach dem Guten streben und es auch verwirklichen. JO Um ein moralisch guter Mensch zu werden, muss jeder nach der Weisheit streben, um seine soziale Wesensnatur zu erkennen. Denn wenn er sie erkannl hat. wird er beginnen. sozial zu handeln. So muss jeder lernen. in steler Achtsamkeit seine egozentrischen Gefühle zu überwinden. Er muss auf die großen Lehrer der Weisheit (Koog fu Zi, Meng Zi) schauen, aber gleichzeitig die Dinge der Außenwelt erforschen. Dadurch wird sein Geist ruhig und er lebt friedlich mit seinen Mitmenschen. In dieser Sichtweise trägt auch das naturwissenschaftliche Erkennen zur moralischen Besserung der Menschen bei. Das Ziel der konfuzianischen Lehre besteht darin. dahin zu wirken. dass alle Menschen das ewige Ordnungsprinzip erkennen und friedvoll im Staat leben können. Einen anderen Weg zu diesem Ziel lehrt die Yomei-Schille. sie geht von den Fähigkeiten des menschlichen Geistes (shin) aus. Denn dieser ist die Triebkraft unseres Erkennens. FOhlens und Wollens. Der Geist der Ruhe enthält unser angeborenes Wissen um das Gute. alle Menschen kennen dieses von ihrer Natur her und streben es auch an. Doch nicht alle erreichen es. Nun wirkt der Geist auf den Körper ein und gibt ihm die Zielrichtung für das gute Handeln an. Aus der Erkenntnis des Wahren erkennen wir die Werte des Guten und des Schönen. J' Der weise Mensch vennehrt mit seinen Handlungen das ihm angeborene Gute. damit verwirklicht er sein wahres Selbst. Er will ein Heiliger sein. der den Mitmenschen ein Vorbild des guten und folglich glücklichen Lebens ist. Deswegen kultiviert er sein Denken und Handeln. sein Sprechen und seine Bewegungen. Denn erst bei der Handlung geschieht die volle Erkenntnis des Guten. das Wissen und das Tun sollen eine Einheit bilden. Die Kreativität des Geistes ist von ihrer Natur her auf das Schöne und auf das Gute gerichtet. Freilich ist im Geist auch die Möglichkeit der egozentrischen GefUhle gegeben. die zu bösem und verletzendem Verhallen flihren. Doch wir erkennen unsere Verfehlungen des Guten und können unsere bösen Taten zu jeder Zeit korrigieren. J1 Nun erkennen alle Lebewesen das ewige Ordnungsprinzip, doch der Mensch erkennt es aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten am besten. Denn der menschliche Geist ist ein Teil des alles umfassenden Ordnungsprinzips. Die Schule des ItoJinsai orientiert sich vor allem an Kong Zi und an Meng Zi und folgt damit einem dynamischen Modell der Weltdeutung. Denn der Weg des Himmels ist ein dynamischer Prozess. niemals eine statische Größe. Die bewegende Kraft der Natur erzeugt die zehntausend Wandlungen. Unser ganzes Leben ist in Bewegung und H. A. Nakamura. A history or the developmenl or Jap;mesc ll1oughl. Tokyo 1987. 78-89. L. Briill. Die japanische. 74-77. JI L. Briill. Die japanische. 80-82. P. P6nner/J. Heisc. Die Philosophie Japans. Slutlgan 1995. 257-270. J1 H. A. Nakamura. A hislory. 90-98. L. Brüll. Die japanische, 82-86. P. Pönncr/J. Heisc. Die Philosophie. 75-88. )11
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in Wandlung und auf das Wahre und Vollkommene ausgerichtet. Nun geschieht unsere Bewegung zum Guten durch die sinnliche Wahrnehmung, durch die Ge· fühle und den Willen. Auch Gefühle sind Bewegungen unserer Wesensnatur. Mit unserem Willen verteidigen wir unsere Wesensnatur gegen böse Leidenschaften oder negative Einflüsse von außen. Solange unser guter Wille die erlebten Gefühle unter Kontrolle hat, kann ein Mensch nichts Böses tun. Unsere Menschlichkeit wächst aus dem Mitgefühl mit den Leidenden und dem Schamgefühl bei bösen Taten. Sie verwirklicht sich in der tätigen Liebe (ai) und ist die Quelle alles Guten. Zur Menschlichkeit kommt im Staat die Gerechtigkeit. die jedem Einzelnen das Seine zuteilt Bei der Ausführung der Riten lernen die Menschen die ewige Ordnung und die Weisheit des Lebens voll Ehrfurcht sehen. So wie die Bäume verschiedene Früchte tragen. so verwirklichen die Menschen das Gute auf unterschiedliche Weise. 33 Da die menschliche Wesensnatur ständig in Bewegung ist. gibt es neben dem Guten immer auch das Böse. Denn nicht alle sind bereit, sich für das Gute zu engagieren. Allzu viele geben den schlechten Einflüssen von außen und den bösen Neigungen von innen nach. Folglich ist eine ideale Gesellschaft. in der alle Bürger das Gute tun. nicht möglich. Doch der weise Mensch strebt nach der Entfaltung seines Wissens und der moralischen Besserung. Je mehr er die Gesetze der Außenwelt erkennt, umso besser erkennt er auch die Wesensgesetze des Zusammenlebens. Er hat die Fähigkeit. diese Erkenntnisse in seinem Handeln zu verwirklichen.~ Die Schule des Lehrers Og)'II-Sorai wollte die Rückkehr zum Denkmodell der klassischen Schriften des konfuzianischen Altertums. Für ihn zeigt sich der Wandel der Geschichte auch in den Veränderungen der Sprache. Deswegen müssen die alten Texte neu interpretiert und auf neue Situationen bezogen werden. Erst müssen die Begriffe der Sprache richtig gestellt werden, um die alten Texte zu verstehen. Der richtige Weg des moralischen Handeins wurde von vielen heili· gen Menschen vorgelebt, sie bleiben den Späteren ein leuchtendes Vorbild. Jeder Mensch hat gemäß seiner Natur auch seine besonderen Wirkungskräfte. Sie unterscheiden sich in ihrer schöpferischen Kraft. in ihren intuitiven Einsichten und in den gelebten Tugenden. Der Heilige will immer seinen Mitmenschen hilfreich und nützlich sein. Der Weg des guten Lebens muss in das politische Handeln übersetzt werden. Für den Herrscher heißt dies, dass er die Mitmenschen zur Verständigung und zum Frieden anleiten muss. Denn nur dann können alle in Sicherheit leben. Der Weg des guten Lebens ist unveränderlich, wir nähern uns ihm nur in begrenzter Weise. Er ist der "Weg des Himmels" und bleibt rur uns Menschen ein Geheimnis. Von Zeit zu Zeit leuchtet uns seine Helligkeit auf. Jeder Mensch hat die bleibende Aufgabe. sich moralisch zu bessern, um zum Frieden und zur allgemeinen Sicher)) K. Shinada. Die neokonfuzianische. 65-70. L. Brüll. Die japanische. 86-92. ,.. P. Pönner/J Heisc. Die Philosophie. 231-240. L. Brüll, Die japanische. 90-94.
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heil beizutragen. Er muss in seinem Denken und Handeln seiner Wesensnatur und dem Weg des Himmels folgen. Aus den alten Büchern der Weisheit kann er viel über die Tugenden des guten Lebens lemen. 3' Zu den stärksten Wirkkräflen des Lebens gehört die innere Ausgeglichenheit (chu) und die Hannonie (wa) mit den Gesetzes des Kosmos. Aus den Riten und dem Erleben der Musik lernen Wif die moralischen Zielwerte. Die Riten und die Musik fOrdern unsere Wesensnatur. Wir können das Gute im Leben nie ganz er· reichen. es bleiben immer dunkle Flecken in unserem Geist. Wenn Wif fUf Frieden und Sicherheit jedes Einzelnen sorgen. verwirklichen wir das Gute im Staat. Die Regierenden sind die Sachwalter des guten Weges. sie müssen den Bürgern ein Vorbild sein, indem sie auf das ewige Weltgesetz schauen. Ein Teil der Koku-Schule (Kokugaku) bemüht sich darum. den Weg der allen japanischen Volks weisheit zu erneuern und sich von den buddhistischen und den konfuzianischen Lehren abzugrenzen. Seide Lehren kommen aus einer fremden Kultur. der ursprüngliche Weg der Japaner liege im Shinto. dem ..Weg derGÖtler". Motoori Norillaga lehrte. das japanische Herz sei vom chinesischen Lebensgefühl sehr verschieden. Man müsse nurdie allen Liederstudieren. um die ursprünglichen Gefühle des Volkes zu erkunden. Auch in der Dichtkunst und Malerei erkennen wir das aulhentische Erleben des Volkes. Der Urgrund des menschlichen Lebens sei nur aus dem tiefen Gef"Lihl zu erkunden. dieses leite unsere Entscheidungen und Handlungen. So sei das altjapanische Gef"Lihl sehr stark vom weiblichen Geschlecht geprägt worden. beim Gefühl der Chinesen sei deutlich die männliche Dominanz zu erkennen. So sei das Herz der Japaner voU Eleganz und Anmut. es strebe immer nach Läuterung. Der Weg der Allen wurde von den Ahnen (kami) geprägt. sie zeigten den Menschen die wahren Tugenden. Die alten Bücher des Nihongi und des Kojiki häuen ftir das Volk den Charakter einer göttlichen Offenbarung. denn sie zeigten uns das Natürliche als das moralisch Gute an. J6 Die kami und ihre Taten seien gut und böse. wie die Taten der Menschen. Die Sonnengöttin sei die Ahnherrin des Tenno. sie zeige den Weg des guten Lebens. Die alten Ordnungen dürfen nicht verletzt werden. sie wurden von der Göltin ge· offenbart. Die Menschen folgen in ihren Talen dem Willen der Schutzgötter und der Ahnen. Unser Leben ist eine Mischung von Glück und Unglück. von Lust und Leiden. von Gutem und Bösem. Beim Ritual vereinigen wir uns mit den Kräften der Ahnen. um tugendhaft leben zu können. Mit dem Tod kehren auch wir in die Weil der Ahnen zurück. Der Mensch ist in seiner moralischen Wesensnatur eher schwach als stark. eher weiblich als männlich. Deswegen braucht er den Bezug zu den GÖllern. die größer und stärker als er selber sind und die ihm Schutz gewähren. Der Tenno vertritt bei den Menschen den Willen der Schutzgötter. deswegen müssen ihm " P. Pönner/J. Heise. Die Philosophie. 240-256. L. Brüll. Die japanische. 96-100. )0 O. 8enVH. HammilZSCh (Hg.). Japanische Geisle5weh. Baden Baden 1976.64--70. L. Brüll. Diejapanische. 102-107.
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die Menschen unbedingt gehorchen. Es ist göttlicher Wille. dass die menschliche Kultur ständig fort schreitet und die Geschichte ständig Neues erschafft. Der Lehrer Hirara AtsllIane führte diese Lehre weiter. für ihn widerspricht der Fortschritt der Wissenschaften nicht den Morallehren der alten Lehrer. Wenn die Europäer erkannt haben. dass sich die Erde um die Sonne dreht. dann geben sie damit der Ehrfurcht der Japaner vor der Sonnengöttin Recht. n Der Himmel und die Erde bilden eine Einheit. ein göttlicher Schöpfer habe heide erschaffen. Alle Völker glauben an einen Schöpfergott.doch Japan sei das zentrale Land der Götter. un erlauben uns die Schutzgötter. in dieser Welt glücklich zu leben. ein aufrechtes Herz zu haben und uns auf ein Leben nach dem Tod vorzubereiten. Nach dem Tod trennt sich die Seele vom Körper und zieht in das .,Land der Toten" (yumei). Jeder Mensch ist für seine Taten mOT'Jlisch verantwortlich, ein göltliches Gericht teih ihm nach dem Tod den Lohn oder die Strafe zu. Doch es gibt keinen ewigen Strafort für die Sünder. sondern nur geringe Belohnung für diese. In dieser Lehre finden sich bereits christliche Gedanken. die Malteo Ricci im 17. JI1. nach China gebracht halte.
Moralkonzeptionen der modernen Philosophie Mit dem Beginn der Meji·Dynaslie ab 1868 öffnet sich die japanische Politik verstärkt der westlichen Technik und Kultur. Japanische Studenten wurden zum Studium der Naturwissenschaften nach Europa und in die USAgeschickt. zugleich wurden weslliche Wissenschaftler in das Land geholt. Mit den Naturwissenschaften kamen auch westliche Philosophie und Ethik in das Blickfeld der japanischen Denker. nun begann ein kreativer Austausch der Kulturen. Zuerst wurden JX)sitivistische. empiristische. utilitaristische und darwinistische Denkmodelle auf selektive Weise übernommen und weiter entwickelt. Die japanischen Denker gehen durchwegs auswählend an die westliche Philosophie und Ethik heran und prüfen. was für ihre Kultur nützlich erscheint. So übernahm der Philosoph Karo Hiro)'iki zunächst von der europäischen Aufklärung die natürlichen Rechte der Menschen auf Freiheit, auf Gleichheit und auf Selbstbestimmung. Er sah aber bald. wie schwer diese Werte in der japanischen Kuhur zu vermilteln waren. In seinem späteren Denken folgte er den Lehren Charles Darwins und erklärte die Rangunterschiede im japanischen Staat durch die biologischen Vorgaben. die Erbfaktoren und die Kinderzahl Die zunehmende Zahl von Menschen im Staat ruft den Kampf ums Dasein hervor und führt zur Selektion der Stärkeren. In der Natur setzen sich immer die Stärkeren über die Schwächeren durch. sie stellen im Staat die Gesetze auf. Folglich kommen die unteren sozialen Schichten aus der Dynamik der Natur. diese Ordnung kann daher nur sehr schwer verändert werden. Die Stärkeren haben ein natürliches Recht. die Schwächeren zu fuhren und über sie zu herrschen. Sie Jl
eh. Moore (Hg.). Thc Japancsc Mind. Honolulu 1987. 104-120. L Brüll. Diejapanischc.
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geben die Grundregeln des moralischen Verhaltens vor und folgen dabei ebenfalls biologischen Konstanten. Ja Schon früh wurden auch sozialistische Theorien und Denkmodelle aufgegriffen und weiter entwickelt. Karayoma Sen (Mein Sozialismus. 1903) und Kotoku ShuSlli (Die Quintessenz des Sozialismus. 1903) waren der Überzeugung, dass die kapitalistische Wirtschaftsform nur durch soziale Regeln gezähmt werden kann. Denn diese Wirtschaftsform zielt auf Expansion. auf militärische Rüstung und auf ein starkes Nationalgefühl. Sie schürt bei den Menschen die Hassgefühle gegen das Fremde. die Gier nach Besitz und die Freude am Kampf. Doch diese gefahrlichen SIrebungen der kapitalistischen Wirtschaft können nur durch sozialistische Ideen gezähmt und abgeschwächt werden. Eine friedliche Gesellschaft wird nur möglich sein. wenn alle Menschen in ausreichender Weise Zugang zu Gütern und zu sozialen Rängen bekommen. Einzelne Denker übernahmen auch marxistische Lebenswene. denn sie glaubten. dass sich die kapitalistische Winschaftsfonn mit innerer Notwendigkeit zur sozialistischen Gesellschaft weiterentwickeln werde. Die herkömmlichen Lehren der Religion. der Ethik und der Metaphysik seien nur ein theoretischer Überbau über die realen Strukturen der Winschaft und die Fonnen der Gesellschaft. Die Annut der Massen könne nur durch die Erneuerung des menschlichen Geistes überwunden werden. Jetzt müssten die Menschen in den modemen Gesellschaften lernen. sozial verantwortlich zu denken und zu handeln. Immer werde das Denken von materiellen Prozessen bestimmt. Religion habe dabei eine besondere Funk· tion. Kawakomi Hajime sah keinen Wiederspruch zwischen den Morallehren der japanischen Volksreligion und den Grundwerten des Sozialismus." Breiter rezipien wurden die Denkmodelle des Positivismus. des Empirismus und des Utilitarismus. Die beiden Philosophen Nishi AmOlle und Fukuzowo Y"kiclli folgten in ihren Analysen der japanischen Geschichte dem Denkmodell von Auguste Comte. Auch sie waren überzeugt. dass sich die japanische Kultur in drei Stadien entwickelt habe bzw. weiter entwickle. Auf eine Zeit der mythischen und religiösen Weltdeutung sei eine Epoche des metaphysischen Denkens gefolgt. Doch diese werde nun durch das positive Denken der modemen Wissenschaften abgelöst. Die ganze Kultur entfalte sich in einem linearen Prozess. der technische und wissenschaftliche Fonschritt sei nicht aufzuhalten. Mit ihm nehme aber auch das persönliche Glück der Menschen ständig zu. Der historische Fonschriu folgt der Entwicklung der exakten Wissenschaften. die Zivilisation (bummei) werde durch die rationale Aufklärung (kaika) voran getrieben. sie sei ein nach vorne offener Prozess. Dabei zeige sich. dass auch die moralischen Wene des Zusammenlebens relativ sind und der kulturellen Ent· KalO Hiro)'uki. Neue 1bcorie über die Menschenrechte (t 882). Dcrs.. Die Enlwicklung der Moral (1894). Ders.• Natur und Elhik (1912). L. Brüll. Die japanische. 118-120. P. Pörtner/J. Heise. Philosophie. 327-334. l'I Kawakami Hajime, Geschichte über die AnnUi (19 I7), Einflihrung in den Kapitalismus (1928). P. Pörtner/J. Heisc. Philosophie. 332-340. )I
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wicklung unterliegen. In Japan lag die politische Macht zu lange Zeit bei den Adeligen. zu spät habe sich eine bürgerliche Mittelschicht gebildet. Daher seien viele Japaner in ihrem Verhalten durch Passivität und Untertänigkeit geprägt. Jetzt müssten sie lernen. stärker in das politische und wirtschaftliche Geschehen einzugreifen. Die unbewegliche Moral der Konfuzianer habe die gesellschaftliche Entwicklung stark behindert.-lO In Japan waren die Wertgefühle zu stark auf das Volk und die Nation bezogen, jetzt müssen sie auf den einzelnen Menschen zentriert werden. Eine neue Fonn der Wissenschaft wird auch eine neue Form der Ethik und der Moral zur Folge haben. Nur durch den Zweifel an den bisherigen Lehren und Moralwerten kann es überhaupt einen Fortschritt der Kultur geben. Allein ein auf Erfahrung und Beobachtung aufgebautes Wissen garantiert den gesellschaftlichen Fortschritt. Doch das vermehrte Wissen allein dient nicht der moralischen Besserung der Menschen. wie die Konfuziancr dachten, es dient zuerst der EntwiCklung der Kultur. Sowohl die moralischen Werte. als auch das vermehrte Wissen haben einen praktischen Nulzen für die persönliche Lebensgestaltung.· ' Die konfuzianische Philosophie habe zum Stillstand der Kultur geführt, erst die westliche Philosophie habe neue Dynamik nach Japan gebracht. Das ewige Ordnungsprinzip des Kosmos könne nicht mit der moralischen Ordnung des menschlichen Lebens in Beziehung gesetzt werden. Eine philosophische Ethik muss sich von kosmologischen und metaphysischen Spekulationen befreien. Nishi unterscheidet deutlich zwischen den Prinzipien der Natur (butsuri) und den Prinzipien der Moral (shin ri). In einer neuen Sichtweise wird der Einzelne gegenüber dem Volk stark aufgewertet. Alle moralischen Werte müssen einen Nutzen für die Gemeinschaft und den Einzelnen bringen. Denn jeder Mensch habe das natürliche Recht. seine Interessen zu vertreten und seine Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu aber braucht er auch einen gerechten Anteil an den materiellen GütemY Das Wissen (chi) und die moralischen Werte (toku) sind die heiden Säulen des zivilisatorischen Fortschritts. Zur Tugend gehört es. sich so zu verhalten, dass man mit sich selbst im Frieden lebt und sich keiner Taten schämen muss. Als indivi· duelle Tugenden (shitoku) werden die Treue zu den Mitmenschen, die Freiheit der Gedanken und der Worte, die Bescheidenheit im Verhalten und die Integrität der Person geschätzt. Als soziale Tugenden (kotoku) werden die Scham über böse Taten. die soziale Gerechtigkeit, die Ehrlichkeit im Gespräch und der Mut zum notwendigen Handeln genannt. Fukulawa war überzeugt, dass mit zunehmendem Wissen auch die moralischen Werte sich weiter entwickeln und das Zusammenlc· ben der Menschen friedvoller werden kann. Die Moral ist eine wandelbare Größe, sie hängt von der kulturellen Entwicklung ab.'u tO
L. BrUlI. Die japanische. 126-130. P. Pörtner/J. Heise. Philosophie. 339-347.
.. C. Blacker. 1öc Japanese Enlightment. Cambridge 1986.87-90. •: C. Blacker. Die japanische. 112-134. •) F. Yukichi. Überblick über eine Theorie der Zivilisation (1875). L. Brüll. Die japanische.
130-140.
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Nishi Amane definiert die Ethik als die Lehre vom ..Menschen weg" (jindo). sowie als Wissenschaft von den sittlichen Prinzipien und deren Verwirklichung im alltäglichen Leben. Auch er trennt die moralischen Wel1e deutlich von den Gesetzen der aluf denn jene werden bewusst von Menschen gesetzt. Das Gute wird in der utilitaristischen Sichtweise (1. St. Mill) als das Nützliche definiert. das Ziel der Ethik liegt in der Erreichung der höchsten Glückseligkeit. Voraussetzung dafür sind die Gesundheit des Körpers. das vermehrte Wissen und der materiel· le Wohlstand. Jeder Mensch muss sein Leben achten und gesund erhalten. sein Wissen vermehren und den Wohlstand erweitern. denn er muss seine natürlichen Bedürfnisse optimal befriedigen können. Aufgrund eines moralischen Gefuhls (jo) wissen wir. was rur uns selbst und was rur unsere konkreten Mitmenschen gut ist. aber auch. worin das Böse und das Übel besteht." Moralische Wcrte dienen nicht allein dem Wohl der Einzelnen. sie bringen auch der Gcmeinschaft den größtmöglichen Nutzcn. Denn wir sind soziale Wesen und können nur in Gruppen ilberleben. In uns allen ist ein soziales Gefühl. das uns zeigt. was andere von uns brauchen. Deswegen streben wir nach dem Leben in der Gemeinschaft und dem Gemeinwohl (koeki). dies ist die Gesamtheit des Einzelwohls aller. Je besser in einer Gesellschaft dieAbstimmung von Eigenwohl und Gemeinwohl gelingt. umso schneller tritt eine Kultur in ihr aufgeklärtes Stadium ein.·~ Idealistische Denker wie /"olle E",)'o. /"olle Telsujiro und O"ishi Hajime leiten die Regeln des moralischen Handeins von unveränderbaren Wertprinzipien her. die außerhalb unserer empirischen Welt liegen. So suchte Onishi nach einer kultuTÜbergreifenden Ethik. welche östliche Konzeptionen und westliche Werttraditionen miteinander verbinden soll. Dabei betonte er die Individualität jedes Menschen. die sich von den überkommenen Zwängen schrittweise befreien muss. Denn jedem Einzelnen kommen Wert und Würde zu. die zur Selbstverwirklichung drängen. Die menschliche Natur habe einen deutlichen Bezug zu unserer Werteordnung. denn auf intuitive Weise erfassen wir das moralische Gute und RiChtige. oder aber das Böse und Falsche. Die Pflicht als sittliche Norm schließt die Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen ein. Eine hedonistische Ethik läuft immer Gefahr. das Eigenwohl zu hoch zu bewerten und das Gemeinwohl zu vemachlässigen. 4fl Onishi will den Menschen als inneres Wesen erfassen. daher wird für die Wertfindung im alltäglichen Leben das Gewissen (ryoshin) des Einzelnen wichtig. In jedem Menschen lebt die intuitive Fähigkeit. das moralisch Gute zu erkennen und es auch zu verwirklichen. Nun hängt unser moralisches Gewissen von keiner Gottheit ab. es steht über allen Sitten und Gebräuchen. Jeder Einzelne folgt bei t
.. N. Amane. Theorie von den Wenen im menschlichen Leben (1875). L Brüll. Diejapanische. 134-144. P. Pörtner/J. Heise. Philosophie. 339-345. •, L. Brüll. Die japanische:. 138-141. P. PÖftnerIJ. Heisc:. PhilosophK:. 347-356. ·0. Hajime. Ethik (1896). Ders.. Oberdc:n Ursprung des Gewissens (t893). P. Pörtner/J. Heisc:. Philosophie. 339-347.
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seinen Handlungen einem Ziel,doch hinter diesem Ziel mussein alles umfassender Geist angenommen werden. Das letzte Ziel unseres Handeins erkennen wir mit unserem Gewissen, wir sehen es als Ideal an. Unsere moralischen Ideale leiten uns zur Selbstverwirklichung und zur Vermehrung des Gemeinwohls an. In der gelebten Ethik verwirklichen wir das universale Bewusstsein des Geistes.~7 Mit den Grundfragen der Ethik befasste sich auch Watsuji Tetsuro, er sieht in ihr die Wissenschaft vom menschlichen Sein. Dabei berücksichtigt er zwei Dimensionen. nämlich die natürliche Umwell jedes Handelnden und seine soziale Verflochtenheit. Jeder Einzelne lebt als ein kleiner Teil der Gesellschaft. folglich befasst sich die Ethik mit den Regeln der zwischenmenschlichen Beziehungen. Menschsein heißt ein Zwischensein in Zeitlichkeit und Örtlichkeit - hier wird deutlich an das Denkmodell von Martin Heidegger angeknüpft. Jedes Menschsein verwirklicht sich in der Abhängigkeit von einer Umwelt und vom Klima (fudo). Von daher werden drei Menschentypen unterschieden, die eine spezifische Lebensfoml und Ethik ausgebildet haben. Der ..Monsuntyp" (Indien. Japan) entwickelteeine vorwiegend passive Lebenshaltung mit Sensibilität und Ausdauer. aber wenig Willensstärke. Intuition und Freude an der Veränderung sind verbreitet. doch der Einzelne muss sich strikt der Gemeinschaft unterordnen. Der zweite Menschentyp wird durch die Wüste geprägt (Islam, Afrika). dort lernen die Menschen die klare Einschätzung von Lebenssituationen, Willensstärke zum Erreichen ihrer Ziele und UllIerordnung unter die Regeln der Moral. Der dritte Menschentyp (Europa) wird durch das Grasland und durch mildes Klima geprägt, er entwickelt früh die Fähigkeit zum theoretischem Denken. zu technischer Naturbeherrschung und zu exakter Wissenschaft. Wenn wir Kälte oder Hitze oder Nässe erleben. treten wir mit diesen Phänomenen der Natur in eine intentionale Beziehung ein. Folglich leben alle Menschen in dynamischen Beziehungsgeflechten, sie benötigen die Regeln der Moral, um friedvoU zusammen leben zu können. Ethik zeigt nun den Lebensweg der Menschen, der aber auch in der Religion. der Kunst. der Literatur und im Brauchtum zum Ausdruck kommt. Unser Menschssein muss immer unter klimatischen. sozialen und historischen Aspekten analysiert werden. Die Ethik (rin rigaku) wird als Wissenschaft vom Menschen und vom menschlichen Dasein verstanden. Anders als Heidegger sieht Watsuji das menschliche Dasein nicht als ein Sein zum Tod, denn es stirbt nur der Einzelne. während die Menschheit fortdauert. Unter den Aspekten des Ganzen wird das menschliche Daseins als ..Sein zum Leben" verstanden. In seinem Handeln negiert der Einzelne die Gesellschaft und diese negiert ihn. Erst in der Negation der Negation wird die absolute Leerheit (ku) erfahren. Weil die wahre Wirklichkeit nach Buddhas Lehre leer ist, verwirklicht sich menschliches Dasein immer im Bezug auf das Leere und in der Dynamik der Negation. 48
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q
L. Brüll. Die japanische. 146-149. P. Pönner/J. Heise. Philosophie. 356-362. L. Brüll. Die japanische. 144-154. P. Pönner/J. Heise. Philosophie. 362-365.
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Die K)'OIO-Schule steht in der buddhistischen Tradition und setzt damit andere Schwerpunkte in der Ethiktheorie. $0 sieht Nishida Ki/aro die Aufgabe der Philosophie 'Jor allem im Suchen nach der einen Wahrheit. Bei diesem Suchen sollen sich rationales Denken und religiöser Glaube ergänzen. Überhaupt sollen die Grundannahmen des Zen-Buddhismus mit westlichen Denkmodellen verbunden werden. Denn die Erfahrung der Außenwelt bedeutet Für uns, dass wir der Tatsachen so inne werden. wie sie tatsächlich sind. Im Prozess des Erkennens verbinden sich betrachtendes Subjekt und betrachtetes Objekt. dabei geschieht reine Erfahrung. Die Aufgabe des Menschen bestehe in seiner Selbstverwirklichung. welche nur durch Willensstärke voran gebracht werden kann. Die Kräfte der Vernunft allein sind dafür zu schwach. Unsere Wirklichkeit entsteht fur uns Menschen immer erst durch die Aklivität unseres Bewusstseins. Der Geist und die Materie sind die beiden verschiedenen Seiten jener vereinigenden Kraft. durch die das Universum für uns Menschen erst erkennbar wird. Diese alles vereinigende Kraft nennt die Religion GOIt oder das Göttliche. Durch unsere fortschreitende Selbstkullivicrung und durch die Erfahrung Gottes werden wir fahig. in die Wirklichkeit des Universums einzudringen. Auch das Wesen des moralisch Guten erkennen wir aus dieser Einheitskmfl. die uns zu gegenseitiger Verantwortlichkeit und zu Liebe anleitet. Wir werden erst dann zur Nächstenliebe und zu altruistischem Verhalten fahig. wenn wir die Einheit des Universums verstehen. Die Selbstliebe und die ächstenliebe ergänzen sich auf einer höheren Ebene. Wir kultivieren unser Bewusstsein. indem wir zur ästhetischen Idee des Schönen. zur moralischen Idee des Guten und zur religiösen Idee des Wahren fortschreiten. In der Erfahrung des persönlichen Gewissens schaut sich das moralische Bewusstsein selbst an und schreitet dann zum religiösen Bewusstsein weiter. Don erlebt es in der Erfahrung der Selbstvemeinung zugleich die höchste Fornl der Selbstbejahung. Im Sein entfaltet sich das absolute ichts. das den Kosmos umgreift und alle Gegensätze in sich vereinigt. Für die Selbstverwirklichung des Menschen ist das Gegenwärtige wichtig. denn in ihm zeigt sich das Ewige. In seinen Handlungen und Entscheidungen stcht der Mensch dem absolulen Nichts gegenüber. auch wenn er sich in die Gemeinschaft eines Volkes eingebettet weiß. Die Gottheit wird als das absolute Sein und das absolute Nichts verstanden. erst im Bezug auf sie verwirklichen wir unser Leben und werden zu umfassender Liebe fahig. 49 Ein Schüler von Nishida war TWlObe Hajime. der ebenfalls buddhistischen Ideen folgte. aber auch vom Martin Heidegger geprägt war. Auch er möchte die östliche Philosophie des Nichts mit der westlichen Philosophie des Seins verbinden. Wir leben in Gemeinschaften nach dem GesetzderTeilhabe und derLogik der Teilung. Den Staat erleben wir entweder als offene. oder als geschlossene Einheit. .. D. Suzuki. Die Zen-Lehre vom Nicht-BewuS5lSein. München 1982. L Brüll. Die j3p;l11ische. 164-169.
Japanische Kultur
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Der japanische Nationalismus habe das Volk in die Katastrophe der Atombombe geführt. jetzt sei ein ,.Reueweg" der Philosophie nötig, um eine Neugeburt dcs Denkens zu erreichen. Auch die Philosophie muss umdenken und ihre alten Tradi· tionen erkennen. Das radikal Böse besteht für uns Menschen darin, dass einige ihr eigenes Sein absolut setzen und ihren Willcn und ihr Wissen von jeder Kritik abschimlen. Wir sind keineswegs absolut frci und unser Wissen ist eng begrenzt. Wir müssen mit unseren natürlichen Grenzen leben. Diese können wir am besten durch einen moralischen und religiösen Weg der "Umkehr" (zangedo) annehmen. Denn im Erleben der Reue wird eine Fremdkraft erfahren. die als Gnade des Buddha gedeutet werden kann. Wer sich auf dicse Fremdkraft verlassen kann, vermag sich von derTodesorientierung abwenden und cinen ncuen Weg beginnen. Wir können dann von dcr "Auferwcckung" durch die Fremdkraft des absoluten Nichts sprechen. Durch dicsen Reueweg wird die VerabsolUlierung des eigenen Seins aufgchoben. der Hinweg zum Tod wird in einen Rückweg zum Leben umgewandelt. Der Weg zum Leben umschließt immer die Liebe zu dcn Mitmenschen und das Mitgefühl mit den Leidenden. 30 Das Atomzeitalter sei zu einer Zeit des Todes geworden, Naturwissenschaft und Tcchnik stchcn vor.viegend im Dienst der VernichlUng. Die westliche Philosophie hat darauf mit dem Nihilismus geantwortet, doch der Ausweg ist nur eine neue Philosophie des Lebens. Nur wenn wir den Tod bedenken und annehmen. können wir die Wahrheit der ..Auferstehung'; begreifen. Denn der Tod und das Leben durchdringen einander. deswegen erleben wir tiefe Widersprüche in unserem Selbst. Wer den Tod als Grenze in sein Leben herein nehmen kann, findet innere Ruhe und vcrabschiedet die Angst. Die Freude am Leben wird stärker, sie wird uns zur Selbstliebe und zur Fremdenliebe befahigen. Im Letzten befahigt uns erst der Bezug zum Absoluten und zum ewigen Nichts zur wahren Nächstenliebe. Denn dabei fließen uns ständig die Fremdkräfte des Buddha oder der Bodhisattvas zu. SI Das Problem der menschlichen Existenz bedenkt auch Miki Kiyos!li, der zeit· weilig marxistische Ideen vertrat. Wir Menschen sind deswegen zum moralischen Handeln fahig, weil wir schöpferische Freiheit erleben und uns auf eine Dimension des Ewigen beziehen können. Immer beziehen wir uns auf das Alles und die Ganzheit. aber auch auf die Leere und das Nichts. Wir erleben das Elend unseres Daseins und die Leidsituationen des Alltags. doch in uns ist die Fähigkeit. erlebtes Leiden zu verwandeln. Wenn wiruns auf eine göttliche Welt beziehcn, verwandeln wir Leiden und werden zum Mitgefühl mit Leidenden, zur Liebe zum Fremdcn und zur Barmherzigkeit mit den Armen fahig. Erst durch die Hingabe an das Göttliche werden die Widersprüche unserer Existenz crträglich. Die Geschichte unseres Lebens wird zum einen durch das Denken. zum andern durch das Erleiden von Schmert geprägt. Doch mit der Kraft unserer Einbildung ,., S. Yagi. Gott in Japan. München 1983,56--67. L. Brüll. Die japanische. 168-177. Jl L. Brtill. Die japanische. 172-179. K. Nishitani. Was ist Religion? Frankfun 1982. 66-78.
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vermögen wir unser Leben aktiv zu gestalten. Dabei brauchen wir die Bilder des Mythos. um moralisch handeln zu können. Denn sie leiten uns zu Mitgefühl
und Solidarität an. Intuitiv erkennen wir zum einen die Chancen. zum andem die Grenzen unseres technischen Könnens. Wir sehen darin auch die Gefahren für unser persönliches und soziales Leben. Unsere moralischen Verhaltensregeln werden dann am stärksten motiviert. wenn wir uns auf das Ewige, das Göttliche. das Leere und das Nichts beziehen. Der Mythos und die Religion haben ihre bleibende Bedeutung rur unser praktisches und moralisches Leben. 52 In den letzten Jahrzehnten wurden auch in Japan die verschiedenen Ethikkon· zeptionen der europäischen und der amerikanischen Philosophie diskutiert und partiell übernommen. Besonders prägend sind weiterhin utilitaristische Konzeptionen. die nach dem maximalen Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen suchen. Diskutiert werden die allgemeinen Menschenrechte und die Menschenpflichten in den kapitalistischen Wirtschaftssystemen. die Formen der Solidarität in demokralischen Staaten. Probleme des Umwehschutzes und des Umgangs mit Tieren. Die meisten Denker verfahren selektiv. sie übernehmen nur solche Wertkonzeptionen der westlichen Kultur. die für ihr Land nützlich und praktikabel sind. Diskutiert wird auch der Verlust der herkömmlichen Wertorientierung. die Be· liebigkeit mancher Lebenskonzepte. die Ablösung von religiösen Vorstellungen. Die meisten Philosophen betonen die moralischen Pflichten des Einzelnen fUrdie Gemeinschaft neben allen Fonnen der Selbstverwirklichung. Viele kritisieren die egozentrischen Wertkonzepte europäischer Philosophen und bestehen auf ihren eigenen Werttraditionen. Denn sie sind überzeugt. dass ihre Wertordnung einen gewichtigen Beitrag zu einerWeltkulturder Menschlichkeit zu leisten vennag. Für sie gibt es in der praktischen Philosophie keine Monopole der Lebensgestaltung und keine Überlegenheit der europäischen Lebensfonnen.!l
n L Brüll. Die japanische. 186-188. T. Izu!Su: Philosophie des Zen-Buddhismus. Reinbd: 1989. 45-56. P. Pörtner/J. Heist:. Philosophie. 376-380. J) K. Kracht (Hg.). Japan nach 1945. Wiesbaden 1989.34--45. Keyama Shum pai. Japanische Denker im 20. Jahmundcn. München 2002.187-198. P. Pönner/J. Heist:. Philosophie. 385-390.
Werteordnunge C1es Alten Orients und Ägyptens Karl PremIer
Werteordnung der Ägypter Dcr Ethik der Alten Ägypter liegen die alltäglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen der Unvollkommenheit des Diesseits. seine Gcspaltenheit in Gut und Böse zugrunde. Wie können Menschen friedlich und gerecht zusammenleben? Wie kön-
nen Staat und Gesellschaft unter diesen Vorgaben funktionieren? Die Antworten. die gegeben werden. wandeln sich im Laufe der Zeit. aber vermitteln lebenspraktische Erfahrungen. überliefert in den Lebens- und Weisheitslehren, aber auch in den biographischen Grabinschriften und den Bekenntnissen der Toten vor dem jenseitigen Gericht. Gerade die Weisheitslehren sind es. die der Erziehung dienen und so vom Valer an den Sohn gleichsam als testamentarisches Vennächtnis für ein gelungenes Leben weitergegeben werden. Es geht um das richtige Benehmen und Verhalten im gesellschaftlichen Gefüge. um Tugenden, um die Beachtung der religiösen Vorschriften, um den Gehorsam gegenüber Pharao, um Demut, ja um die Ergebung in den Willen Goues. Das Ziel der Erziehung und Venniulung von Wissen dient letztendlich der Ausbildung eines vernunftgemäßen ethischen Verhaltens und damit erfolgreichen Lebens. "Hiennit gebe ich dir diese nützlichen Ratschläge, diedu in deinem Herzen einsehen sollst: handle danach. dann wirst du glücklich sein, und alles Übel bleibt dir fern", heißt es in der Lehre des Ani. 1 Die ägyptische Ethik unterscheidet nicht zwischen religiös und profan, vielmehr zeigt das überlieferte Schrifttum insgesamt eine starke sittlich-moralische Tendenz. Im Alten (Lehre des Ptahhotep) und Minieren Reich (Lehre des Amenemhet: Lehre für Merikare) dienen diese ethischen Anweisungen einmal als Erziehung für die Beamtenschaft. in der jüngeren Zeit (..persönliche
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H. Brunner (Hg.), Ahägyptische Weisheit. DannSladt 1988. Nr. 10. 3-6.
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Frömmigkeit") wird ein größerer Kreis angesprochen mit dem Ziel, gleichsam .,Bildung" zu vermineln. Die Lehren unterliegen während ihres Tradierungsprozesses von Generation zu Generation einer kritischen Sichtung und werden entsprechend den jeweiligen Zeitverhältnissen neu gedeutet und ncu konzipiert: .. Die Maat kommt zu ihm durchgeseiht entsprechend den Ratschlägen. die die Ahnen ausgesprochen haben" wird in der Lehre für König Merikare gesagt. Z Insgesamt beanspruchen die Weisheitslehren. kein Geselz zu sein, deren Übertretung gerichtlich belangt werden könnte. Für Gesetze gab es verschriftete Codizes. nach denen die Wesire bzw. der König Recht sprachen und Übertretungen auch entsprechend bestraflen (vgl. die Strafgesetze). Allerdings lag die Autorität bezüglich des Rechts beim König. dessen Willensäußerungen in Gesetzen und Dekreten festgehalten waren. Im Alten Reich (2670-2150 v,ehr.) konzentriert sich alles um den sakralen König, den Verwalter der Gottheit im Diesseits. den Garanten für Wohlergehen. Frieden und Gerechtigkeit. Denn er verkörpert ja die Maat. die Weltordnung und garantiert somit für ihre Aufrechterhahung. Daher wird eine loyale Haltung ihm gegenübcrgefordert.damil auch der Einzelne am Wohlergehen Anteil habe. Die ältere Weisheit beherrscht folglich ein strenger Kausalzusammenhang zwischen Tun und Ergehen. d.h. maatkonformes Handeln führt zu Erfolg und Glück, während das Handeln gegen diese Welt- und Lebensordnung Unglück und Missgeschick zur Folge haI. In der Krise der Ersten Zwischenzeil (2150-2040 v.Chr.) mit seinen sozialen und politischen Veränderungen wird dieses ideologische Konzept auf den Gaufürsten übertragen. Nun entscheiden sich in der Haltung zum Patron Heil und Unheil. Glück und Unglück. Das Miniere Reich (2040-1650 v.Chr.) hai das Sakralkönigtum des Allen Rei~ ches wiederhergestellt. aber mit einer besonderen Betonung der Loyalität gegenüber dem König und seinem Vertreter; Loyalität wird gleichsam zu einer Religion erhoben, denn der König iSI ja die Inkarnation der Gottheit und Sohn Gottes auf Erden. Die Ethik. die in diesen Texlen vertreten wird. ist eine Ethik "der Selbslzurücknahme. der Integration und des Altruismus"). ein Aspekt der im Alten Reich so noch nicht ausgebildet ist. Die Weisheilsliteratur des Mittleren Reiches als Kodifikation sozialer Normen hängt für Assmann mit der .. Reorganisation des mono- und theokratisch organisierten Staatswesens zusammen". Denn die Normen mussten .,universalisiert werden. aus einem Verhallenskodex der Beamten bzw. der oberslen Schichlen musste eine Ethik für alle Schichten werden. d.h. eine Art "Bildung", Zu dieser Bildungspolitik gehörte die Verschriftlichung der bisher mündlich tradierten Verhallensnonnen. Im Mittleren Reich breitete sich die Osiris-Religion aus und damit der Gedanke des Totengerichtes. Fungierte im Alten Reich das Jenseits bloß als Fortselzung des Diesseits. so wird nun die Vorslellung
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Brunner (Hg.). Ahägyptische Weisheit. Nr. 4. 40--41. J. Assmann. Ägypten, Eine Sinngeschichte. Milnchen 1996. 145.
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vorherrschend. dass der Mensch nach seinen Taten beurteilt wird. unabhängig von seiner Stellung im sozialen Gefüge. Die Unsterblichkeit der Seele und das Jenseitsgericht sollen für die Ausübung der Gerechtigkeit auf Erden garantieren, ihnen kommt also gleichsam eine erzieherische Funktion zu. Im Neuen Reich (1550-1070 v.Chr.) wird dann die soteriologische Funktion des Königs durch die ,.Persönliche Frömmigkeit" abgelöst. Loyalität wird nun ausschließlich Gott gegenüber gefordert. Insgesamt ist die Einheit zwischen Ethik und Religion im Konzept der Maat (als Gottheit wird sie in Gestalt einer Frau. die eine Feder auf dem Kopf trügt, dargestellt) verbürgt, die ein umfassendes Ordnungsprinzip angibt. das Gott in der Schöpfung verankert hai und die seitdem alles durchwaltet; sowohl die natürliche Ordnung in der Pflanzen- und Tierwelt. wie auch die Gesellschafts- und Sozialordnung der Menschen und damit Recht und Gcrechtigkei; ja sie stellt die Wahrheit schlechthin dar. Das Gegenteil ist das Chaos. Sie ist aber durch kein Naturgesetz und auch durch keine Offenbarung festgelegt. Dem Menschen ist aufgetragen. die Maat zu verwirklichen und dem Chaos zu wehren. so wird er Erfolg haben. Ein Zuwiderhandeln bringt Scheitern und Misserfolg und die Bestrafung im Jenseits mit sich ("Tun-Ergehen-Zusammenhang"). Das Handeln nach den Gesetzen der Maat verpflichtet im besonderen auch zur sozialethischen Haltung gegenüber den Hilfsbedürftigen: "Tue die Maar', fordert die Lehre für Merikare, ,.damit du auf Erden dauerst. Beruhige den Weinenden. benachteilige nicht die Witwe, bringe niemanden um die Habe seines Vaters" usw. 4 Assmann$ umschreibt die Maat als ..konnektive Gerechtigkeir'. Sie ist "das Prinzip. das die Menschen zur Gemeinschaft verbindet und dem Handeln Sinn und Richtung gibt. indem es bewirkt, daß das Gute belohnt und das Böse bestraft wird": ,.Immer wird der bestraft. der ihre (Maat) Gesetze übertrin, doch dem Ungebildeten scheint das (Totengericht) etwas Fernes zu sein". 6 In den Texten des Mittleren Reiches kommt immer wieder der Gedanke des ..Füreinander-Handelns" vor, das eine Fonn des .,sozialen Gedächtnisses" sei. Demgegenüber verfügt der Habgierige über .,kein Gedächtnis". 1 Dieses Gegen· seitigkeitsprinzip vemetzt zeitlich alles Handeln, das Tun und seine Folgen sowie Mensch und Mitmensch, wie es die Lehre für Merikare ausdrückt: ,,sieh doch. mein Lohn erwuchs mir aus dem. was ich getan hatte ... Ein Schlag wird mit einem ebensolchen vergolten. das ist die Verschrünkung aller Taten,'.8 Von diesem Ansatz der Gerechtigkeit her haben die alten Ägypter ein Menschenbild entwickelt, das nicht in der Selbstverwirklichung des Individuums, sondern in den sozialen Vernetzungen seine Bestimmung sieht. entsprechend ei·
, H. Brunner (Hg.). Ahägyptische Weisheit. Nr. 4. 82-85. I J.Assmann. Ägypten. 146. • H. Brunner (Hg.). Altägyptische Weisheit. Nr. 2. 82-83. 'J. Assmann. Ägypten. 1469. 146-147. I H. Brunner (Hg.). Altägyptische Weisheit. Nr. 4. 283~288.
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nern ganzheitlichen Menschenbild, das nicht zwischen Leib und Seele. Geist und Materie unterscheidet. Die Beachtung des sozialethischen Kontextes grundet in der Forderung ,.Tu etwas für die Gottheit. damit sie dir Gleiches tue ... und Gott ist eingedenk dessen. der etwas für ihn getan har-. wie es die Lehre für König Merikare' fordert. Sind doch die Menschen ..seine Abbilder. aus seinem Leibe gekommen".'O Erst dieses bewusste kontextuelle Handeln vermag den Tod zu überwinden und unsterblich zu machen. Die Nichtbeachtung der sozialen Vernetzung gilt daher als das Böse schlechthin. vertreten durch den Gou Seih. vom dem es heißt. dass er die .•Verbrüderung haßt".
Freilich wissen auch die ältesten Weisheitslehren. etwa jene des Plahhotep" darüber Bescheid. dass letztendlich alles vom Willen Gottes abhängt: "Keiner kennt seinen (Gones) Plan. nur Er kennt den morgigen Tag". In diesem umfassenden Sinn wird die Maat auch mit der jenseitigen Ordnung in Verbindung gebracht. indem ihr eine zentrale Funktion beim Totengericht zukommt. sodass gerade der Glaube an das Totengericht zum Füreinander-Denken anspornen soll. Da die Forderungen dieses Verhaltenskodex zum überwiegenden Teil von keinem irdischen Gericht einklagbar sind. weil es sich um sozialethische VerpAichtungen handelt. um Mitmenschlichkeit. um Rücksichtnahme. ja um gerechtes Handeln. fallen sie in vornehmlicher Weise in den Zuständigkeitsbereich des jenseitigen Gerichtes. wo das Herz des Toten gewogen wird; d.h. seine Taten werden auf die eine Waagschale gelegt. auf der anderen befindet sich die Maat. Die folgende Liste eines negativen Sündenbekenntnisses veranschaulicht. um welche Verfehlungen es sich handelt: ..Ich war nicht habgierig; ich habe nicht gestohlen; Ich habe keine Menschen getötet ... Ich habe nicht am Beginn jeden Tages die vorgeschriebene Arbeitsleistung erhöht. ich habe kein Waisenkind an seinem Eigentum geschädigt. Ich habe keine Portionen geraubt. keinen Kornwucher getrieben. mich nur für den eigenen Besitz interessiert: Ich habe nicht gelogen. nicht geschimpft ich habe nicht gestriuen. nicht prozessiert, keinen Terror gemacht. keine überflüssigen Worte gemacht, nicht die Stimme erhoben. nicht unbedacht geredet Ich habe niemanden belauscht. niemandem zugeblinzelt. mich nicht aufgeblasen. mich nicht überhoben. ich war nicht hitzig (var. "heißmäulig"). nicht jähzornig. nicht gewalnätig. ich habe mich nicht taub gestellt gegenüber Worten der Wahrheit. Ich habe niemanden schlecht gemacht bei seinen Vorgesetzten. Ich habe keinen Schmerz zugefügt. ich habe keinen hungern lassen. ich habe keinen Tränen verursacht. ich habe niemandem Leid zugefügt"Y ~
H. Brunncr (Hg.), Altägyptische Weisheit. Nr. 4, 306, 3 11. 10 H. Brunncr (Hg.), AI!ägyptische Weisheit, Nr. 4, 316. U H. Brunncr (Hg.). Ahägyplische Weisheit, Nr. 2, 285. Il 1. Assmann, Ägypten. 193.
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Die Maat ist vom Schöpfergott gleichsam als "Wehgesetz" in die Schöpfung gelegt worden. Der ägyptische Staat und sein Königtum sind auf dieser Grundlage errichtet worden, d.h. sie verkörpern dieses Weltgesetz und garantieren für seine Aufrechterhaltung in den irdischen Verhältnissen. Die Aufgabe des Königs als "ethische Instanz". als ..Herr und Hüter der Gerechtigkeit" besteht daher im Mittleren Reich darin, die Ordnung der Welt durch die Ausübung einer gerechten Herrschaft zu bewahren und seine Untertanen - ohne Unterschied - vor Unterdriickung und Ausbeutung durch die Mächtigen zu schützen und so für Sicherheit und Frieden zu garantieren. Denn die Ungleichheit unter den Menschen gehört nicht zur Schöpfungsordnung. ist daher nicht gougewollt, sondern durch den freien Willen des Menschen verursacht. Die ägyptische Literatur. vor allem die Weisheitstexte belegen, dass das Herz des Menschen 'J jenes Organ ist. das die göttlichen Weisungen erkennt und befolgt bzw. sie nicht befolgt und ablehnt. Das Herz wird so zum Zentrum der menschlichen Persönlichkeit, zum Ort des Denkens und Überlegens ("Gewissen"). wo sich letztendlich auch das Geschick des Menschen entscheidet. .. Hören" und "Nicht-Hören" auf die Forderungen spielten sich im Herzen ab. daher auch Befolgen oder Nicht-Befolgen dieser Lehren und folglich Erfolg und Misserfolg. Wohlstand und Scheitern. Gehorcht man seinem Herzen. so gehorcht man Gott. d.h. man erfüllt seinen Willen. Das Herz wird somit zu jener Instanz, mit der die Lebenslehren aufgenommen werden. um ein der Maat entsprechendes Leben zu führen. ,.Wen Gott liebt. der kann hören. aber nicht kann hören, wen Gott verwirft. Es ist das Herz. das seinen Besitzer werden läßt zu einem Hörenden oder zu einem, der nicht hört. Leben. Heil und Gesundheit eines Menschen bestimmt also sein Herz. Ein Ueder) Hörer hört wohl. was gesagt wird, aber nur wer bereitwillig hört, handelt auch nach dem Gesagten."14 Letztlich ist es Gott selbst, der den Gehorsam gewähren. aber auch verweigern kann. Im Neuen Reich - Beispiel ist die Lehre von Amenemope - bedingen sich Gottesbegriffund Frömmigkeitsbegriff. Da Gott sowohl "Schöpfer" als auch "Lenker" des Herzens ist, wird alles Geschehen auf ihn zUriickgeführt. An die Stelle des Königs tritt hier die Gottheit, bei der der Beter Schutz. Zuflucht und Gerechtigkeit sucht. Persönliche Frömmigkeit verweist jetzt nicht mehr auf ein entsprechendes Verhalten im sozialen Kontext. sondern darauf, dass man in Demut und Gehorsam dem Willen Gottes folgen soll. Ist der Mensch für den Tun-Ergehen-Zusammenhang im Mittleren Reich selbst verantwortlich. so wird dies jetzt Gott anheimgestellt. Die sozialethische Komponente wird so der persönlichen Frömmigkeit
H. Brunner. Das HerL. im ägyptischen Glauben. In: Das Hörende HerL. Kleine Schriften zur Religions- und Geistesgeschichte Ägyptens. Hrsg. von Wolrgang Röllig. Göltingen 1988. 8-41. 196ff. I' H. Brunner. Altägyptische Weisheit, Nr. 2,460-466. IJ
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unterworfen. Auch der Begriff Schuld wird jetzt neu gedeutet: Maalgemäßes Han· dein und damit auch der Tun-Ergehen-Zusammenhang werden zurückgedrängt und durch Gottes Handeln überlagen bzw. abgelöst, das nun Lohn und Strafe verursacht. Die unmiUelbare Beziehung des Einzelnen zu GOlt Irin somit in den Vordergrund. Auch die ThemensteIlung der Weisheitslehren erfahrt eine Verlagerung. indem nun dem Privalbereich mehr Aufmerksamkeit zukommt: Familie. Kinder. Bestattung. Verhältnis zum Nachbarn usw. So tritt in der persönlichen Frömmigkeit ein Zug ZUlage, den der Loyalismus nicht kennt. indem auf Seiten des Menschen ,.nicht von Handeln die Rede ist, sondern von Not. Bedürftigkeit und dem Hilfeschrei des Bedrängten, und auf Seilen Goltes nicht von beloh~ nender Gegenleistung, sondern von erbarmender Güte", Dies sei nach Assmann "das Kernstück und das Proprium des ägyptischen Frömmigkeitsbegriffs."I~Das Prinzip der Maat bleibt grundsätzlich aufrecht, jedoch kann durch das Eingreifen Gottes diese Ordnung ins Gegenteil verkehrt werden, wie die jüngste aller Lehren. nämlich die des Papyrus Insinger bringt: .. Mancher lebt bescheiden, um zu sparen. und wird doch anno Mancher versteht es nicht (zu sparen), und das Schicksal gibt ihm Reichtum .. , Es ist nicht immer ein Vergeuder. wer in Armut lebt. GOll gibt (auch) reichen Vorrat ohne Einkommen und Amlut in der Börseohne Vergeudung. Geschick und Glück, die kommen - Gott ist es, der sie sendet.;·I/) Wenn auch die persönliche Frömmigkeit nicht gegen den offiziellen Kult gerichtet ist, so wendet sich nun der Einzelne mit seinen Gebeten direkt an die Gottheit ohne Vermittlung. Die Weisheitslehren sprechen vom ..Schweiger" (das Gegenteil ist der "Heiße") einem persönlichen Frömmigkeitsideal. das darin bestehl, dass man Gottes Ratschluss demütig und dankbar annimmt, sich in seinen Willen fugt. ..sich in die Hand Gottes gibt"". Auf diese Weise ,.steht er imAngesicht seines Herrn,;
Weisheit, Weisheit, Weisheit. Weisheit.
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17, 144- t SO. 14. 106. 14.61-62. 14. 249-252.
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..Welln du Besitz erlangst, gib einen Teil davon GOlt, und das ist der Teil für die Armen."20 "Wer dem Armen zu essen gibt. dem rechnet es Gott für Millionen von Opfer an.'·21 Ja es heißt sogar: ,.Gon gibt dem weisen Mann Reichtum durch Großzügigkeil."21 Insgesamt aber gilt es zu bedenken. dass der Mensch letztendlich keine Garantie dafür hat, dass sein Handeln persönlich belohnt werden wird; denn die Gottheit behält sich die letzte Entscheidung vor. Daher ist in diesem Zusammenhang oft in unpersönlicher Redeweise vom .,Geschick" oder .,GIÜck" die Rede: .,Vor Gott sind der Starke wie der Schwache nur ein Spielzeug."ll Gerade mit letzterer Aussage wird die Wahlfreiheit des Menschen beschränkt, denn letztendlich ist es GOIt, der über das Geschick des Menschen entscheidet. dem die Vergeltung und Rache zukommt. Auch der Besitz. als Gottesgabe neutral, bedeutet für den Frommen etwas gänzlich anderes als für den Gottlosen: Für den einen fungiert er als Gefahr. für den anderen als Gnade: .,Geld ist die Schlinge, die GOIt auf Erden ausgelegt hat für den Gottlosen, damit er täglich in Sorge sei. Seinem Liebling aber gibt er es. damit die Sorge in seinem Herzen aufhöre."2. Besitz als Gottesgabc setzt somit den rechten Umgang voraus: .,Wer weiß. was sich im Inneren eines Gottesfürchtigen ansammelt. der hortet keine Schät7.e.'·n Dass schlechte Menschen lange leben und reich sind. begründet Papyrus Insinger folgendermaßen: .,Eine (lange) Lebenszeit wird dem Gottlosen gegeben. damit er im Leben noch Vergeltung erfahrt. Besitz wird dem Bösen gegeben. damit er dadurch nicht zum Atmen kommt. Man kann das Herz (die Absicht) Gottes nicht verstehen, bis das. was er angeordnet hat, geschehen ist."26 Ähnlich wie der Besitz hat auch eine "lange Lebenszeit" für den Frommen und für den Gottlosen gegensätzliche Funktionen. Wahrnehmungen vor allem von sogenannten .,Ungerechtigkeiten" (vgl. Theodizeefrage) im sozialen Kontext sind mit diesseitigen Erklärungsmo· dellen nicht zu beantworten, werden daher transzendiert und in der Absicht Gottes verankert. Die persönliche Frömmigkeit wird neben dem Rückgriff auf das geistige Erbe der Vergangenheit und seiner NeudeulUng in den kommenden Zeiten der politischen Regionalisierung und Instabilität, ausgelöst durch diverse Fremdherrschaften. ein wichtiger Faktor für normatives Handeln und Verhallen im sozialen Kontext sein.
H. 11 H. n H. lJ H. ~. H. ~ H. l
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ßrunner (Hg.). AhägYPlische Brunner (Hg.). Altägyplische Brunner (Hg.). Altägyptische Brunncr (Hg.). Altägyptische Brunner (Hg.), Ahägyptische Brunner (Hg.). Ahägyptische Brunncr (Hg.). Altiigyptische
Weisheit, Weisheit, Weisheil. Weisheil. Weisheil. Weishcil. Weisheit.
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
17. 346. 17. 355. 17. 330. 17. 245. 17. 339-340. 17.406. 17.693-695.
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Werteordnung der Sumerer und Akkader Mesopotamien war die Wiege einer der ersten großen Kulturen der Menschheit, nämlich der babylonischen Kullur und Zivilisation. In vorchristlicher Zeit hat Mesopotamien drei bedeutende Kulturen hervorgebracht: die sumerische. die babylonische und die assyrische Kultur. Die Umerschiede zwischen sumerischer und semitisch babylonischer Kultur betreffen nicht nurdie Sprache und Kunst. sondern auch den sittlich-religiösen Bereich. So ist etwa in der religiösen Literatur der Sumerer von •.sittlichen Forderungen der Gölter nur selten die Rede .. " während ein großer Teil der akkadisch rel igiösen Texte dem Verhältnis des Menschen zum Men· sehen eine entscheidende religiöse Bedeutung beimißt."11 Grundsätzlich regeln sumerische und akkadischc Rechtsbücher das Zusammenleben der Menschen. wobei die Unterschiede zwischen babylonischen und assyrischen Vorstellungen weniger bedeutsam sind. Klassisches Beispiel für ein akkadisches institutionalisiertes und verschriftetes Recht stellt der Gesetzeskodex des Königs Hammurapi (entstanden zw. 1793-1750 v.Chr.) in altbabylonischer Zeit dar: ,.Damals haben mich Hammurapi. den frommen Fürsten. den Verehrer derGötter. um Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen. den Bösen und den Schlimmen zu vernichten. den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen. dem Sonnengou gleich den .Schwarzköpfigen· aufzugehen und das Land zuerleuchten. Anu und Enlil. um ftirdas Wohlergehen der Menschen Sorgezu tragen. mit meinem amen genannl". heißt es im Prolog zur Gesc[Zessammlung. 21 Der König war demnach nicht nur rur den Kult der Gölter an den Tempeln verantwortlich. sondern auch rur die Aufrcchterhaltung der von ihnen gegebenen sittlichen Ordnung unler den Menschen. Frühestes Beispiel einer Rechtssammlung in sumerischer Zeit bildet der Kodex des Königs Umammu (2111-2094 v.Chr.) aus der Zeit der In. Dynastie von Ur. Der Schlussteil des Prologs enthält folgende allgemeine Direktiven: .. Den Waisen überanlworte ich keineswegs dem Reichen. die Witwe überantworte ich keineswegs dem Mächtigen ... (Zwangs)arbeit legte ich keineswegs auf. Feindseligkeit. Gewalttat. (und) Weherufe zu Utu ließ ich fürwahr verschwinden. Gerechtigkeit setzte ich fürwahr im Lande Sumer."29 Anschließend folgen dann die konkrelen Rechtsbcslimmungen. Auch aus diesem Texl gehl hervor. dass dem König von den Gottheiten aufgetragen ist. für das Wohlergehen der Menschen auf Erden Sorge zu tragen. indem er das Gesetz der Ordnung, nämlich Gerechtigkeit. unter ihnen walten lässt Besonders Schamasch. der Sonnengou. galt als der Schützer von Rechl. Gerechtigkeit und Wahrheit: analog dazu soll im irdischen Bereich der Mensch Gerechtigkeit walten lassen: vornehmlich aber kommt dem Königdie Aufgabe zu. für die Einhaltung dieser ethischen Forderungen zu garantieren und so der Fürsorge W. von Soden. Religion. 1935. 145. ::t R. Borger. Akkadische RechlSbücher. TUAT J. Gütersloh 1982. 40. 1" R. Römer. Akkadische RechlSbücher. 19. fl'
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der Gottheit um die Menschen im irdischen Bereich nachzukommen, gleich dem Sonnengott die Welt zu erleuchten. In diesem Sinn wird im Schamasch-Hymnus JO gesagt, dass der Sonnengott die Finsternis vertreibt und alles in helles Licht taucht; dass er so für die Menschen des Landes sorgt, für die Kranken, rur die Wanderer, Seefahrer und Kaufleute, sie alle stehen unter seinem Schutz. Im Hymnus werden auch eine Reihe von Praktiken, die im Zusammenhang mit einergerechten Haltung stehen. aufgezählt: es missfallt ihm, wenn von den Kaufleuten das rechte Maß beim Wägen oder beim Geldverleih in betrügerischer Weise verletzt wird. Dem, der keinen Betrug kennt und Gerechtigkeit walten lässt, ihm und seiner Familie wird ein langes Leben und Wohlstand verheißen; dagegen wird die Nachkommenschaft der Böses-Tuenden schwinden. Schamasch bleibt nichts verborgen, denn ,Jeder Einzelne ist seinen Händen anvertrau!." Für das Menschenbild und die daraus abgeleitete Anthropologie geben die Schöpfungsepen einen gewissen Aufschluss: einmal das aus altbabylonischerZeit stammende Arramhasis·/:'pos (16. Jh. v.Chr.) und weiters das EtlIIIlIO Elisch-Epos (14. Jh. v.Chr.). Ersteres liefert uns den ältesten Bericht über den Vorgang der Schöpfung unter Einschluss der Flut. Hier wird berichtet. wie der Mensch aus Lehm und dem Blut des Gottes Gestu'e, der mit Verstand ausgestauet war, gestaltet wurde. Das Epos will damit die Begründung dafür liefern, dass es im Wesen des Menschen liege, in eigener Verantwortung zu handeln. JI Nach dem Enuma Elisch-Epos wiederum werden die Menschen aus dem Blut eines "aufrührerisehen Gottes geschaffen ... , daß also Empörerblut in ihren Adern fließt". Nach von Soden spiegelt sich hierbei "eine tiefe Einsicht in das Wesen des Menschen" wieder, "der sich immer wieder gegen die gougewollte Ordnung auflehnt."J2 Das Enuma Elisch Epos stammt aus einer Zeit, wo das Sündenbewusstsein für die BabyIonier bereits eine größere Rolle spielte als für die Zeit, in der das Atramhasis Epos entstand. Nach letzterem haben sich die Menschen gegen die Göller vergangen, indem sie - wie es der Mythos ausdrückt - "mit Lärm verbundene Aktivitäten" ausführten, die dem Gott Enlil den Schlaf raubten. Die Menschen, die vom Gott Gestu 'e den Verstand geerbt hauen, handelten also über den ihnen von den Göttern zugedachten Arbeitsauftrag hinaus. Daher berichtet der Mythos von drei Seuchen. die von den Göttern geschickt werden, damit die Menschen von ihrem Fehlverhalten Abstand nehmen und zu ihrer ursprünglichen Bestimmung wieder zurückkehren. Allerdings verweigern die Menschen - Atramhasis spielt hierbei eine Vermittlerfunktion zwischen Göttern und Menschen - während der Dauer der jeweiligen Plage das Opfer und das Gebet, woraufhin dann die GOll-
w.G. !-amben, Babylonian Wisdom Literature. Oxford 1960, 121 ff. )1 M. l1uttcr. Gesellschaflliche und religiöse Aspeklc im Atramhasis-Mythos. In: Theologie im Dialog. Gcsellschaftsrelevanz und Wissenschaftlichkeit der Theologie. Graz/WicnfKöln 1985,219-224.222. JI W. von Sodcn, Konflikte und ihre Bewälligung in babylonischen Schöpfungs- und FlulcrL.ählungcn. In: MDQG III (1979) 1-33. 12. JO
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heilen die Plage aussetzen. Aber nach einer gewissen Zeit missfällt der Lärm der Menschen dem Gon Enlil vom Neuen. Zuletzt fassen die Götter den Beschluss, die Menschen durch eine Sintflut endgültig zu vernichten. Atramhasis und seine Frau werden durch den Bau einer Arche gereuet. Die Flutkalastrophe bewirkt nicht nur einen Neuanfang der Götter untereinander, sondern auch zwischen Göttern und Menschen. Denn nunmehr kann der Lärm der Menschen die Götter nicht mehr erzürnen. sodass sie deren Vernichtung planen. Mit der Zunahme eines stärkeren Sündenbewusstseins hängt nun auch zusammen, dass die Grenze zwischen Mensch und Gottheit nicht mehr durchlässig wird in RiChtung aufVergöttlichung von Menschen - Könige und Heroen, die gleichsam eine Millelstellung zwischen Mensch und Gottheit einnehmen. Eine weitere Folge ist, dass nun auch die Menschen fUr die Erhaltung der Schöpfung und damit des Lebens Mitverantwortung tragen. Außerdem soll zukünftig bei Verhängung von Strafen der Erhaltung des Lebens der Menschheit Priorität zukommen. Dass der Mensch nun mit ..gönlicher PlanungsHihigkeil" ausgestattet ist. bezeugt nach Huuerl J nicht nur seine Größe. sondern auch ..die Gefahrdung für den (altbabylonischen) Menschen: Er ist praktisch herausgefordert. täglich seinerGröße entsprechend zu leben, wobei jedoch oft nur ein schmaler Grad als Abgrenzung gegen die Hybris bJeibr'. So haUen die Sumerer noch kein ausgeprägtes Sünden- und Schuldbewusstsein entwickelt, daher fehlten auch individuelle Gebete oder Bitten um Vergebung der Sünden, um Wiederversöhnung im großen und ganzen. Das wird sich aber in der allbabylonischen Zeit ändern. Auch das siuliche Verhallen ist nun eine Forderung. die von Seiten der Gonheiten gehend gemachI wird. Mit der "Ethisierung der babylonischen Religion"}.! hängl auch die Ausprägung eines individuellen Sünden- und Schuldbewusstseins - Verfehlungen gegen GÖller. aber auch sittlich-ethische Verfehlungen - zusammen. die sich dann auch in einer differenzierten Terminologie ausdrückt Sünden und Verfehlungen ziehen die Strafe der Gonheiten nach sich. die darin besteht. dass sich die Gouheit vom Betreffenden zurückzieht und ihn den bösen Kräften der Dämonen ausliefert. Die Folgen sind Leiden und Krankheit. Daher ist es notwendig. die Sünde oder Schuld zu kennen. um den Betreffenden von seinen Leiden zu erlösen. seinen Heilszustand. d.h. die Beziehung zur Gonheit wiederherzustellen. Dieser Sündengedanke steht im Zentrum der meisten Gebete. Hymnen und Beschwörungen, deren Struktur ein ähnliches Muster zeigt: Dem Lobpreis des Gottes folgt die Nennung des Leidens. das das Gebet veranlasste, und sodann das Eingeständnis. gesündigt zu haben. An die Bille um Vergebung schließt sich
M. Huttcr. Gesellschaftliche. 223. J.l M. HUlIer. Religionen in der Umwelt des Allen TeslamentS I: Babyionier. Syrer. Perser. SlultganlBerlinlKöln 1996. 53ff.. 62. Jl
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sodann der Dank an die betreffende Gottheit an. Als Beispiel für diese kausale Vernetzung von Krankheit und Leiden als Strafe für Sünden sei der Hymnus an Marduk angeführtl~: .. Krankheit. Kopfschmerz. (Krät)ze (und) Schlaflosigkeit Sind über ihn ausgegossen. Mangel (und) Leid. Angst. Bedrückung. Entsetzen (und) Schrecken Sind zu ihm geschickt und halten ihn von seinem Wunschziel fern. Er erforscht seine Krankheit und weint zu dir ... Was ... und plante mein Herr fur seinen Diener. auch wenn dessen Mund vorbrachte. daß er nichts wisse? Viel sind meine Sünden. ich fehlte in jeder Beziehung! Mein Herr. dieses habe ich übertreten. möge ich aus der Beschwernis herauskommen ... Dass die sittlich-moralischen Verfehlungen als Sünden gegen die Gottheiten gesehen wurden. zeigen auch die Stindenlisten. die etwa in den Sammlungen der Beschwörungen gegen den Bann erhalten sind mit dem Titel ScJwrfJlI. wörtlich ..Verbrennung". Hier wird eine Reihe von Sünden genannt. die den Bann. d.h. den Ausschluss aus der Gemeinschaft mit der Gottheit und die Auslieferung an böse Mächte nach sich ziehen können. Unter diesen Sünden finden sich nicht nur Verstöße gegen den Kult. sondern auch sittlich-moralische Verfehlungen. Da sich der betreffende einer konkret begangenen Sünde ofl nicht bewusst ist. soll durch das Rezitieren dieser Sündenlisten die Lösung von der Schuld und damit vom Auch der GÖller. der sich in Krankheiten oder anderen Leiden manifestiert. bewirkt werden. Schutt und Fürsorge.ja die Zuwendung der Götter soll so wieder hergestellt werden. Aus alldem geht hervor. dass das Handeln des Menschen entscheidend ist für das irdische Wohlergehen. Denn Sünde fuhrt zu Unglück. Krankheit und Leid. während das Handeln, wie es die Gottheit fordert. Wohlstand. Gesundheit und Glück nach sich zieht (Tun-Ergehen-Zusammenhang). In diesem Kontext hat sich die literarische Gattung der ..Weisheitslehren" entwickelt. die Ratschläge erteilen. wie ein Leben beschaffen sein muss. um zu Wohlstand und Glück zu kommen. also insgesamt eine ..moralisch-didaktische Zielsetzung":J6 verfolgen. Dies ist im Satz gebündelt: ..Gib deinem Gott. was ihm gebührt. und dem Nächsten. was ihm zukommt. dann werden dir Götter und Menschen stets freundlich gesonnen sein"Y
"K. Hecker. Akkadischc: Hymnen und Gebete. In: Religiöse Texte. Willem H.Ph. Römerl K. Hecker: Lieder und Gebete I. TUAT 11. Gütersloh 1989.756. 125-139. ,. M. Huuer. Religionen. 61. J1 W. von Soden. Religion und Silllichkeit nach den Anschauungen der Babyionier. In: ZDMG 89.1935. 163f.
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Im Rat des Schuruppag JS lesen wir: .,Mein Sohn. Ich will (dir) raten, mein Rat möge angenommen werden, Ziusudra. ein Wort will ich dir slagenl. es möge darauf geachtet werden. Meinen Ra! sollst du nicht loslassen. das Wort, das ich gesprochen habe. sollsl du nicht ändern, der Rat eines Valers ist etwas Kostbares. ihm möge dein Nacken gcbeugt sein!"
Nun musste aber auch der babylonische Gläubige fesIsteIlen, dass er trotz der Befolgung der guten Ratschläge der Väter bzw. trotz eines dem göltlichen Willen entsprechenden Verhaltens von Krankheiten. Übeln und von Ungemach heimgesucht wird. Ungerechtigkeitcn von Seiten seiner Mitmenschen erleiden muss. Umgekehrt aber sah cr, dass ein Bösewicht in Glück lebte und Erfolg im Leben halle. Hier mussten nun Zweifel an der traditionellen Sicht weise von Gerechtigkeit mit ihrer kausalen Vernetzung aufkommen. Viele Texte behandeln daher das Theozidecproblem. das Leiden des Unschuldigen. ähnlich dem alttestamentlichen Hiob. In akkadischer Sprache liegen folgende Texte vor: .,Lud/ll/ be/llemeqi - .. Ich will preiseIl deli Herrn der Weisheit'· (12. Jh. v.Chr.)J9: Bei diesem Text handle es sich um die - außerhalb der Mythen und Epen Babyloniens - ..umfangreichste Dichtung und zugleich eine der aussagereichsten religiösen Kompositionen". olO Der Leidgeprüfte. ein königlicher Funktionär. klagt über die Bosheit der Menschen. über soziale Ausgrenzung. den Verlust aller Ämter und dass er von allen verstoßen wurde. Nicht nur seine Freunde und seine Verwandtschaft. auch sein Sklave trelen gegen ihn auf. Zu alldem schweigt auch noch die Gottheit. Er kann ..sein Recht" einfach nicht finden. Er aber fühlt sich ungerecht behandelt. hat er doch seine Gebete verrichtet und seine Opfer dargebracht und seine Untergebenen belehrt. "die Ordnungen Gottes zu halten". Er ist sich also keiner Sünde bewusst. Nun aber fühlt er sich so behandelt. als wäre er ein Mann. der keine GOltesfurcht gekannt und den Weg der Götter verlassen hat. Das göttliche Handeln ist für ihn unbegreiflich. Schließlich wird er auch noch von Dämonen. den Verursachern vielfalliger Leiden. geplagt, sodass er dem Tode nahe ist. Auf Befehl des Gottes Marduk wird er durch einen Beschwörungspriester gereinigt. woraufhin die Lösung (Vergebung) seiner Sünden und die Heilung seiner Leiden erfolgt. Im Marduk Tempel Esangila spriCht er seinen Dank gegenüber Marduk aus. Es ist also Marduk. der nach diesem Text allein über das Geschick
W. Römer. Sumerische Rechtsbücher. In: Rechts- und Winschaftsurkundcn. Historischchronologische Texte. TUAT Bd. I. Gütersloh 1982. 17-22. TUAT 111 1m. 5O.9ff. ,. W. von Soden ...Wcishcilstexte" in akkadischer Sprache. In: Weisheitstexle. Mythen und Epen. Willem H.Ph. Römer und Wolfram von Soden: Weisheitstexlc I. TUAT 111 1990. 110-135. 40 W. von Soden. WeisheilSlexlc. 110. Ja
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der Menschen entscheidet. Wie von Soden· 1 ausführt. werden zwar Zweifel an der Gerechtigkeit Marduks geäußert. aber sie werden nicht zu einem "zentralen Thema, weil die Erkenntnis ..., daß die Menschen den Willen eines Gottes nicht ergründen können. jedes Rechten mit der Gottheit ausschließt'". Im" Ein Mmm und sein GOU"·l geht es um einen Mann. der fur seinen leidenden Freund zu Gau fleht. Die Strophen IV und Verheben massive Anklagen gegen die Gottheit: es sind Anklagen. die wohl der Dulder selbst spricht. Sie verdichten sich in dem Ausruf: "rNielmals tatest du mir Gutes an". Letztendlich werden die Leiden des Dulders von der Gottheit gelindert und diese versichert ihm (Strophe vm und IX) ihre weitere Fürsorge. fordert daftir aber ..einen intensiven Dienst an leidenden Mitmenschen": .. Ich bin dein Gott. dein Schöpfer, deine Hilfe: Es wachen für dich meine Wächter und sind stark flir dich! ... ich sch,tue auf dich. dadurch Ifindest du) für immer Leben! Du aber erbleiche nicht: Salbe den Ausgedörrten. speise den Hungrigen, tränk den Durstigen mit Wasser! ... Geöffnet ist dir das Tor des Heils und des Lebens: ... da hinein, geh ein. sei gesund!" Der Schlüsselsatz dieses Gespräches gipfelt in der Forderung (Strophe VUO: ..Für alle Zukunft darfst du Ideinenl Gott nicht vergessen. deinen Schöpfer. wenn du es gut haben möchtest." In einem "Streitgespräch über die Gerechtigkeit der Gouhei," (zw. 800 und 750 v,ehr. verfasst)·) klagt ein Beschwörungspriester einem Freund seine Not und bittet ihn. den ..Wissenden;'. um Rat und Beistand. Im Mittelpunkt der Klagen des Dulders stehen die Wahrnehmung der Ungerechtigkeiten dieser Welt und die Demütigung durch Menschen. Denn dem. der keine Opfer darbringt. geht es ganz gut. während die Opfer. die der Dulderdarbringt. anscheinend nichts nützen. Letztendlich muss aber auch der Freund seine selbstsichere Haltung aufgeben und resigniert zugeben. dass die Göller die menschlichen Wesen so geschaffen haben: In Strophe XXVI heißt es: ..Sie (Götter) haben geschenkt der Menschheit die mehrdeutige Rede: Mit Lügen und Unwahrheit beschenkten sie sie ftir immer. Volltönend äußern sie. was für den Reichen gut ist: (sagen) .er ist ein König. ein reicher Besitz steht ihm zur Verfügung'. Wie einen Dieb behandeln sie schlecht den schwächlichen Menschen: Mit Niedertracht beschenken sie ihn. stellen ihm mit Mord nach. Bösartig packen sie ihm jegliches Übel auf. weil er der Führung ermangelt; In Krn.ftlosigkeitlassen sie ihn vergehen. löschen ihn aus wie glühende Asche:'
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Die letzte Antwort des Freundes bestätigt demnach die Wahrnehmungen des Dul· ders. Es folgt nun keine Ennahnung von Seilen des Freundes mehr. vielmehrergibl sich der Dulder demütig in den Willen der Gottheit und bittet um ihr Erbarmen. In akkadischer Sprache sind auch Belehrungen überliefert, die .,Ratschläge und Warnungen für rechtes und falsches Tun und Reden" beinhalten. In diesen Mahnungen gehl es "oft mit Vorrang um ein zweckmäßiges. im eigenen lnteresse liegendes Verhalten und nur sehen um echt ethische Forderungen wie etwa die Aufforderung. Annen wohlzutun".44
Wenn auch die babylonische Anthropologie bezüglich des Menschen zwischen einer materiellen Substanz (Leichnam) und einem immateriellen Wesen. nämlich dem Totengeisr. unterscheidet. so hat sich doch bezüglich des Zustandes nach dem Tode keine Vorstellung herausgebildet. die davon ausgeht. dass dem Leben nach dem Tode Ewigkeitscharakter zukomme. Ausgenommen davon sind zwei babylonische Helden (Utnapischtim und Utu-abzu). die zu Gottheiten erhoben und damit unsterblich wurden. Die Folgewirkungen des ethischen bzw. nichtcthischen Handeins bleiben somit auf das diesseitige Leben beschränkl.lnsgesamt wird die Unterwelt als Ort der Dunkelheit und Finsternis. also der Abwesenheit des Lichtes gesehen. als ..das Land ohne Wiederkchr"'. wiccs im Gilgamesch-Epos heisst. Entscheidend für die Grenzziehung zwischen dem Bereich der Lebenden und jenem der Toten (..Totengeister") ist ein regelmäßiger Totenkult. Die täglich zu vollziehenden Totenopfer sollen den TOlengeist günstig stimmen. Totenbeschwörungen sollen vor den Totengeistern als Dämonen und ihren schädigenden Einflüssen schülzen...Nach dem irdischen Tod hängt die Ex.istenz im Jenseits immer von den irdischen Hinterbliebenen ab. deren Aufgabe es ist, die Toten zu versorgen. Sowohl Pietät als auch Furcht spielen dabei eine Rolle. SO daß der mesopotamische Mensch auch nach seinem Tod in das soziale Gefüge eingebettet bleibt".~5
Werteordnung der Perser Zarathustra ist zeitlich am Übergang vom 2. zum I. Jahrtausend v.ehr. anzuselzen. Er lebte in einer sesshaften Gesellschaft. deren Lebensgrundlagen die Viehzucht und eine entsprechende Weidewirtschaft bildeten. wie die ältesten TeiledesAvesTO bezeugen. Neben dem Pferd und dem Kamel war vor allem das Rind ein wiChtiger Wirtschaftsfaktor. Daraus resultieren vielfache Anspielungen auf die Natur, auf die Pflanzen- und Tierwelt in der Verkündigung Zarathustras. wobei dieser nicht nur die Realität beschreibe. wie Hutter"6 betont. sondern diese Begriffe auch immer wieder im symbolischen Sinn für seine Verkündigung überhöhe. Die Gar/ws fordern daher dazu auf. nicht nur das Weideland entsprechend zu pflegen. sondern auch für das Rind zu sorgen und es zu schützen. In der Zeit Zarathustras nehmen
.. W. von Soden. Weisheitslexte. 164. 'I M. Hutter. Religionen. 71. ..., M. HUller. NalUrvorslcllungcn im Zoroastrismus. In: ZfR I. 15.
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Gewalt gegen Mensch und Tier durch Männerbünde immer mehr ZU 47 . In diese Situation hinein spricht Zarathustra seine göttliche Botschaft, die diese Missstände anprangert und daher ethisch ausgerichtet ist. In Yasna 29 findet sich ein Berufungserlebnis in Fonn einer Audition: Das Gehörte gibt ein Götlergespräch im Himmel wieder. zu dem Zarathustra hinzugezogen wird. Die göttliche Rinderseele im Himmel klagt über Viehraub. orgiastische Op· ferfeiem und der damit verbundenen sinnlosen Brutalität gegen das Rind. Man wendet sich an den GOIt Ahura Mazdah,der als Ersatz für das blutige Stieropfer auf den Opferspruch (Wort) und die Gussspende (Milch) verweist. Zarathustra selbst wird für die Propagierung dieses unblutigen Opfers auserwählt, d.h. für eine gute Behandlung des Rindes auf Erden. Hier liegt der Ursprung des Yasna-Rituals, das den Saft der Haoma-Pflanze für kultische Zwecke verwendet. Insgesamt fungiert das Rind nach dieser Sicht in erster Linie als Symbol für die Tierwelt und weiter für das Leben und die Erhaltung der Schöpfung. Zarathustra versteht sich so als Gesandter des Gottes Ahura Mazda. der über wirkmächtige ..Worte" (MantTen) Bescheid weiß. auch über eine unblutige Opferpraxis und über die Zusammenhänge zwischen Mensch und Kosmos, über die Rettung des Einzelnen und derWeil insgesaml. Dazu kommen noch sozialethische Aspekte. indem er für Entrechtete und wirtschaftlich Schwache eintritt. Den Ausgangspunkt der Theologie Zarathustras bildet ein eschatologischer und kosmischer Dualismus zwischen Gut und Böse, sowohl auf geistiger, als auch auf materieller Ebene. Die Vorstellung geht von einem dreiteiligen Kosmos aus: Der ursprünglichen Einheit von Himmel und Erde (Yasna 44,4) folgt die Zeit der Vennischung und des Kampfes zwischen Ahura Mazda und Angra Mainyu. Mit Zarathustras Sendung beginnt die dritte Epoche. die nach dessen Vorstellung mit der Eschatologieendet. mit dem Sieg des Guten über das Böse. Der Religionsstifter und seine Anhänger erwarten diese Endzeit bereits in naher Zukunft. An der Vervollkommnung von Welt und Kosmos sollen die Gläubigen selbst mitwirken. In einer Offenbarung werden Zarathustra die beiden uranfanglichen göttlichen Geistwesen. die beiden Urprinzipien des Daseins mitgeteilt: der gute, ,.der heiligste Geist" als eine Offenbarungsform des Ahura Mazda und ,.der böse Geist" Angra Mainyu (Yasna 45.2). Mit Ahura Mazda verbindet sich das Leben. die Wahrheit und das Gute. mit Angra Mainyu die Unwahrheit. das Nicht-Leben. das Böse. Der Mensch, aber auch alle anderen Wesen und Götter haben zwischen diesen beiden Prinzipien zu wählen. wovon dann auch ihr zukünftiges Geschick abhängt. Angra Mainyu und seine Anhänger werden am Ende der Zeiten von Ahurn Mazda und seinem Hofstaat endgültig vemichlet werden und dem Tod anheimfallen. Diesem eschatologischen und kosmischen Dualismus entspricht auf anthropologischer Ebene ein ..begrifflich scharf ausgeprägter Leib-Seele-. Geist-Sloff-
H.P. Hasenfrmz. Zarnthustra. In: P. Antes (Hg.): Grosse Religionsstifter. München 1992.19. 41
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Dualismus.··.4S Dabei gehl man im seelischen Bereich von vier möglichen Erschei-
nungsfonnen des Seelischen aus. Die Grundlage für die Beuneilung des Menschen (individuelles und eschatologischesTotengericht) sind ..Gedanken. Worte und Werke". Hierbei offenbaren sich die guten oder bösen Kräfte des Menschen..,Das Schlechte Denken ist ebenso wie das Gute Denken eine im Menschen wirkende teuflische bzw. göttliche Machr".'*9 Die Wone müssen durch das gute Denken sichtbar und einsehbar gemacht werden. wobei die gute Gesinnungjene des Gottes Ahurn Mazda ist. die wiederum mit der guten Religion identisch sei: ..Man soll das Beste tun mit der Zunge durch Reden gemäß dem Guten Denken. mit den Händen durch Tun aus fügsamen Sinn".jO .. Des frommen Zarathustra Spitama Segnung und Schutzgeist verehren wir nun. des ersten. der das Gute gedacht des ersten. der das Gute gesagt. des ersten. der das Gute gelan hat. des ersten Priesters. des ersten Kriegers. des ersten seßhaften Bauern. des ersten Offenbarers. des ersten. der Offenbarungen empfing. der als ersler für sich verdient und empfangen hat: das Rind und die Segnung und das WOI1 und Gehorsam für das WOI1 und die Herrschaft und alles vom Herrn Geschaffene. wahrheitscntstammtc Gute"." Der Mensch hat durch seinen freien Willen die Fähigkeit. das Rechte und das Wahre zu erkennen und sodann die Möglichkeit. zwischen beiden zu wählen und in der Folge das Erkannte zu tun: das Gute tun im Denken. Reden und Handeln. Dies drückt sich vor allem in der Pflege der Landwirtschaft und der guten Behandlung des Rindes aus. Die Nichtbeachtung dieser ethischen Forderungen hatte zur Folge, dass sich auch ein entsprechendes Sündenbewusstsein und ein Sühnedenken herausbildeten. Religionsgeschichtlich hat Z,arathustra den Polytheismus seiner Zeit in ein dualistisches System integriert,n sodass ein spiegelbildliches polytheistisches Pantheon von Gönern und Dämonen entstand. Auf der einen Seite befinden sich jene geistigen Wesen (die Ahurns) mit Ahurn Mazda an der Spitze. Zwar ist bereits in den altavestischen Texten bezeugt, dass an der Spitzc der Götterwelt Ahura Mazda steht. aber er ist keineswegs der einzige Gon. Charakteristisch für Ahura Mazda ist seine Weisheit, die in engem Zusammenhang mit der rechten Weltordnung und der Wahrheit (asha) steht und durch die er den Kosmos als Schöpfer des Lebens erhält. Ihm entgegengesetzt wirkt Angra Mainyu, der als böser Geist und als Repräsentant der widergönlichen Kräfte (der Daevas) gesehen wird und der Ahura Maz· das gute Schöpfung mit Hilfe der Lüge (drllg) bekämpft. Die ursprünglich gute .. H.P. Hascnfrntz. Zarathuslrn. 1992, 16. .. B. Schlernth. Gedanke, Won und Werk im Veda und im Awesla. In: Anliquit3les Indogermanicae. Gedenkschrift fur H. GÜnlen. Hg. v. M. Mayrhofer u.a. Innsbruck. 1974.216. • Yasna. 47.2. 'I Yashcs. 13.88. 'l
M. Huuer. Religionen. 197-199.
Weltordnung des alten Orienls und Ägyp~,,~"~,
~17'_"_5
SchöpfungAhurn Mazdas (nutzbringende Pflanzen und gute Tiere) wurde nämlich durch die Gegenschöpfung Angra Mainyus mit negativen Elementen ausgestattet (schädigende Tiere. Ödland). Für dieses dualistische Konzept. das grundsätzlich ethisch ausgerichtet ist. ist demnach wesentlich, dass sich der Mensch durch seine eigene Wahl rur das Gute oder fUr das Böse entscheidet. Wie Angra Mainyu von den Daevas umgeben ist. so ist Ahurn Mazda der AnfUhrer der Ahuras. die in den jungavestischen Texten als Amesha Spentas bezeichnet werden und als seine Kinder gelten: Asha (..Wahrheit/richtige Ord· nung·'). Vohu Manah (..Gutes Denken/Sinn"), Khshatra Vairya (.,die zu wählende Herrschaft"), Armaiti (.,Rechtgesinntheit"). Ameretat (..Unsterblichkeit") und Haurvatat (..Ganzheit". Heilsein) bilden dabei gemeinsam mit Ahura Mazda eine Siebenergruppe. Anscheinend hat Zarathustra die abstrakten Eigenschaften Ahura Mazdas auf diese Weise in vergöttlichter und personifizierter Form in seine Verkündigung eingebaut. Im Laufe der Zeil ist diese Vielfalt der Götterwelt mannigfachen Veränderungen unterlegen: Die Vorrangstellung Ahurn Mazdas wurde zwar nicht angetastet. aber die Amesha Spcntas wurden stärker vergeistigt und zu Eigenschaften Ahura Mazdas reduziert. Diesem Prozess der Vergeistigung unterlag auch das anthropomorphe Kultbild Ahurn Mazdas (Flügelsonne mit menschlicher Gestalt). das nun nur noch symbolisch durch sein Licht im Feuer als Verehrungsobjekt dargestellt wurde. Hier hat die zentrale Funktion des Feuers im Gottesdienst der Zoroastrier ihren Ursprung (vgl ...Feuertempel"). Mit der Islamisierung Irans kam es ab dem 7. Jh. n.ehr. zu einem weiteren entscheidenden Entwicklungsschritt in der Vorstellung der Götterwelt. Die schon vorher vollzogene Vergeistigung Ahura Mazdas und der Amesha Spentas ermöglicht es nun. dass auch die anderen Gottheiten (Yazoras) als vergeistigt vorgestellt und als ..Engel" neu interpretiert werden konnten. Ahura Mazda fungiert somit nun nicht nur als höchster. sondern als einziger Gott. Damit konnte sich der Zoroastrismus gegenüber dem Islam ebenfalls auf ein monotheistisches Religionssystem berufen. Alles Streben im Zoroastrismus gilt der Abwehr der Dämonen. dem Kampf gegen den Bereich dessen, was Angra Mainyu zugehört (kultische Unreinheit) und die Förderung des Bereiches. den Ahura Mazda beherrscht (kultische Reinheit). DemAntagonismus zwischen den Göttern und Dämonen entspricht in der .,sublunarischen Sphäre" und der .,Biosphäre" der Antagonismus zwischen ..Licht und Finsternis. Tag und Nacht. Sommer- und Winterhalbjahr. Wasserreichtum und Trockenheit, Fruchtland und Wüste. Leben und Tod. Wachstum und Verfall. Ge· sundheit und Krankheit. Mensch und Raubtier, Nutztier und Ungeziefer. Im Innem des Menschen als Antagonismus von Wissen und Imum. Wahrheit und Lüge .... Für den Menschen. der sich zu Ohrma:.d bekennt. auf der ahurischen Seite steht. bedeutet das: Kontakt mit der daevischen Sphäre möglichst nur in Form des Kampfes gegen sie einerseits: andererseits Reinhaltung und Förderung der ahu· rischen Schöpfung und ihrer Elementarberciche (Wasser. Fruchtland. Heil- und
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Nutzpflanze. Haustier, Feuer. Mensch). Also: Kampf gegen Raubtier. Ungeziefer. Unkraut; Gewinnung von Kulturland, Anbau von Heil- und Nutzpflanzen, Pflege und Vcnnehrung von Haustier und Nutzvieh. Reinhaltung von Wasser. Feuer. Erde ... Vermeidung von Kontakt mit Krankheit. Tod. VerfuJl durch vorübergehende (Kranke, Menstruierende) oder definitive (Tote: .TUrme des Schweigens') Aussonderung aus dem Lcbcnsbcreich der Gemeinschaft",5l Der Kampf gegen die Unreinheit betrifft daher ganz wesentlich auch die Gemeinschaft. ihre Kultpraktiken und ihr tägliches Verhallen. Dader Mensch nach zoroastrischcrSicht dazu aufgerufen ist. um Sieg des Guten übcrdas Böse aktiv mitzuwirken, betrifft dies ganz eminent auch lebenspraklische Bereiche des Menschen, die es ständig zu verbessern gilt im Sinne der Fonsetzung des schöpferischen Handeins Ahura Mazdas. In späterer Zeit. als der Zoroastris· mus auch im Westen des Iran Fuß fasste. tral auch der Ackerbau in den Blick. sodass nun neben der Viehzucht der Ackerbau. das Anbauen und Kultivieren von Getreide cine neue Lcbensgrundlage bildetcn. In Videvdat 3. 23-33 wird dieser Situation Rechnung getragen: ,.0 Schöpfer (der stofflichen Welt) Asha Ehrwürdiger! Wer befriedigt viertens mit größter Zufriedenstellung die Erde hier?" Da sagte Ahura Mazdah: ..Wahrlich. wo Illan am meisten, 0 Spitama Z'lrathustra. durch Aussäen anbaut: Getreide und Gräser und Pflanzen mit eßbaren Früchten. indem man zur Wüste hin Wasser schafft .. , o Schöpfer der stofflichen Welt, ashaehrwürdiger! Was ist der Kern der mazdayasnischen Religion?" Da sagte Ahura Mazdah: ..Wenn man tüchtig Getreide baut, 0 Spitama Zarathustra! Wer Getreide durch Aussäen anbaut: Der baut das Asha an. der fühn die mazdayasnische Religion vorwärts." Ackerbau und die Kultivierung des Bodens werden somit insgesamt in den Dienst des Kampfes gegen die dämonische Welt gestellt. In diesem Zusammenhang ordnet Hulter die königlichen Garten- und Parkanlagen der Achaemeniden- und Sasanidenzeit ein. bekannten sich doch beide Herrscherdynastien zum Zarathustrismus. Entsprechende Pflege des Bodens und Kultivierung des Ackerlandes ist demnach ein religiöses Werk. eine Vorwegnahme der paradiesischen Zustände im Diesseits. Geht doch der Begriff .,Paradies" auf ein altiranisches Won zurück. das ..die umhegten und gepflegten Gänen bezeichnet."~ Die Erneuerung der Welt beginnt so bereits im Diesseits. Rechtes Denken. Sprechen und Handeln als die Mitte zoroastrischer Ethik beziehen sich somit in erster Linie auf die Förderung der Schöpfung Ahura Mazdas. U H.P. Hascnfratz. Zaralhuslra. 26. ~ M. Huuer. Naturvorstellungen. 25.
Weltordnung des alten Orients und Äg)'pt~,~",,--
1~7,-,-7
die auch die Förderung der Menschen und die Verbesserung seiner Lebensbedingungen miteinbezieht. Die Durchftihrung der Riten ftir das Heil der Gemeinde obliegt den Kultspe· zialisten. der Priesterschaft. wobei Laien von der aktiven Beteiligung am Kult grundsätzlich ausgeschlossen sind. Neben der Durchftihrung der Gottesdienste haben die Priester auch das religiöse Wissen zu tradieren. Als sich die in Medien beheimateten Magi dem Zoroastrismus anschlossen. die bereits vor ihrer Annahme des Zoroastrismus auf die Durchftihrung religiöser Riten spezialisiert gewesen sind. hat sich endgültig eine Priesterhierarchie herausgebildet: an ihrer Spitze standen diese Magi. Diese haben einerseits das Prinzip der Vererbbarkeil des Priesteramts in den Zoroastrismus gebracht und andererseits auch die Bedeu· tung von Reinheit und Unreinheit weiter entwickelt. sodass dieser Bereich immer stärker in den Mittelpunkt gerückt wurde. Dabei wurde die rituelle Beseitigung von Unreinheit als Aktualisierung und Konkretisierung des Kampfes für das Gute verstanden. Vor allem drei Bereiche waren eng mit Unreinheit verbunden: Unge· ziefer. Ausfluss jeder Art (Eiter und Blut) und der Tod. Neben diversen ReinheitsvoTSchriften für die Priester. deren Aufgabe es ist. dass das Feuer als Repr'Jsentant Ahum Mazdas nicht verunreinigt wird (Atem oder Speichel) und Vorschriften ftir die Einzelnen (kleinere Reinigungsriten und ..Reinigung der neun Nächte". eine Zeremonie. die jeder Zoroastrier wenigstens einmal in seinem Leben durchführen sollte). ist die tägliche Durchftihrung der Yasnaliturgie von zenl.t3ler Bedeutung. Das ist ein Opferritual mit Weihe, Pressung. Konsumation und Libation des Saftes der Haoma-Pflanze. n Am stärksten wirkt sich die Unreinheit im Bereich des Todes aus. wo ebenfalls die Dämonen die gute Schöpfung Ahurn Mazdas bekämpfen. Daher ist die Beseitigung eines Leichnams von der Frühzeit des Zoroastrismus an zu einer wichtigen Kulthandlung geworden. damit diese Unreinheit (die Dämonen) der Welt der Lebenden keinen Schaden zufUgen kann. Zu diesem Zweck wird der Leichnam in unbewohnten Gebieten ausgesetzt (..Türme des Schweigens") oder in einem Steinsarkophag beigesetzt. damit die Erde nicht verunreinigt wird. Am Dualismus von Gut und Böse bzw. von Wahrheit und Lüge orientieren sich demnach insgesamt die Praxis und Ethik dieser Religion. Der Grund liegt darin. dass Zarathustra - und das ist neu - auch von einem anstehenden ..Gottesgericht"' spriCht. Dort werden schlechte Gedanken. Worte und Werke auf den Zustand nach dem Tod. wenn die Seele vom Körper getrennt ist. Einfluss haben. Die Seele dessen. bei dem die guten Gedanken. Worte und Taten überwiegen. wird nach dem Tode ins Paradies kommen.~ Die Seele dessen. bei dem schlechte Gedanken. Won.e und Taten überwiegen. wird von der lenseitsbrücke herab in die höllische Finsternis gestürzt.SI ~
M. HUUer. Religionen. 1996. 229f. ~ Yasna. 45.11; 46.10. " Yasna. 31.20; 51.13.
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Mit dem Gedanken des "Gottesgerichtes" hat Zarathustra etwas Neues eingeführt. Ermusssich dieses göttliche Gericht am EndederZeilen. bei dem eroffenbar selbst als Richter mitwirken soll.ja als nahe bevorstehend gedacht haben (Naher· wartung).~ Vielleicht stehen aus diesem Grund zwei Vorstellungen unvermitteh nebeneinander. Auf der einen Seile wird ein individuelles Gericht über die Seele nach dem Tode des Einzelnen erwartet mit doppeltem Ausgang. nämlich Belohnung (im Reich des Lichtes) oder aber Bestrafung (im Reich der Finsternis). In diesem Zusammenhang muss der Tote die Cinvul-Brücke überqueren. die sich für den Frommen weitet. für den Sünder jedoch verengt. Der Fromme wird dabei von seinem Gewissen. das ihm in der göttlichen Gestalt der Daena entgegenkommt. ins Paradies geleitet. Dies wird bildhaft als Garten und Lichtreich Ahura Mazdas beschrieben. In diesem Zustand von Seligkeit oder Qual erwartet die Seele das Ende der Tage. Auf der anderen Seite gibt es die Vorstellung eines allgemeinen Gerichtes über die Lebenden beim endgültigen Sieg Ahura Mazdas über seine Gegenspieler am Ende der Zeilen. Seide Vorstellungen wurden dann später zu einem einheitlichen Konzept verbunden. Am Ende der Zeiten. das sich mit einer kosmischen und sozialen Katastrophe und dem Auftreten des Saoshyant (einer Messiasgestalt) ankündigt. erfolgt die leibliche Auferstehung. die Vereinigung von Körper und Seele. und daran anschließend das Gericht. Schließlich wird die ganze Schöpfung erneuert und vervollkommnet. indem die schlechte Schöpfung Angra Mainyus endgültig überwunden und vernichtet wird. Aber die Welt wird insgesamt unsterblich und ewig werden. denn Ohrmazd versöhnt am Ende alle Menschen mit sich und macht alle unsterblich.
~ YI
Yasna. 33.1. Yasna. 48.2.
Ethos de
entums
)olla"" Maier
Vorbemerkung Die Frage. ob es eine .jüdische Ethik" gibt. ist wie die Frage nach einer ,jtldisehen Philosophie" umslriuen und wird bei Anwendung strikter philosophiegeschichtlicher Kriterien verneint.' Unstreitbar ist jedoch. dass während der langen Geschichte der jüdischen Religion und desjüdischen Volkes das Ethos immer von erstrangiger Bedeutung war,l begründet durch ein effektives Wechselverhältnis zwischen lebenslangem Lernen und geregelter religiöser Praxis.) Im Folgenden geht es nicht um die Geschichte der jüdischen Ethik. sondern um Zeugnisse fUrein vom einzelnen Juden. von einzelnen jüdischen Gruppen und von der Gesamtheit der Juden (mit der Selbstbezeichnung ..Israel") gefordertes sittliches Verhalten (musar) und die damit verbundenen Probleme jüdischer Existenz. Und das im Rahmen einer geschichtlichen Größe. die sich lange Zeit unangefochten als eth· nische und religiöse Gemeinschaft zugleich definiert und behauptet hat, und diese Einheit von Religions· und Volkszugehörigkeit wird im orthodoxen Judentum auch weiterhin vertreten. Seit der Aufklärung und v.a. seit der Reformbewegung des 19. Jh. verstanden sich aber viele Juden nur mehr als Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft. und andere hielten sich - diametral entgegengesetzt - mit dem Aufkommen des modemen. säkularen Nationsbegriffs für Juden in einem nur
'z. Levy. Belween Yaphel and Sem. New YorkIFrankrun a
M. 1987. 142: "We conclude. that
a unique Jewish elhic does not exisl'·. 118. Agus. 11le Vision and the Way. An Inlerpretation of Jewish Ethics. New York 1966: G. Appel. A Ptlilosophy of Minot. 11le Religious-Ethical Concepls of Judaism. their ROOlS in Biblical Law arid the Oral Traditton. New York 1975; W. Zager (Hg.). Ethik in den Weltreligionen: Ju
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Johann Maier
ethnisch-politischen Sinne. also der Nationalität nach. In diesem wcilgespanntcn Rahmen haben sich die ethischen Anforderungen an die Gruppe und deren
Mitglieder. mit dem Wandel der religiösen Vorstcllungswelt und des Welt- und Menschenbildes immer wieder verändert." Dennoch war man in jeder Generation darauf aus. sich auf die autoritativen Quellen aus der Vergangenheit berufen zu können und beanspruchte eine mehr oder minder massive geschichtliche Konti-
nuität. Das ergab anachronistische Verwerfungen: aktuelle Anliegen wurden als Inhalte aller Überlieferungen deklariert. und alte Überlieferungen wurden gegen aktuelle Neuerungen ins Feld geführt. Die Hauptmasse dieser Quellen beSieht abgesehen von den biblischen und antiken rabbinischen Texten in religiös~mora· lischen Erbauungsschriflen. die man als Miisar-Lileralur zu bezeichnen pnegt.~ In diesen Schriften. aber auch in vielen anderen kliterarischen Kontexten. begegnel zudem immer wieder die Gattung des ma'·säh. Es handelt sich um die knappe Erzählung einer Begebenheit. die religiös und ethisch als Exempillm dient und wie kaum eine andere Lileralurgaltung Einblicke in einslige Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen ermöglicht. Die jüdische Religion war in ihren ähesten Phascn cngstens mil dem Kuli am Jerusalemer Heiligtum verbunden. aber nach der Tempelzerslörung im Jahr 70 n. Chr. hat sich nach und nach eine eher laienorientierte Richtung durchgesetzt. das sogenannte pharisäisch~rabbinischeJudentum. dessen Grundlagen bis heute in der jüdischen Orthodoxie und im Chasidismus in Gellung geblieben sind. Die Rabbinen haben jedoch keine kultfeindliche Linie vertreten. sie haben vielmehr das ganze kuhrechtliche und kultlheologische Erbe in ihre Wehsicht integrier! und ihrer Auffassung von der Offenbarung - der Torah - untergeordnet. Als Träger dieser Offenbarung entwickelten sie ein sehr protilier!es Ethos. das zwar elitäre Merkmale aufweist. aber bis zur Modeme herauf dennoch fast allgemein als Leit~ bild jüdischen Lebens Anerkennung gefunden hat und in or!hodoxen Kreisen und teilweise darüber hinaus auch heute noch als solches wirksam ist.
Religiös- theologische Grundlagen des Ethos Offenbarung als Grundlage des Ethos Die Tomh im Sinne der Offenbarung Gottes durch Mose am Sinai ist nicht mil dem Penlateuch (die 5 Bücher Moses) identisch. sie liegt nach jüdischem Glauben vielmehr in doppelter Gestalt vor: Erstens als schriftliche Tomh in den biblischen 5 Büchern Moses. wobei man 613 Vorschriften zählt. 248 Gebote und 365 Verbote. Zweitens als weit umfangreichere und für das alltägliche Leben weit wichtigere mündliche Torah. die inder rabbinischen Literaturdes2.-6.Jh. n.Chr. enthalten iSI. Die mündliche Torah wird ebenfalls auf die Sinaioffenbarung an Mose zurückgefUhr!. doch ihre Weitergabe soll bis in die talmudische Zeit mündlich erfolgt sein . • J. Maicr. Gcschichtc der jüdischen Religion. Freiburg i. Br. 11992. 'J. Dan. Hcbrcw Ethical and Homi1elic Literature (hebr.). Jcrusalcm 1975.
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Nach traditioneller jüdischer Ansicht kommt der Torah in jedem Fall die höchste Autorität zu. während ..Propheten" und Schriften'; von nachgeordneter Bedeutung sind. Prophetisches Ethos wird somit als Unterstützung des Torah·Ethos gewertet. nicht diesem gegenübergestellt. wie es auf derchrisl1ichen Seite geschah und auch im modemen Refonnjudentum vorkam. Hinter dieser dem Mose am Sinai offenbarten Torah steht nach traditioneller Auffassung der Goueswille überhaupt. die vollkommene Torah von Ps 19,8, von der ein Teil jeweils offenbar und somit aktuell absolut verbindlich ist. der andere (noch) verborgen bleibt, bis je und je mit dem Auftauchen von Einzelproblemen die dafür geltende Regelung gefunden wird (vgl. Dm 29.28). Dazu bedarf es einer kompetenten Instanz. und das war in alter Zeit eine priesterliche Institution am Heiligtum (der Prophet wie Mose von Dtn 18.15.18). Seit der Tempclzerstörung im Jahr 70 n.Chr. erklärten sich dafUr die rabbinischen Gelehrten bzw. deren Insti· tutionen für zuständig. Dabei weiß sich jeder einzelne Gelehrte in der Nachfolge des Mose zur pnege der Torah bzw. des Rechts befugt und erhebt im Einzelfall einen entsprechenden Autoritätsanspruch für seine Entscheidung. die kraf! eines Mindestkonsens der Kollegen auch allgemeinere Geltung erhalten kann. Diese Ausweitung der Torah·Kompetenz auf die rabbinische Gelehrsamkeit war auch für die Nonnierung des jüdischen Ethos von weitreichender Bedeutung. Was an Zeugnissen der Miisar-Literatur erhalten ist. stammt nämlich fast durchwegs aus den rabbinisch gebildeten Kreisen. entspricht also dem Denken und den Verhal· tensweisen einer Elitereligion. nicht unbedingt deckungsgleich mit den Denk· und Verhaltensweisen gewöhnlicher Juden. Aber infolge der Bedeutung. die manche dieser Bücher als Erbauungsschriften erhalten haben. prägten sie das allgemeine jüdische Bewusstsein doch wieder entseheidend mit. neben der Gebetslüeratur wohl am stärksten. In der Alltagspraxis waren es aber das jüdische Familienleben. die Bräuche im Jahres- und Lebenszyklus. und das Gemeindeleben. die das Ethos tatsächlich bestimmten. weil in diesem sozialen Rahmen auch entsprechend effektive Regulierungs- und Kontrollmechanismen funktionierten. Da jedoch in den Gemeinden in erster Linie jene Begüterten das Sagen hatten. die für die finanziellen Lasten aufzukommen bereit und in der Lage waren. konnte es immer wiedereinmal zu einer Diskrepanz zwischen tatsächlichen Verhältnissen und rabbinisch·elitärem Ethos kommen. Die Gemeinden waren aber fOr das Judentum als einer ausgesprochenen Diasporareligion die Grundeinheiten jüdischer Existenz überhaupt. Von daher versteht sich VOll selbst. dass ein entsprechendes Ethos des Gemeindelebens gefordert wurde. ein angemessen verantwortungsbewusstes Verhalten der begüterten und öffentlich maßgeblichen Personen und eine weitreichende Solidaritätsbereitsehaft der Mitglieder. Die Torah präsentiert sich materialiter als Grundlage des jüdischen Rechts. der Halakah. sie ist insofern Gesetz und als solches trotz der prinzipiell zugesproche· nen Vollkommenheit - wie jedes Recht - nicht in jedem Fall situationsgerecht. Es ist Aufgabe der rabbinischen Autoritäten. neue Fragen umgehend zu erörtern und zu enlscheiden. was im Einzelfall geltendes. anzuwendendes Recht (Halakah) ist.
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Doch solche Prozesse brauchen ihre Zeit. und bis dahin klafft zwischen fixierter Norm und Rechtsanspruch eine Kluft, an der die Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit, sowie Gesetz und Moral sichtbar wird. Man hat von früh an nicht nur die immer vorhandene Spannung zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und der erforderlichen gerechten Entscheidung verspürt. sondern auch die Gren-
zen geschriebener Normen für ein angemessenes sittliches Verhalten. 6 Eine bloße Erfüllung des buchstäblich Geforderten konnte kein Ethos gewährleisten. wie es die Torahtheologie und das Erwählungsdenken letztlich verlangten. So wurde von früh an ein starker Akzent auf die Intention (kmvwanah) einer Handlung gelegt und so eine betont ethische Dimension eingebracht. 1 Im Mittelalter wurde explizit von formal vorgeschriebenen (äußerlichen) Pflichten und von Herzenspjiichten gesprochen. und das Bemühen um eine effektive Verbindung beider Arten von Pflichten macht den Großteil des Inhalts der Erbauungsliteratur aus. Das hat im Lauf der Zeiten auch im Judentum allerlei Diskussionen über das Verhältnis von Torah bzw. Recht und Ethik provoziert. H Die Forderung nach einem Ethos. das die formalen Normen transzendiert. begegnet von früh an und man berief sich zur Begründung gern auf die biblische Weisheitsliteratur und verwies auf biblische Personen als Vorbilder. Seit der Aufklärung bezog man sich aber hauptsächlich auf die biblischen Schriftpropheten, die im Refonnjudentum (ähnlich wie im liberalen Protestantismus) zu Repräsentanten eines Ethos stilisiert wurden, das man selber vertrat. 9 Und somit redete man auch von einem prophetischen Judentum im Unterschied vom und im Gegensatz zum talmudischen Jlldentum. IO Für Orthodoxe hingegen blieben die biblischen Propheten weiterhin in erster Linie weissagende Geschichtsdeuler. die keine neue Torah hervorbrachten. sondern auf der Basis der Torah ethische Forderungen anmahnten.
Gottesvorstellllng lind Gottebenbildlichkeit Das judentum gilt als monotheistische Muuerreligion. doch manche der biblischen Voraussetzungen entsprechen eher einem Henotheismus. d.h. der Anerkennung und kultischen Verehrung eines Gottes unter mehreren, nämlich des Gottes Israels bzw. des Gottes Abrahams, Isaaks lind Jakobs. Es war religionsgeschichtlich erst in einem zweiten Schritt. dass dieser GOlt Israels zurn einzigen Gott schlechthin dekJariert wurde. aber dies haI die ethnozentrische Vorstellung vom Gott Israels GJ. Wenham. The Gap between Law and Ethics in the Bible. JJS 48.1997.17-29; Greenawah. Kent. Conflicts or Law and Morality. Oxrord 1987. 7 J. Neusner. Vanquished Nation. Broken Spirit. The Vinues of the Hean in Formative Judaism. Cambridge 1987. I B. Cohen. Law and Ethics in the Light orthe Jewish Tradition. New York 1957; J.D. Bleieh.1s There an Ethic beyond Halakhah1. IX WCJS C. 1986.55--62. 9 Vgl. M. Wiener. Die Anschauungen der Propheten von der Sittlichkeit. ßerlin \909: B. Kellemlann. Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische WUrdigung. Berlin 1917. 10 W. Jaeob. PrOphclic Judaism. Thc History of a Term. Journal ror Refonn Judaism 26. 1979. 6
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keineswegs ausgelöscht. Das bekannte Bekenntnis des St'ma'Jisra 'ei (Höre Israel. JHWH. Ilnser GOlt. JHWH ist Einer) aus Dtn 6,4 illustriert diesen Sachverhalt recht klar: der KOnlext handeh von der Torah und von Israel. Der traditionelle Gebelskomplex des St'ma'Jisra 'ei enthält im Kern den Text von Dtn 6.4-9und dazu noch weitere Passagen (Dln 11.13-21 und Num 13.37-41). die Torah-Denkzeichen (Gebetsriemen an Haupt und linker Hand und Mezuzol an den Türpfosten) betreffen. Dieser Kern wird durch Benediktionen gerahmt. und diese behandeln die Themen Schöpfung. Torahoffenbanmg und Heilsgeschichte bzw. Zukunftshoffnung. Es ist ein Bekenntnis. das sich nach innen richtet, der Selbstvergewisserung dient. Als jüdisches Märtyrergebet wurde es aber ein demonstratives Bekenntnis zum Gou Israels als dem einzigen und einen Gou auch nach außen hin. Israels Funktion ist es. durch das Bekenntnis zum Bundesgott und durch die Praktizierung der Bundesverpftichtung (der Torah) vor den Augen der Welt völker den Gott Israels als den Gou schlechthin zu bezeugen und zu heiligen. Diese Zcugenfunktion ist für das jüdische Ethos von grundlegender Bedeutung. denn sie obliegt der Gesamtheit Israels und insofern dem Einzelnen in doppelter Verantwortlichkeit: sowohl gegenüber der Bundesgemeinschaft wie gegenüber sich selbst. und in dieser Doppelheit gegenüber Gou. Das Judentum hat keine dogmatische Theologie entwickelt. nurzuzeiten und in el itären Kreisen kam es infolge der Orientierung an philosophischen Vorstellungen zu einem systematischen Überdenken der Gottesvorstellungen und der Möglichkeiten der Gotteserkenntnis. Gleichwohl war man sich dessen bewusst. dass die Vorstellung von Gott als dem Weltschöpfer die Grenzen der persönlichen und ethnisch-kollektiven Erfahrung sprengt und eine universale Sichtweise verlangt. So ergab sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Galt der Philosophen (also einer Golteslehre) und dem lebendigen GOlt als dem Gott Israels. wie er in der eigenen Geschichtstradition beschrieben worden war und wie ihn das Mitglied des Volkes Israel zu erfahren glaubte. Das ist weithin identisch mit der Spannung zwischenJernem Gott und nahem Gott. dem verborgenem Galt und dem offenbarem Gott. Für die Prägung des jüdischen Ethos ist diese Spannung jedenfalls von grundlegender Bedeutung. Das Gouesverhältnis wurde als Bundes- bzw. Vertragsverhältnis auf Wechselseitigkeit verstanden, so dass göttliches und menschliches (genauer: jüdisches) Verhalten korrespondieren. In der Gebetsliteratur kommt dies in der rhetorischen Frage zum Ausdruck: "Wer ist wie Du. ein Gott ... und wer ist wie Dein Volk Israel ...... Dem eillell Gott entspricht das eille Volk. und damit wird auch ein Ethos gefordert. das dieser exklusiven Korrelation entspricht und der Forderung nach Altruismus. soweit sie zur Debaue steht. Schranken selZt. ll Folgerichtig ist in der jüdischen Ethik die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit kein Thema von so zentraler Bedeutung geworden. wie es von den
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schöpfungstheologischen Voraussetzungen herzu erwarten wäre. 12 Als allgemein. menschliches Konzept kam die Gouebenbildlichkeit allerdings bei minelalterli· ehen Autoren zum Zug. die sie an die VemunftseeJe der neuplatonischen Tradition bzw. an den Intellekt der aristotelischen Philosophie gebunden haben. Es gibt auch die erwählungslheologische Deutung. wonach die Gottebenbildlichkeit mit dem Sündenfall verloren gegangen ist. Israel aber dank der TorahOffenbarung über die Möglichkeit verfugt. sie wieder zu realisieren. In dem Zusammenhang sind Äußerungen polemischer Natur zu finden. die ichtjuden und abtrünnige Israeliten mit einer gewissen Folgerichtigkeit auf eine Stufe mit dem Vieh stellen. Aufs Ganze gesehen dominiert aber doch die realistisch- schöpfungstheologische Sicht. die den Menschen allgemein als vernunfl· und sprachbegabtes Wesen vom Tier unterscheidet. als eine Art Repräsentation der Herrscherfunktion Gottes betrachtet und insofern Ober alle anderen Geschöpfe erhebt. Maßgeblicher als theologische Aussagen ist die Wertung des Menschen. wie sie in den praktizierten zwischenmenschlichen Beziehungen zum Tragen kommt. Die biblischjüdische Tradition hat stets großen Wert auf die Elternehrung und auf die Ehrung der Alten überhaupt gelegt.!.l)n diesem Zusammenhang wurde das Gebot in Lcv 19.32: ..Vor dem weißen Haar erhebe dich!" expressis verbis auch auf Nichtjuden bezogen (bTalmud. Traktat Qidd,isill 32b--33b). und zwar aus Respekt vor dem Erlebten. vordem menschlichen Schicksal allgemein. Lev 19.32 gebietet die Ehnmg von Hochbetagten allgemein und von Gelehrten im besonderen. und zwar als einen Akt der Imitatio Dei. denn Gou selbst erflillte z.B. dieses Gebot. indem er nach Gen 18,1-2 vor dem greisen Abraham sland"~ Das modeme. aufgeklärte Judentum. das sich als ethische Vemunftreligion definierte. griff entschlossen auf die universal konzipierte Gouebenbildlichkeit zurück. berief sich auf entsprechende mittelalterliche Ansätze und betonte im Sinne der Aufklärung die Lehre von der unsterblichen Seele und die allgemeinmenschliche Vernunft. 1S womit die Frage einer autonomen Ethik auch für das Judentum akut wurde. und auch der Gedanke der Menschenrechte fand damit einen entsprechenden Platz. I/) Doch konnte man allgemeine Menschenrechte auch in der
Vgl. M. Buber. Nachahmung Gones. in: ders.. Werke. Bd. 11 Hcidelberg 1964. 1053-1065; A. Altmllnn. Homo Imago Dei in Jewish and ChriSlian Theology. JR 48. 1968.235-258. vgJ. darüber hinaus: H.P. Malhys (Hg.). Ebenbild Gottes - HCrTSCher über die Welt. Sludien zu Würde und Auftrag des Menschen. Biblisch-lheol. SI. 33. Neukirchen 1998: K. Breitsching (Hg.). Der Mensch - Ebenbild Gones. Vonrnge der drillen Innsbrocker 1beologischen Sommertage 2002. 'Theologische Trends 12. Thaur 2003. lJ J. Maler. Dle Wertung des Alters in der jüdischen Überliderung der Spätanlike und des frühen Minelahers. Saeculum 30.1979. 35S-364. la Pa!. Talmud. Traktal Bik1t.urim 111.3. f. 65c: Ro' ~ ha·1a,nah 1.3. f. 57b: Midrasch Leviticus Rabbah XXXV.): Jalqut Shim'oni I. § 670. I) S. Ben-Chorin. Was ist der Mensch? Anthropologie des Judenlums. Tübingen 1986. I. L FinkeIslein. Human EqualilY in Ihc Jewish Tradition. in: L. Bryson (Hg.). Aspects ofHuman Equality. Fiflcenth symposium of the Conferena: on Sciena:. Philosophy and Religion. New Vor\: 1956. 179-205. A. Kaplan. Human Relations and Human Rights in Judaism. in: A. S. R~nbaum II
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Konzeption der lIoachidischen Gebote (s. unten) verankert sehen und insofern selbst im traditionellen jüdischen Recht vorfinden. Vor allem liberale jüdische Richtungen haben sich folglich im 19. und frühen 20. Jh. entsprechend energisch JX)litisch engagiert; und manche Autoren versuchen, sie auch heute entsprechend zur Geltung zu bringen. ll Doch die Argumentation verläuft auch gegenläufig: Manche empfinden die Hinweise auf Menschrechte und internationales Recht als Mittel zur Anschwärzung Israels und rügen daher insbesondere sogenannte NGO (Non Govennental Organisations) wegen ihrer Aktionen. IR Gottes Heiligkeit und Israel als heiliges Volk Gott wird in der biblisch-jüdischen Tradition als heilig (qadoS) bezeichnet, er wird der Heilige genannt, vorrangig der Heilige Israels. Wer und was zu GOlt gehört, soll daher ebenfalls heilig sein. Das gilt somil für Israel als erwählles Volk. für seinen Lcbensraum. das Land Israel. und für die damit verbundenen Institutionen. vor allem das Heiligtum. den Tempel. Ex. 19,6 definiert Israel als "Herrschaft von Priestern und ein heiliges Volk". was kein allgemeines Priestertum bedeutet. wie es die christliche Auslegung sieht. sondern eine klare Zweiteilung Israels in eine herrschende Kultdienerschafl und ein beigeordnetes Laienvolk. Die soziologische Makrostruktur Israels ist von daher bestimmt: Israel bildet ein Heiliges innerhalb der Völker. die Fremdkll/rell huldigen und einen rituell unreinen Bereich darstellen. von dem sich Israel abzusondern hat. wobei Vorschriften über rituell Reines und Unreines. speziell Speisevorschriften,eine hervorstechende Rollespielen. Die Laienisraeliten, oft einfach als Israel(itell) bezeichnet. werden im Heiligkeitsgrad übertroffen von der (genealogisch als Stamm Levi definierten) Kultdienerschafl (Leviten und Priester). Personale Erwählungsheiligkeit und dinglich-rituelle Heiligkeit, in der Modeme gern gegeneinander ausgespielt, waren von früh an miteinander verbunden. auch nach der Tempelzerstörung. Denn die rituellen Anforderungen blieben (Hg.). The Philosophy of Human Rights. Westpon. er. 1980.53-85: D,F, Polish. Juduism und Human Rights. in: A. Swidler(Hg.). Human Righls in ReligiousTraditions. New York. 1982.40-50: M.A. Fishbrme. The Image of the Human and the Righls ofthe Individual in Jewish Tradition. in: L.S. Rouner (Hg.). Human Rights and thc World's Religions. NOlre Dame 1988. 1988. 17-32: MJ. Broyde. (Hg.). Human Rights in ludaism-Cultural. Frcligious. and Politieal Perspectives. Nonhvale. NJ 1998: M.R. Konvitz (Hg.), ludaism and Human Rights. New Brunswick.. NJ. 1200 I. 11 M.R. Konvitz. Human dignity _ from crealion to conslilulion. A philosophy of human rights from the standpoinl of Judaism. in: A. I. KatshIL. Nemoy (Hg.).Essays on the Occasion of Ihe Seventieth Anniversary of the Dropsie University (1909-1979) Philadelphia 1979. 297-306: S.D. Brcslaucr. Judaism and Human Rights in Contemporary Thought. Westport 1993: H.H. Cohn. Human Rights in Jewish Law. New York 1984: L.E. Goodman. Judaism, Human Rights. and Human Values. New York 1998: S. Stone. A Jewish pcrspcelivc on human rights. Society 41 (2. 2004. 17-22: D. Krelzmcr. Human rights. Israel Affairs 11.1. 2005. 39-64. I1 Steinberg. G. M.. Abusing (he legaey of (he Holocaust: Ihe role of NGOs in cxploiting human righls (0 demonize Israel. Jewish Politieal Studies Review 16.3-4.2004.59--72. Vgl. auch M. Mazo\Vcr. The strange triumph of human rights. 1933-1950. HiSlorical JoumaI47.2. 2004.379-398.
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- rabbinisch an die tempellose Situation adaptiert - weiter aufrecht, auch wenn die Kompetenz von der priesterlichen zur rabbinischen, rechtsgelehrten Instanz gewechselt haue. RiluelleGesichlspunktc fallen als Minel der Heiligulig natürlich besonders ins Auge und wurden darum von Außenstehenden manchmal als derart
religionstypisch eingeschätzt, dass man oft einen Gegensalz zwischen Kull/Ri· {ual/Geselz und Moral postuliert hai. Das entspricht indes nicht der Tradition im Judentum selbst. Man war sich der Tendenzen zu einer äußerlichen Ritualpraxis sehr wohl bewusst. sah aber in einer gedankenlos rilualislischen Lebensgestaltung im Sinn der Tradition immer noch einen Vorteil gegenüber einer Preisgabe des Brauchtums. denn die fonnale Wahrung der Kontinuität geWährleistet wenigstens kommenden Generationen die Möglichkeit einer bewussten Religions· ausübung und Lebensführung. Die nie ganz ausräumbare Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit bzw. Gesetz und Moral blieb freilich trotz der Betonung der Vollkommenheit der Torah ein Problem. das allerdings nicht auf einen Mangel in den Grundlagen zurückgeführt wurde. sondern auf die Unzulänglichkeit der zuständigen und verantwortlichen menschlichen Instanzen. Aufgabe Israels ist es also. sich zu heiligen. um Gott heiligen zu können. d.h.: den GOIt Israels unter den Völkern als Goll schlechthin glaubhaft bezeugen zu können. Das beinhaltet oft weit mehr. als es die konkreten Vorschriften der Torah und Tradition verlangen. denn es geht um den Eindruck. den das Verhalten Israels bzw. eines Israeliten in der Öffentlichkeit bzw. nichtjüdischen Umwelt bewirkt: ein Eindruck. der nicht nur den einzelnen Israeliten oder die Judenheit insgesamt berührt. sondern das Ansehen des Golles Israels betrifft. Sinn und Ziel der tradi· tionellen Frömmigkeit und des traditionellen Ethos. also der eigenen Heiligung. ist somit die Heiligung des Namens (Gottes), der qiddfis ha-Sem. Fehlverhalten gilt darum als Entweihung des Namens (Gottes). als !lillIU ha-Sem. Im äußersten Fall. wenn GOlleslästerung. Unzucht oder Blutvergießen zugemutet wird. gipfelt die Heiliguflg des Namens sogar im Martyrium.
GOlfes midd{)t und menschliches Verhalten Für die religiöse Begründung des Ethos wurden im Judenlum von biblischen Zeiten an bestimmte Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen Goltes als vorbildlich vor Augen geführt. was eine Art von Imitatio Dei bedingl. 19 Dies ungeachtet der immer wieder betonten Andersartigkeit und Unvergleichkeit Goltes selbst. der selber eben nicht wie Fleisch lind Blut handelt. Bestimmte Begriffe aus solchen Kontexten blieben durchgehend von grundlegender Bedeutung. So etwa die Gerechtigkeit «(ädäq) Goltes. schon biblisch betont hervorgehoben und Inbegriff einer Haltung. die unter Berücksichtigung aller Umstände urteilt und solidarisches
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Brocke...Nachahmung GoUes" im Judentum. in: A, Falaturi (Hg.) U.3•• Drei Wege zu einem GOIt. Frciburg i. Br. 1976.75-101: W.Z. Harvey. Holiness: a command 10 imitalio Dei. Traditon 16.3. 1977.7-28: N. Lamm. Noles on lhe Concepl orJmitalio Dei. in: L Landman (Hg.). Rabbi Joseph H. LockSlcin Memorial Volumc. Ncw Yorlo: 1980.217-229.
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Verhalten einschließt. Wohl zu unterscheiden von der Strenge Gottes. der middat ha-dIll, der Verfahrensweise des (strengen) Gerichts, die als solche verheerend wirkt und erst durch den Einfluss der middat IIO·raaQm;m, der Verfahrensweise des absoluten Erbarmens. jenes ausgewogene Mittelmaß der Gerechtigkeit erreicht. mit dem Gott den dauernden Bestand der Schöpfung zustande gebracht hat,lO Gerechtigkeit als Inbegriff des Ausgleichs begegnet auch in der mystischen Theologie der Kabbalah. und nach ihr wirkt die Gerechtigkeit überdie kosmischen Dimensionen hinaus als Garant für die Harmonie der emanierenden göttlichen Wirkungskräfte, der Sefirot,21 Das Bewusstsein der Gefahrlichkeit extremer Ver· haltensweisen (wie absolute Strenge und bedingungslose Güte) und der existenzsi· chemden Bedeutung des Ausgleichs ist rur jüdisches Ethos folglich grundlegend. Der Gerechte ist daher in der jüdischen Religion (mit Ausnahme des osteuropäischen Chasidismus) auch keine elitäre Figur. sondern gerade als Repräsentant des Ausgleichs das FUlidamenr der Welt (Prov 10.25). so wie die Gerechtigkeit den Bestand der Gesellschaft garantiert. 22 Unler diesen Voraussetzungen wird das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sowie Gerechtigkeit und Recht definiert. v Nun muß Recht aber auch durchgesetzt werden. und das bedingt eine entsprechend legitimierte Gewaltanwendung und Ahndung von Verstößen gegen geltendes Recht. und Konflikte mit geltenden Normen überhaupt: ein Umstand, der realistisch wahrgenommen und auch immer wieder als ethisches Problem empfunden worden ist. 24 Problematisch wird die Forderung nach Recht und Gerechtigkeit freilich. wenn sich die Überzeugung durchsetzt. die Endzeit und somit die endgültige und uneingeschränkte Durchsetzung der Torah sei gekommen oder zumindest im Anbruch begriffen. In diesem Fall wird nämlich Kompromisslosigkeit gefordert und dementsprechend schroff lautet die zugemutete Alternative: Gehorsam gegenüber dem Gotteswillen oder Gouesfeindschaft. Dabei wird die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung des Gotteswillens zum Gebot der Stunde. Messianische Bewegungen haben folglich stets schwere innere Zerwürfnisse über die richtige Einschätzung des göttlichen Heilsplans und die situationsgerechte Torahpraxis und dazu mitunter auch noch heillose Konfrontationen mit der Umwelt heraufbeschworen. Das dabei geforderte kompromisslose, also extreme und unausgewogene Torah-Ethos stellt in den Augen jener, die die Zeit für noch J. Krasovec. La justice (Sdq) dc Dieu dans la Bible hCbrai'que et l'interpretation juive et chretiennc. Fribourg 1988. l' G. Scholem, Zaddik: der Gerechte. in: dcrs.. Von der mystischen Gestalt der GOlthcit. Zürich 1962.83-134. l~ R. Mach. Der Zaddik in Talmud und Midrasch. Leiden 1957. 1] G. Bodendorfer. Die Spannung von Gercchligkeit und Bannhenigkeit in der rabbinischen Auslegung mit Schwerpunkt auf der Psalmcninterprctation. in: R. Seoralick (Hg.). Das Drama der Bannhenigkeit Goues. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgcschichle in Judentum und Christentum, SBS 183. Stuttgart 2000. 157-192: H.H. Cohn. Thc Concept of Justicc in Jcwish Law. Santa Barbara. CA 1976. 1< P. Y. Mcdding (Hg.). lews and Violence: Images. Ideologies. Realities. Studies in Contemporary lewry 8. OxfordfNew York 2003. lD
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nicht reif halten, aber eine Verkehrung dessen dar. was die Torah sein soll: Sie wird ja als Gesell des Lebens gewertct.25 als Ordnung des gougefalligen, rechten Lebens, aber die pseudo·messianisch motivierte Gewalt führt zu Konflikten und im Extrem zum Tod. Messianische Bewegungen führen das jüdische Ethos jedes Mal in eine Bewährungsprobe. denn den Skeptikern wird auf Grund dieser Geschichtsauffassung vorgeworfen, die endzeitliehe Stunde. die letzte Chance der Geschichte, zu versäumen und zu vertun. Und dies angesichts der Konfrontation mit der Umwelt und den herrschenden Mächten unter einem überspitzten Solidarisierungszwang. denn in einer solchen Lage wird fast automatisch der Vorwurf laut, dass einer seiner Gemeinschaftsverpflichtung nicht nachkommt und zum Verräter wird. wenn er nicht mitmacht. Gott wird vom biblischen Sprachgebrauch her vor allem in der Gebetsliteratur auch als/urclltbarer Gott bezeichnet. Dasdeutsche Wort klingt zu negativ und lässt die neben dem zugleich gebrauchten Attribut großer die Konnotation ehr/lire/'· terregender nicht ohne Weiteres erkennen. Dennoch hat die Furcht vor GOIt ihren Platz, denn GOlt vergilt das Gute wie das Böse. Die gougcgebene Möglichkeit freier Willensentscheidung zwischen GUI und Böse gehört mit der Vorstellung der Vergeltung. von Lohn und Strafe als Konsequenz menschlichen Handeins. zu den Grundlagen des jüdischen Rechts und Ethos. 26 Es wurden zwar dann und wann auch abweichende Ansichten vertreten. aber gerade die Gebets- und Erbauungsliteratur spricht diesbezüglich eine eindeutige Sprache. Philosophierende Ethiker haben zwar daraufbestanden, dass es bei richtigerGotleserkenntnis und korrektem sittlichen Verhalten solcher Lock- und Drohmittel nicht bedarf. falls aus lauterer Liebe zu GOlt und zum Nächsten gehandelt wird und nicht aus Furcht. oder um Vorteile zu erlangen. Aber selbst solche Autoren sahen darin nur ein Leitziel und anerkannten die pädagogische Notwendigkeit des Prinzips der Vergeltung. um den erkenntnismäßigen und ethischen Vervollkommnungsprozeß in Gang zu bringen und voranzutreiben. Gottesfurcht wurde auf diesem Hintergrund nicht als Empfindung von Schrecken und Angst verstanden. sondern als ehrfürchtige. die Folgen der eigenen Handlungen bedenkende Erfüllung des Gotteswillens. der Torah. Furcht (jir 'all) bedeutet in solchem Zusammenhang soviel wie praktizierte Religiosität und daher kann dieser Begriff auch mit dem Begriff Liebe wechseln. Die Verbindung vonfiirehten und lieben ist außerdem durch das Bild des VaterGottes vorgegeben, und auch in der Anrufung Gottes als König, da es dabei nicht nur um den Aspekt des Herrschens geht. sondern auch um den der Königspflichten (Schutz und Fürsorge). Wird Gott so als Vater angesprochen. zeigt sich ebenfalls die Doppelheit eines universalen Ansatzes und einer erwählungstheologischen Lev 18,5: ..Und ihr haltel meine Vorschriften und meine Gesetze. die ein Mensch tun soll. damit er durch sie lebe". Vgl. Ez 20.11.13.21. Der Vers wurde sowohl auf das irdisehe wie auf das jenseitige Leben (in der Kommenden Weft) gedeutet. 16 C. Zimmerrnan. Thc Halachic System of Rcwatd and Punishmcnt, Annual Volume of Toroh SlUdics I, 1987, 151-174; L. Jacobs. A Jewish Thcology, London 1973, 260ff (Reward and PunishmcllI). 2S
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Zuspitzung. die in der Anrede als "r/ser Vater zum Ausdruck kommt. so wie der Piuraillr/ser in so gut wie allen Gebeten vorherrscht. Gott gilt wohl als Vater aller Menschen bzw. Völker. Israel aber als erstgeborener Sohn. und das meldet eine Rangfolge und im Sinne des biblisch-jüdischen Personenrechts (speziell Erbrechts) auch einen Anspruch an. Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen wird in Gebeten und in der ethischen Literatur oft als Herausforderung zu analogem Verhalten dargestellt. In erster Linie gilt dies für für Israel. weil Gott seinem VoLk die Torah anvertraut hat, das "Gerät. mit dem die Welt erschaffen wurde" (Abot dO-R. Natan B 44.5). Israels Gouesliebe manifestiert sich folglich in der willigen Annahme und gehorsamen Praxis der Torah und in einem der Liebe Gottes entsprechenden Ethos. das oft als Aufsichnehmen des Joches der Herrschaft des Himmels (d.h. Gottes) bezeichnet wird. Je nach Kontext konnte dieses Verhältnis als eines zwischen König und Untertan. Herrn und Knecht bzw. Sklaven. oder Vater und Sohn bzw. Vater und Kindern veranschaulicht werden. Der strafende und rächende GOll Israels und davon abgeleitet eine spezifisch jüdische Rachsucht ist von den übrigen Aspekten isoliert ein judenfeindliches Schlagwort geworden. In diesem Zusammenhang wurde oft das angeblich so kennzeichnende Prinzip der Talion (Ex 21,22-25; Lev 24.17-21: Dtn 19.21)21 angeführt. ein Topos der antiken Rechtsgeschichte. 28 den man zu einem Wesensmerkmal jüdischer Moral gestempelt hat. 29 Tatsächlich haben die Vorstellungen von Lohn und Strafe und auch das Bedürfnis nach Vergeltung ihren Platz sowohl im Recht wie in der Ethik. und selbstverständlich besteht immer ein Zusammenhang zwischen denjeweiligen konkreten Erfahrungen und Empfindungen. Abzuwägen, wieweit Vergeltungsaktionen des Staates Israel und bestimmter jüdischer Organisationen noch in diesen Rahmen passen oder eher der antisemitischen Behauptung eines monströsen jüdischen Rachegottes und einerspezifischjüdischen Rachsucht entsprechen. oder wie dergleichen zwischen Heiligllng des Namens und E1l1weilI/mg des Namens anzusetzen wäre. ist allerdings eine Gretchenfrage, die jeweils von den Akteuren selbst beantwortet werden muss. In den Bereich der sogenannten Anthropopathismen führt das Gegensatzpaar Liebe und Hass. Was immer dazu im Judentum selbst theologisch-kritisch und philosophierend ausgesagt worden ist, die Tatsache, dass von der Bibel an beide Verhaltensweisen Gott sehr häufig zugesprochen wurden und emotionale Wirkungen auslösen. ist eine Tatsache. Insofern eben auch ein Problem jüdischer Ethik und - verabsolutiert - eine Angriffsftäche für Kritiker und Feinde des Judentums. Im Unterschied zur deutschen Übersetzung enthält das hebräische Wortpaar ein n R. Martin·Achard. Reccnts traveaux sur la loi du talion selon I' Ancienl Testament. RHPhR 69.1989.173--188. 1lI E. 0110. Dic Geschichtc der Talion im Alten Orient und Ismel. in: ders.. Kontinuum und Proprium. Wiesbadcn 1996. 224-245. .!'>L. Schwienhorst-Schönberger. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Zu einem antijüdischen Klischee. Bibel und Liturgic 63. 1990. 163-175.
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geringeres emotionales Potential und signalisiert eher Anerkennung/Zuneigung und Ablehnung. Wenn es jedoch um Götzendienst und Gottesfeinde gehl, kommt auch der emotionale Faktor voll zur Wirkung. Der Israelit ist damit als Bundes· Mitglied gefordert, dem Urteil und der Haltung Gottes Rechnung zu tragen, wie es unverblümt Ps 139,21 formuliert: ,,(21) Soll ich nicht hassen. Herr, die dich hassen, deine Gegner nicht verabscheuen [oder: befehdenJ? (22) Ich hasse sie
mit tiefstem Hass, zu Feinden sind sie mir geworden!" Und wie ernst man dies für den Fall einer Konfrontation intern genommen hat, illustriert der Abschluss der 13 Glaubensartikel des Mose ben Maimon: "Wenn aber bei einem Menschen eine von diesen Grundlehren erschüttert worden ist, dann ist er aus der Gesamtheit Israels ausgeschieden. hat die Grundlehre schlechthin geleugnet und wird Häretiker, Epikureer, und einer, der Pflanzungen abschlägt, genannt. Es ist Pflicht, ihn zu hassen und ihn zugrunde zu richten, und über ihn heißt es (Ps 139,21): Sollte ich die nicht hassen. Herr. die dich hassen?"» In der jüdischen Tradition und nicht zuletzt auch in der synagogalen Liturgie. insbesondere der Buß- und Fasttage. nehmen die Verse Ex 34,6--7 einen besonderen Platz ein. Sie gelten alsAufl istung der midd6t. der Eigenschaften (oder besser: Wir· kungswei sen) Got tes. au fdies ich die bußfertigen Beter IsraeIs aufG ru nd des Bundes Gottes mit seinem Volk berufen können. die aber auch als Vorbild für das menschliche Verhalten dienen sollen. Man hat in diesen Versen 13 midd6t gefunden, wobei auch Zahlensymbolik eine Rolle spielt. denn der Zahlenwert der Buchstaben von 'h.d (eins/einer) ist (I +8+4) 13, und in der Kabbalah wurden sie mit den 10 Sefirol. den emanierenden göttlichen Wirkungskräften, in Verbindung gebracht. Außerdem kam eine weilere Dreizehnergruppe mit ins Spiel. eine rabbinische Zusammenstellung von 13 exegetischen Methoden fürdie Bibelauslegung bzw. Bibelanwendung. Es handeh sich um die Begründung einer Imitatio Dei. auf die sehr häufig und mit stereotypen Fonnulierungen Bezug genommen wurde. Der Wortlauf der Bibelverse bereilet indes einige Verständnisschwierigkeiten, denn es spricht ja die Gottheit zu Mose. Nach dem Talmud l' hat Gott in dieserExoduspassagedem Mose vorgeführt, wie man belen soll. und wenn das Gebet nach diesem Vorbild und in einem Minjall, in einer Teilnehmerschaft von mindestens 10 kultfahigen Männer. rezitiert wird. sei es auch entsprechend wirksam. Die Aufteilung der beiden Verse auf 13 mitltl6t ist freilich nicht ohne Weiteres nachvollziehbar und wurde von manchen mittelalterlichen Autoren auch auf verschiedene Weise vorgenommen. Die gängige Aufzählung lautet: (I) JHWH. (2) JHWH. (3) GOlt, (4) bannherzig und (5) gnädig, (6) langmütig. (7) reich an Gnade und (8) Wahrheit. (9) Gnade bewahrend für Tausende (von Generationen), (IO) Verschuldung aufhebend. (li) Übertretung und (12) Sünde (aufhebend), aber (13) sicher nicht freisprechend. J. Maier. Die Feinde Gottes. Auslegungsgeschichtliche Beobachtungen zu Ps 139.21 f.. in: M. HulterlW. KleinlU. Vollmer (Hg.). Haircsis. Festschrift f1Ir Karl Hoheiscl. JAC.Erg.-Bd. 34. Münster 2002. 33-47: rev. Fassung in: ders.. Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Geschichte. STJ 28. Berlin 2004. 405-424. "Traktat Ro J ha·fanah 17b (vgl. Midrnsch Sifre zu Dtn § 49). JO
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Diese 13 midd6t Gottes von Ex. 34 sind in die Szenerie des Sinaibundes eingebaut, es ist Israels GOlt. der sich damit Mose gewissermaßen "vorstellt". Die volle inhaltliche Bedcutung kommt daher auch erst in der Bundesverpftichtung zum Ausdruck, der sogenannten Torah, von der es heißt. dass Gott selber sie studiert. Ihrer Verankerung in derGebetstradition verdanken die 13 middof eine entsprechende bewusstseinsbildende Wirkung. Doch es wirkte weniger der Tex.twortlaut als seine Ausdeutung, und die stellt zweierlei heraus: die göttliche, vergebende Zuwendung zum Bundespartner Israel, und die Funktion der middOf als Basis und Motto des jüdischen Ethos. Die 13 middIJt werden noch heute dementsprechend zu erbaulichen Zwecken verwertet. etwa zu 13 Charakterbildern ausgebaut im Internet für wöchentliche religiös-erbauliche Betrachtungen angeboten. Die Imitatio Dei der jüdischen Tradition bleibt in den Grenzen, die durch den Gegensatz zwischen Gottheit und Geschöpf vorgegeben ist. Man ist sich der Geschöpflichkeit und der durch sie bedingten Unzulänglichkeit des Menschen bewusst. Demutsbezeugungen bzw. Niedrigkeitsbekenntnissc sind ein bedeutsamer Bestandteil der Gebetsliteratur und machen die Begrenztheit der menschlichen Möglichkeiten deutlich. Es gibt dahcr auch nicht dic Vorstellung von einem vollkommcnen homo religiosus. sofern man von der Mosegestalt absieht. der man in mittelaherlichen Texten in seiner Funktion als Torah-Offenbarer eine geradezu engelgleiche Stufe der Goueserkenntnis zugemessen hat. Man beruft sich im Gebet vor GOlt ausdrücklich auf diese geschöpftiche Unzulänglichkeit und hofft auf Goues Nachsicht auf Grund seiner Gerechtigkeit (fädäq). Von daher ergab sich von selbst die Tendenz zu einer realistischen Ethik des Mittelwegs. Sie steht in der Antike der Ethik der stoischen Weisen nahe, im Mittelalter ist sie der aristotelischen Miuelwegethik verwandt. an die teilweise auch bewusst angeknüpft wurde: und innerhalb der allgemein vorherrschenden neuplatonischen Weitsicht wirkte sie als Korrektiv gegen dualistische und weltftÜChtige Tendenzen. In diesem Rahmen hat auch der Dekalog einen - allerdings nicht besonders prominenten - Platz. Er ist untcr hcllenistisch gebildeten Juden der Antike als Quintessenz der Torah stärker herausgestellt und (auch später noch) von einzelnen Autoren als Ordnungsprinzip für eine systematisierende Darlegung der Torah be· nützt worden. Er gilt als Bestandteil der Torah und bis zur Reformbewegung des 19. Jh. nicht etwa als ein ethisches Programm. das dem Gesetz gegenübergestellt werden könnte. 32 In einer Überbetonung des Dekalogs sah man bis zur Aufklärung eher eine Gefahr. nämlich eine Minderung der Autorität der Torah insgesamt, weil dabei eine kleine Gruppe von Gesetzen als höherwertig und der große Rest als eventuell belangloser erscheinen kann. Daher blieb man auch gegenüber gelegentlichen Versuchen. eine Art Quintessenz der Torah zu formulicren bzw. nach dem größten Gebot zu fragen, recht zurückhaltend.
Chouraqui. A.• Les dix commandemenlS aujourd llui. Dix paroIes pour rCconcilier 11lommc ave<: 11lumain. Paris 2000. 11
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Die Torah als universale Ordnung der Schöpfung und des lebens Schöpjungstheo[ogischer Realismus und heilsgeschichtlicher EtllllOzentri,WlIllS Die Zuspitzung auf die Envählungsgemeinschaft Israel spiegelt sich schon in der biblischen Urgeschichte: Gen 1-11 ist als Vorspann zur Geschichte Israels konzipiert, zugleich auch als Ausdruck einer realistischen Weitsicht. Der Ausgangspunkt (Gen 1-3) ist die Schöpfung der Welt und des Menschen, wobei ein guter bzw. "sehr guter" Urlustand vorausgesetzt wird. der jedoch nur dem ersten Menschenpaar für begrenzte Zeit beschieden war. Die manchmal kolportierte BehauplUng. das Judentum sei - im Gegensatz etwa zum Christentum
- welt- und leibbejahend, trifft nur bedingt zu. Mit Sündenfall und Vertreibung aus dem ..Garten Eden" ist die Menschheit a) mit der Sterblichkeit und der Notwendigkeil der Fortpflanzung. und b) mit dem Zwang zur Ernährung und SelbsterhallUng durch Arbeit konfrontiert. Beide Lebensbedingungen werden nüchtern zur Kenntnis genommen. Kemnzeichnend ist eine sehr realistische Einschätzung des Selbslerhaltungs- und Fortpflanzungstriebes. Der Mensch verfügt eben über eine positive und eine negative Inklination Uefär tob und je(.'är ra·). also auch über ein Gewaltpotential. aber die Torahfrömmigkeit verschafft ihm - jedenfalls als Israeliten! - die Möglichkeit einer ausgewogenen Handhabung der beiden.}) Die Ambivalenz menschlicher Fähigkeiten wird in Gen 4 sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Dass die zivilisatorischen Errungenschaften den Nachkommen Kains zugeschrieben werden. verrät ein gehöriges Maß an Skepsis. und spätere Ausgestaltungen dieses Stoffes (z.B. äth. Henoch 6-36) haben die Konturen noch härter ausgezogen. Der ..Fortschriu" trägt den Verfall in sich: Mit dem Städtebau entstehen Machtkämpfe. die Metallbearbeitung führt zur Waffenproduktion. und die Kosmetik ist mit magischen Künsten verbunden.,l4 Dazu komme noch die Annahme, dass überirdische Mächte negativ einwirken (Gen 6.1-4). Der Schöpfer selbst sucht die verfehlte Entwicklung durch die Sintflut (Gen 6-9) zu beheben. verspricht aber dann im Noahbund. eine derartige Strafaktion nicht mehr zu unternehmen. Der gerettete Noah wird so zum Stammvater der eigentlichen Menschheit, doch in seiner Nachkommenschaft kommen die allen Übel wieder zur Wirkung. wie mit der Tunnbaugeschichte (Gen 11) illustriert wird. Eine zu negative Wertung des Selbsterhaltungstriebes. eine extrem asketische Einstellung oder gar Weltflucht. wird überdies durch die Notwendigkeit ausgeschlossen. sich als Mitglied der Erwählungsgemeinschaft für deren Toraherflillung leistungsfahig zu hallen. Das rechtfertigt keineswegs eine schrankenlose Lebens- und Lustbejahung. es fordert vielmehr eine kontrollierte und geordnete Lebensführung mit dem Ziel der größtmöglichen Effektivität im Dienst der Torah und der Gemeinschaft Israels. Mit dieser Begrenzung und Zielsetzung bildet eine S.G.H. Cohen. The Struggle in Man belween Good and Evil. An inquiry into the origin oflhe rabbinic concept of Y~er hara'. Kampen 1984. j4 H.-G. von MUlius. Der Kainilcrstammbaum Genesis 4/17-24 in der jüdischen und christlichen Exegese. Judaistische Texte und Studien 7. Hildesheim 1978. jJ
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asketische Lebensgestaltung für traditionelles Judentum gewissermaßen das Korsett des Ethos.
Mellschheilsgeschiclue und Heilsgeschichte In der Bibel wird (Gen 10) mit der Aufteilung der Erde unter den Noahsöhnen Sem, Ham und Japhet und deren Nachkommen die universalgeschichtliche Be· Irachtung der Menschheit und Menschheitsgeschichte zwar noch beibehalten. aber auch schon wertend differenziert. Die Hamiten trelen als Sklavenvölker in den Hintergrund. 1S Die Japhetiten erfahren eine relativ positive Bewertung in ihrem Verhältnis zu Sem. doch es ist die Linie von Scm aus. dic heilsgeschichtlich allein maßgeblich wird. Die Urgeschichte (Gen I-li) dient als Vorspann zu den Patriarchen· Erzählungen. Abraham. der erste Monotheist (später auch: Philosoph), gilt über seinen Sohn Ismael zwar auch als Stammvater der Araber: die heils· geschichtliche Kontinuität verbürgt aber sein Sohn Isaak. Nur hat auch dieser Fragwürdige Nachkommen: Esau gilt als Stammvater von Edom, das ab dem I. Jh. n. ehr. mit dem Römischen Reich (und danach mit der christlichen Weltmacht) identifiziert wurde. Nur Jakob. der auch Israel genannt wird. hat ausschließlich jüdische Nachkommen. cr ist der Stammvater der 12 Stämme Israels. Mit deren Geschick befasst sich die weitere biblische Geschichte. Diese Geschichte steht unter einem Vorzeichen. das Verpflichtung aus der Vergangenheit und Hoffnung für die Zukunft zugleich bedeutet. Die biblische Erlählung vom Exodus aus Ägypten (Ex 1-15), die Herausführung aus dem ..Sklavenhaus" (Ägypten) setzt voraus, dass Gott damals Israel erworben hat, Israel somit zum Gottes·Dienst verpflichtet ist. Und in jeder der Unterdrückung in Ägypten vergleichbaren Situation vermittelte die VergegenWärtigung des Exodus die Gewissheit. als Gottes Privateigentums-Volk rom ~glil/ah) wieder gerettet zu werden; und daher ist das Siegeslied von Ex 15 auch so populär geworden und hat in der Liturgie einen entsprechend prominenten Platz erhalten. 36 Der Exodus führt in der biblischen Geschichte zum Gottesberg, zur Offenbarung der Torah, die als Bundesschlussszene konzipiert ist. Der Verweis auf das eigene Geschick und die daraus erwachsene Bundesverpflichtung hatte nicht nur grundsätzliche, sondern im Einzelfall auch praktisch-legislative und soziale Bedeutung. So begründet die Erinnerung daran. selbereinmal ein Sklavenvolk im ägyptischen Ex.il gewesen zu sein (Ex 23,9: Lev 19,32-34: Dtn 10.19). eine für antike Verhältnisse beachtenswerte soziale Gesetzgebung (Dtn 16,12: 24,8 und 22). Auch der Schutz von Witwen. Waisen und anderen Hilfsbedütftigen, einst Teil der Königspflichten. gilt später als von der Torah geboten und wurde von den jüdischen Gemeinden wahrgenommen. Und im Blick auf nichtjüdische Beisassen im Land Israel wurde in einigen ritualrechtlichen und zivilrechtlichen Punkten auch die D.M. Goldenberg. Thc Curse of Harn: Race an
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Anwendung gleichen Rechts gefordert (Ex 12.49; Lev 16,29. Num 15.15-16.29), was keineswegs heißt, dass sie wie Israeliten auf die ganze Torah verpflichtet sind. Es handelt sich nicht um Belege für die modeme Vorstellung vom gleichen Recht für alle. der entscheidende Faktor ist die Vorstellung vom Land Israel als dem eigemlichen Geltungsbereich der Torah. Kultisch-rituelle Begründung des Ethos Die kollektive Erwählungsverpflichlung fordert den ausschließlichen Kult des Gottes Israels. des Heiligen Israels. und folglich die Absonderung von Fremdkult bzw. Götzendienst. Götzendienst gilt als eine der Hauptquellen ritueller Unreinheit. Daher verbietet das jüdische Recht jeden Fremdkult im Land Israel. also im eigentlichen Gellungsbereich der Torah. und verlangt die Zerstörung aller GötzendienststäUen im Land. Jeder Israelit muss sich von Götzendienst und GÖlzendienstobjekten möglichst fernhahen: und so soll Israel dadurch von der götzendienerischen Umwelt als heiliges Volk bis auf die zur Selbslerhal· tung unerlässlichen Kontakte abgesondert werden. Manchmal geraten in solche Kontexte auch schöpfungstheologische Motive. die eine ontologisch begründete Differenz vorauszusetzen scheinen. was auch eine entsprechende Begründung des Ethos bedingt und einen gewissen Dualismus begünstigt. So in den Benediktionen. die den Eingang und den Ausgang eines heiligen Zeitabschnittes (Sabbat und Feiertag) markieren. Im QiddiiS (Heiligung) zum Sabbateingang wird auf die Schöpfung rekurriert. in der Habdalah (Trennung) werden schöpfungstheologische und erwählungstheologische Aussagen kombiniert: Wie GOll Licht und Finsternis von einander geschieden hat. so hat er auch Israel von den Völkern geschieden. Dazu kommt. dass der Vorwurf des Götzendienstes von früh an - und dann auch in den heiden monotheistischen Tochterreligionen Christentum und Islam - den Vorwurf moralischer Minderwertigkeit einschloss. Emotionale Faktoren haben auf diesem Gebiet als pädagogische Hilfsmittel sowieso immer eine beträChtliche Rolle gespielt und populäre despektierliche Ausdrücke für andere Gölter. für Götzendiener und Götzendienstobjekte (z.B. Jiqqtirim. Gräuel) waren gang und gäbe. Götzendienst im Land Israel gilt jedenfalls als ein Hauptanlass zu göttlich gebotener Anwendung von Gewalt. andere Rechte haben dem gegenüber zurück zu treten. Das Verhältnis zur Umwelt war darum stets ein sehr spannungsreiches. und das nicht nur auf Grund der Minoritätssituation und der feindseligen Haltung von Nichtjuden allein. In der Antike hat der jüdische Philosoph und Exeget Philo von Alexandria versucht. die Ritualgesetze allegorisch im Sinne ethischer Aussagen zu deuten. doch er halle wie das hellenistische Judentum insgesamt im später ganz rabbinisch dominierten Judentum keine unmittclbarc Nachwirkung mehr. Auch im Mittclalter gab es Versuche. ethische (und hygienische) Begründungen für rational uneinsichtige Vorschriften zu finden. Im 19. Jh. kam es aus Rücksicht auf die modeme Umwelt zu geradezu krampfhaften Bemühungen solcher Art.
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Darüber hinaus entschied man sich immer häufiger zum Verzicht auf die tradi· tionellen Absonderungsmechanismen. um die Assimilation an die nichtjüdische Umwelt zu erleichtern. Dieser Verzicht hat aber nicht die erhoffte Akzeptanz in der Umwelt bewirkt. daher bot sich nach der NS-Katastrophe gerade die rituelle Abgrenzung wieder als bewährtes Miuel der Selbsterhaltung an. wenn auch weithin nur im Sinne folkloristischer Brauchtumspflege und einer ..nationalen·· Lebensäußerung.
Der Werl des Lebens unler schöpjungslheologischem und elhnozenlrischem Vorzeichen Schöpfungstheologisch setzt die biblisch-jüdische Tradition etwas wie einen Menschheitsbegriff voraus, das aber als Rahmen rur Israels Heilsgeschichte. Dies hat manchmal zu hyperbolischen Fonnulierungen geführt. etwa zur Aussage. die Weil wäre um Israels willen geschaffen worden. oder ohne Israel könnte die Welt nicht beslehen. DcruniversaleAnsatz stcht also immcr in einer Spannung zu cinem heilsgeschichtstheologischen. ethnazentriertcn. und das kommt auch an Aussagen Ober den Wert des Lebens und an den Verhaltensweisen zurUmwelt zumAusdruck. Dies schließt schöpfungstheologisch einen allgemein-menschlichen Aspekt ein. der auch Ansätze zu etwas wie Menschenrechten begründet.)7 Das Blut gilt als Sitz des Lebens. das Leben aber gibt und nimmt Gou. Blut unterliegt daher der alleinigen Verfugung des Schöpfers. es ist tabu. darf nicht genossen werden. Damit rückt auch das lier ins Blickfeld. lI Das Blut geschlachteter liere muss auf die Erde gegossen und mit Erde bedeckt werden. Sowohl das biblisch-jüdische Recht wie das traditionelle Ethos weisen gewisse Ansätze zu einem Tierschutzgedanken auf. jedenfalls wurde das Leid von Lebewesen (fa·ar ba'''le b.ajjim) wahrgenommen," aber auch eine gewisse Verantwortlichkeit und somit Straff'ahigkeit..tO Selbstverständlich gilt im Blick auf Menschenblut das göuliche Mono{X)1 der Verfügung über das Leben noch rigoroser. Aber auch die so begründete Hochschätzung des menschlichen Lebens erfahrt eine erwählungstheologischc Zuspitzung, wenn es um die Wahrung der heilsgeschichtlichen Kontinuität geht. Ein bekannter. viel zitiertcr rabbinischer Aus· spruch wird in z.T. unterschiedlicherTcxtgestall überliefert und zeigt dieerwähntc Spannung an: ..Wer ein Menschenleben (aus Israel) vernichtet. vernichtet eine ganze Welt". bzw. .,Wer ein Menschenleben (aus Israel) erhält. erhält eine ganze
n D. Daube. Droils d~ I'homm~: J~s rubbins ~I Phi/on. Colloque international de McGiII sur le juda·isme et les droits de I·homme. Montreal. April 21-23. 1974. Montreal 1974. Ja EJ. Schochei. Animal Life in Jewish Tradition. Aniludes and Relalionships. New York 1984; R.H. 1saac.s.Animals in Jewish lboughl andTradition. Northvalc:. NJ 2000: G. Kowalski. The Bible aa:ording to Noah: as if animals maltercet. New Yon: 2001. " NJ. Cohen. Tsaar ba'ale bayim - The Prevention of Cruehy 10 Animals.. Its bases. de..'elopment and legislaüon in Hebrew 1itcr.llure. Washingion 1953. • V. AptowilUr. The Rewarding and Punishing of Animals and Inanimate Objects. HUCA 3. 1926.117-155.
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We1t".~1
Die in Klammem gesetzten Wörter (aus Israel) sind signifikant und wa· ren daher ofl ein Grund ruf antijüdische Vorwürfe. In den jeweiligen Kontexten treffen aber beide Varianten sachlich zu. Im Rahmen schöpfungstheologischer Thematik kommt die Menschheit ins Blickfeld. und diese uni ....crsalistische Deutung wird von modernen. liberalen Autoren energisch verfochtcn:l! aber auch von orthodoxen Rabbinern vertreten. So verteidigte ein rriiherer,langjähriger MilitärChefrabbiner Israels nachdrücklich die kürzere Lesart und bezeichnete sie rUf seine - lange Zeit als maßgeblich geltenden - halakischen Entscheidungen als grundlegend.~3
Im Rahmen traditioneller heilsgeschichtlicher Betrachtung gelten die WeItvölker allerdings als geradezu irrelevant. daher braucht man sie nicht zu missionieren und auch nicht pauschal einer Verdammnis zu überantworten. man kann sie prinzipiell ihrer geschichtlichen Eigenverantwortlichkeit überlassen. Sie tr'Jgen zum Fortschritt der Heilsgeschichte ja nur insofern positiv bei. als sie Israel bei seiner Erfüllung der Erwählungs;:lufgabc nicht behindern und im besten Fall fördern. Die negativen Erfahrungen mit der jeweils herrschenden Macht. mit einzelnen feindlichen Völkern und Personen während einer langen Diasporageschichte. lassen die Völkerwelt aber als heilsgeschichtlich sehr wohl relevant erscheinen: und im Extrem werden sie als Teil goufeindlicher Mächte empfunden. die in der Endzeit durch Gou und sein Volk eben Uberwunden werden mUssen. Die Verfasser der jü· dischen Traditionsliteratur waren sich dieser exponierten Position als Israel unter den WellVölkern stets bewusst und forderten. die so provozierten Konfrontationen als Preis flir die Erwählung und Gott zuliebe in Kauf zu nehmen und Leiden um Gottes willen gern zu ertragen. bis die messianische Herrschaft eintritt. und auch dabei ist sowohl die kollektive Leiderfahrung'" wie das individuelle Leid als Israelit miteinander verwoben:~s ., Siehe mSanh IV.5 und die Kommenlaredazu. Vgl. Abot de-R. NatanA.IlI; XXXI; B XXXVI; bBB Ila; bSanh 37a: NumR XXIII.6; LamR 11.40; IV.16: KohR X: Tanch.B mSJ iv: Tanch. fflS] v: Midrasch Mishle I u.6. 41 R. Gradwohl, ..Wer einen einzigen Menschen (am Leben) erhllll. erhält eine volle Weil". Des Menschen Gottebenbildliehkeit in der jOdischen Lehre. in: Malhys. (Hg.). Ebenbild 1998. 107-122. ' l S. Goren. Mdib milhamah. Bd. I Jerusalem 1982/3. 3: ..Ohne Zweifel ist das menschliche Leben der höchstc Wert in der Torah Israels. in der Halakah und nach der Ethik der Prophctcn. und zwar ist nicht bloß vom Leben eines Israelilen die Rede. sondern vom Leben eines jeden Menschen. der im Bilde Gones geschaffen worden ist. Und wenn es in der Mischna von bSanh 37a heißt: Es l4'urd~ gnilgt: darum l4'urd~ d~r M~nsch~" als ~i"zjg(art)ig~r uschuff~". um dich so :.u l~hn". daß ~;n~m ~d~m. du dn M~nsch~nl~bt!naus Israd \'~rnichln. di~ Schrift ~s annchn~t. als hii,,~ ~r ~;,,~ ganu "~1I ~'~rnichl~t, und ~d~m. d~r ~in Mensch~n/~bt!n aus Israd erhii/t. die Schrift es anr~chn~l. als hii,,~ ~r dn~ gunt.~ "~/t uhulten. so hat doch die Handschrift Leiden des Jeru~lmi das Wen aus Israd nichl und es findet sich auch in Babli-Handschriften derGenizah von Sanhedrin nicht. Und auch der RMB"M in HilkÖl Sanhcdrin XII.3 gibt den Wortlaut der Mischna ohne aus Isra~1 wieder.... Das bedeulet: es gibt keinen Unterschied zwischen einem Menschenlc:ben aus Israel und anderen Menschenleben.....• ... A.L. Mintz. Human_ Responses to Suffering in Hebrew Literature. 1984. &J S. Catmy (Hg.). Jewish Perspectives on Ihc ~perience of Suffering. Nenhvale_ NJ 1999:
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Die Lebensbewahrung hat sogar Vorrang vorGebotserfüllungen, Lebensgefahr verdrängt z.B. das Gebot der Arbeitsruhe am Sabbat. Auch hier kommt die erwählungslheologisch bedingte Einschränkung zum Zug. denn dieses Torahgebot gilt wie die ganze Torah nur für Israel. Ob man am Sabbat auch einen Nichtjuden reuen soll oder nicht reuen darf, stellte sich als rechtliches wie ethisches Problem. Streng urteilende Autoritäten entschieden negativ, andere suchten einen Kompromiss. Manchmal mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Auswirkungen auf das Ansehen in der Umwelt und damit auch Gottes. Denn im Blick aufGottesAnsehen kann eine strikte Verweigerung ja eine öffentliche Entweihung des Namens (GOIles) bedeuten. Diese Bandbreite der Argumentation wird Z.B. in der Gegenwart im Fall der Frage sichtbar,ob im Kriegsfall am Sabbat außer den eigenen Verwundeten auch feindliche Verwundete versorgt werden dürfen. Oie Mehrheit der Militärrabbiner richtete sich nach schöpfungslheologischen Gesichtspunkten,46 aber manche Autoren bestehen auf dem Vorrang des Sabbat-Ruhegebots und wollen eine lebensrenende Maßnahme prinzipiell nur bei eigenen Leuten zulassen. gestatten sie jedoch auch bei Feinden aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung. 47 Das Verbol der Arbeit am Sabbal iSI ein konkreter Problemfall, und er iSI nicht der einzige. denn wie in jedem Gruppcnrccht wird zwischen Angehörigen der eigenen Gruppe bzw. Staatsbürgern und Fremden sowohl in strafrechtlichen wie zivilrechtlichen Belangen oft differenziert. Das ist keine jüdische Besonderheit und selbst heute noch enthält jedes staatliche Recht in seiner Geltung für StaatsbürgerRelikledesGruppenrechts und entspricht somit nicht dem Prinzip "gleiches Recht für alle". Hinsichtlich der Einschätzung des menschlichen Lebens enthält die biblischjüdische Tradition jedoch zwei maßgebliche Punkte. Zum einen wird das Blut allgemein als Sitz des Lebens und die Verfügungsgewalt über Leben und Tod als göttliches Privileg veTSlanden, was zwei gesetzliche Konsequenzen halte: Ein Blutgenussverbot und ein Verbot des Blutvergießens. Beide Verbote sind nicht bloß für Israel (als Torahgebote) verbindlich. für das im Dekalog auch noch das
L.G. Seligson. Yissurim: A blessing in disguise. Southfield, Mi., 2000; J.D. Soloveitchik, Out ofthe Whirlwind. Essays on Mourning. Suffering an
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Verbot des Mordens vorliegt, sie werden als zwei der "noachidischen Gebote" (5. unten) geführt und gelten daher für alle Menschen. Es ist aber ein gründlicher Irrtum, darin ein absolutes TÖlungsverbot erblicken zu wollen. Es handelt sich um ein Verbot willkürlichen Tölens und schließt weder kriegerische noch justiziäre Tötungen aus. Die Berechtigung der Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung und zur Verteidigung des Landes Israel steht in der jüdischen Tradition weder rechtlich noch moralisch in Frage. 4S Das traditionelle Kriegsrecht enthält die Verpflichtung zu unnachsichtigem Kampf. auch das Prinzip der "Vorwärtsver· teidigung" jenseits der Grenzen des eigenen Landes und der vorsorglichen Tötung von Feinden zur Abwendung eigener Verluste. Natürlich werden in solchen Zusammenhängen auf Grund der traditionellen Ethik und infolge der Respcktierung der modemen Menschenrechte allerlei Fragen aufgeworfen.~9 zumal angesichts des in Israel vorhandenen Arsenals an Massenvernichtungswaffen (atomarer und chemischer Art) auch mit deren Einsatz und mit entsprechenden Folgen gerechnet werden muss..50 Das traditionelle Strafrecht kennt vierTodesstrafen. auch wenn dazu Bedenken geäußert worden sind." Und im traditionellen Königsrecht steht es dem Herrscher zu. Vergehen gegen seine Person unverLüglich mit dem Schwert zu ahnden. Und auch hier zeigt sich die bereits angesprochene Spannung zwischen allgemeinverbindlichen Prinzipien und erwählungstheologischen ZUspilzungen. Das biblischtalmudische Recht hat aus Ex 22.1. wo es um einen nächtlichen Einbrecher geht. die Slraflosigkeit einer Tötung in Notwehr abgeleitet. Der Vers lautet: Ex 22.1 im Fall eines nächtlichen Einbruchs: ,.Wird ein Dieb beim Einbruch ertappt und dabei geschlagen. so dass er stirbt. so liegt keine Blutschuld vor. War aber bereits die Sonne aufgegangen, liegt eine Blutschuld vor." Die Rabbinen haben ihre Anwendung dieses Bibelverses noch recht restriktiv fonnuliert. unter voller Berücksichtigung des zweiten Satzes, dass Schuldlosigkeit nur vorliegt, sofern die Umstände (hier nächtliche Dunkelheit) nicht erkennen lassen. dass der Einbrecher selber nicht die Absicht hatte, zu töten. In einem Teil der halakischen Quellen wurde jedoch diese Situation enger mit dem allgemeineren Sachverhalt des rodej(,.Verfolger") verknüpft. Der rOdejtrachtet jemandem nach dem Leben. und wird er getötet, liegt kein Verschulden vor, sondern ein Akt der .. J. Maier. Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition, Theologie und Frieden 14. Stullgan 2000. .... R.R. Kimelman. Judaism an
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Lebensbewahrung, auch wenn noch kein direkter Angriff erfolgte und somit eine Notwehrsituation eintrat Dass hier eine Grauzone für Ermessensurteile vorliegt, wurde durchaus wahrgenommen und man formulierte darum innerhalb des Straf· rechts recht umsichtig. Diese Umsicht entfiel in dem Maß, als der Sachverhah von der individuellen Ebene auf die Ebene der Gemeinschaft verlagert wurde. wenn es also um eine jüdische Gemeinde oder um die Judenheit überhaupt gehl. Für den Fall, dass sich jemand in seinem Verhalten gegenüber der Gemeinschaft als rOde! erweist wurden die Grenzen der erlaubten Notwehr ebenso wie in anderen Fällen (maU;" und moser, Denunziant und Verräter bzw. Auslieferer) bis zur vorsorglichen Tötungausgeweitet,52 weil man die Gemeinschaft gefahrdet sah und daher die betroffene Person als Feind Israels einstufte, den man - wie im Kriegsfall- eben bekämpfen mussY Man hat derartige Maßnahmen möglichst mit Genehmigung der nichtjüdischen Obrigkeit durchgeführt. was im mittelaherlichen Spanien Praxis war. doch forderten manche halakische Autoritäten auch unverblümt dazu auf. solche Missetäter insgeheim zu eliminieren. Die BereChtigung dazu wurde aus der Feststellung eines Rechtsnotstandes abgeleitet: Wenn die öffentlicheOrdnung versagt. ist der einzelne Israelit zu eigenmächtigem Eingreifen berechtigt. 54 Es handelt sich um das Phänomen des Zelotismus, des gebotenen Eifers. Das biblische Vorbild sah man im Verhalten des Priesters Pinchas von Num 25, und es ist noch immer aktuel1. 55 Und wie Pinchas für seine Bluttat gelobt wird. so loben fundamentalistisch-militante Kreise jenen Dr. Baruch Goldstein als •.heiligen" Märtyrer. der am 25.02.1995 in Hebron mit der Maschinenpistole ein Blutbad unter betenden Moslems angerichtet hat Und so ist auch am 4. 11.1995 sogar der Ministerpräsident des Staates Israels, I. Rabin. den die politischen Gegner im Wahlkampf als Verräter verunglimpft und auf Plakaten in 55-Uniform abgebildet hauen, nach offizieller Lesart von einem fundamentalistischen Fanatiker ermordet worden. Trifft dies SO zu. dann wurde Rabin gewissermaßen auf Grund eines angeblichen Rechtsnotstandes und mit ausdrücklicher Billigung bestimmter Rabbinerkreise geradezu öffentlich hingerichtel.~
'1 M. Wolf. Jahas hOlakti ben din ITtÖser le-din
rödef. in: M. Arad (Hg.). 'obarjanilt O-se\ijah
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Dass solche Aktionen letztlich das jüdische Ethos selbst gefahrden, wird von vielen wahrgenommen.~7 Aber in der Frontslcllung gegen den Terror zähh für viele verantwortliche Politiker nur mehr die Unterdrückung und Ausmerzung der Feinde. Die Beseitigung der- zum Großteil selbst verschuldeten - Ursachen wird hingegen immer seltener thematisiert, und wenn, wird Kritik flugs als Provokation oder gar als Gefahrdung jüdischer Existenz bzw. der Existenz des Staates Israel abgestempelt. Dennoch rügen jüdische und auch israelische Kritiker die Verfahrensweise mit nichtjüdischen Gegnern. insbesondere Palästinensem. S8 Die Missachtung von Menschenrechten, die Verletzungen internationalen Rechts und die Ignorierung von UN-Resolutionen werden gerade auch mit Verweis auf jüdisches Ethos verurteilt. Die qualitative Differenz in der Verantwortlichkeit. die zwischen Aktionen von Terroristen und Aktionen regulärer staadicher Sicherheitskräfte besteht. wurde immer wieder hervorgehoben. Und dabei wurde von israelischen Sicherheitskräften eine dreimal so große Anzahl palästinensischer Kinder und Jugendlicher totgeschossen und ein Mehrfaches davon schwer verletz!. Das alles sind Symptome einer profunden ethischen Krise..w Eine Anzahl mutiger israelischer Offiziere und Soldaten sah sich infolgedessen zu dem höchst ungewöhnlichen Schrill veranlasst. den Dienst in den besetzten Gebieten (nicht den Dienst überhaupt!) zu verweigern: .,We. reserve combat officers and soldiers of the Israel Defense Forces. who were raised upon the principles of Zionism. sacrifice and giving to the people of Israel and to the Stare of Israel, who have always served in the front lines, and who were the first to carry OUI any mission. light or heavy. in order to protect the State of Israel and strengthen i!. We. combat officers and soldiers who have served the State of Israel for long weeks every year, in spite of lhe dear COSI to our personal lives, have been on reserve duty all over the Occupied Territories. and were issued commands and directives that had nothing to do with the security of our country. and that had the sole purpose of perpetuating our control over the Palestinian people. We. whose eyes have seen the bloody 1011 this Occupation exacts from both sides. We. who sensed how Ihe commands issued to us in the Territories. destroy all the values we had absorbed while growing up in this country. We. who understand now thatlhe price ofOccupalion is the loss of I(srael) D(efence) F(orces)'s human character and the corruption of the entire Israeli society. We. who know that the Territories Me not Israel. and that all settlements are bound to be evacuated in the end. We hereby declare that we shall not continue to fight this War ofthe Settlements. We shall not continue 10 fight beyond the 1967 borders in order to dominate. expel, starve and humiliate an emire people. We hereby declare
'1 Y. Yishai. The Jewish Terror OrganisaIons. Pasl or Future Danger?
Conflict 6. 1986.307-332:
D.C. Rapoport (Hg.). The Moralily ofTerrorism. New York 1982. " Vgt. z.B. A. Pedahzur. Halred b)' hated pcoplc: xcnophobia in Israel. $ludies in Conflict & Tcrrorism 2212.1999,101-117. '" O. Ben-Naftali. Living in Dcnial: thc applicalion of human fights in the occupicd lerritorics. Israel Law Review 37. 2003-2004. 17-118.
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thai we shall continue serving in the Israel Defense Forces in any mission thai serves Israel's defense. The missions oloccupation ond oppression do not sene this purpose - ond we shnll take 110 part ill fhem. " Dieser eindrucksvoll fonnulierter Protest, ein grundlegendes Dokument jüdischen Ethos der Gegenwart. hat aber wenig Beifall gefunden. In erster Linie wegen dem propagandistisch aufgezäumten Bedrohungsszenarium. mit dem eine extreme otwehrsituation postuliert wird. so dass schon eine solche TeilDienstverweigerung in das denkbar schlechteste Licht gerät. Aber auch außerhalb blieb das positive Echo verhalten. und zwar kennzeichnender Weise gerade dort. wo man aus konkreten historischen Gründen eine unkritische Gehorsamhaltung ansonsten (zumindest rhetorisch einmal jährlich zu bestimmten Gedenktagen) pathetisch zu verurteilen und Widerstand zu loben pflegt. Man verzichtet schon seit geraumer Zeit gegenüber jüdischen bzw. israelischen Sachverhalten auf die Anwendung gleicher ethischer Maßstäbe. und das aus zwei Gründen: Einmal wegen der harschen, religiös-ethisch begründeten Kritik jener. die das Judentum (Israel) wie in alten Zeilen nur als Gouesvolk werten und daher religiös-ethischen Beurteilungen unterwerfen. die der komplexen Realitiit der jOd ischen Exislenz von heule nichl entsprechen und darum ausgesprochen einseitig ausfallen. Zum andem. weil sachliche Kritik sehr rasch als Manifestation eines neuerlich akuten Antisemitismus gebrandmarkt wird. Hauptursache dieses Moral- und Rechtsverzichts. der übrigens der (einmal sehr starken) Friedensbewegung in Israel 60 und den jüdischen und israelischen Menschenrechtsorganisationen in den Rücken fallt. ist eine mit allerlei Zwängen befrachtete machtpolitische Konstellation und mit ihr die geradezu bedingungslose Unterstützung Israels. vor allem durch die Regierungen der USA und Deutschlands. Diese Konstellation wird sich in absehbarer Zeit kaum ändern. da weiterreichende strategische Zielsetzungen im Nahen und Miuleren Orient mitspielen. nämlich die Kontrolle über die Erdö)reserven und ein Glacis gegenüber der aufstrebenden Wirtschaflsmacht China, die als Bedrohung der Vonnachtstellung der USA gesehen wird. Seit den Attentaten am 11. Sept. 200 1 in den USA hat sich ein Begriff des Terrorismus durchgesetzt. der die Grenzen zwischen KriegsreCht. Notstandsrechl und Strafrecht verwischt. eigene Aggressionen als Not wehr hinstellt. zwischen den Begriffen Gegner, Feind und Verbrecher nicht mehr unterscheidet, und Menschen und Völker einfach in Gute und Schurken bzw. Terrorislen einteilt. denen man weder den Status von Kriegsgefangegen zuerkennt. noch eine nonnale Behandlung als Straftäter zugesteht - und das in ekJatantem Widerspruch zum eigenen staatlichen und zum internationalen Recht. Auch innerhalb der Judenheit hat sich unter diesem weltpolitischen Vorzeichen die oben skizzierte Tendenz zur erweiterten Anwendung des rMel- Prinzips verstärkt. und ein ..Terrorist" gilt natürlich als ein .. rOde]". dessen vorsorgliche TÖlung als gerechtfertigt erscheint. Die in der letzten Zeit völlig offen prak'tizierten. geOll
D. Hall-Cathala. The Peace-Movement in Israel. 1967-87.london 1990.
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ziehen Ennordungen palästinensischer Politiker und Widerstandskämpfer werden als Maßnahmen berechtigter Selbstverteidigung im Rahmen einer Kampfsituation ausgegeben und jeder strafrechtlichen Beurteilung entzogen. Zusätzlich erhielt diese offiziell als Terroristcnbekämpfung begründete vorsorgliche Tötung die religiöse Dimension der unumgänglichen Pflicht zur Bewahrung jüdischen Lebens und des gebotenen Verhaltens gegenüber den "Feinden Gottes". In den Augen der Fundamentalisten handelt es sich überhaupt um einen endzeitlichen Kampf gegen gleichermaßen israclfeindliche wie goufeindliche Mächte. Man hört derzeit viel über islamischen Fundamentalismus bzw...Islamismus", aber kaum etwas über jüdischen Fundamelllalismus und das Wirken militanter jüdischer Organisationen; und viel zu wenig über viele Millionen .,christlicher'· Fundamcntalistcn in den USA, die diesen Endzeitkampf im sogenannten Heiligen Land mittragen, finanziell massiv unterstützen und in Washington politisch erfolgreich verfechten. Allerdings mit der für Juden eigentlich recht befremdlichen Erwartung. dass mit der Verfügung über das ganze Land Israel zwar dcr Messias erscheinen werde. aber mit dem für das Volk Israel überraschenden Ergebnis. dass der Messias der Juden mit dem wiederkehrenden Christus identisch sein und die Bekehrung der Juden einleiten werde. In denselben Zusammenhang gehört die Zerstörung tausender von Häusem durch israelische Sicherheitskräfte. sei es als Strafmaßnahme gegen Familien von Attentätern. sei es unter dem Vorwand, es läge keine Baubewilligung vor; ein Verfahren. das neuerdings ganz massiv im arabischen Teil Jerusalems und im Gebiet östlich von Jerusalem angewandt wird. um die dortigen Siedlungen mit der Stadt zu vereinen. Hier geht es um Maßnahmen mit dem Ziel einer ethnischen Säuberung aller Gebiete. die als Land Israel angesehen werden. Der religiöse Anspruch auf das Land wird nämlich weithin zu einem nationalen und politisch nicht hinterfragbaren Anliegen umgedeutet. Einen beklemmend dunklen Punkt in der biblischen Überlieferung stellt der gougebotene Genozid an den "sieben Völkem" des Landes Kanaan dar, ein viel umstrittenes Thema. das hier jedoch insofem belanglos ist. als das jüdische Recht darin eine historisch erledigte Angelegenheit und keine aktuelle Verpflichtung erblickt. Eine Ausnahme bildet allerdings ,.Amalek" als Inbegriff der Israelund Gottesfeindschaft zugleich. Amalek. ein Esau-Nachkomme. hat sich laut Ex 17,8-16 nach dem Exodus aus Ägypten dem Volk Israel in der Wüste als erster und besonders grausamer Feind entgegengestellt. In der Folge wurde Amalek zur Bezeichnung des jeweils ärgsten Feindes der Juden. Der böse ..Agagiter" Haman im Esterbuch gilt z.B. als Amalekiter. Zuletzt wurde die Chiffre auch auf das nationalsozialistische Deutschland angewendet,61 und neuerdings taucht es im Zusammenhang mit Palästinensern und Arabern auf. Diese Anwendung im Kontext der aktuellen politisch-militärischen Konfrontation erschien einem prominenten Vgl. dazu etwa S. ßoylan. A Halakhic Perspcctive on the Holocaust. in: ß.H. Rosenbcrg (Hg.) Theological and lialakhic Rcflcctions on the Holocaust. New York 1992. 195-214. .1
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Reformrabbiner und Professor schon vor Jahren als höchst bedenklich und er sah darin eine Gefahr für das Judentum selbst. 62 Dass es sich um ein besonders empfindliches Hühnerauge handelte. zeigte sich in den allergischen Reaktionen auf eine - stellenweise in der Tat nicht glücklich formulierte - Studie eines skandinavischen Theologen,6l dem flugs das Etikett "antisemitisch" angeheftet wurde. Immerhin wurde so das Thema ein Diskussionsgegenstand. 6oI DieethischeProblemalik besteht in der intensiven Verankerung des Konzepts in heilsgeschichtstheogischen Traditionen. wobei die Kategorien "Gut" und "Böse" eine maßgebliche Rolle spielen. Man kann das an einer Passage eines recht umfangreichen und militanten Buches nachvollziehen. dessen Verfasser die religiösethische Begründung in etwa so zusammenfasst: Die Liebe zu Gott äußert sich auf der Basis einer festen Werteskala. Diese Liebe verpflichtet gleichzeitig, ein Feind der gegenteiligen Werte zu sein. "so zicht die Verhaltensweise der Wert· schätzung der Kraft des Guten den Hass und die Verachtung für die Kraft des Bösen nach sich. und wäre dieser Hass nicht vorhanden. ergäbe sich ein Mangel an der Vollkommenheit der Liebe gegenüber dem positiv Gewerteten. Und aus diesem Grund sagten wir auf Grund der Voraussetzung.. Freunde (Liebende) des HERRN' zu sein. dass es verpflichtend ist. Hasser von Bösem zu sein, denn aus jener Verhahensweise der Wertschätzung und der Anerkennung der Erhabenheit des HERRN folgt notwendigerweise Verachtung und Entweihung gegenüber der Kraft des Bösen. Und dies bedeutet das Gebot der Torah, Amalek zu hassen ... denn es gibt keine bösere Macht als ihn. und so bezeugt es die Torah in bezug auf Ihn: Der Name ist "icht vollkommen und der Thron ist niclu vollkommen, solange nicht getilgt wird der Same Amaleks insgesamt. Und entsprechend der Verpflichtung. Freunde des HERRN hassen Böses. befahl die Torah zwei Gebote: Denke daran. was Amalek dir angetan. und Tilge das Andenken Amaleks. Denn die Form des Hasses verteilt sich auf zwei Anliegen: I. Hass im Herzen - Denke daran. was Amalek dirangetall; 2. Hass in der Tat- Tilge das Andenken Amaleks.'· 65 Es handelt sich nicht nur um die Meinung eines Einzelnen. und was es in der Realität bedeuten kann. wurde selbst der - schon längst nicht mehr liberalen - Zeitung ,.Jerusalem Post" kJar. als ein bestimmter Militärrabbiner die Konsequenzen im Klartext formuliertc. 66 Ein weiterer Aspekt ist alarmierend. 1m biblisch-jüdischen Strafrecht und Rechtswesen hat die Folter keinen Platz, ein höchst beachtenswerter CharakterJ J. PelUehowski. Thinking in Our Anceslor's Categories. Judaism 32. 1983. 196-204. fOJ N. Mar101a, Amalek i Halaka. Nordisk Judaistik. Scandinavian Jewish SlUdies 15. 1994. 1-24. M A. Sagi. The Punishment of Amalek in Jewish Tradilion. HThR 87. 1994.323-346: Schuil. Auke. Amalek. Onderzoek naar oorsproong cn onlwikkeling van Amaleks rol in hel Oude Teslamenl. Zoetermeer 1997. ~ A. Ben-Hayyim. Sefar re'~it gojim' Amaleq. Jerusalem 1993. 341. 60 Laul Jerusalem POSt vom 8.05.1986 kam es wegen einer Aussendung des damaligen Militäroberrabbiners rurdie beselzten Gebiete zu einem Ekla!. ..The Arm)' spokesman has no comment to offer on the injuoclion issued 10 the lroops b)' Ihe chief army chaplan in Ihe occupied lerrilories. tJ
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zug. der in der christlichen Rechtstradition Europas unbegreiflicher Weise schon früh missachtet worden ist. Im Kampf israelischer Sicherheitskräfte gegen den Terror des palästinensischen Widerstandes sind Praktiken eingerissen, die eine erregte Diskussion über unkontroUierte Inhaftierungen und über Fohermethoden zur Erlangung von Informationen nach sich gezogen haben. und zwar nicht nur auf Grund der aJlgemeinen Menschrechte, sondern gerade auch des jüdischen Rechts. 61 Ein anderer Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang ist die Nonwendigkeit. auf der Gegenseite möglichst viele Informanten zu haben. dje gegenüber ihren palästinensichen Mitbürgern aJsodas begehen. was im jüdischen Recht dem maser (Denunzianten) als schweres Vergehen. als Volksverrat angelastet wird. 61 Diese recht variablen und widersprüchlichen Wertungen des menschlichen Lebens. von grundlegenden schöpfungstheologischen über verengende heilsgeschichtstheologische Sicht weisen bis zu extremen nationalistischen und fundamentalistischen Auswüchsen. bilden die heikelste Problemzone der aktuellen jüdischen Elhik. Die innerjüdischen Standpunkte sind diesbezüglich weithin unvereinbar. Wie schwierig die Lage und das ethische Dilemma ist. kann auch an der deutschsprachigen Publikation zweier gegensätzlicher rabbinischer Stellungnahmen zum Problem der vorsorglichen Tötung nachvollzogen werden. Ein Refonnrabbiner verurteilt diese Maßnahmen kategorisch. ein anderer Rabbiner gelangt nach offensichtlich schwieriger Güterabwägung zu einer bedingten Zustimmung. 69
Themen der Bioelhik Von den schöpfungstheologischen Voraussetzungen her begründet. haben bioemische Themen zur Zeit in jüdischen Publikationen einen weiten Raum eingenommen und in diesem Rahmen wurden gewichtige Beiträge zur inlemationalen wissenschaftlichen Diskussion geleistet. 1O Besonders faszinierend ist dabei. wie I... Ito extenninale alliauer-day Amaleldles. (...1His two-monlh-old. four page missive jusl eorne to light. is the mosl odious and nauseous e:<pression ofzoologieal racism to ha\'e surfaced in this country far a long while. if ever. It alone would justify the immediate enaclment of an anli-racism law without any exception being allowed for rabbinicaltcachings. (... 111 is - at Icast it should be considercd - an insuffer.tble affront to Israd's honour and to thc Jewish Pcoplc's herilage." n F. Langer. Thc Historyoflhe Legal Strugglc against Tonure. in: N. Gordon Neve (Hg.). Tonurc. Human Right. Medieal Elhics and the ease of Israel. LondonITcl Aviv 1995.75-80: M. Krcmnitl.cr. Tne Legality of Interrogational Tonurc: a queslion of proper aUihorization or a subslantive moral issue? Israel Law Review 34. 2000. 509-559. .. H. Cohen. Human Righl$ Dilemmas in Using Informers 10 Combal Terrorism: lhc IsraeliPilleslinian case. Terrorism anti Polilieal VtQlence 17.1-2, 2005. 229-243. .. Jüdische Allgemeine vom4.11.2003: Nahostgespräch: Mord oder Mizwa? Darf Israel potenltelle Attentäter liquidieren? Pro: Rabbiner Yuval Cherlow: Tölen um des Lebens willen. Contra: Rabbiner Michael Lerner: Akt der Barbarei. • Siehe aus der lelzten Zeit elwa: F. Rosner/J.D. Bleich (Hg.). Jewish Bioethics. New Yor\: 1979: Y. Nordmann. Zwischen Leben und Tod_ Aspekte der jüdischen Medil.inethik. Bem-Fnlnkfun a.M. 12000: E.N. Dorff. MauersofLife and Death. Jewish MedieaJ Ethies. Philadelphia 1998: J.D. Bleich. Bio-Ethical Dilemmas. A Jewish perspeclive. Hoboken. NJ 1998: A. Steinberg. Eocyklopedia of Jewish Medical Ethies. Bd. 1-111. Jerusalem 2<XH.
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in orthodoxen Kreisen die traditionelle Halakah laufend und effektiv dem aktuellen Stand der technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklung angepasst wird. l1 Das heißt aber nicht, dass im Staat Israel etwa der Naturschutz ein hochrangiges Anliegen wäre. denn auch hier erweist sich die crwählungstheologische Zuspitzung als wirksam: Es geht in erster Linie um das Land Israel. dessen Eroberung und Besiedlung, nicht um Umwelt. Auch in bioethischen Fragen kommt häufig die Relevanz für Israel als Erwählungskollektiv als Maßstab zum Tragen und erst in zweiter Linie Recht und Würde des Individuums. Irritierend wirkt in dem Zusammenhang das aktuelle Interesse an der Gen-Forschung mit den Bemühungen, bei Juden aus möglichst allen Teilen der Diaspora gleiche Merkmale nachzuweisen. 12
Der Einzelne ""d die Familie Die Gestaltung des jüdischen Lebens von der Geburt bis zum Tod wird durch vielerlei überkommene Bräuche. vor allem aber durch die Halakah und durch eine Vielfalt ethischer Richtlinien bestimmt. 7J Das erste Gebot in der Bibel erging Jaul Gen 1.28 an das erste Menschenpaar: ..Seid fruchtbar und mehret euch". Aber die Tradition sah darin keines der sieben ,.noachidischen Gebote". also kein allgemein·menschliches Gebot. sondern ein Gebot für Israeliten. genauer: für den israe· litischen Mann. mindestens einen Sohn und eine Tochter zu zeugen. Für ..Singles" bietet dies keinen Raum. der Mann muss ein HallS i" Israel gründen; und dieser Umstand wirkt sich demographisch zugunsten der Orthodoxie aus, denn sie wächst mit hohen Geburtenraten. während die liberalen Kreise eher schrumpfen. Auf die Frau und speziell die alleinstehende Frau bezogen geraten daher andere Maßstäbe zur Anwendung. die einer modemen Sichtweisc näher kommen. Aus dieser aufden Mann bezogenen Sicht kann Geburtenkontrolle nur bedingt gut geheißen werden. 14 Und eine Abtreibung wird nur in Fällen äußerster Gefahr toleriert. u Im Vergleich mit vielen nichtjüdischen Positionen gewährt jedoch die jüdische Beurteilung des
Instruktiv für diese Bemühungen sind die Beiträge in PAOJS (Proceedings ofthe Association of Onhodox Jewish Scientists. I. 1966 me.). n J. Greene·Hamilton. The Use of Genetie Markers in Oriental Jewish Historieal Studies. JQR 62. 197112.288-313: A.E. MourantlA. KopetfK. Domaniewska-Sobczak (Hg.). The Geneties of the Jews. Oxford 1978: Roychoudhury. A. K.. Genetic Distancc between Jews and Non-Jews of Foor Regions. Human Hercdity 3214. 1982. 259-263: A.A. Bonne-Tamir (Hg.). Gcnctie Divenity among Jews. Diseases and Markers at the DNA Level. New York 1992. Allgemeiner und noch ohne Ergebnisse der Genforschung: Landmann. Salcia. Die Juden als Rasse. Wiesbaden J1981. 7l M. Lamm. The Jewish Way of Death and Mouming. New York 1969: '1981: San Francisco 1982: L.M. Rochelle. Women. Binh. and Death in Jewish Law and Practice. Hanover. NE 2004. 7' D.M. Feldman. Binh Control in Jewish Law. Marital relations. eontraception and abonion as set fonh in the c1assic texts of Jewish law. New Vor\: 1968: Westpon. Conn. 1980: Nonhvale. NJ 1998: M.D. Tendler. Population Control: The Jewish View. in: F. Rosnerl J.D. Bleich. (Hg.). Jewish Bioelhics. New York 1979. 59-79: G. Ellinson. Natural Family Planning as Refleclcd in Contcmporary Rabbinic Responsa. Journal of Semitic Studies 46. 1984. 51-60. 75 D. Schiff. Abortion in Judaism. Cambridge 2002 (mit weiteren LileTaturangaben). 11
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Fötus einen erweiterten Entscheidungsraum. 76 Eine künstliche Befruchtung soll nur mit dem Sperma des Partners erfolgen, obschon die Zugehörigkeit zu Israel ansonsten durch die Abstammung von einer jüdischen Mutter definiert wird.T Hier kommen jedoch auch religiös-spekulative Vorstellungen mit ins Spiel. 78 Alles in allem sucht man die genealogische Kontinuität auch mit allen verfügbaren medizinischen Mitteln zu gewährleisten. 79 Das Emos der tradilonellen jüdischen Familie llO ist durch die Aufgabe der Erziehung zur Torah geprägt, was vorrangig die männlichen Mitglieder betrifft. die ja auch allein als voll kultfahig gelten; ein Prinzip, das in reformjüdischen und konservativen Kreisen nicht mehr aufrechterhalten wird. Die Sexualmoral fügt sich in den Rahmen der Erwählungsaufgabe ein: Es gilt vor allem, die genealogische Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft zu sichern. die moralische und rituelle ..Reinheit" zu wahren: und das heißt konkret vor allem auch, nicht mit Nichtjuden intime Kontakte zu pflegen.' 1 Aber auch im Judentum treffen solche Restriktionen vor allem die Frau. ihr Ehebruch wird in jedem Fall strafrechtlich geahndet. beim Mann nicht der Bruch der eigenen Ehe, sondern nur der Verkehr mit der Frau eines anderen Juden. Der Verkehr mit einer Nichtjüdin wird zwar moralisch verurteilt. was auch in der despektierlichen Bezeichnung ,.Schikse" (von hebräisch Iiqqüf. ..Gräuel") zum Ausdruck kommt;'2 aber selbst ein Ehe, bruch mit einer verheirateten Nichtjüdin ist rechtlich irrelevant. weil nach dem Prinzip des Gruppenrechts Nichtjuden über keine jüdisch gültige Eheschließung verfügen. Vorehelicher Geschlechtsverkehr des Mannes ist wegen möglicher neo gativer Begleiterscheinungen und Folgen verpönt und soll durch eine möglichst flÜhe Eheschließung vermieden werden. Die Wertung der Jungfräulichkeit weist zwar keine religiösen Züge auf; und das uneheliche Kind einer jüdischen Mutter
,., R. Kirschner, The Halakhic Status of Ihe Fetus with Respect to Abonion, Conservalive Judaism 34/5, 1981, 3-16: D. Shnil. The Foelus as a Person under Israeli Law, in: Israel Yearbook on Human Rights 16. 1986.308-320. 71 F. Rosner. Anificial Inseminalion in Jewish Law, Judaism 19. 1970.452-464: J. Green. Anificial insemination in isracl- a legal view, Proccedings of the Association of Onhodox Jewish Seienlists 9. 1987. 213-234: M. Haiperin. Appl)'ing the Prineiples of Halakhah 10 Modem Medieine: in-vilro fcnilization. embryo transfer and frozen embryo. Proccedings of the Association of Onhodox Jewish Scienlists 8-9, 1987. 197-212: J. Green. Anifieiallnsemination in Israel. A legal view. Procccdings of the Association of Onhodox Jewish Sciemists 8-9, 1987. 212-234. 11 DJ. Lasker, Kabbalah. Halakah, and Modem Medicinc. The ease of artifieial insemination. Modem Judaism 8/1. 1988. 1-14. 79 R.V. Grau, (Hg.). Be Fruitful and Multipi)'. Fenility Thcrapy and the Jewish Tradition, Jerusalem 1994. III D. Kraemer (Hg.), The Jewish Family. Met3phor and Memory. New York 1989: S.M. Cohen. (Hg.), The Jewish Famil)'. M)'lh and Realit)', New York 1986: R. Berger. SexuaJilät. Ehe und Familienleben in der jüdischen Moralliteratur (WO-I900). Jüdische Kultur 10. Wiesbaden 2003. " M. Lamm. The Jewish Way in Love and Marriage. San Francisco 21984: J. Magonet (Hg). Jewish ExplorationsofSexuality, Providenee 1995; L.D. Solomon. ThcJewish Tradition, Sexualil)', 3nd Procreation. Lanham 2002. 1:2 C. Benvenuto, Shiksa: the gentile woman in the Jewish world, New York 2004.
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gilt als vollwertiger Israelit. de facto waren aber der Sozialdruck. das Familienprestige und das Streben nach ..reiner" Nachkommenschaft für das Verhalten entscheidend. Moderne jüdische Frauen erkennen in alledem eine verwerfliche Doppelmoral und Diskriminierung. Hinsichtlich der Sexualmoral ist auch im Judentum ein wachsender Unterschied zwischen konservativen Kreisen und anderen. ,.moderneren" zu beobachten, doch ist die Hahung orthodoxer Autoritäten trotz prinzipieller Strenge in der Praxis eher nachsichtig.1! Die Diskussion über Rolle und Status von Mann und Frau verläuft je nach religiöser und weltanschaulicher Ausrichtung äußerst kontrovers. selbst in der Orthodoxie werden divergierende Positionen vertreten.~ Aber nicht nur Feministinnen finden am herkömmlichen jüdischen Mann(e)sbild einiges auszusetzen. 15 Status und Rolle der jüdischen Frau werden von orthodoxer Seite als schöpfungstheologisch angemessen und sozial empfehlenswert angesehen. S6 In der Vergangenheit. aber leilwiese auch heute noch. ist auch oft eine idealisierende literarische Darstellungsweise anzutreffen. Von den modemen Gesichtspunkten der Menschenrechte und Gleichberechtigung aus wird jedoch dagegen Stunn gelaufen. In dcrersten Hälfte dcs 20. Jh. hat man im Geist der Zeil die jüdische Frau idealisiert und damit die problematischen Aspekte in ein milderes Lichl gerückt." Man hat die patriarchalische Grundstruktur gern durch Verweis auf die tragende Rolle der jüdischen Frau als Mutter zu neutralisieren versucht. wofLir in der Tat reichlich Belege zu finden sind." Aber dabei wird das Schicksal der ledigen und kinderlosen Frauen wenig beachtet. ebenso die schwierige Lage mittelloser geschiedener Frauen ohne familiären Hintergrund. Auch mit Hinweisen auf die unstriuige Tatsache. dass den Frauen in wohlhabenden Familien im Unterschied zu ihren zum Torahstudium und zur Beachtung aller Gebote und Verbote verpflichteten Männern sowohl wirtschaftlich wie kulturell weitreichende Freiräume
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und Entfaltungsmöglichkeitcn offen standen, kann man das Schicksal der in ungünstigeren Verhältnissen lebenden Mehrheit nicht ausblenden.8'.l Das alles kann
aber - zumindest für die Vergangenheit - nicht als spezifisch jüdisches soziales Phänomen gelten, es handelt sich um gesellschaftsbedinglc Erscheinungen. die allerdings im Rahmen eines jüdisches Staates auch ein spezifisch jüdisches Gewicht erhalten. 90 Die Sonderstellung der Frau wird nicht zuletzt von rituellen Reinheitsvorstcllungen her begründet. Vor allem für eine durch Blutfluss ..unreine'; (Iliddah) gelten penible Separierungsrcgcln und rituelle Reinheits- und Reinigungsvorschriften, für den Abschluss ein rituelles Tauchbad in der ..Mikwe'·.91 Die Auswirkungen auf das Familienleben und auf das Selbstwertgefühl werden auch von manchen orthodoxen Frauen als psychische Negativerfahrungen und als moralisches Problem empfunden. Eine Abschaffung dieser Sonderposition scheitert aber ebenso wie eine Änderung der patriarchalischen Sozialstruktur92 in der Orthodoxie über massive religionsgesetzliche Schranken hinaus auch an grundsätzlichen. theologisch begrtindeten Widerständen. und in Kreisen mit mystisch (kabbalistisch) geprägter Frömmigkeit sogar an theosophisch begrtindeten Bedenken. Die in dieser Hinsicht im Reformjudentum und konservativem Judentum durchgcführtcn Reformen hatten auch religiös-institutionell weitreichende Konsequenzen. 93 nämlich die volle Ku Itfahigkeit der Frau. die gleichberechtigte GOllesdienslteilnahme und dic heftig umstrittene Ordination von Rabbinerinnen in refonnjüdischen und konservativen Gemeinden. 9ol Im Staat Israel, dessen Recht die Gleichberechtigung der Frau vorschreibt. herrscht ein orthodoxes Religionsmonopol. das anderen jüdischen Denominationen nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten lässt und die Gleichberechtigung der Frau in mancher Hinsicht spürbar einschrJ.nkt. 95 Das wird in säkularen Kreisen
" J.R. Baskin (Hg.). Wornen of the Word: Jewish Wornen and Jewish Writing. Dctroit. Waync Stute Univcrsity Press. 1994; S. Pamel Zohy, ..And All Your Childrcn Shal1 Be Lcamed". Wornen und the Sludy ofTorah in Jewish Law and History. Nonhvale. NJ 1993. 'OJ M. Freeman. Wornen. Law. Religion, and Politics in ISl1lcL a human rights perspective. in: M. Kalpana (Hg.). Jewish Feminism in Israel. Hanover. NE 2003. 57-75. 91 M. Morgan. 'rwg, hbSm. A Guide tO the Laws of Nidah. A comprehensive guide to the laws offamily purity. including woman's personal checklist for the Mikveh. Reviewcd by and including Psokim from the Debrecener Rav. Hagaon Moshc Stem. Brooklyn 1983. 91 A. Cantor, Jewish WomeniJewish Men: The Legacy of Patriarchy in Jewish Life. New York 1995. 9) S. Grossman (Hg.). Daughters of the King. Wornen and the Synagogue. Philadelphia 1992. 90 P.S. NadelI. Wornen Who Would Be Rabbis: A History of Wornen's Ordination. 1889-1985. Boston 1998; P. Nav~·Levinson, Die Ordination von Frauen als Rabbiner. Zeitschrift fLir Religionsund Geistesgeschichte 38. 1986,289-310; S. Greenberg. The Ordination of Women IlS Rabbis: Sludies and Responsa. Moreshet Series 14. New York 1988. ., M. KalpanalM.S. Rich (Hg.). Jewish Feminisrn in Israel: Some Contemporary Perspc<:tives. Hanover. MA 2003; R. Halperin-Kaddari. Wornen in Israel: astate of their own. Philadelphia 2004.
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als unzumutbar gewertet. Aber selbst orthodoxe Frauen mahnen immer häufiger eine Revision ihrer Position an. 96 Während aber die Frau traditionell nur zur Beobachtung einer begrenzten Zahl von Vorschriften verpflichtet ist, würde sie im Fall der Gleichstellung zur vollen Religionsobservanz verpflichtet. Dadurch würde sich die häusliche Frömmigkeitspraxis und das traditionelle Familienszenarium beträchtlich ändern und die üblichen Anleitungen für jüdische Frauen97 müssten neu geschrieben werden. Aber die jüdische Orthodoxie ist zur Zeit alles andere als auf dem Rückzug und die orthodoxe Lebensweise erhält keineswegs nur von der männlichen Seite her Zulauf. 9t1 Dieser Problemkomplex wird also mit seinen zahlreichen rechtlichen. sozialen und ethischen Aspekten auch in Zukunft akut bleiben. 99 Moralisch problembeladen ist der Status des .,Mamzer", der einer religionsge· setzlich verbotenen Verbindung entstammt und selber wieder nur seinesgleichen oder eine Proselytin heiraten darf. Infolge der zunehmenden Zahl von Kindern aus Ehen, die nicht nach den rabbinischen Regeln geschlossen wurden, daher möglicherweise ..Mamzerim" sind, existiert eine beachtlich große Gruppe von Personen. die ihrer Diskriminierung nur durch eine Abkehr vom Judentum entrinnen können. Ein krdSser Fall von Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit erwuchs aus dem traditonellen Eherecht für verlassene verlobte Mädchen (die Verlobung ist rechtlich bindend) und Ehefrauen. Weil für eine neue Eheschließung eine Schei· dungsurkunde erforderlich ist. diese aber nur durch den Entlaufenen ausgestellt werden könnte. kann eine solche Verlassene CagQ"ah) nicht mehr heiraten. Die rabbinischen Autoritäten und die Gemeinden haben stets viel getan, um dem Entlaufenen auf die Spur zu kommen und eine Scheidungsurkunde zu erlangen. 'oo Das menschliche Leben wurde in früheren Zeiten durch Krankheiten weit gravierender bestimmt als heutzutage, und daher war ihre religiös-ethische Bedeutsamkeit entsprechend groß. 101 Die Neigung, zumindest bestimmte Krankheiten als
"" B. Greenberg, On Wornen and Judaism. A view from tradition. Philadelphia 1981. 97 Diese Lilcraturgaltung ist slark vcrtrelen: vgl. etwa B. Greenberg. How to Run a Traditional Jewish Household, New York 1983. " L. Davidman. Tradilion in a Rootless World: Wornen Tum to Onhodox Judaism. Berkeley 1991. 99 I.M. Ruud. Wornen and Judaism. A selecl annotated bibliography. New York 1988. - Neuere Publikationen: R. Adler. Engendering Judaism: An Inclusive Theology and Ethics. Philadelphia. PA 1998: J. Baskin. (Hg.). Jcwish Wornen in Historieal Perspeelive, Oetroit 1991: J.B. Wolowelsky. Wornen. Jewish Law. and Modemity: New Opponunities in a Posl-Ferninist Age. New York 1997: M.L. Raphael. (Hg.). Gendering Ihe Jewish Past. Virginia 2002; Men and Wornen. Gender. Judaism and Dernocraey. Jerusalern 2004. LJ. Greenspoon/R.A. Simkins (Hg.). Wornen and Judaism. Lineoln. NE 2003. '00 S. Riskin. Wornen and Jewish Divorce: The rebellious wife. the agunah. and Ihe right of women to initiale divorce in Jewish law, Hoboken. NJ 1989. '0' S. Allievi (Hg), Salute e salvez.za. Le rcligioni di fronte alla naseila. alla rnalatia e alla rnone. TorinolBologna 2003.
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Folge eines moralischen Fehlverhaltens zu werten, war in einem gewissen Maß immer gegeben; etwa nach der Ansicht. dass der Mensch in dem bestraft werde. worin er sich versündigt hat. So hat man z.B. den Aussatz als Slraffolge für üble Nachrede angesehen. und in unserer Zeit führte AIDS auch im Judentum zu einigen Irrilalionen. I02 Dennoch war die Bereitschaft zu solidarischer Hilfe in den jüdischen Gemeinden stets groß und Krankenbesuch und Krankcnversorgung gelten
als dringliche ethische Anliegen. die in vielen Gemeinden auch durch besondere Gesellschaften wahrgenommen werden,'OJ Auch die Versorgung rnillelloser und alter Miljuden gilt als moralische Pflicht Und obschon es sich um Belange handelt, die in erster Linie der Solidaritätspflicht innerhalb der Erwählungsgemeinschaft unterliegen. stellte man sich auch der Aufgabe. akut not leidenden Nichtjuden zu helfen. II:14 Für zahlreiche bekannte liberale und selbst schon weitgehend assimilierte Familien war im 19.120. Jh. philanthropisches Wirken geradezu ein Markenzeichen. Der Tod lOS trifft alle gleich. aberdie Toten werden nicht alle gleich gewertet und behandelt. Tote. auch nichtjüdische. würdig zu begraben. gehört zu den ethischen Pflichten. Die Wahrung der Menschenwürde im Tod. die ritualisierte Trauer um die Verstorbenen. und eine ehrfurchtsvolle. aber (ähnlich wie im Islam) mit ega· Iitären Merkmalen gestaltete Begräbnispraxis kennzeichnen in Trauerf
'0: G. FreudenthaI (Hg.). AIDS in 1cwish Thought and Law, Hoboken. NJ 1998. '0' A. Levine. How to Perform the Great Mitzva of bikkur eholim; visiting the siek, Toronto 1987. 100 D. ShalZ, U.a. (Hg.). Ttkkun olam. Social Responsibility in 1cwish Thought and Law. Northvalc. NJ 1997. I," D. Kracmcr. Tbc Meanings of Death in Rabbinie Judaism. London 2000. 10» M. Fishbanc. Thc Kiss of God: Spiritual and Myslic Death in Judaism. Seallie 1996.
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Definitionen des Todeseintritts. 107 Und selbstverständlich wird - wie schon bisher die Selbsttötung - auch das Verlangen nach Beendigung des Lebens (Sterbehilfe) sehr kontrovers diskutiert. 108 Im Judentum kommt dem Gedenken von alters her ein zentraler Platz zu. Das gilt für das Totengedenken im individuell-familiären sowie im synagogalen und öffentlichen Bereich.IO'> Darüber hinaus hat das Gedenken an Märtyrer in lokalen und regionalen Gemeindeüberlieferungeeine liturgische Verankerung. In den letzten Jahrzehnten hat man den Gedächtnisbegriff aber auf die Holocaustthematik zentriert und so wird er nicht zuletzt auch für ritualisierte Gedenkveranstaltungen in Anspruch genommen. IIO Seither liest man des öfteren von einer spezifischjüdischen und vorbildlichen Gedächtniskultur. 11l Das es auch negative Begleit- undFolgeerscheinungen gibt, wird ungern zur Kenntnis genommen. 111 Nichtjüdische Autoren sind sich meist nicht bewusst, welche Assoziationen der BegriffGede"ken auf Grund der jüdischen Tradition auch weckt. 'h1k6r (..Gedenke!'·) ist der Name der Leseperikope Dtn 25,17-19 mit der Prophelenlesung aus lSamuel15. Nicht nur die Ausrottung Amaleks wird religionsgesetzlich geboten, sondern auch das Auslöschen seines Andenkens, und 'h1kOr ist dafür sozusagen die Losung. Und dem enlsprichl. dass von den vielen arabischen Ortschaften im israelischen Staatsgebiet. aus denen 1948/9 die Bewohner geflohen sind oder vertrieben wurden, kein Stein auf dem andern geblieben ist, sondern alles spurlos eingeebnet oder überbaut wurden und so jede Erinnerung ausgelöscht ist.
Der Einzelne im Rahme" der Solidargemeinschajt "Israel" Israel stellt eine am Sinai durch die Torah-Verpftichtung konstituierte Erwählungs- und Solidargemeinschaft dar. Da die Erwählungsaufgabe eine kollektive ist, hat sich der Einzelne ihr einzufügen, er findet die Erfüllung seiner persönlichen Zweckbestimmung im Rahmen der Heilsgeschichte Israels. Alle Israeliten gelten darum als füreinander verantwortlich; schert einer aus, schädigt er das Ganze. A. Soloveichik, l1\e Halachic Definition of Death, in: F. Rosner/J.D. Bleich. (Hg.). Jcwish Bioethics, New York t979. 296-302; vgl. femer die Beitr'Jge im Heft "Detcnnining Dealh ac· cording to Halakah·· im Journal of Halacha and Contcmporary Sociely 17, 1989 (7-13: F. Rosner, Definition of dealh in Judaism. 14-31: H. Schachlcr. Delcnnining death. 32-40: A. Solovcilchik. Dcath according 10 Ihe Halacha. 41-48: C.D. Zwiebel. Accomodaling Religious Objcclions 10 Brnin Dcalh. Legal consideralions.). 101 W. Jacob, Dealh and EUihanasia in Jcwish Law, $tudies in progressive halakah, Pitlsburgh 1995. 10\1 A. Levine. The Completc Yizkor Handbook. A practical guide to a deeper underslanding and a more meaningful obscrvancc of Yizkor. Willowdale 1987. 1101. HalperiniG. Leville (Hg.), Memoirel hisloire. ACles du XXe colloqie des inlellecluels juifs dc langue fran'laisc. Paris 1986: M. Signcr (Hg.), Memory and History in Christianily and Judaism. Crown·Minow Conference, Notre Dame, IND 2001; B.E. KleinlCh.E. Müller (Hg.), Memoria - Wege jüdischen Erinncms, Bcrlin 2005. lIt A. Margalit, Thc Ethics of Mcmory. Cambridge. MA 2002. 111 Vgl. die Kritik in: H. Rousso. La hanlise de la passe. Entretiens avcc Philippe Petit, Paris 1998. '07
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verzögen er den Fortschritt der Heilsgeschichte. und so wirkt sich individuelle Schuld im Verhältnis zu Gott als Kollektivschuld aus. Der religiös begründete soziale Druck auf das einzelne Mitglied des Ganzen ist entsprechend groß. konnte aber verkraftet werden. weil er in erster Linie die Praxis betraf. fur das Denken aber ein vergleichsweise weiler Freiraum blieb. Die exklusive Einschränkung der Torahgeltung auf Israel verwandelt die uni· versale Torah zum Gruppenrecht. und daher steht auch das Verhältnis zum ..Bruder''' bzw. zum ,.Nächsten" im Vordergrund. Lev 19.16-18 gebietet dem Israeliten (16) ..Du sollst nicht als Verleumder herumgehen in deinem Volk: du sollst nicht gegen das Leben deines Nächsten aufstehen: Ich bin JHWH! (17) Du sollst Dei· nen Bruder nicht in deinem Herzen (d.h.: insgeheim) hassen. vielmehr sollst du deinen GeHihrten (offen) zurechtweisen. damit du dir nicht seinetwegen Schuld auf dich ladest. (18) Du sollst nicht Rache üben und du sollst nicht Groll hegen gegen Söhne deines Volkes: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst - Ich bin JHWH!"IIJ Um diese eingeschränkte Bedeutung der Begriffe "Brude(' und "Niichste(' ist viel gestritten worden. weil sie in reformjüdischen Kreisen nicht mehr aufrechterhalten und von christlichen Theologen judentumskrilisch der christI ichen ..Feindesliebe" gegenübergestellt wurden. '1. Aufjudenfeindlicher Seite gaben sie Anlass zu heftigen Vorwürfen. Exegetische Versuche. dies auf zwischenmenschliche Beziehungen allgemein zu deuten. sind aber fehl am Platz. es geht zweifelsfrei um gruppengebundenes Recht und Ethos. Das kommt z.B. im Sklavenrecht sehr klar zurGeltung. in dem hebräische/jüdische und nichtjüdische Sklaven einen völlig unterschiedlichen Status haben: und auch im Königsrechl wird eindeutig ausgeschlossen. dass eine Person nichtisraelitischer Abstammung (etwa ein Proselyt oder Proselytennachkomme) zum König eingesetzt werden kann. weil Dtn 17.15b ausdrücklich formuliert: ..Du sollst aber einen von deinen Brüdern zum König über dich setzen" .lU
H.P. Mathys. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19.18). OBO 71. FribourglGöttingen 11990. 11' Die Behandlung dieser Thematik fUhrt auf Schrill und Tritt in Fußangeln. wie z.B. die Uno tersuchung von A. Nissen. GOIl und dcr Nächstc im antiken Judentum. WUNT 15. Tübingen 1974 (hier ältere Literatur) und die Reaktionen darauf gezeigt haben. Das Thema ist eine Art Daucrbrenner im christlich-jüdischen Dialog; vgl. Y.T. Radday. Nächstenlicbe nllch jüdischer Auffassung. Universitas 39. 1984.383-392. IlJ Mose ben Maimon. Mi~neh Törah. Hilköt M'lakim 1,4: "Man setzt keinen König ein aus einer Gemeinschaft \'on Proselyten. auch nicht nach mehreren Generationen. solang er keine jüdische Müller hat. Denn es heißt (Otn 17.15): Nicht kannsi du Ü~,. dich $~lZ.t'n ~in~n fremd~n Mann. da ~r nicht d~in B,.ud~,. ;s' (vgl. bJcb 45b). Und n)cht bloß rU:r die KönigsherTSChaft. sondern filr kein Amt in Isrnel. ob als Heeresbefehlshaber oder Befehlshaber einer Fünf2igerschaft oder Befehlsha· ber einer Zchnerschaft. ja nicht einmal als Aufseher über eine Wasserleitung. damil er Vof\ der aus den FeIlIern (Wasser) zuteile (vgl. bQidd 76b); nicht erwähnl zu werden brauchi: (auch nicht) als Richter oder Fürst (nast). die nur aus Israel stammen dürfen. Oenn es heißt (ebd.): ~i~n (JUS d~;n~n BrUdun sollst du ;;~,.dich als König S~tz.~n - jedwcde Amtsfunktion. diedu übenfägst. soll keinem anderen zukommen als einem aus deinen Brüdern." Weithin gleichlautcnd in der Fonnulierung auch in Mose ben Maimon. Serar ha-mi,wöt. Vcrbot Nr. 362 zu Otn 17.5. 111
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Die traditionelle jüdische Diasporagemeinde verstand sich als .,heilige Gemeinde" und als Repräsentanz Israels und war bestrebt, gegenüberZentralisierungstendenzen die eigene Autonomie zu bewahren. selbst um den Preis vieler Nachteile. So waren disziplinäre Maßnahmen oder Gerichtsurteile einzelner Gemeinden für andere nicht bindend. Die Versuchung, dem durch Ortswechsel auszuweichen. war gegeben. und so war man bestrebt. durch Absprachen zwischen den EinzeIgemeinden wenigstens eine regional begrenzte Absicherung zu erreichen. Ferner bestand immer auch die Möglichkeit, einen nichtjüdischen Gerichtshof anzurufen, was prinzipiell zwar nicht gutgeheißen wurde, aber in gewissen Bereichen gar nicht zu vermeiden war, da die jüdische Rechtsautonomie verschiedentlichen Einschränkungen unterlag. Dass unter derartigen Umständen die autonome jüdische Gemeindegerichtsbarkeit dennoch so lange und so effektiv funktionieren konnte. war dem Ethos der einzelnen Mitglieder der Erwählungsgemeinschaft zuzuschreiben. Alle Israeliten bürgen füreinander, lautet ein bekanntes Leitwort. und das erfordert soziales und politisches Engagement. 1I 1> In der Hauptsache beschränkte sich dieses auf die Einzelgemeinde; in der Modeme spielten allerdings Vereine und überregionale Organisationen eine immer größere Rolle. zuletzt auch Organisationen mit einem umfassenderen Vertretungsanspruch. Jede Gemeinde. speziell in der Diaspora. war und ist auffinanziell potente Mitglieder angewiesen. Insbesondere galt es. die fiskalischen Auflagen der fremden Obrigkeit zu erfüllen, da davon das Existenzrecht der Gemeinden abhing. Der Zwang zur materiellen Absicherung erweckte in der Umwelt den Eindruck einer spezifisch jüdischen Neigung zu den Gütern dieser Welt. Kontroversen zu dieser Frage setzen bei antiken Verhältnissen ein und reichen bis in die Modeme. 111 Dass der eine oder andere Reiche und MäChtige in den Gemeinden mehr oder weniger im Eigeninteresse und willkürlich handelte. war eine immer wiederkehrende Erfahrung. Man sprach in solchen Fällen von einem pari(: (..Gewaltmenschen"). der nicht nur die Solidaritätspflicht innerhalb der Gemeinde verletzt. sondern auch die gegenüber Israel insgesamt. Die Gemeinden konnten aber auf die Unterstützung solcher ..Sünder Israels" nicht bloß aus finanziellen, sondern auch aus politischen Gründen nicht ohne Weiteres verzichten, handelte es sich doch meist um Personen mit mehr oder minder großem Einfluss in der nichtjüdischen Umwelt. Die ethischen Probleme der Handhabung einer fremden Obrigkeit oder Macht
N.L. Rabinovilch. All Jews are responsible for One Another. in: J.J. Shacter (Hg.). Jewish Tradition and the Non-Traditional Jew. Nonhvale. NJ 1992. 177-204. m F. Raphael. Juda"isOle et capitalisme. Essai sur la Controversc entre Max Weber et Wemcr Somban, Paris 1982. Bemerkenswert ist das in den letzlen 13.hren intensiviene Interesse an Sozialund Geschäftsethik: vgl. E. Zipperslcin. Business Ethics in Jewish Law. New York 1983: L. Jung. Business Elhics in Jewish Law. With an concluding SCClion .on Jewish business cthics in contern· porary society by A. Levine, New York 1987: D. Novak. 1ewish Social Elhics, New YorkiOxford 1992: A. Lcvine. ease Sludies in Jewish Business Elhics. Hobokcn. NJ 2000: N. Rakover. Elhics in lhe Markcl Place. Jerusalem 2000: ders.. Unjust Enrichment in Jewish Law. Jerusalem 2000. 116
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im Interesse der eigenen Gruppe waren immer diffiziler Art. Rechtssicherheit (Status) und Schutz fand man am effektivsten bei der jeweils mächtigsten Instanz. Die Kehrseite der Medaille war zum einen das Risiko, dass der venneinlliche Beschützer zum eigennützigen Verfolger wird. und zum anderen die Reaktion auf diese Allianz mit den Herrschenden unter den Beherrschten. Unterdrückten und Ausgebeuteten. Diese Ambivalenz der Beziehung zur Macht war häufig die Ursache von Konfliktsituationen. die selbst bei sorgraltigster GÜlerabwägung nicht auf eine ethisch befriedigende Art zu lösen waren. Manchmal mussten Einzelne für das Gemeinwohl geopfert werden, und immer wieder verrieten Einzelne ihre
Gemeinde. Verräter und Denunzianten (moserim, malsini",) sowie Apostaten (m~stm,,"adiml mlimarim) stellten existenzbedrohende Erscheinungen dar und wurden daher auch mit außergewöhnlichen Mitteln bekämpft. Wie sich die rechtliche Diskussion vorwiegend auf den in der Diasporaexistenz anwendbaren Teil der Torah beschränkte, so entwickelten sich auch die ethischen Normen vorzugweise situationsgemäß. der Minoritäts- und Diasporasitualion entsprechend. Die Judenheit der Diaspora war der Umwelt gegenüber schon infolge der zahlenmäßigen Begrenzung derart exponiert, dass die Rücksichl auf Eindruckswirkung - und selbst auf den bloßen Schein - die üblichen Grenzen überschritt und dem Einzelnen ein hohes Maß von Mitverantwortung aufbürdete. Minoritälsethik ist immer Elite-Ethik; und dementsprechend halte Selbstkritik (religiös: das Sündenbekenntnis) im traditionellen Judentum einen besonderen Stellenwert, was ein gleichzeitiges Überlegenheitsbewusstsein gegenüber den ..Gojjim'· ("Völker I Nichtjuden") keineswegs ausschloss. Das Judentum war nur zu begrenzten Zeiten in der Lage. die Torah wunschgemäß, also möglichst umfassend und im Land Israel zur Geltung zur bringen. Man hat daher die Belange und rechtlichen Aspekle eines jüdischen Staatswesens vergleichsweise sehen behandelt. nur im Mis"eh Torah des Moses Maimonides (gesl. 1204 in Ägypten) wurde auch dieser Teil der schriftlichen und mündlichen Torah kodifizierenddargelegt; unddaherkommt diesem Werk auch in derheutigen Diskussion über den Charakter des .Jüdischen Staates" eine besondere Bedeutung zu. Traditionsgemäß müsste im Fall eines ,Jüdischen Staates" die Torah bzw. Halakah als staatliches Recht eingeführt werden, ein theokratisches Konzepl." R was in eine Problematik führt, die sich auch bei den Versuchen zur Etablierung eines "christlichen" oder "islamischen" Staates ergibt. Wie eine torahgemäße Verfassung aussehen soll,lässl sich auf Grund der Tradition außerdem konkret kaum beantworten. Gegen die Staatsform der Monarchie wurden bereits in alIisraelitischerZeit Bedenken laut, die Willkür monarchischer Machtausübung wurde recht polemisch vor Augen geführt und diese Polemik gipfelte inder Alternative: Gonesherrschaft oder Königsherrschaft. Das biblische Kön~gsrecht in Dtn 17,14-20 und die flÜhjüdischen Ausformungen des Königsrechts, etwa in der Tempelrolle aus G. Weiler, Jewish Thcocracy. Leiden 1988: E. Belfer. 1llC Jcwish Pcople and lhe Kingdom of Heaven. A sludy of Jewish Theocracy, Ramal Gan 1996. 111
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Qumran (11 Q 19) beschränken die militärische Macht und die Prunkentfaltungdes Königs auf eine im Rahmen des Alten Orients und der Antike sehr eigentümliche Weise. Der König steht nicht über dem Gesetz, ist auch nicht der maßgebliche Gesetzeber, er ist vielmehr der Torah unterworfen. Dieses Königsrecht stilisiert den König Israels sogar zu einem vorbildlichen Torah-Frommen, und das gilt noch mehr für den erhofften davidischen Ideal herrscher der Heilszeit. Gott übt seine Herrschaft mittels derTorah, durch seinen offenbarten Willen aus. und Herrschaftsausübung wird nach dieser Tradition durch Torahausübung legitimiert. Mit der Gründung des Staates Israel wurde die Debatte um die richtige Verfassung eines jüdischen Staates aktuell. Der pionierzionistisch-sozialistische Staat Israel harte sich zwar als ,Jüdischen Staat" definiert, aber als demokratische Republik westlicher. v.a. angelsächsischer Prägung. Dennoch kam es infolge der schwierigen Mehrheitsverhältnisse zu einem Kompromiss mit zweierlei Rechtsund Gerichtssystemen, einer staatlichen Gerichtsbarkeit und einer für gewisse Bereiche (v.a. das Personenstandsrecht) zuständigen rabbinischen Gerichtsbarkeit. obwohl die überwiegende Mehrheit religiös eher desinteressiert war. Nach dem Wahlsieg der Rechtszionisten und Fundamentalisten im Mai 1977 erhielten Tendenzen zu einertheokratischen und fundamentalistischen Einfarbung des ganzen Bereichs der Politik. der öffentlichen Verwaltung und des Rechtswesens Aufwind, und dem ging auch in der Diaspora ein entsprechender Rechtsruck parallel. Die Kluft zwischen dersäkularorientierten Mehrheit und einer nun immer stärker werdenden orthodoxen Minderheit erweiterte sich merklich und mitdiesen Gegensätzen kamen auch entsprechend widersprüchliche ethische Maßstäbe und Verhaltensweisen zur Geltung. Eine Folge dieser Konstellation ist natürlich, dass der Staat Israel seine jüdische Qualität nicht bloß formal über das Personenrecht (Staatsbürgerschaft israelisch. nationalität jüdisch) definiert, sondern darüber auch inhaltliche Bedingungen stellt. Säkular ortientierte isralische Staatsbürger jüdischer Nationalität müssen eben akzeptieren, dass sie nicht die Freiheit haben, sich zu einer anderen Religion zu bekannen; und sie müssen auch eine Reihe eigentlich religiös-orthodox begründeter Vorschriften hinnehmen, so dass ein Konflikt mit dem Prinzip der Religionsfreiheit vorprogrammiert ist. 119
Ethos der Erfahrung und der Vernunft unter dem Vorzeichen der Torah Elfahrllngsweisheit, Lebensweisheit. und Schulweisheit Die ältere biblische Weisheitsliteratur weist als Teil der altorientalischen Weisheitstraditionen keine religiöse Begründung des Ethos im Sinne der JHWH-Religion auf. Kennzeichnend ist vielmehr ein hohes Maß an Erfahrungswerten, aus denen der Weise die jeweils situationsgerechte Verhaltensweise mittels vernünfliger Überlegung erschließt. Das lief meistens auf ein wohl ab- und ausgewoH.H. Coho. Religious Frccdom and Religious Coercion in Review 3.2, 2002. 3-35. 119
lhe
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genes, die Extreme meidendes Ethos hinaus, für das in mancher Hinsicht auch Entsprechungen in der Ethik der hellenistischen Popularphilosophie, speziell der Stoa, zu finden sind. Vieles davon war in Fonn von Spruchliteratur überliefert und wurde in Schul· traditionen literarisch weiter aufbereitet, bis zur Entstehung von traktatähnlichcn, Ihemengebundenen Sammlungen. Der Bezug zur JHWH4Reiigion ist in der Re· gel erst in diesen relativ späten literarischen Überlieferungssladien eingetragen worden. Die Ethik dieser Weisheitslehrcn ist daher als eine mehr oder minder autonome zu bezeichnen. In den letzten Jahrhunderten v.Chr. hat man begonnen. dieser .,Weisheit'· eine universale Dimension zu verleihen und sie letztlich als Schöpferweisheit darzustellen; und das untcr dem Vorzeichen einer Torah-Theologie. für dic Goltes Schöpferweisheit mit der Torah identisch war. Von da an konnte alle Weisheit. auch die erwähnte Erfahrungs- und Lebensweisheit. mit ihrem Ethos als Torah-Inhall betrachtet werden. Die enge Bcziehung zum praktischen Alhagsleben hat jedoch bewirkt. dass die Spruch- und Lebensweisheit lebendig und populär blieb. In der spätantiken rabbinischen Literatur hat eine Fülle mehr oder minder populärer WeisheitselementeAufnahme gefunden hat. die aber auch Zeugnisse rur eine geziehe YerarbeilUng im Sinne rabbinisch-jüdischer Religiosität und Siltlichkeit enlhäh. 120 Die sogenannten "Spruche der Väter"' (Pirqe 'ab6r), ein in das Gesetzeswerk der Mischna spät eingefügter Traktat, 121 sind das prominenteste Beispiel dafür, und dieser Traktat hat auch in den folgenden Jahrhunderten bis heute mit der dazu verfassten. aktualisierenden Kommentarliteratur als einer der Basistexte jüdischer Ethik fungiert. 122 In den "Spruchen der Väter" wurde das weisheitliche Material nicht thematisch geordnet, sondern im Sinne von Maximen einzelner Lehrer diesen zugeordnet. aber in einer Reihenfolge, die dem letzten Teil der Tradentenkene der ..Mündlichen Torah" entspricht. So erscheint die überlieferte Weisheit als Lehreder rabbinischen Lehrer, für die auch tatsächlich die Bezeichnung "Weise" üblich war. Das Hauptanliegen war diese traditionsgeschichtliche Konstruktion und demonstrative Vereinmahmung der Weisheitstraditionen. keineswegs eine Bestandsaufnahme des weisheitlichen Ethos. Daher besteht ein gewisses Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Inhalt und dem Geltungsanspruch. Mit anderen Worten: Das rabbinische Ethos wurde nicht von da aus geprägt, sondern durch eine weit vielfaltigere Wirklichkeit. Es war einerseits stark durch das praktische Alltagsleben bestimmt und blieb von daher recht pragmatisch und realistisch ausgerichtet. andrerseits durch die Situation und Tradition der rabbinischen Schulen
M. Kadushin. Worship and Elhics. A Sludy in rabbinie Judaism. Evanslon. IL. 1964. 1lI Dazu G. Slcmbcrger. Mischna Abot. Frühe Weisheitsschrifl. pharisäisches Erbe oder Spälrabbinische Bildung. ZNW 96. 2005. 243--258. m S.P. Toperoff. Avot. A Comprehensive Commenlary on the Ethics of Ihe Fathers, Northvale. NJ 1997; A. Tropfer. Wisdom, POlilics. und Hisloriography: TraCl31e Avol in the Conlexl of lhe Gra(.'Co-Roman Near Easl. Oxford Oriental Monographs, Oxford 2004. Illl
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und erhielt dadurch den Charakter einer Expertenweisheit, auch in Analogie zur hellenistischen Rhetorik für Rechtsgelehrte. Wie im helJenistischen Bereich dem philosophischen Weisen hat man auch dem Typus des rabbinischen Weisen außer· gewöhnliche Charakterzüge und eine asketische Lebensführung zugesprochen. er wurde daher zum Typus des rabbinisch gebildeten Torahfrommen. Repräsentant eines entsprechenden Bildungsideals und Ethos. Obwohl die rabbinische Gelehrtenschicht zahlenmäßig sicher nur einen kleinen Teil der Juden Palästinas und Babyloniens ausmachte, wurde dieser Typus des "Weisen" in den folgenden Jahrhunderten zur Leitfigur im Judentum überhaupt. l2J Und zwar infolge des Umstandes, dass die - meist kleinen - Diasporagemeinden des Mittelalters im Kern hauptsächlich aus Familienhäuptern bestanden, die dieses Ideal zu verkörpern suchten und ihrerseits wieder zu Vorbildern für spätere Generationen geworden sind. So hat das rabbinische Weisenethos im Rahmen von Familientraditionen das Ethos der mittelalterlichen Gemeinden bestimmt und maßgeblich zu dem beigetragen, was danach als jüdisches Ethos gegolten holt. Das antike Erbe der Spruch- und Lebensweisheit reicht weit ins Mittelalter hinein. und wurde, in literarisch anspruchsvollere Fonnen gekleidet und inhalt· lieh insbesondere aus der arabischen Spruchliteratur angereichert. zu einer recht beachtlichen Sparte der hebräischen Literatur. Zunächst in Form der kleineren Gattung der Mif/i musar. später auch als umfangreichere Schriften. Derartige Stoffe haben auch in jüdisch-volkssprachlichen Schriften Aufnahme gefunden und stel Iten jenen Teil der Überlieferung dar. der mit seinen weithin säkularen Inhalten eine gewisse Emanzipation von der ansonsten so starken Bevonnundung durch die religiösen Autoritäten ermöglicht haI. Begreiflich also, dass das aufgeklärte Judentum eine besondere Vorliebe für diese Literatursparte hatte und sein Ethos zu einem Teil auch damit begründete. Die mittelalterlichen Erbauungsbücher haben derartige Überlieferungen zwar auch da und dort aufgegriffen. aber das Hauptanliegen war hier die Anleitung zu rechter Torah·Praxis. Auch im sogenannten SeJär H'sidim ("Buch Frommer"), einer in mehreren Varianten überlieferten Sammlung unterschiedlicher Traditionen. sind ganze Komplexe wie einzelne Passagen einschlägigen Charakters enthalten. Sie wur· den im 19.120. Jh. oft auf übertriebene Weise und pauschal als kennzeichnend für das Ethos des mittelalterlichen "deutschen" (aschkenasischen) Chasidismus in Anspruch genommen, doch zeichnet sich nur in begrenzten Kontexten eine überdurchschnittlich strenge Linie ab. Als Erbauungsbuch gewann eine der über-
llJ J.
Neusner.11le WorKIer-Working Lawyers ofTalmudic Babylonia. Lanham 1987, 153ff: R.L. Kalmin. The Sage in Jewish Society of Late Antiquity, New York 1999; C. Heszer. Der Rabbi als spezifisch jüdische Identifikationsfigur der Sptitantike. in: B. Aland. u.a. (Hg.). Literarische Konstiluierung von Identifikalionsfiguren in der Antike. Tübingen 2003.139-163.
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lieferten Fassungen nach dem Erstdruck in Bologna 1538 große Bedeutung und wurde ca. 30 Male gedruckt. 124 Es hatte vor allem Auswirkungen auf das Ethos
des osteuropäischen Chasidismus der Neuzeit. Der osteuropäische Chasidismus hat sich im 17.~19. Jh. in OpPOsition zum rabbinischen Establishment herausgebildet und eine mehr emotional akzentuierte Frömmigkeitsform entwickelt. Dabei wurde das Individuum freilich aus dem Kontext der herkömmlichen Gemeinden herausgelöst und in Gemeinschaften in-
tegriert, die anfangs auf eine charismatisch wirkende Leilfigur fixiert waren. auf den faddiq ("Gerechter"). Später wurden dieseAuloritälcn auch "Rebbe" genannt und entwickelten sich zu autoritären, dynastisch institutionalisierten Häuptern ihrer Anhängerschaften. Die Bewegung lebte aus dem Gegensatz zu den Defiziterscheinungen der offiziellen Gemeinden Osteuropas. was modeme Autoren aus Opposition zur Orthodoxie gern überbewerteten und für ihre eigenen jüdischen Tendenzen nutzbar mach(t)en. Doch der Chasidismus war und ist alles andere als eine Reformbewegung. er gehört trotz seiner Eigenheiten 123 bis auf Ausnahmen vielmehr zu den konservativsten Kräften innerhalb des Judentums. auch was Lc· bensgewohnheiten und Ethos betriffl. 126
Uroffe1lbartmg. "oachidische Gebote und NarurrecJu Es hat in der Antike unter hellenistisch gebildeten Juden wie Philo von Alexandria intensive Bemühungen gegeben. eine allgemeinmenschliche Verantwortlichkeit zu begründen. ohne den jüdischen Exklusivitätsanspruch auf die Torah preiszugeben. Wirkungsgeschichtlich war dies jedoch von geringem Gewicht. und das maßgeblich gewordene rabbinische Judentum hatte für diesen Zweck außerdem seine eigenen Konzepte entwickelt. Mit dem exklusiven Anspruch auf die Torah-Verpflichtung ist Israel die Möglichkeit einer autonomen Gesetzgebung und Ethik prinzipiell verwehrt. auch wenn im Detail immer wieder die rationale Urteilsfahigkeit gefordert ist und diesbezüglich Diskussionen aufbrechen. 127 Es handelt sich um eines der seltsamsten Phänomen der Religionsgeschichte. dass den Nichtjuden diese Möglichkeit prinzipiell zugesprochen wurde. mit der Verpflichtung. diese Möglichkeit auch wahrzunehmen. Das geschah im Rahmen der Konzeption der sogenannten sieben Gebote der Noachiden. eine vorsinaitische Vorwegnahme von Torahvorschrif-
11<
T. Frizer-Alexander. The Pious Sinner. Elnies and Aeslhelies in Ihe Medieval Hasidic
Narralive. TUbingcn 1991. I~ Für die Elhik vgl. M. ROlenberg. Dialogue wiln Devianee: The Hasidie Elhie and lhe Thcory of Sodal Conlraelion. Philadelphia 1983. IllI S. Boteach, Wisdorn. Understanding and Knowledge. Basic Concepis of Hasidic Thought. Nonhvale. NJ 1996: N. Lamm. The Religious Thoughl of Hasidism. Text and Comrnentary. New York 1999. In M.Z. Sokol. The Autonomy of Reason. Revealed MoralilY and Jewish Law. Religious Sludics
22.1986.423-437.
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ten. einem Gebot und 6 Verboten im Blick auf die vor- und nachdiluvianische Menschheit. m (I) Gebot einer ordentlichen Rechtspflege; (2) Verbot der Gotteslästerung; (3) Götzendienstverbot; (4) Verbot des Blutvergießens/Mordes; (5) Verbot der Unzucht; (6) Verbot des Raubes; (7) Verbot von 'Pre!ah·Gelluss. also von Fleisch. das von nicht rituell vorschriftsmäßig geschächteten Tieren stammt, was das Blutgenussverbot nicht unbedingt einschließt. Es gibt einige Entsprechungen zu Dekaloggeboten, aber das ist hier unwesentlich, denn der Dekalog als Teil der Torah gilt ja nur für Israel. Hier hingegen wird tatsächlich eine Art Ur-Offenbarung im Sinneeiner Minimal-Torah für Nichtjuden der Sinai-Torah zeitlich vorangesetzt. eine Art Grundgesetz, das mit der Forderung nach der Einrichtung eines ordentlichen Rechtswesens außerhalb Israels die Möglichkeit einerde facto autonomen Gesetzgebung und Ethik einräumt. um eine entsprechende Praxis mit Argumenten anmahnen zu können, die auch Nichtjuden nachvollziehen können. '29 Aus traditioneller jüdischer Sicht war freilich entscheidend. dass ein ,.Noachide" so wie den Gotllsraels als einzigen Gott auch die Torah als einzige übergeordnete Autorität anerkennt ohne zu detaillierter Kuhausübung und Toraherfüllung verpflichtet zu sein und Jude werden zu müssen. Bei voller Verfügung über das Land Israel hat ein dort lebender Nichtisraelit nach lraditionellcm Recht den Status eines Beisassen (ger ,Mab). und die Bedingungen dafür sind im wesentlichen mit den noachidischen Geboten identisch. In der vorläufigen Heilszeit am Ende der Geschichte. in den sogenannten .•Tagen des Gesalbten ("Messias). müssen alle Völker ihre angestammten Religionen aufgeben und .,Noachiden;· werden. und Israel bzw. der König Israels übt die Rechtsaufsicht aus. Das Verbot des Götzendienstes (3) impliziert allerdings die Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen Goltes. und im letzten noachidischen Gebot liegt eine rituelle Torahvorschrift vor. Beides konnte durchaus noch mit Vemunftgründen vertreten werden, was auf eine Art Naturrecht hinausläuft; ein Gedanke, der für sich allerdings nur ansatzweise im Mittelalter auftaucht. '30 und zwar eher in apologetischen Kontexten. und erst im 19./20 Jh. mehr wahrgenommen und diskuriert wurde. IJ1 Der Grund ist einfach: Als torahfrommer Jude braucht man für D. Novak. 11le Image of (he non-lew in Judaism. An hislorieal and construclive study of the Noahide Laws. New York 1983; A. Lichlenslein. The $even Laws of Noah. New York JI995; N. Rakover. Law and the Noahides. lerusalem 1999. Il'l C. ClorfeneIY. Rogalsky, The Path of the Righleous Genlile. An introduClion 10 Ihe seven 1aws of (he children of Noah. Southfield 1987; Y. Bindman. The Seven Colors of the Rainbow: Torah Ethics ror Non-Jews. San Jose 1995. lJO J.I. Dienstag. Natural Law in Maimonidean Thought and Scholarship, Jewish Law Annual6. 1987.64-77: M.P. Levine. The Role ofReason in Ihe Ethics of Maimonides. orWhy Maimonides could have had a doclrine of nalural law even if he did nol. IRE 14. 1986. 279-295: M. Fm:. Maimonides and Aquinas on Natural Law. Dine Israel 3. 197112. v-xxxvi = in: J.1. Dienstag (Hg.). Studies in Maimonides and SI. Thomas Aquinas. New York 1975.75-106. IJI R. Gordis. Judaic Elhics for a Lawless Wor1d. New York 1986: D. Novak. NalUral Law. Halakhah and the Covenanl, Jewish Law Annual7. 1988.43--67. .:.t
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sich kein Naturrecht. die "vollkommene" Torah deckt alles ab. Aber nach außen hin bestand unter den Bedingungen der Diasporaexistenz ein vitales Interesse an einer akzeptablen und anmahnbaren nichtjüdischen Rechtsordnung. Es handeh sich um das Problem der konkurrierenden Rechlssystcme. Für die Torah wird ein Absolutheitsanspruch erhoben. aber salang Israel über keine volle Rechtshoheit verfügt, kann es auch die Torah nur in den Grenzen umsetzen, die durch die fremden Rechtsordnungen gezogen werden. Das bedeutet mehr als einen bloß juristischen Konflikt. denn von der Umsetzung des in der Torah offenbar vorliegenden Goueswillens hängt ja der Lauf der Heilsgeschichte ab: und prinzipiell wären bei exklusiver Respektierung des jüdischen Rechts ständige Verletzungen des fremden Rechts und letztlich das Martyrium gefordert. Um diesem Dilemma zu entgehen. dekretierten schon die talmudischen Autoritäten den Grundsatz diflO' cf-nlOlktua' dina', "das Recht der Regierung ist (gültiges) Recht'·, jedenfalls bis zur Zeit der messianischen Herrschaft. 132 Das selZt aber voraus. dass in einem nichtjüdischen Gemeinwesen GeselZe erlassen werden können. die von Juden ohne Grundsatzkonflikte befolgt wcrden können, weil sie allgemein anerkannten rechtlichen und ethischen Normen cntsprechen. und religiös soweit neutral gehalten sind. dass keine Konfrontation mitcincm FremdkulI cintritt. Sowcit es dennoch zu inakzeptablen Kollisionen zwischen Torahgesetzen und fremdem Recht kam. musste versucht werden, durch Verhandlungen Privilegien zu crreichen. die solche rechtlichen. religiös-kultischen und ethischen Konflikte von vorhinein ausschlos· sen und eine möglichst weitreichende Autonomie gewährleisten. Von der Zeit des babylonischen Exils bis zur Entstehung moderner Staatswesen mit einheitlicher Rechtsordnung bildeten solche Privilegien die Grundlage für jüdische Existenz in der Diaspora bzw. unter nichtjüdischer Oberhoheit. aber gleichzeitig gaben sie Anlass zu Kontroversen und Anfeindungen. Im Rahmen des modernen Staates musste dann in Analogie zu den Regelungen für christliche Kirchen. auch für die jüdischen Gemeinschaften, nun oft ,.Kultusgemeinden" genannl. eine Lösung gefunden werden. wobei allerdings die Rechtsautonomie preisgegeben werden musste und nur die Kompetenz zur Entscheidung von Fragen des "Ritualgesetzes" blieb. wenn man von der Möglichkeit freiwilliger Anerkennung der rabbinischen Gerichtsbarkeit durch alle Streitparteien absieht. was in den orthodoxen Gemein· den mit ihrem strikten Gruppenethos durchaus noch funktionieren kann. Es lag also im wohl verstandenen Eigenintercsse der Diasporajuden. in den Gastländern für ein religiös möglichst neutrales Rechtswesen und für gleiche Rechte einzutreten, was in der Moderne zu einer entsprechend hohen Beteiligung an Berufen des Rechtslebens beigetragen hat. Mit ambivalenten Reaktionen in der Umwelt, denn was die einen als Indiz für ein hohes jüdisches Rechtsbewusstsein werteten. hielten andere für eine Manifestation jüdischen Machtstrebens.
III L. Landman, lcwish Law in lhe Diaspora. Confronlation and Accomodalion. A slUdy ofthe developmcnt. composition and funclion of the concept of dina d'malkhUla dina - the law of the kingdom (Ihe slate) is Ihe law, Philadelphia 1968.
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Philosophisch orientierte Ethik im Mittelalter Philosophierende wie kabbalistisch-"mystische" Autoren waren sich darin einig, dass alle Erkenntnis in Gotteserkenntnis gipfeh. und dass dieser Erkenntnisfortschriu nur bei gleichzeitiger entsprechender elhischer Vervollkommnung erzieh werden kann. Und ebenso war man sich darin einig. dass die Torah den einzigen sicheren Weg zu dieser doppelten Vervollkommnung darstellt und somit Israel über einen unvergleichlichen Vorzug verfügt. Denn während unter den Nichtjuden nur einzelne wenige ein angemessen hohes Niveau zu erreichen vermögen, erlangt selbst der schlichteste Israelit miUels seiner Torahfrömmigkeit. inneren Ausrichtung (kawwanah) und beharrlichen Zuwendung zu Gott (~bequt) die göttliche Zweck bestimmung und Anteil am endgültigen Heilszustand. 133 Und der gebildete Israelit kann gewiss sein. dass er die Unzulänglichkeiten menschlicher Sinneswahrnehmungen und Erkenntnisprozesse dank der Torah zu neutralisieren vermag. was ihn auf abgesicherte Weise zu angemessener Selbstvervollkommnung und Goueserkenntnis verhilft und schließlich zu selbstloser Liebe zu Gott und entsprechendem Gottes-Dienst (jir 'ah, .. Furcht") führt. 134 Das setzt eine Bildungselite voraus. die dieser Zielsetzung unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten der menschlichen Vernunft und Wissenschaft nahe zu kommen vermag. und eine Mehrheit. die unter der pädagogischen Anleitung dieser Eliteebenfalls. aber langsam und über Vorstufen, zum gottgesetzten Ziel unddamit zur Glückseligkeit findet Es ist die Torah. die das I.nstrumentarium für diesen pädagogischen Prozess bietet, aber die Torah ist eine Gemeinschaftsverpflichtung Israels. Diese Verpflichtung der Elite auf die Gemeinschaftsaufgabe ließ sich recht gut mit der platonischen Vorstellung vom Philosophen als Politiker verbinden. Selbst aristotelisch orientierte Autoren wie Mose ben Maimon nahmen dies wahr. was in der Modeme philosophiegeschichtlich sehr nachdrücklich herausgestellt worden ist. m Aber nach vorherrschender mittelalterlich-jüdischer Überzeugung war das eher anders herum zu verstehen. als eigentlichjüdisches Konzept. so dass die Tatsache der Vermittlung aus einer platonischen oder anderen Tradition gar nicht ins Gewicht fiel. zumal die großen nichtjüdischen Philosophen der Anlike sowieso als Schüler des Mose angesehen wurden. So eindrucksvoll der Beitrag einzelner jüdischer philosophierender Autoren zur Geschichte der Ethik auch sein mag, ihre Bedeutung für das jüdische Ethos ist religionsgeschichtlich daran zu messen, wie weit es ihnen gelang. die Torahfrömmigkeit zu bestimmen und damit das jüdische Leben zu prägen. Bereits der erste, wirkungsgeschichtlich bedeutsame jüdische Theologe des Miuelalters, Saadja ben Joseph aus Ägypten, Gaon (Schul haupt) in Bagdad und I. Heincmann. Die Lehre von derZweckbeslimmung des Menschen im griechischenAhenum und im jüdischen Mittelalter. Brcslau 1936. l}ol G. Vajda. L'amour de Dieu dans Ja philosophie juive du Mo)'en Age. Paris 1957. In K.H. Green. Jew and Philosopher. The Return 10 Maimonidcs in the Jewish llloughl of Lco SlrJuss. New York 1993: H. Kreisel. Maimonides' Polilical1llought. Sludics in Elhics. Law and the Human Ideal. Alban)'. NJ 1999. 1JJ
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942 verstorben, ein Bahnbrecher auf fast allen Wissensgebieten. hat in seiner Darstellung der jüdischen Glaubensinhalte einleitend die alJgemeinmenschliche Möglichkeit der Gottcserkenntnis hervorgehoben und damit auch die Nichtjuden in eine ethische Verantwortung eingebunden. Arabisch abgefasst. aber in hebräischen Übersetzungen und in der Neuzeit und Modeme oftmals gedruckt, hat sie eine lange und intensive Nachwirkung gezeitigt. 1.\6 Die Einleitung stellt die allgemeinmenschliche Möglichkeit der Gottcserkenntnis fest, aber eine nur durch eine Elitcschichl realisierbare und zudem mit Unsicherheiten belastete. In 10 Kapiteln legte Saadja dann die Hauptthemen der jüdischen Religion dar. I. Schöpfung. 11. Einheit Goltes. TlI. Gebote und Verbote; mit der Unterscheidung von rational einsiChtigen Geboten und rational nicht begründbaren ..Gehorsamsgeboten", die im Vertrauen in Golles Weisheit aus Gehorsam zu hallen sind. IV. Die Natur des Menschen, Willensfreiheit. Gehorsam und Ungehorsam bzw. deren Konsequenzen. V. Verdienste und sündiges Verhalten; Vergeltung. VI. Seelenlehre. VII. Auferstehung. VIII. Eschatologie. IX. Lohn und Strafe im Jenseits; die menschliche "Weisheit" als ein maßgeblicher Entscheidungsfaktor und die Pflicht zur Unterweisung anderer. Das X. Kapitel enthält Hinweise zu praktischer Ethik auf universaler Basis und mit Betonung der Vernunft. Die konkreten Themen sind: Askese, Essen und Trinken. Sexual moral, Selbstbeherrschung, Reichtum. Kinder. Langlebigkeit, Herrschaft. Rachsucht. Zum Abschluss wird nochmals die Bedeutung des Erkenntniserwerbs für den GoltesDienst herausgestrichen. Saadja war noch stark an der islamischen Theologie bzw. Philosophie des Kalam orientiert, aber schon zu seiner Zeit hatte die neuplatonische philosophische Tradition eine derart beherrschende Bedeutung erreicht, dass sie in popularisierter Form ebenso wie im Christentum und im Islam das Menschen- und Wellbild bestimmte. Entsprechend erfolgreich verlief die Rezeption neuplatonisch eingefarbter Schriften. Die neuplatonische Vorstellung von der Präexistenz der Seele und der Einteilung in die drei Seelenkräfte (Vemunftseele. animalische Seelenkraft und vegetative Seelenkraft), von ihrer Inkorporation im Körper und einer für den Fall der Bewährung erreichbaren Rückkehr der Seele an ihren Ursprung nach dem Tod wurde als integraler Bestandteil der jüdischen GlaubensweIl empfunden und hat eine mystische Intensivierung auch der jüdischen Religiosität bewirkt. Die Konsequenzen für die Ethik waren in etwa dieselben wie im Islam und im Christentum, allen voran eine Akzentverlagerung auf das Geschick des lndividuums. der Einzelseele, eine betonte Sorge um das eigene Heil, und ein Trend zu Askese und Weltflucht. Die Differenzen ergaben sich aus der Rolle derTorahfrömmigkeit als dem einzig wirksamen Weg zur erforderlichen Bewahrung und Vervollkommnung der Seele. Die soziale Gemeinschaftsverpflichtung als Israelit stand einer
".. Arabischer Text mit hebräischer Übersetzung: Seflir ha-nibhar ba· -lmOnÖI O-ba·dc'Öl. hg. K. Joseph Jerusalem 1995·: Kiryat Ono 1999s.
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einsiedlerischen oder heilsegoistischen Isolierung des Individuums entgegen. 1l7 Während im Islam und im Christentum die meisten mystischen Richtungen gegenüber der etablierten Religion mehr oder minder kritisch eingestellt waren und in oppositionelle Tendenzen ausliefen, stärkte und motivierte die neu platonischmystische Frömmigkeit im Judentum die traditionelle Religion und damit auch deren Instanzen. Und zwar bis zu einem solchen Grad. dass später die jüdischen Aufklärer in geschlosseneren jüdischen Siedlungsgebieten. vor allem in Osteum· pa. auf massiven Widerstand stießen und dementsprechend heftig auf das in ihren Augen versteinerte und vernunftwidrige. insofern auch keiner wahren Sittlichkeit fahige "Talmudjudentum" reagierten. Die philosophiegeschichtlich meist höher bewertete aristotelisierende Richtung der jüdischen Religionsphilosophie fallt in diesem Zusammenhang gesehen wirkungsgeschichtlich weit hinter die neuplalonische zurück, doch verstärkte sie zweifellos das Prinzip des Mittelwegs. ll3 Hinsichtlich der Ethik selbst stellte sie ja keine Alternative dar. denn der erkenntnismäßige Fortschritt im Sinne des ,.erworbenen Intellekts" war hier ebenfalls an die ethische Selbst vervollkommnung gebunden, und als bester Weg dazu galt auch hierdie Torah. Aristotelisch orientierte Autoren. denen die Gegner vorwarfen. der "fremden Philosophie" zu huldigen. waren mit ihrem Intellektualismus gegenüber allgemeinmenschlichen Ansätzen nicht unbedingt offener als neuplatonische. Sowohl die neuplatonische Seelenlehre wie die aristotelische Intellektlehre stellten anthropologisch eine universal-menschliche Basis dar. die es ermöglichte. sowohl philosophische wie ethische Darlegungen zu akzeptieren oder zu verfassen. die keine Zuordnung zu einem der etablierten Religionssysteme erkennen ließen. Und manchmal konnte einer so gearteten Kompilation weisheitlich geprägter ethischer Ausführungen Funktion und Rang einer jüdischen Erbauungsschrift zufallen. wie im Fall der arabisch verfassten. aber in hebräischer Übersetzung verbreiteten Schriften TiqqCm ha-näjäI(Verbesserung der Seele)'l9 und ..Perlen lese" (Mibaar p~n;n;m)l40 des neuplatonischen Philosophen und frommen hebräischen Dichters Salomo ibn Gabirol". dessen philosophischcs Werk "Lebensquelle" (Meq6r aajjim) religiös so neutral gchalten war, dass man das Werk in seiner lateinischen Übersetzung (•.Fons vitac") sogar einem Scholastiker zuschreiben konnte. Einen großen Vorteil hatte die neuplatonische Seite gegenüber dem aristotelischen Intellektualismus in jedem Fall. und das war die emotionale Komponente. Daher gab es auch nur einen jüdischen Aristoteliker, nämlich Mose ben Maimon (Maimonides, gest. 1204 in Ägypten), der mit seinen Schriften einen wirksamen J. Dan. Jewish Myslicism and Jewish Elhics. Scatlle 1985. IJlI H.A. Davidson. The Middle Way in Maimonides' Elhics. PAAJR 54. 1987.31-72. 1:19 J. Lomba Fuentes. La cOlTCC"ci6n de los car'dcteres de Ibn Gabirol. Introducci6n.traducci6n y n()(as. Zaragoza 1990. 1«1 A. Cohen. Solomon Ibn Gabirol's Choke of Pearls. New York 1925: D. Gonzalo Maeso. Selecci6n de pcrlas. Barcelona 1977. I)'
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Beitrag zur populären jüdischen Ethik geleistet haI. 141 Aber nicht mit seinem reli· gionsphilosophischen Hauptwerk "Führer der Verwirrten", obschon dessen dritter Teil inhaltlich dafür in Frage käme. Populär geworden ist die hebräische Übersetzung der ,.Acht Kapitel" genannten Einleitung in seinen (arabisch geschriebenen) Kommentar zum Mischnatraktat ..Spruche der Väter", 142 und bis zu einem gewissen Grad auch der erste Band (,.Buch der Erkenntnis", Se/er ha-maddo') seines großen Kompendiums des jüdischen Rechts (Mis1Ieh T6rah).143 Der Großteil der jüdischen Erbauungsliteratur war also neuplatonisch geprägt. Das tritt sehr deutlich an dem von der islamischen Mystik der "Lauteren Brüder" inspirierten "Buch der HerzenspRichlen" (li.ßbor lIa-~bab{jr) des Bachja ibn Paquda (11. Jh.) in Erscheinung. Arabisch verfassl, ist es in hebräischer Übersetzung ein bis heute oft gedrucktes Buch von enormer Nachwirkung geworden. 144 Es behandelt Gottes Einheit, Goueserkenntnis, Gottvertrauen, Gouesdiensl und Buße. Rechenschaft vor sich und Gott. richtige askelische Lebenseinslellung und Gouesliebe. Und bei alledem gilt es, über die fonnale Erfüllung des Vorgeschriebenen hinaus die ..Herl.enspftichten" wahrlunehmen!4~ Eine ebenfalls von der islamischen Umgebung geprägte verinnerlichte Frömmigkeilsform vertrat später Abraham b Mose ben Maimon. l46 doch sein Werk blieb unübersetz.l und daher ohne vergleichbare Nachwirkung. Anders der hebräische Sefär beh.i"ar 'vlam des Jeda'jah b. Abraham Bedersi ha-Penini (gest. 1340)147 oder der Sefiir lra-ja/ar. der dem Zerachja ha-J"wani zugeschrieben wird,I48 sowie der sehr populär gewordene Sefär ,.",enörat 110m-mo 'ßr von Isaak b. Abraham Abuhab. 149 Eine ganze Anzahl
B. Bokser. Morality and Religion in the Theology of Maimonides. in: Essays on Jewish Life and Thought in honorofSalo W. Baron, New York 1959. 139-157; L.v. Berman. Thc Elhieal Views of Maimonides. within the Context of Islamic Civilization. in: J.L. Kr.temcr (Hg.). Perspectives on Maimonides. New YorkJOxford 1991, 13-32; R.L. Weiss. Maimonides' Ethies. The Encounter of Philosophie and Religious Morality, Chieago 1991. 1'1 M. Wolff. Mose ben Maimon. Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gottcscrkennlnis. Arabisch und deutsch von Maurice Wolff. Mit Einflihrung und Bibliographie von F. Niewöhner, Hamburg (Philosophische Bibliothek 342) 11992: R.L. Wciss. Thc Adoplion of Philosophical Ethics to a Religious CommunilY. Maimonides' ..Eight Chapters". Proceedings of the American Academy of Jewish Research 54. 1987. 261-287. 1') V. Nikiprowetzky/A. Zaoui. Mo'isc Maimonide. Le Livre de la Connaissance. Paris J2004: E. Goodman-ThaulCh. SchultelF. Nicwöhner. Maimonides: Das Buch der Erkenntnis - Sefcr HaMadda. Berlin 1993. I~ F.J. Lomba. Los deberes de los corazones. Ibn Paquda. Modrid 1994: Y. Feldman, The Duties ofthe Heart. Bachya ibn Pakuda. Translation and commenlary. Northva1e. NJ 1996. '~A. Lazaroff. Bahya"s ascetieism against its rabbinie and Islamic background. J1S 21. 1970. 11-38. 1011> S. Rosenblou, 'The High Ways 10 Pcrfection' of Abraham Maimonidcs. New York 1927; Nachdruck 1966: Jerusalem 11970. 101 D. Ouensoser, Sefar behinat ·ölam. Warschau 1864. Nachdruck Jerusalem 1973: Bcrlin 192617. Sefrir haj-ja.sar. Jerusa1em 1967. loI'l Teile in englischer Übersetzung enthält E. Munk. Aqaydal Yitzchaq. Bd. I-li, Jerusalcm 1986. I.,
I"
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erbaulicher Schriften verschiedenen Charakters stammt von Jonah b. Abraham Gerondi (gest. 1263 in Spanien).'~ In den meisten dieser Werke haben gewisse philosophische Grundlagen wie Erkenntnislehre einen Platz, aber eben als Voraussetzungen für eine an der Torah orientiene Ethik. Und diese konzentrieIl sich vorrangig auf das Thema der ,.Umkehr'" ("'subah), weshalb manche Erbauungsschriften überhaupt den Titel .,Buch der Umkeh(' oder ähnlich aufweisen. Das Prinzip, dass die .,Tore der Umkehr" stets offen sind, hat nämlich dem jüdischen Ethos auch in schwierigsten Krisen eine Zukunftsperspektive gewährleistet, die Möglichkeit des Neuanfanges und der Selbstkorrektur. 151 Das geforderte Ethos entspricht einer ausgesprochenen Miuelwegethik und bleibt trotz allen rationalen Komponenten und ungeachtet einzelner Versuche zur Erstellung religiös neutraler ethischer Entwürfe letztlich fest in den Rahmen der TorahfTÖmmigkeit eingebunden. In Fällen, in denen dies nicht mehr zutraf. handelte es sich schon um eine Abkehr von der jüdischen Gemeinschaft.
Das Blich "Pfade Gerechler" Wiesich die bishererwähnten Voraussetzungen traditioneller und philosophischer An zu einer Anleitung zu jüdischem Ethos verbinden ließen, zeigt ein Erbauungsbuch mit dem Titel Pfade GerecJuer. IS2 Fast alle FacelIen der damaligenjüdischen Ethik wurden hier in leicht fassbarer Form aufgearbeitet und in den Rahmen der traditionellen Religiosität gestellt, Gegen Ende der Einleitung (5. 23) wird der Zweck des Buchs so fomlUlien: ,.Nun wollen wir die Wurzeln der (menschlichen) Eigenschaften und deren Venweigungen bekannt machen, ihren Nutzen und ihren Schaden. und es ist unsere Absicht, die Anlagen des Menschen von der Torheit abzukehren. hin zur Liebe der Zucht, damit sich die Einfaltigen bemühen, die Eigenschaften der Weisen zu erkennen. Und vom NAMEN (Gott) - sein Gedächtnis werde erhobenl - erbitten wir Hilfe, dass er uns die rechten Wege und die Pfade der Gerechtigkeit bekannt gebe, um die Stämme Jeschuruns. die Gemeinde der Gnade. zu belehren." In 28 Kapiteln behandelt das Werk vor allem gegensätzliche Verhaltensweisen und deren negative und positive Auswirkungen: I. Stolz und 2. als Gegenstück Demut bzw. Bescheidenheit. 3. Scham als spe· zifisch menschliches. vemunftbedingtes Empfinden. (5, 76) "So verfügen auch alle Lebewesen abgesehen vom Menschen über keine Scham, da sie über keine Weisheit verfügen. Doch jeder Herzensweise kennt den Rang des Verstandes und der Weisheit. dass er durch sie zur wahren Beschaffenheit der Dinge gelangt und durch sie auch zur (Erkenntnis der) Einheit seines Schöpfers - Er ist gepriesen - gelangt. und sich durch sie den Engeln anzugleichen vennag.'" Dazu als Gegenstück
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A.T. $hrock. Rabbi Jonah ben Abraham of Gerona. His Life and Ethical Works. London
1948. S. Shokek. Rcpentancc in Jewish Ethics. Philosophy and Mysticism. Lewiston. NY 1995. "2 SJ. Cohen. Orchot t7..addikim. The Ways of the Righteous. JerusalemlNew York 1969: New York 1982. IS!
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4. Anmaßung bzw. Unverschämtheit. Sie wirkt in der Regel negativ, ist aber im Sinne von unbeirrter Beharrlichkeit gegenüber den Bösen am Platz: "Doch diese Eigenschaft ist überaus lobenswert als Beharrlichkeit in Torah und Goues - Dienst, nämlich beharrlich zu sein gegenüber den Frevlern und sich ihnen gegenüber als halsstarrig zu erweisen, nicht auf ihren Rat zu hören und ihre Lügen und Gräuel nicht gut zu heißen und ihnen nicht zu schmeicheln. Und man muss sich auch als beharrlich erweisen in der Erfüllung der Gebote. falls die Menschen einen darob auslachen. und man soll beharrlich sein und von seinen Lehrern erfragen. was man nicht weiß. und sich dessen nicht schämen. Und man muss sich auch beharrlich erweisen, Menschen zurechtzuweisen. ihnen ihre Vergehen offen zu legen." S. Liebe und 6. Hass...Die Liebe enthält viele Wirksamkeiten. mehr als alle übrigen menschlichen Verhaltensweisen. Und wenn der Mensch seine Liebe auf Schlechtes ausrichtet. dann gibt es keine schlechtere Verhaltensweise als diese. Wenn der Mensch aber seine Liebe auf das Gute richtet. dann steht sie höher als alle Verhaltensweisen. wie geschrieben steht (Dtn 6.5): U"d du sollst den HERRn. deine" Gou. lieben. Und keine Rangstufe im Dienst des Schöpfers gleicht jener dessen. der aus Liebe dient." Eine Passage deliniert die Rolle der Frau untcrdem Vorzeichen des rabbinischen männlichen Bildungsideals. (S. 104): .. Er (der Gerechte) bedenke. dass sie ihn vor der Sünde bewahrt und vom Ehebruch femhäJl. dass er durch sie das Gebot der Fruchtbarkeit und Vennehrung erfüllt. sie ihm die Kinder aufzieht. und dass sie für ihn all ihre Tage arbeitet. ihm sein Essen zubereitet und die übrigen Erfordernisse des Haushaltes erledigt. so dass er dadurch frei ist für das Lernen der Torah und zur BeSChäftigung mit den Geboten. und sie ihm so beim Dienst des Schöpfers - Er ist gepriesen! - hilft:' Ein anderer Abschniu (S. 116) handelt von ..Liebe zu Vergnügungen. wie Essen und Trinken und Schlaf: Wisse, das der Mensch sein Herz und all seine Tätigkeiten allein darauf ausrichten soll. den NAMEN (GoU) - Er ist gepriesen! - zu erkennen. Und so soll sein Sitzen und Stehen. seine Rede und alles auf diese Sache ausgerichtet sein. Wie das? - Wenn er Handel treibt oder eine Arbeil verrichtet. um dafür Lohn zu erhalten. soll in seinem Herzen nicht nur der Gedanke an das Geld vorhanden sein. vielmehr soll er diese Dinge tun. damit er Dinge erreicht. deren der Leib bedarf: Essen und Trinken und Behausung und Verheiratung. Und desgleichen. wenn er isst und trinkt und Beischlaf vollzieht: er soll sein Herz nicht darauf ausrichten. diese Dinge zu tun, um zu genießen. bis er nichts mehr isst und trinkt außer dem Süßschmeckenden. und den Beischlaf ausführt. (nur) um zu genießen. sondern er richte sein Herz darauf. dass er nur esse. um seinen Leib und seine Glieder gesund zu erhalten. Darum soll er nicht essen. was der Gaumen begehrt. wie der Hund oder der Esel. sondern er esse Dinge, die dem Leib förderlich sind. ob Bitteres oder Süßes; doch esse er nicht Dinge. die für den Leib schlecht sind. auch wenn sie dem Gaumen süß schmecken. Er verhalte sich auf diese Weise und richte sein Herz darauf. dass sein Leib heil und stark bleibe, damit seine Seele in der Lage sei. den NAMEN
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(Gott) - Er ist gepriesen! - zu erkennen. Denn es ist nicht möglich. dass er in der Torah und in den Geboten Einsicht gewinnt und weise wird. wenn er ständig hungen. so dass seine Kraft schwindet und sein Verstand sich verringert. Daher soll man all seine Belange rur den Dienst des Schöpfers - Er ist gepriesen! - zurichten." Der Hass wird ganz unter erwählungstheologischem Blickwinkel behandelt (5. 130): ..Dem Hass, dieser Verhaltensweise gilt ein Verbot (Lev 19.17): Oll sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Damit wurden wir ermahnl. die Verhaltensweise des Hasses aus unseren Herzen femzuhahen ...:' Doch nicht in jedem Fall: (5. 136),.Es gibt aber einen Hass. der ist geboten. etwa gegen einen frevelhaften Menschen. der keine Zucht annimmt. da es heißt (Prov 8.13): Fllrcht des HERRn ist Hass des Bösen: und es heißt (Ps 139.21 f.): Soll ich nicht hassen. Herr, die dich hassen. deine Gegner flicht verabscheuen lader: befehden}? (22) Ich Iltisse sie mit tiefstem Hass, zu FeindeIl sind sie mir geworden! Und man hasse Betrug und Lügenrede. KurL: Man hasse jede Sache. die einen von der Liebe zum Schöpfer des Alls entfernt oder dabei behindert. wie es heißt (Ps 139,128): Jeden Uigenpfad hasse ich. Das ist ein großes Prinzip. dass ein Mensch jedwedes Lügenwort hasse. und alles. was den Hass auf Lügenworte vermehrt. mehrt die Liebe zur Torah, da geschrieben steht (Ps 139,169): Trug hasse und verabscheue ich. Deine Torah habe ich lieb". Und man liebe Wahrheit und Frieden. wie es heißt (Sach 8.19): Und die Wahrheit und den Frieden liebt! .. 7. Erbarmen. eine der nachzuahmenden 13 middot Gaues. ist ein Erkennungsmerkmal des Weisen. Dazu als Gegenstück 18. Grausamkeit. Das richtige Erbarmen hat aber Grenzen (S. 238): •.Es gibt mehrere, sehr unterschiedlicheArten von Erbarmen: Das Erbarmen des Vaters gegenüber dem Sohn. das ist ein Erbarmen. das aus der Natur aller Lebewesen erwächst. so wie bei Hunden und beim Vieh. Und der Herr erbarmt sich seines Sklaven und der Mensch seines Gefahrten. wenn er davon Nutzen erhofft. Dennoch ist es sehr gUI. dass man in seinem Herzen die Verhaltensweise des Erbarmens einschlägt. Aber die beste und höchste Form des Erbarmens besteht darin. dass man sich seines Sohnes erbarmt. um ihn zum Dienst des Schöpfers - Er werde gepriesen! - zu bringen, wie es geschrieben steht (Jes 38.19): Ein Valer IInterweist Söhne ZII deiner Wahrheit. Und er erbarme sich seiner Seele mehr als er sich über seinen Leib erbarmt, und darum muss er ihn mil einer Zuchtrute schlagen, sogar mit Grausamkeit. um ihn auf geradem Weg zu führen. denn diese Art Grausamkeit ist eine höhere Fonn von Erbarmen. Denn wenn erdie Zuchtrute seinem Sohn vorenthält. weil er zuviel Mitleid hat. um ihn zu schlagen. und ihn in der Verstockung seines Herzens gewähren lässt. handelt es sich um ein Erbarmen. das den Sohn aus dem Leben der kommenden Weh verstößt und (ihn) zugrunde richtet. Auch darf man nicht zu sehr Mitleid mit sich selber haben. sondern muss sich selber in Zucht halten und seine schlechte Neigung Uefär ha-ra') unterdrücken. Auch über die Armen erbarme man sich. aber am meisten erbarme man sich der Goltesflirchtigen. Das Wesentliche am Erbarmen verkörpert nämlich. wer sich der Gottesdiener und derer. die Seinen Willen tun. erbarmt. Doch gibt es
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ein Erbarmen, das schlechter ist als Grausamkeit: so bei dem. der sich der Frevler erbannt und sie bestärkt ..:' 9. Freude und 10. Sorge. Freude wird äußerst positiv gewertet, doch im rechten
Maß und nicht in jedem Fall. So warnt der Autor hier (166--170) eindringlich vor Unzucht und vor Trinkgelagen und ihren Folgen. 11. Reue. vor allem als Voraussetzung flif Umkehr (Buße), und 12. Ärger als
unangemessene und unkontrollierbare Reaktion auf eigenes Versagen und auf Handlungen anderer. 13. Großmut und 14. Neid; 15. Eifer und 16. Trägheit: 17. Großzügigkeit und 18. Kleinkariertheit; 19. Gedenken und 20. Vergessen. Ferner 21. Schweigen. 22. Falschheit (Betrug. Lüge) und 23. WahrheitIWahrhaftigkeit. Wahrheit ('fImät) bzw.Wahrhaftigkeit. ist eine der 13 middijt. und der Mensch ist zu ihrer Nachahmung geschaffen, sie soll das Verhalten gegenüberGotl und jedermann bestimmen. (S 390): ..Nun. da sich das Exil wegen unserer vielen Verschuldungen über die Maßen hinzieht. obliegt es Israel. sich von den Nichtigkeiten der Weh abzusondern und am Siegel des Heiligen - Er ist gepriesen1- festzuhalten. und das ist die Wahrheit. und sich zu heiligen. selbst noch im Rahmen des Erlaubten. und nicht zu lOgen. weder gegenüber einem Israeliten noch gegenüber einem Nichtjuden (g6)). und sie in keiner Sache zu täuschen. denn es heißt (Zef 3.13)". Dieses Verhalten wird schließlich (S. 392)alsTeil der BundesverpRichtung bezeichnet. deren ErfuUung zum ewigen Heil führt. 24. Heuchelei bzw. Schmeichelei. Das betrifft auch opportunistisches Verhalten. 25. Üble Nachrede ist ein Standardthema der Milsar-Literatur. wobei es nicht bloß um die Verbreitung von Falschbehauptungen geht. sondern um die Verbreitung von rufschädigenden Aussagen überhaupt. Und das selbst fur den Fall. dass der Sachverhalt zutrifft. weil eine öffentliche Beschämung im Gegensatz zu einer korrekten Vermahnung die Würde das anderen verletzt. Gilt dies schon im eigenen. jüdischen Bereich. SO umso mehr gegenüber Nichtjuden und insbesondere nichtjüdischen Obrigkeiten. weil dabei der Sachverhalt der Denunziation mit allen ihren Folgen eintreten kann. Demgegenüber heißt es zuletzt (S. 446). .,So gewöhne man sich in Bezug auf die Zunge. Wone der Torah und der Gouesfufcht zu gebrauchen. die Menschen zurechtzuweisen, seine Söhne bzw. Nachkommen anzuweisen. (die Torah) zu halten und zu praktizieren, Trauernde zu trösten, Elende zu trösten. ihnen mit tröstlichen Wonen gut zuzureden. Wahrheit zu sagen und sich in Liedern und Lobgesängen zu üben. Dann wird man .unten· beliebt und ,oben' wohlgefalJig sein. und sein Lohn wird in dem großen Gut bestehen. das fur die Gerechten aufbewahrt ist." 26. Das Kapitel über die Umkehr bzw. Buße (r'ffibah) ist ein umfangreicher religiös-ethischerTraktat (S. 336--553). was der zentralen Bedeutung des Themas für jüdische Spiritualität entspricht. Alle Israeliten sollen Bußfertige (ba'''Ie r-liibah) sein und damit eine möglichst weitgehende Erfullung des Goneswillens in Gegenwart und Zukunft gewährleisten. (S. 552): ..Die An Bußfeniger ist es. bescheiden und überaus demütig zu sein. Und wenn die Toren sie wegen ihrer früheren Taten schmähen und zu ihnen sagen: Gestern hast du so und SO gehandelt. oder: Gestern hast du so und so gesprochen. so soll sie das nicht erregen. sondern sie sollen es
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anhören. sich freuen und wissen, dass es für sie ein Vorzug ist. Denn wann immer sie sich ihrer vergangenen Taten schämen und sie wegen ihnen beschämt werden, wird ihr Verdienst größer und ihr Rang erhöht sich. Aberes ist eine große Sünde, zu einem Bußfertigen zu sagen: ,Denke an deine früheren Taten'. oder sie vor ihm zu erwähnen. um ihn zu beschämen, und diesbezüglich heißt es (Lev 25,17): Jhrdürft einander nicht bedrücken. Und wer ist ein Bußfertiger? Er muss nach guten Taten streben. sich von den Gedanken dieser Welt femhalten, sich bestärken im Rate des NAMENS - gepriesen ist Er!, auf seinen Schutz vertrauen. das Joch der Torah des NAMENS - Er ist gepriesen! - auf sich nehmen, und (auch) die Schmähung und Verachtung durch Toren (zu ertragen), wie ein Taubstummer. ein Blinder und Toter. wie es heißt (Ps 69,8(0: Denn um Deinetwillen ertrage ich Schmach ... etc." Das Werk schließt mit Grund und Ziel des jüdischen Ethos, den Kapiteln über 27. die Torah und 28. die Gottesfurcht Uir -at sama)im) im Sinne des richtig motivierten Gottes-Dienstes. (S. 626): ••So kommt die Seele. in der alle diese Verhaltensweisen (middot) vorhanden sind. und preist den Heiligen. Er ist gepriesen. in dem alle diese Verhaltensweisen vorhanden sind."
Kabbalistisch motiviertes Ethos Die kabbalistische Ethik unterscheidet sich allein schon durch die Annahme einer ontologischen Differenz zwischen Juden und Nichtjuden. Nur Juden verfügen über die bekannten neuplatonischen Seelenkräfte hinaus noch über eine Art von potentiellem Intellekt. der bei angemessener rabbinischer Vorbildung zur Erkenntnis der kabbalistischen Weisheit befahigt und im Fall der Aktualisierung die meditative und darüber hinaus theurgisch wirksame Verbindung mit den 10 Sefirot ermöglicht. den emanierenden Wirkungskräften der verborgenen Gottheit, des 'en sofC.Unendlichen") und ihrer Einheit. Damit wird nicht die Möglichkeit eines nichtjüdischen Ethos geleugnet. wohl aber ihre Relevanz gegenüber dem jüdischen Ethos reduziert. Inhaltlich brachte die kabbalistische Ethik kaum etwas Neues, aber die Bedeutung des sittlichen Verhaltens und der Frommigkeitspraktiken erhalten im Rahmen der kabbalistischen Systeme bis ins letzte Detail eine unvergleichliche Gewichtigkeit. Der traditionelle Begriff der kawwanah (inneren Ausrichtung) erhielt eine neue Bedeutung. Bei jeder Handlung. selbst gedanklich-meditativer Art, gilt es. den Bezug zu der zuständigen Sefirah zu finden, um so auf das Sefirotgeschehen Einfluss zu nehmen und von da aus wieder auf .,Unten" einzuwirken. Alles Vorhandene wird als vordergründige Auswirkung und Reflex von Sefirotvorgängen begriffen. und auf diese ..Oben" richtet sich die Iwwwanah. Es gibt schwerlich ein spekulatives System. das derart grundlegend und ins Detail gehend zugleich religiöses Ethos motiviert und gestaltet. Nun ist die Kabbalah - recht verstanden -eine anspruchsvolle Disziplin der jüdischen gelehrten Tradition. und mindesl.'.:ns so elitär angelegt wie die Philosophie und trägt den Charakter einer Geheimwissenschaft.
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Im Welt- und Menschenbild wesentlich neuplatonisch fundiert. verhalf ihr die popularisierte neuplatonische Frömmigkeit dennoch zu einer verblüffenden Verbreitung. Und zwischen dem 15. Jh. und der Aufklärung beherrschte sie nicht nur die theologische Spekulation. sondern auch die Frömmigkeit und die Phantasie breiter Schichten. dies allerdings weithin auf dem Niveau volkstümlichen Aberglaubens. Eine der Folgen war die kabbalistische Einfarbung fast aller Erbauungsschriften aus dieser Periode. Darüber hinaus ging diese Popularisierung der Kabbalah mit Wellen akuter Endzeiterwartung und Bußbcwcgungen Hand in Hand. Mit der pseudomessianischen Bewegung des Sabbataj Zbi geriel im späten 17. Jh. daher nicht nur die traditionelle Endzeilerwartung selber in Misskredit, sondern auch die kabbalistische Theologie. Und im Verlauf der Messias-Euphorie mit ihren totalitären Anspruchen und durch die folgende Enttäuschung verpuffte der emotional so aufgeladene Impetus des kabbalistischen Ethos und bald danach taten jüdische Aufklärer die Kabbalah als Verirrung des jüdischen Geistes ab. In der Orthodoxie und im osteuropäischen Chasidismus blieb dennoch die Pflege der kabbalistischen Geheimlehre in begrenztem und kontrolliertem Maß lebendig. Aber nicht sie war es. die der Orthodoxie in der Abwehr der Aufklärung und des Reformjudentums im 19. Jh. als wirksamste Stütze diente. sondern eine weit nüchternere und realitätsgerechtere Rückbesinnung auf die traditionellen Werte. die als sogenannte "Musar Bewegung" von Litauen aus dem traditionellen Ethos wieder zu einem attraktiven Prestige verhalf und bis heute wirksam blieb. ls3 Die Kabbalah kam erst in den letzten Jahrzehnten wieder mehr zum Zug, und zwar auf zwei Wegen. Zum einen in Verbindung mit der nationalistisch-fundamentalistischen Bewegung für das ganze umd Israel. also mit einer Landtheologie. und zwar zusammen mit einer diasporaweit aufbrechenden Umkehrbewegung. deren Anhänger nach 1967 in der Eroberung und jüdischen Besiedlung der Westbank den Übergang zur entscheidenden Endzeitphase der Geschichte erblickten. Und zum anderen mittels einer modernisierten Popularisierung als Kabbalah für jedermann. losgelöst von den jüdischen Grundlagen. als individualistisch-egozentrische ,.Wellness-Religion" speziell für gutgläubige und zahlungskräftige Nichtjuden konzipiert. und dank effektivem Management und eindrucksvollem Interneteinsatz zur Zeit eine der erfolgreichsten Fomlen des Religionsersatzes. Beide Tendenzen geben hinsichtlich des Ethos Anlass zu Irritationen. 4
Zwischen ethischem Monotheismus und ethnischem Surviva/ismus Die jüdische Aufklärung und der modeme Pluralismus Im Lauf der Neuzeit hat sich in den sefardischen Gemeinden Europas. vor allem inAmsterdam, eine kulturelle Konstellation ergeben. die Vieles vorwegnahm. was D. Katz, 1"nu'at ha-mOsar, Bd. I-V. Jcrusalem '1982; L.S. Eckman. Thc HislOry of Musar Movcmcnt, 1840-1945. Ncw Vork 1975; H. Goldberg. The Firc Within. Thc Living Hcritagc of thc Musar Movcmcnt. Brooklyn. NY 1987. IJJ
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sich jüdische Aufklärer gegen Ende des 18. Jh. zum Ziel gesetzt hatten. Das hat aber die Leitlinien des traditionellen jüdischen Ethos nicht wesentlich verändert. Baruch Spinoza (1632-1677) hat dies mit allen Konsequenzen erfahren und seine Ethik außerhalb des Judentums vertreten müssen. In der jüdischen Aufklärung hingegen kam es zu einer rationalistischen Umpolung der grundlegenden Voraussetzungen. und das unter Berufung auf das Ethos der Bibel im Sinne eines universalistisch verstandenen Dekalogs und einer Deutung der Schriftpropheten als Künder wahrer Sittlichkeit. Außerdem stützte man sich auf rationalistisch interpretierte mittelalterliche Autoren, vor allem auf Mose ben Mairnon. der nun als Vorläufer der jüdischen Aufklärung dargestellt wurde. Die jüdische Aufklärung (Haskalah) setzte sich allerdings regional ganz unterschiedlich intensiv und zeitlich versetzt durch. und so kam zu der bekannten Unterscheidung zwischen .,Westjudentum" und .. Ostjudentum'·.l~ Diese Wende erfolgte auf dem Hintergrund der Religionskritik der (v.a. französischen) Aufklärung, die sich insbesondere gegen die Dogmatik des Christentums gerichtet hatte. Und da und dort bedienten sich aufklärerische Autoren auch einiger bekannt gewordener Argumente aus der jüdischen Polemik gegen das Christentum. Obschon sich chrisllich·lheologische Aufklärer bemühten. die irrationalen Angriffsflächen einzuengen, erschien das Judentum folglich als dogmatisch unbelastet und insofern frei für die universale. ethisch und rational akzentuierte Vernunftreligion der Aufklärung - und damit auch für eine autonome Ethik. Für alle modernen jüdischen Richtungen des 19. Jh. war daher eine rationalistische Ausrichtung und ein pathetisch betonter Vorrang der Ethik kennzeichnend, vor allem aber die Überzeugung, dass das Judentum die maßgebliche bewegende Kraft für den moralischen Fortschritt der Menschheit darstelle. Die traditionelle messianische Hoffnung mit der Erwartung eines eigenen Staates im Land Israel wurde zu dieser universalistischen Menschheitsutopie umgedeutet. Moses Mendelssohn (1729-1786) hatte noch versucht. die Torah im Sinne der traditionellen jüdischen Religionspraxis als offenbartes Brauchtum vor den Konsequenzen der Aufklärung zu bewahren. Diese Einschränkung aufein Ritualgeserl. entwertete die Torah aber als Quelle des jüdischen Ethos, zumal Mendelssohn gleichzeitig die rechtlich-disziplinären Kompetenzen der Synagogengemeinden und Rabbiner auf ein Minimum reduzieren wollte. Und das zu einer Zeit, als der moderne Staat ein einheitliches Rechtssystem durchzusetzen begann und damit die Rechtsautonomie der jüdischen Gemeinden aufhob, mit dem staatlich verordneten Schulwesen die traditionelle jüdische Erziehung reformierte und die Einführung .Jremder" Bildungsinhalte erzwang. Mit der Emanzipation (fortschreitenden bürgerlichen Gleichberechtigung) und rasch fortschreitenden Assimilation veränder-
D. Rudavsky. Modem Jewish Religious Movements. A History of Emancipation and Adjuslment. New York 11979: A.A. CohcnIP. Mcndcs-Aohr (Hg.), Contcmporary Jcwish Religious Thoughl. New York 1988. ,}<
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teo sich Habitus und Ethos der Juden rapide und entglitten den alten sozialen Kontrollmechanismen. Am ehesten bl ieb der Familienverband intakt. und das trotz der zunehmenden Zahl von Konversionen und Verbindungen mit nichtjüdischen
Partnern. schweren Generationenkonflikten und aufbrechenden Bildungsunterschieden, denn man blieb als Minorität ja weiterhin aufeinander angewiesen und im Großen und Ganzen auch weiterhin unter sich. wie esja auch Katholiken und Evangelische laten. Die Gemeinden veränderten in der Emanzipalionszeit aber nicht nur ihre Strukturen. sie teilten sich in der Folge auch noch oft nach den neuen jüdischen RiChtungen auf. ISS Das stellte das Zusammengehörigkeitsgefühl
als Israel in Frage. eine der Grundlagen des traditionellen Ethos, das Bewusstsein der kollektiven Erwählungsverpflichtung. Es warenjudenfeindliche Vorgänge,die im 19. Jh. dennoch eine Revitalisierung der gesamtjüdischen Solidarität bewirkt haben, beginnend 1860 mit derGriindung der Alliance [sraelire U"iverselle, deren hebräischer Name Kol Ji.fra 'eI uaberim (.. Alle Israeliten sind Genossen") lautel. und die mit ihren erzieherischen Aktivitäten in außereuropäischen Diasporagebieten auch ihre Ideale eines jüdischen Ethos verbreitet haI. U6 Mendelssohns Begrenzung der Offenbarung auf das Gesetz wirkte sich für die Einschätzung des Judentums sehr bald negativ aus. Kants Verdikt, das Judentum könne nach seiner Auffassung von Religion und Siulichkeit nicht als Religion gellen, traf daher einen wunden Punkt. m Noch vor 1800 setzte darum eine radikale Korrektur ein: Man postulierte nun die ethisch akzentuierte Vemunftreligion als eigentlichen Offenbarungsinhall des Judentums, bezeugt durch den Dekalog und in den Schriftpropheten. und wertete die gesetzlichen Überl ieferungen und Bräuche als historisch bedingte Mittel zum Zweck. In der ersten Hälfte des 19. Jh. wurden auf dieser Basis drei Schriften verfassl. deren Inhalle in popularisierter Fonn die Vorstellungen von der jüdischen Religion und Sittlichkeit auf lange Zeit bestimmt haben. (a) Weit mehr Einfluss als die philosophiegeschichtlich orientierte Fachliteratur erkennen lässt. hat der Religionslehrer und Prediger Isaak Ascher Francolm (1788-1849) ausgeübt. Er kam 1820 nach Königsberg und geriet dort in Konflikt mit der orthodoKen Umgebung, weil er in deutscher Sprache predigte und die "Confinnation" von Mädchen einführen wollte. So kehrte er 1826 nach Breslau zurück und publizierte hier 1826 "Die Grundzügeder Religionslehre aus den zehn Geboten entwickelt", und im Jahr 1831 "Die Mosaische Sittenlehre". In seinem Buch .. Das rationale Judentum"', 1840 in Breslau erschienen, unterschied er eine höhere Weltansicht und eine natur- und sinnen verhaftete niedrige Welul1Isichr.
I" G.S. RosenlhallW. HOnlolka. Das Judentum hai viele Gesichler. Die religiösen Strömungen der Gegenwart. München 1999: GÜlersloh 20Cl0. J~ A. Chouraqui. Cenl ans d'histoire: L' Alliance Israelite Universelle. Paris 1965: A. Rodrigue. Oe I"instruclion 111"emancipalion: Les enseignments de r Alliance Israclite Universelle Cl lcs juifs de l'Orienl1860-1939, Paris 1989. m J. Simon. Argumentation ad hominem: Kanl und Mendelssohn. in: W. Slegmaier (Hg.). Die philosophische Aktualilät der jUdischen Tradition. Frankfun a.M. 2000. 376--399.
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Die höhere Weltallsicht erhebt den Menschen im Lauf eines Bildungsprozesses zur rationalen Lehre. und zwar mit Hilfe der positiven Offenbarung. nämlich der biblischen Prophetie. Der Offenbarungsinhall besteht aus dem allgemeinen ewigen Siuengesetz mit dem Gebot der Gouesliebe (Otn 6.5). verbunden mit dem Gebot der ächstenliebe (Lev 19.21). alle weiteren Gebote sind von daher ableitbar. Dem Zeremonialgesetz kommt eine Hilfsfunktion bei der Erhebung über das Sinnliche zu. (b) In seinem Buch ..Die Religion des Geistes" adaptierte SaJomon Fonnsleeher (1808-1889) in Anlehnung an Schelling den Gegensatz zwischen ..Natur'" und ..Geist" und unterschied Entwicklungsstadien der Religion: ulI Die Phase der Naturrt:ligion. der unreflektierten Offenbarungsreligion. und zuletzt der Tradition. In ihr bedarf es anfangs noch der Absonderung von der paganen Weh. aber schließlich wird die Metaphysik durch Ethik abgelöst. indem das Christentum die Wahrheit des Judentums an das Heidentum vemliuell und sich dann selber von paganen Elementen läutert. (c) Samuel Hirsch (1815-1889).'oW ein radikaler Reformer. der in die USA auswanderte. entwarf sein System als jüdisches Gegenstück zu Hegels Geschichtsphilosophie. Es ist das Judentum. das die Freiheit des Geistes und das siuliche Handeln verwirklicht. Es repräsentiert die aktive Religiosität. der Paganismus die passive Religiosität. eine Naturreligion. die den Menschen den Zwängen des Naturgesetzes unterwirft und die Freiheit der Willensentseheidung leugnet. Die SelbslbewusSlwerdung des Geistes in der aktiven Religiosität erfolgt in drei Phasen. (I) Die Phase der imellsiven Religiosität. Zeit der Offenbarung in Alt-Israel. (2) Die Phase der extensiven Religiosität mit Einwirkung auf die Umwelt durch das Christentum. (3) Die Synthese zur absolmen Religiosität. das Ziel der messianischen Vollendung. Für Refonnjuden wurde dieser ethische Rationalismus zur Richtschnur lflO und der Begriff ethischer Monotheismus geisterte von da an durch die Literatur aller aufgeklärten Autoren. ob reformjüdisch oder modem-orthodox. und auch der Vorzug der Rationalität blieb eine Modebehauptung. Noch im 20. Jh. versuchte der Neukantianer Hermann Cohen (1842-1918). zuletzt im Rahmen seiner ..Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" (1919). eine Ethik mit derartigem I~
Frankfun a.M. 184J. .'" W. K!uback. 1bc Jewish Respon~ to Hege!: Samuel Hirsch and Heffi\ann Cohcn. 1be Owl ofMinerva 18. 1986.5--12. lte E. Grüncbaum. Die Sinenlehre des Judcnlhum$ andercn Bekenntnissen gegenüber nebst geschichllichcm Nachweise über EnlSlehung und Bedeurung des Pharisäismus und dessen Verhähniß zum Slifter der chrisdichen Religion. Mannheim 1867. Slra8burg : 1878: S. BemfeldtL Battk (Hg.). Die Lchren des Judentums. I. Die Grundlagen der jiidischen Elhik. Berlin 1922: 2. Die sittlichen Pflichten des Einzelnen. Be.r1in 1922: Leipzig 11928: 3. Die siulichen Pflichlen der Ge· meinschaft. Berlin 1923: Leipz.ig 11928: 4. Die Lehre \'on Gou. Le.ipzig 1928: 5. Judenlum und Umweh l...eipz.ig 1930: englisch: Tbc Teachings of Judaism from lhe Sources. New York 1929. 1968/: M. Sih·cr. The Elhics of Judaism from lhe Aspecl of Duly. New York 1938: 1. L Mauuck. Jewish Elhics. New Yor\;: 1953.
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Anspruch zu enlwerfen. 161 Seine Leistungen werden in Darstellungen der jüdischen Geistes- bzw. Philosophiegeschichte zwar hoch veranschlagt, aber er blieb ohne entsprechende Breitenwirkung.
Konservative korrigierten die reformjüdische Linie durch Aufnahme (radi· tioneller Elemente. Gerade in Abwehr der immer häufigeren judenfeindlichen und schließlich antisemitischen Polemiken suchte man nun auch das Prestige der rabbinisch-talmudischen Überlieferung zu wahren und ein deutlich jüdischeres Profil der Ethik zu zeichnen. Auf dieser Linie'6~ verfasste Morilz Lazarus (1824-1903) die wohl umfassendste, am besten dokumentierte Darlegung der jüdischen Ethik. 163 getragen von einer individualistischen Gesinnungsethik im Gefolge Kants. aber mit Ansätzen zu einer über die geläufige Gemeinschaftsethik hinausgehenden jüdischen Gemeinschaflsverantwortlichkeit. Auf modem-orthodoxer Seite wollte man darüber hinaus auch die grundlegende Beziehung zwischen jüdischem Recht und Ethos - neu formuliert - aufrechterhalten. In diesem Sinne wirkten vor allem H. B. Fassel (1802-1883)1601 und A. Katz (1858-1923).165 mehr an den religiösen Kernfragen orientiert M. A. Weill (1814-1889);1/16 und M. Friedländer (1833-1910).167 Und gegenüber den christlichen Kritikern des jUdischen Ethos bezog Elic ßenamozcgh (1822-1lX)() Position und verwies auf die Diskrepanz zwischen der propagierten und der tatsächl ichen Praxis der Christen. 1611 Die philosophie- bzw.geistesgeschichtlich maßgeblichen Werke der jüdischen Denker des 19.120. 1h. haben das jüdische Emos aber nur zum Teil direkt geprägt. Der entscheidende Faktor bei der Ausbildung eines gemeinjüdischen Ethos war vielmehr die modernisierte jüdische Erliehung. 1119 Ihr konnte sich auch die MehrE. Navon.Sccularizmion and the Law. Ethical and Religious Values in the Thoughl ofHennann Cohen. Jahrbuch des InsljtutS flir DeUlsche Geschichte 6. 1977.311-335; D. Novak. Universal Moral Law in the Thcology of Hennann Cohen. Modem Judnism I. 1981. 101-117. I~ Vgl. auch S.O. Luzzano. (1800-1865). Lezioni di tcologia morale isrnelilica. Padova 1862; Israelilische Moraltheologie. ilbersclZt von L.E. Igel. Czcmowilz 1864 und Brcslau 1870: L. Lazarus. Zur Charakteristik der talmudischen Ethik. Breslau 1877. IM M. La7.arus. Die Ethik des Judentums. I Frankfurt/M. 1898 (11904). II 1911: Bd.I-11 1 1922: The Ethics of Judaism, Bd. 1-11. Philadelphia 190010 I. 160 H,B. FasseI. Pidäq li-mi/par. Tugend- und Rechlslehre. Bearbeilei nach den Principien des Talmuds und nach der Fonn der Philosophie. Wien 1848; Die mosaisch-rabbinische Tugend. und Rechtslehre bearbeitet nach der philosophischen Tugend- und Rechtslehre des seligen Krug und erl:iulen mit Angabe der Quellen. GroB Kani7..sa ll862, Neudruck Aalen 1981; vgl. ders.. Die m0saisch-rabbinische Religionslehre. katechetisch rur den Unterricht bearbeitet. Wien 1863. 1~ A. Katz, Der wahre Talmud-Jude, Die wichtigsten Grundsätze des talmudischen Schrifttums über das sinliche Leben des Menschen. übersetzt und in 70 Kapiteln geordnet. Berlin J1893: 161
~1928.
M,A. WeiH. La momle dujuda'ismc. Bd. 1_11. Paris 1875n7. '67 M. Fricdl:inder. The Jewish Religion. Landon 1891; 1900: 1931;' 1953; New York 1946; Die jüdische Religion. Frankfun 1922: 11927: J1936; Nachdruck Basel 1971. '61 Momle juive el morale chrclienne Paris 1867: Neudruck Paris 2000; Jerusalern 2002. 10'1 I. Fishm:m. The Hislory of Jewish E.ducation in Central Europc from Ihe end of Ihe sixteenlh 10 the end of the eighteenth century. Landon 1944. IM
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heit der Onhodoxen auf Dauer nicht verschließen. wobei die Neo-Onhodo,;ie, begTÜndet durch Samson Raphael Hirsch (1808-1888). mit ihrem Konzept der Verbindung von Modeme (däräk äräf) und Traditionstreue (talmlid /ärah) fur die Ausbildung einer modemen Onhodo,;ie bahnbrechend wirkte. lX1 Schon gegen Ende des 18. lh. wurden die ersten. katechismusartigen Schulbücher für den Unterricht in der mosaischen oder israeli/ischen Religion und Sittenlehre verfasst, und während des 19. Jh. errangen einige Publikationen dieser An eine weite Verbreitung und erschienen in mehreren Auflagen. Dazu kam ein anwachsender Einfluss der nun aufkommenden Zeitschriften und Zeitungen. Und natürlich wirkte sich auch das in den Werken jüdischer Schriftsteller jeweils gezeichnete Bild von Judentum und luden aus. sei es in diversen modemen Schriftsprachen. oder in jiddischer und schließlich auch neuhebräischer Sprache. Das von Aufklärern und säkularen Zionisten angepeilte Leitbild des jüdischen Menschen hat im Pionierzionismus. insbesondere im Ideal der Kibbutz-Gesellschaft. konkrclc Gestalt gewonnen. und zwar im bewußten Gegensatz zum traditioncllen Ethos. In dem während der Mandalszeit Palästinas weitgehend autonom gestalteten Schul- und Erziehungswesen wurde dieses säkulare jüdische Leitbild in Konkurrenz mit dem orthodo,;en Enichungssystem verfochten. eine Dichotomie. die auch im Erziehungswesen des Staates Israel bestchen blieb. Im Schauen des Holocaus/ Die Erfahrungen in der Konfrontalion mit der modemen ludenfeindschaft bzw. mit dem Antisemitismus. vor allem aber die S-Verbrechen. haben in fast allen Teilen der Judenheit das BewusslSein ftir uistenzbedrohende Gefahrdungen geschärft. Das fühne in der Diaspora zu einer verstärkten Tätigkeit überregionaler und weltweiter jüdischer Organisationen mit dem Ziel der Wahrnehmung jüdischer Interessen. und in Palästina zum Aufbau einer jüdischen Heims/öue und schließlich zur Gründung des Staates Israel. Die zionistische Wehbewegung war an sich eine der säkularen nationalen Bewegungen des späten 19. Jh.. schloss aber sehr unterschiedliche Richtungen ein. Zunächst religiös neutral konzipiert. ziehe derZionismus in Weiterführung der jüdischen Aufklärung auf einen grundlegenden Wandel der Sozialstruktur in der Judenheit ab: Normalisierung der Lebensverhältnisse und Berufsstruktur, jedoch nicht mehr innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft. sondern in einem autonomen und möglichst souveränenjüdischen Gemeinwesen. Damit stand der Zionismus wie schon die Aufklärung in einem offenen Gegensatz zu den onhodo,;en (und chasidischen) Gruppen. fur die das hergebrachte Diaspora- und Ghettoleben als unverzichtbarcs Merkmal der Jüdischkei/ galt. Der lieue jüdische Mensch, wie er durch Aufklärer und säkulare Zionisten erstrebt wurde. sollte ein Ethos repräsentieren. das allgemeinmenschlichen Maßstäben nicht bloß entspricht. sondern diese noch vorbildhaft überbietet. Diese weitreichende
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E. SIern. Ha- ldi:'al ha·hinnuki täl
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b<.hilp:alrhuu3. Tel Aviv 1970.
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Zielsetzung stieß de facta bald an mancherlei Grenzen und daher ergab sich das Bedürfnis nach neuen - oder eben wieder alten - Orientienmgen. Die Wertvorstellungen innerhalb der zionistischen Wellbewegung waren von vornherein recht unterschiedlich. Zwischen religionsfeindlichen sozialistischen Zionisten und religiösen Zionisten gab es z.B. außer der antisemitischen Bedrohung keinen gemeinsamen Nenner mehr. Das Diasporajudenlum im Westen war zudem überwiegend bürgerlich und liberal eingestellt. die Palästinasiedlung und der$taat Israel waren Produktcdes sozialistischen Pionierzionismus. Das bedingte Inlcressengegensätze und unterschiedliche ethische Orienlierungen. Auch Dach dem zweiten Weltkrieg blieb das Diasporajudenlum noch lang von der Minori· tätselhik des 19. Jh. und ihren auf Umweltwirkung abgestellten Ansprüchen an den Einzelnen geprägt. Doch allmählich verlor sich der einst kennzeichnende liberale Charakter 171 und das kam auf längere Sicht den rechtszionistischen Tcndcnzen zustatten. Der im Sinne des moralischen Fonschriusglaubens pathctisch vertretene jüdische Optimismus war unter der NS-Herrschaft zerbroc.hen. und SO kam es in den modemen religiösen Richtungen auch automatisch zu einer Rückorientierung an der Tradition. was im Refonnjudentum am spürbarsten in Erscheinung tral. m Die NS-Judenverfolgung hat mit konsequenter Ausnützung der Möglichkeiten einer Selbstverwaltung der Opfer gearbeitet und Einzelne wie ganze Gremien (Judenräte) zur Mittäterschaft gezwungen. Diesem ethischen Dilemma konnten die Betroffenen nurdurch Selbstaufopferung entgehen. die Überlebenden wurden mit dem Vorwurf der Kollaboration konfrontiert. Dergleichen blieb lange ein Tabu und wurde erst spät thematisiert. l l ) Die Vorstellung von wehrlosen und gefügigen Juden in der Todesmaschinerie der KZs widerstrebte außerdem dem Selbstbewusstsein der Israelis, die in ihrer frischen Wehrhaftigkeit die Katastrophe auch auf Fehlentwicklungen des diasporajüdischen Ethos zurückführten. Die Generation der StaalSgründung hat unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten Antworten auf die Frage gesucht. wie in Zukunft jüdisches Leben und die zwischenmenschlichen bzw. zwischenstaatlichen Beziehungen auf eine tragfahigere Basis gestellt werden könnten. Eine stattliche Anzahl von Autoren präsentierte persönliche oder gruppenspezifische Darstellungen jüdischer Ethik. aber meistens unter mehr oder minder weitreichender Anknüpfung an traditionelle Voraussetzungen und im Kielwasser jüdischer Denker der Zeit vor der
111
M.E. Slaub. Tom AI1nc Roots: 1be Crisis of Jewish Liberalism in Postwar America. Ncw
yort: 2002. In E.B. Borowirz.. 1be Jewish MQnlI Virtues. Philadelphia 1999; M. Zemer. Jüdisches Religion-
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Ethos des Judentums
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NS-Herrschaft. 17. Ausnahmen von Rang bestätigen die Regel. aber sie erreichten trotz ihres in akademischen Kreisen hohen Bekanntheitsgrades nicht die Breitenwirkung im jüdischen Bereich. die rur eine maßgebliche innerjüdische Wirkung erforderlich ist. Und diese Beschränkung resultierte auch aus Positionen. dje den vorherrschenden politischen Einstellungen nicht entsprachen und keinen Rück· hall in den religiösen Lagern hatten, auch nicht als speziell jüdische Positionen konzipiert waren. Für das Gebiet der politischen Elhik seien dazu zwei Beispiele hervorgehoben. die Philosophin Hannah Arendt (J 906--1975). m und in jüngerer Zeit-von beklemmender Aktualität '76 -die SchriftstelJerin undJournalistin Susan Sontag (1933-2004).m Wirklich neue Akzente sind davon abgesehen relativ selten und eher auf der modem·orthodoxen Seite zu finden. 17t So ist der Philosoph Emanuel Levinas. 179 religiös modem-orthodox orientiert und eine imponierende Persönlichkeit, zweifellos auch ein jüdischer Ethiker von Rang, 180 aber seine Wirkung reicht schwerlich über den akademischen Bereich hinaus. Im jüdischen Rahmen gesehen wirkt die Doppelheit seines universal-menschheitlichen und partikular-jüdischen Ansatzes
S.D. Breslaucr. Contemponuy Jewish Ethks. A Bibliographicat $urve)'. Westpon 1985: ergänzte Ausgabe: Modem Jewish MOr.Ilil)': A Bibliogrnphical $un,ey. New York 1986: M.M. Kellner (Hg.). Contemponuy Jewish Ethics. New York 1978: I.H. Weisfeld. 1be Ethics of Israel. New Yor\:: 1948: S.S. Cohon. Judaism. A Wa)' ofLife. Cincinnati 1948: H.E. Goldin. 1be Jew and His Dl.llies. 1be essence of the Kitzur shulhan Arukh. edücally presented. New Vor\:: t953: A.C. Weinfeld, Basic Jewish Ethics and Frecdom of Will. New Yon: 1968; DJ. $i1ver. Judaism and Ethics, New Yor\:: t970; F. Klagsbrun. Voices ofWisdom. Jewish Ideals and Ethics for Everyday Living. New Yon: 1980: Boston t990: $. $pero. MoraJity. HaJakha and lhe Jewish Tradition. New Yon: 1983; 1.S. Coben.11Jc: Jewish Hean_ Essays on Jewish Sensilivities, Hoboken. NJ I98S: F.E. Greenspahn. Conlemponuy Ethical Issues in thc: Jewish and Chrislian Tradilion, Hoboken, NJ 1986: B.L. Sherwin, In Pannership wilh God: Contemporary Jewish Law and Ethics. Syracuse. NY 1990; E.N. DorfflL.E. Newman (Hg.), Contemporary Jewish Elhics and Moralit)'. AReader, New YoRJO:dard 1995; A. SagiID. Slatman, Jahadul ben dat U musar, Religion and Ethics, Tel Aviv 1998: A. Safran. Ekploralions in Jewish Religious Elhics. Jerusalem 1999: ders.. Jüdische Ethik und Modcrnität. TObingen 2000; E.N. Dorff. To Do lhe Right and lhe Good.A Jewish approach 10 modem social elhics. Philadelphia 2002: P. Stcinbcrg. Stud)' Guide 10 Jewish Ethics: A reader's companion to: Mallers of life and death. Ta do the right and Ihe good. Love )'our neighbor and )'ourself, Philadelphia 2003: B. NevQ/Y. Shur. Moralil)'. Ethics and Law in Wanime. Jerusalem (hrael Dcmocracy Institule) 2003: S. Frccdman. Small ACls of Kindness, Jcrusalcm 2004. In H.M. Schönherr-Mann, Hannah Arendl. Wahrheit. Macht. MOr.II. München 2006. •16 Unsere Slärke wird uns nicht helfen. Amerika unter Schock: Die falsche Einstimmigkeil der Kommentare, von Susan Sonlag. Frank"funer Allgemeine Zeitung. IS.09.2001. Nr. 215JSeiie 45. Ihre Einschätzung der Fehlreaklionen auf den t 1.09.200 I wurde durch die verhängnisvolle Orientpolitik der Regierungen BushlUSA. Sharonllsrael und BlairJUK leider mehr und mehr bestäligt. m Nachruf in: Spiegel Online. Kultur vom 28. t2.2004. 1'11 E. BertovilS (geb. 1900). Ma '""marim 'al j"SÖdC ha-jah"dül. JerusaJem 2004. 119 W.N. Krewani. Emmanuel Uvinas. Denker des Anderen. Freiburg 1992: B. Taureck, Emmanuel Uvinas zur EinfUhrung, Hamburg :lZ())2. 1. T. Wrighl. 1be Twilight of Jewish Philosoph)'. Emmanuel Lc:vinas' Ethical Hermeneuücs. Amslerdam 1999: M.C. Srajek. tn lhe Margins of Deconstruetion. Jewish Conceptions of Ethics in Emmanuel Lc:vinas and Jacques Denida. Dordrecht 1998. 11'
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Joharm Maier
nicht als Neuerung, und bei der Begründung des Ethos vom Gonesbegrifr her. von Gott als dem absolut Andere", kommt ein Aspekt der traditionellen jüdischen
Gouesvorstellung zum Zug. 11. Die zukunftsorientierte pionicrzionislische Einstellung und die augenfaUige pionierzionislische Aufbauleistung hat die Identifizierung mit dem neugegründeten
Staat der jüdischen Jugend in aller Weil zu einem neuenjüdischen Selbstbewusst· sein verholfen. was eine demonstrative Abkehr vom ..Ghettojudenlum·· und einen enormen Modemisierungsschub nach sich gezogen hat. Das pionierzionislische Experiment einer möglichst egalitären Gesellschaftsordnung. beispielhaft verkörpert durch die Kibbutzim. undeinerdurch die Lehren ausderGeschichte geprägten Politik in einem jüdischen Staat weckte auch in der Umwelt Bewunderung und utopische Wunschvorstellungen. vor allem unter Jüngeren. denen die nach dem zweiten Weltk.rieg weithin erfolgte erfolgte Rück.kehr zu Positionen vor der NS· Zeit nicht genügte. Die Pionierzionisten waren sich gewiss. die Grillpancrsche Skala ..von der Humanittit Ober dic Nationalität zur Bestialität" aufden Kopf stcllen zu können. und aus der erlebten Bestialität über eine eigene Nationalität zu einer vorbildhaften Humaniliit zu finden. Die Geschichte verlief anders und hat die GrillparLcrsche Sequenz wiederhergestellt. Als Folge der aufkommenden Ma",sen konsumgesellschaft im Sinne des American way oflife. einer fortschreitcnden Korruption und infolgc langwieriger parteintemer Rivalitäten verlor das pionierzionistische Elhos aber seinen Elan und vennochte sich nach dem Machtwechsel im Mai 1977 auch nicht mehr neu zu etablieren. Die rechtszionistische Ideologie setzt ganz auf MaChtpolitik. arbeitet gezielt mit einem Katastrophenszenarium als einziger Alternative zur eigenen Politik. und sichert dies gegen Kritik durch pathetische Rückvcrweise aufden Holocaust und durch ständige Hinweise aufcine anwachsende antisemitische Bedrohung und einen drohenden neuen Holocaust ab. Eine Art Nötigung. der sich die Betroffenen nur schwer entziehen können. Dass es soweit kommen konnte. liegt zu einem gUlen Teil an unbeabsichtigten. aber kaum mehrreduziblen demoralisierenden Auswirkungen der Holocaust- Weile. Diese setzte etwa gleichzeitig mit dem Rechtsruck in Israel (und in der Folge auch den großen jüdischen Organisalionen) ein und kam der rechtszionistischen Politik ungemein zustatten. Zunächst ging es darum. die schrecklichen Ereignisse unter der NS-Herrschaft nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. sondern sie zur Erhaltung und Vertiefung politisch-sozialer Verantwortung zu vergegenwärtigen. mit dem Ziel einer entsprechenden ethischen Dynamik und einer Schärfung des Gewissens. '12 Einige Zeit machte sich diese Dynamik auch geltend und man nahm Gefahren und Missstände im politischen Geschehen der Gegenwart und
"gi. W. Stcgmaier. Philosophic und Judentum nach Emmanucl Levinas. in: den. (Hg.). Dic philosophische Aktualität der jßdischen TradilKln. Fnmkfun a.M. 2000. 429--460: D. Plüss. Das Messianische. Judcnlum und Philosophie im Wcrk Emmanucl Lhinas'. Sluttgan 2002. llU E. Fackcnheim. To Mcnd the WOfld. Foundationsof post.Holocausl Jcwish 'Thought. Bloom· ington 1993. III
Elhos des Judentums
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insbesondere die unerträglichen Zustände in weiten Gebieten der sogenannten Drillen Weil auch entsprechend wahr. Doch im Zuge der nationalistisch-fundamentalistisch inspirierten israelischen Regierungspolitik geriet die Handhabung des Holocaust-Themas zu einem probaten Mittel der Selbstrechlfertigung und der politischen Einflussnahme. Gestützt wird dies durch Holocaust-Theologen bzw. Holocaust-Ideologen, die den Begrriff Holocausl zu einer religiösen oder mythjsehen Bedeutung verhelfen. um ihn so einer bef"Urchteten Vergeschichtlichung zu entziehen. Begleitetet wird dies von einem sich effektiv organisierenden Aktionismus. der als Holocausl·lnduslrie gebrandmarkt wurde. IV Das hat natürlich unverzüglich heftige Gegenpolemiken ausglöst. 1&1 In der Tat ergab sich in Folge dieser Sekundärverwertungen des Begriffs alles andere als eine Schärfung des politischen und sozialen Gewissens. Vertreter der Holocaust-Welle haben nämlich mit ihrer gezielten Verabsolutierung der NS-Verbrechen streckenweise geradezu das Gegenteil bewirkt. eine Verharmlosung aller anderen Verbrechen und eine aggressiv-intolerante Unterdrückung kritischer Infragestellungen. Andere Beispiele für Völkermord wurden gez.ielt ausgeblendet bzw. ignoriert" u die Zustände und Ereignisse in der ..drinen Welt.. gerieten aus dem Blickwinkel. An der akwellen Politik des Staales des jüdische" Volkes scheiden sich die Geister innerhalb der Judenheit zwar gründlich. aber seit Beginn der HolocaustweIle dominiert die aus der NS-Judenvemichtung abgeleitete Verpflichtung zur ethnischen Selbsterhaltung (Survivalismus) die Verhaltensweisen. Die anhaltende Besetzung und kontinuierliche Besiedlung von Gebieten. die man als Land der Völer behandelt. in dem die nichtjüdische Bevölkerung eigentlich keinen legitimen Platz hat. wird von zahlreichen Kritikem auf eine Art Sündenfall zuTÜckgeftihrt. der nach dem Sechstagekrieg von 1967 eintrat und Folgen nach sich zog, die mit dem Völkerrecht. mit den Menschenrechten und mit jüdischem Ethos nicht zu vereinbaren seien.11f> Die Versuchung war zu groß. in den eroberten Gebieten mit einer geziehen Enteignungs- und Siedlungspolitik
P. Novik. Nach dem Holocaust. SlullgnnlMUnchen 1200 I; populärer wurde die vereinfachte polemische Darstellung von N.G. Finkelstein. The Holocaust Indumy. Reßeclions on the Exploitation of Jewish SuITering. London 2000. •10 Siehedazu E. Piper(Hg.). Gib! es wirklich eine Holocaust·lndustrie?Zur Auseinandersc:u.ung um NormIln Finke1stein. Zürich 2002. ,., Y. Auron. 'OIe Banalit}' oflndiffercnce. Zionism and theArmenian Genocide. New Brunswick 2000; ders.. The Banality of Denil1l. Israel and the Annenian Genoctde. New Brunswtck 2003. I" Von modem-onhodoxer Seite s. Y. LeibowilZ. Judaism. Human Values. and the Jewish State. Cambridge. MA 1992; "on liberaler Seite vgl. M.H. Ellis. Towards a Jewish ~Iogy of Liber:uion. Thc: uprising and the future. New York 1987;~; deulSCh: Zwischen Hoffnung und Verral. Schrine auf dem Weg einer jüdischen 1beologie der Befreiung. Luzem :1992; ders. Beyond Innocence and Redemplion. Coofronting the Holocaust and Israeli Power. New YorY. 1990: R.R. Ruelher (Hg.). Beyond Occupation. American Jewish. Christian. and Palestinian Voices far Pcace. Boslon 1990: M.H. Ellis. Unholy Alliance. Religion and Atrocities in our Time. Minneapolis. MN 1997. IIJ
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Johann Maier
Tatsachen zu schaffen. l17 wie sie mit Erfolg und ohne internationalem Protest be· reils im Staatsgebiet selbst und insbesondere bei der Judaisierung Galiläas Uihlid ha-GoUT) erreicht worden sind. wo sich das Landbesitzverhähnis zwischen Juden und Nichljuden seil der Staalsgründung völlig umgekehn hai. ohne daß diese Me· thode ethnischer Säuberung außerhalb auf ernsthafte Kritik stieß. Die Verfugung über das Land wurde in der Folge auch immer stärker religiös begründet. Eine Bewegung fiir das ganze Land Israel. ein Block Gelreuer und zahlreiche neugegründete J~I;b6t (höhere Talmudschulen) traten Hif die Besiedlung der besetzten Gebiete ein. wobei zunehmend auch vage definiene Endzeitcrwanungen eine Rolle spielten. die dem Geschehen den Charakter der letztmaligen und endgültigen Chance zur Verwirklichung traditioneller Zukunflshoffnungen verliehen. Die jüdische Orthodoxie, in mehrere Gruppierungen aufgespalten. geriet immer mehr in diesen Sog. und der Aufstieg dieses endzeitorientierten Fundamentalismus fiel noch dazu - wie bereits erwähnt- mit einer diasporaweiten Umkehrbewegung zusammen. die in krassem Gegensatz zum Menschenbild der jüdischen Aufklärung und des Zionismus das Erscheinungsbild und die Lebensweise des - insbesondere osteuropäischen - Ghettojudentums der Vorkriegszeit kopiert. und damit eine ReGheltoisierung eingeleitet hat. die den Zielsctzungen der jüdischen Aufklärer. Reformer und Pionierzionisten diametral zuwiderläuft. Als Korrektive blieben. wenn auch schwer bedrängt. eine zahlenmäßig geringe konservativ~fundamentalistische.antizionistische Orthodoxie auf der einen und einige Gruppen unerschrockener Verfechter des jüdischen Ethos liberaler Prägung auf der anderen Seite. Lell.tere könnten in den USA durchaus ein erhebliches Potential von Gleichgesinnten hinter sich haben. wäre es nicht aus mehreren. vor allem vorgeblich patriotischen Grunden opportun. zu schweigen oder sich von der Problematik (und damit auch vom Staat Israel)einfach abzuwenden.! In der näheren Zukunft wird es vor allem darauf ankommen. ob und wie die reformjüdischen. konservativen und modem-orthodoxen Richtungen ihre angestammten religiösen und ethischen Grundsätze tTOIZ der eingetretenen Solidarisierungszwänge wieder geltend machen. ob im Staat Israel eine demokratischen Prinzipien entsprechende Lösung des Verhältnisses von Religion und Staat zustande komnn!89 und eine akzeptable Lösung des Palästinaproblems erzielt wird.!90 Es gibt Rabbinervereini-
I.
Y. Stein (Hg.). Land Grab: Ismel's Seniement Polic)' in lhc Wesl Bank. Jerusalem 2002. S.T. RosenthaI. Irreconcilable Differences: 1be Waning cf lhc American Jewish Lo\'e-Affair wilh Isrnel. Hanover. NEJLondon 200 I. I" A. RavnilZk)'. Religion and Slale in Jewish Philosoph)'. Mockls of UnilY. Division. Collision and Subordination. Jerusalem 2002. I" N. Chomsk)'. Fateful Triangle. Tbc Uniled S13tes. Israel and thc: Paleslinians. Boslon. MA I-Jt 983: 1991: london 1983: Monrn:al 1984: Cambridge. MAILondon 1999: dculSChe (gekürzte) Ausgabe: Offene Wunde Nahost. Israel. dte Palästinenser und die US·Polilik. Hamburg lW03: S. Sonlag. Regarding Im Pain ofOlhers. Ne"'" Vork 2003: deulSCh: Das Leiden anderer betrachten. München 2003: Frankfurt 3.M. 2005. Il1
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gungen. die in diesem Sinne tätig sind. '91 Und im Refonnjudentum der USA sind im November 2005 einige Weichen in diese Richtung gestellt worden. Insbesondere in akademischen Bereichen fehlt es keineswegs an kritischen Betrachtungen der Geschichte des Staates und der aktuellen Fragen. 1921m politischen Establishment freilich sind derzeit kaum positive Ansätze zu erkennen. So wurde auch nach der Wahl des neuen Vorsitzenden der Arbeitspartei von den Repräsentanten der bisherigen Annexions- und Expansionspolitik unvenüglich jede Chance einer Neuorientierung verbaut. So reduziert sich auf dieser Linie jüdjsches Ethos auf eine nationale Selbstbehauptungsideologie, die unter Berufung auf den unvergleichlichen und einzigartigen Holocaust der Vergangenheit und mittels einer immer neu beschworenen Gefahr eines neuerlichen Holocaust in naher Zukjunft das Recht auf die Ethik eines kontinuierlichen Ausnahmezustandes und Rechtsnotstands in Anspruch nimmt und Kritik dementsprechend als Angriffund EÄistenzbedrohung empfindet und hinstellt. Das besondere aktuelle Problem der politischen Ethik in und auserhalb der Judenheit besteht nicht in der Ideologie und Praxis dieser nationalistischen und fundamentalistischen Richtungen. es besteht in der propagierten Verabsolutierung dieser EÄtrempositionen zur alternativ losen jüdischen Position schlechthin. Diese Verabsolutierung fordert nicht nur innerjüdische, sondenr auch von der Umwelt bedingungslose Unterstützung. Das entspricht aber weder dem traditionellen jüdischen Ethos. noch dem modem-liberalen jüdischen Ethos. Bedingungslose Unterstützung für zielgerichtet betriebene Enteignung der Bevölkerung eines Landes und damit letztlich für ethnische Säuberungen gerät automatisch in Konflikt mit demokratischen Prinzipien und mit Menschrechten. Niemand unterliegt einer ethischen Verpflichtung. in einem Konflikt. derdringend eine faire Lösung erfordert, das EÄistenz.recht und Selbstverteidigungsrecht nur einer der beiden Streitparteien anzuerkennen. Für Vertreter jüdischerlisraelischer Menschenrechtsorganisationen und ernstgemeinter Friedenspolitik ist schwer nachvollziehbar. warum politische Zielsetz.ungen und militärische Maßnahmen. gegen die sie ankämpfen. bedingungslose Unterstützung durch Regierungen erfahren. die ansonsten die Menschrechte gegenüber Dritten recht forsch einfordern. Auf jüdisches Ethos - und sei es auch nur im Sinne der Pflicht zur Bewahrung des Lebens von Mitjuden - kann man sich für die derzeit vorherrschende Politik jedenfalls nicht gut berufen, wie innerjüdische Kontroversen sehr wohl und ein-
Vgl. z.ß. die im Internet publi1.iene Selbsldarstellung der Rabbis/ar H/lman Rights: ..Rabbis For Human Rights encourages respect for human righls and social jusfice. We combine Ihe herilage of Ihe Jewish tradition and Ihe pluralislic approach 10 its slUdy and interprelation and apply Ihem 10 direel aClion projeclS in order 10 bring about a likkun olam (fixing of the world) in our day and age. Israel has the right and thc responsibililY 10 meet Ihe securily needs of ils cilizens. RHR is convinced Ihallsrael's se<;urity nceds are besl served by measures !hat avoid. as much as possible. the crealion of conniclS belwecn Israel"s righllo self-defense and Palestinian's righls 10 their land. frccdom of movemenl. access (Q livelihood, health care and education cenlers.·· '9: Vgl. z.ß. die BeitrAge in: B. Schäfer (Hg.). Hislorikerstreil in Ismel. Die ..neuen" Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Fmnkfun a.M. 2000. ,91
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Johann Maicr
drucksvoll zeigen. Angesichts der wcltpolitischcn Verstrickung handelt es sich jedoch nicht nur um aktuelle Fragen jüdischer Ethik, denn die möglichen Folgen übersteigen die Dimensionen israelischer oder jüdischer Politik bei weitem. Gewohnheitsmäßige Berufung auf den Holocaust als Ausflucht und vorschnell
und lautstark geäußerte Verurteilungen unliebsamer Äußerungen als alllisemirisch ersetzen keinen Sachverstand, keine politische Vernunft. und auch nicht ethische Entscheidungen. Sie untergraben die Glaubwürigkeit des eigenen Ethos und versperren die Möglichkeit heilsamer Selbstkritik,'9l Dieser Sachverhalt stellt den schwierigsten aktuellen Aspekt sowohl des jüdischen Ethos selbst wie auch des Verhaltens zum Judentum und zur Regierungspolitik Israels dar.
Zudiesem heiklen Themenkomplex nun erneut diskussionSlriichtig: N.G. FinkelslCin. Beyond Chutzpah. On Ihe Misusc of Anli-Semitism and the Abuse of HislOry. Bcrkelcy 2005. 191
Ethos des AlIlOll
Istentums
Grabner·Haider
Die christliche Ethik prägt unsere europäische Kultur seit fasl 2(K)() Jahren. sie beeinflusst und formt gegenwärtig das Leben von ca. 2 Milliarden Menschen. Gewiss sind ihre Lebenswerte nicht alle im Kontc:Jtt der Religion entstanden. viele kommen aus der antiken Kultur und ihren philosophischen Schulen. Das Christentum hat diese Kultur beerbt und ihre personalen und sozialen Lebenswerte über fast 20 Jahrhunderte tradiert und weiter entwickelt. Hier sollen die Grundkonzeptionen der christlichen Ethik in ihrer Entwicklungsgeschichte übersichtlich dargelegt werden. Kuhurgeschichtlich betrachtet ist das Christentum insgesamt eine kreative Vermischung von hellenistischen und semitischen Lebensformen und Daseinsdeulungen. Dieser Prozess der Kulturvermischung begann seit ung. 330 v.Chr., als das jüdische Land unter griechische Verwaltung kam. Von da an wurden im Land sukzessive griechische Tempel, Gymnasien und Paläste gebaut, in der Verwaltung wurde die griechische Sprache (Koine) benutzt. Schon bald zogen griechische Wanderlehrer. vor allem Stoiker und Kyniker. durch das Land und lehrten die Menschen die Regeln des guten und gelingenden Lebens. In dieser Zeit übernahmen jüdische Lehrer griechische Lebensweisheit und Moralwerte. 1 Der Austausch zwischen der griechischen und der semitischen Kultur begann in den Provinzen Syrien und Ägypten. Das Christentum ist kulturgeschichtlich gesehen das bedeutendste Ergebnis dieses Austausches. weil es zwei bisher fast getrennte Lebenswelten verbindet. Nun öffnen sich Teile der semitischen Bevöl· kerung. vor allem die oberen sozialen Schichten. fLir die Lebensfonnen der griechischen Kultur. Doch andere Gruppen und Bewegungen bekämpften die fremde und neue Kultur und wandten sich von ihr ab. Zu ihnen zählen die Makkabäer. die Essener und die Apokalyptiker von Qumran. Doch die Anhänger des Wanderleh, C. Schneider. Kullurgeschichte des Ucllenismus 11. München 1967. 578-606.
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Anion GrJbner-Haider
rers JeslIs aus Naz.areth und ihre Nachfolger bildeten mehrheitlich ein Bindeglied zwischen beiden Kulturen. Seit der europäischen Aufklärung wird im kritischen Denken das Wesen einer Religion in der von ihr vermiuelten Ethik gesehen. Die mythischen Erzählungen und Glaubensdogmen haben sich relativiert, doch die moralischen Grundwerte des Zusammenlebens sind über weile Zeitcpochen dieselben geblieben. Das gibt der christlichen Ethik im Gesamt der Wellkultuf heute ihren besonderen Stellenwert. Denn sie tradiert die Wertordnungen der griechischen Philosophie und verbindet sie mit religiösen Lehren. die ständig an neue Kulturen angepasst wurden. Auch dieschärfslen Kritikerder Religion schätzen. von wenigenAusnahmen abgesehen. die humanen Grundwerte. die in religiösen Kontexten vermiueh werden. 2
Oie Wertordnungen des Jesus aus Nazareth Wir kennen die Lehren dieses jüdischen Wanderlehrers nur aus den Bcriclucn seiner Jünger und Mitstreiter. er selbst hat uns keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. In den sog...Evangelien" der frühen Jünger werden die ethischen Programme des Lehrers zusammen gefasst: gegen Mitmenschen keine Gewalt anwenden. auch nicht gegen die römischen Besatzungstruppen: böse Taten nicht durch böse Taten vergelten. sondern dem Gegner Gutes tun und Wohlwollen ent· gegen bringen: unbedingte Hilfe für Anne und Ausgegrenzte: Barmherzigkeit und Mitgefühl zu den Schwächeren: das Böse und Verletzende aus der Welt schaffen durch wohlwollendeGesinnung und Taten; mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit den Mitmenschen begegnen. auf Lüge und Täuschung verzichten. Die Anhänger und Schüler Jesu sollen Gegner und Feinde miteinander versöhnen: sie sollen Frieden sfiften. wo immer sie können: um soziale Gerechtigkeit müssen sie ringen und dafür auch Nachteile in Kaufnehmen. Das bisherige Gesetz der Rache sollen sie durchbrechen. auf Vergeltung müssen sie verzichten. denn das Böse soll durch das Gute aufgehoben werden. Jeder soll lernen. sich selbst anzunehmen und zu lieben und dann auf die gleiche Weise die konkreten Mitmenschen anzunehmen und zu lieben. Denn dann wird er auch den gölllichen Schöpfer und" Vater" aller Menschen annehmen und lieben können. Diese dreifache Liebe ist eine starke Motivation für ein gewalt freies und ahruistisch orientiertes Leben. Auf Eide und Schwüre vor Gou muss verzichtet werden. niemand soll in eine fremde Ehe einbrechen. Die Jünger Jesu sollen keinen Mitmenschen endgültig verurteilen. denn das letzte Urteil über jeden Menschen spricht allein der gÖllliche Schöpfer. Wenn jeder damit beginnt. seine moralischen Fehler im Zusammenleben mit ande· ren zu erkennen und zu korrigieren. dann entsteht eine veränderte Lebensfonn (MI 5-7).
11. Kanl. Die: Religion innerhalb dcrGrcnzen der blo6cn Vernunft. Königsbcrg 1794. B. Russcll. Warum ich kein ChriSI bin. Frankfun 1937.
Ethos des Christentums
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Mit diesen Anleitungen fasst Jesus die sog. "Goldene Rege'" des moralischen Verhaltens zusammen, die in Ansätzen in allen Kulturen bekannt ist. Diese vernünftige Regel sagt, dass wir Menschen einander nichts antun sollen, was wir selber nicht erleiden möchten. Positiv gewendet sagt sie, dass wir einander alle diejenigen Bedürfnisse hinreichend befriedigen sollen, die wir selber von anderen befriedigt haben wollen (Mt 7,12). Dies ist das optimale Grundprogramm für das Zusammenleben von Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Freilich viele Menschen hahen sich nicht daran oder sind gar nicht fahig und willens, dieser Regel zu folgen. Jesus lebte mit Leidenschaft für dieses Programm und nahm dafür viele Nachteile in Kauf. Als religiöser Ekstatiker begegnete er im Gebet und in der Meditation dem göttlichen "Vatef', bei dem er sich als ein besonderer göttlicher .,Sohn" angenommen wusste. Diese Erfahrung war für ihn die stärkste Motivation für sein moralisches Verhalten. J Auch seine Jünger lernten die Ekstasetechnik im Gebet und lebten aus einer persönlichen Begegnung mit dem Bundesgolt. Von ihnen forderte der Lehrer. dass sie wie ein Baum gute Früchte des Lebens bringen. Sie müssen die bei ihm gelernten moralischen Regeln in das tägliche Leben umsetzen. Es genügt nicht, wenn sie ihn mit schönen und großen Titeln ansprechen oder wenn sie nur seine Worte nachsprechen. Vielmehr müssen sie seine moralischen Forderungen Tag für Tag in das konkrete Leben mit den Mitmenschen und in die Tat umsetzen, wie er es selber versuchte. Dann aber bauen sie das Haus ihres Lebens auf einem Felsen auf und nicht auf Sand (Mt 7,21). Diese neue Fonn des Zusammenlebens nennt der Lehrer .,Reich der Himmel';, an ihm kann nur teilnehmen, wer Tag für Tag um die Verwirklichung der moralischen Grundwerte ringt. Dieses Programm verändert Menschenleben und auf lange Sicht eine ganze Menschenwelt. Gewiss wird es durch einen mythischen und religiösen Hintergrund motiviert. Da ist von einem göttlichen "Gericht;' die Rede, vor dem jedes Menschenleben beurteilt wird. Denen, die um Taten der Nächstenhilfe und der Nächstenliebe gerungen haben, wird ein göttlicher Lohn im "Himmel'; versprochen. Die aber den Mitmenschen die Hilfe verweigert und ihnen Böses angetan haben, denen werden göttliche Strafen in einer "Hölle" vorausgesagt (Mt 25). Jesus war ein Kind seiner Zeit, seiner Kultur und Religion, deswegen ist seine Ethik vorwiegend religiös motiviert. Er glaubte, dass diese Weltzeit nur mehr kurz sein werde und ein baldiges Weitende bevor stehe. Daher müsse jeder sich beeilen, für seine Mitmenschen Gutes zu tun. um nach seinem Tod ein gutes Schicksal zu haben. Die alten jüdischen Gesetze werden von den Priestern am Tempel gehütet. doch Jesus interpretiert sie aufgrund seiner ekstatischen Erfahrungen neu. Er sagt. ihm sei vom göttlichen .. Vate~' die Erfüllung dieser Gesetze geoffenban worden
I
G. Theisscn. Die Religion der ersten Christen. Gütersloh 2000, 55-59.
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Anton Grabncr-Haider
In realistischer Sichtweise verbirgt sich hinter dem ethischen Programm Jesu ein großer kultureller Lernschritt, denn das archaische Recht auf Rache und Vergeltung wird verabschiedet und durch ein Recht der allgemeinen Menschenliebe ersetzt. Gewiss hatten einige jüdische Propheten solche Werte schon angedeutet. doch die griechischen Wanderphilosophen, vor allem die Stoiker und Kyniker halten es schon seil ung. 300 Jahren gelehrt. Es ist nicht auszuschließen, dass Jesus mit solchen Lehren in seiner Heimatprovinz GaJiläa in Berührung gekommen isra. denn dort lebten Juden und Griechen seit langem in ihren Dörfern und Kleinstädten neben einander und im wirtschaftlichen Austausch. Heutige Exegeten meinen. dass er selber mehrere Jahre beim Bau der griechischen Stadt Sephoris als Bauarbeiter (tekton) gearbeitet hat. Durch seinen Bezug auf ein ..Reich Gottes" hat Jesus die schwer erträgliche Herrschaft der Römer relativiert und abgemildert. Seine jüdischen Mitbürger hai er zur "Umkehr" von ihrem bisherigen moralischen Weg aufgefordert. sie sollten einander. auch den Fremden. den Gegnern und Feinden. mit Wohlwollen begeg· nen. Den engen Bezug zur Familie und Sippe sollten sie durch den Bezug zu einer neuen Gemeinschaft der Jünger ersetzen. Für diesen Dienst an der Verkündigung des neuen ..Reiches Gottes" müssen sie auch bereit sein. Nachteile und Leiden auf sich zu nehmen. Das ganze jüdische Gesetz der Priester werde durch das dreifache Liebesgebot (zu sich selbst. zu den Mitmenschen und zu Gon) erfüllt und vollendet. Das harte Sabbatgebot und alle anderen Regeln des Zusammenlebens hätten den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Denn es gehe fur alle Menschen um ein gutes und friedvolles Leben. Erstaunlicher Weise ersetzt Jesus die alte Autorität des Moses durch seine eigene Autorität, die aus der ekstatischen Golteserfahrung gespeist wird. Das allgemeine Liebesgebot ist fortan die Interpretationsinstanz für alle anderen Le· bensregeln. Die Scheidung der Ehe wird verboten. um nicht die Frauen in einer patriarehaien Kultur zu benachteiligen. Dieses moralische Lebensprogramm hat gewiss eine indirekte Veränderung der bisherigen sozialen Strukturen zur Folge. Der Wert des materiellen Besitzes wird relativiert. denn es geht um die Veränderung der inneren Einstellungen und Wertungen und folglich um die Gewinnung neuer Lebensfonnen. ~
Das Ethikkonzept des Paulus von Tarsos Der große Vordenker der Verbindung zwischen jüdischer und griechischer Kultur aber ist PaIlJus va" Torsos. Er war zuerst ein Gegner der Jesus·Bewegung. die er in Jerusalem kennen gelernt haue. Durch ein ekstatisches Erlebnis schloss er sich aber der hellenistischen Gruppe der Jesusjünger in der Stadt Antiochia an .
• C. Schneider. Kulturgeschichte. 888-907. J G. Theissen. Die Religion. 63-67. J. Rohls. Geschichte der Ethik. Tübingen 1999. 99-110.
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Er war als gläubiger Jude in der Stadt Tarsos aufgewachsen, wo er die stoische Philosophie und Ethik studiert hatte. In dieser Stadt gabes seit mehr als 200 Jahren eine stoische Philosophenschule. Als Christ greift er auf diese Lehre zurück und verbindet sie mit dem neuen Glauben an den göttlichen ,.Gesalbten" (Christos) Jesus. Für die Christen sollte es fortan keinen Opfergoltesdienst am jüdischen Tempel geben. jeder Gläubige soll einen moralischen Gottesdienst im alltäglichen Leben leisten. Dieser bestehe darin. in allen Situationen den göttlichen Willen zu erkennen und zu tun. Denn wer sein Denken vom Christus her erneuert und sich nicht den geltenden Lebensfonnen anpasst. wird den göttlichen Willen kJar erkennen (Röm 12.1-2). Auch Paulus weiß. dass alle moralischen Gebote des Lebens im allgemeinen Liebesgebot zusammen gefasst werden. Deswegen müssen Christen lernen. ihre nächsten Mitmenschen so zu lieben. wie ihr eigenes Leben. Diese Einstellung ist in der "Goldenen Regel" des sozialen Verhaltens ausgedrückt. die besagt. einander Liebe zu schenken und das Böse zu meiden. Denn mitfühlende Liebe befriedigt unsere intensivsten Bedürfnisse und verLichtet in allen Lebenslagen auf die Anwendung von Gewalt und auf Verletzung der Seele und des Körpers. Wer um diese allgemeine und aktive Liebe ringt, erfüllt alle anderen moralischen Gebote und Gesetze (Röm 13.8-14). Konkret wird gefordert. die Lüge und Heuchelei zu meiden. in der Bedrängnis geduldig zu sein, sogar die Verfolger zu segnen, den Gegnern zu verLeihen, mit den Fröhlichen zu lachen und mit den Weinenden zu klagen (Röm 12.9-21). Wer erlittenes Böses mit dem Guten des Mitgefühls und des Respekts zu ver~ gelten vennag, erfüllt das Liebesgebot am intensivsten. Denn wir alle möchten von unserer Natur her das Gute empfangen und das Leidvolle venneiden. Doch wenn das Böse durch das Böse vergolten wird. dann wird es nicht reduziert und nicht aus der Welt geschafft. Die Rache des Bösen steht allein GOIt zu, Menschen müssen darauf generell verLichten. So wird es in der menschlichen Lebenswelt möglich. das Böse und Leidvolle durch das Gute und Liebevolle zu besiegen (Röm 12.21). Auch die staatliche Herrschaft des römischen Kaisers untersteht der göttlichen Lenkung, sie wird grundsätzlich relativiert und damit für die Unterdrückten erträglicher. Die physisch und sozial Stärkeren werden verpflichtet, sich der Schwächeren anzunehmen und ihr Leben mitzutragen. Die alten Unterscheidungen der Priester von "rein" und ,.unrein·' werden endgültig aufgehoben, denn von der Natur her ist für die Menschen alles rein. Als moralisch unrein aber gelten fortan böse Gedanken, Worte und Handlungen, sie stören das menschlichen Zusammenleben. Der bisherige Kult wird durch eine neue Lebensfonn ersetzt. die mit neuen Kleidern verglichen wird. Von der stoischen Ethik hat Paulus gelernt, dass alle Menschen von ihrer Natur her (und vor dem göttlichen Schöpfer) gleichwertig sind. Denn wenn jemand in der Schule der stoischen Weisheit oder des Gesalbten Jesus ist. dann gibt es keine RangunIerschiede mehr zwischen den Freien und den Unfreien, zwischen den Männern und den Frauen. zwischen den Griechen und den Nichtgriechen (Gal
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3,28).6 Damit trennen sich die hellenistischen Christen vom jüdischen RituaJgesetz, die Beschneidungder männlichen Penisvorhaut wird vcnvorfen. DerTodJesu am Kreuz wird zuerst als das Scheitern eines .,Gottesknechtes" gedeutet, später aber als Sühnopfer für die Sünden der Menschen. Doch sein schmachvoller Tod wurde in Auferstehung und ncues Leben verwandelt. Nun sind durch den Tod Jesu alle Menschen, Griechen und Juden, von der alten
Last der Sünde. des Bösen und des jüdischen Gesetzes befreit worden. Sie alle können nun .,Kinder"' des einen Weltgoues werden. sofern sie dem Lebenspro-
gramm Jesu folgen. Zuerst müssen sie ihre innere Gesinnung verändern, dann werden sich auch ihre Entscheidungen und Taten erneuern. Vor allem sollen die stoischen Tugenden angestrebt werden. die jetzt mit dem göttlichen SChöpfergeist in Verbindung gesetzt werden. Zu diesen ,.Werken" des göttlichen Geistes gehören die allgemeine Nächstenliebe. die Freude am Leben. die Erhaltung des Friedens. die tägliche Geduld im Ertragen von Leiden. Freundlichkeit und Güte zu allen Mitmenschen. die Treue zu sich selbst, Sanftmul und Selbstbeherrschung (Gal 5.22-25). Die aufrechte Vcrnunfl und ein starker Wille sollen die emotionalen Leidenschaften wie ein Wagenlenker lenken. Als böse gelten die stoischen Laster. sie werdenjelzt als ,.Werke des Fleisches" bezeichnet. Zu ihnen gehören alle unerlaubten sexuellen Beziehungen, ein unsittliches Verhalten. die Maßlosigkeit im Genuss, die Verehrung fremder Gölter, die magischen Riten. Feindschaft und Streit, Eifersucht und Jähzorn. egoisti· sches Handeln, Spaltungen in der Gemeinschaft, Neid und Missgunst gegenüber den Mitmenschen, Trinksucht und maßlose Essgelage. Solche Verhaltensweisen stören das menschlichen Zusammenleben. sie richten sich gegen das Gebot der allgemeinen Menschenliebe und damit gegen das .,Reich Gottes" (Gal 5.19-21). Jeder Mensch muss seinem inneren Gewissen (syneidesis) folgen. denn dieses ist ihm vom göttlichen Schöpfer ins Herz geschrieben worden. 7 Folglich können wir auf intuitive Weise und von unserer Natur her erkennen. was für uns moralisch gut und was böse ist. Jeder muss selbständig erlernen, den göttlichen Willen für sein Leben zu erkennen. Die Sklaven sollen innerlich frei werden, denn eine Beendigung der Sklaverei ist nicht in Sicht. In der Ehe sollen beide Partner einander lieben, die Frauen bleiben den Männem unter geordnet. Der römische Staat entspricht der göttlichen Ordnung. cr muss die Menschen zum Tun des Guten anleiten und braucht dazu auch den Zwang. Durch das aJlgemeine Liebesgebot werden alle moralischen Regeln zusammen gefasst. dieses bildel fonan den Kern der christlichen Ethik. 8 Durch die stoische und neupythagoräische Philosophie, aber auch durch die entstehende Gnosis kommen asketische Züge in die frühchristliche Ethik. Denn die Stoiker waren überLcugt, dass der asketische Mensch in der geistigen Schau Stoicorum vclcrum fragment3. Hg. von H. von Amim I. TUbingen 1964. Zit. bei C. Schneider. Kulturgeschichte. 579. 1 G. Thcissen. Religion. 103-110. '1. Rohls. Geschichte. 102-108. 6
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der Gottheit am nächsten komme. Und die Neupythagoräer sahen in der stofflichen Welt und im menschlichen Körper einen ,.Abfall" von der göttlichen Lichtwelt. Dieses Denkmodell haben auch platonische und später neuplatonische Schulen verbreitet. Die Gnostiker glaubten. dass diese ungerechte und leidvolle Welt nicht von einem guten Schöpfergotl erschaffen sein konnte. Sie sei vielmehr durch das Missgeschick eines göttlichen Handwerkers (demiourgos) entstanden. deswegen müssen die Menschen mit ihren Seelekräften zur göttlichen Lichtwelt aufsteigen. Dieses asketische Denken veränderte die frühe christliche Ethik in wesentlichen Teilbereichen.
Ethikmodelle der frühen Theologen und Kirchenväter Die frühen christlichen Theologen führten die Ethik der allgemeinen Nächstenliebe weiler und verbanden sie mit ihrer Kirchenordnung. Den Sündern wurde ein öffentliches Bußverfahren angeboten. durch das sie innerlich von bösen Gedanken und Taten umkehren sollten. Auch sollten sie den angerichteten Schaden wieder gutmachen. Viele Griechen und Römer schlossen sich deswegen den Christen an. weil sie dort eine hohe Moral der Mitmenschlichkeit verwirklicht sahen. Selbst kritische Philosophen wie Kelsos. Galelllls und Porphyrios staunten. wie eine Gemeinschaft mit so unvernünftigen Lehren eine so hohe Moral verwirklichen kann. Die christlichen Gemeinden halten in vielen größeren Städten die Fürsorge für Arme. für Kranke und Leidende organisiert. Vor allem dieses soziale Verhalten hatte in den ersten drei Jahrhunderten viele neue Christen angeworben. Doch dies veränderte sich unter den Kaisern Konstantin und Theodosius. denn jetzt wurden die christlichen Gemeinden privilegiert und ihre Religion wurde ab 380 n.Chr. zur einzigen erlaubten Religion im Reich installiert. Freilich flossen nun christliche Lebenswerte in die kaiserliche Gesetzgebung ein: Kinder durften nach ihrer Geburt nicht mehr ausgesetzt werden, auch behinderte Kinder mussten angenommen werden; die Kämpfe der Gladiatoren wurden untersagt; Frauen und Sklaven wurden im römischen Recht nicht länger als ,.Sachen" (res) bewertet. sie galten als den freien Männern gleichwertige Personen. Der Staat unterstützte die Hilfe für die Armen und Kranken. für die Obdachlosen und Fremden. Die kirchliche Bußordnung wurde gemildert und dem Bischof einer Stadt unterstelll. 9 Doch christliche Mönche wollten durch Askese. den zeitweiligen Verzicht auf Essen und Trinken. auf Schlaf und Sexualität, die bösen Dämonen besiegen. die sie überall in der Weh vermuteten. Neuplatonische Lehren unterstützen die asketische Lebensform, welche die empirische Weh stark abwertete. So formulierte der Bischof Ambrosius VOll Mai/a"d ein neuplatonisches Christentum, das die menschliche Seele im Körper gefangen sah und zum Streben nach der göttlichen Welt aufforderte. Wenn der Mensch seine moralischen Pflichten erfüllt. dann kommt er der göttlichen Welt nahe und bereitet die Heimkehr seiner Seele in die ~
R. L. Wilken. Die frühen ChriSlen. Wie die Römer sie sahen. Gral. 1989.82-95.
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himmlische Welt vor. Der Bezug zum Himmel ist weiterhin eine starke Motivation für die Ethik der Nächstenliebe. Derselbe Bischof nannte die vier platonischen Grundtugenden, die Weisheit. die Gerechtigkeit, die Tapferkeit und das Maßhalten zum ersten Mal "Kardinaltugenden" (virtutes cardinales). Sie gehen fortan als die vierfache Ausfonnung des allgemeinen Liebesgebots. Doch damit die Menschen diese Tugenden verwirklichen können, brauchen sie die göttlichen Gnadenkraft (gratia). Der englische Mönch Pelagius unterschied in seiner Schrift ..Über den freien Willen" zwischen dem Können und dem Wollen des Menschen. Die Verwirklichung des morali· sehen Könnens liege in unserer Hand. denn unser Wille sei grundsätzlich frei. Gott schenke durch seine Gnadenkrafl allein die Möglichkeit (possibilitas) zum guten Handeln. Die Sünde Adams habe sich auf die Menschen nicht vererbt. sie sei folglich keine Eigenschafl der menschlichen Natur. Jeder Mensch werde ohne Sünde geboren und könne auch ohne sie leben. Weil Adam uns ein schlechtes Beispiel gibt. entscheiden sich viele für die Sünde und das Böse. Doch durch die Taten der Liebe können viele Sünden zugedeckt werden. 10 Doch der afrikanische Bischof Aurelills Augu.{fjmlS lehnte diese Lehre strikt ab, denn als früherer Manichäer glaubte cr, dass die Kräfte des Guten und des Bösen in der Welt gleich stark seien. Als Neuplatoniker kam er später zur Überzeugung. dass die göttlichen Kräfle des Guten das moralisch Böse schon besiegt haben. Wenn also die Menschen Böses tun. dann fehlt ihnen das Wissen um das Gute. Doch die Ursünde Adams habe sich auf alle Menschen vererbt, deswegen hätten die Menschen auch keinen freien Willen mehr. Adams Sünde werde durch die sexuelle Fortpflanzung (concupiscentia) weiter gegeben, deswegen seien alle Menschen zur Sünde verdammt. Nur wenige Menschen werden vom göttlichen Schöpfer zum Heil erwählt. die anderen fallen dem ewigen Verderben anheim (massa perditionis). Doch der Weltgott sei in seinen Entscheidungen völlig frei. kein Mensch könne ihm dafür Vorwürfe machen. Wenn aber in einem Menschen der Wille zum moralisch Guten erwacht, dann geschieht das durch die göuliche Gnadenkraft. Immer streben wir nach Liebe. entweder unser selbst (amor sui) oder zur Liebe Gottes (amor Dei). Wenn wir Gott lieben. dann werden wir auch zur Nächstenliebe fahig. Unsere Mitgeschöpfe sollen wir nicht genießen (fmi). sondern nur gebrauchen (uti). Jeder Mensch strebt nach Glückseligkeit, sie wird allein durch die Gottesliebe erreicht. Menschen. die sich selbst lieben. bilden den "Staat des Teufels" (civitas diaboli). nur Menschen. die Gott lieben. bilden den "Gottesstaat" (civitas Dei). In der menschlichen Geschichte sind diese beiden Bürgerschaften mit einander verbunden, erst im göttlichen Gericht werden sie getrennt. Ein irrationaler Wille der Gottheit leitet die Weltgeschichte. wir Menschen können ihn nicht erkennen. 11 B. AltanerlA. Sluilx:r, Patrologie. Lelx:n, Schriften und Lehren der Kirchenväter. Freiburg 2000.461-466. 11 J. Rohls. Geschichte, 156-158; B. Altanerl A. Stuibcr. a.3.0. 420-430. A. Schöpf. Auguslinus. In: O. Höffe (Hg.). Klassiker der Philosophie t. München 1984. 154--176. 10
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Damit hat sich Augustinus vom stoischen Naturrecht abgewendet und ist einem göttlichen Positivismus des Rechts und der Moral gefolgt. Der unvernünftige göttliche Wille setzt jedes Naturgesetz außer Kraft. Die Sünde lässt die Menschen um sich selbst kreisen. sie führt zur Verweigerung der Gottes- und der Nächstenliebe. Vor allem durch ein asketisches Leben sei es möglich. die Sünde der Ichsucht zu überwinden. Der Christ soll nicht die Schöpfung, sondern nur den göttlichen Schöpfer lieben. Der irdische Staat wird von beiden moralischen Gruppen gestaltet. seine Aufgabe besteht darin, für alle das Überleben zu sichern und den Frieden mit Gewalt zu bewahren. Der afrikanische Bischofwertete den antiken Staat auch nach seiner (gewaltsamen) Christianisierung als "Teufelsstaat". weil darin das Natürliche und Geschaffene vergötllicht wird. Viele Staaten gebärden sich wie Räuberbanden (magna latrocinia). die über andere Gemeinwesen herfallen. Der christliche Staat bestehe aus guten und bösen Menschen. doch zur moralischen Vervollkommnung und zur Glückseligkeit des Einzelnen könne er wenig beitragen. Die Aufgabe der entstehenden Reichskirche liege in der moralischen Erziehung der Menschen. Der Staat hat profane Aufgaben, er muss die Kirche bei der Verfolgung der Ketzer und Häretiker mit eiserner Hand unterstützen. Wer nicht freiwillig in die Bischofskirche eintritt. muss dazu gezwungen werden (compellite intrare). Damit wurde dieser Bischof zum Vordenker der autoritären Reichskirche und der kirchlichen Inquisition. 12 Den Staat sah Augustinus als eine Strafe und ein Heilmittel (remedium) für die Menschen in der Erbsünde. Das Ziel der Geschichte sei ein göttliches Reich des Friedens, dieses liege aber jenseits der irdischen Welt und Zeit. Die von Gott zum Heil Erwählten können nicht mehr sündigen. sie haben die wahre Freiheit zum Guten gewonnen und folgen einem Gesamtwillen, der dem göttlichen Willen entspricht. Der siebente Tag der göttlichen Schöpfung werden wir Menschen selber sein. dann leben die Erwählten in voller Gottesliebe. Die Kirche hat die Macht, die Menschen zum wahren Glauben zu zwingen und zum moralisch Guten zu verpflichten. Zu den vier philosophischen Tugenden kommen die drei Tugenden des Glaubens hinzu. nämlich der Glaube. die Hoffnung und die Liebe. Dieser Denker ist von den moralischen Lehren der frühen Kirche bereits weit abgewichen und hat die europäische Kultur zum Teil sehr nachhaltig und negativ geprägt. Es rallt den Kirchen bis heute nicht leicht. sich von seinen Denkmodellen zu verabschieden.
Morallehren im Mittelalter Alle christlichen Neuplatoniker entwerteten das reale und körperliche Leben und damit auch das moralische Handeln zugunsten von Riten und asketischen
11 B. AltanerlA. Stuibcr. Patrologie. 435-445. J. Rohls. Geschichte. 160--163. A. Schöpf. Augustinus. 160--170. P. Mikat. An. tnquisition. In: Lexikon f1lr Theologie und Kirche. Frciburg 11960. Bd. V.698-702.
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Lebensfonnen. Erst Petrus Abaelard erinnerte im frühen Mittelalter wieder an die Bedeutung des subjektiven Gewissens jedes Einzelnen für die moralische Beurteilung einer Handlung. Die wahre Buße für Fehler und Sünden bestehe in der moralischen Erneuerung. zu der jeder Mensch fahig sei. Denn in der Person Jesu habe der SChöpfergott den Menschen seine Liebeskraft geoffenbart. die uns dann zur allgemeinen Nächstenliebe bef
R. Heinl.mann. Thomas von Aquin. In: O. HÖffe. Klassiker, 198-200.
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tell der jüdischen Bibel überein. deswegen kommt ihnen Universalität zu. Weil auch der göttliche Wille vernünftig ist, hat auch das Gesetz der Natur an diesem ewigen und unwandelbaren Willen Anteil. Wenn Gott in AusnahmefalIen den Menschen etwas gegen das Gesetz der Natur befiehlt. etwa dem Abraham das Töten seines Sohnes, dann sei das nur auf bestimmte Situationen bezogen und nicht generalisierbar. Die Intentionen der allgemeinen synderesis können sich grundsätzlich nicht irren. denn sie sind auf das moralisch Gute gerichtet. Nur die Einsichten der conscientia können sich in einzelnen Fällen der Entscheidung irren. Deswegen ist jeder Mensch verpflichtet. seinem Gewissen zu folgen. das er allerdings nach den Maßstäben des göttlichen Gesetzes und des Naturgesetzes bilden muss. Dem Gewissen ist zu folgen, auch wenn dieses schuldlos irrt. Dies kann bei Ketzern und lrrlehrern der Fall sein, die dann vom eisernen Arm des Staates bestraft werden müssen. Ketzer müssen getötet werden. auch wenn sie ihrem Gewissen folgen, weil der Irrtum kein Lebensrecht im Staat und in der Reichskirche haben kann. Damit verteidigt auch Thomas die Gesetze der kirchlichen Inquisition. 14 Das menschliche Handeln ist auf einen vernünftigen Endzweck des Lebens ausgerichtet. dieser besteht in der Erlangung der höchsten Glückseligkeit bzw. Eudaimonie. Sie wird durch die Verwirklichung des moralisch Guten erreicht. Oie ethischen und die dianoetischen Tugenden schaffen für uns die hinreichenden Voraussetzungen für das Erleben von Glück. Das höchste Gut des Geistes bestehe in der theoretischen Erkenntnis und Schau der höchsten Gottheit. Das höchste praktische Gut aber werde in der politischen Tätigkeit für die Gemeinschaft und den Staat erreicht. Die selige Schau der Gottheit ist ein natürliches Ziel jedes Menschen. doch sie kann nur durch die übernatürlichen Mittel der göttlichen Gnadenkraft erlangt werden. Das Verlangen nach der Schau der göttlichen Welt gehört zu den natürlichen Fähigkeiten jedes Menschen. Die göttliche Gnadenkraft setzt in ihrer Wirksamkeit immer die menschliche Natur voraus (gratia praesupponit naturam), diese muss sich in allen Bereichen frei entfalten können. Dann wird sie von der göttlichen Liebeskraft überhöht und vervollkommnet. Damit behält die Natur einen hohen Wert. kein moralisches Gesetz darf gegen sie verstoßen. Das letzte Ziel aller unserer Handlungen ist das Erreichen des Glücks. dieses setzt immer einen Akt der Erkenntnis voraus. Ich muss zuerst das Gute als Gutes erkennen. bevor ich es verwirkJichen kann. Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist die Schau der Gottheit. sie ist immer mit dem Erleben des tiefen Glücks verbunden. Unser Wille muss sich auf ein Handlungsziel richten, von diesem hängt dann der Wert einer Entscheidung ab. Eine moralisch gute Handlung erfordert eine natürliche Disposition zum Guten. sie wird durch wiederholte gute Taten erlernt. Die Dispositionen zu guten Handlungen heißen moralische Tugenden (virtutes). I' J. Weisheipl. Thomas von Aquin. Leben und Werk. Graz 1989,67-75. R. Heinzmann. Thomas,210-220. ,) J. Weisheipl. 11lomas. 134-144. R. Heinzmann. Thomas, 215-220. I'
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Eine Tugend wird immer durch ein Vennögen des Verstandes, des Willens. des Begehrens, sowie der Willenskraft gefonnt Die vier Grundtugenden der Weisheit (sapientia), der Gerechtigkeit (justitia). der Mäßigung (temperantia) und der Tapferkeit (virtus) führen jeden Menschen zu einem guten und glücklichen Leben. Die Verstandestugenden bzw. dianoetischen Tugenden richten sich auf die Erkenntnisse des Guten. während sich die ethischen Tugenden auf die Verwirklichung dieser Erkenntnisse richten. Die Weisheit bezieht sich auf den Verstand, die Gerechtigkeit auf den Willen, die Mäßigung auf das Begehren und die Tapferkeit auf die Widerstandskraft. Aufgrund unserer Begabung mit der Vernunft sind wir Menschen .•Abbilder'" der Gottheit, deswegen streben wir immer nach der Schau unseres Urbildes. Die Sünde hingegen ist eine erworbene Disposition zur bösen Tat. sie zeigt sich in der fehlenden Gerechtigkeit und in der ungehinderten Begehrlichkeit. Doch auch der sündhafte Mensch verfügt noch über die Erkenntnis der obersten Grundsätze der praktischen Vernunft. er weiß um das Naturgesetz und sein Wille bleibt auf das höchste Gut gerichtet. Jeder Mensch erreicht sein übernatürliches Ziel nur durch die Wirkung der göttlichen Gnadenkrafl. die in der kirchlichen Gemeinschaft vennittell wird. Zu den vier natürlichen kommen noch die drei übernatürlichen Tugenden des Glaubens an GolI, die Hoffnung auf ewiges Leben und die Liebe zum göttlichen Schöpfer. Uns Menschen wird gönliche Liebeskraft eingegossen. damit werden wir zur natürlichen Gerechtigkeit fahig. Das aktive Leben der Laienchristen ist näher bei dieser empirischen Weh. das kontemplative Leben der Mönche und Nonnen ist schon näher bei der gÖlllichen Welt. 16 Thomas unterscheidet zwischen der ungeschaffenen Gnadenkraft der göttlichen Liebe und der geschaffenen Gnadenkraft der menschlichen Dispositionen zum Guten. Unser freier Wille bewegt sich auf das moralisch Gute hin. weil er von der göttlichen Gnadenkraft getragen wird. Nach der Lehre der franziskaner Alex(Uuler VOll Holes und BOllavelltllra disponiert sich der Mensch aus eigener Kraft für den Empfang der göttlichen Gnade. Die Buße des Sünders wird fortan stärker an das kirchliche Sakrament gebunden. Für Thomas ist der Staat in allem der Kirche untergeordnet. weil auch das Naturrecht immer dem göttlichen Recht folgen müsse. Der Staat verfolge die natürlichen Ziele des Menschen. die Kirche aber sei auf die übernatürlichen Ziele ausgerichtet. Sie bedient sich der Machtmittel des Staates. um ihre Lehren und Gesetze durchsetzen zu können. Bei der Inquisition gegen Ketzer und Hex.en arbeiten der Staat und die Kirche eng zusammen. Der Staat führt die Strafen. zumeist die Todesstrafe. aus. welche die kirchlichen Gerichte verhängen. Die beste Staatsform sei die Monarchie, in der ein König von den Adeligen frei gewählt wird. Dieser muss dann die vernünftigen Gesetze durchsetzen und für das Wohl der Bürger sorgen. Sowohl der Staat als auch die Kirche sind hierarchisch geordnet. der Papst gilt als der oberste Herrscher der ganzen Welt. Er steht 16
J. Rohls. Geschichfe. 208~2 10.
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über allen Fürsten und Königen. weil er als Stellvertreter Christi die geistlichen Lebensziele der Menschen verwaltet. Diese Position wurde von lean Quidorr strikt abgelehnt. für ihn bedarf der Staat keiner kirchlichen Legitimation. Folglich müssen der Staat und die Kirche klar getrennt werden. Ursprünglich lag alle Gewalt beim Volk. dieses habe sie dem Fürsten nur geliehen und könne sie jederzeit zurück fordern. Auch der Papst habe seine geistliche Gewalt nur vom christlichen Volk. auch er könne bei Amtsmissbrauch von einem Konzil der Bischöfe jederzeit abgesetzt werden. '7
Moralprinzipien in der kirchlichen Reformation Der englische Theologe loh" ~'clifkritisielledie uneingeschränkte Herrschaft des römischen Papstes. denn allein Christus sei das Haupt der Kirche. Die moralischen Ziel werte werden durch die Nachfolge Christi vorgegeben, gemäß dem Gesetz Christi besitzen die zum Heil Erwählten alle Güter dieser Welt gemeinsam. Auch die Lollarden und die Hussiten glaubten zu dieser Zeit an eine theokratische Sozialordnung. die sich in einem Liebeskommunismus der Christen zeigt. Denn alle Christen seien durch die göttliche Erwählung frei und gleichwertig, die sozialen Unterschiede in der Besilzverteilung müssen überwunden werden. Der deutsche Mystiker Meister Eckhart sah jeden Menschen in einem unmittelbaren Verhältnis zur höchsten GOllheit, dessen Wesen er als Güte und als Gerechtigkeit erkennt. Jeder Mensch sei in die ewige Gottheit hinein genommen, in jedem sei ein göttlicher ..Seelengrund" und ..Seelenfunke" . Dieser Funke sei identisch mit der synderesis. der Erkenntnis des moralisch Guten und Bösen. In der mystischen Erfahrung werde jeder Mensch zu einem Sohn oder zu einer Tochter Gottes. es finde eine ..Gouesgeburt" in der menschlichen Seele statt. Die Sünde bestehe nun darin. dass die menschliche Seele ihren göttlichen Seclengrund vergisst und sich nur auf die geschaffene Welt bezieht. Doch in der Erfahrung der göttlichen Gnadenkraft vereinige sich der Mensch mit der höchsten Gottheit. Mystiker üben sich, auf den eigenen Willen zu verzichten und sich ganz der Gottheit hinzugeben. Der Refonnalor Marrin Ll.lther kämpfte mit seinen Anhängern zunächst gegen die kirchliche Bußpraxis und den Handel mit dem Ablass der Sündenstrafen. In seiner Theologie orientierte er sich wieder an Paulus und an Augustinus. Für ihn ist jeder Mensch von seinerGeburt an durch die Erbsünde ,.durch und durch böse" und zu keinen moralisch guten Taten fahig. Erst durch den Glauben an Gott und die göttliche ..Rechtfertigung" wird er von der teuflischen Macht des Bösen befreit und kann Gutes tun. Doch die Rechtfertigung des Sünders erfolge nicht durch gute Taten der Nächstenliebe, sondern allein durch den bedingungslosen Glauben an Gott und an seinen Gesalbten Jesus(sola fidel. Erst die göttliche Gnadeennögliche es, dass wir Menschen von der Sünde umkehren und den Weg der Liebe gehen 11
R. Heinzmann, Thomas. 205-215.
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können. Wir Menschen haben keinen freien Willen. denn entweder werden wir von Gott, oder vom Teufel gelenkt. 18 Nur GOlt als der absolute Herrscher der Weh hat einen freien Willen, wir Menschen sind völlig von ihm abhängig und müssen vor ihm zinern. Das jüdische Geselz, das in der Bibel überliefert wird. offenbart uns den göttlichen Willen und überführt uns unserer Sündhaftigkeil. Auch das Naturgesetz. das allen Menschen in das Herz geschrieben ist zeigt uns den göttlichen Willen. Erst wenn wir von der Macht der Sünde befreit sind, werden wir zu Talen der Nächstenliebe und der Versöhnung fahig. Das göttliche Gesetz wird von zwei Regimcnlcrn verwahet und durchgesetzt, nämlich vom Staat und der Kirche. Die Christen schulden beiden Inslitutionen den Gehorsam, die Untertanen dürfen sich niemals gegen ihre Obrigkeiten erheben. Durch die beginnende Reformation geht nun das K irchenregimenl von den Bischöfen zu den Landesfürsten über. Die Standesunterschiede zwischen den Klerikem und den Laien werden aufgehoben, die christliche Liebe muss sich in den weltlichen Ordnungen bewähren. Das moralische Handeln wird grundsätzlich dem Glauben an die göttliche Rechtfertigung untergeordnet. Die guten Taten der Menschen bewirken niemals die Rechtfertigung vor GOlt. sie sind immer erst eine Folgc dcr Rcchtfcrtigung. Damit wird das menschliche Handeln in seiner Eigenständigkeit entwertet. Der Refonnator Melancluhon war stärker als Lutherdem humanistischen Denken verpflichtet, folglich übemahm er Elemente der aristotelischen Ethik in seine Lehrc. Für ihn setzt die moralische Verantwortlichkeit für eine Handlung immer den freien Willen voraus. Der Bekehrungsakt des Sünders erfolgc durch das göttliche Wort. den göttlichen Geist und den freien Willen des Menschen. Die 10 Gebote des Allen Testaments sind mit dem Naturrecht identisch, dasGotljedem Menschen in das Herz geschrieben hat. 19 Nun ergibt sich der Inhalt der christlichen Ethik zum einen aus dem Naturgesetz, zum andem aus den Lehren der Evangelien. Zur Einhaltung des göttlichen Liebesgebolessind im Vollsinn nurdie vor Gott gerechtfertigten Christen befahigt. Der Landesfürst sei der Hüter des göttlichen Gesetzes, das GOlt den Menschen auf zwei Tafeln des Moses geoffenbart hat. Die erste Tafel regelt die Ausübung der rechten Religion, die zweite Tafel ordnet das menschliche Zusammenleben. Lange Zeit wird in der Refom13tion über das rechte Verhältnis von religiösem Glauben und den sittlichen Werken diskutiert. Die guten Werke der Nächstenliebe und der Friedensstiftung werden als Folge der Versöhnung mit dem strengen Valergott angesehen. Die Züricher Refonnatoren um Huldrych Zwi1lgli unterschieden zwischen einer göttlichen und einer bürgerlichen Rechtsordnung. Die zweite muss sich der ersten unterstellen. folglich werden die Gesetze der Stadt aus der Liebesordnung J. Rohls. Geschichte. 250-256. eh. Frcy (Hg.). Die Ethik des Proteslantismus von der Reformillion bis zur Gegenwart. GUtersloh 1989. 34-40. 10 St. pfunner(Hg.). Ethik in der europäischen Geschichle I. Düsseldorf 1998. 134--145.1. Rohls. Geschichte. 258-262. 11
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der Evangelien abgeleitet. Der Rat der Stadt soll nun das gesellschaftliche Leben nach den christlichen Gesetzen ordnen, denn schon in dieser Welt soll das Reich Christi verwirklicht werden. Eine andere Position nehmen der Reformatoren der Stadt Genf um Jean Calvin ein, sie trennen in formaler Weise die bürgerliche und die kirchliche Rechtsordnung. Ihre Stadt soll zu einem "neuen Jerusalem" des neuen Gottesvolkes der Christen werden. Daher muss sich das ganze Volk den christlichen Moralnonnen unterwerfen. Die Kirche versteht sich jetzt als eine Gemeinschaft der "Heiligen". Die strenge Kirchenzucht dient der Ehre Gottes und der Reinhaltung der christlichen Gemeinschaft. 20 Die beste Verfassung einer Stadt enthält sowohl aristokrarische, als auch demokratische Strukturen. den Ständen wird ein Widerstandsrecht gegen einen tyrannischen Herrscher eingeräumt. Auch Jean Calvin folgte der Prädestinationslehre des Augustinus. nach der jeder Mensch von Gott entweder zum Heil oder zum Verderben bestimmt wird. Wenn ein Mensch durch die göttliche Gnade gute Werke der Nächstenliebe und der Versöhnung tun kann, dann sind diese Zeichen für seine Erwählung zum ewigen Heil. Ebenso ist der wirtschaftliche Erfolg ein solches Zeichen. doch jeder Bürger müsse sich um seine Heiligung auch selbst bemühen. Die radikalen Reformatoren und Täufergruppen versuchten eine gc· wahsame Errichtung eines ..Gottesstaates" nach christlichen Moralregeln. Denn der Spiritualismus und die Verinnerlichung der christlichen Gebote schlug sehr schnell in eine gewaltsame Revolution um, die von den Landesfürsten mit Gewalt nieder geschlagen wurde. An die Stelle des bisherigen kanonischen Rechts treten nun die verschjedenen Kirchenordnungen, auch hier müssen die Untertanen einer strengen Kirchendis· ziplin folgen. Die Spiritualisten kritisierten die gerichtliche Freisprechung des Menschen von der Erbsünde durch Gott. sie betonten die innere Umformung des Menschen durch die göuliche Gnade. Die Gläubigen müssen den "alten Adam" der Sünde töten und ihr egozentrisches Verhalten aufgeben. Mystiker wie Jakob Böhme glaubten nicht an eine allgemeine Vorherbestimmung der Menschen durch Gott. denn jeder Mensch könne den Christus in sich finden, wenn er wolle. Die nachfolgenden Theologen betonten stärker das moral ische Leben der Christen und ihre Wiedergeburt zu einer neuen Lebensform der Nächstenliebe. Einige entwickelten sogar Utopien von einem idealen christlichen Staat (ChrislianopolisV' In der Folgezeit wurde die philosophische Ethik des Aristoteles wieder aufge· wertet, sie erschien mit den christlichen Lebenswerten verträglich. Georg Calixt lehrte sogar ein Zusammenwirken zwischen den göttlichen und den menschlichen Kräften bei der Rechtfertigung des Sünders. Der Mensch müsse alles tun. was in seiner Fähigkeit liegt. um ein moralisches Leben zu führen. In den Niederlanden verband sich der calvinische Glaube stärker als anderswo mit den humanistischen Lehren des Erasmus und mit der neuen Frömmigkeil (devotio modema). Hier
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eh. Frcy. Ethik. 46-54. 1. Rohls. GeschichlC. 264-270. SI. Prunncr. Ethik. I. 140-156. J. Rohls. Geschiclue. 286-296.
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entwickelten die Reformatoren demokratische Elemente und übertrugen sie auch auf den Staat. Sie wurden zu den Vordenkem der konstitutionellen Monarchie. Einige Theologen (z.B. Ju!>'tus Lipsius, Lmllberws Danaells) knüpften ihre Lehren wieder stärker an die stoische Ethik. Danach soll jeder Mensch mit den Kräften seiner Vernunft die ungeordneten Gefühle und Affekte lenken. denn die Sünde wirke vor allem im Gefühl der Selbstsucht. Die zehn Gebote seien die Konkrclisierung des ewigen Naturgesetzes. das Gott allen Menschen gegeben hat. Jeder Herrscher im Staat ist an dieses Gesetz gebunden. folglich kann es keinen völlig souveränen Herrscher geben. Jede menschliche Herrschaft ist im Bezug auf das ewige Naturgesetz und das götti iche Gesetz relativ, vorläufig und veränderbar. Hier trafen sich calvinische Theologen mit den Lehren der Reformkatholiken. Dirk Coornheert nahm eine ständige Kooperation zwischen der göttlichen Gnade und der menschlichen Willensentscheidung an. Der menschliche Wille muss frei sein, damit unsere Handlungen und Entscheidungen moralisch relevant werden können. Eine unbedingte Prädestinantion zum Guten oder zum Bösen wird aufgegeben. 22 Mit dem Ende des 30-jährigen Krieges. der auch ein Konfessionskrieg war, wur· de die Vielfalt der christlichen Bekenntnisse im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation festgeschrieben. Einzelne reformierte Theologen (z. B. Bartholomiius Keckermann) trennten die christliche Ethik immer mehr von der Glaubenslehre ab und orientierten sich an philosophischen Lehren. Ethik gilt als die Methode, um den menschlichen Willen und das Begehrungsvermögen zu lenken, damit diese das moralisch Gute anstreben und verwirklichen können. Ethik bezieht sich auf das bürgerliche Leben, die Familie. den Hausstand. die Politik und die Gesellschaft Sie regelt das Zusammenleben der Menschen im Staat durch Gesetze, an denen sich das Gewissen der Bürger orientieren muss. Das an den Gesetzen geschulte Gewissen sagt uns, was böse ist und wie wir das Gute erreichen können. Die Reformation in England. in Schottland und später in Amerika hat ähnliche moralische Ziel werte verfolgt Der englische Monarch wurde zum Oberhaupt der anglikanischen Nationalkirche und erhielt die oberste Jurisdiktion. Die Theologen lohn lewel und Richard Hooker versuchten. die anglikanische Verfassung aus den 10 Geboten der Bibel und dem ewigen Naturrecht herzuleiten. Hingegen selzten sich calvinische Puritaner für die Trennung zwischen der Nationalkirche und dem Staat ein. Nun standen sich fortan an der Bibel orientierte Theologen und am Naturrecht ausgerichtete Denker fast unversöhnlich gegenüber. Puritaner strebten nach einem frommen und moralischen Lebensideal, ihr Ziel war der durch die Kirchenzucht geformte Heilige, der den Kampf gegen eine böse und lasterhafte Welt bestehen kann. Jeder Mensch soll zur Ehre Gottes leben und zum Wohl des Staates beitragenY
n E. Trocllsch, Die SozialJehrcn der christlichen Kirchen und Gruppen. In: Gesammelte Schriften I. Tübingen 1923. J. Rohls. Geschichte. 300-318. lJ eh. Frcy. Ethik. 78-88. J. Rohls. Geschichte. 314-320.
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Der Puritaner Oliver Cromwell führte ein Kriegsheer von ..Heiligen" an. das eine neue und gerechte Gesellschaft schaffen wollte. Die Digger wollten die Monarchie beenden und eine Republik errichten, um die volle wirtschaftliche und soziale Gleichheit im Staat zu erreichen und das Privateigentum zu beenden. Die Le\'e/ler waren in ihren Zielen nicht so radikal, sie forderten nur das gleiche Wahlrecht flir alle männlichen Bürger. Das Privateigentum solle beibehalten werden. weil es jedem Menschen von Gott geschenkt wird und zur Selbstentfaltung nötig ist. lohn Mi/ton sah im puritanischen England das erwählte Gottesvolk. das den König hingerichtet hat, um die Souveränität des Volkes zu retten. Die neu gewonnene Freiheit müsse zur fortschreitenden Verchristlichung der Welt führen. Das neue Gemeinwesen garantiert das Recht auf Selbstbestimmung. auf Eigentum und auf Freiheit des Gewissens und der Rede. Doch das Recht auf Selbstbestimmung bleibt immer auf das Gemeinwohl be· zogen, der Staat muss helfen. die egozentrischen Interessen der Bürger zu überwinden. Das republikanische England versteht sich als das ,.wieder gewonnene Paradies" (Paradise regaincd) auf Erden und als ..neuer Bund" (New Covenant), den GOIt mit der gefallenen Menschheit geschlossen hat. Wi//ia11/ Perki"s hat einen Gewisscnsspicgel formuliert. der das Verhalten der neuen und reinen Christen formen soll. Die Sünde gilt als ein Mangel in der Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz. Die Gnade erlangt der Mensch durch demütigen Gehorsam vor Gou, durch die Buße und die Umkehr von der Sünde. Die gelebte Tugend führt den Gläubigen zur höchsten Gottheit, zum Ziel jedes Lebens. lot Mit der Wiedererrichtung der englischen StaalSkirche mussten ihre puritani· sehen Kritiker aus England flüchten. Sie sammelten sich in Holland (Leyden) und zogen von dort als ,.Pilgerväter" (pilgrims) nach ordamerika. das zu dieser Zeit neu besiedelt wurde. Ihre erste Kolonie in Virginia gründeten sie zur "höheren Ehre Gottes". Mit einem religiösen Sendungsbewusstsein wollten sie ein neues Gemeinwesen aufbauen. das keine Monarchie und keine Staatskirche kennt. Die neue Gesellschaft sollte sich voll am göttlichen Gesetz orientieren. was im May-Flower-Compact seinen Ausdruck fand. Wenige Jahre später bekundeten die Siedler der Massachussets Bay Company. dass sie einen heiligen Vertrag mit Gott geschlossen hauen, um auf dem Boden Neu·Englands einen theokratischen Gottesstaat zu errichten. Sie wollten nicht der bösen Welt verfallen. sondern sich in allem dem göttlichen Gesetz unterordnen (lohn Willlhrop). Wie Israel aus Ägypten auszog. so sind sie aus Europa ausgezogen. um als Sendboten Goltes ein neues Land zu erobern und zu kultivieren. Die Wildnis der Natur wollten sie beherrschen. sie war das Material für ihre moralische Pfiichterftillung. Die Stadt Boston sollte als das "neue Jerusalem" in die ganze Welt hinein leuchten. Die Kirche war kongregationalistiseh organisiert und verstand sich als ..Gemein· schaft der Heiligen". Der Staat baut auf beiden Tafeln des göttlichen GesetzeS C.H. Ratsehow (Hg.). Ethik der Rcligionen. Tübingcn 1980. 124-135. J. Raids. Geschichtc. 320-325. l'
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auf. er bestraft die Gotteslästerung. die Häresie und die Störung der Sabbatruhe. Roger Wi/liams verließ die Theokratie in Massachussets und gründete auf Rhode Island ein neues Gemeinwesen (Holy Commonwealth) zur Ehre Goues. Von den Baptisten übernahm erdie Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung.lm neuen Gemeinwesen sollen die Kirche und der Staat getrennt werden. doch dieser behäh seine moralische Grundorienlierung an den Zielwerten der Religion. Diese Prinz.ipien sind im 18. Jh schrittweise in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika eingeflossen.2j
Entwicklungen der protestantischen Ethik Auch in Europa wurden die moralischen Prämissen der Refonnation weiler gc· dachl. Theologen sprachen von einem Bund der Gnade und einem Bund der guten
Werke. Seide werden von GOlt mit den Menschen geschlossen. Kein Mensch kann der göttlichen Gnade widerstehen. die Rechtfertigung des Sünders zeige sich in der moralischen Heiligung. Der Zweck der menschlichen Tugenden liege in der Ehre Goues und im Erreichen der zukünfligen Glückseligkeit (An tOll W(l/(leus). Die göttliche ErLiehung der ganzen Menschheit habe ihren Höhepunkt in der chrisllichen Moral gefunden (Moses Amyra/dus). Vor allem die Tugend der Frömmigkeit lenke die ungeordneten Gefühle und führe sie zur Erkenntnis der Gottheit. Der Hugenolte Pierre Boyle lehnte den Einfluss des Staates auf die Religion ab. denn diese sei Sache des Gewissens jedes Einzelnen. Folglich müssen im Staat alle Religionen toleriert werden. die Moral des guten Lebens muss von der Religion abgetrennt werden. Nach dem Sieg der anglikanischen Staatskirche wurden die Presbyterianer. die Kongregationalisten und die Baptisten als .,Nonkonformisten" ausgegrenzt und in den Untergrund gedrängt. Die Quäker traten nun das Erbe der Spiritualisten an. George Fox sah das wahre Christentum als unmittelbare göttliche Erleuchtung und als Erfahrung des Heiligen Geistes. Die wahre und innere Kirche brauche keine Institutionen. denn die Gläubigen leben im Geist der Nächstenliebe zusammen. Der innere Lehrer Christus rufe alle zur Gewaltlosigkeit auf, Gott will alle Menschen zum ewigen Heil führen. Folglich kann es keine Prädestination zum ewigen Verderben geben. Der Maßstab der moralischen Heiligung istdie,.Goldenc Regel". die den Bedürfnissen der Menschen am besten entspricht. Die Sklaverei muss sofort beendet werden. denn sie widerspricht der göttlichen Rechtsordnung. In Fragen des Gewissens und der Religion darf es keinen Zwang geben. 26 Diese Grundsätze der Freiheit des Gewissens und der Religion wurden im Staat der Quäker in Pennsylvania durch lVi/he/rn Penn verwirklicht. Erst die strikte Trennung von Religion und Staat ermögliche religiöse Toleranz. Das innere Licht
:s SI. pfijnner. Ethik. I. 128-134. J. Rohls. Geschichte. 320-327. ::. J. Derbolav: Abriss europäischer Ethik. München 1983. 178-189. J. Rohls. Geschichte. 348-352.
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des göttlichen Geistes zeige eine Nähe zum natürlichen Licht der menschlichen Vernunft. Diese Lehre wurde auch von den Platonikern in Cambridge (Ralph Cudworth und Henry More) weitergedacht. Wenn die Welt vom Schöpfergott teleologisch geordnet wurde, dann hat er auch alle moralischen Werte vorgefonnt und zusammen gefasst. Daraus ergibt sich die Einsicht, dass die Grundwerte des Christentums vernünftig sind und dass es folglich eine vernünftige Fonn der Re· ligion geben muss. In allen Menschen sei ein .,moralischer Sinn" (moral sense). der sie zur Erkenntnis des Guten und des Bösen anleitet (Mouhew Ti"dal, Thomas Chubb. Thomas Morgan).
Entwicklung im Diskurs der Moral Die refonnierte und lutherische Theologie in Deutschland diskutierten ebenfalls das Verhältnis von Glaubenslehre und christlicher Moral. Als Ziel der göttlichen Heilsordnung wird die moralische Erneuerung der Menschen gesehen. Dabei wird um eine spezifische Standesethik für den geistlichen. den politischen und den ökonomischen Stand gerungen. Spiritualistische Denker betonten die innere Wiedergeburt und Neuwcrdungdes Menschen. die zu einem verändertem Handeln führen. Andere näherten sich der stoischen Morallehre und betonten das vemünf· tige und naturgemäße Leben als Weg zur sittlichen Vollendung. Die Pietisten (z.B. Jakob Speiler) orientierten sich am biblischen Glauben und strebten nach der inneren Umwandlung des Gläubigen. Die Umkehr vom Bösen sei der Beginn der sittlichen Wandlung. die Frommen der Nächstenliebe bilden die Vorhut des Reiches Gottes. Die Hallenser und die Herrenhuter Pietisten orientierten sich am Bekehrungserlebnis und an der moralischen Formung der Glaubensgemeinschaft. Hier sind ihnen später die Methodisten (John Wesley) gefolgt, die eineoptimale Methode der geistlichen und moralischen Fonnung anstrebten. Die radikalen Pietisten wandlen sich früh von der orthodox.en Lehre der Rechtfertigung ab. sie sahen in der inneren Wiedergeburt das Werk der göttlichen Gnade. Zur inneren Wiedergeburt sind aber auch die Abweichler und Ketzer Hihig. folglich gehören auch sie zur wahren und unsichtbaren Kirche (GOlrjried Amole/). Die Lehre von der göttlichen Prädestination wird stark relativiert. aus dem göttlichen Heilsbeschluss folgt die Berufung zum sittlichen Leben. Die Rechtfertigung des Sünders setze den lebendigen Glauben mit der Absicht der guten Werke voraus. 21 Die Theologie der Aufklärung suchle eine Annäherung zwischen den theologischen Lehren und den Erkenntnissen der Vernunft. Die Lehre von der Erbsünde und der göttlichen Rechtfertigung wird nun offen kritisiert. die Ethik wird zunehmend von der Glaubenlehre abgetrennt. Manche wollten der Ethik sogar einen Vorrang vor der Dogmatik einräumen. Die Prädestinationslehre wurde von n E. HowaldlA. DempflA. Uu. Geschichtc der Ethik "001 Ahenum bis zum Beginn des 20. Jhts. München 1981, 134-145. J. Rohls. Geschichte. 370-379.
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vielen verabschiedet, denn ohne freien Willen könne es keine moralische Verant~ wortung geben. Vielmehr sei davon auszugehen. dass jeder Mensch aus eigener Kraft das moralisch Gute anstreben und verwirklichen kann. Freilich kann der religiöse Glaube dabei behilflich sein. Auch Nichtchristen können zu einer hohen moralischen Lebensform gelangen. Die alte Lehre von den Sündenstrafen warein pädagogisches Minel zur moralischen Besserung. Jede menschliche Seele kann aus eigener Kraft sowohl das Gute, als auch das Böse erkennen. Da sie eine lelzte Verantwortung trägt. müsse sie unsterblich sein. 28 Die Sünde soll deswegen gemieden werden. weil sie für den Menschen schlecht ist. Folglich ist es möglich,die Moral völlig von der Religion abzutrennen. Der wahre Kern jeder Rel igion liege in der Moral der Nächstenliebe und der Mitmenschlichkeit, der Barmherligkeit und des Friedens. Die Grundregeln der christlichen Moral seien durchwegs vernünftig, deswegen behalten sie in einer Kultur der Aufklärung ihre volle Gültigkeit. Auch Jmma"uel Kalll versuchte, die christlichen Glaubenslehren in moralische Zielvorgabcn zu Lransformieren. alle Inhalte der Religion müssen der Kritik der aufrechten Vernunft unterzogen werden. Die Moralphilosophie wird nun nicht mehr als Lehre von der menschlichen Glückseligkeit verstanden. sondern als Lehre von den menschlichen Pflichten und Geboten. Als Antwort auf die aufgekläne Theologie entstanden verschiedene religiöse Erweckungsbewegungen. welche die emotionale Dimension des Glaubens betonten. Sie verbanden die moralische Tugend mit der Frömmigkeit. Der Glaube an Jesus Christus sei optimal geeignet. die sittlichen Verwirrungen des Her.lens zu steuern und zur wahren Nächstenliebe zu gelangen. Die Denkereines ästhetischen Rationalismus (Jakob F. Fries. Will,eJm de Wefte) wollten zwischen einer rationalen Weherkennmis und der moraJischen Wertordnung vennitteln. Das ästhetische Gefühl des Schönen und des Erhabenen verbinde die Religion mit der Vernunft. Wir können die Welt nach GesiChtspunkten der Werte oder der Wahrheit betrachten, doch jeder Mensch habe denselben Wert und dieselbe Würde. 29 Die Inhalte der Religion gründen im persönlichen Glauben und im erlebten Gefühl. Die christliche Morallehre muss zunehmend auf das Zusammenleben der Menschen blicken. sie muss sich zu einer Sozialethik transfonnieren. Für Friedrich ScJrleiermacher besteht die Religion in der Anschauung des Unendlichen im Endlichen, die Moral aber handle vom Naturwerden der Vernunft in der menschlichen Geschichte. Moral bewähre sich als die Lehre von den angestrebten Gütern, von den Tugenden und Pflichten. Die Tugend bestehe in der Fähigkeit, das Ineinander von Natur und Vernunft zu erzeugen. Das Gute sei das Vernünftigsein in der Natur. das Böse bestehe in der Unvernunft der Natur und im Nichtnatursein der Vernunft. Die menschliche Geschichte lässt sich als ethischer Prozess der Vernunftwerdung der Natur begreifen. P. Pütz. Die dcUlsche AufKlärung. Darrnstadl 1987. 136-145. W. Röd. Die Philosophie der Neuzeit 11. München 1984.236--256. 19 Q. HÖffe. Immanuel Kant. In: Q. Höffe (Hg.): Klassiker der Philosophie 11. München 1986. 22-48. W. Röd. Weg. 281-290; J. Rohls. Geschichte. 450-455. :.t
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Ethiksysteme können sich an der Lust. der Glückseligkeit, der Tugend, der Pflicht und der Vollkommenheit orientieren. Die Familie und der Staat sind Orte der Versiulichung des Menschen, doch Kirche und Staat müssen von einander getrennt werden. Die Kirche unterstützt die moralischen Lernprozesse der Men· schen. der Staat kümmen sich um Wirtschaft und Verwaltung. Die christliche Morallehre muss eine philosophische Ethik ergänzen. beide sind nicht deckungs· gleich. Die Frömmigkeit bestehe im Geftihl der schlechthinnigen Abhängigkeit von etwas Unverfugbarem. Dieses Gefühl gibt eine hohe Motivation zum sittlichen Handeln und zur Verwirklichung der Nächstenliebe. Die Aneignung der göttlichen Gnadenkraft zeige sich in der Heiligung des Lebens. Das Reich Gottes werde durch sittlich handelnde Menschen schrittweise verwirklicht. JO Von einem theologischen Hintergrund her denkt Sören Kierkegaard. der zwi· sehen einer ästhetischen. einer ethischen und einer religiösen Lebensform unter· scheidet. Der Ästhet ist der Verführung des Genusses ausgeliefert. der ethisch Orientierte wählt sich selbst. Erst der religiöse Mensch bezieht sich auf das Unendliche und Ewige. auf die Gottheit. Durch diesen Bezug wird ihm die Rückkehr in das Zeitliche und Endliche erhlUbt. In der Menschwerdung Golles in Jesus Christus zeige sich der Bezug des Unendlichen zum Endlichen. Dieses Paradox des Glaubens sei mit den Kräften der Vernunft nicht lösbar. Wenn sich in der ethischen Existenz der Mensch selbst verwirklicht. dann wird dieses Selbst von Gott gesetzt. Der sündige Mensch lebt in der Angst und im inneren Zwiespalt. er wiederholt in seinem Leben die Ursünde Adams. Nur der religiöse Glaube rettet ihn aus der Lebensangst.J1 Ähnlich denken einige Erweckungstheologen (Friedrich Tholuk). rur sie ist das Bewusstsein der Sünde die Voraussetzung der inneren Umkehr und des moralischen Lebens. Jesus von Nazareth sei die beste Orientierungshilfe rur das sittliche Leben. die Kirche solle sich zu einer vollkommenen Gemeinschaft entwickeln. Philosophische Ethik sei auf die Vernunft bezogen. theologische Ethik orientiere sich am göttlichen Schöpfer. Das Reich Gottes lässt sich als sittliche Liebesgemeinschaft verstehen. in Jesus habe sich das ewige Sinengesetz auf vollkommene Weise offenbart (HallS Martensen). Der Staat und die Kirche müssen zusammen wirken. um die Menschen optimal zum siulichen Handeln anzuregen. 32 Für Albrecht Ritschl hat das Christentum als sittliche Religion die Verwirkli· chung des Reiches Gottes zum Endzweck. Das Ziel der Schöpfung bestehe darin. dass sich die Menschheit zu einer Liebesgemeinschaft entwickle. Im modemen Staat verbinde sich die bürgerliche Kulturarbeit mit den Zielwerten der christlichen Ethik. Die Rechtfertigung des Sünders sei die Voraussetzung für das sittliche Handeln. Für Martin Kähler ist das Wesen Gottes heilige Liebe. deswegen wird die Rechtfertigung mit der Erwählung zum Heil verbunden. Der religiöse Glaube muss sich immer mit dem sittlichen Handeln verbinden. ... Ch. Frey. Ethik. tC»-114. J. Rohls. Geschichte. 456--466. )I A. Pieper. Sörcn Kicrkegaard. In: O. Höffe (Hg.). Klassikerdcr Philosophie U. 153-168. n J. Rohls. Geschichte. 520-521. Ch. Frcy. Ethik. 134-144.
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Einige Theologen sahen am Beginn der Industrialisierung die soziale Frage und wolllen der Verelendung der Arbeiterschaft entgegen wirken. Für sie müssen Kirche und Staat eng zusammenarbeiten. um die Nöte der Arbeitenden zu verringern. ViClOr Huber schlug die Gründung christlicher Genossenschaften vor, RudoljTodr wolhe das Christentum mil dem Sozialismus verbinden. JederChrist müsse aufder Seite der Annen stehen. damil sei er unbewusst ein Sozialist Doch mehrheitlich verblieb die Theologie auf der Seile des Bürgenums stehen.
Protestantischer Ethikdiskurs im 20. Jahrhundert Neue Impulse flirdiechristliche Ethik kamen aus der pragmatischen Philosophie in Amerika. Bei allen kulturellen Ideen und Wertvorstellungen müssen wir zum einen immcr die EnlStehungskonlextc. zum andern aber die Folgewirkungen im praktischen Leben bedenken. Auch moralische Werte wachsen in einer Interpretmionsgellleinschafi und werden dort weitcrgegeben. Die chrislliche Elhik der Nächstcnlicbe entspricht genau den Forderungen der ..Goldenen Regel" des sozialen Verhaltens. Die kulturelle Evolution könnte uns zu mehr an Nächstenliebe befahigen. als bisher möglich war. In der freien Dernokmtie verwirklichen sich diechrisllichen Grundwerte am besten. Die Vertretereines ..sozialen Evangeliums" (z.B. ~v. Rallschenbllsc!r) kritisierten den reinen Kapilalismus in der Wirtschaft. weil er die Ärmeren und Schwächeren krass benachleiligt. Es gibt neben der persönlichen auch eine ..struklurelle Sünde". die in der Gesellschaft über lange Zeit festgeschrieben wird. Gesellschaftliche Strukluren müssen durch demokratische Politik so verändert werden. dass auch die Armen und Schwachen ein hohes Maß an Sicherheit haben. Ein kooperativer Sozialismus sei dem christlichen Liebesgcbot viel angemessener als der liberale Kapilalismus. der vor allem den Stärkeren nülzt Die gegenseilige Solidaritäl im Leben sei die Mitte der Botschaft Jesu. Die fortschreilende Demokratisierung der Gesellschaft verlange den Abschied von einem monarchischen Goltesbild. Jesus sei der Offenbarer des göttlichen Schöpfungswillens für alle Menschen. Die Verwirklichung des Evangeliums führe die Humanisierung der menschlichen Kultur weiter (Slrailer MalllrelVs. Henry King). Der demokratischc Slaal müsse bei der Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme auch auf chrisl1iche Moralprinzipien zurückgreifen. Der Einzelne könne sich nur verwirklichen. wenn er sich auf den Allgemeinwillen der Gemeinschaft beziehe.}} Die Marburger Neukantianer sahen den Ort der Religion vor allem bei der Verwirklichung humaner Lebensformen. Die Inhalle der Religion seien mil den Gehalten einer vernünftigen Moral weilgehend deckungsgleich. fasl alle mythischen Erzählungen lassen sich in moralische Werte transformieren. Der französische Lebensphilosoph Henri Bergson hatte zwischen einer geschlossenen und unbeweglichen Moral auf der einen und einer offenen und lemfahigen Moral auf A. Pieper (Hg.): GcschichlC der ncueren Ethik. 1-11. München 1992. 156-166. J. Rohls. Gcschichle.555--56I. )J
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der anderen Seite unterschieden. Diesen Gedanken griff der Jesuit Pierre TeiJhard de Chardin auf. er sah in der kulturellen Evolution des Geistes (Noogenese) auch eine ständige Weiterentwicklung der moralischen Werte. Viele protestantische Theologen schwankten fortan zwischen einer Ethik der Gesinnung und einer Moralordnung der persönlichen Verantwortlichkeit. Doch \Vilhelm Herrmann wehrte sich gegen dieAuAösung der Religion in eine moralische Wertelehre. er wollte diese in der Glaubenslehre verankern. Für ihn leistet die Religion einen wichtigen Beitrag zur Befreiung des inneren Menschen von den Zwängen der Natur und der Gesellschaft. Diese Befreiung sei an das innere Leben Jesu gebunden. daher befahige der christliche Glaube zur wahren Umkehr vom Bösen und gebe den Gläubigen die Kraft zum Guten. Diese unter werfen sich der Macht des Guten. die Jesus geoffenbart haI. Sie dienen Gott in der Ehe und Familie und leisten einen wichtigen Beitrag für die Gemeinschaft. Für Juli"s Kaftan war das Reich Gottes weitgehend identisch mit den Postulaten der praktischen Vernunft. Die Autorität Jesu sei eine Autoritiit des Willens. davon war Albert Schweit,er übcrl.cugt. Die Ethik Jesu gelte für eine Interimszcit bis zu seiner erwarteten Wiederkunft. eine vollsländige Sozialethik rur die Modeme lasse sich daraus nicht ableiten. Der Christ müsse sein Wollen mit dem Willen Goues in Einklang bringen. er lebe in einer mystischen Beziehung zu Christus und drücke in seinem Verhaltenden unbedingten Willen zum Leben aus. Wer am mystischen Leib Christi Anteil hat. lebt in einer globalen Verantwortung f"lirdie ganze Welt und Schöpfung. Die stärkste Motivation zum moralischen Leben komme aus der Erfahrung des göttlichen Schöpfergeistes. der ein Menschenleben mit den Kräften der Liebe zu erflillen vermag. Eine tragfahige Ethik brauche immer die metaphysische Grundlage des religiösen Glaubens.J.I Eine objektive Güterethik soll an die Stelle der rein formalen Pflichtethik Immanuel Kants gestellt werden. davon war Ernst Troeltsch überzeugt. Das höchste Gute im Sinne Platons könne mit der Idee vom Reich Gottes gleich gesetzt werden. Diese Idee meine eine jenseitige Größe. die in dieser Welt niemals voll verwirklicht werden könne. Damit relativiere sich der Monopolanspruch des christlichen Glaubens und seiner Ethik. Christen müssen folglich immer nach Kompromissen suchen zwischen ihren welttranszendenten Zielen und den realen Lebensproble· men. Die radikalen Forderungen Jesu seien ohne diesen Kompromiss gar nicht lebbar. Wenn sich der Gläubige auf den göttlichen Schöpfer bezieht. wird sein Streben universal gerichtet sein. Die christliche Ethik ist weltbejahend. sie will die Gesellschaft humaner gestalten, dabei helfen ihr stoische Lebenswerte. Karl Holl betonte. dass die Religion und die Sittlichkeit von ihrem Wesen her zusammen gehören. Wer sich vom göttlichen Schöpfer als Mensch und Kind angenommen weiß. wird zu einem Leben der Nächstenliebe und des Mitgeflihls fahig. Reilllrold Seeberg betonte den kirchlichen Bezug der christlichen Moral. 4
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erst in der Glaubensgemeinschaft können die Grundwerte des Zusammenleben verwirklicht werden.}j In der Zeit nach der russischen Revolution versuchten einige Theologen. einen Bezug zwischen Religion und sozialer Umwälzung zu sehen. Christoph Billmhardt glaubte. dass Gott eine globale Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft herstellen werde. die arbeitenden und unterdrückten Proletarier müssten mehr Rechte bekommen. Die Arbeit der Sozialdemokratie wird als Arbeit am Reich Gottes gedeutel, das Programm des wahren Humanismus führe die Menschen zu ihrem ursprünglichen Leben zurück (Hermallfl KIllter). Die Predigt Jesu vom Reich Gottes impliziere eine sozialistische Wirtschaflordnung. in der alle Menschen die gleichen Chancen zur Lebensverwirklichung bekommen. Im Prozess der Humanisierung der Kultur werde die Kirche schrittweise im Staat aufgehoben (Leonhard Ragaz). Erst durch die Verbindung von Christentum und Sozialismus werde die volle soziale Gerechtigkeit auf Erden möglich. Um auf die sozialen Nöte der Zeit zu antworten, wurde der Evangelisch-Soziale Kongress gegriindet. Reinhold Seeberg dachte an einen monarchistisch-christlichen Sozialismus. der nationale Züge tragen sollte. Der erste Weltkrieg wurde von vielen Theologen als Stiirkung der Nationen be· wertet, die BOrger müssten sich ohne Bedingung den Zielen des St~tates unterordnen. Die Demokratie. der Individualismus. der Kapitalismus und der religionslose Sozialismus wurden als negative Folgen der europäischen Aufklärung gedeutet. auch eine rationalistische und materialistische Weltdeutung wurden strikt abgelehnt. Friedrich Nallmwm nahm eine wohlwollende Haltung zur Sozialdemokratie ein, er wollte die Arbeiterschaft für den nationalen Staat gewinnen. Politik und Religion sollten strikt getrennt werden, auch wenn sie ähnliche moralische Ziele verfolgten. Doch Marti" Rade sah im ersten Weltkrieg den Zusammenbruch der gesamten christlichen Moral. J6 In der Weimarer Verfassung wurdeeine partielle Trennung von Kirche und Staat erreicht. Der Staat sollte in der Religion und Weltanschauung neutral sein. aber auf den christlichen Grundwerten aufbauen. Ernst Troeltsch sah den verlorenen Krieg als .. Kulturkrieg" gegen die westlich-amerikanischen Ideen der Aufklärung. Das ..deutsche Denken" sei wesentlich von der Religion geprägt. doch die Ideen vom Fortschritt. der allgemeinen Humanität und der sozialen Wohlfahrt seien Folgen der religionskritischen Aufklärung. Hier zeigen nicht wenige der deutschen Theologen und Philosophen. dass sie die moralischen Zielwerte der Aufklärung nicht akzeptieren konnten. Damit aber haben sie, vielleicht nicht absichtlich, sondern unbewusst der entstehenden nationalistischen Diktatur zugearbeitet. Auf dieser Linie vertrat Carl Schmitt eine Politische Theologie, an die Stelle des pluralistischen Parteienstaates sollte die ,.Führerdemokratie" treten. Statt der konkurrierenden Klassen sollte es fortan nur einen .,Volkswillen" und ,.Führerwillen" geben. Der Reichspräsident sollte der Hüter der Einheit des Volkes sein, ein n J. Rohls. Geschichte, 580-588. P. Allhnus: Grundzüge der Elhik. MUnchen t953. D. Bonhocffer: Elhik. München t956. Jl> J. Rohls, Geschichte. 590-595. A. Mclnlyre: A shon history of elhics. London 1%7, 34--44.
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Positivismus des Rechts sollte auf einer dezisionistischen Moral aufbauen. Der diktatorische Wille des Präsidenten hebe alle Interessenskonflikte im Volk auf. Die liberalen Elemente müssten aus der Politik entfernt werden, denn diese brauche die klare Angrenzung zwischen Feinden und Freunden. Der Liberalismus und die parlamentarische Demokratie seien der Ausdruck einer politischen Romantik. die nicht lebbar sei. Das monotheistische Gottesbild legitimiere die klareAbgrenzung zwischen dem Feind und dem Freund. l7 Die personale Gotteslehre entspreche der monarchischen Staatssouveränität. hingegen sei das unpersönliche Gottesbild die Basis für den liberalen Rechtsstaat und die Idee der Volkssouveränität. Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus zerstörten die organische Gesellschaft. In dieses Denkmuster tritt die Nationalsozialistische Partei ein. sie sieht im Parlamentarismus und im Bolschewismus die klaren Feindbilder. Der autoritäre Führerstaat hebt alle Klassenschranken auf und verbindet die Bürger zur Volksgemeinschaft. Das Recht ergibt sich allein aus dem. was dem Volk nützt. Diesen Nutzen erkennt allein der Führer, er setzt als neuer Souverän das Recht. Nicht wenige national-konservative Theologen neigten diesem autoritären und totalitärem Denkmodell zu. DcrTheologe Re;/Ihold Seeberg war überzeugt. der nationalsozialistische Staat verbindeden wahren Sozialismus mit dem nationalen Denken. Dem übertriebenen Individualismus der westlichen Kultur wollte er eine Absage erteilen. Für Emmamtel Hirsch gTÜndet die wahre RechlSgemeinschaft nicht auf den Prinzipien der Vernunft des aufgeklärten aturrechlS. sondern auf dem Nationalstaat als der Einheit des Volkes. Die nationale Führerdemokratie werde das Scheitern der autonomen Vernunft und der übertriebenen Freiheit zeigen. Christliche Liebe verwirkliche sich in der Schöpfungsordnung des ..Volkstums". überall gelten dieOrdnungen des Volkes und der Rasse (Paul Althaus). Im sog...Ansbacher Ratschlag" wollten lutherische Theologen das Christentum an die nationalen Ordnungen von Familie. Volk. Rasse und Blutzusammenhang binden. Hier fand das konservative Luthertum sehr schnell die Brücke zum autoritären Führerstaat. )3 Eine andere Position nahm der refonnierte Theologe Karl Barth mit seiner ..Dialektischen Theologie;' ein. Er sah den transzendenten GOIt völlig von der Welt getrennt. folglich sei auch keine Konvergenz zwischen dem Reich Goltes und der menschlichen Ethik zu erkennen. In Jesus Christus seien alle Menschen von Gou zum Heil erwählt worden. der göttliche Richter habe die Verworfenheit der sündigen Menschen auf sich genommen. Die Grundlage rur jedes menschliche Recht sei die göttliche Rechtsordnung. ein Naturgesetz sei nicht gegeben. Folglich sei die christliche Gemeinde dem bürgerlichen Staat übergeordnet. Mit dieser fundamentalistischen Position hat sich Karl Barth entschieden gegen den nationalsozialistischen Führerstaat ausgesprochen. C.A. Emge. Gcschichlc der Rec:hlSphikJsophjc. München 1967.44-56. K. Rode. Gcschichlc der europäischen Rec:hlSphilosophic. Frankfun 1974. 128-134. J. Rohls. Geschichte. 610-614. J. Dcrrida. Polilik der Freundschaft. Frankfun 2000. 210-240. Ja J. Rohls. Gcschichlc. 631-635. 0. Frey. Ethik. 234-244. I. Dcrrida. Po1ilik. 258-280. Jl
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Für viele protestantischen Theologen warderObrigkeitsstaat der Ausdruck des göttlichen Schöpferwillens. alle Menschen müssten sich dem Staat wie dem WOll Gottes unterordnen (Friedriclt Gogarren). Andere brachten sozialistische Ideen in den Diskurs um die christliche Ethik ein. So verlangt für Pall/ 7illich die christliche Ethik der ächstenliebe auch eine sozialistische Ordnung der Gesellschaft. Er ist überzeugt. dass politische Romantik und nationales Denken die Grundwerte des Evangeliums verfehlen und zerstören. Für Hans Dietrich Wendland orientiert sich die christliche Ethik an einem Humanismus des Glaubens. Und Jürgen Moltmann
hai nach dem zweiten Weltkrieg sogar neomarxistische Ideen und Wertungen in den Diskurs um die theologische Ethik eingebracht. Die christliche Gemeinde müsse sich aktiv an der Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaft beteiligen. Eine neue politische Theologie solle zur besseren Verwirklichung von Freiheit. von Gerechtigkeit und von Frieden beitragen. In diese Richtung dachte später vor allcm dic lateinamerikanische "Befreiungstheologie" (Guravo Gu;t;errez). In dcr zweiten Hälfte dcs 20. Jh. wurdcn die Fehlleistungen dcr nationalen Theologie selbstkritisch aufgearbeitet. die meisten Theologen öffneten sich den Grundwerten der europäischen Aufklärung und der westlichen Demokratie. Woljg(lIJg TriIJhaas sah das Christcntum in sein ethischcs Zcitaher eingetreten. seither gehe es nicht mehr um dogmatische Streitigkeiten. sondern um eine globale Verwirklichung der Ethik der ächstenliebe. Nicht das Göttliche. sondern das Menschliche sei das Grundthema der theologischen Sozialethik. Trutz Rendtorff hat darauf hingewiesen. dass sich viele christliche Werte in den sozialen Einrich· tungen der westlichen Demokratien verwirklicht haben. Die Kirchen seien daran beteiligt. an der Gestaltung einer humanen Lebenswelt flir alle mitzuwirken. Die bisherige theologische Diskussion werde fortan durch eine realisierbare Ethik der Humanität überhöht. Für Woljlzart Pannenberg ist die Kirche eine mögliche Kontrastgesellschaft zur realen Lebenswelt. in der die christlichen Grundwerte offen gehalten werden. J9 Eine Ethik der globalen Verantwortung hat Hans JOlIlJSentworfen. denn er sieht in den Möglichkeiten der modemen Technik viele Bedrohungen des menschlichen Lebens. Es gehe heute um die Bewahrung der Schöpfung und der Umwelt. nicht um ihre Beherrschung oder gar Zerstörung. Nicht alles. was technisch machbar ist. diene dem Leben und der Humantität für alle. Jedes technische und politische Handeln stehe in einer mehrfachen Verantwortlichkeit. nämlich dem göttlichen Schöpfer gegenüber. aber auch den Mitmenschen und der Schöpfung gegenüber. Die Religion liefere uns die stärkste Motivation. um eine globale Veranlwortlichkeitleben zu können. Diese aber sei der letzte und höchste Zielwert der gesamten christlichen Ethik. 40
.... T. Rendlorff. EJ:hik 1-11. München 198011981. 245-256. W. Panncnberg. Elhik und Eschatologie. München 1974. J. Rohls. Geschichte. 690--70 I. .. J. Rohls. Geschichte. 700-707. H. Jonas. Das Prinzip VerantWOI1ung. FranHur1 1979. R. M. Green. Religion and moral reaSQn. London 1968.
Katholische Sozialethik
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Katholische Sozialethik Kurr Remeie In seinem 1994 erschienenen Werk \vhal;s Calholicism? setzt sich der anglikanische Theologe Dav;d L. Edwards mit der offiziellen Lehre der römisch-katholischen Kirche auseinander. Gleich im I. Kapitel. das mit .. Die wahre Größe des Katholizismus" betitelt ist. verweist Edwards auf die enonne Bedeutung der katholischen Sozialethik und der päpstlichen Sozialverkündigung. Für ihn bilden ..die SozialenzykJiken der Päpste die umfassendste und einflussreichste Lehre über die Grundlagen von Politik und Wirtschaft. die es in der christlichen Welt überhaupt gibt:'· Der Anglikaner Edwards ist eine Stimme unter vielen, die die katholische Sozialethik als historisch einflussreiches und gegenwärtig unverzichtbares Teilgebiet der christlichen Ethik begreifen und schätzen. Sozialethik lind Sozial/ehre Unter Sozialethik oder Gesellsc!wjtsethik wird im Allgemeinen eine Spielart oder Unlerdisziplin der Ethik verstanden. der es vorrangig um die menschenwürdige Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. um die ethische QuaHtät von Institutionen und Strukturen gehl. Während die Individual- oder Persona/ethik Handlungen und Haltungen des oder der Einzelnen unter dem Gesichtspunkt des Richtigen und Falschen. des Guten und Schlechten beurteilt. beschäftigt sich die Sozialethik mit der Frage. ob die real existierenden gesellschaftlichen Systeme, Verhältnisse und Einrichtungen als Voraussetzungen rur ein gutes Leben aller einzelnen den Kriterien der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls entsprechen. Dieser nonnativen. veränderungsbereiten Haltung gegenüber der Ordnung der Gesellschaft und ihrer Institutionen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es nicht nur eine Gehorsamsverantwortung gegenüber Nonnen. Ordnungen und Institutionen gibt. sondern auch eine Gestaltungsverantwortung fiir sie. Wirtschaft (Kapital und Arbeit. Eigentum. familiengerechter Lohn. Mitbestimmung) und Politik (Frieden und Krieg. Staatsformen, Rechtsordnung. allgemeine Wohlfahrt) waren zunächst die vorrangigen sozialethischen Betä· tigungsfelder und spielen auch heute noch eine zentrale Rolle. Dazu kamen im Laufe der Zeit die Fragen nach gerechten und friedlichen internationalen Beziehungen (Weltgemeinwohl. so genannte Drille Welt). nach Erhaltung und Schutz der Umwelt (Nachhaltigkeit. Schöpfungsverantwortung. Relinität = Vernetzung) und nach der sittlich wünschenswerten Gestaltung von Massenmedien. Bildungs- und Gesundheitswesen. Als kulturethische Reflexion ist Sozialethik darüber hinaus aber auch an einer normativen Auseinandersetzung mit kullur· soziologischen Analysen und Fragestellungen (kollektive Wertvorstellungen. Wertewandel) interessiert. D.L Edwards. What is Catholicism? An Anglkan responds 10 the officialleaching of Ihc Roman Calholic Church. London 1994. 6. I
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Kurt Remeie
Unter karlrolischer Sozialethik oder Sozialethik der katholischen Kirche ist eine Form der Sozialethik zu verstehen, die sich im Kontext der katholischen Kirche als religiöser und moral ischer Gemeinschaft entwickelt haI. Zwar wendet sich die katholische Sozialethik mit ihrer Rückbindung an die biblische Botschaft und die kirchliche Tradition (Lehramt) vorrangig an die eigenen Gläubigen, ihr naturrechlliehes Erbe und ihr Anspruch. am gesellschaftlichen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft teilzunehmen, mulel ihren Vertreter/innen aber die Anstrengung zu, für ihre Positionen rational einsehbare Gründe vorzubringen. 2 Dies bedeutet, dass Forderungen der katholischen Sozialethik in einer Sprache vor.lutragen sind, die auch von jenen verstanden werden kann, die nicht der katholischen Kirche an· gehören. Die Begriffe katholische Sozialethik (Gesellschaftsethik) und katholische Soziallehre (Gesellschaftslehre) werden oft synonym gebraucht. Weil aber der Begriff katholische Sozial lehre häufig auch in einem engeren Sinne. näml ich als päpstliche und bischöfliche SoZialverkii1ldigll1l8. verstanden wird. und weil zahlreiche Menschen mit dem Begriff "Lehre" ein starres und geschlossenes System autoritärer Unterweisung assoziieren. kommt dem Begriff der katholischen Sozialethik nach der heutigen wissenschaftlichen Sprachregelung bcrechtigte""cise ein gewisser Vorrang zu. Soziale Lehre und soziale Tat Auf die Frage der Jünger des Johannes. ob er der versprochene Messias sei, antwortet Jesus: "Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, und Lahme gehen: Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Annen wird das Evangelium verkündet.;· (Mt 11.4f) In der Tradition der Propheten Israels stellt sich Jesus als Befreier der Bedrängten und als Anwalt der Armen vor. Ihm zufolge können nur diejenigen das ewige Leben gewinnen. die ihre Nächsten lieben wie sich selbst, die die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben. die Fremden und Obdachlosen aufnehmen. die Nackten bekleiden. die Kranken und Gefangenen besuchen. (Mt 12.34-40 parr.. 25,31-46) Sein Eintreten für die Außenseiter und die Ausgestoßenen brachte ihn in Konflikt mit dem Establishment seiner Zeit, gerade auch dem religiösen . .,Jesus war weder ein Narr noch ein Rebell: aber offensichtlich beiden zum Verwechseln ähnlich.") Dem Beispiel und der Lehre Jesu folgend ist der soziale Auftrag der Kirche nach Johannes XXI]]. ein doppelter: .,die Gabe der sozialen Lehre und die Gabe der sozialen Tat"4. ~ K. Remele. Abschied von der Natur? Ober Versuche. christliche Sozialethik diskurstheorelisch
oder kommunilaristisch umzugestalten. in: Was. Zeitschrift für Kullur und Politik Nr. 81 (1995) 83-91. ) ..Unsere Hoffnung". Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit. in: Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I. Freiburg im Brcisgau "1976. 71-111.104. • Johannes XXIII .. Enzyklika Maler el magislra Nr. 6.
Katholische Sozialethik
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Jesu herrschaftskritischer Impuls und sein Gebot, sich um Notleidende zu küm· mern, wurde im Laufe der Kirchengeschichte unzählige Male verraten, aber nie ganz ausgelöscht: die von Anfang an praktizierte kirchliche Annen- und Krankenfürsorge als "Tun der Wahrheit" (Onhopraxie) ist hier ebenso zu nennen wie die immer wieder artikulierte Kritik an der Anhäufung materiellen Reichtums im privaten und kirchlichen Bereich (Kirchenväter, Bettelorden). Im deutschen und österreich ischen Sozialkatholizimus des 19. Jhs. wurde nach Lösungen gerungen. um das Elend des Industrieproletariats zu mildem oder zu beseitigen. Die mit dem Begriff ..soziale Frage" bezeichneten negativen Auswirkungen der "indus· triellen Revolution" waren auch Ausgangspunkt und Gegenstand jener Enzyklika (Weltrundschreiben), mit der der Beginn einer genuinen katholischen SoziaJlehre häufig datiert wird: Rerum tlovamm von Papst Leo XIII. aus dem Jahre 1891. In dieser ersten "Sozialenzyklika" bekannte sich Leo xm. zum Recht der Ar· bciter auf Privateigentum (Nr. 8) und verteidigte ihr Koalitionsrecht (Nr. 38). Er verlangte vom Staat. zugunsten des Arbeiterstandes zu intervenieren und damit .jener unwürdigen L.'l.ge ein Ende zu machen. in welche derselbe durch den Ei· gennutz und die Harthertigkeit von Arbeitgebern versetzt ist. welche die Arbeiter maßlos ausbeutcn und sie nicht wie Mcnschcn. sondern als Sachcn behandeln." (Nr. 33) Spätere Päpste beschäftigten sich in ihren Sozialenzykliken auch mit den Themen Frieden und Menschenrechte (Johannes XXIII.. Pacem in terris, 1963) sowie internationale Entwicklung und weltweite Gerechtigkeit (Paul VI.. Populomm progressio. 1967: Johannes Paul 11.. Sollicitlldo rei socialis. 1987). Viele sozialethische Dokumente der Päpste erschienen in Jubiläumsjahren von Rerum 1l0wm,,1l: die Enzykliken Quadragesimo anno von Pius XI. (1931). Mater et magistra von Johannes XXIII. (1961).l..aborem exercells (1981) und Centesimu.s antUI.s (1991) von Johannes Paul 11. sowie das Apostolische Schreiben Octoge· sima advenien.s von Paul VI. (1971). Als weitere sozialethische Dokumente des Lehramtes. die die gesamte Kirche ansprechen, sind zu nennen: die Pastoralkons· titution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Weh von heute (Gaudi",,, et spes. 1965). die Erklärung der Weltbischofssynode zur Gerechtigkeit in der Welt (De iustitia in mundo. 1971), das Kapitel "Die menschliche Gemeinschaft" des Katechismus der klltholischen Kirche (1993. Nr. 1877-1942) und das im Oktober 2004 erschienene Kompendium der Soziallehre der Kirche. In Octogesimll adveniens wies Paul VI. darauf hin. dass es Aufgabe der einzelnen christlichen Gemeinschaften sei. die gesellschaftlichen Verhältnisse ihres jeweiligen Landes zu analysieren und die katholische Soziallehre kontextuell anzuwenden. Diesen Gemeinschaften obliege es. "darüber zu befinden. welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind. um die gesellschaftlichen. wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuftihren. die sich als wirklich geboten erweisen und zudem oft unaufschiebbar sind." (Nr. 4) Als grundlegend und exemplarisch rur eine kontextuelle Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen ist die "Theologie der Befreiung" zu nennen, die das menschliche und kirchliche Geschehen im Lichte des Glaubens kritisch
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Kurt RemeIe
reflektiert. 5 Dazu zählen aber auch andere basis- oder "frei-kirchliche"6Iniliativen und Bewegungen. deren praktischer Einsatz für die Anncn und Unterdrückten gerade einer im universitären Kontext agierenden Sozialethik. die sich nicht mit der Auslegung lehramtlicher Texte begnügen will. wesentliche Impulse liefert. Grundanliegen der Theologie der Befreiung wie die "vorrangige Option für die Armen" und die Betonung "institutionalisierter Ungerechtigkeit"' haben in die Erklärungen der lateinamerikanischen Bischofsversammlungen von Medellfn (1968) und Puebla (1979) sowie in andere kirchliche Sozialdokumente Eingang gefunden. Weitere prominente Beispiele für eine dezentrale und regionalisiertc. kOnlelttuelle und partizipatorische Ausgestaltung katholischer Sozialethik sind die Hirtenbriefe des US-amerikanischen Episkopats zum Frieden (1983) und zur Wirtschaft (1986) sowie der Sozial hirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs (1990). In jüngerer Zeit hat die katholische Kirche bei der Erstellung von Sozialdokumenten auch mit anderen christlichen Kirchen kooperiert. So entstanden etwa in Deutschland das katholisch-evangelische Sozialwort Für eine Zukunft il/ Solidarirät uI/d GerecJlfigkeir (1997) und in Österreich das Sozialworr des Ökumenischen Rares der Kirche" (2003), dem 14 chrislliche Konfessionen angehören. Hislorisch gesehen ist die katholische Sozialethik ein ausdifferenziertes Teilgebiet der Moraltheologie. das sich im 19. Jh. als Antwort auf die durch die Industrialisierung entstandenen sozialen Probleme entwickelte. Sie ist ..eine dynamische Theologie der gesellschaft Iichen Belange"7, ein entwicklungsfahiges "Gefüge von offenen Sätzen"8, das nicht nur gegenüber der Gesellschaft Kritik übt sondern auch kirchliche Gerechtigkeits- und Bamlherzigkeitsdefizite anspricht. freilich unter Bewahrung einer grundsätzlichen kirchlichen Eingebundenheil.
Glaube uI/d Gerechtigkeir Papst Johannes XXHI. hat in seiner Enzyklika Marer er magisrra verkündet. dass sich die Kirche in der N
, R. Oliveros. Geschichte der Theologie der Befreiung. in: I. ElIacurialJ. Sobrino (Hg.). Myste. rium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung. Luzcm 1995. 13-15. 6 S.Ii. PfünnerlW. Iieierle. Einführung in die katholische SoziaJlchre. Dannstadl 1980. 27-29. 7 F. Furger. Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung. Stultgan u.a. 1991. [3f. t HJ. WaJlraff. Die katholische Soziallehre - ein GeHige von offenen Sätzen. in: H. Achingerl L. PrcllerfHJ. Wallraff (Hg.). Nonnen der Gesellschaft. Festgabe für O. von Nell-Brcuning zu seinem 75. Gebunslag. Mannhcim 1965.27--48.
Katholische Sozialethik
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der Sendung der Kirche zur Erlösung des Menschengeschlechts und zu seiner Befreiung aus jeglichem Zustand der Bedrückung:' (Nr. 6) Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit wird hier als wesentlicher Bestandteil der Glaubensverkündigung bezeichnet. ..Der Auftrag. das Evangelium zu verkünden". heißt es an einer anderen Stelle des Dokumentes. "erforden heute den ungeteilten Einsatz für die volle Befreiung des Menschen." (Nr. 36) Gesellschaftspolitisches Engagement aus dem Glauben bedeutet freilich nicht integralistische Bevormundung der Politik durch die Kirche. Da die soziologische und ökonomische Kompetenz eines Menschen durch die Weihe zum Priester oder Bischof nicht auf wunderbare Weise vermehn wird. sind lehramtliehe Ver· kündigung und katholische Sozialethik don. wo sie bestimmte konkrete Lösun· gen vorschlagen und anregen, in ganz besonderer Weise auf den Dialog mit den Human- und Sozialwissenschaften angewiesen. Sich gegen Ungerechtigkeit und Armut auszusprechen. das ist ei"e Sache..,Einsicht in die sozialstrukturellen und ökonomischen Bedingungen der Überwindung von AmlUt jedoch eine andere"'. Verbindliche Kompetenz reklamien die katholische Sozialethik don. wo es umjelle moralischen Grundsätze und sozialen Prinzipien geht, die die Entfaltung jedes einzelnen Menschen in Gemeinschaft mit anderen optimal ermöglichen sollen.
Prinzipien lind Zeugnis .,Der Mensch in seiner Einmaligkeit ... ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrages beschreiten muss", heißt es in der Enzyklika Redempfor hominis von Johannes Paul 11 ....er ist der erste und gru"dlegende Weg der Kirche" (Nr. 14). Dem Personpri"zip der katholischen Sozialethik zufolge ist die menschliche Person ..der Träger. Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen"IO. Das Personprinzip beinhaltet die Beachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte. der Selbstzweckhaftigkeit der Person und des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital. Der Mensch ist ein soziales Wesen. er ist Person in Gemeinschaft. er ist auf die anderen und auf die Kooperation mit ihnen angewiesen. Einerseits ermöglichen Gemeinschaft und Gesellschaft überhaupt erst die per· sönliche Entfaltung des einzelnen Individuums, andererseits setzen sie dem oder der Einzelnen dort Grenzen. wo er oder sie die anderen ausbeutet. missachtet und ihre Rechte verletzt. Das Gemei"wohlpri"l.ip weist darauf hin. dass der einzelne Mensch Pflichten gegenüber anderen hat und dass das Einzelwohl nicht auf Kosten anderer angestrebt werden darf. Wer sich um das Gemeinwohl bemüht, tritt für ..das Wohl aller und einesjeden"ll ein. Personprinzip und Gemeinwohlprinzipsind eng miteinander verbunden: .,Die Pflege des Gemeinwohles darf nicht zu starker Schwächung des Privat wohles führen; dadurch schwächt die Gemeinschaft ihre
W. Korff. Wie kann der Mensch glUcken? Perspektiven der Ethik. München 1985, 117. 10 Johannes XXIIJ.. Enzyklika Maler Cl magistTa Nr. 219. 11 Johannes Paulll .. Enzyklika SollicilUdo rei socialis Nr. 38.
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eigenen Kräfte. Die Sorge für das Eigengul darf dem Gemeingut nicht widerstreben; dadurch schadet der Einzelne der Gemeinschaft und sich selbe:r."12 In enger Verbindung zum Gemeinwohlprinzip steht das Solidaritätspriflzjp: Der Begriff der Solidarität, der ursprünglich die Zusammengehörigkeit und den Kampf von in Not befindlichen Menschen bezeichnete. ruft zum Handeln füreinanderund miteinanderauf; nachchristlichem Verständnis ist Solidarität "parteilich und doch ohne zerstörerischen Hass"l3. Das Subsidiaritätsprinzip fordert dazu auf, die Verantwortung und Zuständigkeit für die Erledigung von Aufgaben möglichst weitgehend bei den einzelnen Menschen und den kleineren Gemeinschaften zu belassen. Übergeordnete Sozial gebilde sollen die Voraussetzungen für das Handeln klcinerer Gemeinschaften schaffen: sie haben zudem dort einzugreifen. wo der Einzelne oder die kleinere Einheit überfordert ist In jüngerer Zeit wurde angeregt. den genannten vicr klassischen Sozialprinzipien noch zwei weitere hinzuzufügen: die Optio" fiir die Armen als Bekennlnis dazu. den Armen einen bevor,lUgten Platz bei dcr Analyse und der Veränderung der Gesellschaft einzuräumen, und das Pri"zip der Nachhalligkeit (Schöpfungsverantwortung, Relinitäl). das die Ökologie als unverzichtbare Dimension des sozial ethischen Diskurses etabliert. Zudem ist es unbedingt nOlwcndig. die gender-Perspektive in der katholischen Sozialethik stärker zu verankern. Sie thematisiert die in ciner Gesellschaft herrschenden Geschlechterbeziehungen mit all ihren Ungcrechligkeiten. Die Prinzipien der katholischen Sozialethik sind nicht als starre Normen oder detailliertcAnwcisungcn zu vcrslehen -Qswald von Nell-Breuning sprach davon. dass man Prinzipien ,.nicht melken"1. könne -. sondern als in die Findung konkreter Normen eingehende Grundoricnticrungen. Leitlinien und Prüflcriterien.'~ Sie sind eng aufeinander bezogen. "so dass man bei der Betonung eines Prinzips alle anderen stets mit bedenken und mitbeachten muss. um eine Verkürzung und Verengung zu vermeiden"'6. In der zweiten Novemberausgabe 2004 der Wiener Obdachlosenzeitung Auguslin beschrieb die Sozialhilfeempfangerin Anna ihr Verhältnis zum GOII der katholischen Kirche wie folgt: "Ich binja nicht verrückt. mir Gott so vorzustellen. wie ihn die katholische Kirche predigt. Jesus hat doch ganz anders gelebt als die
E. Welty. Gemeinschaft und Einzelmensch. Eine sozialethische Untersuchung. Bearbeitel nach den Grundsätzen des hl. Thomas von Aquin. SalzburglLeipzig 11935. 11
Il
1.B. Metz. Unlerbrechungen. Theologisch-politische Perspektiven und Profile. GÜlersloh
1981.26. " Zit. nach F. KJüber. Der Umbruch des Denkens in der katholischen Soziallehre. Köln 1982. 32. IJ L. Neuhold. Soziallehre. katholische. in: H. Rolter/G. Virt (Hg.). Ncucs Lexikon dcr christlichen Moral. InnsbrucklWien 1990.702-710. I~ v. Z
Katholische Sozialethik
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heutigen oberen Kirchenmänner. Jesus war ann:' 17 Frau Annas Aussage ist ein wichtiger Hinweis auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Kirche: Ist die katholische Kirche im Auftreten ihrer Repräsentanten und in ihrem vorherrschenden öffentlichen Erscheinungsbild nicht nach wie vor primär eine Kirche der ..feinen Leute" l '? Praktiziert die katholische Kirche in ihren eigenen Reihen das. was sie anderen predigt, gerade auch im Bereich der Sozialethik? •.WeiB die Kirche sich verpflichtet. Zeugnis zu geben fUr die Gerechtigkeif·. heißt es in dem Dokument De iustitia in mundoderrömischen Bischofssynode von 1971 ...dann weiß sie auch und anerkennt. dass. wer immer sich anmaßt. den Menschen von Gerechtigkeit zu reden. an allererster Stelle selbst vor ihren Augen gerecht dastehen muss. Darum ist unser eigenes Verhalten und unser Lebensstil in der Kirche einer genauen Prüfung zu unterziehen." (Nr. 41)
n R. Sommer. Nur in den sauberen Klos. Einen Moment lang naiv - so landete Anna auf der SlI'a.ße. in: hltp:J/augU5tin.bus.atlcZCOntcnlSl7J (abgcrufcn am 04.12.20(4). It T. Vcblcn. 1bcoric der feinen Leutc. Eine ökonomische Untersuchung der InstilUlioncn. Mün· chen 1981 (US-amerikanische Erstausgabe 1899).
ultur Karl Prenner
Der Islam als Religion ist nicht nach einem Religionsstifter benannt. sondern gibt eine Haltung an. nämlich die der Hingabe an Gott. welche die Mitte des gläubigen Lebens ausmacht. Bereits der Name dieser Religion verweist uns so auf ihr Wesen. das nicht im Fürwahrhalten von Glaubensdogmen und damit einer Theologie besteht. sondern in einer Glaubenspraxis. einer Orthopraxie. Recht und Religion sind im Islam aufs engste mileinandcr verknüpft. Denn das islamische Gesetz gibt im Detail an, wie Religion zu praktizieren ist Dass hier eine Glaubenspraxis das Wesen einer Religion ausmacht, zeigt auch, dass der Islam bzw. seine Offenbarungsschrift (der Koran) von einer Willcnsoffenbarung Gottes ausgehen. Dieser Wille Gottes konkretisiert sich nicht nur in allgemeinen Anweisungen und Direktiven, sondern auch in ganz konkreten Geboten und Verboten. Die Bestim· mung des Menschen ist es demnach, diesen Willen Gottes zu erfüllen. damit sein Leben glückt und heil voll im Diesseits wie auch im Jenseits sei. Letztendlich meint Religion hier die Gesamtheit des Lebensvollzuges, der infolge der Willensoffenbarong der Gottheit transzendiert wird. Die Funktion des Gesetzes besteht somit wesentlich darin. dass es Heil verrnittelt. Daraus resultiert auch die Bedeutung, die der Ethik bzw. der Moral im Islam zukommt. Vielfaltige KulturausdTÜcke und ethische Traditionen der Völker. die der Islam im Laufe der Zeit unterworfen hatte, wirken zusammen und werden unter isla· mischem Vorzeichen zu etwas Neuem verarbeitet. Die islamische Ethik hat sich daher. ausgehend vom Koran und der Sunna des Propheten, in viel faltige Richtungen hin differenziert. Im Zentrum steht die islamische Rechtswissenschaft als Verwalterin des göttlichen Willens, die in der Scharia, dem göttlichen ..Gesetz". eine umfassende Lebens- und Gesellschaftsordnung hervorbrachte. Theologische und philosophische Ethik sind vor allem von den gricchisch·hellenistischen Ethik·Traditionen beeinfluss!. Mystische und religiöse Ethik betonen neben dem äuBeren Tun auch die innere Haltung und zeigen auf diese Weise ihre Sicht vom
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Karl PrcnllCr
Tun des Glaubens auf. Auch hierbei haben die vielfahigen ethischen Traditionen der Völker ihre Wirkung gezeigl. Die Wirtschaftsethik wiederum nimmt ihren Ausgangspunkt von den sozialethischen Aussagen des Koran, einerdamil verbundenen Praxis, und versucht sie den jeweiligen Zcitumständen anzupassen. Gerade im Bereich von Mann und Frau. Ehe und Familie sind die traditionellen Haltungen am stärksten in Frage gestellt und zeitbedingten Modifikationen unterworfen. In diesen Beziehungen gibt es daher verschiedene Modelle. um eine zeitgerechte Ethik zu schaffen. Medizinische Ethik und gegenwiinige Fragestellungen handeln nicht nur von Gesundheit und Krankheit. sondern auch von der modemen medizinischen Forschung mit ihren Frage- und Problemstellungen. Reformer, Fundamentalisten und Islamislen kämpfen heute um eine zeitgemäße Interpretation der Scharia. um eine Anpassung des traditionellen ethischen Nonnensystems an heutige Gegebenheiten.
Ethik der yorislamischen Araber Die äußeren Bedingungen auf der arabischen Halbinsel. geographische und klimalische. haltcn auch Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. auf ihre Sozialfonnen und auf ihren ethischen Kodex. Das soziale Gefüge der Stämme mil ihren Untergruppen prägte das Bewusstsein der gemeinsamen Abstammung von einem Stammvater. woraus sich die ..soziale Gleichwertigkeit der Mitglieder dieses Verbandes" ergibt. Auf diese Weise repräsentiert ein arabischer Stamm "einen wohl geordneten politischen Verband". ' Wau schreibt. dass die wirkliche Religion der Nomaden der .,Stammes-Humanismus" war. denn das Leben in der Wüste erforderte einen hohen Grad an menschlicher Größe oder .,Mannhaftigkeit'· (mllrlllVwa).l Etymologisch meint mllrUlVwa die Eigenschaften eines Mannes und verweist somil auf das höchste moralische Ideal der Beduinen, wo alle Tugenden der Wüste vereinigt sind. Wurde in islamischer Zeit alle Moralität im Willen Gottes grundgelegt, so war sie in vorislamischer Zeit in der Stammestradition. im Brauch und der Lebensweise der Vorfahren (sunna) begründet. Die vorislamischen Araber verfügten über eine Breite von Moralvorstellungen, deren Kategorisierung aber nicht einer Beliebig· keil unterworfen war. sondern nach dem Verhalten und Handeln der Vorfahren ausgerichtet war...Nein. vielmehr sagen sie: ,Wir haben bei unseren Vätern eine bestimmte Glaubensrichtung vorgefunden. und in ihren Fußstapfen folgen wir der Rechtleitung"'.3 Der mit dem Stamm verbundene Ehrenkodex erforderte. dass die einzelnen Stammesmitglieder füreinander eintraten. Moralische Tugenden als persönliche
W. Dostal. Die Araber in vorislamischcr Zeit. In: Der Islam 74 (1997) 1-63.4--5. 1 M.W. Watt/A.T. Wclch. Der Islam I: Mohammcd und dic Frühzcit - Islamisches Recht Religiöses Leben. SlUttgart 1980.42. I Sure 43.22; vgl. Sure 2.170. I
Islamische Kullur
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Qualitäten waren nach dieser Vorstellung nicht in erster Linie dem Individuum eigen. sondern gemeinschaftlicher Besitz, geerbt von den Vätern und Vorvätern. Der Anspruch des Stammes und jedes Einzelnen auf Achtung und Ansehen gründete sich folglich auf die Ahnen. Alles Handeln des Individuums hane daher zum Ziel, die Ehre des Stammes nicht zu verletzen. vielmehr zu mehren. Das Herzstück der Ethik der vorislamischen Araber war das Prinzip der Solidarität. die zwischen den Stammesmitgliedem herrschte. Der Stamm bzw. als Unterklasse derClan repräsentierten insgesamt das obersie Prinzip des Vcrhaltens im individuellen und öffentlichen Leben. Zum solidarischen Handeln verpflichtet war man nur gegenüber einem Verwandlen oder Verbündclen. Diese ..Stammessolidarität" war die "wirkliche Religion der Wüste".4 Aber sie befand sich zur Zeit des Propheten bereits in Auflösung. Die Wiedervergeltung (Blutrache) galt als ein Akt der Sittlichkeit. Gutes ist mit Gutem und Böses mit Bösem zu vergelten. Dic ..Ehre" war eines der Schlüsselkonzepte der vorislamischen Gesellschaft. gegründet auf Heldenmut, Tapferkeit und Stolz. Alles, was zur Macht beitrug, dicnte auch der Ehre. Alles. was Schwachheil verursachle, gereichtc dcr Gruppe zur Schande, Von dieser Sicht her war es keine erstrebenswerte Haltung. in der Position eines Dieners zu sein. egal obeines menschlichen oder göttlichen Wesens. Im sozialen System dcr Dsc"a"iliyya (Zeit der ..Unwissenheir', d.h. die Zeit vor dem Islam) hatten der Schwache und Unterdrückte, der Uneheliche und Sklave keinen Anteil an der Stammesehre. Für alle vorislamischen Dichter galten daher die Werte der Aristokratie. "Annut erschien nur in Schmähgcdichten, in denen Negativa aufgezählt werden mußten",5 Aber die in der Arislokratie entwickelten Nonnen wurden von den Beduinen allgcmein als Ideal ancrkannl, und insofern bestand auch für den nicht der Ober· schicht angehörenden Beduinen eine Identifikationsmöglichkeil. Angesichts dcs Glaubens an den einen GOll mussten die allarabischen Traditionen und Bräuche als unbedeutende weltliche Angelegenheiten erscheinen, Daher resultiert daraus der radikale Bruch des Islam mit den Moralvorstellungen seiner Zeit. Denn die Wehlichkeit als Diesseitigkeit und die Slammesbezogenheit warcn wesentliche Kennzeichen dieses Moralkodex. Diese Weitsicht ging davon aus. dass nur das, was sichtbar ist. existiert. Der Glaube an cin ewiges Leben war hier unvorstellbar. .,Und sie sagen: ,Es gibt nur unser diesseitiges Leben. Wir sterben und leben (hier), und nur die Zeit lässt uns verderben"'.6 Das, was einem Menschen widerfahrt. wird dem natürlichen Lauf der Dinge zugeschrieben. Daher werden in vorislamischen Gedichten die Ereignisse als durch die ..Zeir' (zama,,) oder die ..Tagc" (ayyam) verursacht gesehen.'
• T. IZUISU. Ethico-Rcligious ConceplS in the Qur'an. Momrcal 1966, 56. JE. Wagner, Grundzüge der klassischen arabischen Dichtung. Bd. I. Darmstadl 1987. 1988.35. - Sure 45.24. 'Sure 6.29.
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Aus Ermangelung einer Dauerhaftigkeit verkündete die Dschahiliyya, dass jeder sich seines kurzen Lebens erfreuen soille. dies bis zum äußersten. Ein Hedonismus war daher die Schlussfolgerung aus dieser weltzugewandten Haltung.
Die Ethik des Koran Im Koran treffen wir auf eine Reihe von Moralvorslellungen und Idealen der Beduinengesellschaften. die bei ihrer Aufnahme eine grundsätzliche Veränderung erfuhren. Sie wurden jetzt den Gedanken der Gouesfurcht und des Letzten Gerichts unterworfen', Eine systematische Zusammenstellung von moralischen und sittlichen Nonnen hat der Prophet im Koran nicht hinterlassen. Dies wird erst späteren Zeilen vorbehalten bleiben und wird anhand der Scharia erfolgen. Die 114 Suren des Koran reflektieren unterschiedliche Verhaltensmuster, Direktiven und Anweisungen. die sich aus einer spezifischen Zeitsituation und ihren Bcdingungen ergeben. In dcn mekkanischen Suren. wo die zentralen Glaubenslehrcn geoffcnbart wurden. finden wir im großen und ganzen allgcmeine Prinzipien und Richtlinien. In medinischcr Zeit waren durch das mcdincnsischc Gemeinwesen andere Voraussetzungen gegeben. sodass Hir sein Funktionieren konkrete Nonnen und Vorschriften nach innen und nach außen notwendig waren. In diesem Zusammenhang kristallisiert sich der Begriff Umma (religiös-politische Gemeinschaft) heraus. Die Zugehörigkeit zu dieser war nun nicht mehr genealogisch geregelt. sondern durch den gemeinsamen Glauben bestimmt. Daher: ..lhr seid die beste Gemeinschaft. die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott".' Daraus resultieren verschiedene Pflichten. sowohl für die muslimische Gemeinschaft gegenüberden einzelnen Glaubensbrüdern. als auch für die einzelnen Glaubensbrüder gegenüber der Gemeinschaft. Oberstes Prinzip ist das Gemeinwohl. dem sich die Interessen und Wünsche des Einzelnen unterzuordnen haben. Neben den fünf kultischen Pflichten. die dem Einzelnen obliegen. war es die Pflicht der Gemeinschaft. sich in umfassender Weise für den Islam einzusetzen (dschihad v. dschahada: .. Sich· Abmühen auf dem Wege GOlles").IO Die koranische Ethik ist grundgelegt im Glauben an den Einen und Einzigen GOlt. in dem Anfang. Mitte und Ende des geschöpflichen Daseins ihrc einende Mitte finden. Gou ist der Schöpfer Himmels und der Erde und des Menschen. Das Schöpfungswerk zeugt von der Güte und Fürsorge Gottes. indem alles in Hinblick auf den Menschen geschaffen wurde (vgl. die Schöpfungshymnen des Koran). Die fortdauernde Schöpfung will sagen. dass alles Geschehen. alles Werden und Vergehen seinem schöpferischen Handeln entspringt. denn .jeden Tag hat Er mit einem Anl iegen zu tun". 1I Die Schöpfung des Anfangs und die fortdauernde Schöp• T. (zutsu. Elhico-religious. 74ff. ·Sure3.IIO. "Sure 9.41. " Sure 55.29.
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fung sind so im Koran miteinander verwoben. Die fortwährende Sorge Gottes für seine Schöpfung (Vorsehung Gottes)12 soll den Menschen nachdenklich stimmen. sodass er sich in Dankbarkeit dem Einen Gott. seinem Ernährer und Fürsorger zuwendet und seinen Willen erfüllt. Weil dieser eine Gou der Schöpfer und Fürsorger seiner Geschöpfe ist, kann er diese am Jüngsten Tag auch zur Verantwortung rufen und über sie zu Gericht sitzen. Die Schöpfer- und Richtertätigkeit Gottes sind so nach dem Koran ursäch· lich miteinander verknüpft. Der Mensch sei nicht zum Zeitvertreib erschaffen worden, vielmehr sei er in die Schöpfung Gottes hineingesetzt worden, ,.damit er geprüft werde".13 Hinterdieser Bestimmungdes Menschen wird das Verhältnis von Diesseits und Jenseits sichtbar. Der Koran mahnt in diesem Zusammenhang immer wieder. darauf acht zu geben, dass ,.euch das diesseitige Leben nicht betört". 14 ,.Ihr werdet sicherlich an eurem Vennögen und an euch selbst geprüft werden". l $ Mit der Vorsehung Gottes verbinden sich auch diverse prädestinatorische Aussa· gen;16 ja er bestimmt sogar ..Glaube und Unglaube".11 Demgegenüber betonen jene Stellen. die sich mit dem Gericht beschäftigen. wiederum die Entscheidungsfreiheit des Menschen, denn beim Gericht muss sich jeder allein für sein Tun verantworten und niemand kann ihm da beistehen. Sowohl pr'Jdestinatorische Aussagen als auch solche über die freie Willensentscheidung des Menschen werden im Koran noch nicht als Gegensätze empfunden. 18 Der Koran charakterisiert den Menschen einmal als die gute Schöpfung Gottes, denn GOll hat ihm eine schöne hannonische Gestalt gegeben. 19 Bei jedem Zeugungsvorgang wiederhole Gott seine gute Schöpfung immer wieder. Er habe ihn nicht nur dazu ausgestaltet. dass er seinen Willen erfullen kann. sondern auch gut versorgt. indem Er die Welt in seinen Dienst gestellt habe. 20 Aber bereits der Ursprung des Menschen deutet auf eine Schwäche, genauer auf eine Willensschwäche hin. Hinsichtlich des Zeugungsprozesses verweist der Koran darauf, dass der Mensch ,ja schwach erschaffen worden isr·. 21 Weiters "ist er als kleinmütig erschaffen. Wenn das Böse ihn trifft. ist er sehr mutlos: und wenn ihm Gutes widerfahrt. verweigert er es anderen·'.u Die Schwäche sei demnach dem Menschen mit seiner Erschaffung mitgegeben worden. Die Folge ist, dass der Mensch zum Bösen neigt: .,Und ich erkläre mich nicht selbst für unschuldig. Die Seele gebietel ja mit Nachdruck das Böse", spriCht JoseP im Zusammenhang mit Sure 16.18. lJ Sure 76.2; 11.7; 67.2 u.a. I' Sure 35,5; 31.33: 6.32. I' Sure 3.186: vgl. 18.7; 16. 107; 11.15. I. Sure 9,51; 16.69; 25.2. 11 Sure 6.25: 2.6-7; 18.57; vgl. 48.14. "Sure 4.78-79. ,. Sure 95.4. 10 Sure 20.53-55; 16.79-83. II Sure 4.28; vgl. 68.5. :: Sure 70.19-21; vgl. 89.15-16. II Sure 12.53; vg!. 12.18.83; in 47.25 iSI Salan der Einflüsterer.
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der Verführung durch die Frau Pharaos. Die Sünde, der Ungehorsam gegen Gou und seine GebOIe. sei nicht im Wesen des Menschen verankert. Vielmehr ist es Satan. der große Verführer der Menschheit. der sie den Menschen "cinflüslcrt".~ Daher erfolgt die Warnung an die "Kinder Adams", sich vor den Verführungskünsten Satans in acht zu nehmen. 25 Mit Iblis (Satan) ist jedoch im Koran keine "Pcrsonalisierung des Bösen" gemeint. vielmehr werden GUI und Böse im Koran "als Handlungsqualitätcn beschrieben",26 Die koranische Version bzw. Deutung der biblischen Sündenfallgeschichte meint keine wesenhafte Veränderung in der Konstitution des Menschen. denn Adam und seiner Gattin wurde verziehen. Damit entpuppt sich die Sündenfallgeschichte im Koran als eine BeispielerLählung für Sündigen, für Reue und Vergebung. Adam und seine Gattin empfangen die Recht~ leitung. d.h. die Offenbarung des rechten Weges. 27 Grundsätzlich ist nach korani~ scher Sichtweise alles Heil im unüberbrückbaren Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf verankert. Durch die Hingabe an den Schöpfer (lslamlMuslim) als "Diener Gottes" Z8 kehrt das Geschöpf zu jenem in der Schöpfung grundgelegtcn Heilszusland. zur ursprünglichen Heilsbestimmtheit (30,30) wieder zurück. Der Gehorsam gegenüber Gott und seincm Gesandtcn und die Erfüllung der im Gc~ setz festgelegten religiösen Pflichten sollen diese ursprüngliche Verbundenheit aufrechterhalten. Sie werden so zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörig· keit zu der das Heil garantierenden muslimischen Gemeinde. 29 Es sind daher im Islam keine Heilsvermiuler notwendig. denn der Mensch sei von Anfang an zum Heil bestimmt. Dies ist seine "geschöpfl iche, naturhafte Konstitution". Allerdings kommt dem Imam bei den Zwölferschiiten (lmamiten) sehr wohl eine gewisse Mittlerfunktion im Sinne der Heilsvenniulung bzw. -garantie zu. Reue und Buße sind so gleichsam in der Konstitution des Menschen verankert. Insgesamt typisiert der Koran anhand der Prophetener.lählungen die zentralen menschlichen Haltungen Gott gegenüber: JO Diener, Knecht; Hingabe an GOll (as(ama, Islam, Muslim/a);31 Gehorsam. Demut;32 ,.nicht hochmütig sein";33 Dankbarkeit;}.! Geduld;33 Gottesfurcht;36 Recht~ schaffenheit 37 u.a. Sure 7.16-17. 1S Sure 7.27. l
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Gerade die beispielhafte Darstellung der Propheten und Gesandten hat die islamische Kulturgeschichte bis heute geprägt, 50 ist etwa die Weltgeschichtsschreibung traditionell an Beispielen ausgerichtet, nämlich nach den LehrbeispieJen der "Propheten und Könige", Aber nicht nur Historiker. auch Koran-Kommentatoren und Prediger haben diese koranischen Erzählungen weiterentwickelt im 5inneder Erbauung und Ermahnung. Bis heute wird die Beispielhaftigkeit der koran ischen Prophetengeschichten in der LiteraturderGegenwart als Maßstab für vorbildliches aber auch für zu kritisierendes. d.h. unisIamisches Verhalten verwendet.
Die Ordnung des täglichen lebens Der Islam geht insgesamt von einer gesamtheitlichen Lebensordnung aus. in· dem er sämtliche Lebensäußerungen einer Heiligung unterwirft. Religion (di,,) umfasst demnach nicht nur jenen Teilbereich, den der Europäer mit Religion bezeichnet. sondern den gesamten Menschen mit all seinen Lebensäußerungen; also moralische. juristische, gesellschaftliche und politische Bereiche. Bereits in der koranischcn Ethik ist diese unzcrtrennliche Verknüpfung von Religion als Glaubenslehre und Ethik grundgelegt: In Sure 2.177 werden so Glaubenssätze und sozialethische Anweisungen unter "Frömmigkeir' subsumiert, Auf diese Weise liefert der Koran die Grundlage für die islamische Ethik (al·achJaq al·i:.-Iamiyya). eine das menschliche Tun und Verhalten normierende Struktur, Gut und Böse sind nach dieser Sicht keine den Dingen und Verhaltensweisen von vornherein inne· wohnenden Wesenseigenschaften und können auch nicht durch die menschliche Vernunft erkannt werden. Vielmehr werden sie durch Gottes Bestimmung erst gut oder schlecht. Hagemann folgert daraus, dass ein solcher "theonomer Moralpositivismus. der die sittliche Qualität einer Handlung im souveränen Willen Gottes begründet. die Ethik im wesentlichen als Gesetz erscheinen läßt, das im Gehorsam gegen Gott und in Unterwerfung unter seinen Willen als verpflichtend angenommen werden muß·'.J8 Hinter dem Gesetz wird aber auch die Weisheit und Barmherzigkeit Goues erkennbar,39 indem er auf die Schwachheit der Menschen und ihre konkreten Lebensbedingungen Rücksicht nimmt. Als Norm des praktischen Handeins ist das koran ische Gesetz bemüht, detaillierte Anweisungen zu vermitteln: "um alles deutlich zu machen"."" Die Bestimmungen sollen daher für den Menschen keine unnötige Last darstellen: ..Gau will sich euch zuwenden ... Gott will euch Erleichterung gewähren. Der Mensch ist ja schwach erschaffen worden".41 Im Gegenteil. sie sollen dem Menschen helfend beistehen: "Dieser Koran leitet zu dem. was
L. Hagemann. Ethik/Moral. In: A. KhourylL. Hagemann/F. Heine: Islam-Lexikon Bd. I. Frciburg 1991. 215-233. J'I Sure 4.11: 9.60. OQ Sure 7.32. 'I Sure 4,27-28 Jt
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richtiger iSl 42 Ja insgesamt verbindet sich mit dieser Offenbarungsschrift auch alles Heil (10.57). Daher brauchen sich die Gläubigen bloß nach dem Willen Goues auszurichten. wie er im koranischen Gesetz niedergelegt ist. denn er lehrt sie Gerechtigkeit (7.29) und verheißt ein erfülltes Leben (20.123). Da das Gesetz Licht und Rechtleitung (5,44fO ist und der Weisheit und Barmherzigkeit Gottes entspringt, fordert es von den Gläubigen einen unbedingten Gehorsam (33,36). Annahme und dankbare Hingabe sollen die Antwort des Menschen sein. Der Koran vermittelt diesbezüglich den Eindruck, dass hierbei alles berücksichtigt wurde: ,.Wir haben im Buch nichts übergangcn".43 .. Heule habe ich euch eure Religion vervollkommnet und meine Gnade an euch vollender'.« Sure 17,22--39 bringt anhand eines ..Dekaloges" wichtige ethische Forderungen katalogartig gebündelt (vgl. den biblischen Dekalog in Ex 20.1-17 und Dtn 5.6-21), Hier wird ein Programm für eine islamische Gesellschaft entworfen. das auf moralischen. sozio·kulturellen. wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen basiert. Kern der koran ischen Botschaft ist ein strenger Monotheismus, Dem einen Gou sollen keine Teilhaber (scharik. pI. schuraka') zur Seite gestellt werden (17,22). Das Bilderverbot wird im Koran nirgends explizit ausgesprochen. allerdings scheint es implizit bei den Erzählungen über Abraham auf, als dieser die Götzenbilder seines Vaters zerstörte. 45 Das Elterngebot46 kommt im Koran wohl am häufigsten vor, In vornehmlicher Weise wird immer wieder betont. dass die Gesandten und Propheten ihre Eltern geehrt haben. Dieses Gebot wirdjedoch aufgehoben, wenn die Eltern ihre Autorität dazu benutzen. um ihre Kinder zu zwingen. am Polytheismus festzuhahen. 47 Mehrere Forderungen des ..Dekaloges" beziehen sich auf sozialethische Aspekte. oIIJ Es wird gefordert. weder verschwenderisch noch geizig mit seinem Vermögen umzugehen. sondern verantwortlich und im Bewusstsein, dass es Gottes Gnadenzuweisungen sind und nicht Leistungen des Menschen. Der Koran vertrill einen realistischen Standpunkt. es gibt eben einmal Reichere und Ärmere (vgl. 16.71). Das ist nicht das Problem, vielmehr kritisiert er die Haltung jener. die von ihrem Reichtum nichts abgeben: .,Und lass dem Verwandten sein Rechtzukommen,ebenso dem Bedürftigen und dem Reisenden, aber handle nicht ganz verschwenderisch",49 .,Und gebt volles Maß. wenn ihr messt. Und wägt mit der riChtigen Waage",50 Die frühen mekkanischen Suren thematisieren verschiedene sozial kritische Aspekte der mekkanischen Gesellschaft, die von einem gewissen Ungleichgewicht geprägt war, h
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Sure 17.9. oJ Sure 6.38. .. Sure 5.3. 01 Sure 6.74-83; 37,83-98; 21.51-73. .., Sure 17,23-25. 01 Sure 29,8-9: 31,14-15. .. Sure 17,26-30.34-35. .. Sure 17.26. ~ Sure 17.35. 01
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wo die sozial Schwächeren (der Arme, die Witwe, die Waise) benachteiligt waren. Kritisiel1 wird auch die Haltung der Reichen. die sich von jeder höchsten Macht unabhängig wähnen und grenzenloses Vertrauen in ihre eigenen Kräfte haben. Allerdings spricht sich der Koran bezüglich des Umgangs mit dem Reichtum auch für eine realistische Handhabung aus: "Strecke deine Hand auch nicht vollständig aus. Sonst würdest du getadelt und verarmt dasitzen·'.51 Sozialethische Aspekte spielen auch bei der Befragung beim Letzten Gericht - neben dem Glauben an den Einen Gott - eine wichtige Rolle. Zu denen von der rechten Seite gehören nach Sure 90.12-20 diejenigen, die dem .,steilen Weg" gefolgt sind. der darin besteht: ..die Befreiung eines Sklaven oder, am Tag der Hungersnot. die Speisung einer verwandten Waise oder eines Bedürftigen, der im Staub liegr'Y Der Koran fordel1 daher die Muslime auf. sich für Gerechtigkeit einzusetzen: .,Seid gerecht. das entspricht eher der Gottesfurcht". H Man hat den Propheten auch mit der Frage konfrontiel1, was man spenden soll? "Sprich: Das Entbehrliche (den Übcrschuss)".S
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Ehe, Familie und Sexualität Der Koran spricht in auffalliger Weise immer wieder von "den gläubigen Männern und Frauen".6J sodass gerade im religiösen Bereich die Frau grundsätzlich dem Mann gleichgestellt ist. Dies gilt jedoch nicht für die Zeit ihrer kultischen Unreinheit. Imjuridischen und z.ivilen Bereich gibt es laut Koran keine Gleichsiel· luog. 64 Begründet wird dies mit den unterschiedlichen geschlechtcrspezifischen Voraussetzungen und sozialen Verpflichtungen für Mann und Frau. Yon daher stellt sich für Muslime auch nicht das Problem der "Gleichberechtigung", weil Ungleiches nicht gleich gemacht werden kann. Gegenüber dem vorislamischen Arabien erfuhr die Frau im Koran eine gewisse Besserstcllung: Sie wurde nicht nur erbberechtigt, wenn sie auch nur die Hälfte dessen bekommt, was den männ~ lichen Erben zugesprochen wird (4.11). sondern für sie ist auch die Brautgabc bestimmt (4,4). Weiters werden auch Bedingungen für Mehrehe (4,3) und Schei· dung getroffen. Insgesamt aber kommt dem Mann auch im islamischen Recht die Vormachtstellung zu: "Die Männer stehen eine Stufe über ihnen";1>5 "Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenilberden Frauen". bb Daraus wird auch abgeleitet, dass der Mann das Recht hat, seine Frau "zu schlagen". Begründet wird dies damit. dass er für die Familie zu sorgen habe. Die Familie gehört im Koran zu den guten Dingen, die Gott den Menschen hat zukommen lassen (16.72). Der hohe Stellenwert der Familie liegt nach dieser Sicht nicht nur in der Zeugung von Nachkommenschaft begründet. sondern auch darin, dass die Familie als Ort der Lebensgemeinschaft zwischen den Ehepart~ nern einerseits und den Eltern und den Kindern andererseits fungiert. weiters in der Befriedigung des Geschlechtstriebes. Kinderlos zu bleiben wird oft als ein negatives Zeichen gedeutet. Der Koran gebietet daher die Heirat (24.32). diese gehört folglich zum Weg des Propheten (slInna). Die Unverheirateten (ob Mann oder Frau) sollen keusch leben (70,29). Der Mann kann gleichzeitig bis zu vier Frauen heiraten (4.3), muss sie allerdings alle gleich gerecht behandeln. wofür selbst der Koran kaum Möglichkeiten sieht (4,129). Ehepartner sollen grundsätz~ lieh ..auf rechtliche Weise" miteinander umgehen, ..in Liebe und Bannherzigkeir' einander zugetan seinY Verboten wird die Unzucht (zjna ).68Gemeint ist damit der Geschlechtsverkehr zwischen Personen, deren Ehe~ bzw. Konkubinatsverhältnis nicht gesetzlich ist. Erst wenn vier Zeugen ein solches Vergehen bezeugen, tritt auch die Strafe ein, die aus 100 Peitschenhieben bestehl. 1r9 Die Scharia wird dann als Strafe filr zina' die "Steinigung" festlegen. Die Rolle der Frau besteht in erster Linie darin. Ehepartnerin. Hausfrau und Mutter zu sein. Sure 9.72-73; 57,12 U.a. l>< Sure 2.282: ..ein Mann und zwei Frauen". (>J Sure 2.228. ... Sure 4,34. 67 Sure 30,21 . ... Sure 17,32; 6.151. 6\1 Sure 4,15; 24,2-3: vgl. auch 24.6-9. (>J
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Verschleierung und Absperrung der Frau bringt der Koran in Zusammenhang mit einem Tugendideal, das in gleicher Weise auch die Männer betriffl. 70 Bei Auflösung der Ehe durch Verstoßung der Frau, die dreimal bekräftigt werden muss, hat diese Anspruch auf finanzielle Entschädigung und Absicherung, Außerdem muss eine Wartezeit von drei Menstruationsperioden eingehalten werden, um eine etwaige Schwangerschaft feststellen zu können,ll Ehehindernisse ergeben sich in der Hauptsache auf Grund von Verwandtschaftsverhältnissen (4.22-23), Während ein Muslim eine Jüdin oder Christ in heiraten darf. ist dies umgekehrt nicht erlaubt (5.5). Der Koran spricht sich auch gegen die Homosexualität (4,16; vgl. 7.800 und gegen die ProstitUlion (24.33) aus, Weiters wird vor .,Verdächtigungen" gewamt12 • vor "übler Nachrede.. n , vor "Vedeumdung",14 Zum .,schlechten Verhalten" gehört es ebenso, ..unbekümmert (überheblich) auf der Erde einherzuschreiten",l.1 Verurteil! wird die Unaufrichtigkeit. ..die für das gelobt zu werden wünschen. was sie nicht getan haben",16 Die Gläubigen werden aufgefordert "falsche Aussagen" zu meiden,n Was das Zeugnis insgesamt anbelangt, so betont der Koran. dass es der Wahrheit entsprechen muss. damit jedem Gerechtigkeit widerfährt, auch wenn das Zeugnis ..gegen euch selbst oder gegen die Ehern und die Angehörigen sein sollte",18 Grundsätzlich hat der Prophet die Sozialstruktur seiner Zeit beibehalten, Änderungen gab es nur dort, wo auf Grund veränderter Zeitverhältnisse solche erforderlich waren, So wurde die Blutrache. also "Gleiches mit Gleichem" zu vergelten. im Islam grundsätzlich beibehalten,19 Allerdings wird auch auf eine alternative Dimension verwiesen: "Eine böse Tat soll mit etwas gleich Bösem vergolten werden, Wer aber verzeiht und Besserung schafft. dessen Lohn obliegt Oott".80 .,Nicht gleich sind die gute und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat. die besser ist. da wird der, zwischen dem und dir eine Feindschaft besteht. so, als wäre er ein wannherziger Freund",sl Es zeigt sich demnach in den mekkanischen Suren eine Tendenz. Gleiches nicht wieder mit Gleichem zu vergehen. Diese Aussagen reflektieren die Situation der Muslime in Mekka, wo sie vielfaltigen Anfeindungen. Ungemach und Un-
Sure 33,53ff; 24.3Off. T' Sure 2,228; 65.1. 11 Sure 17,36; vgl. 49.12, wo von den ..Mutmaßungen" die Rede ist. 1) Sure 24.19. " Sure 4.112. " Sure 17.37. '" Sure 3.188. n Sure 22.30. 71Sure4,135. 7'1 Sure 2.178.194; 22.60. 10 Sure 42.40. I' Sure 41.34. 1O
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gerechtigkeiten von Seiten der Mekkaner ausgesetzt waren. In medinischer Zeit wird dann belont. dass - durch die Erlaubnis zum Kampf bzw. zur Verteidigung - Muslime "Gleiches mit Gleichem" vergehen dürfen. Weitere Reformen betra· fen die Sklaverei. die auch in islamischer Zeit beibehalten und dann im 19. Jh. abgeschafft wurde. In 5.90 wird das Wein- und Spielverbot ausgesprochen: den Hintergrund bildet wohl 4.43. wo es heißt: .. Komml nicht zum Gebet. während ihr betrunken seid!"
Rein und Unrein - die Waschungen Bei der Verrichtung des rituellen Gebetes (salat) und anderer religiöser Handlungen muss der Muslim im Zustande der Reinheit sein (4.43: 5.6). Der Islam gchl davon aus, dass es unreine Dinge apriori gibt: Wein und alkoholische Getränke. der Hund. das Schwein. Maita (Aas: ein Tier. das nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Weisc geschlachtet worden ist: nämlich durch das Durchschneiden der Luft- und Speiseröhre. damit das Blut ausrinnen kann), Blut und Exkremenle (5.3). Durch den Kontakt mit diescn unreinen Dingen wird der Mensch verunreinigt: daher ist eine grtindliche vorschriftsmäßige Waschung des ganzen Körpers (große Waschung) nötig. Man unterscheidet die kleine rituelle Unreinheit. sie wird verursacht durch Verrichten der Notdurft, durch Berühren der Haut des weiblichen Geschlechts (außer die beiden Personen stehen zueinander in einem die Heirat ausschließenden Verwandtschaftsgrad). Hier liegen verschiedene Umgangsfonnen zwischen Mann und Frau begründet. etwa die Ablehnung des Handgebens. wenn zwischen beiden die Heirat möglich ist. Die kleine rituelle Unreinheit wird durch eine kleine Waschung (Hände, Mundhöhle. Naseninneres, Gesicht. Hände und Unlerarme. Haare. Ohren. Hals und Füße) entfernt. Die große rituelle Unreinheit wird verursacht durch den Koitus. die MenstnJation und die Geburt (bis 40 Tage nach der Niederkunft). Sie wird durch eine große Waschung. d.h. gründliche Reinigung des ganzen Körpers beseitigt. Im Zustand der Unreinheit darf kein rituelles Gebet verrichtet werden. keine Moschee betreten und kein Koran-Exemplar berührt werden.
Die Sunna des Propheten (hadith) Gemeint sind damit Nachrichten. Überlieferungen (hadir},. pI. alllldifh). die auf den Propheten zurückgeführt werden. Sie beinhahen insgesanu seinen .. vorbildlichen Weg" (sullna: Brauch. Gepflogenheit): seine religiöse Praxis. seine Anweisungen und Verordnungen gegenüber der Gemeinde. seine Stellungnahmen zu gewissen Frage- und Problemstellungen:ja insgesamt seine Lebensweise. ge· meinhin auch als islamischeTradition bezeichnet. Bei den Hadith~Sammlungen (sechs kanonische) handelt es sich gleichsam um Handbücher der islamischen Ethik.
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Über die Autorität und Verbindlichkeit dieser Sunna für den einzelnen Gläubi· gen stellt der Koran klar fest: .,Wer dem Gesandten gehorcht, gehorcht G01t".82 Die Bedeutung des Hadi~h für die muslimische Gemeinde erhellt daraus, dass dieses die heil volle Zeit des Propheten. nämlich seine .,prophet ische Rechtleitung" vergegenwärtigt. Die Befolgung der Sunna des Propheten geht Hand in Hand mit seiner Verehrung, die im Koran bereits grundgelegt ist. wo vom .,schönen Vorbild" des Propheten. 83 seinen "großartigen Charakterzügen"801 und von ihm .,als eine helle Leuchte"85 die Rede ist. Muhammad ist demnach derjenige, der das göltliche Licht in der Welt bekannt macht, wodurch die Menschen zu Gott geleitet werden! Einereigenen Erwähnung bedarf das Hadith bei den ZlVöljerschi;tell. denn hier bekommen die Aussagen der Imame (die Zwölferschiiten zählen insgesamt 12 Imame) rechtsverbindlichen Charakter, weil diese als jene Instanz(,.Lehrinstanz") gelten. die für die authentische Sunna des Propheten bürgen. Die Schiiten (Parteigänger Alis) machen geltend, dass Ali ibn Abi Talib, Cousin und Schwiegersohn des Propheten. der einzige der Prophetengefährten war. der mit Muhammad bluts· verwandt war. Er wurde aber dann an 4. Stelle Kalif, doch sei er der prädestinierte Nachfolger gewesen. Nicht nur seine genealogische Nähe zum Propheten. sondern auch das ihm zuteilgewordene heilsträchtige Wissen von Seiten des Propheten zeichnet somit Ali (aus schiitischer Sicht) als den authentischen Überlieferer der prophetischen Sunna aus. Das entscheidende identitiitsstiftende Ereignis fürdie schiitische Gemeinde war der Märtyrertod Husains am IQ. Muharram 681 bei Kerbela, als dieser sich an die Spitze einer Rebellion gegen die Umayyaden stellen ließ. Husains Märtyrertod wird insgesamt zum Symbol jeglicher Auflehnung gegen ungerechte Herrschaft. gegen gotlwidrige Mächte. Er wurde zur Manifestation von Verdammung und Rettung.ja zujenem heilstiftenden Ereignis. zu dessen NachahmungdieAnhänger Husains aufgerufen sind. Insgesamt geht die zwölferschiitische Lehre davon aus, dass alle 121mame des Märtyrertodes gestorben sind, wodurch ihnen eine gewisse heilsvennittelnde Rolle zukommt. Im Laufe der Zeit hat die zwölferschiitische RiChtung jedoch dem Leiden und Sterben Husains und seiner Gefahrten eine besondere Bedeutung gegeben und in der Folge ritualisiert: Gräberbesuch und Weinen an den Gräbern, Trauerliturgie am 10. Muharram mit Verlesen der Leidensgeschichte. Prozessionen und szenischen Darstellungen. Das sind Aspekte, die das Sunnitenlum nicht kennt. Der Märtyrerkult bzw. die Nachfolge Husains im Auf-Sich-Nehmen von Leiden und Sterben für die gerechte Sache der Schiiten haben bis in die Gegenwart ihre Aktualität nicht verloren. Die Sunna wird so zur Nonn für muslimisches Verhalten, zur Nachahmung der Vorbildhaftigkcit des Propheten, der insgesamt als Ideal-Muslim gesehen wird. Sure 4.80: "gI. 33.36: 58,5: 72.23. J Sure 33.21: "gI. 21.107: 33,56. " Sure 68,4. "Sure 33.45. 12
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Neben dem Koran wurde die Sunna des Propheten nicht nur die Grundlage für die Ausrichtung und GeslaJlung des täglichen Lebens nach dem Beispiel des Propheten, sondern auch die Grundlage für die islamischen Wissenschaften. Im Laufe der Zeil wurden dann Koran und Sunna zu "de facta gleichrangigen Quellen". wodurch sich die Unterscheidung zwischen Offenbarung (Koran) und Inspiration (Hadith) verwischtc. 86 Ihren sichtbaren und genOmllen Ausdruck findet die islamische Ethik in der Scharia (der Weg zur Wasserstelle). Mit dieser, dem idealen göttlichen Geselz. verbindet sich die Vorstellung. dass der gesarnle Lebensvollzug des Menschen gegenüber GOll und der Gesellschaft nach göttlichen Gesetzen geregelt ist Sie ist das Produkt der islamischen Rechtswissenschaft (jiqh) mit ihren vier kanoni· sehen Rechtsschulen und war im 11. Jh. abgeschlossen. Ihre Quellen sind neben Koran und Sunna der Konsens (Übereinstimmung der Rechtsgelehrten in einer bestimmten Zeit über eine bestimmte Fragestellung) und die Analogie. Da sich die Rechtswissenschaft grundsätzlich als die Auslegung des göttlichen Willens versteht. resultiert daraus auch der umfassende Anspruch der Scharia. Die Unterwerfung unter das Gesetz ist daher die Voraussetzung für das Beschreiten des islamischen Heilsweges und der Erlangung des Paradieses. Die Scharia ist jedoch kein kodifiziertes Recht. vielmehr kennzeichnet entsprechend den vier Rechts· schulen die Meinungsverschiedenheit die Rechlsbücher. Sie gliedert sich in die Ritualpftichten (i/xulat). die zwischenmenschlichen Beziehungen (mu 'oma/ar) - Famil ienrecht. Erb-. Eigentums und Vertragsrecht: das Strafrecht (hftdud: GrenzStrafen) und das Verwaltungsrecht. sowie Krieg und Frieden. Weiters unterscheidet man fünf Kategorien. mit denen die menschlichen Handlungen in einem umfassenden Sinn klassifiziert werden: I. Geboten (wadschib). 2. Empfohlen. wünschenswert (malldub). 3. Erlaubt (mubah). 4. Verpönt. missbilligt (makruh). 5. Verboten (llOram). Nach ihrer Rechlsgültigkeit unterscheidet man wiederum gültige und ungültige Handlungen. Diese Einteilung menschlichen Handeins durch rechtliche Kategorien verweist auf die zentrale Bedeutung. die das Recht für die Ethik spielt. Ein unentbehrliches Element für die Rechtsgültigkeit einer Handlung ist die Absichtserklärung. Diese soll garantieren. dass die Riten nie ohne AusriChtung auf Gott vollzogen werden. Zu den ..Grundpfeilern" einer Handlung gehört daher auch das Erwecken der Absicht. ansonsten die Handlung rechtsungültig ist. Der/die Muslimla muss vor jeder rechtsgültigen Handlung - ob rituelles Gebet, Fasten usw. - die Absicht bekunden. dies oder jenes jetzt auszuführen. Dahinter stehl die fundamentale Sicht. dass nicht das äußere Verhalten an sich. sondern die Gesinnung das Wesen einer Handlung ausmache (vgl. 92,17-20). Später jedoch hat man diesen inneren Aspekt einer Handlung in eine rcchtlich·äußere Form gegeben, nämlich das ..Erwecken der Absicht". Daher ergeben sich zwei Komponenten flir das islamische Gesetz. die ethisch-religiöse und die äußerlich-rechtliche Komponente. Hierin liegt ... T. Nagcl. Geschichtc. 84.
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der Grund. warum islamische Gläubigkeit und Frömmigkeit flir Außenstehende oft in einer sehr ambivalenten Gestalt wahrgenommen wird. Man unterscheidet daher zwischen Islam und Iman. Islam meint den äußeren Aspekt der Religion, die vollkommene Hingabe durch Praktizieren der Riten und Befolgen der Gebote. Iman (Glaube) druckt den inneren Aspekt aus. Gerade die Mystiker wurden nicht müde zu betonen. dass dem äußeren Tun auch eine innere Haltung entsprechen muss. Die fünfGrundpftichten des Islam. auch .,Säulen·' genannt. sind: das Glaubens· bekenntnis (schahada). das Pflichtgebet (salat). das Fasten (saum) im Monat Ramadan. die gesetzliche Abgabe (zakal) und die Wallfahrt nach Mekka (haddsch). Jeder geistig gcsunde Erwachsene. der im vollen Besitz seiner Verstandeskräfte ist. also jeder volljährige Muslim. ist zur Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften verpnichlct. und nur er kann rcchtsgültige Handlungen vollbringen. Jusuf al-Qaradawi 17 gehl vom Grundsatz aus: ..Nur Allah allein hat das Recht, zu erlauben und zu verbieten ... Die islamische Sicht weise von halal und haram ist sehr einfach und klar. Sie iSI teil jener großen Verantwortung. die Allah den Himmeln. der Erde und den Bergen anbot und die sie ablehnten. die der Mensch aber annahm. Diese Verantwortung verlangt vom Menschen. daß er die Pflichten erfüllt. die Allah ihm als seinem Stellvertreter auf der Erde auferlegte. und die Verantwortung dafür übernimmt. Diese Verantwortung ist die Grundlage, auf welcher der Mensch von Allah beurteilt und belohnt oder bestraft wird. Wegen dieser Verantwortung hat Allah dem Menschen Verstand. Willenskraft und Willensfreiheit gegeben und Seine Gesandten und Schriften gesandt. Es steht dem Menschen nicht an zu fragen: •Warum ist dieses halal und jenes haram? Warum kann ich nicht tun. was ich will?'. denn genau das ist ja die Prufung seiner Willens· und Handlungsfreiheit." Kapitel 2 befasst sich mit halal und haram im Privatleben des Muslims (Es· sen und Trinken. Kleidung und Schmuck, die Wohnung. Arbeit und Erwerb des Lebensunterhaltes). Kapitel 3 handelt von halal und haram in Familie und Ehe. Kapitel 4 beschreibt halal und haram im täglichen Leben des Muslims (Glaube und Sitten, Geschäftliches, Erholung und Spiel, soziale Beziehungen. Beziehung mit Nichtmuslimen). In einer umfassenden Weise werden so alle Lebensbereiche des/der Muslimla (privat wie öffentlich) geregelt, sodass es keine Unterscheidung zwischen profan und sakral gibt. "Alle Bereiche des Lebens. wie tägliche Sitten. Dichtung und Kunst, geistiges und kulturelles Schaffen, Handel und Gewerbe. Politik und Wirtschaft, sind mehr oder weniger eng mit der Religion verbunden gewesen. so daß keine Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen zustande gekommen ist. Selbstverständlich wird in gewisser Hinsicht zwischen diesen beiden Bereichen unterschieden. Diese Unterscheidung bedeutet jedoch keine Trennung in zwei voneinander begrenzte Wirklichkeitsbereiche. Das Weltliche ist vielmehr dem Geistlichen untergeordnet und erhält eben dadurch seinen n J. AI-Qamdawi. Erlaubtes und Vcrbou:nes im Islam. München 1989. 19.
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Sinn und seine Erfüllung. Alles wird also von der Religion umfaßt. durchdrungen oder doch zumindest gefarbr".11 Seit dem Eindringen des westlich säkularisierten Denkens in die islamischen Gesellschaften wird diese traditionelle islamische Identität immer mehr in Frage gestcllt und durch ..Unislamisches" (bid'a. euerung) überlagert. Daher ergibt sich die Suche der islamischen Gesellschaften nach der eigenen Identität. Der Fundamentalismus bzw. Islamismus zumindest sieht diese durch die strikte Rück.kehr zu den eigenen Traditionen wieder gewährleistet.
Die Stellung der Nicht-Muslime Das religionsplurale SpcklrumArabiens. mit dem es der Prophet zu lun haue. nennt Juden. Christen. Zoroastrier. Sabier und Polytheisten (2.62: 22.17). Die Paleue der Haltungen, die der Koran vor allem mit Juden und Christen verbindet. sind vielfallig und oft divergierend. Nach der Gesamtsicht des Koran sind Juden und Christen als Andersgläubige einzustufen, da sie sowohl am Glauben als auch am Unglauben Anteil haben. Den Polylheisten.dieden Propheten zeitlebens bekämpft hauen. komml kein Existcnzrcchtzu. Denn ihrGlaubean viele Götter ist laut Koran ein Vergehen. das nicht vergeben wird. Freilich wird das islamische Recht später zwischen arabischen und nicht-arabischen Polytheisten unterscheiden. Durch die Lehre der Gouessohnschaft Jesu und der Trinität haben die Christen auch Anteil am Unglauben." Da aber der Koran bzw. die Verkündigung des Propheten die jüdische Torah und das christliche Evangelium grundsätzlich bestätigt (5.48(0. woraus dann auch eine gewisse Religionspluralität gefolgen wird. die sich aber in der Gesamtsicht des Koran nicht durchgesetzt hat, gehen Juden und Christen als Schriftvölker (a'" al·kirab). Als solche können sie. wenn auch der Heilsanspruch ihrer Religionerloschen ist- ..Die Religion bei Gott ist der Islam"90 -. ihre Religion beibehallen. denn .,Es gibt keinen Zwang in der Religion".91 Im islamischen Gesetz werden dann detaillierte rechtliche Regelungen bezüglich des legalen Status der Andersgläubigen. aber auch der Polylheisten getroffen. Den Schriftbesilzem kommt der Status von ..Schutzbefohlenen" (dhimmi) (9.29-30) zu. Ihr Leben und Eigentum werden vom islamischen Staat geschützl. sie dürfen ihre Religion und ihre Riten ausüben. wenn auch mit Beschränkungen. Sie verfügen über eine eigene Gerichtsbarkeit. Dafür haben sie als Gegenleistung eine Abgabe (dscllizya) zu leisten. Die Behandlung dieser Schutzbefohlenen im Laufe der Jahrhunderte unter islamischer Herrschaft ist nicht auf einen Nenner zu bringen. zu vielniltig war die Praxis.
• H. Aigar. Zur Frage des Siikularismus in der islamischen Weh. in: Glauben an den einen Gon. Hg. von A. Falaturi und W. Suob.. Freiburg 1975. 130-156. " Sure 5.17.72.73.116-117; 9.30. .. Surt' 3.19. • 1 Surt' 2.256.
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Aufdereinen Seite wurden Juden und Christen verschiedenen Repressalien und Diskriminierungen ausgesetzt, andererseits erlangten sie hohe Stellungen in der Gesellschaft. Insgesamt aber waren sie nicht mit den Muslimen gleichgestellt. denn "Der Islam herrscht und wird nicht beherrscht". Der dhimma-Status wurde dann in der Folge auch auf Hindus und Buddhisten ausgedehnt. Aber die Meinung der Gelehrten geht hierbei auseinander, ein Faktum, von dem der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen bis heute zeugt. Wenn auch die modernen Nationalstaaten ihre Staatsangehörigen grundsätzlich nicht nach religiösen Kriterien unterscheiden, so werden wohl gewisse Traditionen des dhimma-Status bis heute weitertradiert: so etwa das Eheverbot einer Muslimin mit einem nichtmuslimischen Mann, der Ausschluss von Nichtmuslimen aus der gesetzlichen Erbfolge usw. Ähnlich verhält es sich auch mit der Religionsfreiheit, die grundsätzlich nur den Angehörigen der Schriftreligionen zukommt, rur eine(n) Muslim(a) aber immer noch eine Hürde darstellt, wie die Menschenrechtsdebatte bzw. die konkrete Praxis zeigt. Die Auseinandersetzungen des Propheten mit Juden, Christen und Polytheisten haben im Koran vielfältige Spuren hinterlassen. die unterschiedliche Haltungen angeben: vom friedlichen Nebeneinander in mekkanischcr Zeit (,.Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion"1I2 ) bis zum Kampf in medinischer Zeil (.. Kämpft gegen sie. bis es keine Verführung mehr gibt und bis die Religion nur noch Gott gehört" 93 ). Religiöse Pluralität lässt sich im Islam nicht von der gesellschaftlichen Pluralität trennen. Ausschlaggebend ist hierfür das breite Spektrum des Koran. Die Vielstimmigkeit der koran ischen Aussagen beruht auf unterschiedlichen zeitbedingten Situationen, den damit verbundenen Personenkreisen und ihren situationsbedingten Aktionen. Der Koran reflektiert hierbei vielerlei situations- und umstandsbedingte Verhaltensweisen. Die entscheidende Frage ist. welches Stadium, welche Haltung. welche Direktive letztgültig als religiöse, moralische oder gesellschaftspolitische Norm gelten kann. 1st es das letzte Stadium. die totale Niederkämpfung der Feinde des Islam, die Errichtung einer islamischen Herrschaft. damit Muslime nicht mehr angefeindet werden? Denken wir an das Dschihad-Konzept. die Einteilung der Weh in "Gebiet des Islam" und ..Gebiet des Krieges". die Diskussion über den Dschihad, ob er defensiv oder offensiv zu führen ist? Oder aber liegen die Aussagen über ein normiertes gesellschaftliches. moralisches und religiöses Verhalten in jenen Koranversen. die von einer gewissen gesellschaftlichen und religiösen Pluralität sprechen? Mit anderen Worten: Entspringt das medinische Modell bloß einer bestimmten Zeitsituation. wobei dann auch den einzelnen Akteuren und ihren Handlungsmustem zeitbedingter Charakter zukommt und diese somit nicht mehr J: I in einen anderen Zeitkontext übertragbar sind? Oder aber ist dieses Modell allgemeingültig und beispiel- und normgebend für alieZeiten? Damit im Zusammenhang steht auch das Problem der Abrogation. Natürlich steht im Hintergrund das alles beherrschende und normieSure 109.6. tJ Sure 8,39: 2. 19Of.
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fcnde Vorbild und Beispiel des Propheten, wie es die Hadith-Literatur überliefen und das nachzuahmen der/die Muslimla aufgerufen ist. An den ethischen. moralischen und religiösen Direktiven, die der Koran gegenüber den Nicht-Muslimen geltend macht. scheiden sich heule die muslimischen Meinungen; vor allem. was als nannierend zu gellen habe. Insgesamt kommt aber der rechtlichen Perspektive noch immer eine gewichtige Rolle zu.
Bewertung des menschlichen Tuns in der Theologie Infolge der Übersetzungen VOll Werken des griechisch-hellenistischen WissenschafIserbes aus dem Griechischen und Syrischen (Naturwissenschaften. Medizin und Philosophie) ins Arabische seit dem 8. Jh. wurden die Muslime auch mit der hellenistischen Philosophie· und Elhik~Tradition des Neuplatonismus bekannt. Da die Nicht-Amber auch hellenistisch-intellektuelles Gedankengut in den Islam einbrachten. fanden so auch die Denkschemata der griechischen Philosophie und Ethik. wie sie von den Syrern und Iraniern schon lange Zeit rezipiert wurden. Eingang. In der Umayyadenzeil wurde die Frage nach der menschlichen Entscheidungsfreiheit oder aber der göttlichen Vorherbestimmung (die beide im Koran unvennitlelt nebeneinander stehen) insofern aktuell. als diese Frage nun politische Implikationen bekam. Die Umayyaden rechtfertigten ihren Anspruch auf das Kalifat. indem sie behaupteten. dieses sei ihnen von Golt verliehen worden. Damit war jegliches politische Handeln des Kalifen als ..Stellvertreter Gottes'; gerechtfertigt. Insgesamt ist diese Prädestinationslehre auch von vorislamischen Gedanken geprägt. Dagegen erheben sich die Qadariten (qadar: Mächtigkeit). die von der Souveränität Gottes ausgingen. daneben aber auch dem Menschen eine Eigenbestimmung (qadar) zusprachen. Damit pochte man auf eine individuelle Heilsverantwortlichkeit, die für das Böse den Menschen selbst verantwortlich macht und nicht Gott. Gute Taten kommen von GOll, böse Taten aber vom Menschen selbst, wie es in Sure 4.79 heißt. Ihre Gegner aber gingen von den prädestinatorischen Aussagen des Koran und der Tradition aus: Neben dem irdischen Schicksal (Lebensunterhalt und Todestermin) und dem jenseitigen Heil (verdammt oder selig) gilt auchjegliches Handeln als vorherbestimmt. Die Qadariten konnten sich jedoch nicht durchsetzen, wohl aber fand ihr Denken bei den rationalen Theologen. den Mu 'taziliten. eine Fortsetzung. Diese erhoben die menschliche Vernunft zur obersten Instanz und gingen von einem Kausalzusammenhang zwischen dem menschlichem Tun und dem jenseitigem Schicksal aus. indem sie die Eigenverantwortlichkeitdes Menschen betonten. Die Disputation innerhalb der rationalen Theologen bewegte sich in der Haupt· sache um zwei Grundprinzipien: die Einheit Gottes und seine Gerechtigkeit. Mit dem zweiten Prinzip verbindet sich die Behauptung. dass dem Menschen Willensfreiheit bzw. exakter Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. festgelegt in der Offenbarung. zukomme. und damit auch Heilsveranlwortlichkeit. Nach mu'tazlilischer
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Sicht gehen daher jeglichem menschlichem Tun MOlive und Willensakte voraus, über die Rechenschaft abzulegen ist. Geschult mit dem rationalen Werkzeug der griechisch·hellenistischen Philosophie und Metaphysik behaupteten sie. dass das Sittengesetz eben nicht durch Gott festgelegt sei, sondern sich aus der Natur- und Seinsordnung ergebe. Da nun die guten und die bösen Handlungen nicht durch die Offenbarung die Wertung ..gut" oder "böse" bekommen, habe die menschliche Vernunft die Möglichkeit. diese fundamentale Unterscheidung auch ohne Offenbarung. also nur mit Hilfe des Verstandes vorzunehmen. Der übertriebene Rationalismus. dem die Mu'taziliten huldigten, zeigte gleich· zeitig auch die Grenzen der Vernunft auf. Sie wird offensichtlich am Beispiel unschuldigen Leidens. Außerdem widerspricht die Annahme einer absoluten Verantwortung des Menschen zentralen Aussagen des Koran, wonach GOIt als der alleinige Ursprung alles Geschaffenen bezeichnet wird. Nach Meinung der Traditionalisten, die wiederum von der gÖlllichen Vorherbestimmung ausgehen. lässt die Allmächtigkeit und Allwissenheit Goltes die Eigenmächtigkeit des Menschen gar nicht zu. wie sie von Seiten der spekulativen Theologen behauptetet wurde. Gott tut sowohl das Gute als auch das Böse. Heute leben die rationalen Prinzipien des Mu'tazilitismus bis zu einem gewissen Grad bei den Schiiten und bei den Refonnmuslimen der Gegenwart fort. 94 Eine Venniulerposition zwischen rationaler Theologie und religiösem Traditionalismus nimmt al-Asch -ar; (gest. 936) ein. Er gesteht der rationalen Methode für sich keine Eigenständigkeit zu. sondern nur innerhalb des Rahmens. den die Sunna festlegt. 9S Mit al-Asch'ari und seinen Schülern kristallisiert sich im 10. und 11. Jh. endgültig das sunnitische Denken heraus. das der Schöpfung und dem Menschen jegliche Eigenmächtigkeit abspricht. Alles Geschaffene, alles Geschehen, somit auch alles menschliche Handeln einschließlich des Handlungsvennögens werden nach dieser Lehre in jedem Augenblick von Gou verursacht. Jegliche Kausalverbindung, auch die zwischen menschlichem Handeln und dem Urteil Gottes beim Jüngsten Gericht. wird verneint. Was wir als Kausalgesetze bzw. Na· turgesetze bezeichnen. sind nach dieser Lehre ..Gewohnheiten Gottes". die jeden Augenblick veränderbar sind. Alles Existierende entspringt somit einer ständigen Neuschöpfung Gottes. Die asch'aritische Attributenlehre hatte auch Konsequenzen für die Scharia, denn nach dieser Lehre ist das ,.sprechen" Gottes ein von Ewigkeit zu Ewigkeit innewohnendes Wesensauribut Gottes. Die Einzelbestimmungen des Gesetzes müssen daher von jeher in ihrer Gesamtheit potentiell in Gott vorhanden sein und auch für alle Zukunft gelten. Sie sind also nicht in der Zeit entstanden, wie die Mu'taziliten behaupteten (die ,.Erschaffenheit" des Koran). werden aber wohl unter bestimmten Zeitbedingungen wirksam. Damit stellt sich das Problem der Geschichtlichkeit der Scharia.
'*' T. Nagel. Geschichte.
145fT. .., T. Nagel. Geschichte. 148.
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Das asch'aritische Denken ist völlig ungeschichtlich, weil alles diesseitige Ge~ schehen injedcm Augenblick von GOlt abhängig ist. Allen Vorgängen im Diesseits kommt keine eigenständige Entwicklung zu. Dies ist auch der Grund dafür. dass sich im Sunnitcntum, auch in der Gegenwart, immer wieder Tendenzen zeigen, geschichtliche Entwicklungen zu ignorieren und den .,heilvollen Anfang" absolut zu selzen. 96 Wenn das Jenseitsschicksal vorherbeslimmt iSI, dann kann das Vollbringen von gUlen Taten letztendlich keine Rettung herbeiführen, wie dies die Mu'tazililen in extremer Weise betonten. Um noch einen letzten Rest von Verantwortlichkeit dem Handeln des Menschen zukommen zu lassen. haben alAsch 'ari und seine Schüler die Meinung vertreten, dass der Mensch beim Erwerb (kasb, ikrisab) der vor ihm liegenden, von GOIt geschaffenen Handlungen etwas Eigenes zur Tat beitrage. Was bleibt nun aber von diesem letzten Rest an Eigenverantwortlichkeit, wenn auch das Vermögen. die von GOll geschaffene Handlung zu .,erwerben", von GOll im Augenblick der Handlungerschaffen wird? Zumindest sah man im ..Enverben" der Tat (kasb) "die eigentlich selbstveranlwortliche Tat des frei handelnden Menschen", seine ..moralische Verantwortung" ,91 Scit dcr Kolonialzeit hat sich immer mehr eine Tendenz durchgesetzt. welche die menschliche Freiheit bejaht. Der Glaube an die göttliche Vorherbestimmung wurde zwar theoretisch aufrechterhalten. praktisch aber geht man von der Annahme einer menschlichen Willensfreiheit aus. indem man folgendes Koranwort als für das Handeln richtungsgebend nimmt: .,Gott verändert nicht den Zustand eines Volkes. bis sie selbst ihren eigenen Zustand verändern",98
Mystische Lebenswelt Die islamische Mystik ist als eine asketische Bewegung (innerhalb derQadariyya) ins Leben getreten. Mit ihr verbindet sich ein asketisches Frömmigkeitsideal. das gekennzeichnet ist von persönlicher Goltesliebe, Weltentsagung, Annut und Askese. Das beherrschende Element dieser Frömmigkeit war die bange Erwartung des Jenseits, also dessen. was nach dem Tode kommt. Das war die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Die Annul wurde nicht um ihrer selbst willen erstrebt, vielmehr stand sie im Zusammenhang mit einer Haltung dem Diesseits gegenüber, das unter dem eschatologischen Aspekt entwertet isl. Sie drückt sich in der Zufriedenheit mit dem aus. was GOIt uns beschert haI. Wer nach dem Jenseits trachtet und auf GOll vertraut, dem wird das Diesseits automatisch zukommen. Das riChtige Verhalten des Gläubigen ist demnach ein Auskaufen der Zeil mit guten Werken, mit Taten des Gehorsams, um so dem Zorn Goues zu entgehen. Entscheidend ist die innere Haltung zum Diesseits und zum Jenseits. die eine religiöse Selbstkontrolle etfordert.
T. Nagel. Geschichle. 155. '" P. Antes, Ethik und Polilik im Islam. Stuugal1 1982.2001,22-23, • Sure 13,11. 'lII
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Ein Wandel im Gottesbild, vom strengen Richtergotl zum Gott der Sehnsucht. bedingte in der Folge, dass sich die religiöse Ethik stärker in eine Gefühlsethik wandelte. die zum Ziel die unio mystica, die Vereinigung mit der Gottheit haue. Voraussetzung dafür ist das ..Entwerden" (falla'). Dieses meint zunächst ein .,ethisches Entwerden", nämlich Selbstlosigkeit und das Ich-los-Sein. Der Mystiker gibt seine Eigenschaften auf. indem er die Eigenschaften Gottes annimmt. Hier ist die Umwandlung des Liebenden auf der Ebene der Attribute gemeint. Die Mine aller mystischen Bestrebungen bildet daher der Pfad. der durch die Wegstationen (maqam, pI. maqamar) und Seelenzustände (hai, pI. halar) beschrieben wird: Umkehr. Verzicht. Armut. Geduld. Gottvertrauen. Zufriedenheit. Liebe, Furcht. Hoffnung. Sehnsucht. Vertrautheit. das Schauen usw. Diese Wegstationen sind nach al-GI/azoli Voraussetzungen dafür. ,.daß man durch sie einen der beiden Grundpfeiler der Liebe, nämlich die Leerung des Herzens VOI11 NichtgöuJichen. gewinnt".'19 Die Aufmerksamkeit soll ständig dem ,.großen dschUuu/". dem Kampf gegen die Triebseele (Ilals) gelten. Das ist der Kampf gegen jene Seele...die das Böse gebietet". 'oo eine Vorstellung, die im Sinne des sufischen Empfindens von Sünde im Sinne von "Gewissen" interpretiert werden kann. IOI .. Mystisches Entwerden" meint sodann "Entwerden in der Schau". in der sich die Seele aus dem Gemngnis des Leibes befreit und wieder in das urewige Licht Gottes zurückkehrt. Das. worin man ..entworden" ist. ist zugleich auch das. worin man weiterbesteht (baqa·). Es ist vor allem ein Motiv. das dieses .,Sterbt. bevor ihr sterb.... diese ..Vernichtung" in der Vereinigung des Liebenden mit dem Geliebten symbolisiert: nämlich die Metapher vom Aammentod des Falters. Der Liebende hat keine Existenz mehr: er hat sich gänzlich dem Willen des Geliebten hingegeben. Erreicht wird dieser Zustand durch das ständige Gaugedenken (dhikr), laut oder schweigend. durch das Ausschalten des Ich-Bewusstseins und durch das Ersetzen des Bewusstseins von Gau. Der d"ikr verwendet verschiedene Formeln. vor allem ..Allah" und seine ..schönsten Namen". Weitere Praktiken. die zur Ekstase (wad:"c"d/wudsc"ud: das Finden/Gefunden werden) führen sollen, sind das Musikhören und der Tanz (sama '). wobei aber beide in der islamischen Tradition sehr ambivalent beurteilt werden. Um einen Meister (scJraych, pir) sammeln sich Schüler (mudd). Dieser leitet sie zu einem geläuterten Lebenswandel in der Nachfolge des Propheten an. So entstanden im 11. Jh. verschiedene Sufi-Orden, in einer Zeit. als der Kalif seines Anspruches. das Verhältnis von Prophet und Gemeinde weiterzuführen. verlustig ging. Sufi-Orden und Bruderschaften wurden zu geistigen Führern der Muslime. zu jener Instanz. die für das authentisch islamische. ethische und moralische Ver-
• R. Gramltch. Muhammad AI-Gtlazza]is Lehre von den SlUfc:n zur Gollcsliebc:. Wiesbaden 1984.671. Sure 12.53. .., R. Schutze. Das Böse in der islamischen Tradition. In: J. Laube (Hg.). Das Böse: in den Weltreligionen. Dannstadt 2003. 131-200.
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halten garantiert. Denn sie haben den Konflikl2.wischen äuBerem Tun und innerer
Haltung gelöst
Philosophische und religiöse Ethik Im 9. Jh. erfasst die Bildung (adab) immer weitere Kreise im Volk. Vor allem das Eindringen des hellenistischen Bildungs· bzw. Kulturgutes hat hierfür einen entscheidenden Anstoß gegeben. Fragen des richtigen Verhaltens und Moralvorstellungen werden im Lichte von islamischen Nonnen beantwortet. Der Adab. ein Kultur und Bildung umfassender Begriff, ist im städtischen Milieu entstanden und meint einmal die gute Erziehung. gute Umgangsformen und Höflichkeit. Weiters wird damit auch das entsprechende allgemeine Bildungsgul in den Profanwisscn· schaflen bezeichnet: Dichtung und Musik. Grammatik. Rhetorik und geSChichtliche Überlieferungen. Derjenige. der darüber verfügt. ist ein Adib. Somit wirdAdab zu einem .. Ideal von der HtWUllli1(lS;' .102 Mil dem Adab als Bildungsgut verbinden sich ursächlichjenearabisiencn und islamisienen Beamten. welche die kulturellen Traditionen ihrer Völker in das arabische KuhuTSchaffen einbringen. Wenn es auch das ganzheitliche Denken im Islam nichl erlaubt. gewisse Bereiche isolien zu nehmen und ihnen Eigengesetzlichkeil zuzusprechen. so hat doch die Verarbeitung des griechisch-hellenistischen Erbes im Islam im ethischen Bereich erkennbare Spuren hinlerlassen. wovon die Literaturgattung des Adab zeug!. Gerade in der Adab-Lileralur wird die Einheit von Ethik und Religion ..als Einheit von Leben und Glaube ausgelegt. so daß Offenbarung und kulturelles Erbe zu einem Ganzen verschmelzen und durch die jahrhundenealte Überlieferung als untrennbar eines empfunden werden". IOJ Andererseits zeigl die Anwendung der Scharia im Laufe der Jahrhundene. dass sich die Herrschenden Bereiche herausgenommen und beanspruchl haben. die sie ihrem politischen Kalkül unterwarfen. sodass die idealisiene Einheil von ..Religion und Staat" eher Iheorelisch als praktisch existiene. Insgesaml sind vom 9. Jh. an Sammlungen von Weisheitssprüchen in Umlauf. die viel griechisches Gedankengul enlhalten und die Enlwicklung einer philosophischen Ethik bewirkten. Nichl nur die literarische Qualität. sondern auch der moralische Anspruch dieser Aphorismensammlungen machten sie für eine breite Öffentlichkeit anziehend. Am bedeulendsten für die Enlwicklung einer philosophischen Elhik wurden jene Schriften. die Galenus. Porphyrius. Arisloteles und anderen zugeschrieben und ins Arabische überselzt wurden. Diese Schriften hatten eine direkle Wirkung auf die Moralphilosophen und auf die rationalen Theologen und bestimmten ihre Ansichten über die Natur des moralischen Handeins. Das waren Überlegungen über richtig oder falsch. Tugendhaftigkeit und Glück. über Prüfen und Enlscheiden und den damit verbundenen Fragestellungen. Den AusJ. Behrens.Abouscif. Schönheil in der Arabischen Kuhur. München 1998. 95. MlJ P. An1C$. Elhik. 1982.43.
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gangspunkt für diese Erörterungen bildet die antike Seelenlehre von Platon und Aristoleles. Durch die Seele erlange der Mensch Kenntnisse über die Dinge und begehre sie in der Folge. was wiederum Auswirkungen auf sein Verhalten habe. Die platonische Dreiteilung der Seele (rationaler. affektiver und begehrlicher Seelenteil) wirkt nicht nur bei Aristoteles weiter, sondern bildet auch jene Basis. die dann bei den islamischen Autoren unterschiedlich weiter entfaltet wurde. Am nachhaltigsten wurde die islamische Ethik von der Nikomachischen Ethik des Aristoteles beeinflusst. Sie wurde übersetzt von Ishaq Ibn Huna)"11 (gest. 911) und kommentiert durch al·Farabi (gest. 950). Ibn Ruschd (gest. 1298) und anderen. Den Eindruck. den man von der philosophisch ethischen Literatur nach Fakhry'Ool gewinnt. ist der eines "selbständigen Forschungszweiges. den die Offenbarung durchaus bestätigen kann. dessen Prinzipien und Regeln aber einmal für sich selbst auch ohne Offenbarung gültig sind". 1m Mittelpunkt von al-Farabis Ausführungen 1M steht daher die Lehre von den drei Seelenkräften nach Aristoteles. wobei der ..vernünftigen Seele" eine beson· derc ethische Funktion zukommc. Denn durch sie denke und überlege der Mensch und bringe so die Wissenschaften und die Künste hcrvor. Tugend entsteht nach al-Farabi - gemäß der Darstellung von Aristoteles - in uns durch Gewohnheit und durch die Natur. Diese Tugend wird weiter eingeteilt in moralische und intellektuelle. Der Mensch sei bei der Gebun weder mit tu· gendhaften. noch mit lasterhaften Charakterzügen ausgestattet. aber er könne mit einer natürlichen Veranlagung rur ein tugendhaftes oder ein lasterhaftes Verhalten disponiert sein. Diese Disposition könne sich dUrch ein entsprechendes Handeln zu einer festen Charaktereigenschaft entwickeln. Im Sinne der aristotelischen Ethik definien er tugendhafte Handlungen als solche. die zwischen zwei Extremen (Lastern) anzusiedeln sind. Die intellektuellen Tugenden teilt er in zwei Gruppen. nämlich in theoretische und reflektierende. Die theoretischen Tugenden SChließen die Intuition, die Kenntnis der WissenSChaft und die Weisheit ein. Die reflektierenden Tugenden umfassen die praktische Vernunft. die Klugheit. die Geistesschärfe, das gesunde Urteil und die gesunde Meinung. Nur die reflektierenden Tugenden eignen sich fUr das Sludium der Ethik oder für die Bestimmung der Richtigkeit einer Handlung. Für al-Farabi wie auch für die anderen arabischen Philosophen (Ibn Sina. Ibn Ruschd) gilt insgesamt der Grundsatz. der bis auf Plotin zurückgeführt werden kann und der davon ausgeht. dass dem Bösen kein eigenständiges unabhängiges Sein zukomme: .,DasGute ist in Wirklichkeit die Vollkommenheit des Seins. es ist das notwendige Sein. und das Böse ist die Abwesenheit jener Vollkommenheir·. '06 Die einzige An des Bösen. die in der Weh existiert, ist demnach das .•freiwillig gewolhe Böse". M. Fakhry. Ethical ~es in Islam. Ltidcn 1994.67. IM M. Fakhry. Elhical. 1994.78-85. .... AI·Farabi. 3Haliqal. 1927. 11: zil. R. Schulze. Das Böse. 167. 000
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Das große Thema der Metaphysik Ibn Si"as (980-1037) ist insgesamt dem Weg der Seele gewidmet. Daher nennt er sein philosophisches Hauptwerk "Die Heilung". nämlich die der Seele. Medizin. die sich um den menschlichen Körper. und Philosophie, die sich um die Seele sorgen, ergänzen sich folglich. An oberster
Stelle der Seelenkräfte steht die Vernunft. Letztes Ziel dieser Vemunftseele sei es. heilbringende Erkenntnisse zu gewinnen. um Stufe fur Stufe wieder zu ihrem Ursprungsort zuriickzukehren und so den Emanationsprozess umzukehren. Nach dem von den Neuplatonikern übernommenen Emanationsmodell geht die Welt aus einer einzigen Ursache auf triadische Weise durch den Intellekl, den Sphärenkör· per und seine Fonn. die Seele hervor. Um sich aus der Weh der materiellen Dinge zu befreien. muss die Seele die niederen Triebe und Leidenschaften beherrschen. Sie muss nach höherer Erkenntnis und nach dem Licht streben. Dieses heilbringende Wissen wird dadurch erworben. indem die Vemunftseele mit dem ..aktiven Intellekt"' (das ist der 10. Intellekt aus dem die Welt des Werdens und Vergehens durch neun Sphären hindurch emaniert) eine Verbindung eingeht. Gemäß Ibn RIIScJul. I07 dem großen arabisch-spanischen Aristoteliker kann die Ethik von lIer Politik nicht getrennt werden. Sie ist daher der erste Teil der praktischen Kunst. ihr zweiter Teil ist die Politik. Der Arten der menschlichen Vervollkommnung gibt es nach Ibn Ruschd vier: die theoretische. die beratende. die moralische und die technische. Die drei letzten sind der theoretischen Vervollkommnung untergeordnet. Grundsätzlich kann man nach Ibn Ruschd davon ausgehen. dass es für ein einzelnes Individuum nicht möglich ist. aJl diese Vollkommenheiten zu erlangen. ohne die UnterstülZung seiner Gefahrten. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit der politischen Zusammenschlüsse. Die drei Tugenden. der Weisheit. der Tapferkeit und dem Maßhalten werden analog dem platonischen Denken der Vervollkommnung aller drei Seelenteile zugeordnet: sie werden den drei Teilen des Staates oder der Stadt (die Philosophen. die Wächter. das Volk) zugeschrieben. Die vierte Tugend der Gerechtigkeit hält die Stadt zusammen.ln diesem Zusammenhang diskutiert er Fragen. wie Tugenden erworben und bewahrt und wie Laster ausgemerzt werden können. Ibn Ruschd geht davon aus. dass es zur Verwirklichung derZiele von Ethik und Politik bei den Bürgern zwei Wege gibt: Der eine ist das Argument. der andere ist der Zwang. Jeder sozialen Schicht entsprächen bestimmte Typen des Argumentierens. die zuerst dargelegt werden müssten. Fürdie große Masse der Menschen sind rhetorische und poetische Argumente geeignet. für einige wenige (Philosophen) die Demonstration. Jede soziale Schicht erreiche die Art der Vervollkommnung gemäß ihrer Natur. Eine dritte Gruppe von Personen. die er als ..Leute der Di· alektik" bezeichnet. setzt er zwischen der rhetorischen und der demonstrativen Argumentation an. Nach Fakhry meine Ibn Ruschd mit dieser mittleren Gruppe die Theologen (murakal/illllln). speziell die Asch'ariten.
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Die religiös~ethische Bedeutung dieser drei Klassen der menschlichen Gesellschaft und die damit zusammenhängende Klassifikation der Typen des Argumentierens besteht für Ibn Ruschd darin. dass es der Religion ennöglicht wird. der gesamten Menschheit die Kenntnis dieser theoretischen und praktischen Wahr· heiten. von denen ihr ewiges Glück abhängt, mitzuteilen. Diese dreifache Klas· sifikation hat aber noch eine weitere Bedeutung, nämlich die Rechtfertigung der Überlegenheit der Leute der Demonstration (oder Philosophen). nicht nur was die Leitung eines Staates anbelangt, sondern auch bezüglich der führenden RoUe in der Interpretation der Texte. Insgesamt will Ibn Ruschd zeigen. "dass dieethischen Werte unabhängig von Gott existieren. dass sie also an sich sind·'.IOll
Vordenker einer Moralphilosophie Ahmad Ib" Muhammad Miskawayh (gesl. 1030) gilt als der bedeutendste Moralphilosoph im Islam. In seinem Werk Tahdhib ol_Akhlaq l09 findet sieh die philosophische Ethik systematisiert. Als Ziel seiner Abhandlung gibt er ein zweifaches an: I. Wie kann jener moralische Charakter oder jene Disposition erreicht werden. mit der man am besten rechte Handlungen tut? 2. Wie kann dies sowohl methodisch als auch systematisch getan werden? Am Beginn seiner Abhandlung steht demnach die Frage nach der Natur und der Funktion der Seele. Für Miskawayhs ethische Fragestellungen (wie auch für jene anderer islamischer Ethiker) geht es grundsätzlich um die Frage nach der Natur und den Bedingungen der Tugenden auf der einen, nach der Erlangung von Glück auf der anderen Seite. Miskawayhs Klassifikation der Tugenden folgt dem platonischen und den spät peripathetischen Mustern. Ausgehend von der platonischen Dreiteilung der Seele bestimmt cr für jeden dieser Teile eine Kardinaltugend: für den rationalen Teil die Weisheit. für den affektiven Teil die Tapferkeit. und für den begeh.rlichen Teil das Maßhalten. Wenn diese Seelenteile harmonisch handeln. entsteht die vierte platonische Tugend. die Gerechtigkeit. Der gemeinsame Charakter jeder dieser Tugenden sei das Maßhalten. Wie Aristoteles sieht auch Miskawayh jede Tugend als eine Mitte zwischen zwei Extremen. Dieses platonische Viererschema der Tugenden wird dann weiterentwickelt. Jede dieser Kardinaltugenden wird zu einem Stamm, wo wieder Zweige von untergeordneten Tugenden eingepflanzt sind. Sie aber spiegeln nicht mehr das aristotelische Schema. Als Unterteilungen der Weisheit gibt er folgende an: Intelligenz. Bewahrung. Klugheit. Klarheit. korrektes Urteil und leichtes Begreifen. Von diesen listenartigen Aufzählungen der Tugenden und ihren Untergruppen ragen zwei hervor: die Gerechtigkeit und die Freundschaft. Miskawayhs Konzept
R. Schulze. Das Böse. 170. 100 C.K. Zurayk. The Refinemenl of Char:lc!cr. A translation from lhe Arabic of Ahmad ibn Muhammad Miskawayh's Tahdhib al-Akhlaq. Beiml 1968. IOJ
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von Gerechtigkeit ist platonisch ausgerichtet. Er definiert sie als "Vervollkommnung und Erfüllung"IIO der drei platonischen Tugenden, nämlich der Weisheit, der
Tapferkeit und des Maßhaltens. entsprechend den drei Teilen der Seele. Viel Platz in seiner Darstellung widmet er der Freundschaft und ihren Ausdifferenzienmgen.
Freundschaft (wie auch die anderen moralischen Tugenden) sollte nach Mis· kawayh als Mine! zur Erreichung des letzten Zieles des Menschen, nämlich des Glücks. begriffen werden. Aber das letzte und größte Glück liege in der intellektuellen Ausrichtung. Darüber hinaus anerkennt er aber noch eine drille höhere Bestimmung. die er als göttlich bezeichnet. wobei hier ein mystischer Zug unverkennbar ist. Ein weiteres Kapitel handelt über "die Kulti'Vierung des Charakters". oder .,'Von der Art wie die 'Verschiedenen Teile der Seele in Harmonie gebracht werden können". Diese Ausführungen sind auf das Hauptziel des menschlichen Tuns gerichtet. nämlich auf das Glück. Tugend und Laster werden analog zu Gesundheit und Krankheit dargestellt. Abschließend resumiert Fakhry über Miskawayhs ethische Ausführungen: 11I Wenn man sich die Art und Weise 'Vor Augen führt. wie Miskawayh stoische. kynische. platonische und neo-platonische. aristotelische und neo-pythagoreische und arabisch-islamische Vorstellungen miteinander 'Verwoben hat. dann kommt man zu dem Schluss. dass dies nur durch die grundlegende Kenntnis 'Von Porphyrius möglich gewesen sei. Denn er gilt als ein umfassender Lehrer der neoplatonischen Ethik-Traditionen. Der große schiitische Astronom und Philosoph Nasir al-Dill al- TIIsi (gesl. 1274)112 schrieb eine Re'Vision 'Von Miskawayhs Tahdhib in persischer Sprache. 11' Er ergänzt Miskawayhs Schrift durch zwei neue Kapitel. nämlich ..Haushaltsführung" und .,Staatskunst". Die Philosophie teilt er in zwei große Abteilungen, nämlich die spekulati'Ve und praktische Weisheit. Diese unterteilt er in Ethik. Haushaltsführung und Politik. Ziel der praktischen Philosophie sei die Erlangung 'Von menschlichem Glück. Der Haushalt beginne als eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau und könne sich möglicherweise in eine Gemeinschaft weiter entwickeln und so Eltern. Kinder, Diener und Gehilfen umfassen. Eine solche Gemeinschaft brauche aber eine Organisation. Er argumentiert. dass die grundlegenden Prinzipien der Regulierung eines Haushalts drei sind: I. Die Bewahrung des Gleichgewichtes des Haushalts, wenn er errichtet ist. 2. Den Haushalt wiederherzustellen. wenn er in Unordnung gekommen ist. 3. Die Förderung des Wohls der einzelnen Mitglieder sowie des gesamten Haushalts als Kollekti'V. In diesem Sinne könne der Haushalt mit dem menschlichen Körper 'Verglichen werden und sein Gebieter mit dem Physicus (Arzt). der sich sowohl um die Bewahrung der Gesundheit M. Fakhry. Ethical. 1994. 113. m M. Fakhry. Elhical. 130. 111 M. Fakhry. Ethical. 131-142. 11) Sie wird benannt nach seinem ismaililischen Patron Nasir ad-Din Abd al-Rahim Ibn Abi Mansur. HeITSCher von Qulislan. nämlich Akhfaq-i Nusiri. 110
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des Körpers als auch um seine Wiederherstellung kümmert. Er sprach nicht nur von den Eigenschaften der Frau. sondern auch von der Haltung des Mannes zu seiner Frau. Dasselbe Thema einer wohlgeordneten Gesellschaft verfolgt er auch im politischen Teil seiner Abhandlung. Von den drei Arten der Regierungsfonnen, die Aristoteles angab (Monarchie. Tyrannei. Demokratie) ist für ihn die Monarchiedie ideale. die er (wie Plato) mit Aristokratie oder mit der ..Herrschaft derTugendhaften" . gleichsetzte. Dies wird mit schiitischen Gedanken verbunden. Daher sei der Monarch mit ..göttlicher Inspiration" ausgestattet und werde als religiöserGeselZgeber bezeichnet. Sein Amt verweise auf den Imam oder auf das spirituelle Haupt der Gemeinschaft. Das höchste Ziel der tugendhaften Stadt ist nach al~Tusi sowohl ethisch. als auch theoretisch ausgerichtet. Es geht darum ..einerseits die Mannigfaltigkeit des Guten zu erreichen und das Schlechte zu eliminieren. andererseits Kenntnisse zu erlangen über den Beginn und das Ende des Menschen".114 Abu I~I-Iasall al-Mawart/i (gcsl. 1058) soll als Vertreter der religiösen Ethik angeführt werden. Sein ethisches Hauptwerk ist At/ab al-D/lII)'a l\Ia d·Dill C.Das riChtige Verhalten in weltlichen und religiösen Angelcgenheiten")lI). Die Vernunft nimmt bei al-Mawardi neben dem Wisseneinen sehr hohen Slellcnwcrtein. ist aber anders ausgerichtet als bei den neuplatonischen Philosophen. Denn sie dient dem Erwerb von praktischem und religiösem Wissen. Seine Darstellung beschäftigt sich nicht nur mit den Regeln des religiösen und weltlichen Verhaltens. sondern auch mit dem persönlichen Leben. Da die religiösen Verpflichtungen auf das Glück der kommenden Welt geriChtet sind. soU man seine Gedanken nicht zu sehr auf das Diesseits konzentrieren. damit man nicht abgelenkt werde. sich nach der künftigen Welt zu sehnen. Auch das Gedenken an die Sterblichkeit sollte breiten Raum einnehmen. Als generelle Regel rtir weltliches Verhalten gibt er an. dass man sich auch bei notwendigen Dingen mäßigt und niemals den Blick auf die jenseitige Weh verliert. Für das persönliche Verhalten beschreibt er die individuellen Tugenden: Bescheidenheit. gute Manieren. Selbstkontrolle. Wahrhaftigkeit. Freigebigkeit: aber auch die sozialen Tugenden wie die Regeln des Sprechens und des Schweigens. Geduld und Tapferkeit. den guter Rat u.a. Die Synthese erfolgte durch al-Ghazali (gest. 1111). der in seinem Denken. bedingt durch die Stationen seines Lebenslaufes. sowohl das spekulative (im Gefolge der rationalen Wissenschaften). als auch das praktische Denken vereinigtlll>. Daher treffen wir bei ihm auf eine Zusammenschau der herrschenden islamischen Lehren. indem er das philosophische. das religiöse und das mystische Denken zu einer Synthese vereint. Nach Schulze 1l1 geht es aJ-GhazaJi ..mehr als um eine ontologische Bestimmung von Gut und Böse". denn Gut und Böse seien bereits ..beschlossen·· und niemand könne ihr Eintreffen verhindern. Für al-Ghazali sei M. Fakhry. Elhical. 139. m M. Fakhry. Elhical. 158ff. ,.. M. bkzouk. AI-Ghaz.alis Philosophie im Verglekh mil Descancs. FrankfunlMain 1992. III R. Schulze. Das Böse. 2003. 174(. 110
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über das Böse "nur aus der Erfahrung her zu sprechen", Daher analysiert er die Kr.ifte der Seele analog zu Ansloleles und zu Avicenna. Da aber die leLZte Quelle des Wissens Gou sei. müsse sich die Seele durch Reinigung in ständiger Bereitschaft halten. um die göuliche Erleuchtung zu empfangen. AI-Ghazalj zeigt auch den praktischen Weg auf. wie mit den bösen Neigungen der Seele umzugehen sei. nämlich durch einen Prozess des Trainings und des Kampfes, was wiederum auf die grundsätzliche Ausrichtung des mystischen Weges hinweist. den er als eng verbunden mit einer moralischen Lcbenspraxis hält. Das Wesen von al·Ghazalis Ethik besteht daher in der Auffordenmg. dass die Seele ständig Gott suchen soll, um seiner Nähe teilhaftig zu werden.
Zakat und Wirtschaft.ethik ZLJkal hat die Bedeutung von ..sich reinigen. läutern", indem man Almosen gibt. Almosen. Reinheit Almosensleuer. Armensteuer und SoziaJslcuer sind Begriffe.
die dieses Phänomen ausdrücken. Ramadan-Faslen und AJmoscngebcn werden daher heute gerne miteinander verbunden. Wir bewegen uns anhand dieser beiden ..Säulen" des Islams in einem Bereich. der sowohl die geislig-seelische Komponente des Menschen. als auch die sozial-ethische Seile in gleicher Weise berührt. Muslime betonen daher nicht nur den sozialen. d.h. den äußeren Aspekt des Ramadan-Fastens und des Almosengcbens. sondern auch den inneren Aspekt den der Läuterung. der Reinigung. Hierbei kommt zum Ausdruck. dass muslimische Frömmigkeit einen umfassenden Anspruch haI. also nicht nur mit der Beziehung des Einzelnen zu GOlt zu tun hat. sondern auch mit der Verantwortlichkeit gegenüberdem Mitmenschen. Diese soziale Verantwortlichkeit nimmt die Form von obligatorischem Almosengeben und freiwilliger Mildtätigkeit an. In medinischer Zeit wurde das Almosengeben zu einem muslimischen FOrsorgesystem. bei dem jene. die zusälZliche Einkünfte hatten. mit denen teilten. die nicht genug halten. Im Lau· fe der Zeit wurde der vom Koran erwähnte ..Überschuss·· I1 • anders inlerpreliert. für jede Art von Besitz wurde ein zu versteuernder Mindestsatz festgesetzt. Der Koran enthäll zwar eine Liste der Empfanger der muslimischen Almosen (9.60). gibt aber wedereinen Hinweis auf die Art des Besitzes, der zu besteuern ist. noch auf den Prozentsatz der Steuer. Den Hadithell und dem späteren islamischen Recht zufolge ist die Zakat flir Getreide. Obst. Viehbestand. Edelmetalle (Gold und Silber) und Handelswaren zu entrichten. wenn ein bestimmtes nach Vermö· gensarten differenziertes Minimum überschritten wird. Grundlage fLir Zakat ist somit das jeweilige Nelt
11' Sure 2,219. I"
V. Nicnh:llIs, Islam und modeme Winschafl. Gral. 1982, I83ff,
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(chafifa) Gottes bloß anvertraut. um ihn zu nutzen und zu verwalten als ..Nutz-
nießung für eine Weile".lzo Außerdem: "Gon teilt den Lebensunterhalt großzügig, wem Er will, und auch bemessen zu". 121 Die Rolle, die der Zakat heute bei der Arn1Utsbekämpfung zukommt. geht davon aus, dass der Islam gewisse Regeln festlegt, den Reichtum so zu nutzen. dass man das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft im Auge behält. In einigen islamischen Ländern wird heute Zakat auf gesetzlicher Basis vom Staat eingesammelt. wobei hier aber nicht alle Bereiche. die der Zakat·Pfticht unterliegen. von der staatlichen Administration erfasst werden können. Manche werden daher dem eigenen Gewissen überantwortet. Andere Länder wiederum haben private Institutionen für die Sammlung der Zakat auf freiwilliger Basis eingerichtet. Fast in jedem Land übernehmen Moscheen. islamische Organisationen oder Einzelpersonen die Verantwortung. die Zakat ein· zu sammeln und zu verteilen. Die Hauptzielgruppe der Zakat bilden die Annen und Notleidenden. In zeitge· nössischen Studien zur Bekämpfung der Armut wird empfohlen. "dass jedes Land ein angemessenes soziales Sicherheitsnetz braucht. um die aufzufangen. die der Markt ausschließt". I22 Heute besteht das Problem darin. dass das Einkommen aus der lakat in den meisten muslimischen Ländern nicht einmal dazu ausreicht. um alle Annen mit ihren Grundbedürfnissen auch nur für ein Jahr zu versorgen. Daher erfolgt meist eine Kombination von sofortiger begrenzter Hilfe für die Annen und einer Langzeitversorgung. Viele zeitgenössische Gelehrte befürworten daher die Ausweitung der Zakat· Quellen, indem sie von der Tatsache ausgehen, dass sich im Laufe der Zeit vie· le neue Einnahmequellen und Reichtümer herausgebildet haben. die es in der Zeit des Propheten nicht gab. Sie fordern eine Neuinterpretation der Texte und eine Neufonnulierung der Bestimmungen durch eine zeitgerechte Deutung der Rechtsquellen (idscJllilllu/). Die Fragestellung bezüglich Erneuerung der Zakat geht in drei Richtungen: Darf Zakat vom Staat als Steuer in obligatorischer Weise eingezogen werden? Wer sind heute die Zakat-Empfanger? Welche sind die Bemessungsgrundlagen? Yon den Muslimen wird die Zakat als das zentrale Element einer islamischen Sozialordnung bezeichnet. Von daher resultiert die Interpretation als "Sozialversicherung", Diese Deutung werde aber dann problematisch, wie Nienhaus llJ aus· führt. wenn man davon ausgeht. dass die Empfangsberechtigten nicht nur durch direkte Zahlungen begünstigt werden. sondern auch durch Bereitstellung entsprechender Güter und Mittel. So könne die Unterstützung der Armen auch im Sinne der Förderung von Entwicklungsprojekten in Landwirtschaft und Industrie
Sure 2.36: vg1. 57,7. III Sure 13,26. III Zakat und die Milderung der Annu! in der Muslimischen Welt 11. In: al·Fadschr 15/Nr. 90. 1998. 43. IV V. Nienhaus.lslam 1982. 190ft'. IllI
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interpretien werden. In der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Vorstel· lungen von Sozialismus im europäjschen Kontext hat dieser Terminus auch in das Arabische Eingang gefunden als Ischlirakiyya (Sozialismus). Dabei stehen die "Kooperation" und die ..Genossenschaft" im Mittelpunkt. nämlich. der Gedanke des Zusammenwirkens aller zum WohlederGesellschafl. Weiters versteht sich der islamische Sozialismus gerade auch in Abgrenzung zum Kapitalismus und zum Kommunismus als "dritter Weg", Soziale Gerechtigkeit, Gleichheit. Maßhalten und ausgewogene Beziehungen sind daher die ökonomischen Säulen, auf denen die islamische Gesellschaft errichtet werden soll. Im Laufe der Geschichte hat dieses Ideal immer wieder zu refonnerischen und revolutionären Bewegungen geführt. Gerade heute beruft sich der politische Islam auf dieses Ideal einer idealen islamischen Gesellschaft der Anfänge. in der das Interesse des Gemeinwohls und nicht das der Individuen im Yordergrund stehe. Freilich ist gerade das koran ische Zinsverbot (riba: 3,130; 30.39; 2.275-280) umstritten, ob nun Riba bei Gelddarlehen nur Wucherzinsen oder jegliches Zinsnehmen meine. Bei den islamischen Banken geht man heute grundsätzlich von einem Yerbot jeglichen Zinsnehmens bei Gelddarlehen aus. IN Dieses Zinsverbot haI schon in der Tradition vielerlei Umgehungsgeschäfte entstehen lassen. etwa den doppelten Kaufvertrag. Gegenwärtig arbeiten islamische Banken nicht nur mit dem Modell der ..Gewinn- und Yerlustbeteiligung". sondern. da der Handel erlaubt ist. stellen die Banken den Unternehmungen ..nicht mehr die Finanzminel zum Erwerb benötigter Sachgüter bereit. sondern die Sachgüter selbsf'.125 Die islamische Umweltetlrik hat ihre Anstöße von den westlichen Umweltschutzbewegungen erhalten. doch sind die grundlegenden Wertvorstellungen für einen Umweltschutz in den islamischen Quellen selbst gut bezeugt. Diese sind im Koran etwa im Zusammenhang mit den Aussagen über die Schöpfung zu finden. wo der Schöpfung Gottes zeichenhafler Charakter zugesprochen wird (ayll, pI. ayat: Zeichen. Wunderzeichen). Diese Zeichen sollen den nachdenkenden und vernunftbegabten Menschen auf den Schöpfer selbst verweisen. In der hannonisehen Ordnung der Schöpfung sei somit das Wirken Gottes zu erkennen. Daraus resultiert der entsprechende verantwortungsvolle Umgang mit dieser Schöpfung Gottes. denn der Mensch als Geschöpf sei ja selbst Teil dieser harmonischen Schöpfung. Seine Sonderstellung als Stellvertreter Gottes. dem die Erde zur verantwortungsvollen Nutzung (vgl. 2.36) übergeben wurde. bekräftige dies. Damit hängt auch die Aufforderung zu einer maßvollen Lebensführung zusammen. denn ..Diejenigen, die verschwenderisch sind, sind Brüder der Satane" .126 Daher kann
IlA
I~
V. Nienhaus. Islam. 204ft". V. Nienhaus. Islamische Ökonomik in der Praxis: Zinslose Banken und islamische Win-
schaflspolilik. In: Der Islam in der Gegenwart. Hg. von M. EndelU. Steinbach. München 1996. 165ff. 116 Sure 17.27.
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man die islamische Umwellethik in ihrer Grundausrichtung als "theozentrisch bezeichnen·'.127 Auch die Hadith-Literatur enthält viel Grundlegendes über die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Bereits die im Islam verankerten Vorschriften für die rituelle Reinheit (lahara). womit wiederum das "richtige Verhalten" zusammenhängt, verweisen auf den Umweltschutz. Durch das Prophetenwort "Reinheit ist der halbe Glaube" "ist die Notwendigkeit und der hohe elhische Stellenwert einer sauberen Umwelt aus der Sicht des Islam hinreichend beschrieben. wobei für den Menschen unterschieden wird zwischen der inneren und äußeren Reinheit. Beide haben auf das Verhältnis der Gläubigen der Umwelt gegenüber direkten und indirekten Bezug". I28 Auch der Tierschutz ist gut verankert. denn Tiere sind keine Sachen. vielmehr sind sie Mitgeschöpfe. ,.Es gibt keine Tiere auf der Erde und keine Vögel. die mit ihren Flügeln niegen. die nicht Gemeinschaften wären gleich euch". 129 Eine Fülle von überlieferten Worten des Propheten bekunden den verantwortungsvollen Umgang mit der Tierweil.
Ehe und Familie im heutigen Kontext Die Rolle und Stellung der Frau in den muslimischen Gesellschaflen in der Vergangenheit und der Gegenwan ist vielfahig und oft sehr ambivalent. Grundsätzlich ist zu unterscheiden. ob es sich um Frauen auf dem Lande oder im städtischen Milieu handelt, ob sie über eine Schulbildung verfügen oder Analphabetinnen sind. Damit hängt des weiteren auch zusammen. wie weit Frauen sich in die Gesellschaft einbringen und politisch mitwirken können und ob sie sich auch gegen eine patriarchale Gesellschaft zur Wehr setzen. die sie zu entmündigen sucht. ..Die westliche Auffassung von der Unterdrückung der Frau durch den Islam wird von Muslimen - auch von muslimischen Frauen - dennoch nur sehen geteilt". schreibt Schirrmacher.':lO Die islamische Geschichte zeigt, dass sich Frauen nicht nur durch wirtschaftliche und politische Tätigkeiten auszeichneten. sondern vereinzelt auch in den religiösen Wissenschaften tätig waren; und zwar als Rechtsgelehrte. als HadithGelehrte. als Gelehrte. die sich mit der Kommentierung des Koran und mit arabischer Grammatik beschäftigten, aber auch als Führerinnen von mystischen Orden (Schaycha).
Ocr Ehe und der Familie kommt im Islam ein hoher Stellenwert zu. Die Ehe ist zwar kein Sakrament. gilt aber als empfohlen und hat daher religiösen Cha-
III A. Köhler. Islamische Umweltelhik _ Versuch einer normaliven Standonbestimmung. In: GOlles iSI der Orient - GOlles ist der Okzident. Fesl5Chrift rur Abdoldjavad Falaluri zum 65. Gebunslag. Hg. von U. Tworuschka. Köln/Wien 1991. 54-73. 61. 111 A. Köhler. Islamische, 1991. 59. 11'1 Sure 6,38. Illl eh. SchimnacherfU. Spuler-Slcgcmann. Frauen und die Scharia. München 2004, 16.
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raklcr. Auf den einschlägigen Bestimmungen des Koran wurde die islamische Rechts- und Sozialordnung aufgebaut. Im Laufe der Zeit wurden die koranischen Direktiven des SchJeiertragens und der Absperrung der Frau (vgl. 24.30ff; 33.53ff) immer restriktiver gehandhabt. sodass es gleichsam zur Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit kam. Die Hadithlitcralur zeichnet ein sehr ambivalentes Bild von der Frau. Als negativ gilt ihre mangelhafte Intelligenz; sie sei ein unvollkommenes und moralisch gefahrdclcs Wesen, weshalb sie auf die rechtliche Vertretung durch den Mann angewiesen sei. Insgesamt kommt der geschlechterspezifischen Trennung große Bedeutung zu, um unmoralisches Handeln zu vcnneiden. Das hat wiederum Auswirkungen auf geschlechterspezifisches Rollenverhalten. Das moralische Verhalten der Frau in der Öffentlichkeit entscheidet so über "Ehre" oder "Schandc" dcr Familie. Schon früh sind Tendenzcn feslstellbar, die dem Mann auch das Verfügungs· recht über das Vermögen der Frau (vor allem bezüglich ihres Erbteiles) gcstalten. Gerade in diesem Bereich setzte sich oft das Gewohnheitsrecht durch. Die Beschneidung der Frau kam durch lokales vorislamisches Brauchtum in den Islam. ist dort verankert worden. wobei die vier sunnitischen Rechtssehulen hierLU eine unterschiedlichc Haltung einnehmen. Sie gill als "verpflichtend" bei den Schafiiten. als "ehrenhaft" bei den Malikiten und Hanbaliten. Bei den Hana· filen findet sie sich nicht. Es werden verschiedene Methoden der Beschneidung angewandt. wobei jede mchr oder weniger auf eine Vcrstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile hinausläuft, die das sexuelle Empfinden der Frau einschränken bzw. überhaupt auslöschen.I)1 Da die Ehe im Islam eincn Vertrag zwischen zwei Partnern darstellt. kommt vielen Aspekten zwischen Mann und Frau ein besitzrechtlicher Charakter zu (z.B . ..Gehorsamspflichr' der Frau). Dabei spielt gerade in Hinblick auf die Frau als Ehegauin und auf das heiratsfahige Mädchen der Begriff der "Ehre" in traditionellen Gesellschaften noch immer cinc große RoHe. Durch das Tötcn von Frauen und Mädchen durch Familicnmitglieder soll die beschmutzte "Familienehre" wiederhergestellt werden. Durch solche familiären Strafsanktionen vennischen sich kulturelle und gesellschaftliche Traditionen mit der Religion; dabei wird geltendes Recht außer Kraft gesetzt. Auch hier gilt, dass diese Praxis auch in nicht-islamischen Gesellschaften anzutreffen ist. In den islamischen Ländcrn hat sich bis heute vor allem das traditionelle Fami· Iien-. Ehe- und Erbrecht erhalten. Allerdings zeigen sich hier verschiedene neue Tendenzen der Rechtsentwicklung. Bei der Eheschließung wird stärker darauf geachtet. dass der Wille der Frau berücksichtigt wird, bzw. dass ein Mädchen nicht gegen seinen Willen verheiratet wird. Zu diesem Zwecke wird gesetzlich dic ausdrückliche Annahme des Ehevertrages von Seiten beider verlangt. Im allgemeinen muss die Ehe vor einem Gericht oder einem staatlichen Beamten ge· U. $puJcr-$legemann. Mädehenbeschneidung.ln: Kritik an Religionen. Hg. von G.M. Klink.hammer/So RinkfT. Friek. Marburg 1997.219. IJI
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schlossen werden. Zudem wird die Heirat einer zweiten Frau (Polygamie) oft von einer gerichtlichen Genehmigung abhängig gemacht (in Tunesien und der Türkei ist sie verboten). die nur unter bestimmten Voraussetzungen erteilt werden darf: bei Unfruchtbarkeit einer Frau oder bei unheilbarer Krankheit u.a. Die einseitige Verstoßung der Frau durch den Ehemann wird im Prinzip noch aufrechterhalten, ist aber durch Einbeuung in ein gerichtliches Verfahren ihres willkürlichen Charakters beraubt worden. Auch die Frau hat die Möglichkeit. sich scheiden zu lassen, indem sie im Ehevertrag die entsprechenden Bedingungen festschreiben lässt. Die modeme Familiengesetzgebung in den islamischen Ländern hat diverse Modifizierungen der entsprechenden Scharia-Bestimmungen vorgenommen, deren Umsetzung in die Praxis allerdings nicht garantiert ist. Am weitesten gegangen ist Tunesien. wo 1993 die ..Gehorsamspflichr' der Frau abgeschafft wurde und die Frau bei der Heirat auch mit ihrer Unterschrift den Ehevertrag selbst besiegelt. Seit 2004 gelten nun ähnliche einschneidende Regelungen auch für das marokkanischen Familienrecht. Sure 2.223 legitimiert letztendlich das Recht des Mannes über den Körper der Frau. während dieser selbst kein entsprechendes Recht zukommt: ..Eure Frauen sind für euch ein Saatfeld. Geht zu eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt... Sexuelle Verhaltensweisen sind noch immer stark vom patriarchalem Denken geprägt. wodurch es oft kaum möglich ist von partnerschaft lichen Beziehungen zu sprechen. Sexualität wird grundsätzlich als ein gottgewolltes Element der Schöpfungsordnung angesehen. sein Anwendungsbereich wird aber von der Scharia geregelt; so sind voreheliche und außereheliche Beziehungen verboten. Die Geburtenregelung wird unter den Gelehrten sehr ambivalent diskutiert, es gibt bejahende und verneinende Positionen. Entscheidend sei aber, ob beide Ehepartnerdiese wollen oder nur ein Teil. Natürlich kommen bei dieser Diskussion auch bevölkerungspolitische Fragestellungen mit in den Blick. Die Stellung zu Abtreibung hängt damit zusammen, wann der Beginn des menschlichen Lebens (Einhauchen der Seele) angesetzt wird. Eine vorherrschende Meinung geht von 40 Tagen nach der Befruchtung aus. eine andere Position wiederum rechnet mit 120 Tagen. lnsgesamt tendiert man dazu. die Abtreibung mit Verweis auf Sure 17.3\ zu verbieten. jedoch gibt es hier auch Ausnahmen. Frauen wehren sich zunehmends gegen das Patriarchat und dagegen. dass sie vom Schöpfer mit einer minderen Verstandeskraft ausgestattet worden sein sollen. "Die Aufforderung des Korans, nachzudenken, zu forschen. Verstand und Vernunft zum Maßstab der Beurteilungen über Offenbarungstexte einzusetzen und die Ergebnisse handelnd in der Gemeinschaft umzusetzen, ist nicht geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Beide Geschlechter werden gleichennaßen dazu aufgefordert".1J1 Die starke traditionelle Bindung der Frau an Haus und Familie wird hinterfragt. Frauen erobern immer mehr Bereiche, die bislang nur von Männern A. Erbakan. Islamische feministische Theologie - Chance oder Sackgasse? In: Frauen in islamischen Welten. Hg. von A. VautiIM. Sulzbacher. FrankfurtiMain 1999.57. III
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dominiert wurden. Sie übernehmen auch hohe Regierungsämlcr. Islamische Frauenbekleidung erleichtert der Frau die Teilnahme am öffentlichen Leben und seine Mitgestaltung. Dies gilt auch in Ländern wie dem Iran und Saudi-Arabien. wo zentrale staatliche Einrichtungen - aufgrund der Trennung von Mann und Frau - parallel geführt werden. Feminismus als Phänomen beschränkt sich daher nicht bloß auf den Westen. vielmehr werden auch die islamischen Gesellschaften schrittweise davon erfasst. Kritisch und selbstbewusst hinterfragt etwa die marokkanische Soziologicprofessarin Fatima Memissi viele der bislang von den Männern dominierten Bereiche des öffentlichen Lebens. 1JJ Die Solidarität der Frauen mit der islamistischen Bewegung kann so nicht nureine Protesthahung gegenüber der bestehenden Ordnung sein. sondern auch als .,Suche nach einer anderen gesellschaftlichen Ordnung und einer neuen weiblichen Identität" verstanden werden. 1)oIInsgesami wird die Nach· ahmung des westlichen Modells auch von emanzipierten Frauen in Frage gestellt. erSlrebl werden aber wichtige Aspekte des modemen Lebens wie Gleichheit der Geschlechter, wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen u.a. Der Schleier wird so nichl nur zum Symbol für die Abgrenzung gegenüber dem westlichen Kulturmodell, sondern auch zum •.Symbol islamischer Identität'·, zu einem Zeichen, das die Modernität mit dem Islam versöhnt Das ist ein Aspekt, der aber auch kritisch zu hinterfragen ist. Da heute immer mehr Frauen ein Universitätsstudium absol· vieren. werden diese künftig auch immer stärker in der Berufswelt in Erscheinung trelen, als Anwältinnen. Beamtinnen und Universitätsprofessorinnen. "Prüfslein dafür. wie es um die beruflichen Möglichkeilen bestell I ist, bilden die Verteilung der Parlamentssitze nach Geschlecht und auch die Möglichkeit, Richlerin werden zu können". 135
Medizinische Ethik - Gesundheit und Krankheit Da der Islam ein ganzheitliches Modell vertritt und nicht zwischen sakral und profan unterscheidet, sind Gesundheit und Krankheit auch von diesem Kontext her zu sehen. Beide werden in diesem genuin religiösen Kontexl gedeulet. Die Hallung. die Islam (Totalhingabe an Gon) und Imall (Glaube) angeben ...bilden für den Gläubigen unverLichtbare Elementeeinerumfassenden. gesunden und harmonischen Lebensordnung. Sie lragen zu Ausgeglichenheil und innerem Frieden. zur Befreiung von Angst und Bewähigung von Schicksalsschlägen bei. Sie bilden damit eine Voraussetzung für körperlich·seelische Gesundheit;'.I)6lm besonderen ist es das Faslen im Monat Ramadan und die damit zusammenhängende äußere m F. Memissi. Die AngSI vor der Modeme. München 1996.209. Z. Samandi. Die islamiSlische Frauen~wcgung: Zur Problemalik des Idcnlitälsansatzcs. In: Feminismus. Islam, Nalion. Hg. von C. Schöning-Kalender u.a. Frankfurt/Main 1997, 317ff. U. Spulcr-Stcgemann. Mädchcnbcschneidung. 225. IJ/> M. KIÖCkerlM. TworoschkalU. Tworuschka. Wörterbuch Ethik der Weltreligionen: Die wichligslen Unlcrschiede und Gemeinsamkeiten. GUlersloh 1995,98. 1)01
I"
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und innere Reinigung. d.h. Sündenvergebung, welche Schaden. Krankheit und Ungemach abwehren soll. Vielfaltige Prophetenüberlieferungen über gesunde Lebensführung. Ernährung und Heilbehandlungen formten sich zur Prophetenmedizin. deren Befolgung bis heute erhalten blieb. Daneben hat sich im islamischen Mittelalter im Rahmen der Übersetzung der griechisch-hellenistischen medizinischen Schriften (Corpus Galenum) ins Arabische auch eine hochstehende arabische Medizintradition entwickelt. Durch die Übersetzung der Werke von Galenus (Humorahnedizin) begann sich die lehrhafte Medizin und damit der Philosophen-Arzt herauszubilden. Medizin war damit im Range einer exakten (theoretischen und praktischen) Wissenschaft. Vornehmlich in der arabischen Chirurgie, der Augenheilkunde, der Pharmazie und dem Krankenhauswesen fand eine Weiterentwicklung des herkömmlichen Wissens slatt. Gläubige Muslime allerdings sahen in der wissenschaftlichen Medizin auch eine Gefahr für den Glauben und lehnten sie daher ab. Denn Heilung war nun durch Prognose vorausberechenbarund durch Medikamente manipulierbar geworden. Eine solche Vorstellung widersprach ihrer Lehre vom "Gottvertrauen". Medizin wurde daher als Verstoß gegen die göttliche Vorsehung gesehen. wodurch vermutlich auch der spätere Niedergang dieser Wissenschaft in den islamischen Ländern zusammenhängt. Vielfahige Vorstellungen. wodurch Krankheiten ausgelöst werden, bestimmen heute das Volksempfinden. Nebenjener.dass persönliche Schuld. Sünde. mangelndes Gottvertrauen Ursache für diverse Krankheiten sind (Krankheit als Strafe für begangene Sünden). gibt es auch solche, die davon ausgehen. dass böse Geister (dschinn) Schaden zufügen und so Krankheiten bewirken. womit wiederum entsprechende ExorLismen zusammenhängen. Aber auch der "böse Blick" vermag Ähnliches zu bewirken. daher gibtesden notwendigen Schutz vor ihm. Gesundheit bedeutet dann im oben erwähnten Sinn die Hinwendung zu GOll. um im Vertrauen auf seine Barmherzigkeit und Vergebung wieder in Harmonie mit ihm zu leben und nach seinen Weisungen zu handeln. Die mit dem neuen Forschungszweig der Genforschung (Klonen von Menschen. die Präimplamationsdiagnostik (PID) und die Forschung an embryonalen Stammzellen) aufgeworfenen Fragestellungen bringen nicht nur für die westliche Weh. sondern auch für die islamische Kultur viele Probleme. Da im Islam auch die religiösen Belange durch das islamische Recht geregelt sind. ist dieses auch für die modemen Fragestellungen zuständig. Allerdings kennt die Tradition diese Frage gar nicht, wodurch mittels idschtihad (Bemühen um eine zeitgerechte Rechtsfindung) Antworten gesucht werden müssen. Anders als in der westlichen Weil darf die wissenschaftliche Forschung im Islam nur innerhalb der religiösen Rahmenbedingungen geschehen. "Das Problem. daß man mit genetischen Manipulalionen Handlungen vornimmt. die unter Umständen Gou vorbehalten sind. wird erkannt".1)1 Entscheidend fur die Erlaubtheit bzw. Nicht-Erlaubtheil H. Til1mann. Menschen? Ach nein.das sindja Aeischklopsc. Die Wone des Propheten können einen strengen Embryonenschutz nicht begründen. In: FAZ 20.' 2.200 I. Nr. 296. 200 I. 56. 1J1
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genetischer Manipulationen sei, ob sie im Interesse des Gemeinwohls (mas/aha) geschehen. Wenn Manipulationen bloß Spielereien der Forscher seien oder unlauteren Zwecken dienen ...werden sie als Eingriff in die Befugnisse Gottes aufgefassf'. Der Zweck entscheidet hier über Gültigkeit oder Verwerflichkeit. Manche Rechtsgelehrte befürworten mit dem Gemeinwohl-Prinzip (maslaha) auch die Organspenden. Klonen \Ion Pflanzen und Tieren sei erlaubt, jedoch beim Menschen verboten, so AI·Qaradawi. Denn GOIt habe die Menschen auf der Grundlage der Diversität geschaffen. und außerdem könnten Kopien des Menschen im Alltag für Verwirrung sorgen. "Für die größte Bedrohung halten die Gelehrten allerdings. daß das Klonen von Menschen eine Form der ungeschlechtlichen Vemlehrung darstellt". U8 Eine weitere Bedrohung der gongewollten Schöpfungsordnung stelle die Verwischung der Abstammungslinien dar. wie Tillmann ausführt. Wie schaut das Verwandtschaftsverhältnis der geklonten Personen untereinander aus? Die Frage nach der Zulässigkeit der Stammzellenforschung hängt davon ab, wann der Beginn des menschlichen Lebens angesetzt wird bzw. ob damit Krankheiten geheilt werden können. Neben dem Selbstmord ist auch die Euthanasie verboten. Doch über künstliche Methoden der Lebensverlängerung gibt es ein unterschiedliches Meinungsspektrum. Die Empfehlungen gehen jedoch von Seiten der Rechtsgelehrten auch dahin. diese künstlichen Minel nicht in Anspruch zu nehmen.
Oie Reformer
Die Refonner versuchen eine kritische Sichtung sowohl der eigenen religiös-kulturellen Traditionen wie auch der nicht-islamischen Normen und Werte. Damit sollen Islam und Moderne verbunden werden. Da im Mittelpunkt der Reformen Koran und Sunna stehen. hat der Ansatz der Refonner die Wandelbarkeit des Verständnisses des Textes und der praktischen Anwendung der koranischen Aussagen zum Ziel. Es gehe daher zu unterscheiden zwischen zeitlos gültigen Aussagen und solchen. die zeit- und kontextgebunden seien, also den sich verändernden Bedingungen von Ort und Zeit angepasst sind. Fazlur Ra"man (gest. 1988). ein pakistanischer Islamforscher und Theologe. der an der Universität Chicago lehrte. legt in seinem Werk ,.Islam and Modemity" (1982) jene hermeneutischen Richtlinien dar. die zu einerzeitbezogenen Koraninterpretation führen können. Nach ihm hat der IslamAnteil an derGeschichte. Diese aber bedeute Veränderung, daher müssen wir unterscheiden zwischen dem. was zeitlos gültig ist, und dem, was geschichtlichen Bedingungen unterworfen ist. Ab" Zayd, ein ägyptischer Literaturprofessor, unterscheidet daher zwischen Religion (ad-din) und religiösem Denken (al-fikr ad-dini). "Die Religion ist eine Sammlung von historisch feststehenden religiösen Texten. während das religiöse UI
H. TIllmann. Menschen? 2001. 56.
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Denken aus den menschlichen Anstrengungen (idschtihadat) zum Verständnis dieser Texte und ihrer Interpretation und der Extrahierung ihrer Bedeutung ... besteht",u9 Zeitlosigkeit beanspruchen nur die religiösen Pflichten, nicht aber die Beziehungen zwischen den Menschen untereinander. Zu diesen gehöre der Bereich der Ehe und Familie, der Wirtschaft und politischen Ordnung und die internationalen Beziehungen. Dieser letzte Bereich unterliege den jeweiligen so· zio-kulturellen Bedingungen der Gesellschaft und könne so dementsprechend auch immer wieder modifiziert und neu strukturiert werden. Insgesamt plädieren die Reformer dafür, die Offenbarung geschichtlich zu betrachten. Nach dem iranischen Denker Sorush sei der Islam geradezu "die Manifestation der Vernunft". 140 Gerade im schiitische Rechtsdenken habe sich erhalten, dass gemäß der Vernunft rechtliche Urteile geHillt und Entscheidungen getroffen werden können. Aufgrund dieser fundamentalen Rolleder Vernunft seien religiöse Erkenntnisse und Konzep· te wandelbar und kÖnnten so dem jeweiligen Zeitkontext angepasst werden. Wenn man die sozialen Aspekte der Reform Muhammads studiert, treten zwei Aspekte klar zu Tage: Sozi
Abu Zayd. Naqd. 185: z.n. K. AmirpuT. Die Enlpolitisierung des Islam. 2003. 33. 1'0 K. AmirpuT. Die Entpolitisierung, 86. I" F. Rahman. Islam and ModemilY. Chicago 1982.20. 1)9
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ist dann weiters dieser allgemeine Grundsatz wieder in Hinblick auf die heutige Zeit zu konkretisieren? Bezüglich der Ethik gibt es daher eine heftige Diskussion über den relativen und absoluten Charakter der Werte. Welche Werte und Haltungen sind bleibend gültig. und welche sind der Veränderung der Zeit unterworfen? Fazlur Rahman schreibt. dass Muslime bislang noch keine Ethik des Koran konzipiert häuen. Er
kritisiert. dass man nicht klar unterschieden habe zwischen der koranischen Ethik (Moral) und dem Gesetz (law), denn beide seien eine eigene Größe fürsich. Moral und Geselz wurden auf diese Weise vennischt. 142 ..Säkularislische Tendenzen hat die islamische Geschichte stets gekannt". schreibt Hartmann, "ohne daß der Tenninus .Säkularisierung' je gebraucht wurde. Dies zeigt sich in der Tatsache. daß es in der gesamten Geschichte des Islam keinen einzigen Staat gegeben hat. der ausschließlich vom Koran geleitet worden wäre. Vielmehr wurde die Scharia als mehr oder weniger abstrakte Grundlage des islamischen Staates betrachtet".14) Säkularisierung''''' sei daher heute zu einem weltweiten Phiinomen geworden. an der auch die islamischen Länder in unterschiedlichem Grade teilhaben. Man muss sich abcrauch bewusst machen, dass von der Säkularisierung des politischen Bewusstseins heute Fundamentalisten bzw. Islamisten, wie auch Nicht·Fundamentalisten erfasst sind. Säkularisierung sei daher in den verschiedensten ideologischen Bewegungen anzutreffen. allerdings in unterschiedlichem Maße. Die zentrale und kontrovers diskutierte Frage hierbei sei. ob man alle Lebensbereiche mit Hilfe des Islam regulieren solle, (so die Sicht der Fundamentalisten). oder ob man nicht vielmehrgesellschaftliche Bereiche und Verhaltensweisen von der Religion trennen solle (so die Sichl der Refonner)? Gemäßigte Fundamentalisten gehen durchaus von einer Verbindung der Idee der Gouesherrschafl mit dem Gedanken einer menschlichen Selbstbestimmung aus. z.B. anhand des koranischen Prinzips der SclllIra ("Beratung"). welches dem gewählten Parlament entspreche. Allerdings habe sich dieses Prinzip an der Scharia zu orientieren. Säkularisierung im Sinne der Trennung von Staat und Religion sei unter diesen Vorgaben nur sehr schwer durchführbar. was aber wiederum eine Zusammenschau von Säkularisierung und Staatsreligion. wenn auch nicht nach westlichem Muster. nicht unbedingt ausschließen müsse. Als Altemativbegriff verwendet man daher immer öfter die "Zivilgesellschaft".145 Ähnliche Fragestellungen verbinden sich auch mit den "Menschenrechten". Hier Jautet die entscheidende Frage, ob die menschliche Freiheit ihre Grenzen in der
F. Rahman. Islam. 154-155. Ifl A. Hanmann...Fundamenlalismus" und Säkularismus in den muslimischen Kulturen. In: Jahrbuch f1ir Religionswissenschaft und Theologie der Religionen. Bd. 5. Allenbcrge 1997. JJ. 144 R. Wiclandl. Zeitgenössische ägyplische Stimmen zur Säkularisienmgsproblcmalik. In: Die Welt des Islams XXII 1982. 117-133. ,., H.G. Eben. Islam und Scharia in den Verfassungen der arabischen Länder. In: zm 6 (1998) 3-21. 1998. 14. Ifl
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Scharia findet. Denn in der PrJambel der islamjschen Menschenrechtserklärung von 1981 heißt es. dass ,.unsere Pflichten und Verbindlichkeiten Vorrang haben vor unseren Rechten".I46 Die Politik der Sultane hat gezeigt, dass bereits in der Abbasidenzeit (750-1258) das Scharia-Recht nach dem Prinzip des .,Gemeinwohls. des Gemeininteresses" (mas!a1la) verwaltet worden ist. Heute greift man auf diese Gewalt des Herrschers wieder zurück. um Ei ngri ffe in das islamische Recht zu machen. Eine wei tere Mögl ichkeit. das islamische Recht den Bedürfnissen des heutigen Menschen anzupassen. ist die Auswahl und Kombination von Lehnneinungen verschiedener Rechtsschulen oder die Mischung von sunnitischen und schiitischen Rcchtselementen. Aber auch der eigenen, verbindlichen Urteils- und Rechtsfindung (idscllti1lad) soll wieder mehr Raum gewährt werden.
Werte des Fundamentalismus bzw. politischen Islam (Islamismus) Das Scheitern der Modernisierungspolitik in den islamischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jh .. zusätzlich zur Erfahrung der politisch-militärischen Ohnmacht führte zu Enttäuschung und Unzufriedenheit und zu einem radikalen Umdenken bezüglich der Lösung der politischen. sozialen und wirtschaftlichen Krise. Insgesamt wurden dadurch die islamischen Oppositionsbewegungen gestärkt. welche die europäische Modeme mit ihren säkularen Verfassungen ablehnten . .,Säkular" wurde in der Folge mit ungläubig und antireligiös identifiziert. Für die vielfahigen Missstände hat man die Zurückdrängung der religiösen Einflusssphäre verantwortlich gemacht bzw. das Außerkraftsetzen der göttlichen Gesetze. Vielmehr könnten. wenn sich die Gesellschaften wiederum nach der Offenbarung des Koran sowie nach dem Vorbild des Propheten ausrichteten. alle diese gesellschaftlichen und ökonomischen Problemegelöst werden. Diese Behauptung gründet auf der fundamentalen Sicht. dass das offenbarte Gesetz (Scharia) in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der Weltordnung und folglich absolut und unveränderlich sei. Wenn der Mensch daher diesen Gesetzen folge. dann sei sein Leben in Übereinstimmung mit seiner eigenen Natur und seiner Umwelt. Denn die SchariaGottes regelt nicht nurdiereligiösen Pflichten. sondern auch die Prinzipien von Ethik und Moral. Sie regelt auch die politischen. sozialen und ökonomischen Angelegenheiten. mit dem Ziel. dass sie die"vollständige Unterwerfung unter Gott allein reflektiert" .1~7 Diese Gesetze können daher nicht zeitbedingt und veränderbar sein. Das in der Schöpfung verankerte Ordnungsgefuge sei dann gestört. wenn der Mensch sich von der ewigen Wahrheit abwendet und einer Lebensordnung folge. die seiner eigenen Meinung und seinen eigenen Vorstellungen entspringe, anstelle Gottes Gesetzen zu folgen. Daher erfolgt die Forderung nach Einsetzung der Herrschaft Gottes bzw. der ErriChtung eines islamischen Staates. wo diese Ge'''' Islamische MenschenrechtSerklärung 1982. 8. I" S. QUlb. Ma'alim li I-Iariq. Kairo 1982. 135(; 108f.
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setze wieder herrschen. Dieses Islamverständnis basiert auf einer ..Nomokratie". auf der Herrschaft des göttlichen Wortes. Die Herrschaft komme demnach Gott allein zu und keinem weltlichen oder geistlichen Herrscher. wobei die jeweilige Herrschafts- bzw. Staatsform hierbei sekundär ist. Von den radikaleren Denkern wird die Demokratie als eine Häresie bezeichnet. Das islamische Erbe wird hier zu einem Konstrukt, das aufgrund veränderter Zeilbedingungen wieder neu - im Sinne des politischen Islam - interpretiert wird. Ein weiteres Konstrukt in diesem Zusammenhang ist die idealisierte Vergangenheit. In der ersten Generation von Muslimen (as-salaf, .,die frommen Vorfahren';. Salafiyya) sei deraulhenlische Islam gelebt worden. Der Islam spälererZeilen wird demgemäss als Verfallserscheinung (vgl. ..Volks islam") interpretiert. Technische und naturwissenschaftliche Errungenschaften der westlichen ZivilgeseIlschaften werden nicht abgelehnt. wohl aber die el.hischen und moralischen Werte dieser Gesellschaften. Die zunehmende Individualisierung der westlichen Kultur mit ihrer konsumorientierten AusriChtung wird als dem islamischen Weg diametral entgegenstehend abgelehnt. Kritisiert wird hierbei. dass dem Subjekt insofern keine Grenzen gesetzt sind, als es nicht an die Transzendenz. d.h. an religiöse Wertc rückgekoppelt ist: ..Selbstermächtigung dcr Vernunft"! In diesem Kontext wird die ..Revitalisierung des Religiösen" zu keiner Gegenbewegung zur Modeme, sondern "die Rückkehr zu einer überzeitlichen Botschaft'·, um damit eine "islamische Modeme", eine "bessere Modeme" zu erreichen; dieser entspricht auch ein "islamisches Bewußtsein", ein "islamisches Denken". eine "islamische Kleidung" usw. l "3 Nach diesem Denken Sieht das Gemeinwohl (maslaha) als Orientierungsmarke im Mittelpunkt. Gerade bei den islamistischen Gruppen ist auch ein außerordentlich soziales Engagement für die ••Armenfürsorge" beobachtbar. Wo der Staat versagt. trelen diese Gruppierungen an seine Stelle, womit auch die starken Sympathiebekundungen in der Bevölkerung zusammenhängen. Da die islamistischen Denker die authentischen Quellen des Islam selbst interpretieren, steht ihre Sichtweise oft im krassen Gegensatz zu jener der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit. In diesem Kontext werden von militanten Gruppen die Bestimmungen über den bewaffneten Kampf (dschihad: wörtl. sich abmühen, einsetzen, d.h. für den Islam, für die Glaubensbrüder und -schwestern; vgl. die religiöse und soziale Komponente des dschihad-Konzeptes), wie er in der Rechtsliteratur abgehandelt wurde. wieder als gültig genommen. Dieser erfahrt eine Neuimerpretation. die oft im Widerspruch zur traditionellen Deutung steht. Der Universalanspruch des Islam bedingt auch, dass seine Lebensordnung universal gültig und somÜ verbindlich für alle Gesellschaften sei. Von daher legitimiert der Islam seinen politischen Anspruch, sein Herrschaftsgebiet zu erweitern, um der islamischen Gesellschaftsordnung universale Geltung zu verschaffen. 101
G. Hendrich. Islam und Aufklärung, Darmsladl 2004, 41 ff.
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Hat sich die muslimische Modeme dazu durchgerungen, Dschihad nur zu Vertcidigungszwecken zu interpretieren (Defensivkrieg), weil vorrangig der Friede unter den Völkern sei. so wird er von verschiedenen islamistischen Gruppierungen auch als offensiver Kampf interpretiert. Dies geschieht im Sinne des islamischen Universalanspruches mit seiner Devise: .,Der Islam herrscht und wird nicht be~ herrscht"" . Dieser hat nach Sayyid Qutb (dem Ideologen der Muslimbrüder) zum Ziel. die ungläubigen und ungerechten islamischen Regime als Dschahiliyya-Regime zu bekämpfen. Er will alle Ungerechtigkeit von der Erde eliminieren. jegliche Herrschaft des Menschen über Menschen beenden und so die Herrschaft Gottes in Form der Einsetzung seines Gesetzes etablieren. Endgültiger Friede könne erst dann einkehren. wenn die gesamte Welt. das Gebiet des Krieges (dar al-harb), der islamischen Herrschaft unterworfen sei und so zum .,Haus des Friedens'\ zum .. Haus des Islam'" (dar al-islam) werde. Der Kampffürdie Befreiungdes Menschen aus der Knechtschafl des Menschen sei ein andauernder und werde sich solange fortsetzen. bis die Religion gänzlich GOIt gehört. 149 Freilich ist das islamistische Spektrum sehr vielfaltig. Es reicht von dem. weIcher der Gew:llt abschwört bis zu jenem, der Gewaltanwendung rechtfertigt. Insgesamt herrscht innerhalb dieses Spektrums eine sehr einseitige Weitsicht vor. die nurmehr von Gläubigen und Ungläubigen spricht; zu letzteren gehören auch Juden und Christen. mit denen die westliche Kultur identifiziert wird. Zu ihnen gehören aber auch jene Muslime. die mit dem Westen zusammenarbeiten bzw. nicht dem Weg der Islamisten folgen. Alle Ungläubigen seien zudem auch Feinde Allahs. Hier schreckt man nicht vor dem Töten von Unschuldigen. von Kindern und Frauen und älteren Personen, sowie vor der Vernichtung von Gemeingut zurück. All dies verbietet jedoch die traditionelle Lehre über die Dschihad-Kriegführung. Natürlich wird hierbei aber auch die politische Ausweglosigkeit. indem sich der Mittlere und Nahe Osten befinden. offensichtlich. Denn in islamistischen Schriften der Gegenwart (vgl. Dschihadismus) wird immer wieder betont. dass grundsätzlich nach dem koranischen Prinzip vorgegangen werde ..Gleiches mit Gleichem zu vergelten".l30 Der Westen habe bezüglich Palästina, Afghanistan. Tschetschenien und dem Iraq mit Terror begonnen: ..Wir antworten in gleicher Weise mit Terror. indem wir genauso vor dem Töten von Unschuldigen. von Kindern und Zivilper~ sonen nicht haltmachen, wie ihr es uns vorgemacht habt'". Die Selbstmordatlentate führen nochmals den Kern des Problems von der in· nennuslimischen Seite vor. "Selbstmordattentate" bzw. die "Märtyrer" sind eine "Neuerung" im sunnitischen Islam. Denn die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Tod durch die Hand des Feindes und dem Tod durch die eigene Hand wird durch Rechtsgelehrte. die dem politischen Islam nahestehen. verworfen oder stark eingeschränkt. Doch ist diese Deutung nicht allgemein anerkannt. Auf diese Sure 2.190ff; 8.39; 2.2 16. 1.10 Sure 16.126: 2.191; 2.194.
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neue Form der Bekämpfung der Feinde treffen wir das crstemal bei den religiösen
Organisationen Hamas und Hisbollah Anfang der J980er Jahre. Die Aufweichung des Verboies von Selbstmord. indem man das Martyrium sucht. ist kein Spezifikum des Islam, denn der Zusammenhang zwischen Märtyrer und Gemeinde findet sich auch in anderen alten Kulturen bis zurGcgenwart. Doch im Islam wird die Überlieferung des Märtyrertums radikalisiert.
Der Dschihadismus hai so die Grenze zwischen Martyrium und Selbstmord, Blutzeugnis und mörderischem Kampf verwischt. Keiner maßgeblichen Auto-
rität ist es bislang gelungen. auch nicht dem Großscheich Mohammed Sayyid Tanta",;, sie zu entflechten. Die islamische Welt spricht hierbei nicht von ..Selbstmördern", sondern von "Kämpfern" •..Glaubens- oder Gotteskämpfern" und ,.Märtyrern" . Die Bestimmungen über .•erlaubt" oder ,.nicht erlaubt" werden häufig durch entsprechende Fatwas (Rechtsgutachten) oder Gegenfatwas legitimiert. Intellektuelle der arabischen Weh bezeichnen daher die Falwas als eine Hauptursache für Terrorismus. Denn eine Fatwa ist nur ein Privaturteil eines Gelehrten. Erst seine Anhängerschaft erweist dann. wie wirkmächtig sein Urteil wirklich ist. Nachdem Schaych Sayyed Tantawi die Sclbstmordattcntatc gegcn die israelische Zivilbevölkerung verboten hattc. haben 28 oppositionelle Gelehrte der alAzhar ein Kommunique unterschrieben. wo diese für diesen politischen Konflikt als erlaubt gelten. Ein Spezifikum des traditionellen Dschihad-Konzeptes ist es. dass es auch eine gewisse Individualisierung des Dschihad vorsieht. ohne Autorisierung durch einen Imam. Dies farbt wiederum auf die Selbstffiordattentate ab. indem nun selbstemannte Führer (Imame) auch in anderen Krisenregionen dazu aufrufen und diese für legitim erklären.
Afrikani AIl101l
Quack
..Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik?" frägt der Fribourger Moraltheologe ßenerel Buja in einem Aufsatz 1989.' Er sieht sich offenbar zu dieser Frage gedrängt durch den christlichen Absolutheitsanspruch auch in Fragen des Ethos und der Ethik. Und wenn Bujo von afrikanischer "Ethik" spricht. meint er durchaus neben dem Nachdenken über Wert vorstellungen von Menschen auch deren Wert· verhalten, das im Deutschen auch mit ,.Ethos'· bezeichnet werden kann. Bujo gibt auf seine Frage eine positive Antwort. und er steht damit in einer langen Reihe zeitgenössischer afrikanischer Literaten. Philosophen und Theologen. Wenn ich mich in diesem Beitrag dieser Denkrichtung zunächst anschließe. dann nur unter gewissen Einschränkungen. Zunächst beschränke ich mich auf Afrika südlich der Sahara. sodann auf die traditionellen Religionen und Kulturen afrikanischer Stammesgesellschaften. die seit mehr als einem Jahrhundert zwar einem zunehmend rabiater werdenden Kulturwandel unterworfen sind, gleichwohl aber das modeme Leben in Afrika prägen. das in der Tradition nach wie vor stark verwurzelt ist. Die ethnographischen Daten. auf die die angeführten Autoren zurückgreifen. wurden meist spätestens in der Mine des 20. Jh. gesammelt. sie spiegeln also eine längst vergangene Zeit wider. Diese Welt traditioneller afrikani· scher Stammesreligionen und ·kulturen ist keine monolithische Einheit. Eine große Vielfalt der Traditionen, Lebensweisen und Denkfonnen kennzeichnet sie. Von ..der"' afrikanischen Religion oder von "der" afrikanischen Kultur zu sprechen. wie es heute vielfach geschieht,2 ist eigentlich eine unzulässige Verallgemeinerung.
B. Sujo. Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik. Stimmen der Zeit (207) 1989.591--601. Vgl. auch B. Bujo, The Ethical Dimension of Community. The African Model and the Dialogue bctween North and South. Nairobi 1998.24-42. 1 Vgl. z.B. L. Magesa. African Religion. Thc Moral Traditions of Abundant Life. MaryknoU 1997. I
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Doch bei aller Vielfalt und Andersartigkeit zeichnet sich jedoch eine. wenn auch vage und weite. kullUrelle Einheit ab. die Jacqucs Maquct dem europäischen Westen. der islamischen Kuhurwelt oder der indischen Welt gegenüberstellt und von der er sagt: ..Diese Einheit. gebildet aus Gesamt der Elemente. die eine den unterschiedlichen traditionellen afrikanischen Gesellschaften gemeinsame und eigene Gestaltung hervortreten lassen. ist die .africanite'·'.J Dieser gemeinsame Nenner der ,.africanite'· entspricht weitgehend dem. was lange Zeit unter dem Stichwort ..negritude" diskutiert wurde. wenn auch oft kontrovers.~ Pierre Emy meint. dass etwa gerade im Bereich der Erziehung und der Sozialistalion in Afrika die kulturellen Gemeinsamkeiten so evident seien. dass man fast von einer ..unitc dc structurc" sprechen könne. 3 Dass gerade afrikanische Autoren mehrdas Gemeinsame als das Unterscheidende afrikanischer Kuhuren herausstellen und betonen und etwa von afrikanischer Kultur und von afrikanischer Religion reden. hat also eine gewisse Berechtigung. Allerdings sollte man nicht vergessen. dass es letzt Iich Verallgemeinerungen sind: und diese sind nur statthaft. wenn auch das Unterschiedliche diverser Lebens- und Denkweisen der Völker Afrikas südlich der Sahara im Auge behalten wird. Die Diskussion um die Frage. ob es eine spez.ifisch afrikanische Ethik gebe. muss sich zudem mit einer anderen Argumentation auseinander setzen. mit der Behauptung eines ..ethischen Relativismus". dem ein ..ethischer Universalismus" entgegengesetzt wird. 6 Die These. dass Werte. onnen. und Verhalten eines Menschen sich nach seinem Menschenbild. das ihm von seiner Kultur vorgegeben ist. richten (was richtig und was falsch ist. was gut und was schlecht ist. was man tut und was man nicht tut. gehört zum bewussten und unbewussten Lernprogramm der Sozialisation. der Enkulturation. der Erziehung. mit der man aufwächst). wird längst nicht von jedem Fachkundigen unwidersprochen akzeptiert. Gerade ein Großteil westlicher Philosophen legt Wert auf die wesentliche Universalität moralischer Prinzipien: Die Grundwerte und Grundprinzipien moralischen Verhaltens seien allen Menschen gemeinsam. sie würden von ihnen verstanden und respektiert und müssten von ihnen als Nonn angenommen werden. 7
) J. MaquetIH. Ganselmayer. Die Afrikaner. Völker und Kul(U~n des Schwarzen Konlinen15. München 1970. 10; ..Cette unilt~. faite de I'ensemble des elements dessinanlS une configuration commune et propre au.a: difTe~ntes 50Ctetes de I' Afrique traditionnelle. esl I'africanite:' • F.A.lrele. Negrilude - Lilentturc and ldeology. In: J. Middleton (Hg.). Black Africa. hs People.... and CulturcsToday; 381-405. London 1970.381-405; F.A. Ircle. egrilUde. In: J. Middleton (Hg.). Encyclopcdia of Africa Soulh of thc Sahanl. Vol. 3; 278-286. New Yort 1997. J P. Emy. L'enfant Cl son milieu en Afriquc noirc. Essais sur I'educalion lraditionncllc. Paris 1972.29. • R. Green. Morality and Religion. In: M. Eliade (Hg.). 1lw: Encyclopcdia of Religion. Vol. 10; 92-106. New YoR 1987. 'R. Green. Mornlity. 1987.94.
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An der Frage der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ließe sich der Kern dieser Argumentation verdeutlichen. Die Behauptung dieser Allgemeingültigkeit und ihre offizielle Akzeptanz durch die meisten Staaten dieser Welt kann nicht verhindern. dass in der Praxis die jeweilige lokale kulturelle Situation den tatsächlichen Wert solcher Behauptungen sehr relativiert und einschränkt. Ein ethischer Relativismus und ein ethischer Universalismus kommen einander in der Position Bujos und vieler anderer afrikanischer Philosophen und Theologen entgegen. Einerseits beansprucht man Universalismus für das Ethos afrikanischer Kulturen. andererseits reklamiert man Relativität in der Abgrenzung zu anderen Kulturrüumen der Welt.
Grundlegung afrikanischer Wertordnungen Unabhängig vom Gottesbild afrikanischer Rcligionen sieht Bujo ihre Wertordnungen in Gott verwurzelt. Afrikanisches Ethos ist nach ihm Ictzlich theozentrisch bzw. thconom begründet. Im Zentrum sieht er das afrikanische Lebenskonzept: ..Das Lcben ist das höchste, unbedingt zu respektierende Gut. Dabei geht es um eine Teilhabe. die sich hierarchisch vollzieht. Das Leben ist sakral: Es wurrelt in GOIt als erster Quelle und erreicht den einzelnen über den Urahn. die verstorbenen Verwandten bzw. die Sippenmitglieder sowie die Gemeinschaft der Irdisch-lebenden ... WiChtig für das sittliche Handeln ist, dass die von Gott durch den Urahn gestiftete Gemeinschaft aus der Wechselbeziehung aller Glieder lebt'".8 So unterschiedlich die afrikanischen Gottesbilder sind. die meisten Völkern kennen ein .. Höchstes Wesen". einen ..Hochgott". Die Aussagen über dessen Charakteristika sind verhältnismäßig gleichförmig, wie Ernst Dammann festhält: Er fomH die Lebewesen. ist Schöpfer. gelegentlich Weltschöpfer, er ist freundlich. ist allwissend, wohnt im Himmel. er hat keinen oder fast keinen Kult: seIlen wird ein Gebet an ihn gerichtet. 9 .. Da der Hochgott in vielen. wahrscheinlich den meisten Fällen gut ist, will er auch das Gute. Selten bemüht er sich selber darum ... Dieser Gott gilt zwar als Quelle des sittlichen Gesetzes. wegen seiner Leerheit jedoch nic.ht als die des sittlichen Tuns."lo Gon, der Hochgott. das Höchste Wesen interveniert jedenfalls nur selten in das siuliche Leben der Menschen auf Erden. Meistens sind es die Ahnen, die als Hüter der sozialen und moralischen Ordnung fungieren. II Denn die afrikanische ..ethische Gemeinschaft" beschränkt sich nicht auf die irdische Gemeinschaft; sie umfasst ebenso die Welt der Toten. "Die Ahnen spielen ... eine wichtige Rolle in der Ausgestaltung der Sittlichkeit ... (die) sittlichen Richtlinien spiegeln die Er~
ß, ßujo. Ethik. 1988. 158. 9 E. Dammann. Die Religionen Afrikas. Stuugart 1963. 27. 1(1 E. Dammann. Die Religionen. 1963. 31. "ß. Ray. African Religions. Symbol. RilUal. and Community. Englewood Cliffs 1976. I46f.
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fahrungen der Ahnen wider, spenden Weisheit und Leben." 11 Oft sind es Wort und
Wille der Ahnen, in dem sich die Wertordnungen der traditionellen afrikanischen Gesellschaften konkretisieren.
Bujo verbindet die theozentrische mit der anthropozentrischen Begründung afrikanischer Ethik. wobei Letztere offenbar doch im Vordergrund steht: Für ihn ist die afrikanische Ethik zwar anthropozentrisch, schließt GOIt jedoch nicht aus. der immer im Hintergrund steht 13 Dass die afrikanische Ethik zuerst und vor allem als anthropozentrisch zu bezeichnen ist. kann man nach Bujo so erklären: Nach afrikanischer ..Auffassung sIeht nicht Gott. sondern der Mensch selbst am Ursprung des Übels und des Bösen. Daher wird die Moral nicht vertikal, sondern horizontal gelebt, es geht also in erster Linie um die zwischenmenschlichen Beziehungen", 14 Die Orientierung aufdie Gemeinschaft ist derin der afrikanischen Ethik am meisten betonte Aspekt, es geht um Verstärkung und Wachstum des Lebens: .. Die Mitglieder einer Sippengemeinschaft haben zur Aufgabe, durch ihr sittliches Handeln zum Lebenswachstum der gesamten Gemeinschaft beizutragen. Sittlich gut ist ... in der Regel nurdas. was zur. Wir- Werdung' derjeweiligen Gemeinschaft führe'l} Mit ..Gemeinschaft" ist in diesem KonteKt fast immer die Verwandtschaft (Familie. Großfamilie. Lineage. allenfalls Klan. wenn es ihn gibt) gemeint, eben .,Sippengemeinschaft... Bujo hält fest: ..Die Wahrung des Gemeinwohls und die Förderung des Lebenswachstums obliegen in erster Linie den Verantwortlichen der Gemeinschafr'. 16 Die afrikanische Ethik sieht den Mensch nicht zuerst als Individuum, sondern als Teil einer bestimmten Gruppe, einer verwandtschaftlichen Gruppe. Afrikanisches Selbstverständnis ist also eher soziozentrisch als individualistisch akzentuien.. Individuum und Gemeinschaft seien hier keine Gegensätze. die sich hemmen. sondern sie ergänzten sich gegenseitig. meint Bujo. 17 doch dürfte alles in allem das Individuum wohl nur die zweite Rolle spielen. Im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft haben Gemeinschaft. Gruppe. Gesellschaft mindestens ein leichtes Übergewicht. Individualismus westlicher Tradition und Prägung jedenfalls ist unafrikanisch. Als Ideal afrikanischer Lebensweise und als Ziel des sittlichen Verhaltens könnte man festhalten: die harmonische Integration des Individuums in seiner Familie. in seiner sozialen Umwelt.
B. Sujo. Gibt es, 1989.593. IJ B. Bujo. Ethik. IJ. In afrikanischen Religionen. In: H. Waldenfcls (Hg.). Lexikon der Religionen. Frciburg )1988. 158f. I< B. Bujo. Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontellt. Düsseldorf 1986, 37. " B. Bujo. Gibt es. 593. 16 B. Bujo, Gibt es, 593. 11 B. Bujo. Gibt es. 594. 1I
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Grundprinzipien afrikanischer Wertordnungen Die wicht'igen Charakteristika afrikanischer Denk- und Lebensweise spiegeln sich in den Wertordungen und im Verhallen der Menschen in den traditionellen Kulturen Afrikas wider. Henri Maurier entwickeh einen Katalog von sechs Kategorien. mit denen er das afrikanische Menschenbild zu erfassen und zu erklären versucht. I' Sie scheinen mir geeignet zu sein. Einstieg und Rahmen für eine Darstellung von afrikanischem Wertverhalten zu geben. I. Zur menschlichen Person gehört wesentlich der Bezug nach außen. sie ist ..relationai" . Sie lebt vom Austausch. ohne den sie ihre Bedeutung verliert. Je mehr ein Individuum in gegenseitigen Beziehung engagiert ist. um so mehr wird es Person. Hiermit ist der fundamentale Wert der Gemeinschaft angesprochen. die Tatsache. dass afrikanisches Selbstverständnis vor allem soziozentrisch orientiert ist. 2. Das Individuum allerdings ist SUbjekt. es behält seine ..Subjektivität". Durch seine Intelligenz und seinen Willen kann es diese reziproken Beziehungen mitbestimmen. ihnen zustimmen oder sie ablehnen. Das Individuum geht nicht konturlos in der Gemeinschaft unter. 3. Feste. dauerhafte, sichere Beziehungen lassen sich aber nur erreichen. wenn die Beteiligten sich im von der Gesellschaft vorgegebenen Rahmen. nämlich den Sillen und Gebräuchen. dem Herkommen der Gemeinschaft bewegen. Sie sind also wesentlich der ..Tradition" unterworfen. Den Spielraum derzwischenmenschlichen Beziehung bestimmt die Tradition der Gemeinschaft. 4. Die handelnden Personen sind in diesen Vorstellungen nicht abstrakt. nichts. von dem man abstrahieren kann: sie haben einen Leib. einen konkreten Körper. ohne den kein Austausch möglich ist. Zur Person gehört untrennbar die ..Körperlichkeit". Beziehungen lassen sich nicht auf einer ideellen Ebene festmachen. sie sind real und konkret. 5. Dieser Austausch von Beziehungen geschieht nicht passiv. automatisch: Beziehungen werden gesucht. aufrecht erhalten. modifiziert. angefochten. Sie sind Gegenstand und Ziel fortwährender Eingriffe der Beteiligten. von Manipulationen also. 6. Schließlich bleibt festzuhalten. dass diese Manipulationen. Beziehungen. Traditionen. die Wünsche und das Wollen des Subjektes an Grenzen stoßen: Schicksal. Unausweichlichkeit. Notwendigkeit. das Widersetzliche. Es ist der Bezug nach draußen. der Bezug zum Unlösbaren. Gegen Grenzen dieser An sind auch Gemeinschaft und Tradition machtlos. Nach Theo Sundenneier könnte man mit einer kurzen Fonnel den Inhalt afrikanischer Wertordnungen und afrikanischen sittlichen Verhaltens. ihre bestimmenden
1.
H. M:aurier. Philosophie dc l' Afriquc noire. Sankt Auguslin 11985. 56-114.
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Elemente. zusammenfassen. nämlich mit .,Ehrfurcht vor dem Nächsten",l9 wobei auch hier daran zu denken ist. dass mit dem "Nächsten" der räumlich Nächste. genauer. der Stammesgenosse (Familie. Lineage. Klan. Stamm). gemeint ist. Im Abschnitt ,.Ethik'· seines Buches nennt und erläutert Sundermeier eine Reihe solcher das Ethos afrikanischer Kuhuren bestimmender Elemente.:!O Ich möchte einige davon im Folgenden näher vorstellen. Monica WiJson publizierte 1951 eine Untersuchung über die Beziehungen der yakyusa Südtansanias in ihren Dörfern und zwischen ihren Dörfern: sie slülZ,t sich darin Feldforschungen. die sie mit ihrem Mann Godfrey Wilson zwischen 1934 und 1938 unternahm. Unter den flinf Grundwerten. die die Kultur der Nyakyusa bestimmen. nennl sie an erster Stelle ,.good company" (ukwangala): man erfreut sich einer angenehmen Gesellschaft. in der man gegenseitige Hilfe und Sympathie el"\yarten darf. 21 Sundemleierübemimmt den Begriff ..good company", weitet ihn aus und verallgemeinert ihn. Für ihn ist ,.good company" der zentrale Begriff des tmditioncll afrikanischcn Ethos; nämlich Gemeinschaft . .,Was immer dem Einzelnen widerfahrt. geht die ganze Gruppe an, und was der ganzen Gruppe widerfahrt. ist ebenso Sache des Einzelnen. Das Individuum kann nur sagen: .Ich bin, weil wir sind. und weil wir sind, bin ich.' Dies ist der Kern· punkt in unserem Verständnis des afrikanischen Menschenbildes". so bestimmt John Mbiti den Stellenwert der Gemeinschaft in den afrikanischen Denk- und Wertordungen. n Konkret bedeutet dies nach Sundenneier, dass es vor allem darum geht. sich .,gemeinschaftsgemäß" zu verhalten. die Gemeinschaft zu fordern. deren Leben zu stärken und zu erhalten. Da also Gemeinschaft eigendich den Menschen konstitutiert. "nur gemeinsam ist man Mensch".ll kommt es zu allererst darauf an, in der Gemeinschaft zu bleiben. imegrien zu sein und zu bleiben. Einzelgängertum ist damit als unsozial. wenn nicht gar als asozial stigmatisiert. mit allen negativen Folgen. Gemeinschaft stützen, stärken und fOrdern fühn zur .,Hilfsbereitschafr'.die wie die Gemeinschaft selber nicht unbegrenzt ist. sondern als abgestuft gilt. Sie richtet sich naturgemäß zuerst auf die engere Familie, dann auf die Verwandtschaft, sei sie sozial und blutsmäßig gegTÜndet oder klassifikatorisch, und die Nachbarschaft. die in den meisten Fällen Teil der Verwandtschaft ist. Gemeinschaft lebt zum anderen von der •.Teilhabe", innerliche und äußerliche Partizipation am Leben des ..Nächsten". vor allem an den Riten der Gruppe, der Gemeinschaft. Wer sich dieser Teilhabe entzieht. provoziert Unfrieden, Zorn. Neid. Sundenneier fasst alles. was
l·Th. Sundermeier. Nur gemeinsam können wir leben. Das Menscllenbild schwanafrikanischer Religionen. GiltersJoh 1988.215. -Th. Sundermeicr. Nur gemeinsam. 1988.207-223. :, M. Wilson. Good Company. A Sludy of Nyakyusa Agc.-Villagc.s. london 1951.66. :: J. Mbili. Afrikanische Religion und Wellanschauung. Bcrtin 1974. 136. UTh. SuDdermeic.r. Nur gemeinsam. 1988,208.
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hier zum Grundwert Gemeinschaft gesagt ist, zusammen und umschreibt es mit ..Frieden suchen", "in Hannonie leben". 24 Der zweite Grundwert des traditionellen afrikanischen Ethos, den Sundenneier nennt, ist genau genommen nur die Kehrseite des ersten. bzw. er führt ihn weiter und er konkretisiert ihn in gewisser Weise: Es ist die ,.Ehrfurcht vor dem Mensehen". Respekt vor dem Menschen gehört zu den Grundhaltungen, die zu einem Leben in Hannonie unverzichtbar sind; er macht das Leben in der Gemeinschaft möglich und erträglich. Dazu gehört. dass man den anderen in seinem Status, in seiner Position respektiert. Traditionelle afrikanische Gesellschaften sind nicht egalitär in dem Sinne, dass alle die gleichen Rechten und Pflichten hätten; oft sind sie hierarchisch strukturiert und nicht selten altershierarchisch, d.h. das Senioritätsprinzip spielt in ihnen eine große Rolle. Die Jüngeren und die in niederen Positionen haben den Älteren und Höheren mit gebührender Ehrfurcht zu begegnen; und umgekehrt kommt Letzteren die Sorgepfticht zu. Respekt vor den Menschen zeigt sich nicht zuletzt auch darin. dass man die Fonnen des Zusammenlebens wahrt. die Etiketle. beim Grüßen etwa oder beim Umgang miteinander. Wie das im Einzelnen sich ausdrückt, ist je nach Kultur sehr verschieden. z.B. wie sich Männer und Frauen. Kinder und Erwachsene. Verwandte und Fremde begegnen; welche Gesten geboten, erlaubt. unpassend sind: wer wann sprechen darf usw. Doch für alle afrikanischen Kulturen gilt. dass die äußeren Fonnen mehr sind als nur Äußerlichkeit. Der Bruch äußerer Fonnen kann die Gefühle des anderen tief verletzen. Ehrfurcht vor dem Menschen heißt auch. dass man nicht in einen rücksichtslosen Konkurrenzkampf mit dem anderen treten darf; man sollte nicht versuchen. den anderen zu übertrumpfen. Wer mit seinen Leistungen sich zu sehr von anderen abhebt, macht sich bald verdächtig; er mag Neid erwecken. er isoliert sich. Man hat die Pflichten und Rechte. die einem nach Position und Status zukommen: Erstere muss man leisten, Letztere darf man aber auch einfordern. Sich einordnen, sich einfügen in den Gesamtzusammenhang, meint Sundenneier, sei die eigentliche Form der Ehrfurcht vor den Mitmenschen. ja der Nächstenliebe. 23 Und noch einmal soll daran erinnert werden. dass Ehrfurcht vor dem Menschen eigentlich Ehrfurcht vor dem Nächsten bedeutet, und diese endet spätestens an den Grenzen der Stammesgesellschaft. Eine weitere Gruppe von Werten ordnet Sundermeier unter dem Stichwort •.Macht" ein. Es geht um Stärkung des Lebens, um Kraft. Alles Streben geht dahin, dafür zu sorgen. dass der Lebensfluss ungehindert fortströmen kann. Was das Leben schwächt. muss überwunden werden. Dazu braucht der Mensch Kraft und Macht. Selbstbeherrschung, Macht über sich selbst. ist ein wichtiger Aspekt solcher Kraft. Beschneidungs- und Initiationsriten dienen auch diesem Ziel. Nur wer sich kontrollieren kann. kann sich einfügen. Wer seinen Zorn nicht im Zaume :. Th. Sundenneier. Nur gemeinsam. 1988. 209. 13 Th. Sundenneicr. Nur gemeinsam. 1988.214.
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hallen kann. mag Kräfte in Bewegung selZen. die sich nicht mehr beherrschen lassen. Zentrum der Kraft aber ist die Fruchtbarkeit. Mit Fruchtbarkeit wird vor allem Sexualität assoziiert; damit verbunden ist die Vorstellung von der einerseits alles übersteigenden legitimen Mächtigkeit. die in der Sexualität steckt, andererseits die Gefahr, die zugleich in ihr enthalten ist, das zerslörerische Potential. Sexualität wird als Gabe der Ahnen. als Gabe Gottes gesehen; sie ist nicht nur etwas Selbstverständliches. sie ist etwas Gutes; daher wird sie nicht verdrängt, sondern kanalisiert. Die Jugendlichen werden auf den rechten Umgang mit ihr vorbereitet. Aus dem hohen Wert der Fruchtbarkeit folgt. dass Sterilität als großes Unglück gesehen werden muss. Polygamie, als ein Garant der Fruchtbarkeit, hat dagegen einen hohen Stellenwert; Ehelosigkeit und Homosexualität treffen auf wenig Verständnis.
Das Böse und seine Ursachen Mit der Frage nach dem Bösen. nach dem Wesen und dem Ursprung des Bösen tun sich die meisten Autoren. die sich mit der Ethik traditioneller afrikanischer Gesellschaften auseinander setzen. nicht leicht. Vielleicht deshaJb. weil es hier fast ausschließlich um das Böse handelt. wie es im alltäglichen Leben zuhauf erfahren wird. das in diesem konkreten Kontext gedeutet werden muss. denn die "traditionellen Kulturen Afrikas ... verLichten auf die theoretischen Verallgemeinerungen".!<> Wie sich das Böse in der alltäglichen Wirklichkeit zeigt. hängt sehr von den konkreten Umständen der jeweiligen traditionellen Kultur ab. die man in den Blick nimmt. Die Autoren bleibt offenbar nichts anderes übrig. als die unterschiedlichen ethnographischen Daten vorzutragen: einen gemeinsamen Nenner. eine gemeinsame Struktur zu finden. scheint schwierig. wenn nicht unmöglich zu sein. Die Frage nach dem Bösen •.an sich" ist unwichtig. denn sie hilft im praktischen Leben nicht weiter. In diesem afrikanischen Zusammenhang gibt es keinen Dualismus sich ausschließender Wirklichkeiten. hierdas Gute. da das Böse. "Das Böse ist eine anthropologische Wirklichkeit. nicht mehr und nicht weniger",2' es ist ein Teil der Welt des Menschen, ein Teil des Menschen: der Mensch erfahrt es. und er erfahrt. dass Menschen böse sein können. Das Böse. und mit ihm das Leid. erscheinen alsdie Negation aJler Werte, die die siuliche Ordnung bestimmen: Neid. Eifersucht, Hass: die Gefahrdung des Glücks. des Lebens. der Gemeinschaft. des Friedens. der Harmonie. der Fruchtbarkeit; die Zerstörung menschlicher Beziehungen. des Zusammenlebens; Krankheit und
n. J.
Pawlik. Warum gibt es das Leid? Warum gibt es das Böse? Anthropologische Überlegungen aus afrikanischer Sicht. In: 11. Kochanck (Hg.). Wozu das Leid? Wozu das Böse? Die Antwon von Religionen und Weltanschauungen. Paderbom 2002. 181-194. tl Th. Sundemlcicr. Nur gemeinsam. 1988. 223f.
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Not. In den soziozentrisch orientierten afrikanischen Gesellschaften lässt sich eine endlose Reihe von Manifest'ationen des Bösen erfahren, der Abgründigkeit des Bösen, Über den Ursprung des Bösen - woher kommt es. wer hat es zu verantworten - gibt es in der traditionellen afrikanischen Ethik viele Ansichten, GOIt wird die Verantwortung dafür in der Regel nicht zugeschrieben. In einigen Kulturen sieht man den Ursprung des Bösen in Geistwesen, in Geistern. in Totenseelen: zumindestens sind sie seine Wirkkräfte. 28 In Magie, Hexerei und Zauberei wird das Böse für die Menschen am deutlichsten erfahrbar. Aber es sind Menschen, die die übernatürliche Macht zum Schaden ihrer Mitmenschen manipulieren, sie sind .,die Inkarnation des moralisch Bösen",29 Mbiti unterscheidet zwischen dem ,.moralisch Bösen". das sich auf die Handlungen eines Menschen gegen seinen Mitmenschen bezieht, und dem "natürlich Bösen"; unter Letzterem versteht er .,jene Erfahrungen im Leben des Menschen. die mit Leiden. Unheil, Krankheiten, Katastrophen, Unf
Bewahrung und Weiterentwicklung der Werteordnung In altershierarchisch gegliederten Gesellschaften, wie sie im traditionellen Afrika häufig zu finden sind. haben Personen aus der älteren Generation (Familienoberhäuptern. Lineage- und Klanchefs. Häuptlingen, Ältestenräten) die Pflicht, für die Tradierung und Bewahrung der Werteordnung der Gemeinschaft die Verantwortung zu übernehmen, Diese Aufgabe kommt ihnen wegen ihrer Geburt und Stellung in der Gemeinschaft zu. Ihnen obliegt es auch, die geltenden Traditionen in einer gegebenen Situation zu interpretieren und konkrete Missstände und Verfehlungen zu ahnden und evtl. Sanktionen zu verhängen. Nicht selten geht esdabei um den Konflikt, den Widersteit zwischen Individuum und Gemeinschaft. Wenn es darum geht herauszufinden. was die Ursache einer Krise ist, wer aus der Schar der über- und auBcrmenschlichen Wesen (z.8. Geister, Totensee· len, Ahnen) sich durch einen Bruch der sittlichen Ordnung besonders tangiert fühlt und sich strafend in die Welt der Menschen einmischt, wendet man sich in vielen afrikanischen Kulturen an einen Wahrsager. Seine Aufgabe ist es nicht, einfach die Zukunft vorherzusagen; er muss die oft komplexen Hintergründe und Zusammenhänge einer gestörten Situation erkennen und Wege zur Lösung der Probleme finden. Damit kommt auch ihm eine wichtige Rolle in der Bewahrung der traditionellen Ordnung zu. n J. Mbiti. Afrikanische. 260. ~ J. Mbiti. Afrikanische. 272. ~ J. Mbiti. Afrikanische. 274,
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Eine Krise im Verhalten der Mitglieder der Gemeinschaft führt meistens zur Interpretation der überkommenen Regeln. nicht seilen führt sie zur deren Überprüfung oder gar Modifizierung und Anpassung an die augenblicklichen oder künftigen Erfordernisse. Fast immer sieht die Solidarität der Gemeinschaft auf dem Spiel, die Hannonie. der Friede. In vielen traditionellen afrikanischen Kultu4 ren hai sich eine Methode herausgebildet, wie man die Krise so überwinden kann.
dass die bedrohte Solidarität bewahrt oder wieder hergestellt werden kann: Buja nennt es ..das Palavervcrfahren".)1 Ziel solcher Gesprächs- und Verhandlungs-
runden, etwa durchgeführt vom Rat der Ältesten oder vom Rat der Weisen einer Gemeinschaft. ist eine einmütige Entscheidung. eine Entscheidung. die nicht nur von allen vielleicht murrend akzeptiert wird. sondern die auch von allen freiwil· Hg und überteugt angenommen wird. Der Weg zu einer solchen Entscheidung mag lang sein. da wirklich alle Umstände und Interessen. die der Lebenden wie die der Toten. berücksichtigt werden müssen. Das .. Palavennodell·· kommt dem im europäischen Raum seit einiger Zeit diskutierten ..Modell der Diskursethik" recht nahe. 32
Schlussbemerkungen Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik? Die eingangs mit Bujo gestellte Frage. lässt sich nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Ich habe hier versucht. Elemente und Aspekte des Ethos traditioneller afrikanischer Kulturen zu finden und vorzustellen. Es geht dabei um den Versuch. Gemeinsamkeiten im Verhalten afrikanischer Gesellschaften zu benennen. also gewissermaßen einen gemeinsamen Nenner aufzuzeigen. Dazu gehört etwa die Verwurzelung der Wertordnung in GOlt. einem Gott. der zwar als Quelle des sittlichen Gesetzes gill. der aber kaum in das sittliche Leben der Menschen belohnend oder strafend eingreift. Dazu gehört die anthropozentrische Begründung afrikanischer Ethik: Die Moral wird nicht vertikal, sondern horizontal gelebt: es geht also in erster Linie um die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ziel jeden sinlichen Handeins ist es. das Leben der Gemeinschaft zu stärken. denn von ihr erhält der Einzelne selber letztendlich seine Lebenskraft. Sittlich gut ist. was zur Wir- Werdung der Gemeinschaft führt. Nur so lässt sich das Ideal afrikanischer Lebensweise erreichen. die hannonische Integration des Individuums in seiner Familie (Lineage. Klan. Stamm). in seiner sozialen Umwelt. Den Inhalt afrikanischer Wertordnungen und afrikanischen sittlichen Verhaltens habe ich mit Sundenneier zusammengefasst als praktizierte ..Ehrfurcht vor dem Nächsten" (in der verwandtschaftlichen Gruppe). Dazu gehört z.B. gemeinschaftsgemäßes Verhalten. Hilfsbereitschaft. Respekt vor dem Menschen, Ein~
JI
Jl
B. Bujo. Gibt es. 601. B. Bujo. Gibt es. 602.
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und Unterordung in der Gemeinschaft, Selbsbcherrschung, Achtung und Förderung des Lebens, der Fruchtbarkeit. Dieserkleinste gemeinsame Nenner musste ziemlich abstrakt bleiben. Ein Blick aber auf die vielen unterschiedlichen Lebensformen traditioneller afrikanischer Kulturen erweist, dass mit dieser Darstellung das Ethos afrikanischer Kulturen keineswegs in seiner ganzen Fülle und Variationsbreite erfasst werden kann. Zu· viele höchst unterschiedliche Denk· und Lebensweisen werden damit kaum angemessen beriicksichtigt: Etwa die Kulturen der Jäger und Sammler (Pygmäen, Buschmänner), die Welt der Hirtenkulturen oder die Kulturen der Städte und Stadtstaaten (vor allem in Westafrika); selbst die Pflanzer· und Ackerbaukulturen, die im Vorhergehenden am öftesten zur Sprache kamen. konnten nicht in all ihren Fazetlen beriicksichtigt werden. 33 So verschieden wie die Sozialstruktur. die Wirt· schaftsformen. die Religionen sind auch die Lebensformen und die mit ihnen ein· hergehenden Werteordungen dieser afrikanischen Gesellschaften. Vollständiger und damit auch richtiger und genauer darstellen ließe sich diese Vielfalt allerdings nur. wenn man die ethnographischen Daten in aller Breite und Ausführlichkeit ausbreiten und untersuchen könnte. Das ..Ethos traditioneller afrikanischer Kulturen"lässt sich in seinem ganzen Umfang und erschöpfend wohl überhaupt nicht erfassen. Wenigstens eine Ahnung davon will dieser Beitrag vermitteln.
:u Die hier angewandle Eintcilung ist J. Maquel. Les civilisalions noires. Histoire. tcchniques.
ans. societe:s. Paris 1962. sowie J. MaquetIH. GanseJmayer. Die Afrikaner. Völker und Kulturen des Schwanen Konlinents. München J970 entnommen.
Zum Ethos der late'
ikanischen Kultur
Mariallo Oe/gado
Lateinamerika als Heimat der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit In den letzten Jahren ist es üblich geworden. zumindest in kirchlichen Kreisen. Lateinamerika als ..Kontinent der Hoffnung" zu bezeichnen. Der Begriff wird spätestens seit der 3. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats 1979 in Puebla (Mexiko) immer wieder verwendet. Deutschsprachige Theologen gaben einem Sammelband dazu eben diesen TiteL' wohl in bewusster oder unbewusster Abwandlung eines Ausdrucks Hegels, der von ganz Amerika als dem ..Land derZukunfr' gesprochen haue...einem Land der Sehnsucht für alle. welche die historische Rüstkammerdesahen Europa langweilr'l, Die Neue Welt imAlIgemeinen, die bis ca. 1700 im Wesentlichen aus Spanisch· und Portugiesisch·Ame· rika bestand, wurde seit deren Entdeckung als "Land der Sehnsucht" verstanden - und Lateinamerika ist es rur viele bis heute auch geblieben, wie die hiesigen Reaktionen auf Phänomene wie die kubanische Revolution und ehe Guevara, die sandinistische Revolution, die Theologie der Befreiung oder die Ereignisse im Urwald von Chiapas zeigen. Man hat dabei den Eindruck, dass Laleinamerika zum ..romantischen" Kontinent schlechthin geworden ist, in dem unsere Sehnsüchte nach der idealen Gesellschaft Wirklichkeit werden sollen. Wenn es einen Gedanken gibt, der das Ethos der lateinamerikanischen Kultur in den letzten ftinfhundert Jahren kennzeichnet, so wäre dies "Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und universaler Brüderlichkeif', wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 'Vgl. H. SchöpferlE. Stehle (Hg.), Kontinent der Hoffnung. Dle Evangelisierung Lateinamerikas heute und morgen. Beiträge und Berichte: zur 3. Generalversammlungdes lateinamerikanischen Episkopal$ in Puebla 1979 (Entwicklung und Frieden - Dokumente. Berichte. Meinungen 8). MainzlMünchen 1979. l G.W.F. Hege!. Voriesungen über die Philosophie der Geschichte (Theorie Wertcausgabe 12), FrankfurtfM. 1970. 114.
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In meinem Werk Die Metamorphosen des Messianismus in den iberischen Ku/ruren. Eine religionsgesc/zichtliche S/udit? habe ich den Versuch unternommen, die Kulturgeschichte Lateinamerikas anhand von folgenden Metamorphosen der messianischen Sehnsucht zu beschreiben; Die HispanisierunglLusitanisierung, die Kreolisierung. die Andinisierungllndigenisierung. die MestizisierungfLatcin· amerikanisierung. Da ich glaube, dass ein solches Schema auch geeignet ist, um die Kontinuität des lateinamerikanischen Ethos durch verschiedene Metamorphosen hindurch als die Utopie der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit zu Skizzieren, werde ich mich im Folgenden daran halten...Utopie" bedeutet hiernichl ein irrealer Ort. sondern steht für die Flamme einer Sehnsucht, die in den entscheidenden Umbrüchen Lateinamerikas immer wieder wach gehaltcn wird - im kontrafaktischen Kontrast zur rauen Wirklichkeit.
Die missionarische Utopie Die ..wunderbarc" Entdeckung der Neucn Welt beSliirkte Spanien (und Portugal) in dem Gcfühl. von Gott zur Führung der Christenheit auserwählt worden zu sein, zur Christianisicrung der neu entdeckten Welt und zur Sammlung der Christenheit unter einem Hirten - so der Traum der katholischen Universalmonarchie unter spanischer oder portugiesischer Führung. Missionare. Juristen und Theologen, die von der untrennbaren Einheit zwischen Politik und Moral ausgehen. werden zwar das iberische Sendungsbewusstsein teilen. es aber von der Einhaltung eines bestimmten Ethos abhängig machen. wie es erstmals in der prophetischen Anklage der Dominikaner Espanolas im Advent 1511 zur Sprache kommt: ,.Sind das etwa keine Menschen? Muss man ihnen gegenüber nicht die Gebote der Nächstenliebe und Gerechtigkeit halten und befolgen? Hauen sie nicht ihre eigenen Länder. ihrc Herren und Herrschaften?,'4 Diesem prophetischcn Aufschrei folgt die so genannte Rechtstiteldiskussion. in der - wenn man von der ..zynischen" Meinung des Humanisten Juan Gines de Sepulveda absieht. der in den Indios aristotelische ..Sklaven von Natu~' oder Barbaren und in den Spaniern die besten Träger der christlichen Zivilisation sah. SO dass den lndios nichts Besseres passieren konnte. als den ethisch und zivilisationsgeschichtlich überlegenen Spaniern zu dienen. um von diesen im Glauben und in den guten Sitten erzogen zu werden - die Ansätze der Dominikaner Francisco de Yitoria und Bartolome de Las Casas paradigmatisch sind. Während der nüchterne akademische Lehrer Yitoria es schließlich bei einer formellen Anerkennung der indianischen Herrschaftsrechte belässt, die aber mit Hilfe einer christentumsfreundlichen Auslegung des Missionsrechts und des Migrations- und Handelsrechtes ausgehöhlt werden können. da die Spanier bei
M. Dclgado. Die Metamorphosen des Messianismus in den iberischen Kulturen. Eine rcligionsgeschichtlichc Studie (Schriftenreihe 34).lmmensec 1994. • B. Las Casas. Werkauswahl Bd. 2. 223. J
Zum Ethos der lateinamerikanischen Kullur
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Verweigerung dieser Rechte ihre Stellung in der Neuen Welt nach und nach auch gewaltsam ausbauen und die Herrschaft übernehmen dürfen, kommt Las Casas. nicht zuletzt aufgrund seiner Empathie für fremdes Leid. erstmals in der Geschichte des Kolonialismus zu einer .,reziproken Ethik", d.h. zu einer Ethik, die die lndios als gleichberechtigte Partner wahrnimmt und ihnen dieselben Rechte zubilligt, die im Umgang der europäischen Völker miteinander üblich sind. Diese Rechte. die ich hier nicht näher ausführen kann,~ sind: das Recht auf freiwillige Annahme (oder Ablehnung) der spanischen Herrschaft; das Recht auf Widerstand gegen die tyrannische, weil unrechtmäßig erworbene. spanische Herrschaft; das Recht auf Anerkennung und Bewahrung der indianischen Kultur; das Recht auf Respekt vor der indianischen Religiosität und auf Bewahrung der christentumskompatiblen Elemente derselben; schließlich sogar das Recht auf Ablehnung des im Schauen der Conquista gewaltsam bzw. in einer Herrschaftsposition gepredigten Christentums. Diese Grundrechte können auch heute als Grundlage einer gerechteren Weltordnung im Schauen der Globalisierung betrachtet werden. Die Universalisierung der westlichen Kultur und Religion wird künftig jedenfalls nur unter BeaChtung dieser Grundrechte der Anderen eine Chance haben. In diesem Sinne ist Las Casas. der die erste Globalisicrungsphase des 16. Jhs. mit den Augen der Anderen kritisch betrachtete, .,unser Zeitgenosse". Am Ende seines Lebens hält Las Casas das Projekt der spanischen Universalmonarchie für gescheitert, denn er spricht ein vernichtendes ethisches Urteil über diejenigen, .,die sich für so geistreich und weise halten und Anspruch darauf erheben. die ganze Welt zu beherrschen"6. Statt an der Einheit von Politik und (messianischer) Moral festzuhalten, sei das spanische Weltreich zu einer Räuberhöhle geworden. die sich die Herrschaft über die indianischen Völker und den Besitz über deren Hab und Gut widerrechtlich angeeignet habe und daher zur Wiedereinsetzung der indianischen Herren in ihre alten Rechte sowie zur vollständigen Restitution der beraubten Güter verpflichtet sei. Indiophile Missionare wie Las Casas und die Franziskaner der Mexiko·Mis· sion haben auch ein Gespür für die ethischen Werte der indianischen Kulturen. Las Casas geht so weit zu behaupten. dass sie nicht nur den meisten Völkern der Antike (Ägyptern, Griechen. Römern) ethisch überlegen waren. sondern dass sie auch vieles hatten, ..das es durchaus verdiente, dass es in unserer universalen Kirche ausgeführt und vollzogen würde und dass man es von ihnen lernte",7 Zum Lascasianischen Ethos bzw. zur missionarischen Utopie gehören auch folgende Prinzipien: Die Befürwortung einer klugen Mestizisierung oder Vermischung zwischen den Indios und den Spaniern. Bereits 1516, also im selben Jahr, in dem die
, M. Delgado. Die Rechte der Völker und der Menschen naeh 8artolonlt de Las Casas (Manuskript. im Druck). • 8. Las Casas, Werkauswahl 8d. 3/1. 518. , 8. Las Casas. Werkauswahl Bd. 2. 464.
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Utopia des Thomas Morus erschien. entwirft Las Casas Pläne für Mustersiedlungen. in denen die Indios und einfaches spanisches Bauernvolk friedlich, gerecht und zum gegenseitigen Frommen und Nutzen miteinander leben sowie sich biologisch und kulturell vennischen sollten. Aus der Vermischung von einfachen Spaniern mit den zu einem unverdorbenen gellils llllgelicum stilisierten Indios versprachen sich Las Casas und die Franziskaner der Mexiko-Mission die Verwirklichung einer "missionarischen Utopie", nämlich den Aufbau einer wahren Kirche Christi in einer glücklichen Weh. in die die Laster der dekadenten europäischen Christenheit der Renaissance. allen voran die Habgier. keinen Eingang finden solhen. Das Vermischungskonzept ist cin wesentliches Merkmal der .,katholischen" missionarischen Utopie. Die katholische Missions- und Siedlungspolitik folgte dem ahrömischen Modell und zielte auf Vermischung mit den missionierten Völkern und Schaffung gemischter Gesellschaften von All- und Neuchristen; die protestantische Missions- und Siedlungspolitik lief hingegen - vor allem dort, wo, wie in Neu-England und in Südafrika, der strenge Prädestinationsgedanke augustinisch-calvinistischer Provenienz mit dem Bundesgedanken verbunden wurde - auf Apartheidsregime hinaus, damit die europäischen Auserwählten unter sich bleiben konnten.' Ein zweites Prinzip missionarischer Utopie ist die befreiende Predigt des Evangeliums. Gewiss, anders als Las Casas haben die Franziskaner der Mexiko-Mission die Versklavung der Indios nicht prinzipiell abgelehnt. Sie betrachteten sogar das Encomienda-System. nämlich dass Indios einem Spanier als Landknechte anvertraut werden, als für die Hispanisierungs- und Evangelisierungsaufgabe zweckmäßig, während Las Casas darin die Wurzel aller Übel sah. Aber auch unter den Bedingungen des Encomienda-Systems bemühten sich die Franziskaner um eine befreiende Evangelisierung. Zeugnis davon gibt nicht zuletzt eine köstliche Anekdote. die Las Casas selbst erzählt und an der ein Paulo Freire, hätte er sie gekannt. seine Freude gehabt hätte. Die Kommendeninhaber versuchten den Bettelmönchen den Zugang zu den Indios mit der viel sagenden Begründung zu verwehren. dass diese...nachdem sie im Glauben untenviesen und Christen wurden, klug reden und mehr wissen als vorher, so dass man sich ihrer fortan nicht so gut wie früher bedienen kann".9 Die missionarische Utopie ist der erste Ausdruck eines Ethos von Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit in Lateinamerika. Für die weiteren Metamorphosen dieses Ethos kommt ihr der Rang einer Urprägung zu.
IM. Dclgado. Missionstheologische und anthropologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten im Entdeckungszeitalter. in: Zeitschrift ftir Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 87 (2003) 93-111 . • B. Las Casas, Werkauswahl. Bd. 312. 88.
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Die kreolische Utopie Unter ..Kreolisierung'· ist der historische Prozess zu verstehen. der vor allem im kolonialen Spanisch-Amerika zu einer ..Beerbung'" des spanischen Sendungsbewusslseins durch die spanischstämmigen Bewohner der Neuen Welt ftihrt. Diese Beerbung. die sich bereits um 1570 (Francisco de la Cruz) andeutet, gipfelt schließlich in der antispanischen Unabhängigkeitsrhetorik des frühen (Sim6n Bolivar) wie spälen (Jose MartJ) 19. Jhs. Gemeinsam ist der kreolischen Utopie eine Verbindung der maßlosen Dämonisierung der Spanier mit der grenzenlosen Bewunderung ftir Las Casas und der Utopie des ewigen Friedens und des technischen Fortschritts (Positivismus) in einem neuen Zeitalter. das mit der Unabhängigkeit Laleinamerikas anbrechen und der ganzen Menschheit zum Segen gedeihen wird. Im Schallcn des Unabhängigkeitskampfes wurde Las Casas' Ganz Kurzer Bericht iiberdie Zerstörung Westi"diens 'o . in dem dieGräueltalen in den ersten Dekaden der Conquista feslgehalten und die Spanier - Las Casas meinte Conquisladores und Kommendeninhaber. nichl Missionare und gute Spanier - als Tyrannen und Feindedes Menschengeschlechts bezeichnet werden. mehrfach aufgelegt. So iSI es nicht verwunderlich. dass der Befreier Sim6n BolIvar in seinen Jamaika-Briefen des Jahres 1815 Spanien ..eine alle giftige Schlange". eine "habgierige Nation" bzw. eine Nation. "die sich nur in Wildheit. Ehrgeiz. Rache und Habsucht hervorgetan hai". nennt; die Spanier werden als .,der universalen Verachtung überaus Würdige" apostrophiert und als schlimmste •.Feinde des Menschengeschlechts" sowie eine "Rasse von Völkermördem"l1 bezeichnet. die in ihrem eigenen Blut oder im Meer ertrinken sollte. während das vorbildhafte Verhalten der Engländer. deren Kolonisationspolitik von der iberischen so verschieden gewesen sei. dass freie ationen wie die USA daraus hervorgehen konnten. gleichzeitig gelobt wird. Bolivar und die anderen Befreier instrumentalisierten gleichfalls Las Casas' prophetische Anklage der frühen Kolonialzeit. um den Unabhängigkeitskampf zu rechtfertigen. Die Kreolen schlüpften faktisch in die Opferrolle der Indios und tralen auch in ihre Rechte ein. Sie sahen daher in Las Casas. dem "Vater der Indios". eine Art ,.Schutzpatron" Amerikas. Für Servando Teresa de Mier. einen ehemaligen Dominikaner, der zum Chefideologen der mexikanischen Unabhängigkeit avancierte. verlangte die Dankbarkeit. dem Andenken Las Casas' "das erste von freien Händen errichtete Denkmal" zu widmen: ..Versammelt um diese Stalue besiegelt eure Verträge und singt eure Freiheitshymnen (. ..) Sein Schatten wird
• B. Las Casas. Werbuswahl. 4 M. hg. von Mariano Delgado. Paderbom 1994-1997. Werkauswahl. Bd. 2. 25-138. 11 S. Bolivar. Reden und Schriften zu Potilik. Winschaft und Gesellschaft hg. von H.-J. König. Mit eiMm VOfWon \'on 8. 8elanCur. Staatspräsident von Kolumbien. Hamburg 1985. 32. 33. 35. 36; vgl. auch deB.• EscriIOS polilicos. hg. von G. Soriano. Madrid 1990. Escritos. 59-90. 89.
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euch den Respekt aller Völker verschaffen. und niemand wirddenken können. dass das Volk des Casas nicht tugendhaft ist (...) Ich würde ihm diese Inschrift setzen, die so schlicht wie der Held ist: .Fremder! Wenn du die Tugend liebst. bleib hier stehen und verehre ihn. Dieser hier ist Casas. der Vater der Indios' ."l~ Bolivar träumt von einem hannonischen Zusammenleben von Indios. Schwarzen. Mestizen und Weißen unter kreolischerObhut,denn obwohl diese ganz sicher eine Minderheit sind, sei es ebenfalls sicher.•.dass diese Minderheit intellektuelle Qualitäten besilzl. welche ihr vermutlich eine relative Gleichheit und einen Einfluss gewähren. ··ll Bolivar idealisiert dann den friedfertigen Charakter des Indio, der nur Ruhe und Einsamkeit erwartet" um schließlich seine Überzeugung aus· zudrücken. dass alle Kinder Spanisch·Amerikas, gleich von welcher Farbe oder welchem Stand sie auch seien. sich gegenseitig und brüderlich lieben ...was keine Verschwörung (von außen) zu ändern vermag",U Ebenso hat Bolivar die Vision von einer planetarisch-messianischen Rolle Spanisch·Amerikas zum Wohle der gesamten Menschheil: .. Ich sehe es schon als Band. als Zentrum. als Handelsplatz der menschlichen Familie dienen: ich sehe schon. wie es in alle Winkel der Erde die Schätze an Silber und Gold sendet. die seine Gebirge bergen: ich sehe schon. wie es durch seine gÖltlichen Pflanzen den leidenden Menschen der alten Welt Gesundheit und Leben bringt ich sehe schon. wie es seine kostbaren Geheimnisse den Weisen mitteilt. die nicht wissen. um wieviel höher die Summe der Bildung ist als die Summe der Reichtümer, mit denen die Natur es überschüttet hat. Ich sehe schon. wie es auf dem Thron der Freiheit sitzt. in der Hand das Zepter der Gerechtigkeit. gekrönt vom Ruhm. und der alten Welt die Majestät der neuen Welt zeigt."'ll Diese Utopie des ewigen Friedens wird auch vom kreolischen Klerus Lateinamerikas geteilt. So ist z.B. der .. Brief an die amerikanischen Spanier'" (1792) des in Peru tätigen Jesuiten Juan Pablo Viscardo (1748-1798) von einem ähnlichen Optimismus der Aufklärung durchzogen: "Wie viele werden, die Unterdrückung und das Elend fliehend, uns mit ihrem fleiß. mit ihrem Wissen bereichern und unsere geschwächte Bevölkerung stärken! So wird Amerika die Menschen aus allen Enden der Erde sammeln, und seine Bewohner werden durch das gemeinsame Interesse einer einzigen großen Familie von Brüdern verbunden sein,;'"
11 K, KoschorkelF. Ludwig/M. Dclgado (Hg.). Außereuropäische ChrislenlUffisgeschichle, Asien. Afrika. Laleinamerib 1450-1990 (Kirchen- und 11w:ologiegeschichle in Quellen 6). Neukirchen.Vluyn 2004. 268. U S. Bolivar. Escritos. 85f. 10 S. Bolivar. Escritos. 87. S. Bolivar. Escritos. 89. I. S. Bolivar. Reden. 59. 11 K. KoschorkeJF. LudwigIM. Dclgado. Außereuropäische Chrislemumsgeschichte. 264.
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Die indianisch-indigenistische Utopie Auch diese neue Metamorphose hat ihre ersten Wurzeln bereits in der frühen Kolonialzeit geschlagen: in den frommen Bettelmönchen mit ihrer Idealisierung der Indios zum genus angehcum im Unterschied zu den verdorbenen Spaniern: im Indio FelipeGuaman PomadeAyala,der in seinem Werk NlIevacronicay bllen gobiemo( 1615. NeueChronik und gute Regierung) '8 diegerechte soziale Verfassung und das kollektive Ethos des TawalltinslI)'lt. des lnkareichs der vier Weltgegenden, als Kontrast zur kolonialen Unterdrückung hervorhebt: und schließlich im Mestizen Inca Gareilaso de la Vega. der in seinem Werk Comenfarios reales de los Illcas (1609-1617)19 die gute alle Inkazeit nachträglich verklärt. Dazu kommt noch die mündliche Überlieferung mit ihrem magisch-mythischen Denken als Ausdruck des kollektiven Bewusstseins indianischer Bauern in den Anden. Darin verschmelzen die drei von den Spaniern hingerichteten Inka. nämlich Atahualpa (1533). Tupac Amaru I. (1572) und Tupac Amaru 11. (1781). zu einem archetypisch-messianischen Inkaherrscher. dem so genannten .,Inkarr'" (aus .. Inka" und ..rey"). der eines Tages zuriickkommen wird. um sein Volk zu sammeln sowie sein Reich zu restaurieren bzw. zu vollenden. Mehrere Versionen dieses Mythos sind in den letzten Jahrzehnten aus der mündlichen Überlieferung andiner Bauern gesammelt worden. 20 Aus diesen Elementen ist letztlich das entstanden, was heutige Andenforscher ,.die andine Utopie" nennen, also der Tagtraum von einer baldigen messianischen Renaissance andiner Kultur." 1 Die reife Frucht dieser "andinen Utopie" wird erst um 1900 blühen. als nach dem "kreolischen Jahrhundert", das für die indigene Bevölkerung z.T. schlimmer als die Kolonialzeit war. die so genannten ..Indigenisten'· sie mit dem Marxismus verbinden und daraus eine säkular-messianische Ideologie machen werden. die sie dann partout ihrem messianischen Volk. den indianischen Bauern, einprägen wollen. In diesen sehen die Indigenisten nämlich das eigentliche Subjekt revolutionärer Veränderung in Lateinamerika. Nirgendwo ist dieser Prozess so virulent verlaufen wie in den Anden. Die modeme Indigenisierung nahm ihren Anfang bei Manuel Gonzalez Prada (1844-1918), der bereits in seinen ersten Reden deutlich sagte. dass nicht die kreolischen und ausländischen Gruppen der Küste. sondern die am Osthang der Kordilleren zerstreuten Millionen Indios das eigentliche Peru seien. Ihre ent-
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P. de AyalafF. Guam~n. Nueva cr6nica y buen gobiemo. hg. von J. V. MulT3/R. AdomolJ.L. Urioste. 3 Bd. (Cr6nicas de America 29a,b,c), Madrid 1987. 1~ Garcilaso de la Vega. Wahrhaftige Kommentare zum Reich der Inka. Berlin 21986. lO Eine "lheologischc"lnterprctation dieses Mythos mit drei Versionen in deulSCher Übersetzung lindet sich in meiner Habilitationsschrift: M. Delgado. Abschied vom erobernden GOH. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika (Supplementa NZM), Immensce 1995.263-322. 11 Vgl. besonders M. Burga. NacimienlO: G. Flores. Buscando un inea. Idcntidad y utopia en los Andes. Lima 1987 (neue Auf!. 20(5).
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scheidende soziaJrevolutionäre Prägung verdankt sie allerdings Lufs E. Yalcarcel (1891-1987), Jose Carlos Mariategui (1894-1930) und nicht zuletzt Jose Marla Arguedas (1911-1969). Ihnen allen ist die Überzeugung gemeinsam. dass nicht das Alphabet des Weißen, also die Kultur, sondern der Mythos der sozialistischen Revoluüon den Indios neuen Mut gibt: Das indianische Landproletariat wartet auf seinen Lenin. Wie ein "Credo" stell! Valcarcel seinem andinistischen Manifest Tempeswd en los Alldes (J 927. Sturm in den Anden) den oben zitierten Gedanken von Gonzalez Prada voran. Dem Indigenismus verleiht Valcarcel den Charakter eines leidenschaftlich-apologetisch verteidigten .. Anden-Evangeliums·': er vertritt eine romantisch verklärte Sicht der andinisch-inkaischen Rasse, Kultur, Gesellschaft und Religion, dem gennanischen ,.Blut·und·Boden-Mythos·· nicht unähnlich. Der Andinismus ist für ihn ein "reines Naturgefühl" (die Liebe zur Erde. zur Sonne, zu den Flüssen und den Bergen). "Agrarismus" (also die Rückkehr zur ursprünglichen Reinheit, ja Naivität der bäuerlichen Seelen). die .,heilige Brüderlichkeit" (ohne Ungleichheilen, ohne Ungerecht igkeiten zwischen den Menschen) und schi ießI ich die" Verheißung" 22 eines personellen und kollektiven Ethos als Reaktion gegen all die Laster der abendländisch geprägten. verdorbenen peruanisehen Küstengesellschaft. Die Vergangenheit, das inkaische 7(nVlumtinslIYu, erscheint ihm durchaus als ein Programm für die Gegenwart. Seine Sicht des Mestizen ist geprägt von ethnischem Vorurteil. Dieser sei nichts als ein Absurdum. eine Hybris. ein Wesen, das nicht die alt überlieferten Tugenden. sondern nur die Laster und Hemmungen erbt. Die Vennischung der Kulturen produziere nur Missgeburten. Daher sollten lndigenislen der Rasse verpflichtet seinY Seine Hoffnung richtet sich auf den Tag von YäWllr Iillf,..24 der nach der Vernichtung des Bösen das eschatologische Anden-Reich von dieser Welt ennöglichen wird: "Eines Tages wird die Blutsonne leuchten. der Yllwllr Inti. und alle Wasser werden sich rot farben. Die Ufer des Titicaca werden sich purpurn farben. purpurn selbst die kristallenen Bäche, Das Blut wird bis zu den hohen und verschneiten Gipfeln aufsteigen. r...] Selbst in der Nacht wird die Flamme die Welten erleuchten. Er wird der läuternde Brand sein. Ohl Erwartete Apokalypse, der Tag von Yawar-Imi. dessen Dämmern nicht auf sich warten lässt ,'.l,S Auch Mariategui setzt eher auf den Indio denn auf den Mesüzen. um die andine Revolution zu verwirklichen. Die in die Stadt ausgewanderten Andenmestizen überwinden zwar in einer industriellen. dynamischen Umgebung sehr schnell die Entfernungen. die sie vom Weißen trennen. und sie können sogar die westliche Kultur mit deren Gebräuchen, Impulsen und Konsequenzen assimilieren: doch L.E. ValcäTcel. Tempestad cn los Andes. Uma ~1972. 125. 127. :J L.E. Valeärcel. Tempestad. 33-35. 104(, 107f. :.0 Auf Ketschua, der meistvcrbrcitcten indianischen Sprache in den Anden. bedeutet Yawar Blut und Imi Sonne. Mit der ..roten Sonne" verbanden die Indianer in der Inkazeit die Vorstellung von der Erneuerung der Erde durch einen Kataklysmus 3m Ende einer historischen Periode. n L.E. Valcarcel. Tempestad, 24. :l
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sie laufen dabei Gefahr. seelenlos und leer zu werden. Auf dem feudalen Großgrundbesitz der Sierra. in einem rückständigen Marktflecken haben die Mestizen hingegen keine Aufstiegsmöglichkeiten. Angesichts dieses Dilemmas neigt Marüitegui dazu. den Mestizen nicht zu beneiden und weiterhin auf den Indio zu setzen. Dieser sei zwar noch nicht in die expansive. dynamische Zivilisation des Weißen integriert. die nach Universalität strebte; aber er habe mit seiner Vergangenheit auch noch nicht gebrochen. Trotz der Eroberung. trotz des ausbeutenden Großgrundbesitzes bewege sich der Indio noch immer in gewissem Maße innerhalb seiner eigenen Tradition. Die indianische Gesellschaft möge mehr oder weniger primitiv oder rückständig wirken. sie sei jedoch ein organisierter Typus von Gesellschaft und Kultur, kurzum: .,Das Leben des Indio hat Stil" M - seine kollektive Ethik ist für Mariategui nachahmenswert. Mariategui ist höchstens bereit. einen Mestizisierungsprozess anzunehmen, in dessen Verlauf Mestizen und Weiße. wie Jose Uriel Garcfa 1930 erwartete, zu .,Neu-Indios" werden.17 aber nicht einen solchen, der aus den Mestizen Abendländer mache. Auf diese Indios bzw. Neu-Indios - die nur einen andinen Lenin bräuchten. um aus der Lethargie der Jahrhunderte zu erwachen und durch produktive Aneignung der wissenschaftlich-technischen Kultur untcr Beibehaltung der eigenen andinen Identität die Wcltrevolution zu verwirklichen - setzt Mariategui seine ganze Hoffnung. Für Arguedas 2ll ist der Gegensatz zwischen der kreolischen und der indiani· sehen Gesellschaft ebenfalls schier unüberbrückbar. Während er nämlich in der kreolischen Gesellschaft nur jene Menschen zu sehen vermag. die durch einen aggressiven Individualismus geprägt sind und deren Vorfahren in den Hochebe· nen Spaniens den .,Teufel" trafen. ist die Qechuagesellschaft für ihn der Raum. in dem wahre menschliche Brüderlichkeit gelebt wird und in dem die Natur. wie ein lebendiger Mantel, den von Zweifel, Bitterkeit und Skeptizismus noch nicht verdorbenen Indio umgibt. Arguedas versucht, den sozialrevolulionären AndenMessianismus von Valcarcel und Mariategui mit den magisch-mythischen Denktraditionen der Quechua zu verbinden. denn aus eigener Erfahrung -er ist, obwohl Sohn eines weißen Rechtsanwalts. nach dem frühen Tod seiner Multer bei einer indianischen Amme aufgewachsen und hat deren Sprache als Muttersprache über· nommen - weiß er. dass die Indios den sozialrevolutionären Mythos nur verstehen werden, wenn er ihnen aus ihrer Geschichte heraus plausibel wird. So wird sich Arguedas zum Ziel setzen. den Indios nicht Lenin. sondern Tupac Amaru n. als
J.C. Marilitegui. Sieben Versuche. die peruanische Wirklichkeit zu verstehen. Mit einer Einleitung von K. Füssel und einem Nachwort von W. F. Haug. Fribourg 1986. 3(X). Vgl. G. Urie!. EI Nuevo Indio. Lima 1973 (Erstausgabe 1930). 17 J.c. Mariätegui. Sieben Versuche. 295f. 1lI Vg1. dazu M. Delgado. Jose Marfa Arguedas - oder Die halbierte Modeme. Die Welt der Quechua zwischen Romantik und Realismus. in: M.P. Baumann (Hg.). Kosmos der Anden. Weltbild und Symbolik indianischer Tradition in SUdamerika. MUnchen 1994. 224-271. /!II
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Vorbild einzuprägen, als dessen Reinkarnation die verschiedenen Bauemführer der Anden gesehen werden.
Die panlateinamerikanische, universale Utopie Die missionarische, die kreolische und die indianisch-indigenislische Utopie werden im Verlauf des 20. Jhs. von einer panlateinamerikanischen, universalen Utopie abgelöst, von der ich hier drei konvergierende Varianten hervorheben möchte: La· leinamerika als Heimat der fünften (kosmischen) Rasse. Lateinamerika als Heimat der Gerechligkeit und der Freiheit sowie schließlich Lateinamerika als Geburtsort einer universalen Befreiungsclhik. I) Anders als bei der Indigenisierung ist nun bei der Utopie der fünften (kosmischen) Rasse nicht der Indio bzw. der .,Neu-Indio" das messianische Subjekt der Zukunft Lateinamerikas. sondern der aus der Vermischung aller Rassen ent· standene Mestize. Die Bedingung der Möglichkeit einer positiven Einstellung zum Mestizen ist für die Befürworter dieser Utopie allerdings eine Entlarvung der von der Kreolisierung und Indigenisierung betriebenen .. Verteufelung" des hispanischen Elements. das die iberoamerikanischen Kulturen am nachhalligstcn geprägt habe. Nun betont man wieder den um 1800 von Kreolen herausgearbeiteten Unterschied zwischen den iberisch-katholischen und den angelsächsischprotestantischen Kulturen, um aber die geistige Überlegenheit der ersteren mit selbstbewusstem Stolz hervorzuheben. Vorbereitet wurde diese Utopie bereits in der Zeit um 1600. wo sich das so genannte "Barockethos" ankündigte. nämlich eine auf Mestizisierung begründete ..kulturelle Synthese als Grundlage des historischen Gedächtnisses lberoamerikas", wie der Chilene Pedro Morande treffend postuliert hat. 29 Spuren davon waren allerdings bereits im 16. Jahrhundert bei Bartolome de Las Casas u.a. zu erkennen und wurden später bei Sim6n Bolivar wirksam. wenn auch letzterer von einer Mestizisierung unter .,kreolischer Obhut" träumte. Im 20. Jahrhundert wird vor allem der vielseitige mexikanische Autor Jose Vasconcelos (1881-1959) - er war Philosoph. Essayist und Politiker - dieser ..panlateinamerikanischen" Utopie die entscheidende Prägung verleihen. In seinem "Credo" La raza cOsmica. Misio" de la raza iberoamericana (1925, Die kosmische Rasse. Bestimmung der iberoamerikanischen Rasse)JO wirft Vasconcelos der politischen Klasse der verschiedenen
~ P.
Morande, Die Herausbildung des Barockethos als Kern der iberoamerikanischen kulturellen Identität. in: P. Hünermann/J.C. $cannone (Hg.). Lateinamerika und die Katholische Soziallehre. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm. Bd. I: Wissenschaft. kulturelle Praxis. Evangelisierung. Methodische RenexiOrlCn zur katholischen Soz.iallehre. Mainz 1993.337-366.340: ausHihrlicher wird dies begründet in: ders.. Cultura y modemizaci6n en America Lalina. Madrid 1987. Xl VgJ. 1. Vasconcelos. La ra2.a c6smica. Auszüge aus diesem Werk sind erschienen in: J. Rama (Hg.). Der lange Kampf. 140-157. Diedeutsehe Übersetzung wird, soweit vorhanden. übernommen und. wenn nötig. stillschweigend geändert.
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Nationen Lateinamerikas vor, bisher nur darauf bedacht gewesen zu sein, sich durch spezielJeAbkommen mit den USA besondere Vorteile zu verschaffen, ..ohne die gemeinsamen Interessen der Rasse zu berücksichtigen". Die Begründer des kreolischen Nationalismus nennt er samt und sonders "nützliche Verbündete der Angelsachsen, unserer Gegner im Kampf um die Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinen!".)' Besonders dem uns bekannten Mier. dem Theoretiker der mex.ikanischen Unabhängigkeit. hält Vasconcelos vor. von London aus und bezahlt von der britischen Regierung seine antispanische Unabhängigkeitspropaganda betrieben zu haben. l2 Die Rasse. die einst von einer Universalmonarchie geträumt hatte und sich für die Erben der ruhmreichen Römer hielt. ist Vasconcelos zufolge der Versuchung erlegen. Kleinstaaten und Fürstentümer zu gründen. die noch dazu von Seelen regiert wurden, .,die in jedem Gebirgszug eine (unüberwindbare) Mauer und nicht einen (zu erobernden) Gipfel sahen")). Die anlispanische Unabhängigkeitspolemik und die gleichzeitige Anpassung an die angloamerikanische Denk- und Lebensweise. die von den Angelsachsen geschickt vorangetrieben worden sei. habe von Anfang an das Urteilsvermögen der Lateinamerikaner beeinträchtigt. so dass sie selbst dazu gekommen seien. an die Minderwertigkeit des Mestizen, an die Assimilationsunf
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Vasconcelos' Hoffnung begTÜndet, dass die Gegenwart zwar ihnen gehören möge. aber die Zukunft unweigerlich von Lateinamerika bestimmt sein werde: sie hätten nämlich die Sünde begangen. die Urrassen Amerikas auszurotten, während die Iberer sie durch Mcstizisierung assimiliert hätten. Daraus entnimmt Vasconcelos die historische Prognose. nur in Lateinamerika werde im Verlauf eines Verschmelzungs- und Wiederverschmelzungsprozesses aller bisherigen vier RasseneinesTages die neue, eben "fünfte. kosmische Rasse" entstehen, eine universale Synthese der Menschheit, die dann durch Aufhebung der Gegensätze dieser Rassen ein auf Liebe basierendes Friedenszeitaher, etwa eine Art ,.zivilisation der Liebe" planetarischer Dimensionen, begründen werde. Denn Lateinamerikas Bestimmung sei. die Heimat einer fünften - aus der Verschmelzung aller Völker entstandenen - Rasse zu werden. um jene vierzu beerben. die isoliert voneinander den bisherigen den Lauf der Geschichte geprägt haben: "Auf amerikanischem Boden wird die Zerstreuung (der Rassen) zu Ende gehen. dort wird die Einheit vollendet werden durch den Triumph der fruchtbaren Liebe und die Überwindung aller Geschlechter. ( ... ) Die romanischen Völker. weil sie der göttlichen Bestimmung Amerikas treuer waren, sind dazu ausersehen. diese Einheit zu vollenden. Die Treue zu dieser geheimen Bestimmung ist die Garantie unseres Triumphes."J7 Der Tag dieses Triumphes ist für Vasconcelos greifbar nahe. denn er ist. wie die franziskanischen Glaubensapostel Mexikos im 16. Jhs.. von der eschatologischen Naherwartung stark geprägt. Glaubten jene. bei ihrer Arbeit an der missionarischen Utopie in der "elften Stunde der Welt" zu leben, der nur das baldige Ende der Welt folgen könne, so wird Vasconcelos ganz im Geiste des Joachim von Fiore schreiben. dass die Menschheit sich in ihrem Herbst befinde und die letzte, "geisterfüllte" Phase der Geschichte angebrochen sei: "Geburt und Jugend wurden geprägt durch den jungen Gott, Jesus Christus. Nach ihm wird der Kontakt mit dem Heiligen Geist hergestellt, der das Problem der Metamorphosen löst." Diese Stunde sei nicht mehr die der Lokalmeister. der Erleuchteten. die für eine Ethnie. für ein Volk predigen; vielmehr sei nun die Endoffenbarung wie ein universales Pfingsten allen gegeben worden: "Die durch die technische Zivilisation vereinte Welt der Zukunft bietet die materielle Bedingung der Möglichkeit zur Erfüllung der apokalyptischen Prophezeiung: der Sammlung aller zerstreuten Zweige des genealogischen Throns. der Bekehrung aller Völker am Ende der Zeiten!"J! Die Aufhebung der bisherigen Rassen in einer fünften. kosmischen ist dann zugleich ein Zeichen des nahen Endes der Welt. J9 Das Kommen dieser messianischen fünften Rasse aus Lateinamerika macht Vasconcelos zudem vom Besitz Amazoniens abhängig. denn in dieser Gegend immenser Ressourcen werde sich das Schicksal der künftigen Welt entscheiden. Daher sollten die Lateinamerikaner alles daran setzen, dass Amazonien nicht in die Hände der Angelsachsen falle, die
J. Vasconcelos. La r.tza c6smica. 919. JI J. Vasconcclos. Obras complelas. 4 Bd" Mexiko 1958. Bd. 3. 1085. J9 J. Vasconcelos. ObrJs complclas. Bd. 3. 1083r.
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es nur zur Förderung der partikularen Herrschaftsinteressen der vierten, weißen Rasse nutzen würden. Dort solle die fünfte Rasse eines Tages Universopolis. die Welthauptsladt, errichten, um von dort aus ein neues Pfingsten zu entfachen und die ganze Welt im Geiste der christlichen Nächstenliebe zu befruchten. 40 In einer messianisch schwangeren Sprache wird die Aufgabe dieser künftigen fünften Rasse abschließend gemalt. Man solle sich nicht entmutigen Jassen, weil "unsere Werte" erst eine Möglichkeit seien: "Denn auch die hebräische Rasse war für die arrog'lnten Ägypter nichts als eine niederträchtige Sklavenkaste, und dennoch kam aus ihr Jesus Christus. der Autor der größten Bewegung der Geschichte; derjenige, der die Liebe aller Menschen ankündigte," Diese Liebe werde eines der fundamentalen Dogmen der fünften Rasse sein, die in Amerika, dem wahren christlichen Gelobten Land, entstehen solle: "Wenn unsere Rasse sich jedoch dieses geheiligten Bodens unwürdig erweisen, wenn ihr gar die Liebe fehlen sollte. so wird sie sich durch Völker ersetzt sehen, die fähiger sind. die schicksalhafte Bestimmung dieses Landes zu verwirklichen: die Bestimmung. der Heimatboden einer aus allen Geschlechtern und Nationen bestehenden Menschheit zu sein,''''! Der Mestizisierungsprozess ist bei Vasconcelos - anders als das kreolische Projekt - nicht mit der naturgegebenen Vorherrschaft der weißen Rasse verbunden. Er meint zwar, dass unter den Charakteren der fünften Rasse vielleicht die kulturellen Merkmale des Weißen vorherrschen werden. ,.aber nur wenn dies die Frucht einer freien Geschmackswahl und nicht das Ergebnis von Gewalt oder wirtschaftlicher Unterdrückung isr',41 Die von Vasconcelos erträumte "überreiche Mestizisierung" scheint bisher eher in rein "biologischer Hinsicht" eingetreten zu sein. Ansonsten klingt sein Konzept nicht zuletzt wie eine auf den Kopf gestellte Hegeische Teleologie. die der Philosoph Vasconcelos bestens kannte, Hegel hatte. wie eingangs vermerkt, von Amerika als dem "Land der Zukunft" gesprochen...in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika, die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll".43 Nur ging Hegel teleologisch davon aus. dass dieser Kampf selbstverständlich zugunsten Nordamerikas und seiner weißen Rasse ausgehen würde. die zu seiner Zeit nach menschlichen Kriterien bereits anfingen, den politisch-ökonomischen Sieg davonzutragen. 2) Im selben Jahr 1925, in dem der Mexikaner Vasconcelos seine Schrift über die kosmische Rasse als Bestimmung Lateinamerikas publizierte. erschein ein Aufsehen erregender Text aus der Feder des aus Santo Domingo stammenden Pedro Henrfquez Ureiia mit dem Titel La Utopia de Amlrica (Amerikas Utopie)", J. Vasconcelos, La raza c6smica, 925f. .. J. Vasconcelos, La ralU c6smica, 936. 'l J. Vasconcelos, La raza c6smica. 926f. .) G. W.F. Hege!. Vorlesungen, 114. .. H. Urei'iaIP. Pedro. La Ulopfa de America, Caracas 1978. Darin Texl von 1925: 3-11. Deul· sehe Übersclzung in Auszügen in; A, Rama (Hg,). Der lange Kampf Lateinamerikas. Texle und Dokumente von Jose Manr bis Salvador Allende. FrankfurtlM. 1982, 215-223. 00
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Darin beschreibt er die Aufgabe Lateinamerikas als den Versuch, ..der Utopie ihre zutiefst menschlichen und geistigen Züge wiederzugeben;', damit der Mensch wirklich zum Menschen werde."derdie Hemmnisseder absurden wirtschaftlichen Organisation, in der wir gefangen sind. und den Ballast moralischer und sozialer Vorurteile, die das spontane Leben ersticken. hinter sich lässt". ~5 Es geht Henriquez Urena um die Schaffung eines neuen. universalen Menschen. um ..die kranken Gesellschaften wenigsten mit Tropfen von Gerechtigkeit zu heilen'·46. Nach dem Scheitern der Utopie in den Vereinigten Staaten von Amerika. die er als .,eines der am wenigsten freien Länder der Welt"47 bezeichnet. soll Lateinamcrika sich als großes Vaterland vereinen. um das Ideal der Gerechtigkeit und der Freiheit zu verwirklichen, "um die Organisation der Gesellschaft auf neue Grundlagen zu stellen. die den Menschen von der ständigen Bedrohung des Hungers befreien"4g. Henri'quez Urenas amerikanische Utopie gipfelt schließlich in dem Traum vom neuen und freien Menschen: ..Auf unserem Boden wird dann der freie Mensch geboren, der die pnichten als leicht und gerecht ansehen und in Großmut und Schaffensfreude erblühen wird'·.49 3) Als letzte Variante eines Ethos der lateinamerikanischen Kultur kann die Bcfreiungselhik verstanden werden. wie sie in der Theologie und Philosophie der Befreiung vertreten wird. Oft wird sie von ihren Gegnern als eine lateinamerikanische Form des Marxismus oder zeitlichen Messianismus dargestellt. 5O Die Übemahmeeiniger Elementeder marxistischen Sozialanalyse gehört inderTat zur lateinamerikanischen Befreiungsethik. Diese will sich nämlich nicht mehr darauf beschränken. die Welt gedanklich zu ergründen, sondern versucht sie wirksam zu verändern: Sie will das Evangelium verkünden und zum Aufbau des Reiches Goues beitragen im Protest gegen die mit Füßen getretene menschliche Würde. im Kampf gegen die Ausbeutung der weitaus größten Mehrheit der Menschen. in der Liebe. die befreit, und bei der Schaffung einer neuen, gerechten, solidarischen und brüderlichen Gesellschaft. 51 Eine solche Befreiungsutopie steht und fallt mit
4' A. Rama. Kampf. 217. .... A. Rama. Kampf, 221. 41 A. Rama. Kampf. 221. 41 A. Rama. Kampf. 222. 49 A. Rama. Kampf. 223. :lO So der Vorwurf an die Theologie und Philosophie der Befreiung seilens der Römischen Glaubenskongregalion in: tnslTuktion der Kongregation rur die Glaubenslehre über einige Aspekle der ..Theologie der Befreiung" (Verlaulbarungen des Apostolischen Stuhls 57). Bonn 1984. " Aus der Fülle der befreiungseihischen Ansätze sei hier exemplarisch auf folgende Hauptwerke verwiesen: G. Gutierrez, 1bcologie der Befreiung. Mainz 10 1992; E. Dussel. Filosoffa de la libcraci6n. Mb.ico 1977; ders., Elhik der Gemeinschaft. Düsseldorf 1988; ders., Biea de I~I liberaci6n en la Edad de la Globaliz.aci6n y de la Exclusi6n. Madrid 1998 (deutsche Übersetzung in Auszügcn: ders.. Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriss eincr krilischen und materialen Ethik [Concordia Reihc Monographien 311. hg. von Raul Fomet-Betancourt, Mainz 2000). Zur Befreiungscthik Dussels vgl. H. ScheJkshom, Elhik der Befreiung. Einftihnmg in die Philosophie Enrique Dussels. Wien 1992.; R. Fornet-Bctancourt (Hg.). Für Enriquc Dussel (Concordia Reihe Monographien 14), Aachen 1994.
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der Schaffung eines ..neuen·' Menschen. Gewiss. nicht wenige Vertreter der Befreiungsethik beschreiben den .,neuen Menschen" in Anlehnung an das marxistische Vokabular. So heißt es z. B. bei Emesto Cardenal: "Der Neue Mensch ist der Mensch ohne Egoismus, der solidarische Mensch. der für seinen Nächsten lebt. der dafür lebt, seinem Nächsten zu dienen: es ist der Mensch einer sozialistischen Gesellschaft, in der der Mensch den Menschen nicht mehr ausbeutet. in der der Wert eines Menschen nicht mehr nach dem gemessen wird, was er einem anderen wegnimmt. sondern nach dem. was er einem anderen gibt. (...) Der Neue Mensch in Kuba ist der gleiche Neue Mensch, von dem im Neuen Testament die Rede ist, der neue christliche Mensch". 51 Sieht man aber genauer hin. so kann man feststellen. dass der Traum von neuem Menschen seit der missionarischen Utopie eine Konstante im Ethos der laleinamerikanischer Kultur darstellt. das vom Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit wesentlich geprägt ist. In den letzten Jahren ist um das Ethos der lateinamerikanischen Kultur erneut gerungen worden. Im Schauen des Kolumbusjahres 1992 wurde über die ethische Identität L1.teinamerikas kontrovers diskutiertY Vor allem aber hat der Fall der Berliner Mauer zu einem Klärungsprozess innerhalb der Befreiungsethik geführt. in der sich nun z.wei Tendenzen beobachten lassen: Auf der einen Seite findet man bei Theologen wie Gustavo Gutierrez den Versuch einer theologischen Erdung der Utopie vom neuen Menschen. In den siebziger Jahren sprach Gutierrez von drei Befreiungsebenen. Er hat dabei zwar die soteriologische Befreiung von der Macht der Sünde und des Bösen nicht vergessen, sie aber auf die dritte Stelle verwiesen, hinter der sozial-wirtschaftlichen Befreiung der Unterdrückten und der kulturell-politischen Befreiung. Diese soll durch ,.allmähliche Eroberungeiner wirklichen und schöpferischen Freiheit (...) zu einer pennanenten Kulturrevolution. zur Schaffung eines neuen Menschen und in Richtung einer qualitativ anderen Gesellschaft"~ führen. Bei der letzten Ausgabe seiner Theologie der Befreiung betont nun Gulierrez. den Primat der soteriologischen Befreiung: Sein Projekt des ..neuen Menschen" im politisch-philosophischen und geschichtlichen Sinn des Wortes beruht nicht nur auf Gesellschaftsstrukturen. deren Veränderung sozusagen den neuen Menschen von selbst ergeben werden. .,sondern auch auf Haltungen und Einstellungen, die eben nicht das mechanische Produkt dieser Strukturen sind"55, - d.h. es entspringt vor allem der Bekehrung zum messianischen Ethos und zum neuen Menschen des Evangeliums.
E. Cardenal, Die Stunde Null. WuppcnaI 2 1980, 25. 'J Vgl. dazu G. Kruip, Kirche und Gesellschaft im Proze6 ethisch-historischer Selbstverständigung. Die mcxikanische Konlroverse um die "Entdeckung Amerikas" (Schriften des Instituls ftlr Christliche Sozialwisscnschaften 34). Münster 1996; vgl. G. Dussel, Von der Erfindung Amerikas z.ur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmodeme. Düsseldorf 1993. ,.. G. Gutil!rrez. 1llcologic der Befreiung. Mainz 10 1992, 104. "G. Gutil!rrcz, Theologie. 47. 'I
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Auf der anderen Seile haben wir Philosophen wie Enrique Dussel. die sich durch den Dialog mit der europäischen Diskursethik (K. Q. Apel. J. Habennas)56 in der Notwendigkeit einer universalen materialistischen Befreiungsethik bestätigt fühlen. Eine solche sieht in den Opfern und den Teilnehmern einer kritischen Kommunikationsgemeinschaft derselben die Träger des "Prinzips Befreiung". Aus der Erfahrung ihrer Leidensgeschichte heraus gewinnen sie - und sei es ex negativa - das kritisch~ethische Bewusstsein für das befreiende Sollen und sind so ..um eine negative. dekonstruktive Transformation und positive Konstruktion der Nomlcn. Strukturen, Institutionen und Systeme der Sittlichkeit bemüht"S7. Das Ziel einer solchen Befreiungselhik ist die universale. solidarische. gerechte und brüderliche Gesellschaft aus der Sichl der Opfer heraus.
Ausblick Von der anfanglichcn missionarischen Ulopie des 16. Jhs. bis zur panlalcinamerikanischen,ja universalen Befreiungselhi k der Gegenwart haI das Ethos der lalein;.tmerikanischen Kullur vcrsch iedene Melamorphosen erlebt. die allesamt Ausdruck dcs Hungers und des Durslcs nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit sind. Das Ethos der lateinamerikanischen Kultur sIellI vor allem den Versuch dar. ..auf der Erdedie Flamme der Sehnsuchl immer lebendig zu erhalten", die Teilhard de Chardin in der Chrislentumsgeschichte so sehr vennisste:~die Sehnsucht nach einer "Neuen Welt", die, wie der 1989 in EI Salvador ennordele Jesuit Jgnacio Ellacuria kurz vor seinem Tod schrieb, "keine Wiederholung der ,Allen Welt· darsteUt, sondern wirklich neu und eins iSI"sg - und derart erneuert und geeint der gesamten Welt zum ethischen Leuchttunn wird. Gewiss. die Flamme der Sehnsucht nach einer besseren Welt sollten wir warm halten. Aber zur Vef\virklichung dieser Sehnsucht unter den Bedi ngungen der Endlichkeit brauchen wir mehr, als die bloße Hoffnung aufeine Veränderung des status quo durch die bewusst gewordenen Träger des lateinamerikanischen Ethos. seien
'" YgJ. eine ersle Bilanz des Dialogs in: R. Fomel-Belancourt. (Hg.). Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen DiskufSClhik und Befreiungsclhik (Concordia Reihe MonogrJphien 13). Aachen 1994: vgl. dazu auch ders. (Hg.), Armut. Ethik, Befreiung (Concordia Reihe Monographien 16), Aachen 1996. '1 E. Dussel. Prinzip. 160. "Texlbcleg in: E. Slachlin. Die YerkUndigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Chris· ti. Zeugnisse aus allen Jahrhunderten und allen Konfessionen, 7 Bde.. Basel 1952-1965. Bd. 7. 141. ,.. M. Sievemich. u.a. (Hg.), Conquisla und Evangelisation. Fünfhundert Jahre Orden in Laleinamerika. Mainz 1992. 12; 1. Ellacurfa. Fünf Jahrhunderte Laleinamerika: Enldeckung oder Verschleierung? in: P. Rouländer (Hg.), Die ErobcrungAmerikas und wir in Europa. Mil Beiträgen von I. Ellacuria und Ch. Kargl-Schnabl (Misercor. Berichle und Dokumenle Bd. 5), Aachen 1992. 132-147. 141. Ellacurfa ncnnl diese messianische Vision ..eine reale Möglichkeir' (elxl.).
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sie nun die Missionare mit den unverdorbenen Indios, die Kreolen mit den weißen Eliten. die Indigenisten mit den klassen- und kulturbewussten Indios, die panlateinamerikanischen Intellektuellen mit den Mestizen,denArmen oder den Opfern: Wir benötigen ein Handlungsprogramm, das aufzeigt, "welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen und zudem oft unaufschiebbar sind·'.fIJ In Lateinamerika müssen die Menschen. besonders die politischen und wirtschaftlichen Eliten. zu einer größeren sozialen Verantwortung erzogen sowie im Bewusstsein der menschlichen Fehlbarkeit Kontrollmechanismen gegen den Missbrauch des utopischen Diskurses selbst eingebaut werden. Die immer wiederkehrende Rhetorik, dass die angekündigte neue Wirklichkeit nach Art der negativen Dialektik durch Bekämpfung der in der Leidensgeschichte bewusst gewordenen Unterdrückungsmechanismen entstehen wird. weil in diesem Prozess, welch ein Wunder, ein "neuer Mensch" geboren sein wird, ist recht vage, zudem auch mehrfach widerlegt durch die historische Wirklichkeit Lateinamerikas. in der der erträumte ,.neue Mensch" eine avis rara geblieben ist. während Ungerechtigkeit, Egoismus und nicht zuletzt auch ein subliler R
00
So die kalholische Soziallehre in Octogesima adveniens Nr. 4. in: Texle. 487-523. 489.
Europäische P
hie der Moral
Anion Crabner-Haider
Die curopiiische Philosophie hat einen wesentlichen Beitrag zur krilischcn Reflexion über das richtige oder falsche Verhalten von Menschen in der Gruppe (Sippe. Sladt. Slaat) geleistet. Seit Aristoteles gilt ..Ethik" als philosophische Disziplin. die sich mit dem praktischen Tun des Menschen befasst. das zu einem gelingenden Leben führen soll. Sie versucht nämlich. ein bestimmtes Verhallen (Ethos) mittels der kritischen Vernunft zu bcgriinden. Deswegen umfasste sie am Anfang auch die Lehre vom Staat, von der Politik und vom Recht. Ohne Zweifel hai sie wesentlich zur Weiterentwicklung des herkömmlichen Verhaltens beigetragen. Sie ist zu einem Teil der europäischen Kulturgeschichte geworden. Das Ethos kann als das geregelte Gefüge von Verhaltensweisen der Einzelnen in sozialen Gruppen und Gemeinschaften verstanden werden. Ethik ist dann die kritische Sichtweise (Theorie) und rationale Begründung dieser Verhaltenswei· scn.' In der Frühzeit der europäischen Kultur wurde das richtige und falsche Ver· halten durch den Mythos begründet. Die Seelen der Ahnen oder göttliche Wesen sagten den Menschen durch Schamanen, Mantiker. Priester oder Propheten. wie sie sich verhalten sollen, was sie tun müssen und was ihnen verboten ist. Diese imaginären Geistwesen überwachten das Verhaltenjedes Einzelnen, sie belohnten erwünschtes und bestraften verbotenes Verhalten.
Frühe griechische Philosophen Einige Lehrer der Weisheit (z.B. die Vorsokratiker) versuchten. die Regeln des richtigen Verhaltens in kleinen Schritten von der mythischen Begründung zu trennen. Sie fragten nach einer vernünftigen Begründung von .,guf' und von "böse". J. Rohls, Geschichte der Ethik. Tübingen 1991, 1-4. E. Wolf. Sozialethik. München 1975. 22-28. O. Höffe. Stralegien der Humanität. München 1985. 12-18. I
350 Als
Anten Grabncr-Haider gUI
galt dieses Verhalten. welches das persönliche Leben und das Zusam-
menleben in der Gruppe förderte. Und böse war das Tun und Handeln. welches
das persönliche und das soziale Leben störte oder zerstörte. Doch die Motivation für das gute Handeln blieb noch lange Zeit beim Mythos. wie uns die frühen Philosophen zeigen.
So lehrte die Schule des PYlhagoras. die menschliche Seele (psyche) sei unsterblich, weil sie aus der göttlichen Weil stamme. Sie werde durch viele Geburten in menschlichen Körpern fest gehalten. bis es ihr gelinge, wieder in die göttliche Weil oder zur ..AIIseelc'· zurückzukehren. Die Voraussetzung für diese Rückkehr und für die Beendigung der vielen Geburten sei ein strenges moralisches Leben in der Schule der Weisheit. Zu dieser moralischen Lebensform gehört die Treue zur Gemeinschaft, die Einfachheit der Kleidung und des Essens, der Verzicht auf Fleisch. Denn der Weise schaut (theoria) die göttliche Ordnung und gestaltet da· nach sein Leben. Die Tugend (arete) des guten Lebens besteht in der harmonischen Ordnung aller Seelenteile, das Wesen dieser Ordnung lässt sich in den Zahlen darstellen. Die Tugend des richtigen Lebens kann mit den Kräften der Vernunft erkannt werden. Deswegen muss jeder Weise nach Erkenntnis streben und sich VOll der sinnlichen Begierde enthalten (askesis). Nun lenkt die Ehrfurcht vor dem Göttlichen sein weiteres Leben. 2 Auch Herakleiros aus Ephesos war überLeugt. dass nur wenige Menschen in der Stadt zu einem selbständigen moralischen Urteil nihig sind. Diese wenigen Weisen, die dies erlernen. sollen die Führung in der Stadt übernehmen, das ungebildete Volk muss sich ihrer Führung unterwerfen. Die Weisen erkennen nämlich das ewige "Weltgesetz;' (Logos), das in der Natur und im Leben der Menschen waltet. Aus diesem universalen Gesetz der Natur können die Philosophen die Regeln des richtigen Verhaltens für alle Menschen herleiten. Aus dem ewigen göttlichen Logos, der die Qualität des Feuers hat, lässt sich die Wertordnung der Menschen erkennen. Denn dieser göttliche Weltplan umfasst alle Gegensätze des Lebens. das Eine und das Viele, das Gute und das Böse, Doch allein der ständige Kampf zwischen diesen Gegenkräften zieht die Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Gesollten und dem Verbotenen. Doch der Stolz (hybris) hindert viele Menschen daran. diese ewige Ordnung der Natur für ihr Leben anzunehmen. Nun soll aber die Philosophie dazu beitragen, das moralische Verhalten der Menschen zu verbessern. Der weise Empedokles war überzeugt, dass in der Ord· nung (kosmos) der Natur (physis) zwei gegensätzliche Kräfte mit einander ringen. Nämlich die Kraft der Anziehung (philia=Liebe) und die Kraft der Abstoßung (neikos=Hass). Wenn die Menschen nun mehrheitlich der ersten Kraft folgen, dann gelingt ihnen eine friedvolle Weltzeit. Doch wenn sie sich von der Kraft des Hasses und der Abstoßung leiten lassen, dann erleiden sie Kriege. Not und Zerstörung. Nun ringen die weisen Menschen darum, durch fortschreitende Er1
W. Röd. Die Philosophie der Antike I. München 1976,50-73.
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kenntnis und durch den Verzicht (askesis) auf die Befriedigung ihrer Triebe die Kräfte der Anziehung und der Liebe in der Menschenwelt zu verstärken. Das letzte Ziel des menschlichen Leben bestehe in der Rückkehr der Seelenkraft in ihre göttliche Heimat.) In der Zeit der Athener Demokratie der freien Männer wollten die Sophisten ihre Lehre vom richtigen Verhalten immer mehr von der mythischen Begründung und der religiösen Weltdeutung abtrennen. Denn sie wollten den Nutzen des einzelnen Bürgers und der Stadt mit den Mitteln der kritischen Vernunft fördern. Für Protagoras setzten deswegen nicht länger die Götter den Menschen das Maß für das rechte Verhalten. sondern die Menschen taten dies nun selber. Was gut und was böse ist. das setzt die politische Gemeinschaft (polis) fest. Dort aber beruhen die moralischen Normen auf der menschlichen Festsetzung (thesis). sie werden uns nicht direkt von der Natur (physis) vorgegeben. Doch diese Festsetzungen sind aber nur dann für den Einzelnen und die Gemeinschaft nützlich. wenn sie der menschlichen Natur entsprechen und nicht gegen diese verstoßen. Folglich widersprechen die Haltung und der Handel von Sklaven der menschlichen Natur. denn von Natur her (ek physei) sind alle Menschen glcichwertig und frei. Kein Mensch ist von Natur her ein Sklave. alle werden frei geboren und atmen dieselbe Lufl. Die Sklavenhaltung der Herren ist eine menschliche Satzung, die der Natur widerspricht. Als gut gilt nun dasjenige Verhalten. das den Menschen ..zuträglich" (sympheron) und gemäß ist. Und böse ist aUes Tun. das Schmerz und Leiden erzeugt und gegen die menschliche Natur gerichtet ist. Der Weise orientiert sich an der Natur und erleidet keinen Schaden. Deswegen wollte Amiphofl das positiv gesetzte Recht der Stadt nach den erkennbaren Maßstäben dcr Natur verändern und weitcr entwickeln." Die griechischen Sophisten waren die ersten Denker der europäischen Kultur. die von der Gleichwertigkeit aller Menschen von Natur her ausgegangen sind. Sie gelten zu Recht als die Vordenker der allgemeinen Menschenrechte. die für Freie und Unfreie, für Männer und für Frauen dieselbe Geltung haben. Freilich leitete der Lehrer Kallik./es aus der Natur auch das Gegenteil ab. nämlich dic Ungleichheit der Starken und der Schwachen. Er sagte, die Stärkeren hätten das natürliche Recht, sich über die Schwachen zu erheben und sie zu beherrschen. Hier wird deutlich, dass sich mit der Berufung auf die Natur auch sehr gegensätzliches Verhalten ableiten lässt. Deswegen kam Trasymachos zu der Überzeugung. dass die Sätze der Moral und des Rechts nur die politischen Machtverhältnisse in einer Stadt spiegeln. Denn dort bestimmen allein die Stärkeren, was als Recht und als Tugend zu gelten hat. Als der Lehrer Diagoras einen Meineidigen ungestraft und gut leben sah. da konnte er nicht mehr an die Gerechtigkeit und Bestrafung der Götter glauben. W. Röd. Die Philosophie. 83-106. • J. Rohls. Geschichte. 42-47. A. Graeser. Die Philosophie der Antike 11. München 1983.63-85. C. C1asscn (Hg.). Sophistik. München 1976.34--40. l
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Kritias war zu der Überzeugung gelangt. dass die Götlcr überhaupt die Erfindung eines klugen Gesetzgebers seien. Da kein Herrscher die lückenlose Einhahung seiner Gesetze in der Stadt kontrollieren könne. seien die GÖltererfunden worden, um das Verhallen der Menschen bei Tag und bei Nacht unter Kontrolle zu hallen. Folglich dienen die Lehren der Religion der Durchsetzung der Gesetze in der Stadt bzw. dem positiven Recht. Sie helfen mit. die Ordnung aufrecht zu halten. Jede Rechtsordnung entsteht durch eine vertragliche Übereinkunft der freien Bürger zum Schutz aller Stadlbewohner. Dieser Denker haI bereits eine frühe Venragstheorie des Staates entworfen. Weil die Menschen Lebewesen mil vielen Mängeln sind, haben sie von den Göttern Hephaistos und Athena das Feuer und die Weisheit bekommen. Aber um in der Stadt friedvoll zusammen leben zu können, haben sie von den Göttern das Rechtsgefühl (dike) und das Schamgefühl (aidos) erhalten. Oie Grundlage des Stadtstaates ist die Eintracht der Menschen bzw. die Übereinstimmung über das dem Einzelnen Zuträgliche (sympheron). Dieses ist die Voraussetzung für ein gutes Befinden (euthymie) der Seele. Auf diese Weise haben die Sophisten als erste das Zusammenleben in der Stadt thcmatisien. um es auf der Basis der k.ritischen Vernunft zu verbessem.~ In der Auseinandersetzung mit den Sophisten fragte Sokrales nach dem Wesen der Tugend (arete) im sozialen Leben. Dabei suchte er nach dem Gemeinsamen bei den moralischen Verhaltensweisen und folglich nach einem Kriterium zwj· sehen den guten und den schlechten Handlungsweisen. Oie Erkenntnis dieses Gemeinsamen ist für ihn die notwendige und hinreichende Voraussetzung für das moralisch riChtige Handeln. Für Sokrates ist die Tugend identisch mit dem Wissen um das moralisch Gute Für die Gemeinschaft. Denn dieses Wissen setzt bereits ein Können voraus. das zum Tun des Richtigen führt. Wenn ich umfassend weiß. was Tugend im Kontext des sozialen Lebens ist. dann kann ich auch tugendhaft handeln. Und wenn ich eine einzige Tugend verstanden habe, dann begreife ich auch schon das Wesen der anderen guten Handlungsnormen. Folglich sei die Tugend lernbar und lehrbar. Wer aber moralisch falsch und damü böse handelt, kennt nicht das Wesen der Tugend im Hinblick auf das Ganze der Gemeinschaft. Das lasterhafte und böse Verhalten ist mit der Unkenntnis der guten und richtigen Handlungsweise identisch. Kritisiert wird der hedonistisch Orientiene. der das Gute in der Erfahrung der sinnlichen Lust (hedone) sucht. Denn die Lusterfahrung kann auch mit einer moralisch bösen Handlung verbunden sein. Deswegen erkennt der Hedonist nicht das Wesen der Tugend. die allen Menschen nützt und die für alle das Leiden verminden. Sein moralischer Intellektualismus lässt Sokrates freiwillig den gewaltsamen Tod durch den Giftbecher annehmen. Denn er möchte nicht den Gesetzen seiner Stadt entf1iehen. die er für sein Leben akzeptien hal. 6 'A. Graescr. Philosophie. 67-74. 6 A. Graescr. Philosphie. 87-109, A Patzer (Hg.): Der hislOrische Sokrates. Frankfun 1987, 47-60.
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Der wahrhaft Weise lebt tugendhaft. davon war auch der Kyniker Antisthefies überzeugt. Denn er erkennt das moralische Handlungsgesetz, das universal gültig ist und der Vernunft folgt. Dieses unterscheidet sich von den partikularen Gesetzen einer Stadt. das nicht für alle Menschen in der Welt Gültigkeit hat. So verbindet sich die moralische Tugend mit dem fortschreitenden Wissen und der allgemeinen Vernunft. Eukleidos von Megara verband das moralisch Gute mit dem Seienden, das moralisch Böse aber mit dem Nichtseienden. Damit hat er beide Werte auf eine ontologische Ebene gehoben. Wenn das Laster im Nichtkennen derTugend besteht. dann ist das Böse ein Nichtseiendes bzw. ein Nichts. Das Gute als das Seiende ist eines, das aber mit verschiedenen Namen benannt wird.. Es begegnet uns in den verschiedenen Tugenden. wenn sie gelebt werden. 7
PI.ton und Aristoteles Für P/(UOII. den aristokratischen Schüler des Sokrntes. beziehen sich die ethischen Wertdefinitionen auf die Weh der ewigen ,.Ideen" (ideaL eide). Die Objekte der Dcfi nitionen elhischer Eigenschaften müssen jenseits der wandelbaren Sinnenwelt angesiedelt werden. Denn er unterscheidet grundsätzlich zwischen der wandelbaren Welt des Werdens und der unwandelbaren Weil des Seins bzw. der Ideen. Nun muss die Idee der Tugend etwas Allgemeines sein, an dem alle tugendhaften Verhaltensweisen einen Anteil (methexis) haben. Damit ist die Idee der Tugend dem Veränderbaren entzogen. Die von den Menschen gelebten Tugenden erweisen sich dann als Abbilder des ewigen Urbildes des einen Guten. Mit unserem Meinen (doxa) beziehen wir uns auf die Weh der sinnlich wahr· nehmbaren Dinge und Gegenstände. Allein mit unserem Denken (noesis) beziehen wir uns auf die Weh der ewigen Ideen. Nun gilt die Idee des Guten als die höchste von allen Ideen. welche als die Urbilderder gesamten raum-zeitlichen Wirklichkeit angesehen werden. Das .,Höhlengleichnis·' besagt nun. dass wir Menschen uns jetz.t in der Höhle der Werdeweh befinden, wo wir nur die Schalten der ewigen Weh des Seins erkennen können. Das Ziel aller philosophischen Bildung liegt darin. die höchste Idee des Guten zu erkennen. Denn sie fungiert als die oberste Norm unseres Handeins. zu ihr laufen alle anderen Ideen zusammen. 3 Da die Welt der Ideen göttliche Qualität hat. geschieht bei der Erkenntnis der Idee des Guten dieAngleichung des Menschen an die Gottheit (homoiosis theou). Damit wir die ewige Ideenweh überhaupt erkennen können, benötigen wir eine unsterbliche Seelenkraft (psyche). Von orphischen und pythagoräischen Lehren übernahm Platon die Seelen vorstellung. nach der die menschliche Seele sowohl vor. als auch nach dem Leben des Körpers existiert. Die Seele sei im menschlichen
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A. Gracscr. Philosophie. 109-114.
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J. Rohls. Geschichte. 50-55. A. Graeser. Philosophie. 168-176. E. Wolf. Sozialethik. 78-80.
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Körper wie in einem Grab gefangen und strebe unentwegt nach der Befreiung. Das asketische Leben und die gelebte Tugend bereiten diese Befreiung der Seele vor. Wenn ein Mensch die vier Grundtugenden des sozialen Lebens verwirklicht. nämlich die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Tapferkeit und die Besonnenheit. dann bereilel sich seine Seele auf die Heimkehr in die Welt des Göttlichen VOT. Dort erlebt sie dann zeitlose Glückseligkeit und wird nicht mehr dem Kreislauf der vielen Geburten ausgesetzt. So tragen das tugendhafte Leben und die asketische Lebensfonn zum Ende der vielen SeeJengeburtcn bei. Plalon nahm drei Fähigkei~ tell bZ\\I. Bereiche der menschlichen Seele an: den denkenden und berechnenden Seelen teil (logistikon), den affektiven und mutartigen Teil (thymoeides) und den begehrenden Teil (epithymetikon). Ihnen ordnet er die drei Grundtugenden des Lebens zu. 9 Der denkende Seelen teil ist der Träger der Tugend der Weisheit (sophie). in ihr erkennt die Vernunft. was der Seele zuträglich ist und was sie folglich lenken soll. Der affektive Seelenteil ist Träger der Tapferkeit (andrcia). die den Menschen zeigt was zu fürchten ist und was nicht. Der begehrende Seelenteil trägt die Tugend der Besonnenheit und der Selbstbeherrschung (sophrosync). Dort einigen sich die Begierde und die Vernunft auf die Leitung des Lebens. wobei die Vernunft die Führungsfunktion erhält. Die vierte Tugend der Gerechtigkeit (dikaiosyne) verbindet die drei anderen Tugenden und bezieht alle drei Seelenteile aufeinander. Die Tugend der Gerechtigkeit besteht nun darin. dass jeder Seelenteil im Menschen und jeder Mensch im Staat das Ihre tun (praltein heautou). Ein Mensch lebt dann gerecht. wenn seine drei seelischen Fähigkeiten das ihnen Angemessene tun. Die Vernunft fungiert als die Trägerin der Weisheit, der Mut ist der Träger der Tapferkeit und die Begierde trägt die Besonnenheit. Die Gerechtigkeit aber ordnet alle drei seelischen Fähigkeiten und die ihnen zugehörigen Tugenden. Sie ist das Bindeglied zwischen der Ethik des Einzelnen und dem politischen Handeln in der Stadt. Deswegen wird jede Stadt von drei Ständen getragen. nämlich von den Herrschenden (Regenten). den Wächtern (Krieger) und den Ernährern (Bauern, Hirten. Händler. Handwerker). Diesedrei Stände entsprechen den drei Fähigkeiten der menschlichen Seele. In mythischer Remjniszenz lehrte Platon. der göttliche Welterschaffer habe den Herrschenden Gold in das Blut gemengt. den Wächtern habe er Silber beigemengt, und den Ernährern habe er das Erz mitgegeben. Deswegen seien nach göltlichem Willen diese drei Stände in abgestuften Rängen geordnet. Die Herrscher (archontes) benötigen die Tugend der Weisheit. um das Gemeinwesen der Stadt klug leiten zu können. Die Wächter (phylakes) brauchen die Tapferkeit. um mit ihren Helfern die Stadt zu schützen und die Einhaltung der Gesetze zu erzwingen. Die Ernährer
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A. Gnleser. Philosophie. 170-181. J. Rohls. Geschichlc. 55--60. R. Ferber. Platos Idee des
Gulen. MUnchen 1984.44--56.
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(Iropheis) müssen die Tugend der Besonnenheit haben. um die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen richtig zu erkennen. 1O Wir Menschen sind soziale Wesen. die sich im Staat nicht als Feinde, sondern als Helfer begegnen. Nun ist die Erkenntnis des Guten die Voraussetzung für eine gerechte und weise Herrschaft. In seinen späteren Schriften (Nomoi) erkannte Platon. dass die Erkenntnis des Guten durch den Herrscher allein noch keine ausreichende Bedingung für die gute Herrschaft im Staat sein kann. Im besten Staat herrschen die Weisen. doch im zweitbesten Staat übt das Gesetz (nomos) die Herrschaft aus. dadurch wird jedem Bürger Schutz vor den Mitbürgern gewährleistet. Denn es gibt keinen Menschen, der sich in seinem Handeln ausschließlich von der Vernunft und der Idee des Guten leiten ließe. Nun hat der Gesetzesstaat die Aufgabe. das friedvolle Zusammenleben der Bürger nach den Regeln der Gerechtigkeit zu gewährleisten. An die Stelle der Herrschaft der Weisen tritt nun die Herrschaft eines göttlichen Gesetzes. Die Religion einer Stadt besteht im Glauben an eine göttliche Vernunft und eine ewige Ordnung im Kosmos. Die Betrachtung der Gestirne soll die Menschen zum Glauben an die göttliche Weltordnung führen. In ihr sind die moralischen Werte und die Tugenden des menschlichen Zusammenlebens fest gegründet. Damit wurt.elt für Platon die Ethik in einer vernünftigen und purifizierten Goneslehre. 11 ArislOteles. der Schüler Platons. hat die Ethik zu einer eigenen philosophischen Disziplin gemacht. Denn er unterscheidet zwischen den theoretischen, den poietischen und den praktischen Wissenschaften. Die letzten beziehen sich auf menschliche Handlungen und riChtige oder falsche Entscheidungen. Um moralisch gut leben zu können. muss man wissen. worin die Tugend des sittlichen Handeins besteht. Das richtige Handeln ist nur in der Gemeinschaft der Stadt (polis) zu verwirklichen. es hat aber sein Ziel in sich selbst. Unser menschliches Handeln sei immer auf einen Zweck ausgerichtet. der oberste Zweck unserer Handlungen aber sei die Glückseligkeit (eudaimonia) aller Menschen. Denn als soziale Wesen (zoon politikon) streben wir alle zu jeder Zeit nach dem glücklichen Leben. Nun kann das Lebensglück in allen menschlichen Tätigkeiten gefunden werden. es besteht immer in der bestmöglichen Betätigung und Entfaltung der freien Vernunft. Folglich sollen alle Menschen lernen, ihr Vernunftvermögen optimal zu entfalten. Das Erleben der Lust sei nicht das letzte Ziel unseres Lebens. Doch dieses Erleben stellt sich bei uns ein als Folge des tugendhaften und des vernünftigen Handeins. Worin aber besteht nun die Tugend konkret? Sie besteht in der Ausrichtung des Begehrungsvennögens auf die entfaltete Vernunft. Damit ist sie eine frei erworbene Disposition unseres Charakters. an die wir uns durch ständiges vernünftiges Handeln gewöhnen. Die moralische Tugend wird durch Übung und Erliehung gewonnen. sie verbindet unser Begehrensvennögen mit unserer III
A. Graeser. Philosophie. 180-191. O. Höffe. Stt'Jtegien. 67-78.
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J. Rohls. Geschichte. 59-63.
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vernünftigen Einsicht. Die praktische Wahrheit des Lebens zeigt sich uns als die Übereinstimmung von Denken (dianoia) und von Begehren (orexis).12 Aufgund unserer Willensschwäche (akrasia) können wir das Gute zwar erkennen. aber wir tun es trotzdem nicht immer. Folglich ist die soziale Tugend nicht mit dem Wissen um das Gute identisch. denn ihre Verwirklichung beruht immer auf der Freiwilligkeit. Eine Handlung ist dann moralisch gUI, wenn sie sowohl das Zuviel. als auch das Zuwenig vermeidet. Sie orientiert sich immer an der Mitte (mesoles) zwischen zwei oder mehreren Extremen. Das Zusammenleben in der Stadt beruht immer auf der Tugend der Gerechtigkeit. nämlich in der richtigen Verteilung der Vorteile und der Nachteile. Die verteilende Gerechtigkeit vergibt die gleichen Vortei le. die ausgleichende Gerechtigkeit aber korrigiert die ungleiche Verteilung der Vergünstigungen. Die Verwirklichung der Tugenden ist für uns immer mit den Gefühlen der Lust und der Unlust verbunden. Ihre Inhalte erkennen wir aus der prakt'ischen Vernunft und Einsicht (phronesis). Hier unterschied Aristoteles zwischen den ethischen und den dianoetischcn Tugenden: die zweiten verstand er als Handlungsdispositionen der praktischen Vernunft Mit unserer theoretischen Vernunft erkennen wir die Tugenden des Wissens (epistemc). des Geistes (nous) und der Weisheit (sophia). Und mit unserer praktischen Vernunft erfassen wir die Tugenden der Kunst (techne) und der Einsicht (phronesis). Erst die Einsicht in das gute Leben benihigl uns. die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das moralisch gute Leben verwirklichen wir nur innerhalb der Gemeinschaft. einerseits mit Freunden. anderseits im Staat. Jede kleine Freundschaft ist in die größere Gemeinschaft einer Stadt eingebunden. Die Politik müht sich nun um das gute Zusammenleben in der Stadt, dieses baut auf dem Leben in der Familie auf. Nun gelingt uns das Leben in der Stadt umso besser. je mehr Aufg<'lben von ihren Untergruppen (Sippe. Stadtviertel. Dorf) wahrgenommen werden. Dieses Prinzip der Subsidiarität bringt allen Bürgern den größten Nutzen. Die Aufgabe des Smates besteht darin. die soziale Ungerechtigkeit zu vermeiden. Alle freien Bürger sollen an den Entscheidungen der Stadt teilnehmen. dafür aber darf ein Stadtstaat nicht zu groß sein. 13 Ein Stadtstaat ist hierarchisch geordnet. die Sklaverei sei für die Gewährung der Freiheitsrechte sogar notwendig. Die beste Verfassung einer Stadt sei eine Mischung aus der Monarchie. aus der Aristokratie und aus der gemäßigten Demokratie. Vermieden werden sollen die Staatsformen der Tyrannis, der Oligarchie und der Übertriebenen Demokratie. Der höchste Zweck des menschlichen Lebens liege in der Erkenntnis der Gottheit, diese Erkenntnis sei die höchste Tätigkeit der menschlichen Vernunft. Dabei wird der Gott selbst als höchste Form der Vernunft bzw. als reine Selbstrenexion vorgestellt. Wenn sich GOlteserkenntnis vollziehe. dann verwirkliche sich das Göttliche im Menschen. I: A. Gmescr. Philosophie. 232-240. A.Q. Rony (Hg.). Es~1YS on Arisl(l(elic ethics. London 1978. IJ J. Rohls. Geschichle. 64--75. A. Graeser. Philosophie. 239-254. A.Kenny. 1lIe Arislolelian ethics. New York 1981.
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Hellenistische und römische Zeit Die Ethik der Stoiker konnte sich in der hellenistischen Zeit in mehreren Kulturen entfalten. als die kleinen Stadtstaaten zu größeren Reichen vereinigt wurden.
Die stoischen Lehrer und Schüler der Weisheit verstanden sich als Bürger einer großen Weltordnung (kosmo(X>litoi). un rückte die Suche nach dem guten und glücklichen Leben in das Zentrum des philosophischen Interesses. Die Lehrer dieser Schule orientierten sich wieder an Sakrates und suchten das Glück des Le· hens in der verwirklichten Tugend. Die unverftigbaren Gegebenheiten des Lebens sollten entwertet werden. deswegen sollten von den Menschen nur erreichbare Ziele angestrebt werden. Wenn sie dies tun. dann können sie nicht enttäuscht und frustriert werden. Denn in der Schule der stoischen Weisheit suchen die Schüler nach der inneren Ruhe der Seele (apathia). sie wollen nicht mehr durch leidvolle Affekte gestört werden. Wenn die sittliche Vernunft über die unvemünfligen Triebe (horme) zu herrschen begonnen hat. dann werden die Menschen ein einfaches und der Natur nahes Leben anstreben. Das Glück des Daseins bestehe dann in der Erreichung der selbst gesteckten Ziele. in der Entwertung des Unverfügbaren und in der inneren Bedürfnislosigkeil. 14 Wir können nicht die äußeren Gegebenheiten des Lebens verändern. wohl aber können wir unsere inneren Einstellungen selbst fonnen. Deswegen können auch SkJaven so leben. als wären sie innerlich frei. Von der Naturher sind alle Menschen gleichwertig. folglich gibt es in der Schule der Weisheit keine Rangunterschiede zwischen den Freien und den Sklaven. den Männem und den Frauen.den Griechen und den Nichtgriechen (Corpus Stoicorum veterum). Wer im inneren Frieden lebt. erfahrt den Wohlfluss des Lebens (euzen) und wird nicht mehr von Affekten und Trieben hin und her gerissen. Die vier großen Affekte des Lebens. die Lust. die Unlust. die Begierde und die Furcht. müssen von der aufrechten Vernunft gesteuert werden. Die Philosophie versteht sich als das Training der aufrechten Vernunft (orthos logos). Nun besteht die moralische Tugend in der Einsicht in die wirklichen Werte des Lebens und in der Beherrschung der unvernünftigen Triebe. Deswegen ist sie lehrbar und verschafft allen Menschen das Glück und die Hannonieder Seele. Die Tugend ist für die Götter und die Menschen. für Frauen und Männer. für Freie und Unfreie. für Griechen und Nichtgriechen dieselbe. Durch die innere Entwertung der äußeren Dinge werden diese ..gleichgültig" (adiaphora). sie berühren die Seele des Weisen nicht mehr. Entwertet werden die Gegebenheiten der Natur.Armut und Reichtum. Gesundheit und Krankheit. vor allem der Tod. Der Weise schättt die Dinge des Lebens richtig ein. deswegen täuscht er weder sich selbst. noch seine Mitmenschen. Er versteht sich auf die Kunst, die Religion. die Wirtschaft und die Politik. von der Welt zieht er sich nicht zurück.
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M. Hosscnfelder. Die Philosophie der Antike 111. München t985. 45--fJ(). I} J. Rohls. Geschichle. 16-82. M. Forschner. Die sioische Elhik. München 1981. 45--57. 10
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Im Tod trennl sich die feinstoffliche Seele vom grobslofflichen Körper, sie lebt noch eine Zeitlang als feurige Kugel (pneuma) weiter, bis sie sich auflöst Eine ewige Weltvemunfl (logos) lenke das kosmische Geschehen, wir Menschen können diese ewige Weltordnung mit unserer kleinen Vernunft gUI erkennen. Eine göttliche Vorsehung (pronoia) führe die Geschichte der Menschen und eine Macht des Schicksals(heimarmene) setze unserer Freiheit und unserer Vernunft deutliche Grenzen. Alles in der Weil sei zweckmäßig geordnet. auch das Böse habe darin seinen festen Platz. Denn ohne die Kenntnis des Bösen könnten wir das Gute gar nicht erkennen. Wer sich mit aufrechter Vernunft der Natur, dem Schicksal und der göulichcn Vorsehung hingibt. findet die innere Ruhe und das Glück des Daseins. In der Ethik der Stoiker finden sich für die europäische Kultur die tragenden Ansätze der allgemeinen Menschenrechte. Sie führen damit die Gedanken der Sophisten weiter und lehren die Über7..eugung, dass von der Natur her alle Men· sehen den gleichen Wert haben. weil sie alle an der einen Weltvemunft teilhaben. Deswegen kritisierten die späteren Sophisten und die Stoiker die Einrichtung der Sklaven haltung, aber auch die Fremdenfeindlichkeit der griechischen Bürger. Jeder Mensch müsse seinem Gcwissen (syneidesis) folgen und die richtige innere Einstellungen zu den Dingen des Lebens finden. Damit wird die stoische Ethik zu einer tragenden Säule der europäischen Kultur und der Aufklärung. Jeder Mensch soll sein Leben von seiner inneren Einstellung her selbst bestimmen (autonomia). Alle sollen in ihrer Lebensgestahung dem natürlichen Recht (Naturrecht) folgen, denn dieses wurzelt in der vernünftigen Weltordnung des ewigen Logos. Dieses Naturrecht ist kosmopolitisch und gilt in allen Ländern und Reichen. es kann durch die positiven Gesetze einer Stadt nicht aufgehoben werden. '6 Die Schule der Epikuräer hingegen glaubte an kein Recht der Natur. vielmehr seien alle Gesetze der Stadt das Ergebnis von menschlichen Vereinbarungen und Verträgen, die das Zusammenleben regeln. Jeder staatliche Vertrag wird durch seine Nützlichkeit bestimmt. denn er soll ein konfliktfreies Leben in der Stadt garantieren. Menschen können sich vor den Mitmenschen nur schützen. wenn sie sich zusammen schließen. Vor allem im Bündnis der Freundschaft versprechen sie einander Schutz und Hilfe. Deswegen beruhen alle sozialen Beziehungen und Erwägungen auf der gegenseitigen Nützlichkeit. Der Weise sucht die optimale Verwirklichung seines Lebens, deswegen lebt er in Zurückgezogenheit. um soziale Konflikte zu vermeiden. Nun strebe jeder Mensch nach dem Glück des Lebens, doch dieses findet er nicht in der Verwirklichung der ethischen Tugenden. Es findet sich vielmehr in dcr Abwesenheit der Unlust und des Schmerzes. sowie im Erleben der dauerhaften Lust (hedone). Lust und Unlust seien vorgegebene Wertungen unseres Lebens. die nicht vom Verstand geformt werden. Sie seien vorrationale Gegebenheiten unse16
M. Hossenfcldcr. Philosophie. 53-68. J. Rohls. Geschichte. 75-80.
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res Daseins. Das höchste Gut des Lebens ist das fortdauernde Erleben von Lust und das Fehlen des Schmerzes. Folglich entsteht das größte Übel im Erleben der fortdauernden Unlust und des Leidens. Diese Unlust stört unsere innere Ruhe und unser Glückgeftihl. Folglich strebt der Weise nach dem Erreichen der maßvollen Lust und nach dem lang dauernden Fehlen des Schmerzes. 17 Das Ziel des moralischen Lebens besteht in der inneren Seelenruhe (ataraxia). Der Weise entfaltet nun seine praktische Vernunft. um für lange Zeit frei von Schmerz und Unlust zu sein. Denn die Unlust kommt entweder aus der Furcht vor den kommenden Ereignissen. oder aus der Begierde nach dem Unerreichbaren. Nun sei es die Aufgabe der Vernunft. die Angst vorderZukunft zu vermindern und die falschen Begierden als solche aufzudecken. Die natürlichen Begierden seien leicht zu befriedigen. aberdie eingebildeten Begierden sollten vermieden werden. Die Philosophie lehrt die Menschen. ihre natürlichen Begierden aufmaßvolle Weise zu befriedigen und dabei bleibende Lust zu erleben. Durch die Aufdeckung der eingebildeten Begierden soll viel an Unlust und an Schmerz vermieden werden. Zu den ersten gehört das Bedürfnis nach Essen. Trinken. Sicherheit. Sexualität. z.u den zweiten zählen die Bedürfnisse nach Macht. Reichtum und Ansehen. Nun kann die Philosophie helfen. die Angst vordem Tod und vor strafenden Göttern zu überwinden. Der Tod sei deswegen nicht zu fürchten. weil er nicht mit Schmerzen verbunden ist. er sei das definitive Ende unserer Existenz und der Empfindungsf:ihigkeit. Die vielen Götter seien unvergängliche und glückliche Wesen. die in das Leben der Menschen gar nicht eingreifen. Sie bestrafen keine Übeltaten und belohnen keine Tugenden. Deswegen ist die Furcht vor ihnen unsinnig. Die Götter sind rur die Menschen. die an sie glauben. Idealbilder des glücklichen und lustvollen Lebens: sie existieren in unendlichen Welten und in den leeren Räumen zwischen den Atomen. Um die Lenkung des Wehgeschehens kümmern sie sich sicherlich nicht. Die rechte Vorstellung über die Gölter hebe die Furcht vor ihnen auf und zeige sich als die wahre Frömmigkeit (eusebeia). Die Weisen entwerten das Unverfügbare und mühen sich um realistische Einschätzungen ihrer Möglichkeiten. Unsere moralischen Bewertungen nehmen wir direkt aus unseren sinnlichen Erfahrungen und Gefühlen. sie sind nicht das Ergebnis von Überle· gungen der Vernunft." Unlust ist das Gefühl eines Mangels, wenn uns etwas von der NaturGefordertes fehlt Und die Lust besteht in der Ausfüllung dieses Mangels und der Rückkehr zum naturgemäßen Zustand. Der Weise sucht zuerst den stabilen Zustand seines .,Fleisches" (sarx), die gesunde Verfassung seines Körpers und damit die dauerhafte Lusterfahrung. Nun besteht die Aufgabe der Vernunft darin. die sinnliche Lust verfl1gbar und dauerhaft zu machen. Wer in körperlicher Gesundheit und im seelischen Frieden lebt. en:ihrt das Glück seines Daseins. Häufig bringen uns M. Bossenfelder. Philosopie. 102-123. R. Müller. Die epikureische Gescll.schaftstheorie. München 1972.56--66. J. Rohls. Geschichte. 82-85. eh. Geyer. Himfor.;chung und Willensfreiheit. Frankfun 2004. n
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die einfachen Genüsse des Lebens mehr an dauerhafter Lust. als die Güter des Reichtums und des Überflusses.
Die Tugend wird folglich um der Lust wegen angestrebt, nicht um ihrer selbst willen. Sie erweist sich ftir ein glückliches Leben als nützlich. Deswegen lernen die Weisen. jeden Tag zu genießen und sich ihres Lebens zu freuen. Für sie ist die Freundschaft (philia) der On des gemeinsamen glücklichen Lebens, der Gebor· genheit und der gegenseitigen Hilfe. Denn sie bietet die optimale Voraussetzung für ein Leben in dauerhafter Lust und für das Venneiden der Unlust. Deswegen entreißt die entfaltete Vernunft das Lebensglück dem Zufall und macht für alle ein gutes Leben möglich. Auch die epikuräische Ethik ist zu einer tragenden Säule der europäischen Kultur geworden. modeme wissenschaftliche Forschungen geben ihr großteils Recht 19 Die Schule des Skeptikers Pyrrho" häh weder die sichere Erkenntnis des Wah· ren und des Falschen fUr möglich. noch die Gewissheit über das Gute und das Böse. Deswegen enthalten sich die Anhänger dieser Schule weitgehend der moralischen Bewertung von Handlungen und Entscheidungen. In ihrem praktischen Lebens halten sie sich an die bestehenden Sitlen und Gebr'.iuche. ohne von ihrer Richtigkeit überzeugt zu sein. Vielmehr glauben sie. dass wir das Glück unseres Leben gar nicht mit Sicherheit erkennen können. Für SexfIls Empiricus erreichen wir die angestrebte Seelenruhe (ataraxia) nur dann. wenn wir uns der letzten Bewertung von Handlungen enthallen (epoche). Denn wir finden immer nur einen Gleichstand unserer gegensätzlichen Argumente und Wertungen. Die Anhänger dieser Schule enthalten sich der festen Bewertungen und der klaren Überzeugungen. denn sie wissen nicht mit lelzter Sicherheit. wonach sie überhaupt streben sollen. Deswegen halten sie sich immer an die Konventionen ihres sozialen Umfeldes. gleichzeitig vermeiden sie die innere Beunruhigung durch bestimmte Zielsetzungen. Wertungen und Überzeugungen. Erst wenn ihnen alle Erkenntnisse und Wertungen ..gleich gültig" geworden sind. dann erreichen sie die ausgeglichenen Affekte und GefUhle (metriopathia). Deswegen lassen sie alles Geschehen in der Welt mit Gelassenheit an sich vorüber ziehen. Solche skeptische Positionen der Ethik finden wir heute bei einigen Denkern der sog. Postmoderne. 20 Die Schule der Neuplatoniker im Gefolge Ploti"s und des Ammo"ios Sakkos will sowohl die pyrrhonische. als auch die platonische Form der Skepsis in Bezug auf Erkenntnisse und Wertungen endgültig überwinden. Deswegen wird ange· nommen. die Weh der vielen Dinge und Lebewesen entfalte sich aus dem ewigen Ureinen (to hen). aus dem götllichen Geist (nous). aus der einen Weltseele. dann aus den vielen Einzelseelen und aus dem Weltstoff. Dieses Ureineaber ist zugleich das höchste Gute und gibt allen Lebewesen das riChtige Verhalten vor. Es fließt in seiner Fülle des Lichtes und der Kraft ständig über und verwirklicht sich in M. Hosscnfc:ldcr. Philosophie. 104-120. 1G M. Hosscnfclder. Philosophie 166-180. J. Rohls. Geschiehle. 85-88. 19
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der hierarchischen Ordnung des ganzen Kosmos. Der Mensch hat nun mit seiner Seelenkraft. die in seinen Körper eingeflossen ist, Anteil an der göttlichen Weltseele und am göttlichen Geist. Jede menschliche Einzelseele habe aber Sehnsucht nach der göttlichen Heimat, aus der sie gekommen ist. Im Erleben der Ekstase und in der mystischen Vision kann sie aber schon jetzt kurzzeitig in die göttliche Welt hinein sehen. Jeder Mensch. der asketisch und tugendhaft lebt. nähere sich ebenfalls der göttlichen Welt an. 21 Wenn ein Mensch nach den vier Grundtugenden der Weisheit. der Tapferkeit. der Mäßigung und der Gerechtigkeit lebt und sie verwirklicht. nähert er sich schrittweise der göttlichen Welt. Deswegen muss der Weise die falschen Meinungen (doxai) vermeiden, er muss seinen Affekten und Trieben klare Grenzen setzen und sich vom Bösen reinigen. Die philosophische Lebensfonn wendet sich der Welt des Geistigen und des Göttlichen zu, damit fördert sie den Aufstieg der Seelenkraft in die göttliche Weil. Die Weisen können klar das Gute vom Bösen unterscheiden. nach den Maßstäben der göttlichen Welt. Nurdas Gute habe wahres Sein. dem Bösen komme ein Nichtsein zu. Dieses bestehe immer im Fehlen des Guten. Die Menschen können genau erkennen. was das Gute in ihrem Leben ist. und sie können es mit ihrem Wollen erreichen. Die Weisen streben immer nach der optimalen Verwirklichung der vorgegebenen Tugenden. Nun kann sich die menschliche Einzelseele über die allgemeine Weltseele zum Göttlichen erheben. wenn sie die Bindungen an die Weil der Körper schrittweise aufgibt. Angespornt durch den göttlichen Eros vermag sie ihre Ichbezogenheit abzustreifen. gleichzeitig reinigt sie sich von allen Befleckungen mit dem Bösen. In der ekstatischen Schau des Göttlichen erhebe sie sich zum ewigen Weltgeist (logos) und überwinde dabei ihre egozentrische Lebenseinstcllung. Sie wird kurzzeitig eins mit der zeitlosen Wellvemunft. Der Gipfelpunkt der gelebten Tugend ist das Erleben der Ekstase. welche durch ein asketisches Leben vorbereitet wird. Nach der neuplatonischen Lehre verbindet sich die Ethik mit der Mystik, das tugendhafte Leben wird durch die mystische Schau relativiert. 22
Spätantike und Mittelalter Die neu pi atonische Schule der Ethik lebt im Christentum der Spätantike und des Mittelalters weiter und wird noch vertieft. Aurelills AugustillllS war der entscheidende Vordenker eines christlichen Neuplatonismus. Zuerst war er der manichäischen Lehre gefolgt, wechselte dann zur platonischen Skepsis über. Doch diese überwand er mit dem neu platonischen Glaubensmodell. das er vom christlichen Bischof Ambrosius in Mailand kennen gelernt hatte. Als Manichäer war er überzeugt. dass im Kosmos und in der Menschenweh die Kräfte des Guten einen dauerhaften Kampf gegen die Kräfte des Bösen führen. Als W. L. Gombocz. Gcschichtc der Philosophie IV. München 1997. 177-188. I! w. L. Gombocz. Geschichte. 198-202. 11
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miuelplatonischer Skeptiker folgte er der Meinung. dass wir die Werte des Gulen und des Wahren nicht mit Sicherheit. sondern nur mit Wahrscheinlichkeit erkennen können.
Als Neuplatoniker entschied er sich schließlich für den Glauben, dass nur das Gute wahrhaft existiere und das Böse bloß ein Mangel (privatio) des Guten sei. aber kein eigenes Wesen habe. Allein die Erkenntnis des ewigen und geisligen Guten verschaffe der menschlichen Seele die angestrebte Glückseligkeit. Diese Erkenntnis aber geschieht durch die göttliche Gnade und den religiösen Glauben. Weil das Böse nicht am Sein des Guten teilhat, kann es gar nicht selbständig existieren. Es besteht immer nur als ein Mangel. als eine Unordnung und Disharmonie. Wie das Licht nur im Dunkeln zur Geltung kommen kann, so auch das moralische Gute nur im Kontrast zum Bösen. Ursprünglich hallen alle Menschen einen freien Willen. doch durch die ..Ursündc" Adams haben alle diese Freiheit des Handeins verloren. 23 Nun wird die Sünde Adams über die Seele und die Sexualität auf alle Men· schen vererbt, folglich sind alle Menschen vor GOll böse und neigen zu bösen Handlungen. Allein durch die gÖllliche Gnade (gratia) können die Menschen von ihren bösen Neigungen und Handlungen befreit werden. Unser eingeschränkter freier Wille emlöglicht uns nur eine Entscheidung zur Sünde. nicht aber eine Entscheidung für das Gute. Die Entscheidungen zum Guten geschehen allein durch die göttliche Gnadenkraft. Nun erwählt der göttliche Himmelsherr die einen Menschen für gute Taten und damit zum ewigen Heil. die anderen erwählt er zu bösen Taten und damit zum ewigen Verderben. Kein Mensch sei befugt. dem autonomen Himmelsherren deswegen Vorwürfe zu machcn. Die zum Glauben und zum Guten erwählten Menschen sollen sich von der sinnlichen Welt abkehren und zur Welt der ewigen Ideen hinwenden. Wenn sie asketisch leben. bereiten sie die Rückkehr ihrer Seele in die göuliche Welt vor. Das Ziel des menschlichen Handeins sei das Ruhen in derGottheit. welches durch die Gottesliebe (amor Dei) erreicht wird. Doch wer vor allem sich selbst Iicbl (amor sui). verfehlt den Weg zum ewigen Heil. Die Glaubenden folgen den vier Grundtugenden der Weisheil. derTapferkeit. der Mäßigung und der Gerechtigkeit. Diese ergänzen sie durch den festen Glauben an die GOllheit, durch die Hoffnung auf die himmlische Seligkeit und durch die Liebe zum Göulichen. 24 In allen Fällen sieht der göttliche Wille über den Gesetzen der Natur. Menschen. die sich durch die göllliche Gnade von der Gottesliebe leilen lassen. bilden eine ..Bürgerschaft Gottes" (civitas Dei). Alle diejenigen. die sich von egozentrischer Selbstliebe leiten lassen. bilden eine Bürgerschaft des Teufels (civitas diaboli). Sie lieben den Siolz und die Herrschaft und führen viele Kriege gegeneinander. Sowohl der römische Siam als auch die christliche Staatskirche umfassen beide Bürgerschaften. sie sind nicht klar von einander zu trennen. Nun bestehe das gute u w.L. Gombocz. Geschichte. 300-314. 2' J. Rohls, Geschichle. 113-118. W,L. Gombocz. Geschichte. 296-300.
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Leben in einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen der Gottcsliebe. der Nächstenliebe und der maßvollen Selbslliebe. Die regelmäßige Askese als zeitweiliger Verzicht auf Essen. Trinken. Schlaf und Sexualität soll helfen. die übertriebene Ichsucht zu vennindem und zu überwinden. Die Glaubenden sollen die Güterder Schöpfung nur gebrauchen (uti). nicht aber genießen (frui). Denn die Schönheit der Schöpfung verweist immer auf die Größe des gölllichen Schöpfers. Der Staat dient den Menschen zur Daseinsvorsorge und zur Aufrechterhaltung des Friedens. Wenn die egozentrischen Strebungen vorherrschen. dann gibt es unter den Menschen Unterdrückung und Beraubung. Deswegen hat der Staat die Aufgabe. die Bürger durch strenge Gesel.Ze zum Frieden zu zwingen und den Gläubigen die Ausübung ihrer Religion zu gewährleisten. Bei der Verfolgung der vom rechten Glauben Abweichenden (Häretiker) dient er der Kirchenleitung als verlängener Ann. Mit diesen Ideen wurde Augustinus in der Nachfolge Platons zum Vordenker des autoritären und totalitären Staates und der kirchlichen Inquisition. Für ihn hat der Irnum in Bezug auf Religion und Moral keine Daseinsberechtigung.2j Im Minelalter haUe Thomas \101/ Aqlli" die Ethikkonzcpte des Aristoteles kennen gelernt und weiter entwickelt. Von der stoischen Lehre her wird die Gehung des Naturgesetzes (lex naturalis) allgemein anerkannt. Dieses implizien bei den Menschen die angeborene Erkenntnis der höchsten Prinzipien des moralischen Handeins. aber ebenfalls die angeborene AusriChtung der Affekte (synderesis) auf das moralisch Gute. Davon waren die Theologen Aleunder von HaIes und Bonaventura überzeugt Thomas von Aquin verstand synderesis als Ausrichtung der praktischen Vernunft auf das Naturgesetz bzw. auf das moralisch Gute. Das Gewissen (conscientia) gilt als die Anwendung der synderesis im konkreten Fall einer Handlung. Nun kann dieses Gewissen im einzelnen Fall der Entscheidung auch irren. doch es kann nicht von der grundsätzlichen Ausrichtung auf das Gute abweichen. Immer hat das Naturgesetz am ewigen göttlichen Gesetz (lex divina) Anteil. an ihm müssen deswegen auch alle positiven Gesetze des Staates gemessen werden. Der Grundsatz des göttlichen Gesetzes lautet. das Gute sei zu tun. das Böse sei zu meiden. Thomas bestimmt das Gute als das. wonach alle Wesen und alle Menschen aufgrund ihrer Natur streben. Es ist das Ziel und der Zweck aller menschlichen Handlungen und Entscheidungen. Wie jedes andere Lebewesen will auch der Mensch sich selbst erhalten und fonpflanzen. Mit seiner praktischen Vernunft kann er diese Ziele verfolgen. Als soziales Wesen lebt jeder Mensch in einer Gemeinschaft. die nicht durch Unvernunft. durch Lüge oder Unfrieden gestön werden soll. Das Gesetz der christlichen Religion (Dekalog) sei im Grunde mit dem Naturgesetz identisch. Jeder Mensch muss in seinen Handlungen seinem Gewissen folgen, auch wenn dieses in einzelnen Fällen irren kann. Doch durch die allgemeine Grundausrichtung des Gewissens auf das Gute bleibt ein Gewis:s J. Rohls. Geschichte. t 19-126. P. Brown. AugU."ilinus \"on Hippo. Frankfun 1982.78-88.
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sensirrtum nicht ohne moralische Schuld. Deswegen müssen die Ketzer verfolgt werden. weil der Irrtum kein Daseinsrecht hal. ltI Wer in seinem Handeln das höchste Gute verwirklicht. erlebt liefe Glückseligkeit. Die moralischen Tugenden sind die erlernten Dispositionen. um in allen Lebenssiluationen das Gute zu tun und das Böse zu vermeiden. Wer die höchste Gottheit schaut. erlernt das reine Gute und will es in seinen Entscheidungen verwirklichen. Die menschliche Natur wird erst durch die göttliche Gnadenkraft vollendet. diese Kraft aber seizi in allen Lebensbereichen das Natürliche voraus (gratia praesupponit naturam). Das höchste Ziel des menschlichen Lebens liegt in der Schau des Göttlichen (visio Dei). sie wird durch die mystische Kontemplalion vorbereitet. Alle Menschen können die moralische Disposition zur Tugend (virtus) lernen. denn sie beruhigen die Handelnden zu den guten Taten. Diese Disposition bezieht sich auf den Verstand. den Willen. das Begehren und die Kraft des Widerstands. Deswegen unterscheidet Thomas zwischen den dianoetischen und den morali· sehen Tugenden. Die Tugend der Weisheit aktiviert den Verstand. die Gerechtig· keit motiviert den Willen. die Mäßigung wirkt auf das Begehren. die Tapferkeit bezieht sich ,luf die Kraft des Widerstands. Der Mensch wird als Bild des göllli· ehen Schöpfers (imago Dei) gesehen. doch er hat durch die Ursünde Adams die ursprüngliche Gerechtigkeit verloren. Jetzt kann er nur mehr durch die gönliche Gnadenkraft den Weg der Tugend gehen und im Leben das Gute tun. Denn in ihm wirkt jetzt die Sünde als die Disposition zum Bösen. Doch der gönJiche Schöpfer gießt in die Gläubigen die neuen Tugenden des Glaubens. der Hoffnung und der Liebe. Dadurch erhalten sie jene natürliche Gerechtigkeit zurück. die sie durch den Sündenfall Adams verloren haben. Ethische Handlungen sind nur gut unter der Voraussetzung der gönlichen Gnade. Die Ordnung des Seins. unserer Erkenntnis und unseren moralischen Handeins hängen zusammen. denn in der ganzen Schöpfung sei eine analoge Struktur (ana· logia enlis) erkennbar. Alle Menschen streben nach dem natürlichen Guten. dies entspricht sowohl der ewigen. als auch der menschlichen Vernunft. Folglich ist das Vernünftige gut und das Unvernünflige ein Übel. Weil wir Menschen soziale Wesen sind (animal sociale) mUssen wir in einem Staat zusammen leben. Dieser soll das Gemeinwohl aller sichern und den Frieden wahren. Ein Herz. ein Wille und cin Verstand sollen den Staat lenken. weise Männer müssen die Könige und die Priester beraten. Der Widerstand des Volkes gegen einen Tyrannen ist erlaubt und möglich. um Böses vom Gemeinwesen abzuwehrcn. n
»R. I-ieinzmann. llKmlas von Aquin. In: O. Höffe (Hg.). Klassiker der Philosophie I. MiJnchcn 1981, 198-219. J. Rolds. Geschichle. 148-154. II J. Rohls. Geschichte. 150-154. R. Heinzmann.löomas. 200-218.
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Humanismus und Renaissance
Im späten Minela1ter erinnerten sich einige Denker der LebensweJ1e und der Lebenswelt deranliken Kultur.Sieerkannten. dass die griechischen und die römischen Gölter ungleich toleranter und lebensnäher waren als der monopolhaft vertretene patriarchale ChristengOlI. Einige blickten auf die WeJ10rdnung der Stoiker und der Epikuräer und hielten eine ..Wiedergeburt·· (renascita) der antiken Kultur fur möglich und wünschenswert. Sie wollten antike Denker neu zugänglich machen und fortan mehr im "Buch der Natur"'. als im Buch der Bibel forschen. Denn die atur sei die erste göttliche Offenbarung an uns Menschen. Die Freude am Leben. an der Sinnlichkeit und Sexualität sollte wieder entdeckt und verbreitet werden. Die asketischen Lehren der Priester und Mönche sollten zu Ende kommen. Einige Maler begannen. nach langen Zeitepochen den menschlichen Körper wieder nackt zu malen (Sandro Botticelli, 1487). Nach einer langen ..Nacht" der Lebensverneinung sollte die Freude am Menschlichen (humanum) wieder Platz greifen. Auch in d'lS Zentrum des Denkens rückte wieder der Mensch, GOIt erhielt seinen Platz 3m Randeder Renexionen.ln der Platonischen Akademie von Florenz wurden wieder griechische Denkweisen und Lebenswerte gelehrt. Es wurde ver· sucht. die griechischen Götter wieder zum Leben z.u wecken (Gcl1listhos Plethon). um das Leben wieder sinnlicher zu gestalten. Eine neue Zcitepoche des Denkens und der Lebensgestaltung wurde erwartet. Der asketische Christengott habe den Menschen allzu lange die Lebensfreude gestohlen. Marsiglio Fici"o sah gerade im Erleben der sinnlichen Lust ein göttliches Geschenk. Denn der Mensch sei die ..Mitte der Welf'. er könne über die Tiere. die Pflanzen und die Dinge bestimmen. Seine ..WUrde" (dignilas) bestehe darin. dass er nach dem Göttlichen strebe und in den Dingen die göttlichen Ideen erkennen könne. Es sei die Größe des Menschen. dass er alle Dinge und Geschöpfe zur Gottheit hinführen könne. Die menschliche Würde komme vom göttlichen Schöpfer und sei allen Menschen in gleicherWeise gegeben. Giovan"i Picodel/a Mira"dola wollte die Freude am Leben und an der Sinnlichkeit. sowie die inneren Leidenschaften wecken, weil die Gefühle die Voraussetzung fLir ein glückliches Leben seien. Der glückliche Mensch sei der leidenschaftlich Liebende. der sich von der alten Lehre der Erbsünde verabschiedet hat. Im Grunde sei jeder Mensch ein ..Abbild" Gottes. darin sei seine Würde gegründet. Wir Menschen leben in der Mitte des Seins, denn wir verbinden die irdische mit der göttlichen Welt. Folglich haben wir das Recht. glücklich zu sein und uns der sinnlichen Lust zu freuen, auch wenn wir ausgesetzt und mit Ängsten leben müssen. 2t1 Jeder Mensch hat einen freien Willen und steht ständig am moralischen Schei· deweg. Wir tragen die volle Verantwonungen flir unsere Entscheidungen und Handlungen. Erosmus \'on Rotterdam glaUbte an den Beginn einer neuen Kultur der Humanität. die auf zwei Säulen aufgebaut werden muss: zum einen auf der
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J. Rohls. Geschichte. 173-175.
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Moral der stoischen Philosophie. zum anderen auf der Werteordnung des Neuen Testaments. Die RachemoraJ des Alten Testaments sei dafür nicht mehr zu gebrauchen. Die christliche Bibel solhe mit den Schätzen der antiken Kulluf angereichert werden. Denn wenn sich die Menschen in der antiken Philosophie bilden. dann werden sie nicht mehr dem Aberglauben. der Dummheit und dem MachIwahn der römischen Kirche folgen. Erst wenn die Torheit der Macht durchschaut ist kann die Bildung des Charakters beginnen. Nur in der Nähe zur Natur könne die wahre Menschlichkeit reifen. Auch der Fürst dient dem Slaat und braucht die Zustimmung des Volkes, seine Herrschaft zeigt sich als weise "Verwaltung" der Gesclze. Alle Menschen sind von ihrer Natur her freie Wesen, deswegen darf es nicht länger den Zwangsslaal geben. Jeder Fürst soll seinen Bürgern ein moralisches Vorbild sein. denn auch er iSI nur ein Teil des Slaates. Ln jedem Staal soll der FähigsIe die Verwaltung übernehmen. ein unrj· higer Gewallherrscher soll vom Volk abgesetzt werden. Die höchste Torheit des Lebens bestehe in der Abirrung von der Menschlichkeit und im Krieg. Immer iSI ein ungerechler Friede dem angeblich gerechten Krieg vonuziehen. Allein durch die soziale Gerechtigkeit kann der Friede im StCUlt langfristig gesichen werden. Für dcn Weiscn ist dic ganze Weh das ,.Valcrland'· (palria) aller Menschen. die Abgrenzung der Nationen bringe den Menschen nur Unhcil. 29 Der Gebildeie sieht die ganze Weil als "Hausgemeinschafl". er will Bürger aller Städte und Länder sein. Jeder Mensch hai ein Recht auf freies Denken. doch gleichzeitig muss er seinen Charakler bilden. um ein moralisch guter Mensch zu sein. Gegen den ReligionsreformalOf Manin Lulher veneidigle Erasmusden freien Willen. kein Mensch werde an die göttliche Gnadc oder an den Teufel ausgelie· fen. Der Refonnator entwene den Menschen und lasse ihm keinen Plalz für das Irdische. Wer die Erkenntnisse der Philosophie abwcrte, treibe ein gefcihrliches Spicl mit seinen Mitmenschen. Mil Sokrates veneidigt Erasmus den freien Willen jedes Menschen. gleichzeitig möchle er sich von einem tyrannischen Gott verabschieden. Friedrich Nietzsche halte 350 Jahre später angemerkt, Erasmus sei der bessere Refonnalor der Religion gewesen als Manin LUlher.J(} Die philosophischc Bildung sei die nOlwendige Vorausselzung für eine humane Kultur. Denn allein das kritische Denken machl uns auf die Imümer des Lebens und auf die natürlichen Lebensformen aufmerksam. Die Philosophie hat viel an Lebensweishcit gespeichen. sie lehn uns die Bescheidenheil und die Menschlichkeit. Außerdem hilf! sie uns. unsere Natur im Leben derGemeinschaft zu entfalten. Allein die Philosophie lreibl den Prozess der Humanisierung voran, ihre Denkinhalte sollen allen Bürgern zugänglich werden. In der Bildung und in der Polilik im Staal sollen die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer bekommen. denn sie sind die Sprecherinncn der allgemeinen Menschlichkeil (Ciccronianus). Erasmus. Quercla Pads (1517); Institutio Principis Chrisliani (1516); Oe liberoarbitrio(l524); Ciceronianus (1528). J(I Erasmus. Declamalio de pueris (1529); Ecc1esiasles (1535). Dazu A. Gail, Erasmus. Mün· chen 1999.65-78. 2'1
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Der englisch Utopist TllOmas Morus stelle sich die beste Staatsform auf der Insel .. Utopia;' vor. Dort suchen die Menschen zuerst das persönliche Glück. die Weisen übernehmen die Leitung im Gemeinwesen. Der Besitz an Gütern wird auf alle gleichmäßig verteilt. deswegen gibt es wenig Gesetze, keine käuflichen Ämter und keine Bestechung. Diebe müssen eine Zeitlang Zwangsarbeit leisten, der Krieg wird unter allen Umständen gemieden. Männer und Frauen treiben Ackerbau und Handwerk, nach der Arbeit erholen sie sich bei freier Bewegung und beim Spiel. Alle lernen die moralischen Tugenden der Gerechtigkeit. der Weisheit, der Tapferkeit und der Mäßigung. Sie halten die geschlossenen Verträge ein und verabscheuen den Krieg. Nur wenn sie angegriffen werden, verteidigen sie sich. Alle glauben an ein höchstes göttliches Wesen. sie haben aber verschiedene Bilder und Riten in ihrer Religion. Sie streben nach der Weisheit und der Tugend. dabei loben sie den göttlichen Schöpfer. 31 Für den italienischen Dominikaner GiordWIQ Snmo wirkt im Kosmos eine göttliche Weltvernunft bzw. Weltseele. an der alle Menschen ihren Anteil haben. Die WeIl ist voller Schönheit und Wunder, der Mensch lebt in der Mitte zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen. In jedem Menschen wirken die Triebe seiner Natur. doch seine gcistigen Fähigkeiten richtet er nach der Welt der ewigen Ideen. Damit kann er die .. Bestien" des moralischen Lasters besiegen und sich von den Tugenden leiten lassen. Wenn er seine "heroischen Leidenschaften" erlebt. dann erfahrt er darin sein Streben nach der Unendlichkeit und dem Vollkommenen. Und sobald er das Unendliche zu lieben begonnen hat. vemlag er aus seinen morali· sehen Fehlern das Gute zu erlernen. Dann verwandelt er schrillweise sein Leben und nähert sich dem Göttlichcn an. In der Liebe zur Schönheit leuchten immer die Wunder des göttlichen Schöpfers auf.32
Konzepte der frühen Neuzeit Die frühen Denker der Neuzeit setzen die Impulse des Humanismus und der Renaissance. aber auch der Glaubensreformation durch Luther, Calvin und Zwingli fort. Der Westfale JoJu"",es AllMus lehrte, die Vergemeinschaftung der Menschen folge einem tiefcn Antrieb und Bedürfnis. Und im Staat werde der Fürst vom Volk eingesetzt und beauftragt. nach dem Recht und der Sille zu regieren. Wenn er aber beide verletzt,dann könne er vom Volk auch wicderabgesetzt werden. Denn dieses habe das Recht des Widerstandes. um seiner ursprüngliche Freiheit zu verteidi· gen. Die Menschen schließen einen Gemeinschaftsvertrag, um ihr Überleben zu sichern. Damit schließen sie auch einen Vertrag der Unterwerfung, mit dem sie sich dem erwählten Herrscher unterordnen. Doch das Volk bleibt der Souverän des Staatcs, deswegen muss es den Machtmissbrauch des Herrschers verhindern und kontrollieren. Dies geschiehtdurch den Ratder Ephoren. welche den Grundvertrag Thomas Moros. Utopia (1516). )l Giordano Brono. La ccna delle ccneri (1580); Oe I'infinito. univcrw e mondo (1584). )1
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schützen und den Herrscher kontrollieren. So wird die staatliche Zwangsgewalt immer zwischen dem Fürsten und den Ephoren geteiltY Die Konkurrenz der holländischen. der englischen und der puritanischen Handelsschiffe erzeugte bei einigen Denkern die Vorstellung von einem ,.Recht der Völker", das aus dem Recht der Natur hergeleitet wird. Hugo GrOl;us argumentierte für die natürliche Freiheit der Meere für alle Völker. Ein solches Recht der Völker muss nun über allen religiösen Konfessionen und Staaten slehen, es nimmt
Bezug auf das allgemeine Naturrecht. Dieses werde nun das göuliche Recht ab· lösen, das im Mittelalter bestimmend war. Das Naturrecht hat seine unbedingte Gültigkeit. auch wenn ein Gott gar nicht existieren würde. Die Sätze des Naturrechts sind wie die Sätze der Mathematik aufgrund der bloßen Vernunft wahr. Hier knüpfte Grotius an die Lehren der Stoiker an, nach denen das Naturrecht in der Übereinstimmung der Menschen mit ihrer Natur gründet. Der Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen erzeuge den Geselligkeitstrieb, weil jeder Mensch nur in der Gemeinschaft überleben kann. Zum Recht der Natur gehören der Respekt vor dem fremden Eigentum. die Wiedergutmachung eines schuldhaft angerichteten Schadens. die Vergeltung von Unrecht durch angemessene Strafe und die Pflicht der Venragseinhaltung.)4 Der rationalistische Denker Re"e Descartes sah in der Ethik vor allem angewandte Psychologie. Denn sie habe die Aufgabe. die irrationalen Affekte. Triebe und Strebungen des menschlichen Lebens unter die Kontrolle der Vernunft und damit der angewandten Wissenschaft zu bringen. Die Naturwissenschaften aber wollen die Kräfte der Natur unter die Kontrolle der forschenden Vernunft zwingen. Nach dem rationalistischen Ideal der absolut sicheren Erkenntnis darf sich eine wissenschaftliche Ethik nur evidenter Sätze bedienen. Ihre Aufgabe sei es. die Geltung der ethischen Nonnen als absolut gewiss zu erweisen. Denn aus der gesicherten Erkenntnis des Beslen folge dann auch die gute Handlung. Die moralische Tugend besteht dann in der Entschlossenheit (generosite). das Beste zu lun. sofern dieses auf einer rationalen Einsicht beruht. Diese Entschlossenheit steuert alle Triebe und Begierden. die aus den Affekten kommen, auf vernünftige Weise. Doch solange es noch keine wissenschaftlich fundierte Ethik gibt, muss eine provisorische Moral in Geltung bleiben. die durch ein Minimum an Handlungsrationalität mithilft. größere Übel zu venneiden. Zur herkömmlichen Moral gehön es, an einer genillten Entscheidung fest zu halten und sich den unveränderbaren Bedingungen des Handels zu unterwerfen. 35 Die sog. Okkasionalisten folgten zum einen Rene Descartes. zum andern AureIius Augustinus. Denn sie gingen davon aus. dass der Mensch in seinem Handeln
J. Rohls. Geschichte. 204f. J.< B. Kniepcr. Die NalurTCchlslchre des Hugo Grotius als Einigungsprinzip der Christenheit. München 1971. '" J. Rohls. Geschichte. 206ff. R. SPCChl: Rene Descanes. In: O. Höffe (Hg.). Klassiker der Philosophie I. 30 1-320. A. Klemml. Descanes und die Moral. Berlin 1971. JJ
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vollkommen von Gou abhängig sei. Allein durch die göttliche "Erleuchtung" (illuminatio) schauen wir Menschen die ewige Wertordnung und die zeitlose Ordnung der Wahrheilen. Durch die Allwirksamkeit Gottes sind wir aber nichl mehr frei in unseren Handlungen, wir können nur unser eigenes Wollen mil dem göttlichen Gesetz in Übereinstimmung bringen. Die Sünde bestehe im Abweichen des menschlichen Willens vom göltJichen Gesetz und in der Liebe zum GeschÖpflichen. Doch jeder Mensch sei dafür erschaffen, um die Goltheit und das höchsle GUle zu lieben. Für Bomch Benedikt Spi"oz.a ist die GOllheit mit der Nalur völlig idenlisch (Deus sive natura). Als die Ursache ihrer selbst (causa sui) und als das Sein aus sich selbst (ens a se) ist die Gottheit absolute und unendliche Substanz (Deus sive subslantia) mit unendlich vielen Wesensbestimmungen. In ihrem Handeln folge die Gottheit ihrem Wesen. nämlich dem Gesetz der Natur. Sie kann gar nicht anders handeln. als sie tatsächlich handelt. Sie ist damit auch identisch mit der kausalen Gesetzlichkeit. die in der Natur herrscht. Wie die Gottheit so strebl auch jeder Mensch nach der Erhaltung seiner selbst. er will sein Vermögen (polentia) aktualisieren und sich selbst verwirklichen. So will jeder Mensch das sein, was er sein kann. Die moralische Tugend diene ihm dabei zur Selbsterhaltung. Denn gUI ist alles das. was der Selbsterhaltung dient; und böse ist alles das. was sie SIÖrt. bedroht oder zerstört. Folglich ist das moralisch Gute das unserem Wirkungsvermögen Zuträgliche. Die Selbsterhaltung geschieht durch das Streben der Vernunft. mit ihr versuchen wir. unser Leben zu entfalten und zu verwirklichen. Folglich gilt dieses Verhallen als gUI. was zu mehr an Vernunftentfahung führt. Hingegen werden alle Behinderungen und Verweigerungen der Vemunftemfaltung als böse gewertet. Aus jedem veränderten Zustand unseres Körpers folgt auf direkte Weise eine veränderte geistige Idee. Nun gehört zur EntfaltungderVemunft immer die schrittweise Überwindung und Kontrolle der unvernünftigen Leidenschaften. Denn jede Leidenschaft komme aus einer ungenügenden Erkenntnis der Affekte. Wenn aber diese richtig erkannl werden. reduzieren sich die Leidenschaften und es wird eine relative Freiheit des Handeins möglich. Die Vervollkommnung unserer Vernunft selze aber immer die Erkenntnis der Goltheit und der Natur voraus. 36 In der Erkenntnis der Gottheit bzw. der Natur wird immer auch die Tugend des guten Handeins erkannt. Wenn wir das Strukturgesetz der Natur bzw. der Gottheit erkennen. dann fühlen wir uns mit ihr eins. Dann aber nehmen wir an der göttlichen Freiheit teil, die mit dem Kausalgesetz in der Natur identisch ist. Wer auf diese Weise die Gouheil erkennt. liebt sie auf vernünftige Weise (amor intellectualis Dei). Diese Liebe zielt auf die Vervollkommnung der Vernunft und auf die Reduzierung der Leidenschaften. Der Mensch erfahrt sich in dieser Liebe als mit der Gottheit vereinigt. Folglich liebt er in derGottesliebe immer sich selbst und erlebt dabei tiefe Glückseligkeit. :lf>
R. Specht. Bameh Spinoza. In: Q. HöfTe. Klassiker. 338-359.
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Die menschliche Vernunft entfaltet sich völlig autonom gegenüber den Offenbarungen der Religion. Die Philosophie zielt immer auf eine fortschreitende Erkenntnis der Vernunft. die Religion aber fordert den Gehorsam des Glaubens. Die Inhalte des religiösen Glaubens lassen sich auf das Doppeigeboi der GOltesliebe und der Nächstenliebe reduzieren. Damit wird das moralische Handeln zum alleinigen Kriterium des rechten religiösen Glaubens. Die autonome Erkenntnis der Vernunft und der heteronome Gehorsam des Glaubens sind einander strikt entgegen geselzt. Die Religion darf nicht länger über die Philosophie herrschen wollen. Auch im Staat müssen die Religion und die Wissenschaft strikt voneinander getrennt werden. sonst ist kein ausreichender Fortschritt der Erkenntnis möglich. Allein die religiöse Toleranz führt in die Freiheit der Wissenschaften, der Religion, der Weltdeutung und des Wortes. Diese Toleranz gehöre zum Wesen des Menschen und sei eine Vorbedingung seiner Selbsterhaltung. Wer mit seiner Vernunft das Wesen der Gottheit und der Vernunft erkennt. der versteht auch die moralischen Tugenden des guten Handeins. Die Menschen wollen als vernünftige Wesen in einer freien Gemeinschaft zusammen leben; dabei verbindet siedas Band der Freundschaft. Der Staat aber hat dieAufgabc. die Einhaltung der vernünftigen Gesetze mittels Strafsanklionen sicher zu stellen. l7 Der puritanische Denker Thomas Hooker sieht das staatliche Gesetz als Teil einer universalen und göttlichen Ordnung. Dieses ewige Gesetz (eternallaw) gilt in der gesamten Schöpfung. in der Welt der Menschen. im Bereich der Erkenntnis und der Moral. So wird das menschliche Gesetz (human law) aus der göttlichen Ordnung abgeleitet. Allein mit den Kräften unserer Vernunft gewinnen wir Einblick in die ewige Ordnung der Welt. In den puritanischen Kirchengemeinden wird nun das gleiche Wahlrecht für alle Mitglieder gefordert. weil Gott jeden Menschen als "Eigentümer seiner selbst" geschaffen habe. Deswegen sollen auch im freien Staat alle Bürger mit Privateigentum an der Wahl der Volksvertreter beteiligt werden. Vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges entwarf TllOmas Hobbes seine Staatslehre und Moralkonzeption. Da der Bürgerkrieg immer die Auflösung des Staates bedeutet. bedarfes eines strengen Staates. der den Gesetzen der Mechanik folgt. Denn im wirtschaftlichen. im politischen und im religiösen Wettkampf sei jeder Mensch seinen Mitmenschen ein .,Wolf; (homo homini lupus). Dies war der Naturzustand der Menschen. der nur durch einen Staatsvertrag überwunden werden konnte. Jeder Mensch strebe nach seiner Selbsterhaltung. aus diesem Streben leitet er die moralische Bewertung seiner Handlungen ab. Alles. was seine Selbsterhaltung fördert. wird alsein Wert bezeichnet. Was aber die Selbsterhaltung stört oder hindert. gilt als ein Unwert. An die Stelle der zielgerichteten (teleologischen) Anthropologie tritt nun im Anschluss an Galilei und Descartes eine mechanistische Sicht weise des mensch)1
J. Rohls, Geschichte. 211-215.
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l.ichen Lebens und des Staates. Allein die Furcht vor dem Tod hält uns davon ab. den Mitmenschen Böses zu tun. Folglich bilden das Streben nach der Selbsterhaltung und die Furcht vor dem Tod die beiden Säulen des Staatsvertrags. Im sog. ,.Naturzustand" kämpfte jeder Mensch gegen jeden auf Leben und Tod, denn es gab keine dem Einzelnen übergeordnete Macht. Das Naturrecht erlaubte jedem Menschen. alles zu tun, was er wollte und konnte. J8 Später haben die Menschen durch die Einsicht der Vernunft und aus dem Streben nach Selbsterhaltung diesen Naturzustand überwunden und den Staat beglÜndet. Dabei erkannten sie. dass der Naturzustand ihrem Streben nach Selbsterhaltung zuwider lief. Deswegen ersetzten sie das natürliche Recht durch das staatliche und positiveGesetz. Dieses enthält nun die vernünftige Regel. dass keinerden Mitmenschen etwas tun soll. was er für sich selber als schädlich ansieht. Aus dieser flÜhen Variante der sog. Goldenen Regel des sittlichen Verhaltens folgen drei moralische Ziele: Der Friede soll solange bewahrt werden. als es nur irgendwie möglich ist. Jeder muss im Stam seine natürlichen Rechte aufgeben und seine eigene Freiheit an der Freiheit der Mitmenschen messen. Drittens müssen die abgeschlossenen Verträge unter allen Umständen eingehalten werden. Die Instanz. an die jeder Mensch seine nalürlichen Rechle abtritl. ist nun der Slaat mit seinem Herrscher bzw. dem Souverän. Der Wille der Vielen im Staat muss sich auf einen einzigen Punkt vereinigen. In diesem "Gesellschaftsvertrag" trin nun jeder Einzelne sein natürliches Recht an den Staat ab, aber nur unter der Voraussetzung. dass alle Menschen dies tun. Nun unterwerfen sich alle dem Herrscher. der im Auftrag aller die Macht und Gewalt ausübt. Er sichert durch die Androhung von Strafen und durch das Schwert den Frieden im Staat. denn jeder hat Angst vor dem Tod . .19 Ein Recht der Bürger auf Widerstand gegen die Staatsgewalt kann es nicht geben, denn dieses könnte leicht in den Bürgerkrieg führen. Erst wenn sich die Staatsgewalt auflöst. verliert sie ihre Verbindlichkeit und muss dann neu errungen werden. Durch die Unterwerfung der Einzelnen konstituiert sich der Staat als Gesamtperson. die Bürger betrachten die Handlungen und Entscheidungen des Herrschers als ihre eigenen. Hobbes vergleicht diesen Staat mit dem biblischen Seeungeheuer Leviathan, über das es keine Gewalt mehr gibt. Dieser Staat fürch· tet nichts. denn er herrscht über die Kinder des Hochmuts. Als einem sterblichen ..Gou" verdanken wir dem Staat den Schutz und den Frieden. Hier erhält nun der Staat die gleichen Befugnisse. welche die Nominalisten im Mittelalter GOII zugesprochen hatten. Die positiven Gesetze des Staates ersetzen nun das universale Naturrecht. Der ethische Offenbarungspositivismus der Nominalisten wurde nun in einen strikten Rechtspositivismus umgewandelt. Allein der Herrscher im Staat bestimmt nun für alle Bürger. was gut und was böse ist, was zu tun und was zu lassen sei. Im englischen Bürgerkrieg hatten alle streiten~
W. Röd, Thomas Hobbcs. In: Q. HÖffe. Klassiker. 280-300.
YI
J. Rohls. Geschichte. 224-229. 0.0. Raphael, Hobbes - morals and polilics. London 1977.
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den Parteien eine andere Auslegung der Bibel beansprucht. Folglich genügt die Berufung auf eine göuliche Offenbarung nicht mehr. um das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Nicht die Erkenntnis der Wahrheit. sondern die Autorität des Staates erschafft die Gesetze des Zusammenlebens (aucloritas. non verilas fecit leges). Hobbes folgte einer mechanistischen Anthropologie und ging vom subjektiven Wencmpfinden und vom Streben nach Selbsterhaltung aus. Nun folgen aber aus unseren
Wcncmpfindungen keine Verpflichtungen. weil aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden könne. Deswegen kommen die Verpflichtungen zum Handeln allein von den
onn setzenden Autoritäten des Staates. Wenn früher Gott die Nonnen
setzte. so lut dies jetzt der Staat in der Gestalt seines autonomen Herrschers. Jetzt sei der Staat auch die verbindliche Instanz rur die Interpretation der Bibel und der göttlichen Offenbarung. Denn die verschiedenen christlichen Konfessionen können sich auf keine einheitliche Interpretation einigen. Folglich muss sich die kirchliche Moral der staatlichen Normsetzung unterwerfcn. 40
Anfänge der Aufklärung Die Cambridger Platonisten suchten aber nach einer dem Staat übergeordneten moralischen Instanz. Ra/pli Clldworrh sah die ganze Welt von GOIl geordnet. der als das höchste Gute die moralischen ormen fur alle Menschen setzt. Diese Normen gehen gänzlich unabhängig von den staatlichen Gesetzen. Auch Herben vo" Cherbury versuchte auf dieser Basis. eine von den Konfessionen unabhängige und allgemein gültige Ethik abzuleiten. Ausgehend von einem höchsten göulichen Wesen (Deismus) lassen sich allgemeine Grundwerte des menschlichen Lebens erkennen. Die Regeln der Ethik lassen sich aus dem allgemeinen Sinengesetz und aus den Erkenntnissen der praktischen Vernunft finden. Denn mit den Kräften unsererVemunft erkennen wir die Regeln und die Formen einer ..natürlichen" Religion. die sich aus dem Konsens aller Völker (consensus universalis) ergibt. Der Grundgehalt dieser Religion ist allgemein (notitia com· munis) und beruht auf dem Gewissen jedes Menschen. Diese vernünftige und natürliche Religion ruht auffünfGrundwahrheiten auf: a) Es existiert ein höchstes göttliches Wesen. das gut. gerecht. weise und glücklich ist und das Ziel des menschlichen Lebens darstellt. b) Es gebOhrt uns Menschen. dieses höchste Wesen. das alles lenkt. durch unsere Gebete zu verehren. c) Die rechte Frömmigkeit besteht in der Einhaltung der herkömmlichen moralischen Tugenden. d) Alle Übeltaten mOssen bestraft und gesühnt werden. e) Die Menschen erwarten einen jenseitigen Lohn für ihre guten Taten und harte Strafen für ihre Übeltaten."l Das Wesen dieser Religion bestehe in der gelebten Ethik der gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Jeder Mensch soll darin frei denken und .. W. Röd. Der Weg. 284-296. L Stnuss. 'The politicaJ phiJosophy of Hobbes. London 1987. .. J. Rohls. Geschichte. 230ff.
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seinem Gewissen folgen können. Nun entsteht die Bewegung der "Freidenker" (ffee thinkers). Die kritische Vernunft selzt dieser Religion ihre Grenzen, sie be· nötig dann keine Berufung mehr auf göttliche Geheimnisse (101m Toland). Eine moralische Vemunftreligion orientiert sich an der Erfüllung der sozialen Pflichten den Mitmenschen gegenüber und führt für alle zu einem glücklichen Leben. Die Gottheit hat jedem Menschen das natürliche Gesetz eingepflanzt, folglich kann jeder zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden. Das Christentum hat die
ursprünglichen Werte dieser allgemeinen Vemunftreligion wieder in Erinnerung gerufen (Matthew 17nda/). Das Wesen des Christentums besteht folglich in einem moralischen Programm des friedvollen Zusammenlebens. TI/Qmas Chubb sah in Christus das große moralische Vorbild. das die freien Menschen zum moralischen und glücklichen Leben anleitet. Alle Menschen sollen ihr Leben den allgemeinen und vernünftigen Gesetzen der Moral unterordnen. die im Doppelgebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe zusammen gefasst sind. Wenn wir aber Böses tun. müssen wir dafür Buße tun und danach zum Guten umkehren. Die letzte Beurteilung unseres Lebens erfolgt im göulichen Gericht. Wer die Gottheit und seine Mitmenschen liebt. ist auf dem Weg zu einem glücklichen Leben (TI/omas Morgall).42 Für 101", Locke impliziert das Christentum die gegenseitige Toleranz der verschiedenen Konfessionen. Wenn der Staat das Gemeinwohl (common wealth) seiner Bürgersichert.dann kümmert ersieh nicht um ihr Seelenheil. DieReligionen dürfen ihren Mitgliedern keine Gewalt androhen. dies zu tun steht nur dem Staat zu. Folglich müssen die Religionsgemeinschaflen klar vom Staat getrennt werden. Von der allgemeinen Toleranz ausgeschlossen aber sind die Atheisten. weil sie keine höchste Instanz anerkennen. und die römischen Katholiken, weil sie von einer fremden politischen Macht (Kirchenstaat) gelenkt werden. Die Toleranz hat ihre natürliche Grenze dort.wo die Sicherheit des Staates gefahrdct wird. lohn Locke aber will den Leviathan zähmen und die staatliche Macht durch vorstaatliche Rechte eindämmen. Denn im Naturzustand war jeder Mensch der freie Eigentümer seiner selbst und verfügte über die Gewalt. alles zu seiner Selbsterhaltung Notwendige selbst zu leisten. Dieses natürliche Gesetz wird aus dem göttlichen Gesetz hergeleitet und bewahrt fortan eine korrigierende Funktion für das staatliche Gesetz. Als eine überpositive Rechtsnonn gilt das natürliche Gesetz für alle Länder und Staaten. es sichert den Einzelnen die natürlichen Freiheiten von allen unvernünftigen Zwängen. Das Recht auf Privateigentum gehört zur natürlichen Freiheit jedes Menschen. Die ungleiche Verteilung der Güter aber ergab sich aus dem Übergang vom Naturzustand zum Slaat. 4l Zum allgemeinen Naturzustand gehören die Freiheit von Gewalt und die Gleichheit aller in Bezug auf diese Freiheit. Jeder Mensch ist aufgrund seiner
.: J. Rohls. Geschichte. 230-232. •) R. Brand!. John Locke. In: O. HÖlTe. Klassiker. 360--378. W. Baumganner. NalUrrecht und Toleranz bei John Locke. München 197.5.56--68.
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Vernunft beHihigt, die geeigneten Handlungen für seine Selbsterhaltung zu selzen. Sofern das Eigentum durch Arbeit erworben wird, ist es unvernünftig. den Besitz der Mitmenschen anzutasten. Der Staat muss nun die vorstaatlichen Rechte der Freiheit und des Besitzes schützen und garantieren. Denn durch die Übertragung der natürlichen Gewah jedes Einzelnen auf die Gemeinschaft gelange der Staat zur Gewalt der Gesetzgebung. der Verwaltung und der Rechtsprechung. Doch mit dieser Übertragung verzichtet der Einzelne nicht auf seine natürlichen Rechte. Um einen Missbrauch der Macht des Staates auszuschließen, sollen die drei Gewaltcn von einander gelrennt werden. Wenn der Staat gegen die natürlichen Rechte seiner Bürger verstößt. nämlich den Schutz von Leben, Besitz und Freiheit. dann ist der Widerstand des Volkes gegen die Staatsgewalt legitim. Der liberale Staat garantiert jedem Bürger die freie Selbstentfaltung und die Beseitigung staatlicher oder kirchlicher Eingriffe in die private Lebensgestaltung. 44 Samuel PufendorJuntcrschied die moralische Natur des Menschen von seiner physischen Natur und sah im Naturrecht ein natürliches Recht der Vernunft. ganz ohne Bezug zur Religion. Dieses natürliche Recht kann von allen Menschen erkannt werden. Unsere Handlungen sind immer nur im Bezug auf ein moralisches Gesetz gUI oder schlecht. und zwar auch dann. wenn ein Gott nicht existierte. Wir Menschen sind von unserer Natur her hilflose Wesen und benötigen die Hilfe der Mitmenschen. um überleben zu können. Aus dem Trieb zur Selbsterhaltung haben wir die Tendenz zur Geselligkeit entwickelt. Diese sagt uns, dass keiner den anderen schädigen soll. dass alle gleich berechtigt handeln und einander unterstützen sollen. Das natürliche Recht basiert auf der Geselligkeit. es verbindet die Menschen mit der gleichen Freiheit miteinander. In der Folge wird immer deutlicher zwischen der persönlichen Moral und dem allgemeinen Recht unterschieden. Chrisrian Thomasills differenziert zwischen der inneren Verpflichtung und den äußeren Pflichten. Die vielen rechtlichen Verpflichtungen dienen der Verwirklichung des höchsten Guten. damit alle Menschen lange Zeit und glücklich leben können und den Frieden bewahren. Die Pflichten der Ehrenhaftigkeit gelten gegenübersich selbst. die Pflichten des Rechts aber sind äußere Zwangspflichten. Die Pflichten der Gewissenhaftigkeit betreffen innere Einstellungen. Im strengen Sinn hat das Naturrecht keinen rechtlichen Charakter, denn dieser kommt allein den positiven Gesetzen im Staat zu. 4S Von einem anderen Ansatz her dachte Gorrjried Will,ei", Leibniz. für ihn sind die obersten Grundsätze der Gerechtigkeit in der göttlichen Weisheit grundge· legt. Später wandte er sich einer idealistischen Begrtindung der Moral zu und kam zu der Überzeugung, dass die obersten Grundsätze, niemandem Unrecht zu tun. jedem das Seine zu geben und moralisch anständig zu leben. auch dann Geltung haben müssen. wenn es Gott nicht geben sollte. Diese obersten Grundsätze ... R. Brandl. John Socke. 366-377. ') J. Rohls. Geschichte. 243-248. U. Dcnzer. Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. SlUtlg3rt 1972.
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des moralischen Handeins kommen nämlich aus der distinkten Vorstellung von Gerechtigkeit. Doch die Befolgung der moralischen Regeln verlangt nach der Annahme eines göttlichen Richters. Leibnil. hat seine Moralbegründung in die Lehre von den Monaden eingebaut und sah in GOlt die höchste und vollkommenste aller Monaden. Da Gott in höchstem Maß vollkommen ist, muss die von ihm geschaffene Welt die beste aller möglichen Welten sein. Das Universum sei ein sinnvolles Ganzes, welches einer pTästabilisierten Hannonie folge. Selbst die metaphysischen, die physischen und die moralischen Übel stören nicht die beste aller Welten, sie sind zur AbstufungderVerkommenheiten sogar nötig. Physische Übel wieder Schmerz. dienen der Erhaltung des Lebens: moralische Übel können zur Besserung eines Lebens beitragen. Es gibt in der Welt so viele Übel. als zur Erreichung der maximalen Vollkommenheit notwendig sind. Die metaphysischen Übel zeigen uns die Begrenztheit unserer Welt. Doch alles Geschehen in der Welt wird von der hÖChsten Gottheit bestimmt. Auch zwischen den Wirkursachen und den Zweckursachen besteht ein Verhältnis der Harmonie. Das Glück unseres Lebens zeigt sich im Fortschreiten in den geistigen Tätigkeiten zu immer neuen Erkenntnissen und Freuden.# Das Gute und das Beste seien ganz ohne göttliche Offenbarung allein aus den Erkenntnissen der Vernunft erfassbar. lehrte ChriJtiafl WoJff Gut sei alles Handeln, welches der Verwirklichung seiner selbst in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur dient. Da die menschliche Selbst vervollkommnung nur in der Gemeinschaft möglich ist, müssen wir immer auch die, Vollkommenheit der Mitmenschen im Blick haben. Im Naturzustand waren alle Menschen frei und gleich. Davon leiten wir das Recht auf Sicherheit. auf Notwehr und auf die Bestrafung der Übeltaten ab. Das letzte Ziel der moralischen Bildung ist eine rechtliche Völkergemeinschaft mit größtmöglicher Wohlfahrt. ol7 Die Jchouischen Moralphilosophen versuchten, die Regeln der Ethik in die Lehren der Metaphysik einzubelten. Weil der Kosmos ein hierarchisches und teleologisch geordnetes System ist. kommt dem moralisch Guten eine ontologische Qualität zu. Ein Mensch ist dann moralisch gut. wenn seine Neigungen mit seiner menschlichen Natur übereinstimmen. Dies ist aber nur dann der Fall. wenn die egoistischen und die altruistischen Bestrebungen in eine ausgeglichene Balance kommen. Unsere moralischen Wertungen haben ihren Ursprung nicht in den Erkenntnissen der Vernunft, sondern in einem allgemeinen Sinn für das Gute (moral sense). Deswegen werden moralische Bewertungen auf intuitive Weise vollzogen. sie brauchen folglich weder eine religiöse. noch eine rationale Begründung. Unsere Handlungen sind aufgrund der ihnen zugrunde liegenden Absichten gut oder böse.
H. Poser. Goufried Wilhelm Leibniz. In: Q. HÖffe. Geschichte. 378-404. J. Rohls. Geschichte. 249-252. n J. Rohls. Geschichte. 253ff. <06
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Sowohl die egoistischen. als auch die altruistischen Strebungen haben ihre Wurzeln in der menschlichen Natur. Auch wir Menschen folgen dem Trieb der Herde (herding principle). deswegen bilden wir Gemeinschaften. Die Qualität einer Gemeinschaft bemisst sich an der universalen Harmonie des Weltalls und ist auf das Gemeinwohl aller Menschen ausgerichtet. Auch für FrafIcis Hllfchesoll schenkt uns unser moralischer Sinn die Ideen des Guten und des Bösen. Diese
Ideen können weder aus der Sinneswahrnehmung. noch aus unseren vernünftigen Überlegungen abgeleitet werden. Die Vernunft hilft nur mit. um die geeigneten Millel zur Erreichung eines gutes Handlungszweckes zu wählen. Moralisch gut ist ein durch Wohlwollen geprägter Wille. der das größtmögliche Glück der ganzen Menschheit anstrebt. 4 Unser Gewissen sei der Ausdruck einer universalen göttlichen Vernunft. die wir ,lUS unserer menschlichen Natur erkennen können. Moralisch gut handeln wir nur dann. wenn wir gemäß unserer Natur leben (Joseph Blltler).
Entfaltung der Aufklärung Ganz anders setzte David Hllme an. denn er glaubte nicht. dass wir von unseren Urteilen der Vernunft auf direkte Weise zu den moralischen Urteilen übergehen können. Denn moralische Urteile beschreiben keine Sachverhalte. sondern sie be· werten immer nur Handlungen. In ihnen drücken wir unsere Gefühleder Billigung oder der Ablehnung aus. Damit sind Sollen oder Nichtsollen niemals aus Seinsaussagen ableitbar. Folglich können moralische Urteile nicht aus den Aussagen über die menschliche Natur oder das Universum abgeleitet werden. Als posiliv bewerten wir Handlungen. die für uns oder andere nützlich oder angenehm und mit Lusterfahrung verbunden sind. Wir verfügen überdie Fähigkeil des Mitgefühls (Sympathie) mil anderen. dadurch können wir die Lust und den Schmerz der Mitmenschen nachfühlen. Nun treten momlische Urteile mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeil auf und beziehen die Position des neutralen Beobachters. Wir verbinden sie mit der Sympathie für alle Menschen und mit dem Grundgefühl der allgemeinen Menschenliebe. Auch die politische Ethik im Staat beruht auf dem Grundgefühl dergegenseitigen Sympathie. Für David Humegab es in der Menschheitsgeschichte nie den reinen Naturzustand der isolierten Individuen, die Menschen lebten immer schon in kleinen Gruppen. Durch die kriegerischen Kämpfe dieser Gruppen und Sippen habe sich die politische Auloritäl entwickelt. Bereits in diesen frühen Kleingruppen gab es Regeln des Zusammenlebens. 49 Der große Slaat hat jetzt die Aufgabe. die Einzelnen besser zu schützen. als die Kleingruppen dies konnten. Seit posilives Recht mit den Strafandrohungen sorgt dafür. dass die Sicherheit und das Wohl der Bürger. die soz.iale Ordnung und die AusriChtung auf das gemeinsame Ziel erhalten bleiben. Doch die Autorität des .. J. Rohls. Geschichle. 258-26 J. .... J. Kulcnkampf. David Bume. tn: O.
~Iöffe.
Klassiker. 434-451.
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Staates muss durch die Interessen der Bürger begrenzt werden. deswegen kontrolliert ein Parlament den monarchischen Herrscher. Die Mitte des staatlichen Rechlssyslcms aber bilden die moralischen Tugenden der Gerechtigkeit und der Venragslreue. Das private Eigentum wird nicht mehr metaphysisch. sondern rein pragmatisch legitimiert. denn in jedem Bürger sei ein Besitzlrieb. der optimal befriedigt werden müsse. So erfordert das Privateigentum eine klare Ordnung der Gesellschaft. 30 Auch Adam Smi,,, war der Überzeugung. dass unsere moralischen Urteile aus dem allgemeinen Gefuhl der gegenseitigen Sympathie stammen. Wir billigen eine Handlung oder ihr Motiv. wenn wir mit dem Gefuhl des Handelnden sympathisieren. Bei der Gewinnung allgemein gültiger moralischer Urteile benötigen wir aber den Standpunkt des neutralen Beobachters. Dieser kann der Repräsentant der Menschheit oder die Stimme Gottes sein. der Eigennutz in der Ethik müsse überwunden werden. Nun zeigt sich in der Wirtschaft. dass ein aufgeklärtes Eigeninteresse das Allgemeinwohl fördert. weil dadurch Waren gekauft werden. Deswegen fördert der freie Handel das Allgemeinwohl am meisten. während die staatlichc Lenkung dic Wirtschaft nur behindert. Allein die freie Konkurrenz aller Bürgcr im Staat begünstigt den allgcmcinen Wohlstand. Deswegen muss sich eine Volkswirtschaft immer am Wohl der Konsumenten orientieren. Am meisten dient dem Allgemeinwohl die freie Marktwirtschaft. sie aber benötigt eine optimale Arbeitsteilung und die Spezialisierung in der Produktion. Der natürliche Tauschtrieb der Menschen bewegt die Winschaft. dabei wird der Tauschwert als Wert derArbeit bestimmt. Doch im Hintergrunddes freien Marktes wirke eine ..unsichtbare Hand". die fUrdas Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sorgt. Auf diese Weise fOrdert das aufgekläJ1e Selbstinteresse der Einzelnen den Wohlstand der Nationen.!!· Die puritanischen Siedler in Nordamerika zogen mit einem religiösen Sendungsbewusstsein aus. sie verstanden sich als Sendboten Goltes. mit dem sie einen Vertrag geschlossen hatten. Doch sie hielten sich an die Regeln des freien Gewissens und der Religionswahl und kamen damit der Vorstellung von allgemeinen Menschenrechten sehr nahe. Für sie hat der Staat dieAufgabc. das Zusammenleben freier und gleicher Bürger zu gewährleisten. Die Rechte auf Leben. auf Freiheit und aufEigenLUm sind unveräußerbar. denn alle Menschen sind von der Natur her frei und haben das natürliche Recht. nach dem Glück zu streben. Die .,Virginia Bill of Rights" sichert die allgemeinen Menschenrechte fOr alle und gilt als ein Vorbild für zukünftige demokratische Verfassungen. Die Ethik der französischen Aufklärung knüpft an die englischen Empiristen an. So kam Louis de MOflfesquieu zu der Überzeugung. dass die konstitutionelle Monarchie mit Parlament und Herrscher die beste Verfassung eines Staates sei. da sie im Sinne von Anstoteies die Extreme vermeide. Die politische Freiheit des ~
J. Kulenkampf. David Hume. 436-449. " J. Rohls. Geschtchll:. 265-261. T. D. Campbell. Adam Smith's science of moraJs. London 1981.
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Einzelnen werde durch die Teilung der staatlichen Gewahen gesichert. als dritle und eigenständige Gewalt wird nun die Rechtsprechung angesehen. Sowohl die Demokratie. als auch die Aristokratie beruhen auf den moralischen Tugenden der Vaterlandsliebe und dem Geftihl der Gleichheit aller vor dem GeselZ. Doch die Gesetze eines Staates hängen immer auch von den Sitten und Traditionen. vom Klima. von der Wirtschaft und den Zielen der Gesetzgeber ab. Dieser allgemeine .,Geist'· (esprit) eines Volkes oder seiner Gesetze lasse sich sogar mit empirischen Methoden untersuchen. $l Die französischen Materialisten folgten einem empiristischen Menschenbild und sahen im Menschen eine funktionierende ,,Maschine". Für Julien de La Mettrie lassen sich alle unsere Bewusstseinsinhalte auf Empfindungen zurückfuhren: dies gill nun auch von unseren Wenuneilen. Als gut bcwenen wir alles. was sich auf Lusternpfinden beziehl. Denn unser Streben nach Lust und nach Glück folgt einer Notwendigkeit der Natur. Doch damit sind wir nicht zu reinen Egoisten vcrurtcilt. dcnn wir können auch lerncn. an der Lust von Mitmenschen selber Lust zu empfinden. Und wenn der Mechanismus der Affektc ausrcichend erforscht sein wird. dann können wir durch Erl.iehung zu lustvollem und zu sozialem Handeln gesteuen werden. Davon war CllIIule Allrien Helvel;/ls übcrLCugt. Die Basis jeder Ethik bildet unser Streben nach Glück und Selbsterhallung. doch eine Ausrichtung der Menschen auf ein Glück nach dem Tod sei unsinnig. n Einige Denker der französischen Aufklärung folgten also einem sensualistischen und materialistischem Menschenbild. Doch dieses kritisierte Jean Jacqlles ROllsseall entschieden. fur ihn lässt sich das menschliche Verhalten keinesfalls auf mechanistische Weise beschreiben. Der wissenschaftliche Fortschritt habe in Teilbereichen auch zur Verdunkelung des gesunden Menschenverstandes (sens commun) gefuhrt und unsere ursprünglichen moralischen Wenungen deformien. Nicht die Vernunft. sondern unsere Gefuhle und Leidenschaften bestimmen vom Ursprung her unser Leben. Sofern die gesunde Selbstliebe (amour de soi) das Mitleid mit anderen Menschen beinhaltet. kann sie als das ursprünglichste Merk· mal der menschlichen Natur gesehen werden. Doch die gesunde Selbslliebc ver· wandelt sich in Selbstsucht. wenn das Mitgefühl mit anderen verkümmen oder fehlt. Sof Die Ordnung der NalUr iSI durch Einfachheit und Mäßigung gekennzeichnel. Unser BCwusslsein der Freiheil und der Spontaneilät wurzeh in unserer Fähigkeit zu uneilen. Jedem Menschen komme diese Freiheit zu. denn ihr Subjekl sei eine unsterbliche Seele. Im Nalurzustand lebten die Menschen einfach. frei und gleich. das gegenseitige Mitleid erschuf die moralischen Wene. Sie sorgten fur ihr eigenes Wohl. ohne den Mitmenschen zu schaden. Doch durch die Entwicklung
S: J. Rohls. Gcschichle. 272ff jJ J. Rohls. GeschichlC:. 273ff. so A. Barruzi. Einmtuung in die polilische Philosophie der Neuzcil. Frankfun 1983.67-80. R. Spac:mann. Rousseau. Bürger ohne: Vaterland. München 1985.
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der Arbeitsteilung und des Privateigentums habe sich die ursprüngliche Selbstliebe immer mehr in gierige Selbstsucht verwandelt. Aus der frühen Wirtschaft der Bedarfsdeckung sei die Anhäufung von Kapital getreten. Dadurch sei die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen. zwischen den Abhängigen und den Freien entstanden. Die nalürliche Kooperation sei durch Konkurrenz. Kampfund Krieg ersetzt worden. Auf diese Weise sei der Staat entstanden. in dem die positiven Gesetze das Verhalten der Menschen regulieren. Die Freien und Reichen haben den Abhängigen und Armen einen •.Gesellschaftsvertrag" aufgezwungen. der vor allem ihren Interessen nutzte. Doch jeder Mensch werde von Natur aus frei geboren. doch im despotischen Staat müssen viele Menschen in Kettcn Icben. Deswegen müs· se nun ein neuer Gesellschaftsvertrag gefunden werden. in dem jeder Einzelne seine Person und Kraft einem allgcmeinen Willen (volonte generale) unterstellt. als dessen Teil er sich fühlt. Dieser allgemeine Wille ist auf das Gemeinwohl bezogen. während der Wille der Einzelnen (volonte de tous) egozentrischen Zielen folgt. Dieser allgemeine Wille ist der Souverän im Staat. Im Gesellschaftsvertrag gehorcht jeder Einzelne dem Allgemeinwohl und damit im Letzten sich selbst. Deswegen müssen die Gesetze im Staat dem allgemeincn Willen und dem Wohl aller dienen. Wenn also die Souveränität dcs Staates beim Volk liegt. dann erscheint die direkte Demokratie besser als dic reprJ.sentative Demokr31ie geeignet. den all· gemeinen Willen des Volkes auszudrücken. Durch die Gesetze muss die Moral der Menschen gewährleistet werden. Da aber die MoraJ in der Religion gründet. muss der Staat auch die Gesetze der Religion festlegen. Ein bürgerliches Glaubensbekenntnis bezieht sich auf einen allmächtigen und wohltätigen Gott. auf ein jenseitiges Glück der Menschen. auf die Bestrafung der Übeltäter und auf die Heiligkeit des Gesellschaftsvenrags und der Gesetze. Immer wird der Staat von tugendhaften Bürgern getragen. welche mittels der direkten Demokratie die Gesetze formulieren und an der Verwaltung beteiligt sind. 55 In der Französischen Revolution hat die Nationalversammlung die allgemeinen Menschenrechte zum Grundgesetz erklärt. sie sichern für jeden Bürger das Recht auf Eigentum, die Freiheit und den Schutz der Person. Die Revolution der individuellen Freiheit ging in eine Staatsform der demokratischen Gleichheit aller über. Das Recht auf Privateigentum wurde als ein Naturrecht gesehen (Honore Mirabeau). denn es sei die Voraussetzung für das Glück der Einzelnen (AbbC Sieyes) und gründe im unveräußerlichen Selbstbesitz der Person (Jean Condorcet). Zu den allgemeinen Menschenrechten zählen nun die Freiheit des Denkens. das Privateigentum und das Recht auf Widerstand gegen den Tyrannen.
"J. Starobinski. Rousseaus Anklage gegen die Gesellschaft. München 1977. J. Rohls. Geschichte. 272-280.
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Ansätze der Transzendentalphilosophie Eine Wende in seiner Moralphilosophie vollzog Immalluel Kant. Denn in seiner yorkritischen Zeit glaubte er. dass unsere moralischen Wen.e aus einem moralischen Gefühl bzw. Sinn herkommen. Doch in seiner kritischen Phase erkannte er. dass sie aus der praktischen Vernunft abgeleitet werden und keinerlei empirischen oder psychologischen Hintergrund haben. Denn jede Moral gründet in einem praktischen Gesetz der Vernunft. welches unter uns apriori Geltung hat. Die theoretische Vernunft hat es immer mit Seinsaussagen zu lun. doch die praktische Vernunft formuliert Sollensaussagen. GUI ist dann nicht der Gegenstand. auf den sich unser Wille bezieht. sondern der Wille selbst. sofern er von den sozialen Pflichten geleitet wird. Die Pnichl sei die Moralität in der Form des Gebotes bzw. des Imperativs. Der Wille der Menschen ist nicht von Natur aus gut. deswegen benötigt er das moralische Gesetz in der Form des Imperativs. Die volle Moralität wird erst dOI1 erreicht. wenn die Pflicht um ihrer selbst willen erkannt wird und nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. Gut ist ein Wille dann. wenn er durch das Gesetz und seine Beachtung bestimmt wird. Nun fordel1 der Kategorische Imperativ von allen ein Verhalten. das zur allgemeinen Norm des Handeins gemacht werden könnte. Er impliziert zweitens die Annahme. dass jeder Mensch in sich ein Selbstzweck ist und von keinem Mitmenschen als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele benutzt werden darf. Jeder Mensch soll nach dieser Maxime handeln. die zu einem allgemeinen Gesetz werden könnte. 56 Der gute Wille folgt einem Gesetz. das er sich selbst gegeben hat. Seine Autonomie ist die Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Handeins. Deswegen setzt der Kategorische Imperativ immer die Freiheit des menschlichen Willens voraus. Da unsere Neigung zur Glückseligkeit immer empirisch bedingt ist. kann sienichtdie Basis fürein allgemeines Moralgesetzsein. Jeder Mensch hat Pflichten für sich selbst. etwa die moralische Vervollkommnung; und er hat Pflichten ge· genüber den Mitmenschen. etwa den Notleidenden zu helfen. Als Vemunftwesen sind wir uns des unbedingten Sollens schon immer bewusst. und nur in diesem Bewusstsein erleben wir Freiheit. Nun wird die Moral klar von der Rechtsordnung getrennt. denn das Recht bestimmt den richtigen Gebrauch der Freiheit im Verhältnis zu den Mitmenschen. Es regelt das Zusammenleben freier Individuen und grenzt ihre Freiheitsbereiche klar ab. um Kollisionen zu vermeiden. Damit garantiert es die Freiheitsgemeinschaft von Personen. aber es fOrdel1 weder ihr Glück. noch ihre Moral. Weil das Recht nur durch Zwang durchgesetzt werden kann. ist jede Rechtsordnung immer eine Zwangsordnung. Im Staat werden die einander widerstrebenden Einzelwillen in einen allgemeinen Willen hineingehoben. Folglich liegt im Rechtsstaat die Ent-
,. O. Höffe. Immanucl Kam. In: O. Höffe. Klassiker. 11. 7-40. G. Prauss. Kanl über die Freiheit als Autonomie. Frnnkfun t983.
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scheidung über das Recht in der öffentlichen Gewalt. seine politische Ordnung wird durch den allgemeinen Willen bcstimmt. S7 Aus dem vereinigten Willen des Volkes lassen sich dann die Menschenrechte ableiten. welche aber vorstaatlichen Ursprungs sind. Aber erst durch die staatliche Gesetzgebung werden sie zum positiven Recht. dadurch schützt der Staat die Frei~ heit und die Gleichheit seiner Bürger. Die gesetzgebende Gewalt komme nun dem vereinigten Volkswillen zu. Um den Krieg gegen andere Staaten zu verhindern. müssen auch die rechtlichen Verhältnisse zwischen den Staaten geklärt werden. Ein Bund von Völkern mit föderativer Struktur kann den Frieden sichern und dem Krieg ein Ende bereiten. Wenn sich die Menschheit zu mehr Vernünftigkeit entwickelt. wird sich das Recht der Völker durchsetzen und es wird immer mehr an Freiheit verwirklicht werden können. In jedem Menschen finden sich sowohl gesellige. als auch ungesellige Strebungen. diesem Tatbestand muss die Gesetzgebung immer Rechnung tragen. Die Freiheit der Menschen ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Die Vorstellungen von Gott. von der Freiheit und von der menschlichen Seele sind Ideen unserer Vernunft, die sich nur indirekt auf Erfahrungen beziehen. Denn die Vernunft sucht zum Bedingten immer das Unbedingte und damit das höchste Gut. Dieses Gut soll als Zweck in der Welt bewirkt werden. Nun setzt die vom Moral~ gesetz geforderte Verwirklichung der Tugend die Vorstellung einer unsterblichen Seele voraus. Außerdem muss ein höchstes Wesen postuliert werden. das durch Verstand und Willen die Ursache der Natur ist. In dieser Sichtweise erhält die Religion einen notwendigen Bezug zur Moral. denn in ihr werden die sittlichen Pflichten als göttliche Gebote anerkannt. SB Kant versuchte. die Inhalte der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nachzuzeichnen und moral philosophisch zu vertiefen. Für ihn lässt sich die Lehre vom radikal Bösen als die Umkehrung des richtigen Verhältnisses zwischen moralischen Tugenden und sinnlichen Trieben verstehen. Nur wenn der Mensch aus seiner Freiheit heraus radikal böse ist. unterliegt er der moralischen Beurteilung. Nun tradiertdie Religioneinige Bilderdes vollkommenen Menschen. etwa das Bild vom Reich Gottes, vom göttlichen Erlöser oder der Gemeinschaft der Erlösten. Der Wandel vom Bösen zum Guten setzt eine tiefe Veränderung der Gesinnung voraus. Das Heil der Menschen besteht dann in der Annahme des allgemeinen Sittengesetzes als oberste Maxime des Handeins.
Ethikkonzeplionen im '9. Jahrhundert Diese Denkansätze Kants wurden von Johanll GOlflieb FicJlIe weiter entwickelt. Sowohl das Recht. als auch die Moral setzen das Nicht-Ich als Handlungssphä~ re voraus. Die lnterpersonalität sei eine Bedingung unserer Subjektivität. Nun J. Rohls. Geschichte, 290-298. O. HöfTe. Klassiker. 16-28. "J. Rohls. Geschichte, 298-304. O. HöfTe. Klassiker. 20-34. 'I
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verlange das Naturrecht. dass jeder Mensch die Freiheit des Anderen anerkennt. welche seine eigene Freiheit begrenzt. In einem staatlichen Vertrag räumen sich die Menschen gegenseitig das Urrecht auf Freiheit von Leib und Eigentum ein. Die Gesetzgebung sei dann der Ausdruck eines allgemeinen Willens im Staat. In der Spätzeit seines Denkens rückte Fichte vom liberalen Staatsmodell ab und wandte sich einer sozialistischen Konzeption zu. Ein nationaler Sozialismus sollte die Mitte bilden zwischen einem autoritären Staat und einem reinen Wohlfahnsslaat. Es geht darin um die rechte Verteilung der Güter und um das natürliche Recht auf Arbeit und auf Eigentum. Die Wirtschaft wird vom Staat geplant. um alle Bürger an der Produktion der notwendigen Güter zu beteiligen. Deswegen muss der Staat seine Bürger ständig zu mehr Vernünftigkeit erziehen. die politische Führung muss ein weiser Herrscher innehaben. Je mehr die Menschen ihre Vernunft entfalten, umso deutlicher kann sich der Staat von den Lenkungsaufgaben zurückziehen. Die Fähigkeit zur Vernunft gehöre zu einer moralischen Handlung. Was die Pflicht des Einzelnen ist. das zeigt ihm sein Gewissen an. Das Siuengesetz gebietet jedem Menschen. ein freies Ich zu sein bzw. zu wer· den. Das radikal Böse zeige sich als Trägheit bei der Erfüllung des allgemeinen Sittengesetzes. In der moralischen Weltordnung zeigt sich den Menschen aber auch das Göttliche. folglich ist das tugendhafte Handeln die einzige Form des wahren Glaubensbekenntnisses. Im allgemeinen Sittengesetz wird die Herrschaft der praktischen Vernunft als Endzweck verwirklicht." Anders als Kant sah Georg lViIhelm Friedrich Hegel das Individuum als eine Manifestation des sozialen Ganzen. In diesem Ganzen sieht erden Objektiven Geist verwirklicht. Das Sollen stehe niemals auf abstrakte Weise dem Sein gegenüber. weil es ja im sozialen Sein verankert bleibe. Die gesellschaftlichen Institutionen lassen sich als die Manifestationen dcs objektiven Geistes und als Träger der ethischen Nonnen verstehen. So lässt sich der moderne Rechts· und GesclZesstaat als die Verwirklichung der menschlichen Freiheit und Gleichheit deuten. Die Ethik der Pflichten und der Gesinnung kann nur als ein Teilbereich im Prozess einer intcgrierten Gesellschaft sein. in der das Sein und das Sollen sich miteinan· der verbinden. So verwirklicht der vernünftige Staat der Modeme die maximale Freiheit seiner Bürger. Nun besteht die Moralität in der Reinheit des Willens und führt zur Freiheit. aber sie vermag diese inhaltlich nicht zu füllen. Wenn das Gewissen zum alleinigen Maßstab des guten Handeins wird. dann kann es sich leicht über objektive Ordnungen hinweg setzen. Folglich muss jede subjektive Moralität scheitern. wenn sie nicht mit dem Recht zu einer Einheit verbunden wird. Die Sittlichkeit. welche das Recht und die Moral miteinander verbindet. verwirklicht sich in der Familie. in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Nun beruht die Familie ,. L Si(:p. Johann GoItlieb Ficht(:. In: O. Höffe. Klassiker. 11. 40-61. J. Rollis. Gcschjehle. 313-317.
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auf dem Prinzip der gegenseitigen Liebe und vollendet sich in den Kindern. In der Gesellschaft bringt die Arbeitsteilung auch eine verstärkte soziale Zusammenarbeit mit sich.60 Im differenzierten Ständestaat verwirklicht sich die Sittlichkeit am besten, denn dieser Staat schürzt das Privateigentum und die Freiheit jedes Einzelnen. Nun muss auch die Religion anerkennen. dass der Staat sich als göttlicher Wille und als die höchste Verwirklichung des objektiven Geistes zeigt. Deswegen müssen Religion und Staat getrennt werden. beide behalten aber ihre Funktion für das Wohl der Menschen. In der Gemeinschaft des Staates verliert die Freiheit ihre Abstraktheit. die Individualität und die Allgemeinheit werden vereinigt. Dieser Staat kann als ein vernünftiger Organismus gesehen werden. der sich in den drei Gewalten verwirklicht. Hegels Staat als integrierte Gesellschafl kann sich immer nur auf ein bestimmtes Volk beziehen. das Modell eines Staatenbundes erscheinl ihm nicht möglich. Auch lehnt er Kants Idee des ewigen Friedens zwischen den Swaten ab, weil gerade im Krieg die Bürger ihren vollen Einsatz für den Staat zeigen könncn. 6l Mit seiner idealistischen Ethikkon7..eption fragl Friedrich Wilhelm Schelli"8 nach dem Wesen der menschlichen Freiheit und nach ihrem Bezug zur Gottheit. Als Akt der Freiheit hai auch das moralische Böse seinen Grund in Gott. genauer in einem dunklen Grund.derzur Exislenzdrängt. Diesedranghafte Begierde ist ein unbewussterWille ohne Verst'and. Nun gibt es in der Gottheit neben der rationalen Kraft auch noch eine vorrationale Bewegung. Alle endlichen Dinge und Wesen haben an beiden Kräften teil. Deswegen ist im Menschenleben immer auch die Möglichkeit des Bösen gegeben. Erst im Kontrast zurWirklichkeit des Bösen kann sich die göttliche Liebe offenbaren. Der Mensch aber muss zwischen dem Guten und dem Bösen frei wählen können. Die Selbstbestimmung des Menschen zum Bösen sei rur die Selbstoffenbarung der göttlichen Liebe sogar nOlwendig. Damit ist das Böse nicht das Ergebnis eines göttlichen Beschlusses. der gÖltliehe Wille sei nicht die Ursache des Bösen in der Welt. Vielmehr zeige sich ein dunkler Grund in der GOllheit. der in der Selbstbezogenheil des Menschen offenbar wird. Diese Selbstbezogenheit wird dadurch böse. weil der menschliche Wille das Verhältnis der vorrationalen Kraft zur rationalen Bewegung umkehrt. In der Gottheit werde der dunkle Grund in das Licht gehoben. doch bei der bösen Tat des Menschen sei dies nicht der Fall. Nun soll aber nach göttlichem Willen das Böse überwunden werden. wenn die Offenbarung der göttlichen Liebe vollendei ist. DerchristlicheGlaube symbolisiere mit der Versöhnung des göttlichen Sohnes und der Ausgießung des göttlichen Geistes die zunehmende Herrschaft der Freiheit in der Geschichte der Menschen.lü: ItF. Fulda. Geor& Wilhelm Friedrich H(:gel. In: O. HöfTe. Klassiker. 11. 61-92. •' H.F. Fulda. Hege\. 80-92. J. Rohls. Geschkhte. 330-336. M. Riedel: Bürgerliche Gesellschafl und Staat bei Hege!. Stullgartl970. 124-130. ~ H. Braun. Friedrich Wilhelm Joscph Schelling. In: O. HÖffe. Klassik«. 11.93-114. J. Rohls. Geschichte. 362-365. J. Brxken. Freiheit und Kausalitl[ bei Schelling. München 1972. .0
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Für die utilitaristischen Denk.er liegt das Kriterium des moralischen Handeins immer in seinem optimalen Nutzen ruf den Einzelnen und die Gemeinschaft. Der Nutzen oder der Schaden einer Handlung lässt sich auf empirische Weise feststellen. und zwar im Kontext einer Psychologie der Assoziationen. Den Maßstab der ützlichkeit setzen immer die erlebte Lust oder der Schmerz. Freude oder Leiden. Glück oder Unglück. Für Jeremy Ben/lram hat die atur uns Menschen unter die Herrschaft zweier souveräner Herren gestellt. nämlich der Freude und des Schmerzes. Alle unsere Handlungen soUen nun so gestaltet werden. dass sie zum größtmöglichen Glück der maximalen Zahl von Mitmenschen beitragen. Doch bei jeder Handlung müssen die Handlungsfolgen abgewogen und beurteil! werden. Das Glück der Menschen wird durch dieAddition dererlebten Lustgeruhle enniuelt. Sowohl das Recht. als auch die Moral sollen dem glücklichen Leben möglichst vieler im Staat dienen. 6J 101m 5t11art Mill achtcle nicht nur auf die Quantität sondern auch auf die unterschiedliche Qualität der erlebten Lustgefühle. Deswegen unterschied er zwischen der sinnlichen und der gcistigen Lust. Nun kann die zweitc ungleich intcnsiver sein und länger erlebt werden als die erste. Deswcgen ziehcn viele Menschen die geistige Lust der sinnlichen Glückserfahrung vor. Das Motiv für unser alLruisti· sches Handeln liegt nun nicht in den äußeren Stmfsanktionen. sondern im inneren Gefuhl der Pflicht und der sozialen Verantwonung. Zum persönlichen Glück des Einzelnen gehön. dass er auch aufdas Glück der Mitmenschen achtet. Dazu gehört im Konkreten. dass im Staat die Arbeit rationalisien wird. um die Vennehrung des Reichtums in den Händen aller zu erreichen. Deswegen begrenzt der Staat die Arbeitszeit der Arbeitenden und baut für sie eine Gesundheitsvorsorge auf. Mill sah im utilitaristischen Moralprinzip die Zusammenfassung der Goldenen Regel Jesu. Die Interessen der Einzelnen müssen mit den Interessen der Allgemeinheit in Übereinstimmung gebracht werden. 6ol Die frühen Sozialisten traten fur eine wirtschaftliche Angleichung der verschiedenen gesellschaftlichcn Klassen ein (Chor/es Fourier, Pierre Proudhon). In dieser Sichtweise forderte Kar! Marx die Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung im Bereich der Arbeit und des Denkens. Denn wenn die spekulative Philosophie durch ein materialistisches Denkkonzept abgelöst werden wird, dann wird die Selbstentfremdung der arbeitenden und denkenden Menschen geringer werden. Denn das reale Leben der Menschen bestimmt ihr geistiges Bewusstsein. der umgekehne Prozess ist kaum erkennbar. Folglich muss das Wesen des Staates von den sozialen Beziehungen der Menschen her bestimml werden. Auch der dem Einzelnen übergeordnete Staat sei ein Produkt der menschlichen Entfremdung, das es schrittweise aufzulösen gilt. Nun muss sowohl die Kritik der Religion als auch des Staates zur Emanzipation des Einzelnen beilragen. Das religiöse Bewusstsein einer Zeit spiegle immer die "J. Rohls, Geschichte. 346-348. .. D. Bimbacl1t:r. John Sluart Mill. In: O. HöfTe. Klassiker. 11. 132-152. J. Rohls. Geschichte. 347-349. G. Duncan. Man: and Mill. London 1973.
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verkehrten Verhältnisse einer ungerechten Gesellschaft. Wird eine Gesellschaft gerechter. verschwindet die Religion. In der Frühzeit der fndustrialisierung wurden die Arbeiter durch unmenschliche Arbeitsprozesse ihrer Menschlichkeit beraubt. Erst die Emanzipation dieses vierten Standes werde die Gesellschaft aus ihrer Entfremdung befreien. In der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeit den Menschen entfremdet worden. sie führe zu extremen sozialen Ungerechtigkeiten. Erst wenn das kapitalistische Privateigentum vergesellschaftet sei, werden die sozialen Unterschiede und Klassen verschwinden. Der Staat werde in eine klas· senlose Gesellschaft übergehen. die jedem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Person ennöglicht. In dieser kommunistischen Freiheit weiß jeder Einzelne sich mit der Gesellschaft. ja mit der ganzen Menschheit vereinigt. Dann aber brauche er die individuellen Menschenrechte gar nicht mehr.6~ Eine weltvemeinende Ethik entwickelte Artllllr Schopenhaller, denn er sah einen blinden ..Urwillen" als Gestaltungsprinzip des Kosmos und der MenschenweIt. So wie wir diese Welt anschauen und denken. ist sie immer das Ergebnis un· screr Vorstellungen. Sie ist unser nach apriorischen Regeln konstruiertes Produkt. Doch ihr Wesen können wir gar nicht erfassen. denn sie wird von einem blindem Willen und einem ziellosen Trieb gesteuert. Weil das so ist. deswegen ist sie die schlechteste aller möglichen Welten. denn sie zeigt sich uns in Widersprüchen, in Leiden und in Zerrissenheit. Der blinde Urwille suche nur die Erhaltung seiner selbst in völliger Sinnlosigkeit. Erzeige sich aber auch im Trieb der Fortpflanzung und in unserem Glauben an die Unsterblichkeit. Nun sind wir Menschen dem Gesetz der Notwendigkeit unterworfen, damit ist unser Wille keineswegs frei. Dennoch wählen wir unsere Handlungen nach bestimmten Ursachen. Reizen oder Motiven. Unsere Wahl erfolgt notwendig gemäß dem stärksten Motiv, doch dieses hänge immer vom Charakter einer Person ab. Wir haben zwar eine gewisse Handlungsfreiheit. aber keine Willensfreiheit. Denn wenn unser Wille durch Gründe und Motive bestimmt wird. dann kann eine Efhik nur Gründe und Motive für ein bestimmtes Handeln beschreiben. Zu den Motiven unseres Handeins gehören neben dem Egoismus und der Bosheit auch das Mitleid und die Sympathie. Im Mitleid identifiziert sich der Handelnde mit dem Leiden der Mitmenschen und versucht, es zu vennindem. In diesem Prozess des Mitleidens wenden wir uns vom eigenen Ich ab und sind nicht länger die Beute eines blinden Willens. Aber wir können uns vom blindem Willen auch noch auf eine andere Weise befreien, nämlich durch das Erleben von Kunst und durch die Übung der Askese. In der asketischen Fonn der Religiosität wird der dunkle Lebenswille nämlich verneint. erst in dieser Selbstaufuebung werde der Mensch frei. Vorbilder für diese Weltverneinung sind der buddhistische Asket und derchristliche Mystiker. Es gibt Handlungen, die ohne Eigennutz geschehen und aus Sympathie für Mitmenschen ..., E.M. Lange. Karl Mane In:O. 11öffe. Klassiker. 11. 168-186. W. Becker. Kritik der Mantschen Wenlehre. MUnchen 1978.
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getan werden. Der mitleidende Asket nimmt am physischen und metaphysischen Schmerz seiner Mitmenschen Anteil. Doch die Lehren. die Dogmen und die Mo· ralregeln der christlichen Religion benötigt er dafür nicht mehr. 66 Als großer Zerstörer der herkömmlichen und der christlichen Moral versteht sich der Altphilologe Friedrich Nietzsehe. Denn er wollte die angeblich lebensfeindliche Moral der christlichen Religion endgültig überwinden. Deswegen unterstelhe er, dass Sokrales und Plalon unter dem Zeichen des griechischen Gones Apollo eine lebensfeindliche Kultur begTÜndet hätten. Die Menschen lebten in
einer Scheinwelt und sehen zu wenig auf das reale Leben. Denn dieses Leben werde von einer vitalen Triebkraft geprägt, die ganz ohne Vernunft agiere. Diese vitalen Kräfte lassen sich unter das Symbol des griechischen Gottes Dionysos stellen. In der griechischen Tragödie werde der Kampf zwischen dem Chaos des Dionysos und der Ordnung des Apollo in bildhafter Weise dargestellt. An die Stelle einer allgemeinen Ethik soll nun die Genealogie der herkömmlichen Morallreten. Denn in der griechischen Kultur sei der Begriff des Guten ursprünglich nur mit dem Starken und Edlen verbunden gewesen. Erst in der jüdischen Kultur sei der Begriffinfolgeder langen Unterdrückung mit dem Schwachen verbunden worden. Diese Umwertung der ursprünglichen Lebcnswerte sei dann vom Christentum geerbt worden. Heute aber müsse diese Wertveri.inderung wieder korrigiert werden. das Gute sei mit dem Stärkeren zu verbinden. Daher gehöre es zum Wesen des Stärkeren. die Schwächeren zu besiegen und dann untertänig zu halten. In den Stärkeren schlummere immer das Raubtier der ..blonden Bestie". sie werde durch den dionysischen ..Willen zur Macht" geprägt. 67 Nach dieser Umwertung und Neuberwertung der herkömmlichen Moral ist dasjenige Verhalten gul. was dem Willen zur Macht und der Steigerung des Lebcnsglücks dient. Die Evolution des Lebens wird als blinder Kampfdes Willens zur Macht gedeutet. Daher müsse die jüdisch-christliche .,Sklavenmoral'· dringlich überwunden werden, die auf der Seite der Schwächeren stehe. Eine neue Moral der Herrenmenschen.derAristokraten und der Übennenschen sei im Entstehen, sie habe sich in der Zeit der Renaissance schon kurz gezeigt. Doch das Christentum. der Sozialismus und der Kommunismus seien der Ausdruck der Lebensverneinung und der Ohnmacht der Schwächeren. Alle Güter und Werte der Gesellschaft sollen auf die wahrhaft starken Führergestalten übertragen werden. Ihnen aber steht die Masse der Schwachen. des "Hornviehs" der Geschichte und der ..viel zu Vielen" gegenüber. Sie müssen mit strenger Hand geführt und regiert werden. DurchdieGenealogie der Moral komme es zu einer fundamentalen Umwertung dereuropäischen Werteordnung. Der neue Übennensch stehe jenseits von Gut und Böse im herkömmlichen Sinn. Ihm sei alles zu tun erlaubt. was seinen Konzepten Nutzen bringt. Dieser Herrenmensch
.. W. Brcidert. Arthur Schopcnhauer. In: O. Höffe. Klassiker. 11. 115-131. J. Rohls. Geschichte. 374-377. •11. Simon. Friedrich Nietz.sche. In: O. Höffe. Klassiker. 11. 203--224.
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müsse aber die Sinnlosigkeit des Daseins und den endgültigen Tod Gottes ertra· gen können. Sein höchstes Ziel sei es, im Kampf ums Dasein als Sieger hervor zu gehen. 6I
Dieses Modell der Ethik der Herrenmenschen wurde von der Ideologie des NatiOilulsozialismus zum Teil übernommen und auf grausame Weise verwirklicht.
Ethikmodene im 20. Jahrhundert Der Begründer der verstehenden Soziologie. Max Weber. erkannte die religiösen. genauer die protestantischen Wurzeln bei der Ausbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Denn die Berufsarbeit der protestantischen und calvinistischen Christen wurde lange Zeit durch Fleiß. Anstrengung und Askese bestimmt. Der wirtschaftliche Gewinn des Unternehmers wurde schon früh als göttliches Gnadengeschenk gedeutet. Dieser moralische Zwang zur Arbeit und zum Sparen führte zur Bildung und Ansammlung von Kapilal. Doch in der weilcren Enlwicklung wurdc die Selbstkonlrolle des religiösen Menschen durch die Entfallung der wissenschaftlichen Persönlichkeil abgelöst. Ein clhischer Rnlionalisierungspro· zcss führe dabei zu gesteigerter persönlicher Verantwortung. Aulonome Persön· lichkeiten prägten vemlehrt auch autonome Werteordnungen aus. Die oberslen Werte einer Wertordnung lassen sich dabei gar nichl ralionaJ oder wissenschaftlich begründen. Sie erweisen sich bei genauer Hinsichl als emolive Slcllungsnahme zum Leben. So kann die Konkurrenz der verschiedenen Werteordnungen heule nichl mehr rational entschieden werden. Die Entscheidung erfolgl auf dezisionislische Weise. Aber immer müssen wir zwischen der Feststellung von Talsachen und den moralischen Bewertungen unterscheiden. Eine Letztbegründung von Werten sei uns heule nicht mehr möglich. Wir befinden uns im WeUSlreil der persönlichen Wertungen. dieser könne weder ralional. noch durch wissenschaftliche Forschungen entschieden werden. Nun schaut eine Ethik der Verantwortung immer auf die konkreten Folgen einer Handlung. während eine Ethik der Gesinnung die Handlungsfolgen immer mil den äußeren Umständen in Verbindung bring!. Eine radikale Gesinnungsethik lässl sich im Staat nicht mit einer verantwortlichen Politik verbinden. Denn Politik iSI immer auch das Streben nach Machlanteilen. alle politischen Beziehungen drückcn auch Herrschaft aus. Im Staat wird die Bürokratie der Verwaltung auf die technische und wissenschaftliche Rationalitäl beschränkt. Doch charismatische Führergestahen müssen ständig in der Politik dezisionistischc Entscheidungen treffen. 69 Die RechlSpositivisum kritisierten geschlossen die herkömmlichen Lehren des NaturrechlS. aus seiner inhaltlichen Unbestimmtheit könne Beliebiges abgeleitel
.. 1. Rohls. Gc:schkhle. 377-380. .. J. Rohls. Geschkhle. 395--398. W. Brugger. Menschenrechtsethos und Veranlwonungspolitik Max Webers. Frankfurt 1980.
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werden. Das gibt dem Staat keine Rechtssicherheit. Ein staatliches Gesetz er· hält seine Gültigkeit nicht durch den Bezug auf moralische Werte, sondern allein durch die formale Korrektheit. $0 unterschied Hans Kelsen streng zwischen dem Recht und der Moral. eine ..reine" Rechtslehre müsse sich auf das rechtliche Sollen im Staat beschränken. Dabei müssen alle moralischen. psychologischen. soziologischen und politischen Elemente des Rechts ausgeblendet werden. Diese positivistische Rechtslehre habe nur die fonnalen Strukturen der juristischen Normen im Blick. nicht aber ihre materiellen Inhalte. Diese können theoretisch und praktisch beliebig sein. Folglich sei die soziale Gerechtigkeit kein notwendiges Kennzeichen des Rechts. denn die Bestimmung der Rechtsinhalte bleibe allein dem Gesetzgeber überlassen. 70 Von Ideen der aul'kommenden Psychoanalyse beeinflusst war Ma:c Sehe/er, als er zur Überzeugung kam, dass der menschliche Geist seine Energie vor allem aus der Sublimierung seiner vitalen Triebe beziehe. Er lenke diese gewonnene Energie dann auf die Verwirklichung von moralischen Wenen. Erst die Negation des Trieblebensermöglicheden Vollzug VOll geistigen Akten. Nun solle eine personale Wenelhik sich deutlich von der rein formalen Pflichtethik des Immanuel Kant unterscheiden. Folglich wird von einer objektiven Wenordnung ausgegangen, die zunächst nur zwischen dem Angenehmen und dem Unangenehmen unterschcidel. Doch später gipfelt sie in persönlichen. geistigen und religiösen Wenungen. An die Stelle eines formalen Apriori tritt nun ein moralisches Apriori der Wenordnung mit klaren Inhalten. In jedem Menschen sei die Fähigkeit. Wene zu erkennen. zu schauen und zu fUhlen. Diese intuitive Wenerkenntnis gründet letztlich in den Grundgefuhlen der Liebe und des Hasses. Denn mit unseren Gefühlen der Sympathie erkennen wir das Wen volle und trennen dieses vom Wenlosen. Im Erleben der Liebe erkennen wirden Wen einer Person odereines Objektes. Der Schmerz ist fUr uns deswegen ein Unwen, weil wir ihn nicht lieben können. Das Apriori des Wenhaften er· schließt sich uns Menschen als geistigen Personen. wenn wir sein Wesen schauen. Freilich nehmen wir die absolut geltenden Wene als relative und personbczogene Größen wahr. ll Eine materiale Wenethik wurde von Niko/ai Hartmaf/f/ entwickelt. auch er unterschied zwischen der Welt des Seins und der Welt der Wene. Diese sind ideale Größen, die sich nur in der menschlichen Person verwirklichen. Die Voraussetzung für die Verwirklichung von Lebenswenen sei die Freiheit des Willens in der Form der persönlichen Selbstbestimmung. Nun sei aber die Selbstbestimmungdes Menschen mit der Existenz eines göttlichen Wesens unverträglich. Eine autono· me Ethik und die Religion schließen einander aus. denn wenn der Mensch frei ist. kann ein lenkender Gott nicht existieren. Folglich ist jeder Mensch für seine guten und bösen Handlungen selbst verantwonlich. er benötigt nicht länger einen J. Rohls, Geschichle, 402--404. 11 J. Prebicki. L' elhique de Malt Schc:ler. Paris 1973.
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göulichen Richter. Folglich existiert die Ordnung der Werte völlig autonom und von religiösen Begründungen unabhängig. n Als ein weltoffenes Mängelwesen bestimmt Amold GehIeIl den Menschen, der sich selbst am Leben erhalten muss. Er hat allerdings die Möglichkeit. seine biologischen Mängel in positive Chancen der aktiven und geistigen Lebensgestaltung umzuformen. Als relativ hilfloses Wesen muss er sein Leben selbst in die Hand nehmen und seine Entwicklung kreativ fornlen. Dies tut er durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Institutionen und der Kultur. In beiden legt er Zwecke fest, um sein Überleben zu sichern. So entwickelt er Führungssysteme der Sitte. der Moral und der Religion. Die Moral fungiert dabei als eine Form der Selbstzucht. um die vitalen Triebe sinnvoll steuern zu können. Folglich ist das FÜhrungssystem der Moral auf Gemeinschaft hin ausgerichtet. um die elementaren Bedürfnisse aller Menschen hinreichend befriedigen zu können. Mittels der moralischen Werte lernt der Einzelne, sich in die Gesellschaft einzufügen und darin kooperativ zu leben. 1J Andere Schwerpunkte in der Ethik setzte die Existenzphilosophie. So sah Martill Heidegger die besondere Seinsweise des Menschen in seinem bewussten Existieren. Aufgrund seines Denkvermögens sei der Mensch der "Hirt des Seins" bzw. ein .. Fenster zum Sein". Jeder Mensch sei ungefragt in das Dasein geworfen worden und lebe in einem Bezug zu einer Welt und zu den Mitmenschen. In dieser Situation sei er sich selbst überlassen, was in ihm tiefe Angst entstehen lässt. Immer habe er die Wahl. sich selber zu wählen und zu verwirklichen. oder aber dem anonymen .,Man" zu verfallen. Im ersten Fall verwirklicht er seine Eigentlichkeit und gestaltet autonom seine Existenz. im zweiten Fall wählt er die Uneigentlichkeit und verfehlt sein Lebensziel. Das Gewissen sei ein Anruf des Daseins und helfe ihm, seine Freiheit zu verwirklichen. 14 Auch nach Kar! Jaspers haben wir Menschen immer die Möglichkeit der Wahl zwischen dem authentischen d.h. ursprünglichen Leben und dem nichtauthentischen d. h. nicht ursprünglichen Dasein. Erst in den verschiedenen Grenzerfah· rungen des Lebens, z.B. im Kampf, in der Schulderfahrung und im Angesicht des Todes erkennen wir unser ursprüngliches Dasein. In der dialogischen Verfasstheit der Ich-Ou-Beziehung verstehen wir unsere Daseinsmöglichkeiten und holen sie schrittweise ein. So erschließt sich uns die eigene Existenz als Appell, uns selbst zu wählen und unser Dasein in Freiheit zu verwirklichen. Erst in der Kommunikation mit anderen Menschen erkennen wir den Wert der Wahrhaftigkeit und der Treue zu uns selbst. Jedes Leben bezieht sich immer auf eine Dimension des ..Umgreifenden" bzw. der Transzendenz. n
J. Roh1s. GCSl:hichte. 41Q-412. F. Mayer. Die Objektiviläl der Wencrkennlnis bei Nikolai Hartrnann. München 1972. 7) F. Jonas, Die Institutioncnlchrc Amold Gchlcns. Milnchcn 1976. 70 G. Haeffner. Martin Heidcgger. In: O. HÖffe. Klassiker, 11. 361-384. 7J J. Rohls. GeSl:hiehle. 417ff. 7Z
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Die amerikanischen Pragmaristen Josiah Royce. Chor/es Sanders Peirce und John Deweyerkanntcn den Bezug unserer moralischen Werte aufkonkrete Lebenswehen und Lebensformen. Nach ihrer Überzeugung wird das menschliche Selbstbewusstsein immcrdurch konkrete Bezugsgruppen geformt und sozial vermittelt. Folglich besteht die Moralität in der Verwirklichung derbesondercnAufgabe jedes Menschen. Als Teile einer unendlichen Gemeinschaft (grcat community) erfüllt jeder Einzelne seine Aufgabe. immer leben wir im gegenseitigen Austausch. Genau besehen bewegen wir uns in einer großen Intcrpretationsgemeinschaft, die mit sprachlichen Zeichen das Leben deutet und ordnet. Den moralischen Grundwcrt dieser unendlichen Gemeinschaft bildet die Goldene Regel des Verhaltens oder das christliche Gebot der allgemeinen Nächstenliebe. So sei die Entwicklung der Moral ein wesentlicher Teil unserer kulturellen Evolution. 76 Die Analytische Philosophie und ihre Ethik fragen zunächst nach den Regeln des ethisches Diskurses, sie verstehen sich vorwiegend als Melaethik bzw. als Theorie der moralischen Werte. So kam George Edward Moore zu der Überzeugung, dass ethische Wertprtidikate nicht durch deskriptive Aussagen definiert werden können. Denn Werte gehören einer eigenen Sphäre an, die nicht auf Tatsachen bezogen ist. Nun bestehe der sog. Naturalistische Fehlschluss darin, dass von den Seinsaussagen direkt auf Wertungen geschlossen wird. Synthetische Urteile in der Ethik informieren uns darüber, welche Gegenstände, Eigenschaften und Handlungen als gut, und welche als böse zu werten sind. Sie geben dem Subjekt eines Satzes durch wertende Qualifikationen ganz bestimmte Anweisungen zum Handeln. Die theoretische Analyse der Werte sollte in allen Fällen wertfrei erfolgen. n Für die logischen Positivisten sind nur verifizierbare Sütze der Naturwissenschaften sinnvoll, die Sätze der Rel igion und der Moral sind deswegen sinn los. weil sie auf keine Weise verifizierbar sind. So liegt für den frühen Ludwig Wittge"steill das Ethische jenseits der Grenze des sinnvollen Redens, es sei "transcendental". Sowohl das Ethische, als auch das Mystische zeige sich uns, doch über beide können wir nicht sinnvoll, weil nicht verifizierbar sprechen. Deswegen müssen wir im wissenschaftlichen Diskurs über beide Größen schweigen. Die Folge ist dann eine wortlose und gelebte Ethik bzw. Religion. Der späte Ludwig Wittgenstein folgte dann der pragmatischen Philosophie, er las die Werke von William James. Nun erkannte er, dass wir uns immer in vielen ..Sprachspielen" bewegen, die immer mit verschiedenen Lebensfonnen und Lebenswelten verbunden sind. Folglich gibt es neben dem wissenschaftlichen das ethische, das religiöse, das ästhetische und andere Sprachspiele, in denen wir uns bewegen. Die Bedeutung der darin verwendeten Begriffe ergibt sich immer aus ihrem Sprachgebrauch. Später sprachen einige Denker (z.B. lohn Hic!<) von
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E. Mancns. Amerikanischc Pragmalistcn. In: O. Höffe, Klassiker, 11, 225-250.
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einer moralischen Verifikation von religiösen Aussagen. die sich im konkreten Verhalten einer Person zeige. 78 Auf eine naturrechl1iche Sicht der Gerechtigkeit hat sich John Rawls bezo.. gen. Er versteht die objektive Gerechtigkeit als Eigenschaft von politischen und sozialen Institutionen. wie sie in einem liberalen. sozialem und demokratischem Rechtsstaat gegeben sind. Jede Person habe darin das natürliche Recht aufoptimale Freiheit. sofern dadurch nicht die Freiheit konkreter Mitmenschen beeinträchtig wird. Alle Ungleichheiten gelten im demokratischen Staat als willkürlich, sofern man nicht el"\vanen kann. dass sie sich zum Vorteil aller entwickeln können. Alle Ämter und Positionen mit Privilegien müssen grundsätzlich allen Bürgern offen stehen. In dieser Sichtweise zeigt sich die Gerechtigkeit dann als Fairness bei der Verteilung der sozialen Chancen. In einer sozialen Gesellschaft sollen alle Menschen mit geringen natürlichen Fähigkeiten und mit ungünstigen Ausgangsbedingungen bessere Chancen bekommen. In unseren Entscheidungen wählen wir auf vernünftige Weise diejenigen Handlungen. die uns den größten persönlichen Nutzen versprechen. Aufhypothetische Weise wird dabei ein idealer Naturzustand vorausgesetzt. in dem alle Personen einander als freie und gleichwertige Wesen anerkennen. Die Gleichheit der Personen wird allerdings nur unter dem Schleierder Unkenntnis der Ungleichheit anerkannt. doch sie bringt allen Menschen den größtmöglichen Nutzen. Unsere Handlungen geschehen wohl aus Eigennutz. doch im Letzten dienen sie dem AIIgemeinwohl. wenn vorausgesetzt wird. dass allen die gleichen Handlungschancen eingeräumt werden. 19 Neomarxisrische Denker versuchten. einige der marxistischen Grundwerte in modeme Gesellschaftsbedingungen zu transferieren. Dabei erkannten sie. dass sie auch viele moralische Werte der christlichen Religion erben können. Für Ernst Bloch haben die Tugenden der Hoffnung und der Nächstenliebe oder die mythischen Bilder des Auszugs aus der Knechtschaft einen bleibenden Wert in ungerechten Gesellschaftsverhältnisscn. Max Horklleimer argumentierte ftireinen marxistischen Humanismus. der sich aus paneilichen Bindungen völlig gelöst hat. Der tragende Wert einer gerechten Gesellschaft sei das Mitgefühl mit den Leidenden und Unterdrückten. Die kapitalistische Wirtschaft wird kritisiert. weil sie wenig zu sozialer Gerechtigkeit für alle beiträgt. Eine Kritische Theorie der Gesellschaft hingegen verfolge das Ziel, schrittweise Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu verwirklichen. Die autonome und kritische Vernunft emanzipiert sich aus ihrer Deformation durch die instrumentelle und technische Form der Vernunft. Die Ideologie des Faschismus habe die bürgerlichen Werte endgültig desavouiert und zerstört.
1IG. Patzig. Goulob Fregc.ln: O. HöfTc. Klassikcr.lI. 251-273. M. Helme. Ludwig Wiugcnslcin. In: O. HöfTc. Klassikcr. 11. 361-384. 1'1 J. Rohls. Geschichte. 457-459. R. P. WolfT. Undcrstanding Rawls. London 1987.
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Deswegen müsse nun nach neuen und humanistischen Werten des friedvollen
Zusammenlebens gesucht werden. lehrte Theodor Adortlo. Die technische Vernunft zerstöre die Freiräume der persönlichen Entfaltung flir den Einzelnen und entarte immer deutlicher zu einem Instrument der Herr· schaft. Deswegen behalten die utopischen Bilder von einer besseren Welt ihren bleibenden Wert auch in einer säkularisierten Gesellschaft. Denn diese Bilder sind der Motor ftir die nötigen Veränderungen. Der lernende Mensch sieht immer seine noch nicht eingeholten Möglichkeiten vor sich und riskiert sie auf maßvolle Weise. Die Arbeit solle fUf alle Menschen die Qualität der Freiheit. der Kreativität und des Spieles erhalten. denn dies entspreche am besten unserer ursprünglichen Triebstruktur. lIO Auch die Philosophie der zwischenmenschlichen Kommunikation verfolgt cthische Impulse. Deswegen untcrscheidet sie im sozialen Feld immer zwischen der gelingenden und der misslingenden sozialen Interaktion. Für Jiirgen Habemlas lemt jeder Mensch in seiner Sozialisation die kommunikative Kompetenz. die er dann in unterschiedlicher Weise einsetzen kann. Nun kann er sie zur angestrebten Herrschafl über andere benutzcn. oder er kann mit den Milmenschen den gleichwenigen und herrschaflsfreien Austausch suchen. Nun sei dcremotionalc Gcwinn bei der zweiten Fonn der Kommunikation ungleich größer als bei der ersten. Diesen Gewinn aber suchen wir für ein gutes und gelingendes Leben. Nur durch die authentische Kommunikation werden unsere ursprünglichen Bedürfnisse hinreichend befriedigt. In einer idealen Sprachgemeinschaft haben alle Sprachteilnehmer grundsätzlich denselben Wen. trotz ihrer physischen Verschiedenheit. Kar/ Duo Ape/ sieht die Ethik als eine Pragmatik der sprachlichen Kommunikation. Denn unsere moralischen Wene des Handeins ergeben sich immer aus den Regeln der gelingenden Kommunikation. Dabei selzt die universale Sprachgemeinschafl moralische Wene voraus. die allen Teilnehmem denselben Grundwen zusprechen. Die moralische Grundnonn laulet dann. dass jeder die solidarische Willensbildung und den Konsens mil den von Handlungen Betroffenen suchen soll. wenn unsere Handlungen Mitmenschen betreffen. Als regulative Prinzipien gehen die Sicherstellung des Lebens der KOßlmunikationsteilnehmer und die schrittweise Annäherung an die idealen Regeln des Austausches. In einer idealen Gemeinschaft der Kommunikation gelinge es, die sozialen Ungerechtigkeiten in kleinen Schrillen zu überwinden.'l Die Behav;or;sten hingegen gehen davon aus. dass jeder Mensch sozial determinien ist und folglich gar keinen Freiraum der persönlichen Entscheidung hat. Folglich benötigter auch keinebesondereMoral oder Ethik für sein Handeln. Denn durch perfektionierte Verhahenstechnologie werde jeder Einzelne für das Leben in der Gruppe ..konditionien". danach müsse er sich an die gesellschaftlichen Verhaltensmuster anpassen. Diese Konditionierung des Verhaltens erfolge wie • R. Wiggenhaus. Mv: Hoßhcimcr und 1neodor Adomo: In: O. HÖffe. Klassiker. 11. 409-430. 11 J. Rohls. Geschichte. 413-477.
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bei den Tieren durch Belohnung und Bestrafung. Folglich leben wir Menschen in Wirklichkeit jenseits von Menschenwürde und persönlicher Freiheit. Davon war B.F. Skillller überleugt. In jeder Gemeinschaft gibt es nun die Eliten. welche die Ziel werte der Konditionierung festsetzen. der Einzelne muss diesen Zielen blind folgen. Doch der so konditionierte Mensch lebt subjektiv glücklich. denn er hai sich seinen Daseinsbedingungen voll angepasst. 82 Die Ethikdiskussion in der letzten Zeit tendiert zu einer Universalisierung und Globalisierung der moralischen Nonnen. Halls Kiing engagiert sich mit starker Überzeugung für eine globale ..Weltethik" bzw. für ein umfassendes "Weltethos", zu dem alle Kuhuren und Gesellschaften ihren Beitrag leisten. Dabei wird von den Grundbedürfnissen der Menschen ausgegangen. die in jeder Kuhur sehr ähnlich oder die gleichen sind. Durch den aktiven Dialog zwischen den Kuhuren und Religionen sollen globale Konflikte verhindert werden. Nur durch den kritischen und offenen Diskurs kann es gelingen, geschlossene Moralsysteme zu öffnen und zu verändern. Am schwierigsten zeigt sich heute der Diskurs mit den islamischen Moral vorstellungen. 8) Zum ~mdem tendiert die heutige Ethikdiskussion zur Partikularisation der Wertordnungen. die ihre Besonderheiten im Auge behält. Nicht wenige der ..postmodemen" Denker sind der Überzeugung, dass wir auch mit der Pluralität der Wertsysteme leben und überleben können. Freilich ist die Einübung von wechselseitiger Toleranz dafür die unabdingbare Voraussetzung. Wir erkennen aber die Grenzen der Toleranz sehr schnell. wenn unser eigenes Überleben gefahrdet wird. Wo die Freiheit des Individuums als höchster Wert gesehen wird, dort muss auch vennehrt über die sozialen Pflichten des Einzelnen geredet werden. Daran erinnert uns Alsdaire Maclmyre. So leben wir heute mit einer Vielfalt an Ethiktheorien und Begründungsversuchen des moralischen Handeins. Dabei werden die Grundwerte der liberalen Demoknuie mit den allgemeinen Menschenrechten vorwiegend pragmatisch begründet; elwa durch Richard Rorry. Andere Denker. z.B. Ottfried Höffe, folgen der Kantschen Moralbegründung durch den fonnalen Kategorischen Imperativ. Andere hahen eine metaphysische Begründung der moralischen Werte weiterhin für möglich und für nötig (Die/er Heinrich). Wieder andere plädieren für eine kommunitaristische Begründung (Charles Taylor) und weisen darauf hin, dass menschliche Subjekte nur im Vollzug der sprachlichen Kommunikation itlre personale Identität aufbauen und gewinnen können. 84
B.F. Skinner. Jenseits von Freiheit und Menschenwürde. München 1972,56-67. IJ H. Küng. Projekt Weltethos. München 1992. ... G. Schmid. Funktionsanalyse und politische Thoorie. Frankfurt 1974. J. Habcmlas. Zwischen Natumlismus und Religion. Frankfurt 2005. 155-175. H. Joas. Die Entslehung der Werte. Frankfurt 1997. 34-56. Dcrs.. Braucht der Mensch Religion7 Freiburg 2004. 129-159. IZ
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Die Philosophie des Polylogs in der postmodernen Kultur Denkerwie Jacques Derrida wolhen den Dialog der verschiedenen "Sprachspielc" auf einen "Polylog" der Kulturen ausweiten. Diesem Programm folgt heute auch
die interkulturelle Philosophie.8~ Wichtige Impulse dafür kamen aus der Pragmati~ sehen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon Char/es Sanders Peirce (gesl. 1914) war zur Überzeugung gekommen. dass alle unsere Erkenntnisse nur vorläufig seien und ständig der Korrektur bedürften. Denn sie haben immer einen Bezug zu unserem praktischem Leben und helfen uns. die neu entstehenden Daseinsprobleme zu lösen. Wenn mit den bisherigen Erkenntnissen diese Lösung nicht mehr möglich ist. müsse nach neuern Wissen gesucht werden. Eine vorläufige Überzeugung drücke immer eine bestimmte Bewusstseinslage aus. sie bringe den latenten Zweifel für eine Zeitlang zur Ruhe und gebe dann eine Anleitung zum richtigem Handeln. 86 Der W"hrheit von Aussagen nähern wir uns immer nur im Konsens einer idealen Gemeinschaft von Sprechern, dadurch werde der Fortschritt unserer Erkenntnisse erst möglich. Auch die religiösen Glaubcnsinhalte und die Lehren der Metaphysik müssten an ihren Wirkungen für das Verhalten der Glaubenden überprüft werden. Auch für William James (gest. 1910) haben alle religiöscn Aussagcn eincn pragmatischen Bezug zum Leben und zur LebensweIl. siespiegeln immerein bestimmtes Verhalten und geben Anweisungen zum richtigem Handeln. Damit gebe der religiöse Glaube den Menschen einen Überlebensvorteil in schwierigen Situationen. denn durch diesen Glauben gewinnen die Menschen einc .,dialogische" Stellung im Weltall. Denn sie sehen den Kosmos nicht länger als ein unpersönliches ..Es", sondern beziehen sich zu ihm als einem persönlichem "Du". Damit gewinnen sie ein Gefühl letzter Geborgenheit. doch dieses religiöse Grundgefühl könne sich nur in einer vielgestaltigen Foml der Religiosität ausdrückenY Diese Denkmodelle von William James veranlassten Llldwig Wiugensrein zu seiner pragmatischen Wende in seinem Denken. Fortan sah auch er den religiösen Glauben als ein möglichcs ..Sprachspiel'; unter vielen anderen. Er erkannte, dass die Bedeutungen unserer viclen Sprachspielc. an dcnen wir uns beteiligen. immer mit konkrcten .,Lebensfonnen" und Lebenswehen" zusammen hängen. Genaucr erkennen wir diese Bedeutung am Gebrauch der Sprache. Wir erkennen ein kreatives Wechselspiel zwischen unseren Lebenswelten und unseren benutzten Sprachspielen. Zum andern leben wir immer schon im Austausch unscrer Sprachspiele, wir sind auf das Gespräch mit fremden Überzeugungen angewiesen. Nun werden die Regeln der Übersetzung zwischen den verschiedenen Sprachspielen zunehmend interessant. Diesen pragmatischen Ansatz von W. James und L. Wiugenstein hat der französische Philosoph Jeon Franfois Lyorard (gest. 85 F. Wimmer. Interkulturelle Philosophie. Wien 2004. 17-2l. 11& eh.S. Peirce. How 10 make our ideas clear. New York 1978. 34-40. 11 w. James. The varielies of religious experienee. London 1902. 56--66.
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1998) aufgegriffen. Er war davon überzeugt. dass wir unter den Bedingungen der verschärften Modeme bzw. der postmodernen Kultur immer deutlicher mit verschiedenen Arten des Diskurses (genres de discours) konfrontiert werden. Wir befinden uns im .•Widerstreit" der Argumente und achten auf die Unterschiede unserer Sprachspiele. lIlI In diesem kritischem Diskurs stoBen wir aber auch an die Grenzen des sprachlich Darstellbaren. Wir ahnen das Andere. das Größere und Nichtdarstellbare. etwa wenn wir über die Schrecken des Holocaust zu sprechen beginnen. Dann begegnen wireiner Leerstelle in unserem Denken und unsere Identifikation erHihrt eine deutliche Grenze. B9 Wir stoBen auf das Andere. von dem die abendländische Metaphysik in vielfa.1tiger Weise gesprochen hat. Doch dieses Andere entzieht sich unserer Verfügungsmacht und Darstellbarkeil. Auch in der postmodernen Kultur ringen wir um die Vorstellung und Darstellung eines Absoluten, doch wir beziehen es auf ein unbedingtes Sollen. Dieses unbegTÜndbare und nicht darstellbare Absolute zeige sich uns Menschen im "Ereignis". Unsere "Welt·· in der wir leben. setze sich immer aus verschiedenen Diskursgenren und Sprachspielen zusammen. Sofern sich dieser Diskurs ständig unter uns ereignet. können wir diese Sprachspiele als Ereignisse verstehen. Alle unsere Weisen des DiskuTSCs stehen in einem heterogenem Verhältnis zu einander. Nun seien die Ereignisse des Diskurses aber grundsätzlich singulär. heterogen und unvergleichbar. Das Absolute ereigne sich im Diskurs und setze einen unbedingten Anspruch der Geltung und des Sollens. Doch es könne sich immer nur auf indirekte Weise zeigen. nämlich in der "Präsenz der Absenz" bzw. in der Darstellung der Nichtdarstellbarkeil. Dies werde in der postmodernen Kunst versucht und angedeutet. Diese negative Darstellung vollziehe sich immer in der Form einer Spur oder eines Zeichens oder der Symbole. Da das Absolute immer das Verborgene sei. könne es nicht als Urbild für mögliche Abbilder (Plalo) verstanden werden. Beim Erleben des Nichtdarstellbaren stelle sich ein negatives Grundgefühl ein. nämlich eine Lusl an der Unlust über die Unmöglichkeit der Darstellung. 90 Auch das jüdische Bilderverbot zeige die Nichtdarstellbarkeit des Absoluten an. doch eine Spur dieses Nichtdarstellbaren sei in den Buchstaben der Tora zu finden. oder im jüdischen Gottesnamen. Dieser sei nämlich rein formal und ohne konkrete Bedeutung. deswegen könne er auf etwas Absolutes hinweisen. ohne es definieren zu wollen. Der unaussprechliche Goltesname repräsentiere nicht das Göttliche. sondern er zeige nur eine Spur des Unendlichen an. Eine andere Spur des Absoluten sei für uns Menschen das unbedigte Pflichtgefühl und das Erleben eines letzten Sollens. Denn dieses fordere uns dazu auf. das moralische Gesetz als Ereignis zu verwirklichen. Dabei lernen wir eine Haltung .. J. F. Lyotard. Das postmoderne Wissen. Wien 1986.45-60. Ders.. Der Widerstreit. München 1987.23-34. "J. F. Lyotard. Vorstellung. Darstellung, Undarsteilbarkeit. Wien 1985.56--62. \I() J. F. LyOlard. Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Wien 1986. 67-77.
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der Empfanglichkeil und den Gehorsam gegenüber dem Absoluten. Wenn Wlf das Ereignis des Sollens in uns zulassen, dann empfangen wir das Absolute und folgen seinem moralischem Anspruch. In dieser empfanglichen und gehorsamen Haltung verliere das Ich seine beanspruchte Autonomie und sein vermeintliches Selbst, um für das Andere und Größere empfanglieh zu werden. Folglich gill unser Gehorsam dem Anspruch des moralischen Geselzes. das unser Zusammenleben
erst ennöglicht. 91 Mit diesen Ideen näherte sich Lyotard dem jüdischem Denker EmmwllIeJ Levirias (gest. 1995). Dieser halte Anregungen von Franz Roscnzweig und von Martin Heidegger aufgegriffen. Doch er litt ständig unter dem "Tumor der Erinnerung" an die Schrecken des Holocaust, dem fast seine ganze Familie zum Opfer gefallen war. Mit seiner Philosophie wollte er zum Wiederaufbau einer Zivilisalion des Lebens beitragen. Dabei erkannte er, dass uns nur die Sorge um den Anderen (den Mitmenschen) die Angst vor dem Tod reduziert. Die westliche Metaphysik sei seit den Griechen (Heraklit) durch eine Metaphysik des Kampfes belastet. sie müsse aufgegeben werden. An ihre Stelle solle die Ethik der Mitmenschlichkeit als ..erste Philosophie" treten. Denn unsere ethische Beziehung zu Mitmenschen gehe jeder Logik des Kampfes und des Krieges voraus. In dieser Beziehung werde jeder Mensch in seiner Nacktheit und Zerbrechlichkeit sichtbar. Die Zerbrechlichkeit des Anderen (Mitmenschen) schreie ihre Einsamkeit und Todesverfallenheit laut hinaus.9~ Nun war Levinas davon überzeugt, dass wir die Abgrenzung des Selbst und der persönlichen Identität des Einzelnen auf neue Weise vollziehen müssen. Denn immer gehe die moralische Verantwortlichkeit für den Mitmenschen der ver· meintlichen Autonomie des Selbst voraus. Auch die Beziehung des Menschen zum Götllichen vollziehe sich nur in der Relation zu konkreten Mitmenschen. Folglich müssen wir die alte Teilung der Menschen in Eingeborene und in Fremde grundsätzlich aufgeben, wenn wir die Logik der Feindschaft und die Metaphysik des Kampfes überwinden wollen. Dies sei eine spezifisch jüdische Erfahrung, das Sein in der Welt mit der Sorge um das Unendliche im Antlitz des bedürftigen Mitmenschen zu verbinden. So müssen wir schrittweise lernen, unsere Welt auch aus der Perspektive der konkreten Mitmenschen zu sehen. Doch dies sei nur im Gespräch möglich. 9J Die Anwendung von Gewalt bringe niemals die Versöhnung der Gegner her· vor. Die grausame Erfahrung der Shoah widersetze sich der Rechtfertigung eines göttlichen Planes in der menschlichen Geschichte. Denn niemals könne der Tod eines einzelnen Menschen zur Vervollkommnung der Menschheit beitragen. Für die christliche Religion sei es nach Auschwitz an der Zeit, endlich erwachsen zu werden und die kindliche Naivität abzulegen. Mit dem Vertrauen in einen schütS. Wendel. Jean Frnm;ois Lyotard. In: A. Kilcher 1l.3. (Hg.). Lexikon jüdischer Philosophen. Stuttgart 2003. 449-451. q: E. Lcvinas. Schwierige Freiheil. Frankfurt 1992. 134-145. ql E. Lcvinas. Totalilä! und Unendlichkeit. FreibllTg 2002. 67-78. q,
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zenden GOll könne der Monotheismus dem grundsätzlichen Skeptiz.ismus der modernen Kultur standhalten. Allein in der Sorge um den Mitmenschen könne die Gottheit artikuliert werden. denn immer sei es die verwirklichte Liebe z.u konkreten Menschen. welche unter uns Ewigkeit hervorbringe. Wenn das Gewissen des Einzelnen von der Zerbrechlichkeit des Mitmenschen ergriffen werde, entstehe in uns das Gefühl der Unendlichkeit und der Transzendenz. 94 Viele Gedanken von Levinas wurden von Jacqlles Derrida (gest. 2004) auf· gegriffen und weitergeführt. Er rang sein ganzes Leben lang mit der tiefen Verletzung der jüdischen Idemität, deswegen misstraute er grundsätzlich jeder Logik des Eigentums und der Identität. Das jüdische Denken werde durch die konträre Erfahrung von Ex.il und Beheimatung, von Verletzung und Heilung. von Knechtschaft und Herrschaft geprägt und gefonnt. Auch die Spannung zwischen der Begrenzung und der Unendlichkeit müsse ständig thematisiert werden. Doch die philosophische Dialektik Hegels sei dafür nicht ausreichend. um diese disparate Grunderfahrung ausdrücken zu können. Seil langem zehre das jüdische Denken von einem vorgestelltem Primat der Schrift (Tora) vor einer territorialen Identität. Doch die Schrift zeige sich immerals ein privi legierter Erscheinungson eines Ursprungsgeschehens und einer ursprünglichen Differenz, welche im Ereignis des Gespräches deutlich werden. Doch keine zeitlich spätere Schrift könne jemals das Ursprungsgeschehen eines Gesprächs einholen. Denn von der schriftlichen Fi1(ierung an zeigen sich Texte immer in ihrer Vieldeutigkeit (Polysemie). weil wir immer mit einer Vielzahl von tatsächlichen ..Sprachspielen" konfrontiert sind. Diese Polysemie der Texte ermögliche es uns, unterschiedliche Erfahrungen und deren Deutungen zum Ausdruck zu bringen. Doch bei jeder Interpretation von Texten kommen wir nicht um die nötige Auflösung (Dekonslruktion) bisheriger Bedeutungsinhalte herum. Denn erst die schrittweise Auflösung bisheriger Inhalte ennögliche uns neue Bedeutungen im Kontext neuer Lebenserfahrungen. So geschehe durch die Auslegung von schrift· lichen Texten immer eine gewisse Transfonnation bisheriger Bedeutungsinhalte, welche wir nicht zeitlich unbegrenzt ständig ..wieder holen" können.9~ Das treffende Bild für die Vielstimmigkeit und Vielfalt der .,Sprachspiele·' inder postmodernen Kultur sei der Turm zu Babel. Denn in unserer Lebenswelt gehen immer öfter verschiedene Schriften und Sprachen in einander über, sie stoßen auf einander und verändern sich dabei. Längst haben wir begonnen, mit der Polysemie von schriftlichen und sprachlichen Bedeutungsinhalten zu leben. sie bedrohen uns nicht mehr. In der Gegenwart habe die vereinzelte Klage über die verlore· nc Einheit der Weltdeutung keinen Sinn. Denn gerade die Vielstimmigkeit der Daseinsdeutungen sei eine Grundbefindlichkeit postmoderner Kultur. Mit einem E. Lcvinas. Wcnn GOlt ins Denken einfallt. Freiburg 1999.34-45. Dcrs.. Ethik und Unendliches. Graz 1986.27-39. Ders.. Schwierige Freiheit. 84-104. % J. Dcrrida. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt 1976.48-61; ders.. Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt 1979.30.....39. 90
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selbstkritischem Menschenbild verabschieden sich viele von der Vorstellung einer Selbstennächtigung durch Aneignung des Fremden. In diesem neuen Deulungshorizont müsse die alte religiöse Vorstellung von ci· oer besonderen göttlichen "Erwählung" auf alle Völker und Kulturen ausgeweitet werden. Denn dann tradiere ein struktureller Messianismus eine unwiderlegbare Verheißung, die sich aber auf kein bestimmtes Ziel festlegen lasse. Die prinzipiell unabschließbare Arbeit der "Dekonstruktion" von bisherigen Bedeutungen konfrontiere uns aber mit der Wirklichkeit eines Anderen und Größeren. Daher behalten viele Fragen der Metaphysik und der Religion auch unter den Bedingungen des Atheismus ihre Bedeutsamkeil. Das jüdische Bilderverbol im Bezug auf dieGonesrede zeige uns das nötige Schweigen angesichts der letzlen Wirklichkeil an. Denn allein dieses Schweigen enlziehe den lelzten Seinshorizont unserem Zugriff durch Sprache. 96 In dieser Skizze wird deutlich. wie sehr die genannlen Denker das Ereignis des Gesprächs. des Dialogs und des Poly logs. das Versländnis der Person und der Identilät. die Schriftwerdung und die Auslegung von Texten themalisiert und weiter gedacht haben. Ihnen iSI der Versuch gemeinsam. die Grundfragen der Metaphysik. der Religion und einer ersten Philosophie unter den Bedingungen einer poslmodemen Kultur neu zu buchslabieren und für den fort schreitenden Diskurs offen zu hallen. Denn seil der Pragmalischen Wende der Sprachphilosophie erkennen wir deutlicher als früher. dass philosophische Erkenntnis weltweil vor allem in der Fonn des Diskurses geschieht und voran schreitet.
'"" J. Dcrrida. Intcrprel3tion 31 war. In: E. Wcbcr/G. Tholcn (Hg.). Das Vergessene. Wien 1997.
Namensregisler
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Namensregister Adomo. Theodor 391 AI Aschari 295 AI Fanbi 299 AI Ghazali 297. 303 AI Mawatdi. Abu Hasan 303 AI Qaradawi 311 AI Tusi. Nasir al Din 302 Alcxandcr von Haies 252. 254 Ali ibn Ali Talib 289 Althaus. Paul 267 Althius. Johanncs 367 Ambrosius von Mailand 249f Amcocmopc l64f Ammonios Sakkas 360f Am)'raldus. Moscs 260 Ancbcdkar 97 Ani 161 Anliphon 3.50 Anlislhcncs 353 Apcl. Karl Ouo 391 Arcndt. ~lannah 237 Argucdas. Jose Maria 339ff Arislotcles 31. 303. 307. 355ff. 361 ff Amold. GOllfried 261 Ashoka 88. 93 Assmann. Jan 163 Alramhasis 167 Aurclius Auguslinus 250f. 36llT
Ayala. Fclipc de 338 Bachja ibn Baquda 224 Banh. Kar! 267f Baumann. Hans 41 Ba)'le. »km: 260 Benamozcgh. Elie 234 Benlham. Jcrem)' 384 Bergson. Henri 264 Bharadvaja 79 Bhuddadasa 97 Bloch. EmSI 391 Blumhardl, Chrisloph 266 Böhme. Jakob 257 Boli,·ar. Simon 336 Bonaventura 2S4 Bruno. Giordano 367 Bujo, Bcnezel.50.320 Bu1sa 43ff BUlier, Joseph 376 C.li:u. Gcorg 257f Calvin. Jean 257 Cardcnal. EmesIO 346f Chcrbul')'. Herben von 372 Chou 1\In 127f
Chubb. Thomas 261. 372 Cohen. Hennann 233 Comle. Augusle 151 Comhccn. Dirk 258 Cruz. Francisco de la 336 Cudworth. Ralph 261. 372 Dalai Lama 99 Dammann. Emsl324 Danaeus. Lambcnus 258 Darwin. Charles 126. 149 Derrida. Jacques 14.393. 397f Descancs. Rene 368 Dc.....e)'. John 3CX1 Dhannapala. A. 94 DiagOl1lS 351 f """'" 84
Durckhcim. Emile 13 Dussel. Enriquc 346
&hnaton 26 Edwanls. David 269 Ellacuria. Ignacio 346 Empcdokles 3SOf Erosmus von Rotlerdam 365f Emie. Pierrc 321 Eukleidos 353 FlChle. JOOann Gonlicb 381 f Ficino. Maniglio 365 Formslcchcr. Salomon 232 Fox. George 260 Franko1m. lsaak 231 Fries. Jakob 262 Fukazawa. Yukichi 152 Fung Yulan 130 Gabirol. Salomo ibn 224 Galcnos 250 Gandhi. Mahalma 66. 70 Gareia. Jose Uriel 328 Gaul.1ma Siddhana 75f. 84, 141 f Gehlen, Amold 389 Gerondi. Abraham 224f Gaganen, Fricdrich 268 Grotius. Hugo 368 Gutierrez, GUSIaVO 268. 346f Habermas. Jilrgen 391 Hacker. Paul 60 Hagemann. Ludwig 284 Hammurapi 22. 166 Han Fei Zi 123f Hanmann. Nikolai 388 Hegel, Georg W. F. 382
Heidegger. Manin 157.389 Heinrich. Dictcr 393 Hel\'elius. Claude Adrien 378 Herakleitos 350( Herrmann. Wilhelm 265 Hick. John 390f Hirata. AlSutane 149 Hirsch Emmanucl267 Hirsch Samson 237 Hirsch. Samucl 233 Hobbcs. lbomas 370f Höffe. Ollfricd 393 Holl. Karl 265f Hooker. Richard 258 Horkhcimcr. Mu 391 Hsi Kang 111 Hsiung Shi Li 128 Hu Shi 128 HuaiNanZi 111 Huber. VlCtor 264 Hurne. David 376 l'lusain 287 HUlcheson. Francis 376 Ibn Ruschd 299 Ibn Shina 300 Jamcs. William 14.396 Jaspers. Karl 389 Jensen. A. E. 42 ksus \'00 Nazarclh 27. 29. 244f Je.....ell. John 258 Johanncs Pauill. 273f JOOanncs XXUJ. 271 ff Jonas. Hans 268 Jusuf al Qaradawi 290 Kaflan. Julius 265 Kählcr. Manin 263 Kallikles 351 Kant. Immanucl262. 380f Kata)'ama. Sen 152 Kato. Hiro)'iki 151f Kawakami. Hajimc 152 Keckennann.B.258 Kelsen, Hans 388 Kelsos 251 KicrY.egaard. S&en 263 King. Henry 264 Koog Fu Zi 30, 113f, 115ff, 137f K~u.Shusui 152 Kritias 352 Ku Hung Ming 128 Kuhl. Jochen 15 Kumarila 48
400
Namensregislcr
Küng. Hans 12,393 Kuller. Hemlann 266
Ogyu SorJi 149f Onishi, Hajimc 152
Sundcnncicr, Theo 47, 325 Suzuki. Daisctz Tcitaro 99
Lao Tse CLao Zi) 108 Las Casas. Bartoiome de 33211 Lal..aruS, Moritz 232
Pannenbcrg, Wolfhart 268 Pantajali 65 Paul VI. 271 Paulus von Tarsos 33. 246ff Peirce. Charlcs S. 390. 394 Pclagius 250 Penn, William 260 Perkins, William 259 Petrus Abälard 152 Philo von Alexandria 194f. 218f Pico della Mirandola. Giovanni 34.367 Plato 31. 353ff Plethon. Gemisthos 367 Plotinos 360f Porphyrios 249. 301 Prada. Manuel 337 P1..Ifendorf. Samuel 374 Pyrrhon von Elis 360 Pylhagoras 350f
Tallensi 44ff. 47f Tanabe. Hajime 98f. 156f Tandya. S. 81 Tanlawi, Sayyid 318 Taylor. CharIes 393 Thich Nhal Hanh 99 Thie!, Friedrieh 46 Tholuk. Fricdrich 263 Thomas von Aquin 252. 363ff Thomasius. Christian 374 TIlIieh. Paul 268 Tinda!. Matthew 372 Todt. Rudolf 264 Toland. John 373 Trasymachos 351 f Trillhaas, Wolfgang 268 TfO(:ltsch. Ernst 265f
Leibniz. Goltfried Wilhelm 374f Leo XIII. 271 Levinas. Emmanuel237, 3%f Li Zhi 127f LieZi 110 Lipsius.lustinus 258 Locke. lohn 373f
Luthcr. Manin 255, 366 Lyolard, Jean Jacqucs 394ff Maclntyrc. Alsdaire 393 Mahavim V. 68 Maimonidcs. Moses 218f, 224f Malinowski. Miczcslaw F. 41
Moo Zcdong 96. 129 Marialcgui. Jose Carlos 338ff Mancnscn. llans 263
Marx. Kar138M Mauhews Shlliler 264 Mbiti. lohn 47, 326 Meister Eckhan 255 Melanchlhon 256 Mendclsohn, Moses 231 Mcng Zi 30. 119ff, 139f Memissi. Fatimah 310 MCUrie.lulicn de 13 378 Mier. Servando Teresa dc 338
Miki. Kiyoshi 157f Mill, lohn Sluart 152.386 Millon, lohn 259 Miskawayh. Ahmad 30 I Mo Di (Mo TI) 27. 30. 120r,
139f Monlcsquicu. Luis de 377f Moore, George Edward 390 Morande, Pedro 342 More, Henry 261 Morgan. Thomas 263, 373 Morus. Thomas 334. 367 MOloori Norinaga ISO Muhammad 32, 289 Nagarjuna 82 Naumann, Friedrich 266 Nell-Breuning, Oswald von 272 Nichiren 97, 145f Nietzsche. Friedrich 14.33. 368. 386f Nishi. Amane 152ff Nishida. Kitaro 98. 156f
Quidort. Jean 257 Qutb, Sayyid 317 Rade, Martin 266 Ragaz. Leonhard 266 Rahman. Fazlur 312 Rauschenbusch, WilheJm 264 Rawls, John 391 Rembong 5lf RendlortT. Trutz. 268 Ried. Matteo 149 Ritschi. Albrecht 263 Rony. Riehard 14.393 ROUSSC'lU, Jean Jacques 378 Royce, Josiah 390 Saadia ben Joscph 223f Schcler. Max 388 Schelling, Friedrieh Wilhclm 383
Schleiennacher, Friedrich 262 Schmin. Carl 266f Schopenhauer, Anhur 385 Schweil7.er, Albert 265 Seebcrg, Reinhold 265f ScpuJveda. Juan Gines de 332 Scxtus Empiricus 362 Shang Yang 122f SkinllCr. B. F. 393 Smith. Adam 377 Sokrates 352f Sontag, Susan 236 Spinm·.a, Baruch 231, 369 Sun Vat Sen 128
Urena. Pedro Henriquez 34411 Urnamlllu 166 Valcarel. Luis 339 Vasconeelos. Josc 342ff Vasishtha 79 Vasubhandu 85 Vcga. Garcilaso de la 338 Viscardo. Juan Pablo 338 Vitoria. Francisco de 332 Walaeus, Anton 260 Wang Chong 124f Walsuji. Tetsuro 155f Weber. Max 387 Wendland, Hans Dieter 268 Wesley. John 261 Wette, Wilhclm de 262 Witliams. Roger 260 Wilson. Moniea 324 Wimmer. Franz. 14 Winlhrop. John 259 Wiugenslcin, Ludwig 14.35. 390f. 394 Wolff, Christian 375 Wydif. John 254 XunZi 123f ZarathuSlra l74f zayd.Abu 312 Zhuang Zi 108, 121 Zwingli, Huldryeh 256f
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