Wulf Tessin Freiraum und Verhalten
Wulf Tessin
Freiraum und Verhalten Soziologische Aspekte der Nutzung und Planung ...
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Wulf Tessin Freiraum und Verhalten
Wulf Tessin
Freiraum und Verhalten Soziologische Aspekte der Nutzung und Planung städtischer Freiräume. Eine Einführung 2., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2004 2. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18328-2
Inhaltsverzeichnis
Einführung .................................................................................................. 7 1. Soziologie und Planung - Raum und Verhalten ................................. 9 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
1.7
‚Raumblindheit’ der Soziologie? ............................................................. 9 Aufkommen der Soziologie in der Stadt- und Landschaftsplanung ......... 11 Vom Mode- zum Pflichtfach? ................................................................ 13 Aufgaben der Soziologie in der Stadt- und Landschaftsplanung ............. 14 Probleme der Zusammenarbeit im Entwurfsprozess................................ 16 Der sog. architektonische Determinismus und seine Überwindung ......... 18 ‚A General Theory of Action’ ................................................................. 23
2. Der Freiraum als Behavior Setting .................................................... 27 2.1 2.2 2.3
2.4
Position und Rolle .................................................................................. 27 Latente und manifeste Rollen im öffentlichen Freiraum ........................ 30 Barkers Theorem des Behavior Settings ................................................. 34 Beispiele unklar definierter Freiräume ................................................... 40
3. Abweichendes Verhalten .................................................................... 45 3.1 3.2 3.3 3.4
Zur Durchsetzung konformen Verhaltens im Park ................................. 45 Typen konformen und non konformen Verhaltens ................................. 51 Nicht intendierte Nutzungsschäden in historischen Gärten .. …...……… 52 Präventionsarchitektur? ..... …………………………………………….. 56
4. Freiraumbedürfnisse ........................................................................... 63 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Bedürfnis, Wunsch und Verhalten .......................................................... 63 ‚Falsche’ Bedürfnisse? ........................................................................... 66 Menschliche Grundbedürfnisse (Maslow) und Freiraumverhalten ......... 70 Freiraumspezifische Bedürfnisse: Naturliebe oder Frischluft? ............... 74 Der Freiraum als ‚locus amoenus’ .......................................................... 77
5. Soziale Milieus der Freiraumnutzung? ............................................. 80 5.1
Wert und Kosten der Bedürfnisbefriedigung ........................................... 80
5
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Schichtzugehörigkeit und Freiraumverhalten ......................................... 83 Soziale Segregation und disparitäre Freiraumversorgung ...................... 86 Individualisierung der Lebenslage .......................................................... 88 Freiraumkulturelle Milieus? ................................................................... 91 Zum gruppenspezifischen Ansatz in der Freiraumplanung ..................... 95
6. Freiraumkultureller Wandel .............................................................. 98 6.1 6.2 6.3 6.4
Freiraumkultur als Rahmen individuellen Freiraumverhaltens ……….. 98 Freiraumkultur im gesellschaftlichen Wandel …………………………100 Pluralisierung als Trend des gesellschaftlichen Wertewandels ……….. 106 Freiraumkulturelle Laufzeiten planerischer Konzepte ………………... 111
7. Ästhetische Wahrnehmung ...............................................................116 7.1 7.2 7.3 7.4
Zur Selektivität räumlicher Wahrnehmung …………………………… 116 Zur Bandbreite der ästhetischen Wahrnehmung und Bewertung …….. 120 Ästhetisierung der Umwelt als individuelle Verhaltensdisposition …... 125 Landschaft als ästhetisches Objekt und Wohngegend ….…………….. 127
8. Freiraumideologie ..............................................................................135 8.1 8.2 8.3 8.4
Ästhetisch-ideologische Inwertsetzung der städtischen Brachfläche…. 135 Ideologisierung als ‚Auslegung des Seins’ …………………………… 138 Städtisches Grün ideologisch als ‚Dimension des Anderen’………. 144 Verlust an ‚Zweidimensionalität’ in der Landschaftsarchitektur ...…… 149
9. Planerideale ........................................................................................154 9.1 9.2 9.3
Planerideologien und Ideologiekritik ………………………………… 154 ‚Uneigentliches’ Verhalten …………………………………………… 156 ‚Aneignung’ als Ideal der Freiraumnutzung? ………………………… 164
10. Freiraumkulturmanagement .............................................................171 10.1 10.2 10.3 10.4
Hehre Ziele …………………………………………………………… 171 Anspruchslosigkeit und Erlebnisorientierung im Freiraumverhalten … 174 Von der Freiraumplanung zum Freiraumkulturmanagement …………. 179 Freiraumkulturelles Stadtbrachenmanagement ……………………….. 187
Literaturangaben ......................................................................................190
6
Einführung
Ziel dieses Buches ‚Freiraum und Verhalten’ ist eine sich speziell an die Gruppe der Landschafts- und Stadtplaner richtende Einführung in die wesentlichen, soziologisch relevanten Bestimmungsfaktoren des Freiraumverhaltens. Es handelt sich also nicht um eine umfassende Darstellung aller soziologischen Aspekte der Nutzung und Planung städtischer Freiräume. Die Publikation basiert auf einer langjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit und einer ganzen Reihe von eigenen Veröffentlichungen und spiegelt wesentlich die dabei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse des Verfassers wider, die naturgemäß auch zu bestimmten sicherlich nicht allseits geteilten Einschätzungen und Positionen geführt haben. Insofern handelt es sich bei dieser ‚Einführung’ auch um so etwas wie eine Standortbestimmung: Eigene, teilweise auch zeitlich länger zurückliegende Veröffentlichungen werden unter dem Aspekt rekapituliert, was sie zum Verständnis oder zu einer Theorie des Freiraumverhaltens und einer darauf bezogenen städtischen Freiraumplanung beitragen. Dabei wird angeknüpft an bestimmte Arbeiten, wie sie innerhalb eines verhaltenstheoretischen Ansatzes in der sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung (Gleichmann 1963; Gröning, Herlyn, Tessin 1984; Nohl 1980) und im weiteren stadtsoziologischen und stadtplanerischen Kontext in den 1970er Jahren entstanden (vgl. hierzu u.a. Becker, Keim 1973; Konau 1977; Obermaier 1980), dann aber innerhalb der Stadtsoziologie kaum noch weitergeführt worden sind. Gemeinsames Anliegen dieser Arbeiten war es, mit Hilfe bestimmter (oft eher sozialpsychologischer) Ansätze, Begriffe und Theoreme (subjektive Wahrnehmung, Behavior Setting, Aneignung etc.) das räumliche Verhalten der Menschen besser zu verstehen mit Blick auf die Frage, wie denn mit Architektur und Städtebau das alltägliche Leben der Menschen beeinflusst wird bzw. (planerisch zielgerichtet) beeinflusst werden könnte. Welche Rolle kommt der gebauten Umwelt überhaupt zu, wie reagieren die Menschen auf räumlich-gestalterische Veränderungen in ihrer Umgebung? Der Soziologie insgesamt - wie auch selbst noch der Stadt- und Planungssoziologie - ist immer wieder eine gewisse ‚Raumblindheit’ vorgeworfen worden. Diese Einführung rückt das soziologisch ‚unterbelichtete Verhältnis’ 7 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
(wieder) in den Mittelpunkt der Betrachtung und greift damit das genuine Interesse von räumlich-gestalterisch orientierten Planern auf, aber auch ein neu erwachtes Interesse auf Seiten der Stadtsoziologie (vgl. hierzu Läpple 1991; Ecarius, Löw, 1997; Sturm 2000; Löw 2001). Und in dieser Fokussierung auf die Beziehung von geplantem (Frei-) Raum und (frei-) räumlichem Verhalten liegt sicherlich ein wesentlicher Unterschied zu allen vorliegenden stadtsoziologischen Einführungen oder Lehrbüchern (vgl. u.a. Friedrichs 1977; Pieper 1979; Hahn, Schubert, Siewert 1979; Hamm 1982; Friedrichs 1995; Hamm, Neumann 1996), die ganz überwiegend andere Themen behandeln. Anders als dort werden hier auch die möglichen Konsequenzen für das planerische Selbstverständnis immer mit reflektiert; d.h. es wird stets gefragt, was denn nun die gewonnene Einsicht in die jeweiligen Bestimmungsfaktoren des Freiraumverhaltens für die städtische Freiraumplanung bedeuten könnte - nicht in dem Sinne konkreter Entwurfsempfehlungen (‚Rezepte‘), sondern mehr mit Blick auf eine illusionsfreiere und insgesamt ideologiekritische, sozialwissenschaftlich reflektierte Berufspraxis. Ziel war es, ein leicht verständliches Buch zu schreiben. Soziologie zielt auf Verallgemeinerung und theoretische Abstraktion und damit schnell an der auf Konkretheit und Anschaulichkeit ausgerichteten Lern- und Arbeitsweise von Architekten und Stadt- und Landschaftsplanern vorbei. Entsprechend wurde versucht, leicht verständlich zu bleiben und - so weit es irgend ging auf den soziologischen Fachjargon und einen riesigen Anmerkungsapparat zu verzichten. Soziologische Fachtermini wie ‚Schicht’, wie ‚Bedürfnisse’, ‚Einstellungen’, ‚abweichendes Verhalten’ usf. werden hier so benutzt, als würde sich dahinter nicht eine Vielzahl von wissenschaftlichen Kontroversen verbergen, die die Verwendung dieser Begriffe fast nicht mehr gestatten. Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um die Wiederauflage des gleichnamigen Buches aus dem Jahr 2004, das inzwischen vergriffen ist. Bei der Überarbeitung wurde im Wesentlichen der alte Text beibehalten. Es wurden lediglich einige stilistische Korrekturen und ein paar inhaltliche Veränderungen und Aktualisierungen vorgenommen. Einige inhaltliche Überschneidungen mit dem 2008 veröffentlichten Buch „Ästhetik des Angenehmen“ wurden beseitigt, andere aber auch bewusst beibehalten, da nicht davon auszugehen war, dass jeder Leser beide Bücher lesen bzw. gar kaufen würde.
Hannover, im Sommer 2011
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Wulf Tessin
1. Soziologie und Planung
1.1
‚Raumblindheit‘ der Soziologie? Gegenstand der Soziologie in ihrer mikrosoziologischen Variante sind die zwischen Menschen bestehenden Beziehungen und zunächst nicht die zwischen Mensch und Tier oder zwischen Mensch und Ding oder Raum. Primäres Interesse finden dabei vor allem jene Beziehungen, die als aufeinander bezogenes Verhalten von Menschen („einerlei, ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden“ vgl. Weber 1966: 5) angesehen werden können. Die sozialen Beziehungen beschäftigen den Soziologen aber nur insoweit, als sie nicht einmal oder flüchtig sind, sondern sich in bestimmten Situationen wiederholen und damit in einem gewissen Sinn als regelmäßig oder typisch bezeichnet werden können. Im Hinblick auf solche typischen sozialen Beziehungen interessieren den Soziologen dann vor allem jene Erscheinungen, die als Geflechte in bestimmter Hinsicht miteinander verbundener, typischer sozialer Beziehungen verstanden werden können. Die Familie, der Betrieb, der Verein, die Clique, die Naturschutzbehörde oder die Gesellschaft insgesamt sind solche sozialen Gebilde oder auch sozialen Systeme, worunter man also Beziehungsgeflechte zwischen Menschen verstehen kann, die auf Dauer angelegt sind. In jedem dieser sozialen Systeme lässt sich ein in spezifischer Weise typisches Verhaltensmuster der Menschen zueinander erkennen, ein Komplex von Positionen und daran geknüpften Verhaltenserwartungen z.B. Mutter, Vater und Kind in der Familie, oder Chef, Mitarbeiter und Kunde im Betrieb. Neben diesen sehr konkreten sozialen Systemen interessieren den Soziologen aber auch regelmäßig wiederkehrende soziale Situationen oder Konfigurationen wie das Verhältnis von Arzt und Patient, Planer und Bürger oder etwa das Verhalten des ‚Neuen’ oder ‚Fremden’ in einer Gruppe. Scheint hier zunächst der Raum für die soziologische Analyse noch irrelevant (obwohl im Gebilde des ‚Betriebes’ schon eine räumlich-materielle Ebene anklingt), so wird dieser Bezug doch deutlicher, wenn man an soziale Gebilde wie das ‚Dorf’ oder die ‚Stadt’ denkt. Zwar interessiert den Soziologen auch hier mehr die spezifische Art des Zusammenlebens der Menschen 9 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
im Dorf oder in der Stadt, aber es scheint unmittelbar einsichtig, dass diese Art des Zusammenlebens nicht unbeeinflusst sein dürfte vom räumlichmateriellen Substrat der Häuser und Straßen, in denen sich die Menschen begegnen. Aber in dieser Betrachtungsweise wäre der Raum oder die Sachwelt für die Soziologie nur eine Art ‚Randerscheinung’ oder Randbedingung, immer noch würden in erster Linie die Beziehungen der Menschen untereinander im Vordergrund des Interesses stehen und nicht die Beziehungen der Menschen zum jeweiligen Raum. Diese Sichtweise dominiert auch in der klassischen Gemeindesoziologie (Linde 1972:19ff) und späteren Stadt- und Regionalsoziologie, wo u.a. das gesellschaftliche Leben in bestimmten Räumen, im Dorf, in einem Stadtviertel, in der Wohnung analysiert wird, aber wo der ‚Raum’ eben nur als Randbedingung in die Untersuchung einfließt. Wie man sein Wohnzimmer nutzt (so könnte man - überspitzt - die soziologische Position umreißen), hängt in erster Linie von der Haushaltsgröße, der Schichtzugehörigkeit, innerfamiliären Übereinkünften, Wertvorstellungen und Lebensstilen ab und nur in zweiter oder dritter Linie von der Größe und dem Zuschnitt des Wohnzimmers. Der Raum rückt dann mehr ins Blickfeld der Soziologie, wenn er zum Gegenstand oder Medium einer sozialen Beziehung wird, wenn also Menschen im Rahmen der Produktion oder Nutzung eines Raumes (und nur deshalb) miteinander in Beziehungen zueinander treten. Wenn eine Familie ihre Wohnung einrichtet, ein Architekt seine Planungen auf einer Versammlung den Bürgern darstellt, wenn eine Gruppe von Leuten gemeinsam einen Berg zu erklimmen trachtet, ein Fluss über die Ufer tritt und ganze Landstriche überflutet und die Anwohner zu Abwehrmaßnahmen zwingt, immer dann ist der Raum nicht Randbedingung sondern Medium oder Gegenstand sozialer Beziehungen. Schließlich interessiert den Soziologen der Raum als Produkt oder Ausdruck sozialer Beziehungen; d.h. im gesellschaftlich produzierten Raum sind die ihm zugrundeliegenden sozialen Beziehungen eingeschlossen, die durch eine entsprechende (Dokumenten-) Analyse zu erschließen sind. Der Grundriss eines Bauernhauses, die Zuschnitte der Äcker und Wiesen, die alten ägyptischen Gräber und Pyramiden können Aufschluss geben über Machtstrukturen, Normen und Werte, die damals die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmt haben. Die Soziologie befasst sich also mit der Kategorie Raum unter dreierlei Gesichtspunkten: x Raum als ‚Randbedingung’, x als ‚Gegenstand’ und x als ‚Ausdruck’ sozialer Beziehungen.
10
Allerdings hat es recht lange gedauert, bis sich die Soziologie dem Raum als Forschungsthema überhaupt zugewandt hat. Noch 1977 konnte Elisabeth Konau deshalb über das Verhältnis von Soziologie und Raum und unter Einschluss der damals bereits vorhandenen Stadt- und Regionalsoziologie eine Aussage treffen wie: „Die soziologische Forschung beschäftigt sich in der Regel mit Formen manifest raumbezogenen Handelns, ohne die Raumbezogenheit des sozialen Handelns überhaupt als solche zum Thema zu machen.“ (Konau 1977: 5) 1991 wiederholte noch einmal Läpple in seinem ‚Essay über den Raum’ die These von der ‚Raumblindheit’ der Soziologie. Erst in jüngerer Zeit haben sich jüngere (Stadt-) SoziologInnen speziell mit dieser Fragestellung wieder verstärkt auseinandergesetzt (z.B. Sturm 2000; Löw 2001). 1.2
Aufkommen der Soziologie in der Stadt- und Landschaftsplanung Soziologie spielt in der Stadt- und Freiraumplanung seit Anfang der 1960er Jahre eine gewisse Rolle, sieht man einmal von einer bereits in den 1930er Jahren in den USA entstandenen Richtung der Sozialökologie ab, die versuchte, mit einer biologisch-ökologischen Terminologie (Invasion, Sukzession, Verdrängung, Homogenität etc.) Stadtentwicklungsprozesse zu analysieren. (Ein kurzer Überblick über diesen Ansatz findet sich in Atteslander, Hamm 1974). In Deutschland gab es auch schon vor 1960 vereinzelt raumbzw. planungsrelevante Schriften von Soziologen (vgl. hierzu die Textsammlung von Schmals 1983), aber ein gewisses Maß an Institutionalisierung (in den Medien, in der Ausbildung von Planern etc.) setzte erst ab Mitte der 1960er Jahre ein. Zumindest drei Momente kamen damals zusammen. Da war zunächst der Paradigmenwechsel im Städtebau vom ‚landschaftlichen Städtebau’ zur ‚urbanen’ Stadt (vgl. hierzu Tessin 1990). Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Motto: mehr Licht, mehr Luft, mehr Grün betriebene Durchgrünung der Städte (in Verbindung mit deren rasantem Wachstum und der einsetzenden Automobilisierung der Gesellschaft) hatte zu einer Ausuferung der Städte bis weit in ihr Umland hinein (Zersiedlung) geführt und zu einer Art von Entstädterung, zum Verlust an ‚Urbanität’. Denn, so wurde damals gefragt, was macht eigentlich ‚Stadt’ aus? Hier setzte nun die Intervention der Soziologen ein, die das Wesen der Stadt nicht in einer Weiträumigkeit und Durchgrünung sahen, sondern - die mittelalterliche Stadt vor Augen - in ihrer Kompaktheit. Auf engem Raum leben viele und ganz unterschiedliche Menschen zusammen, was zu einer spezifischen Art von Stadtkultur führe, die nicht - wie damals noch üblich - nur negativ zu bewerten sei (Anonymität, Vereinsamung, Nivellierung der Standesunterschiede, Unordnung etc.), sondern - ganz im Gegenteil - positiv: 11
Freiheit, Vielfalt, Kultur, Humanität, ein lebendiges Geistesleben, all das sei aufs engste verknüpft mit der Stadt und zwar nur insoweit sie viele, unterschiedliche Menschen auf relativ engem Raum zusammenführe. Kaum hatte sich die Soziologie über diese Urbanitätsdiskussion im Planungsgeschehen Gehör verschafft, traten Ende der 1960er Jahre neue, hochkomplexe städtebauliche Aufgaben auf die Tagesordnung: die Neubausiedlungen am Stadtrand und die Flächensanierungen in den vom 2. Weltkrieg unzerstört gebliebenen Innenstädten und Innenstadtrandgebieten, die noch aus der Zeit vor dem 1.Weltkrieg stammten. Der Abriss von Hunderten, ja Tausenden von Wohnungen einerseits und der Neubau von noch mehr Wohnungen am Stadtrand auf der sprichwörtlichen ‚grünen Wiese’ andererseits war nicht nur mit vielen technischen, finanziellen, organisatorischen, sondern auch vor allem mit sozialen Problemen verbunden: Heimatverlust durch die Sanierung, Integrationsschwierigkeiten in der ‚Neuen Heimat’, infrastrukturelle Engpässe, Umsiedlungsaktionen usf.; halb aus selbstgewonnener Einsicht, halb gezwungen durch wütende Proteste der Bevölkerung, wurde die Soziologie ins Spiel gebracht, hier beratend tätig zu werden. In dieser Zeit, Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, kam schließlich, drittens, die linke, antiautoritäre Studentenbewegung auf. Studierende der Stadt- und Landschaftsplanung begannen sich zu fragen: Wie ist Planung im Kapitalismus möglich? Ist die Wohnung eine bloße Ware, mit der man Profit machen darf wie mit einem Hotel? Ist es gerecht, dass die Grundbesitzer Riesengewinne einstreichen, wenn ihr Land zu Bauland erklärt wird? Gibt es nicht viele unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen, deren Interessen im Planungsgeschehen schlichtweg übergangen werden? Wie wird Planung eigentlich demokratisch legitimiert? Das waren Fragen, zu deren Beantwortung die Soziologie vermutlich etwas beitragen konnte. Die Forderung nach Integration der Soziologie in die Ausbildungsgänge von Architekten und Planern kam auf und wurde auch in den folgenden Jahren weitgehend erfüllt. Die 1970er Jahre können als die Blütezeit der Planungsbezogenen Soziologie angesehen werden. In der Freiraumplanung entwickelte sich ein regelrechter sozialwissenschaftlicher Ansatz. Aus einem damaligen Positionspapier (Gröning, Herlyn, Tessin 1984) sinngemäß zitiert: Dieser Ansatz stelle den Gebrauchswert von Freiflächen in den Mittelpunkt. Freiflächen, insbesondere dabei die Grünflächen (Gärten, Parks, Sportanlagen, Wälder etc.) werden in ihrer Funktion betrachtet, den Menschen spezifische Erlebnis- und Handlungschancen zu eröffnen, vor allem im Bereich von Ruhe und Erholung, von Kommunikation und Begegnung, von Sport und Spiel, von Naturerfahrung und Naturgestaltung. Neben der Analyse
12
x
der gesellschaftlichen und lokalen Rahmenbedingungen der Freiraumversorgung, x ihres politisch-administrativen Kontextes und x der sie prägenden Konzepte und Ideologien stünde die Beschäftigung mit x den Aneignungsformen von Freiräumen durch die verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Mittelpunkt des Ansatzes. Im Bereich der Stadtplanung war der sozialwissenschaftliche, nutzungsorientierte Ansatz eher noch verbreiteter. Aber sowohl dort wie auch im Bereich der Landschafts- und Freiraumplanung spielt er heute eine deutlich geringere Rolle. Insbesondere die soziologische Beschäftigung mit dem Freiraumverhalten hat heute keinen so großen Stellenwert mehr. ‚Nutzersoziologie’ wird von manchen geradezu als ‚out’ betrachtet (vgl. z.B. Sewing 1996: 595), ja, es scheint ganz allgemein so sein, dass die Stadt- bzw. Planungssoziologie Stück für Stück aus der universitären Architekten- und Planerausbildung verabschiedet wird (vgl. hierzu Harth, Scheller 2010). 1.3
Vom Mode- zum Pflichtfach? Es sind gleich mehrere Gründe, die zu diesem Bedeutungsrückgang des verhaltenstheoretischen Ansatzes geführt haben: Zum einen - eigenartigerweise - seine Popularisierung; was vielen Architekten und Planern in den 70er Jahren noch neu war, ist es heute nicht mehr. Bestimmte soziologische Erkenntnisse sind heute jedermann geläufig, Soziologie und ihre Art, die Welt zu sehen, ist ein Stück weit planerisches Alltagswissen geworden. Dass bestimmte Bevölkerungsgruppen in Bezug auf Raumaneignung unterprivilegiert sind, hat sich herumgesprochen, dass ältere Menschen weniger Sport treiben als jüngere verwundert nicht. Kurzum: viele Ergebnisse sozialempirischer Untersuchungen ergeben nicht mehr viel Neues. Und für Planer ist der qualitative Sprung nicht sonderlich groß, dass das, was sie immer schon ‚irgendwie’ geahnt hatten, nun durch eine empirische Untersuchung bewiesen wurde. ‚Bewiesen’? Gerade das, was soziologische Untersuchungen noch rechtfertigen könnten, ihre gegenüber der allgemeinen Lebenserfahrung größere ‚Wissenschaftlichkeit’ (wenn schon nicht neu, dann zumindest wahr und bewiesen!), wurde auch zunehmend in Zweifel gezogen. Die auch innerhalb der Soziologie geführte Diskussion über die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der empirischen Sozialforschung wird in Planerkreisen bisweilen radikalisiert und verabsolutiert. Aussagen wie „Mit Umfragen kann ich alles beweisen“ 13
signalisieren ein Glaubwürdigkeitsdefizit soziologischer Untersuchungen. Hingewiesen wird u.a. auf die Beeinflussbarkeit der Befragungsergebnisse durch die Art der Frageformulierung; Befragte können aus den verschiedensten Gründen unzutreffende Aussagen machen. Befragungsergebnisse seien zudem immer interpretationsfähig und könnten gleichsam beliebig ins Gegenteil verkehrt werden: Sagen die Leute, dass sie mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind, so könnte man argumentieren, sie hätten sich nur resignativ angepasst, sie würden es sich bzw. dem Interviewer nur nicht eingestehen. Außerdem sei die Repräsentativität vieler soziologischer Untersuchungen nicht gegeben. Meist handelt es sich um Einzelfallstudien auf noch dazu geringer quantitativer Basis. Häufig werden nicht mehr als 200-400 Personen befragt, über deren repräsentative Auswahl kaum ein Wort verloren wird. Aber schlimmer ist, dass diese Untersuchungen oft nur an einem Ort an einem oder zwei Beispielen durchgeführt werden. Die Verallgemeinerungsfähigkeit und Übertragbarkeit der dabei gewonnenen Ergebnisse bleibt aber stets offen. Gilt das, was man am Beispiel der Stadt X im dortigen Park Y herausgefunden hat, für alle Parkanlagen Deutschlands zumindest desselben Typus? Geprüft wird das selten. Kurzum: Ein ganzes methodologisches Sündenregister wird gegenüber solchen und ähnlichen Untersuchungen aufgemacht. Nutzersoziologie liefert also offenbar keine ‚hard facts’ wie die Bauphysik oder die Statik. Wichtiger als die bisher genannten Gründe ist aber wohl die Tatsache eines abermaligen Paradigmenwechsels in der Stadt- und Freiraumplanung gewesen. Da war zum einen die Ökologiebewegung in den 1980er Jahren, zum anderen die Renaissance der Garten- und Stadtbaukunst in den 1990er Jahren. Beide Strömungen - obwohl gegenläufig - hatten eines gemeinsam: das geringe Interesse an den möglichen Nutzern. Diese wurden vielmehr als Art von Gegnern gesehen, die aufgrund ihrer mangelnden ökologischen Einstellung bzw. ihres schlechten Geschmacks die Kreise der Naturschützer einerseits und der Stararchitekten andererseits nur stören. So gesehen, ist die ‚Nutzer-Soziologie’, die ja gerade von den Betroffenen ausgeht, in der Freiraumplanung derzeit sicherlich nicht in Mode, aber sie ist doch allgemein als irgendwie notwendig akzeptiert zumal etwa der Naturschutz inzwischen längst eingesehen hat, dass es ohne die Akzeptanz durch die Nutzer nicht geht. 1.4
Aufgaben der Soziologie in der Stadt- und Landschaftsplanung Ein weiterer Grund für die insgesamt jedoch eher nachlassende Bedeutung der Soziologie liegt sicherlich auch in ihrer begrenzten Planungsrelevanz. Zunächst ist festzustellen, dass sich die meisten Stadt- und Regionalsoziologen tatsächlich nur noch bedingt als unmittelbar planungsrelevant verstehen, schon gar nicht als Hilfswissenschaftler für die Planung (vgl. zur 14
Problematik der Zusammenarbeit von Soziologie und Planung schon früh: Siebel 1967; Schäfers 1970). Vielmehr befassen sie sich (genauso wie ein Bodenkundler, ein Kunstgeschichtler) mit Fragen, die aus der jeweils disziplinären Sicht interessant sind. Die Frage, ob diese auch eine praktische Planungsrelevanz haben (werden), interessiert eher nur am Rande und hätten die Planer selbst zu entscheiden. Nur bei entsprechenden Anfragen befasst sich die Soziologie heute mit unmittelbar planungsrelevanten Fragestellungen. Dabei haben sich die folgenden 6 Aufgabenfelder herauskristallisiert: x Bestands- und Problemanalysen Hier untersucht man gezielt Situationen, Phänomene, Verhaltensweisen, die aus Sicht der Planung Probleme darstellen z.B. Vandalismus, Stadtflucht, Wohnungsleerstand, Suburbanisierung. Die Soziologie soll Erklärungen liefern: Wie kommt es dazu? Welche gesellschaftliche Relevanz hat das (vermeintliche) Problem? x Zufriedenheits- und Wohnwunschbefragungen Hier lässt man gezielt nach den Wünschen und der (Un-) Zufriedenheit der Bevölkerung recherchieren. Wie groß ist das Kleingarteninteresse, wie groß die Zufriedenheit mit der Wohnung, dem Wohnumfeld; was fehlt? Wo liegen - aus Sicht der Bevölkerung - die Probleme? x Ideologiekritik Zu jeder Zeit herrschen im Planungsgeschehen gewisse Ideologien, Sichtweisen, Erklärungsmuster und Zielvorstellungen vor. Aufgabe der Soziologie ist hier, die Tragfähigkeit dieser Konzepte zu untersuchen. Inwiefern sind sie einseitig, wissenschaftlich begründbar, wem nützen sie mehr, wen oder was benachteiligen sie? Solche Ideologien waren und sind alles Konzepte, die zur Zeit ihrer ‚Gültigkeit’ mehr oder weniger unkritisch für wahr und richtig gehalten werden, die man aber - rund 10 Jahre später - schon wieder in einem ganz anderen Licht sieht. x Entscheidungsprozess-Analysen Hier untersucht man, wer eigentlich im Planungs- und Entscheidungsprozess das Sagen hat. Wessen Interessen werden überhaupt thematisiert, welche setzen sich durch? Welchen Einfluss haben die verschiedenen Ämter, welchen die verschiedenen Interessen- und Bevölkerungsgruppen? Wie lässt sich der Planungsprozess demokratischer organisieren? x Implementationsforschung Planung basiert häufig auf Förderprogrammen. Gefördert werden Wohnumfeldverbesserungs- und Sanierungsmaßnahmen, der Eigenheimbau, 15
Maßnahmen zur Energieeinsparung usf.; häufig haben diese Förderprogramme nicht den gewünschten Erfolg. Die Soziologie untersucht dann die Ursachen für die unzureichende Umsetzung (zu wenig Zuschüsse, zu wenig Öffentlichkeitsarbeit, personelle Engpässe usf.). x Evaluationsforschung Planungsmaßnahmen verfolgen bestimmte Ziele, sollen bestimmte Probleme lösen. Nahe liegt eine Erfolgskontrolle: Sind die erwarteten Erfolge eingetreten, haben sich unerwünschte Nebeneffekte ergeben? So selbstverständlich eine solche Evaluierung von Planungsmaßnahmen an sich sein sollte, so selten erfolgt sie. Erfolgreich ist eine Planung, wenn kein Protest laut wird. Ob der neugeschaffene Kinderspielplatz bespielt wird, sich die Leute in der neugeschaffenen Siedlung wirklich wohl fühlen, ist meist ohne Belang. So lange man nichts Gegenteiliges hört, war die Planung hinreichend erfolgreich. Implementations- und Evaluationsforschung lassen sich in gewisser Weise zur Akzeptanzforschung zusammenfassen, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat: Wie kommt das, was man vorhat, bei der Bevölkerung an, ist mit Widerstand zu rechnen? 1.5
Probleme der Zusammenarbeit im Entwurfsprozess Wenn man genau hinsieht, handelt es sich bei den genannten Aufgabenfeldern um Untersuchungsbereiche, die zwar für den Planungs- und Entwurfsprozess Informationsmaterial liefern (können), aber eine unmittelbare Einschaltung von Soziologen im Arkanbereich der Planer und Architekten, im Entwurf, findet da nicht statt. Warum eigentlich nicht? Anfang der 1970er Jahre, als die Soziologie Einzug in das Planungsgeschehen hielt, da gab es auf Seiten der Architekten und Planer durchaus die Erwartung, in unmittelbarer Kooperation mit dem Soziologen zu entwerfen, im engeren Sinne eines baulich-räumlichen (Gestaltungs-) Entwurfes. Schnell erwies sich das jedoch für beide Seiten als frustrierend. Dafür gibt es die verschiedensten Gründe: Der Planer ist in erster Linie ein ‚Macher’; er soll Vorschläge machen, wie man ein Problem lösen kann. Die Soziologie hat einen viel indirekteren Handlungsbezug: Man ist Wissenschaftler, man untersucht Probleme, erklärt sie. Man möchte auch mithelfen, sie zu lösen, aber primär ist die Analyse, beim Planer die Lösung. Als ‚Problemlöser’ sagt der Planer, wie etwas gemacht werden soll. Er macht normative Aussagen: So soll der Kinderspielplatz aussehen, so das Wohnungsumfeld, so der Park. Der Wissenschaftler (und insoweit auch der Soziologe) arbeitet - das ist sein wissenschaftliches Ethos - möglichst wertfrei. Seine (Be-)Wertung einer Sache ist egal, er soll Fakten liefen, ob ihm 16
die Ergebnisse passen oder nicht. Insoweit tut er sich schwer, im Entwurfsprozess Farbe zu bekennen. Er berichtet, dass 60% der Befragten gegen einen Spielplatz im Innenhof sind, aber alle befragten Eltern mit Kindern dafür. Die Entscheidung, ob nun ein Spielplatz angelegt wird oder nicht, ist eine Bewertung und Beurteilung, die letztlich nicht wissenschaftlich, sondern nur ethisch-politisch begründbar ist - und da hat der Soziologe keine größere Autorität und Kompetenz als jeder andere Planungsbeteiligte. Den Planer interessiert darüber hinaus im Entwurfsprozess nur der spezielle Fall, den er gerade bearbeitet. Den Soziologen als Wissenschaftler interessiert der Einzelfall dagegen sehr wenig. Er sucht nach Regelmäßigkeiten, Verallgemeinerungen. All seine Erkenntnisse gelten ‚im allgemeinen’, nicht notwendigerweise im vorliegenden Einzelfall, der ein Sonderfall sein könnte. Da nun soziologische Erkenntnisse - trotz aller gegenteiliger Bemühungen nur einen stark eingeschränkten Allgemeingültigkeitsanspruch erheben können (anders als naturwissenschaftliche Erkenntnisse), wäre es aus soziologischer Sicht höchst fahrlässig, Erkenntnisse solcher Art ungeprüft auf den konkreten Planungsfall anzuwenden. Der Soziologe wäre also stets gezwungen, seine allgemeingültigen Erkenntnisse am Planungsfall zu überprüfen. Das setzt aber wiederum konkrete Untersuchungen am vorliegenden Objekt voraus, wofür im Entwurfsprozess meist keine Zeit bleibt. Mangelnde Verlässlichkeit besteht auch in anderer Hinsicht: Der Soziologe kann nur das untersuchen, was vorliegt: Vergangenheit und Gegenwart. Die Zukunft kann er sich nur über Prognosen erschließen. Der Architekt und Planer ist aber in erster Linie gegenwarts- und zukunftsorientiert: er plant für die Zukunft: Wird mein Entwurf auch noch in zehn Jahren tragfähig sein? Mit diesbezüglichen Prognosen tut sich aber auch die Soziologie schwer. Sie mögen etwas fundierter sein als das Wunschdenken des Architekten und Planers, aber in gar keinem Fall liefert die Soziologie eine Zukunftsgarantie für die Entwurfslösung. Der Architekt versucht, das vorliegende Problem mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu lösen, d.h. er versucht, es baulich-räumlich zu lösen. Die bei ihm in Auftrag gegebene ‚kinderfreundliche und/oder altengerechte Wohnsiedlung’, der ‚sichere Park für Frauen’, die ‚ökologische Kleingartenkolonie’, all das wird er baulich-räumlich lösen müssen: Spielplätze, Sitzbänke, Rollstuhlrampen, mehr Laternen im Park, kein unsicheres Gebüsch usf., aber er weiß (und in jedem Fall würde es ihm der Soziologe sagen), dass Kinderfreundlichkeit, Altengerechtigkeit, Sicherheit im Park, eine ökologische Kleingartenkolonie nicht mit seinem baulich-räumlichen Planungsrepertoire herstellbar ist, allenfalls ein bisschen befördert werden könnte. Der Architekt denkt bei der Lösung von Problemen sofort räumlich, der Soziologe eher gesellschaftlich. Der Soziologe tut sich schwer, sich auf die 17
im Entwurfsprozess geforderte Reduktion eines seiner Ansicht nach gesellschaftlichen Problems auf ein räumlich-gestalterisches einzulassen. Dieses Problem der Reduktion von Komplexität im Entwurfsprozess betrifft nicht nur die Verräumlichung eines gesellschaftlichen Problems, sondern ist auch noch im räumlich eingeschränkten Rahmen des Entwurfs wirksam. Ein Soziologe könnte dem Architekten - wenn man ihn ließe - mit einer Vielzahl von Informationen dienen: er könnte das Entwurfsproblem (und zwar jedes Detail!) aus der Sicht der verschiedenen Bevölkerungsgruppen untersuchen: Die Kinder wollen das, die Jugendlichen das, die Rentner es so, die Hausfrauen noch irgendwie anders. Mit jeder Information erhöht sich die Komplexität des Problems und damit die Schwierigkeit des Architekten, zu einer Lösung zu kommen. Ist es da nicht verständlich, dass der Architekt nur an einer Art von Grobinformation interessiert ist? Ja, lässt es sich nicht mit bestimmten Vorurteilen, Vereinfachungen, Moden im Kopf viel besser, freier, kreativer entwerfen als mit einer Unzahl z.T. widersprüchlicher Informationen, die ein Soziologe liefern würde? Wenn es heute nicht mehr die Funktion planungsbezogener Soziologie ist, im Entwurfsprozess unmittelbar beratend tätig zu werden, so liegt das auch nicht zuletzt daran, dass es ungemein schwierig ist, die Wirkung des Raumes auf menschliches Verhalten eindeutig zu bestimmen. 1.6
Der sog. architektonische Determinismus und seine Überwindung Menschliches Verhalten ist - wie noch ausführlich zu zeigen sein wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst: Es ist abhängig von den entsprechenden Bedürfnissen und Motiven, den gesellschaftlichen Normen und Werten, vom Alter, dem Gesundheitszustand, der Bildung der Personen, von der räumlichen Situation. Und es gab nun eine Position, die von einer starken Prägekraft des Raumes, der gebauten Umwelt, des Ortes auf menschliches Verhalten ausging. Aussagen wie x „Zuerst bauen die Menschen Häuser, dann formen die Häuser die Menschen“, x „Unsere Städte und unsere Wohnungen wirken wie Prägestöcke für unser Verhalten und Leben“, x „Man kann auch Menschen mit einer Wohnung totschlagen“ oder die These von der Abhängigkeit der Kriminalität von der Geschosshöhe eines Hauses (Newman 1972) suggerieren eine ziemlich starke, z.T. sehr weitreichende und vor allem ziemlich direkte Kausalbeziehung zwischen Raum und Verhalten. Newman hatte in seinem Buch „Defensible Space“, dem eine entsprechende Untersuchung in New York zugrunde lag, herausgefunden, dass die 18
Zahl der begangenen Diebstähle und Raubüberfälle mit der Geschosshöhe der Wohngebäude einherging. Kamen in Wohngebäuden mit einer Geschosshöhe von 3 Etagen 2 Delikte pro Jahr auf 1.000 Bewohner, waren es in Wohngebäuden mit 20 Geschossen über 11 Delikte (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Der sog. architektonische Determinismus - Defensible Space (Newman) Anzahl der Diebstahlsdelikte in Abhängigkeit der Geschosshöhe
Anzahl der Diebstahlsdelikte auf 1.000 Bewohner
14
12
11,5 10
10
8
6
5,5 4,6
4
2
2
0 3 Geschosse
6 Geschosse
8 Geschosse
14 Geschosse
20 Geschosse
Zugleich war ein markanter Unterschied zu erkennen hinsichtlich der Orte, wo die Misshelligkeiten stattfanden: über 50% der Delikte ereigneten sich nämlich nicht in den Wohnungen, nicht im Siedlungsgrün, sondern in den öffentlich zugänglichen Erschließungsräumen der Gebäude, also in Fluren, Fahrstühlen, Treppen usf.; in den niedriger geschossigen Häusern betrug der entsprechende Anteil nur 17%. Newman schloss daraus, dass von Hochhäusern eine kriminalitätserzeugende Wirkung ausgehe, weil es dort mehr Räume gebe, die sich für Diebstähle, Vandalismus usf. eignen würden, da sie nicht einsehbar seien. Er meinte, diese Aussage um so mehr treffen zu können, als er den Nachweis vorlegen konnte, dass die Deliktsunterschiede nicht auf unterschiedliche Bevölkerungsstrukturen in niedrig- und hochgeschossigen Wohngebäuden zu19
rückzuführen seien. Ihm war es tatsächlich gelungen, zwei benachbarte Wohngebiete zu finden, die sich in der Sozialstruktur kaum unterschieden: gleicher Anteil von Weißen, von Puertorikanern, von unvollständigen Familien, von Kindern, von Sozialhilfeempfängern usf.; nur in einem unterschieden sich die beiden Siedlungen: in der Geschosshöhe. Und siehe da: sowohl in punkto Kriminalität in der Siedlung als auch in punkto Reparaturbedarf an den Gebäuden übertraf die hochgeschossige Siedlung die Vergleichssiedlung ganz deutlich. Diese Untersuchung schien die Vorstellung vieler Architekten, Städteplaner und Kommunalpolitiker zu bestätigen. Die waren schon vorher im Rahmen der sog. Wohnungsreform- und städtebaulichen Sanierungsbewegung von der Devise ausgegangen „remove the slums and you remove the social ills“ (vgl. hierzu Dean 1966). Gerade Architekten, Planer und Sozialreformer neigen bzw. neigten dazu (wahrscheinlich um ihren Vorschlägen eine größere Überzeugungskraft zu verleihen), oft sehr weitreichende soziale, natürlich heilsame Folgen ihrer Vorschläge zu postulieren. So wurden etwa dem Eigenheim mit Garten (vgl. hierzu Tessin 1994: 45) so beachtliche Folgen nachgesagt wie: Eigenheimer würden vom Alkoholismus ablassen, mehr Kinder in die Welt setzen, das Familienleben würde aufblühen, sie würden lieber in den Krieg ziehen, weil sie nun ein Stück Heimaterde zu verteidigen hätten, sie würden gesünder leben, insgesamt sich staatstragender verhalten. Keine dieser angeblichen Folgen ist je empirisch überprüft worden, und selbst wenn sich zeigen ließe, dass Eigenheimer in der Regel mehr Kinder in die Welt setzen als Wohnungsmieter, dann bliebe immer noch die Frage offen, ob das Eigenheim daran schuld ist oder andere mit dem Eigenheim korrelierende Eigenschaften der Besitzer wie Einkommen, Alter, Berufstätigkeit der Frau usf. Oder könnte es gar sein, dass Paare, die gerne Kinder haben möchten, das Eigenheim der Mietwohnung vorziehen, also Ursache und Wirkung gerade umzudrehen wäre? Also nicht „Kinder wegen des Eigenheims“, sondern „Eigenheim wegen der (geplanten) Kinder“! Und selbst wenn man das Eigenheim für ursächlich hielte, wäre immer noch zu klären, ob es die baulich-räumlichen Aspekte des Hauses mit Garten wie Grundriss, Größe des Kinderzimmers, Garten usf. sind oder mehr soziale Aspekte wie Langfristigkeit der Wohnperspektive, Gefühl der Sicherheit, weniger Ärger mit Nachbarn bzw. der Hausverwaltung, ‚bessere’ Gegend. Die heute eher vorherrschende Skepsis gegenüber der Position des sog. architektonischen Determinismus, der von relativ starken, z.T. weitreichenden und vor allem ziemlich direkten Abhängigkeiten des Verhaltens von der gebauten Umwelt ausgeht, speist sich einerseits aus der Grunderkenntnis der philosophischen Anthropologie über die ‚Weltoffenheit’ des Menschen (Scheler, Gehlen) und andererseits aus Erkenntnissen aus den verschiedensten Bereichen. 20
Was die ‚Weltoffenheit’ des Menschen anbetrifft (Scheler, Gehlen), so ist damit gemeint, dass der Mensch (im Gegensatz zum Tier) nicht auf eine artgemäße Umwelt, ja, auf einen Teilausschnitt der Umwelt festgelegt ist, sondern er der Welt ‚offen’ gegenübertritt. Seine Wahrnehmung der (Um-) Welt ist nicht eingegrenzt auf die Bedingungen des biologischen Sicherhaltens wie etwa bei Tieren, die auf bestimmte Umweltsignale instinktiv reagieren, sondern er verhält sich zur Welt, er vermag die Umwelt zur Gegenständlichkeit zu erheben, ja, er konstituiert sie sich (vgl. hierzu Kap. 7 und 8). Er ist ‚frei’, aber zugleich auch gezwungen, sich zur Umwelt zu verhalten. Dieses Bild vom Menschen und seiner Weltoffenheit bzw. seiner nur sehr bedingten Umweltabhängigkeit wird tendenziell gestützt durch die doch vielleicht etwas überraschende Erkenntnis, dass in den Humanwissenschaften (Psychologie, Soziologie, Medizin, Literaturwissenschaft, Volkswirtschaftslehre), der räumliche Bezug lange Zeit kaum eine Rolle spielte. Zwar gibt es in jeder dieser Wissenschaften inzwischen Spezialdisziplinen, die das Thema aufgreifen, diese spielen aber für das jeweilige Verständnis von menschlichem Verhalten (künstlerisches Schaffen, Gesundheit und Krankheit, soziale Beziehungen etc.) nur eine unbedeutende Rolle (marginaler Raumbezug in den Humanwissenschaften). Dann ein zunächst überraschendes Forschungsergebnis aus der Frühzeit der Industrie- und Betriebssoziologie, den 1920er Jahren, das sog. Hawthorne-Experiment. Man hatte in einem Betrieb zwei Gruppen von Arbeitern gebildet, eine Test- und eine Kontrollgruppe, die beide dasselbe zu tun hatten. In einer bestimmten Phase des Experiments hatte man die Kontrollgruppe unter den gewohnten Beleuchtungsverhältnissen weiter arbeiten lassen, während die Testgruppe bei wechselnden Lichtstärken arbeitete. Zunächst wurde die Lichtstärke in regelmäßigen Abständen erhöht. Der Erfolg war wie erwartet: die Arbeitsleistung stieg. Unerwartet aber war, dass zugleich die Arbeitsleistung der Kontrollgruppe trotz unveränderter Beleuchtung anstieg. Vollends ratlos waren die Veranstalter des Experiments, als sie dann wieder die Beleuchtung im Testraum bis auf die Stärke einer Meterkerze abschwächten und dennoch die Arbeitsleistung bei der Testgruppe wie auch bei der noch immer unter gleichen Bedingungen arbeitenden Kontrollgruppe weiter anstieg. Alle Theorien über den Zusammenhang zwischen Beleuchtung und Arbeitsleistung schienen hinfällig. Durch weiteres Nachforschen stellte sich heraus, dass alle Arbeiter ihre Arbeitsleistung deshalb gesteigert hatten, weil ihnen die Durchführung des Experimentes den Eindruck vermittelt hatte, nun endlich würde sich die Geschäftsleitung um sie kümmern, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern trachten. Aus diesem Gefühl gleichsam der Dankbarkeit heraus hatten alle das ‚ehrliche Bemühen’ der Geschäftsleitung durch höheren Arbeitseinsatz honorieren wollen. Deutlich war geworden, dass mit einem einfachen Reiz-Reaktions-Modell die Abhängigkeit menschlichen Verhaltens von räumlichen Bedingungen nicht zu erklären ist. 21
Diese Erkenntnis setzte sich denn auch schnell als Folge stadtsoziologischer Untersuchungen durch. Im Rahmen einer Studie (Tessin u.a. 1983), die die Folgen eines durch Sanierung erzwungenen Wohnungswechsels zu analysieren hatte, stellte sich z.B. heraus, dass die Entwicklung der Nachbarschaftsbeziehungen in der neuen Wohnung generell ein langwieriger Prozess (und nach 5-10 Jahren noch nicht abgeschlossen) war, dass es aber nahezu unerheblich war, ob die betroffene Familie in einen Altbau oder Neubau, in den ersten oder neunten Stock eines Gebäudes gezogen, in der Nähe der alten Wohnung geblieben bzw. an den Stadtrand verschlagen worden war (vgl. hierzu auch die Untersuchung von Zapf, Heil, Rudolph 1969). Dagegen kristallisierte sich als dominante Einflussgröße auf die Entwicklung des Nachbarschaftsverhältnisses in der neuen Umgebung die Intensität der alten nachbarlichen Beziehungen heraus: Offensichtlich gibt es nachbarschaftliche Verhaltensdispositionen, aufgrund derer die Individuen auch in unterschiedlichen Milieus jeweils ähnliche Nachbarschaftsbeziehungen anstreben und mittelfristig wohl auch realisieren. Oder um einen anderen Aspekt zu behandeln: So fasst Meier (1985) seine Untersuchungen zur Jugendkriminalität in Neubausiedlungen wie folgt zusammen: Sie sei ganz überwiegend eine Folge sozialstruktureller Bedingungen. Die Baustruktur des Gebietes könne insgesamt nicht als die treibende Kraft angesehen werden, die Kinder und Jugendliche zu kriminellem Verhalten bewegt. Wohnungsdichte, Gebäudedichte und die Ausstattung mit Wohnfolgeeinrichtungen könnten die Effekte von Merkmalen der Sozialstruktur intensivieren, ohne diese sind sie im Hinblick auf kriminelles Verhalten bedeutungslos. Eine Formel wie die von der ‚kriminalitätserzeugenden Architektur’, wie sie Newman (1972) in seiner bekannten Studie „Defensible space“ aufstellte und auf die schon eingegangen wurde, ließ sich nicht aufrechterhalten (vgl. hierzu auch Rolinski 1980). Fast noch ausschlaggebender als die vielen, den Einfluss des Raumes auf menschliches Verhalten relativierenden Ergebnisse war die dabei gewonnene Einsicht in die hohe Komplexität menschlichen Verhaltens, die es methodisch bisher nahezu unmöglich machte, den Einfluss des Raumes auf menschliches Verhalten exakt zu bestimmen. Der Raum ist nur ein Faktor aus einer Vielzahl anderer Faktoren, die menschliches Verhalten beeinflussen, und es ist in der Forschungspraxis fast unmöglich, den räumlichen Faktor zu isolieren. Wollte man beispielsweise den Einfluss der Wohnung auf das Kinderspiel untersuchen, dann bräuchte man idealiter eine Vielzahl von Familien, die sich in punkto Kinderzahl, Erziehungsstilen, Einkommen und vieler weiterer Faktoren gleichen und sich nur in einem Punkt unterscheiden, etwa hinsichtlich der Größe der Wohnung, des Vorhandenseins eines Kinderzimmers usf.; das ist praktisch nicht zu bewerkstelligen.
22
Neben diesen methodischen Bedenken hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Frage des Einflusses des Raumes auf das menschliche Verhalten nicht pauschal gestellt und beantwortet werden kann, sondern immer nur in Bezug auf spezifische Verhaltensweisen bzw. einzelne Aspekte des Verhaltens (keine Generalisierbarkeit). Es lassen sich nämlich Verhaltensweisen unterscheiden, die sehr stark abhängig sind von bestimmten räumlichen Gegebenheiten, gar an sie gebunden sind, wohingegen andere weitgehend ‚enträumlicht’ sind. Die Gartentätigkeit ist z.B. an das Vorhandensein eines Gartens gekoppelt, das Schwimmen an eine entsprechende Badegelegenheit (Schwimmbad, Fluss, See oder Meer). Das Zeitungslesen oder Tagträumen ist demgegenüber weniger an einen konkreten Raum gebunden. Aber könnte es nicht sein, dass selbst diese Aktivitäten durch den spezifischen Ort, an dem sie stattfinden, nicht doch gleichsam ‚atmosphärisch’ beeinflusst werden in dem Sinne, dass es hier besonders viel Spaß macht, dort besonders windig oder gemütlich ist, dass man im Park die Zeitung anders liest als in der Straßenbahn oder im Bett? Jedes Verhalten findet an irgendeinem Ort statt, und es ist höchst unwahrscheinlich, dass dieser Ort überhaupt keinen Einfluss haben sollte auf das, was und wie man es tut, wie lange und wie wohl man sich dabei fühlt. H.P.Bahrdt (1996:60ff) hat in einer posthumen Veröffentlichung dieses Phänomen als „Mitgegebenheiten“ einer Situation bezeichnet. Damit sind nicht oder nur schwach wahrgenommene Aspekte einer Situation gemeint, die mit dem eigentlichen Anliegen der Akteure in einer Situation nichts oder nicht viel zu tun haben (Bahrdt nennt als Beispiel die Straßenpassanten und die Häuser im Hintergrund, wenn man auf der Straße einem Freund begegnet und sich ihm zuwendet). Und hintergründig, unbewusst könnten diese Mitgegebenheiten einer Situation schon wirksam sein. Vor allem in punkto ‚Wohlfühlen’ wirkt der Ort fast immer und unmittelbar, selbst wenn er das ‚eigentliche’ Geschehen nicht zu beeinflussen scheint, worauf aber noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein wird (vgl. Kap. 6). Kurzum: wenn auch bestritten wird, dass eine strenge, direkte Kausalität zwischen Raum und Verhalten im Sinne eines einfachen Reiz-ReaktionModells besteht, so steht andererseits völlig außer Frage, dass jedes Verhalten durch den Ort, an dem es stattfindet, beeinflusst wird - und sei es in den subtilsten Nuancen.
1.7
‚A General Theory of Action’ Es gibt in Soziologie, Sozialpsychologie und Psychologie die verschiedensten Theorien über menschliches Verhalten. Es würde zu weit führen, sie hier alle aufzuführen. Ausgegangen werden soll jedoch von der „General Theory of Action“, die Parsons und Shils bereits 1951 vorgelegt haben (Par23
sons, Shils 1951). Die zentralen Variablen der General Theory of Action sind: „(a) der Akteur, das ist das Individuum oder Kollektiv, dessen Handeln untersucht bzw. erklärt werden soll; (b) die Handlungssituation, das ist die Umwelt des Akteurs, so wie sie von dem Akteur wahrgenommen wird (...); (c) die Orientierung des Akteurs zu der Situation (=Handlungsorientierung), das ist die Gesamtheit der Vorstellungen, Pläne, affektiven Besetzungen und relevanten Standards, die der Akteur mit der Situation verbindet. Diese Handlungsorientierung ist zu unterteilen in zwei analytisch unabhängige Dimensionen. Die erste dieser beiden Dimensionen ist die motivationale Orientierung, die sich bezieht auf jene Aspekte der Handlungsorientierung, die die tatsächlichen oder potentiellen Gratifikationen bzw. Deprivationen der Bedürfnisse des Akteurs betreffen. (...) Die zweite dieser beiden Dimensionen ist die Wertorientierung, die sich bezieht auf jene Aspekte der Handlungsorientierung, die den Akteur in Entscheidungssituationen veranlassen, bestimmte Normen, Standards und Auswahlkriterien zu beachten.“ (Langenheder 1975:28f) Soweit - kürzest gefasst - die General Theory of Action von Parsons und Shils aus dem Jahre 1951. Den folgenden Erörterungen zum Verhältnis von Freiraum und Verhalten liegt nun ein leicht modifiziertes Modell zugrunde: Wichtig ist dabei zunächst die Unterscheidung zwischen freiraumrelevanten Verhaltensdispositionen einerseits und freiraumrelevanten Verhaltensspielräumen andererseits. Das Freiraumverhalten ergibt sich einerseits aus den Verhaltensdispositionen, also dem, was ich (in Bezug auf den Freiraum) möchte (Spazieren gehen, Naturerleben etc.) und den Verhaltensspielräumen, also dem, was mir persönlich, räumlich, zeitlich, finanziell, normativ oder gar gesetzlich möglich ist. Unter Verhaltensdispositionen werden also jene Bedürfnisse, Instinkte, Wünsche, Einstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen zusammengefasst, die das Freiraumverhalten (von der handelnden Person her gesehen), sein freiraumverhaltensrelevantes Wollen bestimmen. Diese Verhaltensdispositionen sind nur zum kleinsten Teil angeboren, sondern überwiegend erworben, erlernt, anerzogen worden, und selbst dort, wo es sich im Kern um angeborene Verhaltensdispositionen handelt, sind sie fast immer gesellschaftlich überformt. Die Verhaltensspielräume bestimmen das (freiraumbezogene) Können, aber auch Sollen bzw. Dürfen. Kann ich freiräumlich das tun, was ich möchte? Der Einfachheit halber lassen sich vielleicht zwei Faktorenbündel unterscheiden, die diese Verhaltensmöglichkeiten bestimmen: 24
Zum einen das, was ich als Mitglied einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe in einer ganz bestimmten Gesellschaft zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt tatsächlich tun könnte: Es muss in der Gesellschaft bzw. in meiner Nähe Parks geben, um sie besuchen zu können, man braucht Zeit, vielleicht ein Fahrzeug, um irgendwohin zu kommen, ein gewisses Maß an Sensibilität, um etwas genießen, an Geld, um sich etwas (vielleicht einen Garten) leisten zu können. Meine individuellen, gruppen- und gesellschaftsspezifischen freiraumkulturellen Ressourcen eröffnen und verschließen mir ganz bestimmte Freiraumverhaltensweisen. Die eigenen Verhaltensspielräume werden aber auch abgesteckt durch die herrschenden sozialen Normen, Vorschriften und Gesetze, die den Rahmen des erlaubten und gesellschaftlich erwünschten Verhaltens sozial abstecken: das Schild ‚Rasen betreten verboten’, die allabendliche Abschließung des Parkgeländes, das Kopfschütteln bzw. Gespött meiner Mitmenschen, die mein Verhalten lächerlich oder unangemessen finden würden, weshalb ich es (vielleicht) unterlasse. Aber auch das eigene ‚schlechte Gewissen’ kann einen davon abhalten, etwas zu tun, was nicht erlaubt ist. Wenn hier so Verhaltensdispositionen und Verhaltensspielräume unterschieden und quasi gleichrangig nebeneinander gestellt werden, so ist klar, dass eine solche Trennung kaum möglich ist und die gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensspielräume immer schon in den Verhaltensdispositionen des Akteurs aufgehoben sind. Denn seine Bedürfnisse, Einstellungen und Werthaltungen, die er in einer konkreten Situation aktiviert, sind immer schon das Ergebnis seines bisherigen Lebens, eines Sozialisationsprozesses. Der Mensch lernt, seine Bedürfnisse, Einstellungen und Werthaltungen den gesellschaftlichen und individuellen Gegebenheiten anzupassen, wenn auch eine vollständige Deckungsgleichheit von Verhaltensspielräumen und Verhaltensdispositionen nie der Fall sein dürfte. Klar ist jedoch, dass die Verhaltensspielräume, die gesellschaftliche Realität den individuellen Verhaltensdispositionen vorrangig ist, letztere immer schon das Ergebnis eines vielfältigen gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses sind. Die Verhaltensspielräume und Verhaltensdispositionen werden nun nur insoweit verhaltensrelevant, als sie vom Akteur in einer konkreten Situation subjektiv wahrgenommen werden. Zwischen tatsächlichen und subjektiv wahrgenommenen Verhaltensmöglichkeiten besteht ein mehr oder weniger großer Unterschied. Verhaltensrelevant ist aber in jedem Fall nur der konkrete, subjektiv wahrgenommene Verhaltensraum, der sich vom ‚objektiven’ dadurch unterscheidet, dass manches vom Akteur einfach ausgeblendet wird, aber auch dadurch, dass manches vom Akteur (auch vom Planer) in den Raum sozusagen ‚hineininterpretiert’ wird (vgl. dazu die Kapitel 7, 8 und 9). Das freiräumliche Verhalten resultiert nun nicht als sozusagen blinder Reflex aus der je spezifischen subjektiv wahrgenommenen Konstellation von 25
individuellen Verhaltensdispositionen und Verhaltensspielräumen (der Mensch ist kein Pavlow’scher Hund), sondern aus einer mehr oder weniger bewussten Verhaltensentscheidung in Würdigung der eigenen Wünsche und Möglichkeiten. Das ist selten eine höchst rational-kalkulierende Entscheidung (der ‚homo öconomicus’ der Volkswirtschaftslehre ist ein bloß theoretisches Konstrukt), sondern oft eine blinde, gewohnheitsmäßige oder spontane Entscheidung. Aber ihr geht doch die mehr oder weniger bewusste, manchmal routinemäßige, fast instinkthafte Wahrnehmung und Würdigung der Verhaltenssituation voraus auf der Basis bestimmter Vorstellungen des Individuums, „wie und in welchem Maße bestimmte Objekte oder Situationen die Befriedigung der jeweils gegebenen Bedürfnisse ermöglichen oder behindern, und (...) welche Handlungen (Handlungsfolgen) mit welcher Wahrscheinlichkeit zur Erreichung einer bestimmten Situation (..) führen.“ (Langenheder 1975: 18) Herauskommt ein Freiraumverhalten, eine bestimmte freiraumkulturelle Praxis, die in der Regel deutlich hinter dem zurückbleibt, was freiraumkulturell an sich möglich wäre. Die Menschen schöpfen - enttäuschender Weise weder die eigenen noch schon gar nicht die gesellschaftlichen freiraumkulturellen Potenziale aus etwa in dem Sinne, dass Menschen mit einem Park oft genug nichts Anderes und Besseres anzufangen wissen, als dort ihren Hund spazieren zu führen. Diese Argumentation führt dann zum Ansatz des Freiraumkulturmanagements (vgl. Kap. 10), das den rein räumlich-gestalterischen Ansatz der Landschafts- und Freiraumplanung (sozialwissenschaftlich) zu überwinden trachtet, um die oft unausgeschöpften Verhaltensspielräume von Freiräumen und Freiraumbesuchern besser zu erschließen.
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2. Der Freiraum als Behavior Setting
2.1
Position und Rolle Zum gesellschaftlich vorgegebenen freiraumkulturellen Rahmen, den Verhaltensspielräumen, gehören - neben den räumlichen und materiellen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten - ganz wesentlich auch Norm- und Wertvorstellungen. Das eigene Verhalten ist in allen Bereichen eng verknüpft mit und abhängig vom gesellschaftlichen Norm- und Wertsystem und daraus abgeleiteten Verhaltenserwartungen seitens der sozialen Umwelt. Um diesen normativen Aspekt der Freiraumkultur (und damit des Freiraumverhaltens) soll es im Folgenden gehen. 1950 wurde in den USA das Buch "The lonely Crowd" von D.Riesman veröffentlicht, das schnell zum Bestseller avancierte. Riesman stellte die Behauptung auf, dass der ‚moderne’ Mensch sich nicht mehr in erster Linie von der Tradition leiten ließe, auch nicht mehr von seinem Gewissen, seinen Prinzipien, sondern er sich 'von außen' leiten ließe. Das gemeinsame Merkmal des außengeleiteten Menschen bestehe darin, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert werde, entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenmedien bekannt ist, das schließt Werbung mit ein. Das Konzept der Außenlenkung geht davon aus, dass wir uns viel weitgehender an den Verhaltenserwartungen unserer Umwelt orientieren, als es an sich erforderlich wäre. In unserem - so Riesman - übertriebenen Bestreben, beliebt, geachtet zu sein oder nur nicht auffallen zu wollen, würden wir unnötigerweise Verhaltensspielräume opfern, weil wir nicht 'anecken', Konflikten aus dem Weg gehen, 'dabei' sein, uns nicht blamieren wollen. Also verhalten wir uns so, wie die anderen es gern haben: wir schwimmen mit 'im Trend', tun, was 'in' ist, aber auch bloß was die Nachbarn (vermeintlich) wollen, und das ist bekanntlich nur zu oft ein Nachbar, vom dem man nichts hört und sieht (und riecht, was das Grillen im Innenhof bisweilen zur höchstrichterlichen Angelegenheit macht). Dieser Mechanismus der Außenlenkung, der sozialen Anpassung, basiert auf zwei miteinander verbundenen soziologischen Konzepten, der Theorie der Bezugsgruppe und der Rollentheorie. Die Theorie der Bezugsgruppe (vgl. hierzu Dahrendorf 1964; Hyman, Singer 1968) sagt, dass man sich an den 27 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Verhaltenserwartungen jener Leute, Gruppen oder Milieus orientiert, die für einen wichtig sind, zu denen man gehören und ‚gezählt’ werden möchte; die Rollentheorie sagt, dass man sich an jenen Verhaltenserwartungen orientiert, die an die eigene Position im jeweiligen Handlungskontext gebunden seien. Beide Ansätze ergänzen sich ganz offensichtlich. Jeder Mensch hält ja eine Unzahl von sozialen Positionen inne: er/sie ist Mann oder Frau, Student oder Arbeiter, Vater oder Tochter, Fußgänger oder Autofahrer, Parkbesucher oder Kinogänger, Gastgeber oder Besucher usf. An jede dieser Positionen sind mehr oder weniger klare Erwartungen geknüpft, wie man sich verhalten sollte. Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit der Vorstellung, menschliches Verhalten sei ein bloßes Rollenspiel, wir würden nur gesellschaftlich vordefinierte Rollen übernehmen. So weit geht die Rollentheorie (vgl. hierzu u.a. Wiswede 1977; Joas 1978; Scholz 1982; Haug 1994) jedoch auch nicht. Vielmehr wird nur davon ausgegangen, dass sich jeder Mensch in konkreten Situationen an diesen Rollen und Verhaltenserwartungen orientiert, die also nur eine Art von Handlungsrahmen setzen. Innerhalb dieses Rahmens kann jeder Mensch aber höchst individuell seine Rolle ausüben und prägen. Sicherlich gibt es Rollen, die sehr weit in ihren Verhaltensvorgaben gehen (etwa beim Priester), aber dafür auch andere, die einen großen individuellen Spielraum lassen. Die Funktion solcher positionsabhängigen Verhaltenserwartungen ist klar. Menschliches Zusammenleben wäre unmöglich, wenn sich jeder in jeder Situation spontan und beliebig verhielte. Man könnte mit keinem Verhalten mehr rechnen. Eine solche Offenheit einer Situation würde uns überfordern. Die positionsbedingten Rollen erleichtern also das alltägliche Leben, geben Verhaltenssicherheit und zwar sowohl für den Positionsinhaber wie auch für den Interaktionspartner. Jeder weiß, was er ‚au minimum’ zu tun hat. Zugleich eröffnet die Rolle die Chance, sich hinter ihr gleichsam zu verstecken, d.h. man kann sich, seine Individualität, Spontaneität, sein ‚ureigenstes Ich’, aufsparen für die Momente, wo einem das wichtig erscheint, und in den anderen Situationen seine Rolle spielen. Diese an die verschiedenen Positionen geknüpften wechselseitigen Verhaltenserwartungen sind nun nicht einfache Mutmaßungen über das positionsgemäße Verhalten, sondern normative Erwartungen. Die positionsbedingte Rolle ist nicht einfach eine Prognose („er wird sich wahrscheinlich so verhalten“), sondern eine Art Forderung („er sollte sich so verhalten“). Die Verhaltenserwartungen sind normativ und werden gesellschaftlich sanktioniert, belohnt und/oder bestraft, worüber später (vgl. Kap. 3.1) noch zu reden sein wird.
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Wie durch die Nennung der verschiedenen Positionen, die wir in unserem alltäglichen Leben quasi gezwungen sind auszufüllen, schon deutlich geworden sein sollte, ist die Art der Positionen sehr unterschiedlich und entsprechend unterschiedlich fallen auch die jeweiligen Verhaltenserwartungen aus, was natürlich auch zu Rollenkonflikten führen kann. Rollenkonflikte entstehen zunächst einmal dann, wenn die Verhaltenserwartungen unklar sind. Diese Unklarheit kann sich sowohl auf die Art des erwarteten Verhaltens wie auch auf die Normativität des Verhaltens beziehen: ist es nur erwünscht, erlaubt oder gar pflichtmäßig vorgeschrieben? Nehmen wir einen Hundebesitzer im Park, so ist er sich nicht immer ganz klar, ob er den Hund an der Leine führen muss oder nur sollte, die Häufchen seines Hundes beseitigen muss oder sollte. Ab wann muss er dem Hund das Bellen verbieten, wo fängt Ruhestörung an? Auf einer anderen Ebene liegen Rollenkonflikte, wo die an eine Position geknüpften Verhaltenserwartungen nicht mit den eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen übereinstimmen, also ein Mangel an Rollenidentifikation vorliegt. Im Kleingartenwesen kann man Derartiges gut beobachten: In einer entsprechenden Untersuchung (Andreä u.a. 1994) kam heraus, dass rund ein Drittel der Pächter sich mit zentralen Verhaltenserwartungen des Kleingartenwesens nicht nur nicht identifizieren, sondern diese sogar ablehnen (und teilweise auch nicht mehr befolgen). Die Erwartung, Obst und Gemüse anzubauen, sich aktiv am Vereinsleben zu beteiligen, sich an Gemeinschaftsarbeiten zu beteiligen, den Garten ordentlich und sauber zu halten, die Laube nicht zum Wohnen zu nutzen usf., all das wird von einem Teil der Kleingartenpächter inhaltlich nicht mehr mitgetragen. Rollenkonflikte entstehen auch dann, wenn eine Rolle nicht allgemein akzeptiert wird. Nehmen wir wieder den Hundebesitzer im Park: Auch wenn das Hundeausführen im Park gestattet ist, so dürfte es viele Parkbesucher geben, die das im Grunde nicht akzeptieren, weil sich gestört fühlen. Viele empfinden möglicherweise die Hundehaltung in der Stadt gar als Tierquälerei. Hundehalter werden ja in dieser Hinsicht häufig beschimpft und angefeindet; sie können sich also nie ganz sicher sein, ob ihr Tun im Park von allen akzeptiert wird. Ein ähnlicher Konflikt entsteht dann, wenn die an die Rolle gekoppelten Verhaltenserwartungen widersprüchlich sind. Nehmen wir z.B. den Kleingärtner, der einerseits laut Gartenordnung für eine ordnungsgemäße Gartenhaltung Sorge zu tragen hat, sich zugleich aber immer mehr ökologischen Verhaltenserwartungen ausgesetzt sieht z.B. von Leuten, die keine Kleingärtner sind, aber ihn in der Laube besuchen. Oder aber wieder der Hundebesitzer: einerseits wird von ihm erwartet (und sei es nur von seinem Hund), dass er das Tier artgerecht hält, d.h. ihm möglichst viel Frei- und Auslauf gönnt. Zugleich wird aber von ihm erwartet, dass die Menschen vom Tier nicht gestört werden. Ein klassischer Rollenkonflikt, wobei hier dann die 29
Bezugsgruppentheorie ins Spiel kommt. Es kommt dann für den Hundebesitzer oder Kleingartenpächter darauf an, welcher Bezugsgruppe er sich mehr zurechnet: fühlt er sich mehr als Kleingärtner oder als Naturschützer, mehr als ‚Tier’- oder mehr als ‚Menschfreund’. Je nachdem wird er die Verhaltenserwartungen der jeweiligen Bezugsgruppe übernehmen oder aber (Not gedrungen) ablehnen. Rollen werden bekanntlich erlernt; insofern kann es passieren, dass ein Positionsinhaber, nehmen wir wieder den Hundebesitzer, seine Rolle noch nicht richtig kennt, z.B. er den Hund nicht richtig beherrscht: schnell wird es zu Konflikten kommen, weil er die entsprechenden Erwartungen der Menschen nicht erfüllt. Der in den letzten Jahren propagierte, teilweise zur Pflicht gemachte Besuch von Hundeschulen deutet auf dieses Problem hin, ebenso wie die Kleingärtner sich ja auch nie ganz sicher sein können, ob ihre Gartenbewirtschaftung kleingärtnerisch korrekt ist und eventuell seitens der Vereinsvorstandes eine ‚kleingärtnerische Fachberatung’ angeraten wird. Gerade in den letzten Jahrzehnten konnte man die Beobachtung machen, dass innerhalb der Landschafts- und Freiraumplanung sozusagen pädagogische Ansätze Konjunktur hatten (vgl. hierzu noch Kap. 10.3), die alle darauf abzielten, den Besuchern etwa von historischen Gärten oder Naturschutzgebieten die entsprechenden Verhaltenserwartungen seitens der Denkmalpflege bzw. des Naturschutzes etwas näher zu bringen. Alle diese Schwierigkeiten bezeichnet man als Intrarollenkonflikte, weil sie sich auf die mit nur einer Position verbundenen Verhaltenserwartungen beziehen, sei man nun Hundebesitzer, Kleingartenpächter oder Besucher eines historischen Gartens oder Naturschutzgebietes. Nun agiert man in einer Situation aber bisweilen nicht nur in einer Position sondern oft in mehreren. Jemand kann z.B. sowohl mit seinem Hund wie auch mit seinem Kind einen Park aufsuchen. Er agiert also in der Rolle des Hundebesitzers wie der des Vaters. Das muss nicht automatisch zu einem Interrollenkonflikt führen, aber häufig tut es das eben; z.B. wenn das Kind von seinem Vater erwartet, mit ihm auf den Spielplatz zu gehen, dort aber ein Hundeverbot besteht. Solche Rollenkonflikte sind jedem geläufig. 2.2
Latente und manifeste Rollen im öffentlichen Freiraum Von der Unzahl an Positionen, die man in der Gesellschaft einnimmt, sind in einer konkreten Situation aber meist nur ein paar wenige verhaltensrelevant, die überwiegende Zahl von Positionen bleibt verhaltensunwirksam, weshalb die Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Rollen wichtig ist: x Manifest ist eine Position dann, wenn sie in einer konkreten Situation verhaltensrelevant wird, 30
x
latent, wenn sie dabei keine Rolle spielt. Welche Rollen eines Menschen in einer Situation verhaltenswirksam werden, hängt vom Charakter der Situation ab: Wie sehr kennen sich die Situationsteilnehmer, welche Positionen der anderen sind ihnen bekannt? In einem Dorf (früher zumindest) kannte jeder jeden. Man interagierte also etwa auf der Dorfstraße nicht nur als Verkehrsteilnehmer (wie vielleicht in der Großstadt), sondern zugleich auch als Bauer, Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, Vater von zwei Kindern, als Schwiegersohn von irgendwem, als früherer ‚Halbstarker’, als Fußballfan oder Autonarr. Der Dörfler muss in seinem Verhalten auf der Dorfstraße damit rechnen, dass sein Verhalten an diesen, jedem geläufigen Rollen gemessen wird. Ganz anders dagegen die Verhaltenserwartungen in einer Situation der anonymen Öffentlichkeit, wo keiner den anderen kennt, in der Fußgängerzone einer Großstadt etwa. Hier sind nur wenige Rollen verhaltenswirksam (manifest), eben jene, die in der Situation erkennbar sind: also die Rolle des Mannes etwa, vielleicht gar des ‚feinen Herren’ oder des ‚alten Mannes’, des Hundebesitzers; aber die allermeisten Positionen bleiben latent. Dass man zuhause Frau und fünf Kinder hat, hochverschuldet und/oder Abteilungsleiter ist, das ist verhaltensunwirksam, da es den anderen unbekannt ist. Zwar werden diese eigenen Rollen einen selbst vielleicht veranlassen, sich so oder so zu verhalten, aber es werden von den anderen Situationsteilnehmern keine entsprechenden Erwartungen gestellt, eben weil sie ja gar nicht wissen, dass man Familienvater ist. H.P. Bahrdt (1969) hat in seinem schon in den 1960er Jahren erschienenen Buch „Die moderne Großstadt“, auf das in einem anderen Zusammenhang noch einmal zurückzukommen sein wird (vgl. Kap. 9), dieses Verhalten in der öffentlich-anonymen Sphäre der Stadt, die es auf dem Lande, im Dorf, praktisch nicht gibt, als „unvollständig integriert“ bezeichnet. Zwischen den Situationsteilnehmern besteht kein dicht geknüpftes System von wechselseitigen Verhaltenserwartungen, sondern ein sehr rudimentär ausgebildetes. Eine solche Situation eröffnet - so Bahrdt - ungeahnte Verhaltensmöglichkeiten, weil man seine Positionen und Rollen in der jeweiligen Situation gleichsam neu definieren kann. Man kann in neue oder spezifische Rollen schlüpfen, die einem sonst (in einer Situation, wo jeder jeden kennt) nicht ‚abgenommen’ werden. Zugleich verlangt aber eine solche anonyme Situation auch nach darstellenden, repräsentierenden Verhaltensweisen, um den anderen Situationsteilnehmern kleine Orientierungshinweise zu geben in Bezug auf das, womit sie bei einem ‚rechnen’ können und vielleicht auch sollen. Durch Kleidung, Gestik und Mimik, durch ostentatives (Bahrdt spricht von darstellendem) Verhalten versucht man, den anderen das (Rollenset) zu verhüllen, was nicht verhaltenserwartungswirksam werden soll, und nur das zu zeigen, wovon sie sich im Umgang mit einem leiten lassen sollen. In einem 31
geschlossenen System, wo jeder jeden kennt (etwa im Dorf oder aber z.T. in der Nachbarschaft), ist ein solches Rollenspiel, wie gesagt, nicht möglich. Man ist gleichsam gefangen in einem engmaschigen Netz von manifesten Verhaltenserwartungen. Von den vielen Positionen, die jeder Mensch innehat, sind insbesondere das Alter und das Geschlecht - da in jeder Situation sofort erkennbar - für das Freiraumverhalten fast immer relevant. Wie an mehr oder weniger jedes persönliche Merkmal, so knüpfen sich nämlich auch an das Geschlecht gewisse Verhaltenserwartungen. Männlich, das ist einem nach wie vor gängigen Geschlechtsrollenklischee zufolge, eher aggressiv, aktiv, dominant, ehrgeizig, erfolgreich, grob, kompetent, leistungsorientiert, mutig, rational, selbständig, sorglos, stark, unternehmungslustig usf., weiblich, das ist nach wie vor eher ängstlich, beeinflussbar, emotional, empfindsam, freundlich, passiv, redefreudig, sozial orientiert, schüchtern, schwach, unterwürfig, unselbständig, verträumt, warmherzig, zärtlich usf. (Trautner 1991: 325). Diese Wesensunterschiede sind nicht so sehr das Ergebnis biologischer Unterschiede, sondern eines Prozesses, den man mit „sex-typing“ umschreibt, d.h. eines gesellschaftlichen Interpretationsprozesses dessen, was männlich oder weiblich sei und der gesellschaftlichen Erwartung, dass man sich dieser Interpretation zu fügen habe. Dieser Prozess des sex-typing beginnt von Geburt an, erreicht aber in der Lebensphase seine größte Prägekraft, wo die Kinder die Geschlechtsunterschiede zwischen sich erkennen und die unterschiedlichen Behandlungsweisen der Gesellschaft ihnen gegenüber richtigerweise als geschlechtsspezifisch deuten. Und allmählich verhalten sie sich diesen Erwartungen entsprechend und übernehmen ihre Geschlechtsrolle. Schon in der Kindheit zeigen sich daher Verhaltensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen, die Flade (1996: 19, unter Bezugnahme auf Spitthöver 1989) wie folgt zusammenfasst: Mädchen haben im Durchschnitt einen kleineren Bewegungsraum als Jungen, Jungen nutzen öfter das Fahrrad, Mädchen halten sich mehr in Wohnnähe, Jungen häufiger auf öffentlichen Plätzen auf, Jungen sind öfter draußen anzutreffen als Mädchen, Jungen setzen mehr ihre körperlichen Kräfte ein, ihr Spielverhalten ist rauer und raumgreifender. Die nach wie vor große Bedeutung der Geschlechtsrolle ist auch später im Erwachsenenalter an vielen Freiraumaktivitäten zu erkennen. Die Gartenarbeit ist zwar im Gegensatz zur Agrargesellschaft, wo sie überwiegend von den Frauen erledigt wurde (vgl. Terlinden 1990), heute gleichermaßen Männer- wie Frauensache, aber es hat sich doch eine ziemlich klare Aufgaben- und Arbeitsteilung herauskristallisiert (Tessin 1994: 156): 32
das Rasenmähen, Umgraben, Heckenschneiden für den Mann, das Blumenbeet, der Kräutergarten für die Frau (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Geschlechtliche Arbeitsteilung im Garten 100% 90% 80% 70% 60% F rau 50%
b e id e M ann
40% 30% 20% 10%
Blumen
Kräuter
Gemüseanbau
Kartoffelanbau
Kompost
Baumschnitt
Rasenpflege
0%
Als Gründe für diese Art der Arbeitsteilung wird von den Betroffenen vor allem darauf hingewiesen, dass das eine Frage der körperlichen Anstrengung, technisch-maschineller Erfahrung, spezieller Gartenkenntnisse, der Tradition und Gewöhnung, unterschiedlicher Vorlieben und der jeweils zur Verfügung stehenden Zeit sei. Dass all diese genannten Gründe nicht sehr zwingend sind, wird deutlich in Gärten, wo Männer oder Frauen die Gartenarbeit (aus welchen Gründen auch immer) allein verrichten (müssen): dann pflegen eben auch Frauen den Rasen bzw. Männer die Blumenbeete. Hier wirken offenbar traditionelle geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen noch immer nach. Ein anderes Beispiel: Frau und Sport (vgl. hierzu ausführlicher: Spitthöver 1989). Über Jahrhunderte hinweg bis in die 1960er, 70er Jahre hatten Frauen mit allen möglichen (männlichen) Vorurteilen gegen die weibliche Sportausübung zu kämpfen. Im 19. Jahrhundert wurde der Sport ja noch sehr in Verbindung von Körper- und Wehrertüchtigung gesehen, das ‚schwache Geschlecht’ brauchte nicht durch sportliche Ertüchtigung ‚stark’ gemacht zu werden. Verbreitet war die Furcht, dass die Ausbildung sog. männlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Mut, Durchsetzungsfähigkeit und Selbständigkeit die ‚natürliche’ Rangordnung der Geschlechter in Frage stellen könnte. Die Gegner des Frauenturnens führten z.B. ins Feld, „dass durch Springen und Beinspreizen die Sexualorgane der Mädchen aus ihrer Lage gebracht werden, dass Turnen einen ‚dicken Hals’, ‚breite Hände’, kurz ‚Mannweiber’ zur Folge hat, dass die Teilnahme von Frauen an 33
Turn- und Spielfesten ‚Schwächung des weiblichen Züchtigkeitsgefühls und Verminderung der Liebe zum stillen häuslichen Wirken’ bedeute.“ (Pfister 1980: 17) Aber diese Vorbehalte gegenüber der Sportausübung durch das ‚schwache Geschlecht’ reichen noch bis in unsere Tage, auch wenn allmählich die letzten Bastionen ‚rein männlicher’ Sportarten geschliffen werden. Vor allem die Kampfsportarten (wie Boxen und Ringen), wo ‚Mann gegen Mann’, sozusagen ‚Körper an Körper’ antritt, passen noch immer nicht recht zur Rolle der Frau in unserer Gesellschaft. Diese Vorstellung, die ‚ach so zerbrechlichen’ Frauen sollten keinem ‚feindlichen Körperkontakt’ ausgesetzt sein, ist wohl auch mit dafür verantwortlich, dass in körperrobusten Mannschaftssportarten wie Fußball, Eishockey oder Rugby auch heute noch der Frauenanteil sehr gering ist (Ausnahme: das Handballspiel), wohingegen im Volleyball, wo sich die gegnerischen Mann(Frau)schaften ja nicht körperlich ins Gehege kommen, der Frauenanteil fast genauso hoch ist wie jener der Männer. Topsportarten der Frauen sind allerdings nach wie vor Turnen, Tanzen, Reiten, Schwimmen, also Aktivitäten, die recht gut ins Rollenklischee der Frau passen. Wenn die weibliche Beteiligung an manchen Sportarten noch immer sehr gering ist, so hängt das sicherlich mit diesen tradierten Rollenerwartungen und der Angst vieler Frauen zusammen, als ‚unweiblich’ oder gar als ‚Mannweib’ in Verruf zu geraten. Befragt, worauf sie bei der Erziehung ihres Kindes besonderen Wert legen, antworteten 57% der befragten Frauen: bei einem Sohn, dass er sportlich ist! In Bezug auf ihre Tochter legten nur 33% der befragten Frauen Wert, dass sie sportlich sei (Opaschowski 1989: 33). Vor diesem (Erziehungs-) Hintergrund ist es dann nicht weiter verwunderlich, dass Frauen - geht man von einem engeren Sportbegriff aus - noch heute durchgängig weniger sportlich aktiv sind als Männer: 13% der Frauen treiben aktiv Sport, 24% der Männer (ebenda: 32)! Auch das Alter ist wie das Geschlecht als eine lebenslange Rolle von erheblicher lebenspraktischer Bedeutung. Für jede Altersstufe gibt es relativ fest gefügte Vorstellungen von einem altersgemäßen Verhalten. Die Altersund Geschlechterrolle beeinflussen durchgängig in fast allen Lebensbereichen und das lebenslang die Erwartungen unserer Umwelt; einfach weil sie in jeder Situation erkennbar, also manifest sind, wohingegen andere Positionen (wie z.B. Bildung, Familienstatus etc.) es nicht immer sind, vielmehr oft latent bleiben. 2.3
Barkers Theorem des Behavior Settings Nun werden nicht nur an bestimmte Positionen bestimmte Verhaltenserwartungen gestellt, sondern auch der Ort, an dem man sich befindet, erwartet 34
ein bestimmtes Verhalten: z.B. der Friedhof, das Schlafzimmer, der Park. Der jeweilige Raum kann gleichsam als ‚Institution’ angesehen werden. Eine Institution (z.B. die Ehe) ist so etwas wie ein Rollenbündel, eine gesellschaftliche Einrichtung, die auf Dauer bestimmt, wie man sich verhalten sollte. Dadurch, dass wir einen Raum oder einen Gegenstand als etwas, genauer: als gesellschaftliche Institution erkennen, als Park, als Stuhl, als Straße, als Wald usf., wird er verhaltensrelevant. Die Kirche, die wir betreten, wird nicht nur dadurch verhaltensrelevant, dass wir hier z.B. aufgrund fehlender räumlicher Gegebenheiten nicht Fußball spielen oder baden können, sondern auch dadurch, dass wir den Raum begrifflich als Kirche erkennen und uns deshalb den gesellschaftlichen Konventionen zufolge ruhig und andachtsvoll verhalten. Ein Naturschutzgebiet wird - wenn überhaupt - nur dann verhaltensrelevant, wenn wir diesen Landschaftsausschnitt als Naturschutzgebiet erkennen, was uns meist erst durch ein entsprechendes Hinweisschild gelingt. Also verändert sich unser Verhalten in ein und derselben Landschaft einfach dadurch, dass wir sie als Naturschutzgebiet erkennen und anerkennen oder eben nicht. Dass über die sprachliche Erfassung (Bezeichnung) eines Gegenstandes seine Handhabung und Wertschätzung, der Umgang mit ihm, quasi definiert wird, lässt sich auch an dem Bemühen im Rahmen der Ökologiebewegung zeigen, über eine neue Sprachreglung den Umgang mit bestimmten Pflanzen bzw. Grünflächen zu ändern. Aus ‚Unkräutern’ wurden ‚Wildkräuter’, aus ‚Gestrüpp’ wurde ‚Spontanvegetation’, aus Brachflächen ‚Stadtnatur’ (vgl. hierzu noch Kap. 8.1). Die Denkmalpfleger arbeiten oft auf dieser rein sprachlich-semantischen Ebene. Sie definieren ein altes Gebäude um in ein ‚Denkmal’ und ändern damit - sozusagen durch einen Federstrich - Nutzung bzw. Wertschätzung. Sicherlich ließen sich aus Baustellen, Schrottplätzen, Brachflächen durch eine ähnliche - rein sprachliche - Operation herrliche ‚Kinderspielplätze’ machen. All das ist gemeint, wenn man davon spricht, der Raum oder eine Sache wirke nicht nur in seiner bzw. ihrer räumlichmateriellen Beschaffenheit und Tatsächlichkeit, sondern immer zugleich auch als sozial konventionalisierter Raum, als kulturelle Institution. Die Markierung der Grenze eines Privatgrundstückes kann bekanntlich sehr unterschiedlich aussehen: ein Zaun, eine Mauer, eine dichte Abpflanzung, ein Schild. Wie auch immer gestaltet, wird die Markierung von uns als Grenze erkannt und auch anerkannt anders als von Tieren, die diese menschlichen Markierungen nicht als ‚Grenze’ erkennen und sich auch daran nicht halten (können). Auch Kinder scheren sich in ihrem Spiel nicht sehr um die einen Raum oder ein Ding betreffenden gesellschaftlich-sprachlichen Konventionen (vgl. z.B. Lerup 1986: 124): x ein Hausgarten wird zum ‚Wilden Westen’, x eine Sandkiste zu einem ‚Backwarenladen’, x ein Stück Holz zu einem ‚Schiff’, 35
x ein Zweig zu einem Schwert, einfach durch eine neue, phantasievolle Umdefinition eines Gegenstandes, die völlig neue Umgangsweisen mit ihm erschließt. Die traditionelle Kleingärtnerästhetik (vgl. Tränkle 1975) war bekanntlich groß darin, Dinge wie Flaschen, Reifen, Badewannen aus ihrem konventionellen Verwendungszusammenhang herauszulösen und für sie im Kleingarten neue Verwendungsweisen buchstäblich zu erfinden als Beetumgrenzungen (Flaschen), als Blumenampeln (Reifen), als Teiche (Badewannen). Räume und Dinge werden erst über ihre gesellschaftliche (sprachliche) Bezeichnung bzw. Umbezeichnung verhaltenswirksam. Diese unlösliche Verwobenheit der materiellen und gesellschaftlichen Dimension eines Ortes hat dazu geführt, die Frage nach der Verhaltensrelevanz von Räumen etwas zu modifizieren und von sog. „behavior settings“ (Barker 1968) zu sprechen, wo räumliche und soziale Aspekte zusammengefasst und zusammengesehen werden. Es wird davon ausgegangen, dass Räume als Behavior Settings von sich aus eine verhaltensregulierende Kraft besitzen und die jeweiligen Individuen zwingen, sich der dem Setting innewohnenden Ordnung und Gesetzlichkeit anzupassen, setting-konformes Verhalten zu zeigen. Das Wohn- oder Schlafzimmer, das Treppenhaus, die Straße, der Park, der Garten, all das sind Behavior Settings, Verhaltenskontexte, in denen sich Menschen einerseits innerhalb einer gewissen Bandbreite relativ unabhängig von den an sich räumlich vorgegebenen Möglichkeiten verhalten (es wäre viel mehr möglich!), andererseits aber doch auch wieder relativ stereotyp, also relativ gleichartig. Die Vorstellung, dass der Raum nie als bloß solcher, sondern als sozialräumliche Institution, als Behavior Setting verhaltenswirksam wird, lässt sich vielleicht gut demonstrieren an einer Untersuchung (Andreä u.a. 1994) zum Kleingarteninteresse der Bevölkerung in einer Großstadt (Hamburg). Da wurde sehr schnell klar, dass die Befragten den Kleingarten wie selbstverständlich gleichsam als Behavior Setting ansahen, den Kleingarten nicht nur in seiner spezifischen Räumlichkeit (Größe, Lage, Ausstattung) sahen, sondern immer zugleich als spezifisches gartenkulturelles Milieu. Gut 60% jener, die an sich an einem Garten interessiert waren, lehnten den Kleingarten nicht deshalb ab, weil er ihnen zu klein oder zu groß oder zu wohnungsfern ist, sondern weil ihnen das kleingärtnerische Behavior Setting nicht zusagt. Christopher Alexander (1995) hat versucht, diese Vorstellung in seiner schon in den 1970er Jahren entwickelten Architekturtheorie der sog. „Pattern language“ umzusetzen. Er schreibt: „Handlung und Raum sind unteilbar. Die Handlung wird durch diese Art von Raum getragen. Der Raum trägt diese Art von Handlung. Die beiden bilden eine Einheit, ein Handlungs-Pattern im Raum. (...) Die Menschen, die den 36
Gehsteig bevölkern, sind insoweit von ihrer Kultur geprägt, als sie den Gehsteig als Pattern begreifen. Es ist dieses Pattern, das sich in den Köpfen festgesetzt hat und das verursacht, daß sich die Menschen auf Gehsteigen so verhalten, wie man sich eben auf ihnen verhält.“ Das Behavior Setting eines Parks etwa ließe sich vielleicht wie folgt umreißen (vgl. Tessin 1986): x Aktivitäten wie Spazieren gehen, Spielen, Lesen, sich Sonnen, Picknicken usf. sind nicht nur gestattet, sondern sogar erwünscht. Tiere füttern dagegen eher nicht. x Obwohl der Park doch an sich eine Stätte der Erholung und Entspannung ist, scheint z.B. das offensichtliche Nichtstun, das Herumlungern unerwünscht zu sein. Man erwartet vom Parkbesucher, dass er einer sozial legitimierten Erholungsbeschäftigung nachgeht, nicht einfach im Park ‚herumhängt’. x Erwartet wird ein freundlich-distanziertes Verhalten der Parkbesucher untereinander. Die Kontakt- und Kommunikationsaufnahme bleibt entsprechend dem dominanten Interesse an Entspannung freundlich, oberflächlich, unverfänglich, jederzeit aufkündbar, heikle, potentiell kontroverse Themen sollten vermieden werden. x Soweit sich der Parkbesucher sportlich betätigen will, hat er darauf zu achten, dass es nicht in Leistungssport oder einen Wettkampf ausartet. Ein solches Verhalten würde für einen Sportplatz angemessen sein, nicht für einen Park, wo das spielerische Moment in jedem Fall überwiegen sollte. x Zwar sind die Zeiten längst vorbei, wo nicht ordentlich gekleidete Personen den Park nicht betreten durften, aber auch heute wird vom Parkbesucher noch eine gewisse Art von Bekleidung erwartet: vollständig sollte sie z.B. sein. Schon das Unterhemd, in der Arbeiterschaft ja durchaus früher eine gebräuchliche Freizeit- und Feierabendbekleidung, wird in öffentlichen Parkanlagen nicht als angemessene Bekleidung betrachtet, wohl aber - vive la petite difference! - das T-Shirt. Wenn man sich sonnen will, darf man sich auch im Badeanzug oder mit freiem Oberkörper auf der Parkwiese hinstrecken, aber es würde auch heute noch als unschicklich angesehen, in demselben ‚Aufzug’ im Park spazieren zu gehen. Andererseits würde man auch einen Smoking, vielleicht sogar schon einen Anzug als ‚overdressed’ ansehen, als nicht angemessen für einen Parkbesuch. Die erwartete Kleidung des Parkbesuchers ist locker, bequem, eben Freizeitkleidung. x Auch der Begriff ‚Parkbesucher’ signalisiert bereits das erwartete Verhalten: das eines Besuchers eben, eines Gastes. 37
x
Essen und Trinken, Schlafen, Sexualität u.a. sind in unserer Gesellschaft weitgehend ‚verhäuslicht’ (vgl. hierzu Gleichmann 1976), zum privatintimen Bereich institutionalisiert worden. Immerhin: ansatzweise sind diese Aktivitäten auch noch im Park gestattet, aber ihrer Ausübung sind doch enge Grenzen gesetzt: So darf es z.B. einem passieren, dass man gewissermaßen einnickt, aber man darf sich nicht ostentativ zum Schlafen hinlegen. Hinsichtlich des Essens ist an sich nur die Form des kleinen Imbisses gestattet. Schon das Picknick ist, auch wenn sich die Türken und Asiaten nicht daran zu halten scheinen, problematisch. Man denke nur an die vielen Kontroversen um das ‚Grillen’ im Park in den letzten Jahrzehnten: Hier wird um das Behavior Setting des Parks gesellschaftlich gerungen! Der Park ist zwar, wie man weiß, gerade auch für Verliebte da, aber mehr als Händchenhalten und das eine oder andere Küsschen ist nicht gestattet. x Auch die Verrichtung einiger hauswirtschaftlicher Aktivitäten im Park ist subtil geregelt: sehr schön lässt sich das z.B. an der sozialen Akzeptanz des Strickens demonstrieren und an der weit geringeren Akzeptanz des Stopfens: Stricken ist Freizeit, Hobby, Entspannung, das Stopfen von Strümpfen dagegen Hausarbeit. Die Wirksamkeit des Behavior Settings lässt sich auch daran belegen, wie Besucher auf Verstöße anderer gegen die Parkordnung reagieren. Im Rahmen einer Untersuchung zu Nutzungsschäden in historischen Gärten (Tessin, Widmer, Wolschke-Bulmahn 2001) stellte sich u.a. auch die Frage, wie die Besucher in drei historischen Gärten (Bremer Bürgerpark, Georgengarten Hannover Herrenhausen und Wörlitzer Park) auf sog. Nutzungsschäden reagieren (vgl. hierzu auch noch Kap. 3.3): Grafitti, Hundekot und Müll, Trampelpfade, ausgetretene Wegränder etc. Auch in historischen Gärten sind ja diese Erscheinungsformen von Nutzung, von Über- und Fehlnutzung zu beobachten. Wie reagieren die Besucher darauf? Die subjektive Be- und Verurteilung von Schadensarten war, wie nicht anders zu erwarten, tatsächlich deutlich abhängig vom jeweiligen Park, in dem man sich gerade aufhielt. Vor dem Hintergrund der Barker’schen Theorie des ‚Behavior Settings‘ ist es einleuchtend, dass man im weitgehend touristisch genutzten und als europaweite Sehenswürdigkeit angesehenen, für jeden klar als ‚denkmalgeschützt’ erkennbaren Wörlitzer Park insgesamt strenger über Nutzungsschäden urteilt als im quasi alltäglich genutzten Georgengarten oder dem Bremer Bürgerpark, und das liegt eben nicht nur am Ruf, an der Funktion der Parks (‚Besichtigungs- versus Benutzungsgarten‘), sondern auch an der entsprechenden Selbstselektivität der Besucher, bei denen es sich einerseits überwiegend um (gartenhistorisch ‚angehauchte‘) Touristen handelt, andererseits um Leute, die sozusagen alltäglich im Park sind und kein ausgeprägtes ‚Besuchs- und Besichtigungsverhalten‘ mehr an den 38
Tag legen. Die Besucher des Wörlitzer Parks orientierten sich also, um die Bezugsgruppentheorie aufzugreifen, stärker am ‚gartenhistorischen’ Bezugsystem. Es fiel auf, dass in Wörlitz in allen Schadensarten am ‚strengsten‘ geurteilt wurde, aber in bestimmten Bereichen urteilte man im Bürgerpark wie im Georgengarten kaum weniger streng als in Wörlitz. Die parkspezifischen Bewertungsunterschiede waren dort besonders gering, wo es sich um klare Gesetzes- oder Regelverstöße, ja, um eindeutig vandalistische Akte handelte, die völlig unabhängig vom jeweiligen Park gelten (geköpfte Statue, besprühtes Denkmal, zertretenes Blumenbeet, demolierter Abfalleimer). Auch herumliegender Müll und Hundekot werden parkspezifisch nur relativ geringfügig unterschiedlich (streng) beurteilt. Auch hier scheinen parkübergreifend geltende Verhaltensnormen zu greifen: Müll und Hundekot will man nirgendwo sehen - und in Parks (welcher Art auch immer) schon mal gar nicht. Das parkspezifische Norm- und Wertsystem macht sich vor allem dort bemerkbar, wo es sich um gesellschaftlich-normativ nicht ganz klar definierte Delikte handelt. Ob einen ein ausgetretener Wegrand, ein Trampelpfad, eine besprühte Parkbank stört und ärgert, das hängt schon davon ab, in was für einem Park man sich befindet, was dort üblich (geworden) ist (z.B. im Georgengarten von Hannover besprühte Parkbänke), was man dort will und wie viel ‚Nutzungsspuren‘ man dem Park zubilligt. Generell muss man aber sagen, dass die Behavior Settings der verschiedenen Freiräume im Zuge des Pluralisierungsprozesses und des Wertewandels in den letzten Jahrzehnten (vgl. hierzu noch Kap. 6.3) deutlich unklarer geworden sind. Es besteht oft kein mehrheitlich getragener Konsens mehr in der Frage, was sich ‚gehört’ und was nicht. So erbrachte eine Umfrage unter Parkbesuchern, welche Aktivitäten in einem Park verboten werden sollten, ganz beachtliche Bandbreiten der Ansichten, vor allem zwischen jüngeren und älteren Besuchern: Aktivität sollte verboten sein: Fahrradfahren 8-60% Picknicken 0-49% Grillen 17-86% Wiesenblumen pflücken 25-67% Rasen betreten 3-24% Hunde ausführen 18-30% Alkohol trinken 6-78% nackt herumliegen 11-85% Zweige schneiden 75-98% Füße auf der Bank 22-90% Theater- und Musikveranstaltungen 0-34% 39
Es gibt zwar noch ein paar Aktivitäten, die zumindest mehrheitlich verboten bzw. erlaubt werden sollten (Rasen Betreten, Hunde ausführen, Zweige abschneiden, Theater- und Musikveranstaltungen etc.), aber in anderen Bereichen (Fahrradfahren, Grillen, Alkoholverzehr, Füße auf der Bank) besteht absolute Meinungsvielfalt und nicht der Hauch eines noch mehrheitlich getragenen Konsenses. Allein durch die Tatsache, dass sich in Parks mehrheitlich meist eher ältere Menschen aufhalten, kommt es zu einem noch mehrheitlich getragenen Verhaltenskodex, an den sich aber die jüngeren Besucher (sofern sie denn überhaupt erscheinen) nicht sehr gebunden fühlen. Auch ist zu berücksichtigen, dass hier ganz allgemein nach der Verbotswürdigkeit von Aktivitäten in Parkanlagen gefragt wurde. Würde man dieselbe Frage in Bezug auf einen ganz konkreten Park stellen, käme man wahrscheinlich zu einem größeren Konsens. Denn neben einem freiraumtypspezifischen Behavior Setting (Park, Kleingarten, Stadtplatz etc.) gibt es natürlich ein Behavior Setting, das sich ganz konkret auf einen einzelnen Freiraum bezieht und sich über Jahre und Jahrzehnte dort herausgebildet hat. Durch genaue Beobachtungen des alltäglich-üblichen, institutionalisierten Verhaltens haben Architekten und Sozialwissenschaftler wie Oscar Newman (1972; „defensible space“), Christopher Alexander (1977; „pattern language“), Erving Goffman (1971; „Verhalten in sozialen Situationen“) oder in Deutschland beispielsweise Roland und Janne Günter (1979; „Elemente sozialer Architektur“) versucht, Regelmäßigkeiten im räumlichen Verhalten, also Behavior Settings zu entdecken und daraus Entwurfsvorschläge abzuleiten. Dabei stieß man, das klang eben schon an, aber auch auf Beispiele unklar definierter Behavior Settings. 2.4
Beispiele unklar definierter Freiräume So meinten z.B. die Günters (1979) die Entfaltung eines nachbarschaftlichen Lebens dann positiv beeinflussen zu können, wenn den Bewohnern durch entsprechende baulich-räumliche Vorkehrungen Gelegenheiten gegeben werde, sich legitimer Weise im Außenraum einer Siedlung etwas länger aufhalten zu können. Und sie nennen Geschäfte, Kioske, Müllcontainer, Gärten, Spielplätze usf. als Beispiele. Diese Befunde wurden bestätigt durch eine Untersuchung von Seyfang (1980: 176), dass Bewohner in mehrgeschossigen Wohnsiedlungen ihr Wohnumfeld insbesondere in Verbindung mit arbeitsähnlichen Tätigkeiten nutzen. Die Bewohner haben keinerlei moralische Schwierigkeiten, das Wohnumfeld aufzusuchen, um Kinder zu beaufsichtigen, Einkaufen zu gehen, Müll in den Container zu bringen, das Auto zu waschen usf., aber sich nichtstuender Weise, also ‚einfach so’, im Wohnumfeld aufzuhalten, gilt als irgendwie problematisch. Man fürchtet, in der Nachbarschaft als Faulenzer, 40
Arbeitsloser oder Nichtsnutz eingestuft zu werden. Das sog. Abstandsgrün in Wohnsiedlungen ist also insofern klar definiert, als es arbeitsähnliche Tätigkeiten definitiv zulässt, sie gehören eindeutig zum Behavior Setting des Abstandsgrüns. Unklar ist es jedoch in Bezug auf Verhaltensweisen definiert, die sich nicht diesem Muster zuordnen lassen. Definitiv ist der ‚nichtstuende’ Aufenthalt im Wohnumfeld für Erwachsene nicht verboten, aber er wird oft auch nicht ‚nahegelegt’ (etwa durch Bänke) - und schon entsteht Verhaltensunsicherheit. Ein anderes Beispiel für unklare Verhaltenserwartungen ist das, was seit längerem als sog. „broken windows-Theorie“ firmiert. Wilson und Kelling (1982, deutsch 1996) hatten im Rahmen von empirischen Untersuchungen herausgefunden, dass Vandalismus und andere Arten von Sachbeschädigungen in dem Maße zunehmen und sich beschleunigen, wie erste Spuren von Vandalismus in einer Gegend erkennbar sind: das erste zerbrochene Fenster, das erste Graffiti, der erste abmontierte Reifen an einem Auto führt schnell zu Folgetaten derselben oder ähnlicher Art. Begründet wird diese Tatsache mit Hinweis auf eine Art Hemmschwelle, die die meisten Menschen daran hindert, als erste etwas Sauberes, Schönes, Gepflegtes, etwas, was einem nicht gehört, kaputt oder dreckig zu machen. Ist aber erst sozusagen der Bann gebrochen, dann verliert man immer mehr die Scheu. Dabei spielt auch eine Rolle, dass ungepflegte und unreparierte Sachen ihrem Eigentümer nicht gar so wichtig scheinen, denn sonst würden sie dieselben ja sauber machen, reparieren, in Sicherheit bringen. Kommt seitens des Eigentümers keine entsprechende Reaktion, schließt der potenzielle Sachbeschädiger auf eine Gleichgültigkeit und quasi billigende Inkaufnahme des Eigentümers und die letzten Hemmschwellen fallen. Im Georgengarten, einem stark studentisch genutzten Park in Hannover, werden die vielen Trampelpfade und informellen Fußballfelder von den jeweiligen Akteuren so interpretiert, dass die Parkverwaltung nicht so sehr viel dagegen hat - und sie täuschen sich in dieser ihrer Einschätzung ja auch nicht. Im Rahmen der Neugestaltung des Landschaftsraumes am Kronsberg in Hannover, um ein weiteres Beispiel anzuführen, wurde eine Art Wiese angelegt, die von der Planern als ‚Allmende’ bezeichnet wurde. Der Begriff Allmende stammt aus dem 18. Jahrhundert und bezeichnet gemeindeeigene Grünflächen, die allen Bürgern zur Nutzung, meist zur Beweidung mit Vieh, offen standen. Die sog. Allmende am Kronsberg, ehemals als Acker genutzten Flächen, soll sich - so die Planung - zu einem artenreichen Magerrasen entwickeln. Nach einer gezielten Herstellungspflege sollte sie regelmäßig von einer Schafherde beweidet werden. Die Allmende ist somit zugleich auch landwirtschaftliche Nutzfläche. Andererseits steht die Allmende allen interessierten Nutzern offen. Besucher des Kronsbergs können und sollen die Grünflächen jederzeit als Spiel- und Aufenthaltsort nutzen. Soweit die Planungs41
konzeption. In den Jahren 2000 und 2001 wurden die Besucher hinsichtlich ihres Nutzungsverhalten in Bezug auf die Allmende befragt und beobachtet. Es stellte sich heraus, dass zwei von drei Besuchern nichts mit dem Begriff Allmende anfangen konnten, ihnen auch das entsprechende Behavior Setting nicht bekannt war. Die Mehrheit der Besucher hatte sich zum jeweiligen Zeitpunkt noch niemals auf der Fläche aufgehalten, allerdings hatte sich die Quote der Nichtnutzer von 68% auf 53% verringert. Befragt, warum sie die Allmende nicht nutzen würden, wurden die unterschiedlichsten Gründe genannt. Für den hier besprochenen Zusammenhang sind insbesondere jene Gründe relevant, die auf eine Unklarheit oder Undefiniertheit des ‚Behavior Setting Allmende’ schließen lassen. Immerhin jeder 3. Nichtnutzer der Allmende war sich unklar, ob man sie denn überhaupt betreten dürfe. Und ungefähr jeder 4. Nichtnutzer meinte, die Fläche sei nicht einladend genug: der Boden sei steinig, die Blumenwiese ungemäht oder zu schön, um plattgetreten zu werden, es gäbe keinen Schatten, man läge gleichsam auf dem Präsentierteller, es würden keine Wege in die Allmende hineinführen, man wolle die Schafherde nicht stören, allerdings auch nicht in Schafskot treten usf. Wenn man sich diese genannten Gründe anschaut, dann erkennt man ihren gemeinsamen Nenner: Die Fläche, so wie sie sich den Besuchern präsentiert, vermittelt der Mehrheit von ihnen nicht den Eindruck, ihre Benutzung sei von der Planungskonzeption her besonders gewollt. In weitgehender Unkenntnis des Allmende-Begriffs lässt sich der gemeinte Sinn der Fläche nicht einwandfrei entschlüsseln, das planerisch gewollte Behavior Setting der Allmende bleibt einem Großteil der Besucher (noch) unklar, und man reagiert mit Verhaltensverzicht. Zitat: „Unklar definierte lokale Situationen, in denen es z.B. nicht deutlich ist, ob sie der öffentlichen Sphäre der Straßen und Plätze zugehören oder doch eher als Hinterhöfe oder Gruppenreservat zu gelten haben, können auch Verhaltensunsicherheit erzeugen. Weil man nicht weiß, wie man sich in ihnen zu verhalten hat, und ob man an einem solchen Ort überhaupt was zu suchen hat, werden sie gern gemieden; sie verfallen der sozialen ‚Erosion‘ und können zu Ausgangspunkten der Desintegration werden, z.B. im Extremfall zum Sammelpunkt asozialer Elemente. Im Hinblick auf soziales Verhalten können unklar definierte Plätze, wenn man sie nicht meiden kann, auch zu einem ‚Sichgehenlassen’ verführen, d.h. zum Verfall des durch Alltagsnormen standardisierten Verhaltensstils beitragen.“ (Bahrdt 1969: 112) Im Fall der Allmende am Kronsberg ist dies aber nicht zu beobachten, vielmehr ist davon auszugehen, dass sich mit der Zeit ein bestimmtes Verhaltens-Pattern herausbilden wird (und sich tatsächlich bereits inzwischen herausgebildet hat).
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Es gab in der Landschafts- und Freiraumplanung in den 1970er und 80er Jahren die Position (vgl. hierzu etwa Böse 1981), offen oder unklar definierte Freiräume nicht als Verhaltensrisiko, sondern als Verhaltenschance zu sehen. Der Rückzug der Gartengestalter und Pflegekolonnen aus den öffentlichen Grünflächen würde - so die damalige Position - einer ‚Befreiung’ der Nutzung gleichkommen. Diese damalige sog. Kasseler Schule sah in den Grünflächenämtern so etwas wie eine ‚Besatzungsmacht’. Die Behörde würde gleichsam vorschreiben, wo man zu liegen (auf der Liegewiese nämlich), zu grillen (in der Grillecke natürlich), zu sitzen (auf den Parkbänken nämlich) und Boule zu spielen hätte und zwar nicht auf den Wegen sondern auf der extra dafür vorgesehenen Boulebahn. Und ansonsten sollte man nichts tun, was nicht irgendwie und irgendwo im Park planerisch vorgesehen sei. Ausstattungselemente wie Bänke, Wege, Spielgeräte, Hütten usf. beinhalten natürlich eine gewisse Verhaltensregulierung, sie geben für entsprechende Verhaltensweisen entsprechende Orte vor, aber es sind auch Hinweise, Angebote, Aufforderungen, die den einen oder anderen Besucher ermuntern sollen, dies oder jenes zu tun. Und natürlich zwingen sie zu gar nichts. Untersuchungen etwa in Parkanlagen zeigen ja immer wieder, wie wenig verhaltenserzwingend solche infrastrukturellen Vorgaben sind: Tischtennisplatten, Ballkörbe, Skateranlagen, Boulebahnen, all das wird - wenn überhaupt - stets nur von kleinsten Minderheiten benutzt; für die meisten Besucher sind sie verhaltensirrelevant. Für die Nutzer sind die Ausstattungselemente jedoch unverzichtbare Voraussetzung für die Verwirklichung ihres Verhaltenswunsches. Die Propagierung offener oder unklar definierter Behavior Settings setzt darauf, dass die Besucher die Chancen zur eigenen Raumdefinition ergreifen. Es bedarf aber dazu einer gewissen Definitionsmacht und einer entsprechenden Courage (vgl. hierzu auch schon Obermaier 1980). Einen nutzungsoffenen Raum in seinem Sinne zu definieren, möglicherweise im Gegensatz zu Definitionsversuchen anderer, kostet Überwindung und führt bisweilen gar zu Konflikten und Aushandlungsprozessen, in denen - aus Mangel an Vorgaben, auf die man sich berufen könnte - die Macht des Stärkeren oder das Windhundverfahren obsiegt. Eine Vielzahl von Beobachtungen und Befragungen hat immer wieder deutlich gemacht, dass die Verweildauer und Nutzungsdichte auf innerstädtischen Brachflächen bei den meisten eher gering ist und sie oft nur zur Durchquerung und Wegabkürzung genutzt werden, weil x viele Leute ohne entsprechende Verhaltensangebote nicht recht wissen, was sie dort machen sollten, x die rechte ‚Traute’ fehlt, sich ‚festzusetzen’ oder länger aufzuhalten oder
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x
die Fläche bereits durch andere Nutzungsansprüche ‚besetzt’ zu sein scheint. Die Kenntnis, hier wird sonst Fußball gespielt, hier hält sich sonst eine Gruppe von Aussiedlern oder eine Schafherde auf, kann bereits dazu führen, auch den im Augenblick ‚nicht besetzten’ Ort zu meiden. Mit anderen Worten: Skepsis ist anzumelden gegenüber Hoffnungen, die davon ausgehen, offen oder unklar definierte Flächen ohne planerische Verhaltensvorgaben würden zu einer ‚Befreiung’ des Freiraumverhaltens führen. Wahrscheinlicher ist, dass entweder ein Freiraumverhalten überhaupt nicht stattfindet als Ausdruck einer Art von ‚Horror vacui’ oder in relativ kurzer Zeit sich ein informelles Behavior Setting entwickelt, das u.U. weit ‚exklusiver’ als ein planerisch vorgegebenes sein kann. Aus der Wohnsoziologie weiß man ja, dass nicht so sehr der Grundriss oder die apparative Ausstattung der Wohnung, also die planerischen Vorgaben die Wohnweise definieren, sondern die tausend informellen Zwänge, die sich die Familienmitglieder selbst setzen und denen sie sich unterwerfen. Die Begegnung mit einem etwas zerlumpt aussehenden Mann, das Stolpern über eine Baumwurzel, eine herumliegende WodkaFlasche, irgendeine abschätzige Meinung zum ‚Gestrüpp’ kann ausreichen, sich zur Verhaltensregel zu machen, die Grünfläche kein weiteres Mal mehr aufzusuchen oder sie nur als Wegabkürzung zu nutzen.
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3. Abweichendes Verhalten
3.1
Zur Durchsetzung konformen Verhaltens im Park Das mit einem Raum verbundene Behavior Setting wird im Rahmen des Hineinwachsens in die Gesellschaft erlernt. Kinder und Jugendliche schauen sich das jeweilige Verhalten der Erwachsenen ab. Man wächst gleichsam automatisch in das gesellschaftlich vorgegebene Netz von Positionen und daran geknüpften Rollen hinein, teilweise erlernt man sie regelrecht. Rollengemäßes Verhalten wird belohnt, abweichendes bestraft. Das Spektrum dieser gesellschaftlichen Sanktionen reicht von lebenslangen Haftstrafen, über Bußgelder, Verwarnungen, Ermahnungen, üble Nachrede, Bitten, bis hin zu Belobigungen, allen Formen gesellschaftlicher Anerkennung, vom Lächeln über ein Dankeschön bis hin zu Beförderungen (vgl. zum Problemkreis soziale Kontrolle und abweichendes Verhalten u.a. Cohen, 1975; Wiswede 1979; Lamneck 1983; Amelang 1986; Peters 1995). Im Folgenden soll anhand des Parks die Wirkungsweise dieser Art von sozialer Kontrolle gezeigt werden. Wie wird eigentlich sichergestellt, dass sich jeder im Park so verhält, wie es sich gehört und wie es weiter oben beschrieben wurde? Es handelt sich vor allem um drei Mechanismen, die hierbei eine zentrale Rolle spielen (vgl. Tessin 1986): Normgerechtes Verhalten qua Gestaltung Der klassische Weg räumlicher Planung, ein bestimmtes Verhalten zu institutionalisieren, ist, tendenziell normabweichende, unerwünschte Aktivitäten auszuschließen, d.h. sie durch die Vorenthaltung von Realisierungsmöglichkeiten von vornherein zu verunmöglichen (vgl. hierzu noch ausführlicher Kap. 3.4 zur Präventionsarchitektur). So sind im Park z.B. die Verkehrsmöglichkeiten auf das Fahrradfahren und das Zu-Fuß-Gehen beschränkt und Erholungs- und Vergnügungsaktivitäten, die zuviel Lärm machen, weitgehend ausgegrenzt und in eigenständige Freiräume verlagert worden (in Freizeitparke, Festwiesen usf.). Das gleiche gilt für Sportaktivitäten, für die man gesonderte, räumlich getrennte Sportanlagen geschaffen hat. Je eindeutiger definierter aber der Freiraum durch eine solche Ausgrenzungspolitik ist, d.h. je weniger er zulässt bzw. nahe legt, je mehr er also in Richtung Monofunktionalität tendiert, desto selektiver ist von vornherein der Benutzerkreis 45 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
und höher damit die Konformitätsbereitschaft, desto geringer aber auch die praktische Möglichkeit zur Normabweichung. Diese ‚Ausgrenzungspolitik’ ist besonders weit getrieben in Friedhofs- und Sportanlagen. Wer würde schon auf die Idee kommen, sich an einem sonnigen Nachmittag auf die riesigen Rasenflächen einer Bezirkssportanlage hinzulegen, sich zu sonnen, Frisbee zu spielen, ein Nickerchen zu halten, sich also ‚parkgemäß’ zu verhalten? Durch die konkrete Gestaltung, Ausstattung und Pflege des Parks ist also ein norm- und rollengerechtes Verhalten zumindest nahe zu legen. Je intensiver durchgestaltet, gepflegt, aufwendiger hergerichtet beispielsweise die Grünanlage, desto ‚gesitteter’ das Parkverhalten. Ein Barockgarten ‚schreit’ gleichsam nach einem anderen Verhalten als der Landschaftsgarten. Ganz allgemein scheinen die Gegenstände (s.o.) um uns herum das Maß ihrer Wertschätzung und die Regeln ihrer Benutzung, ihre ‚Gebrauchsanweisung’, quasi an sich zu tragen und setzen damit implizit Verhaltensnormen, gleichsam Sachzwänge eigener Art (Linde 1972). Das Verlassen des Weges, die NichtBenutzung des Abfalleimers oder einer Parkbank ist ja immer auch ein Akt der Auflehnung gegen diese ‚Herrschaft der Dinge’, verbunden allerdings immer mit einem bisschen Unsicherheit und dem Hauch eines schlechten Gewissens. Durch die räumlich-funktionale Organisation des Parks, wozu u.a. auch noch die sozialräumliche Platzierung des Parks im Stadtgefüge, seine klare räumlich-visuelle Abgrenzung gegenüber der Geschäftigkeit der Stadt, der Größenzuschnitt des Parks, die Schaffung von Übersichtlichkeit und Einsehbarkeit zählen (oder gerade von Nischen und Abschirmungen), durch all dies lässt sich norm- und rollengerechtes Verhalten in den Parks zwar nahe legen, aber es handelt sich dabei doch offensichtlich mehr um ein Angebot: sozial erwartetes Verhalten wird nahegelegt, aber es kann letztlich so doch nicht sichergestellt werden. Ganz zu schweigen von jenen, weitgehend ‚enträumlichten’ Verhaltensnormen z.B. die Bekleidung betreffend, Umgangsweisen miteinander usf. Normgerechtes Verhalten qua formeller und informeller sozialer Kontrolle Seit Parks für die Öffentlichkeit geschaffen wurden, gibt es deshalb entsprechende Satzungen und Verordnungen, Parkordnungen, die bestimmte Verhaltensweisen, die der Zweckbestimmung des Parks widersprechen, unter Androhung von Strafe verbieten. Auszug aus der Parkordnung für den Englischen Garten und die Maxanlagen in München: „Nicht gestattet ist in den öffentlichen Grünanlagen insbesondere:
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1.
Im Englischen Garten ungemähte Wiesen, in den Maxanlagen nicht freigegebene Rasenflächen zu betreten, 2. die Wege und Straßen mit anderen als den hierfür zugelassenen Fahrzeugen zu befahren, vor allem auf den Fußwegen radzufahren, 3. Anlagen oder irgendwelche Gegenstände zu beschädigen oder zu verunreinigen, sowie Gegenstände von ihren Standorten zu entfernen, 4. zu nächtigen und zu lagern, 5. Tonübertragungsgeräte, Tonwiedergabegeräte und Musikinstrumente zu benutzen, sofern andere dadurch gestört werden, 6. Ball zu spielen und Sport zu treiben, sofern Personen gefährdet oder belästigt oder Gegenstände beschädigt werden können, 7. Hunde frei laufen zu lassen, 8. in den Gewässern zu baden oder Hunde baden zu lassen, 9. Handel und Gewerbe jeglicher Art zu treiben, Sammlungen zu veranstalten, sowie zu betteln. Die Benutzung der besonders bezeichneten Liegewiesen, Sportanlagen und Kinderspielplätze richtet sich nach den hierfür geltenden besonderen Bestimmungen. Zuwiderhandlungen können als Ordnungswidrigkeiten oder strafrechtlich geahndet werden.“ Dennoch ist Unkenntnis über das erlaubte bzw. verbotene Verhalten oft Ursache für Nutzungsschäden, einfach weil sich zeigte (vgl. Tessin, Widmer, Wolschke-Bulmahn 2001), dass die Kenntnis über die jeweilige Parkordnung eher gering ist. Natürlich weiß man (auch ohne die Parkordnung zu kennen), dass man keine Abfalleimer in Brand stecken, keine Beete zertrampeln, keinen Müll liegen lassen sollte, aber in Bezug auf das Betreten des Rasens, des Fahrradfahrens, des Hundeanleinzwangs usf. ist es nicht ganz so klar, weil die Park- und Gartenordnungen von Park zu Park (auch in der speziellen Kategorie denkmalgeschützter historischer Gärten) in dieser Hinsicht durchaus unterschiedlich ausfallen. Mal ist das Fahrradfahren, das Betreten des Rasens erlaubt, mal nicht, mal muss der Hundekot beim Verlassen des Parks wieder mitgenommen werden, mal dürfen Hunde gar nicht in die Anlage hinein. Diese Unterschiedlichkeit der Parkordnungen (selbst in der Kategorie der denkmalgeschützten Anlagen!) ist einerseits sehr verständlich (weil jeder Park doch einen eigenen Charakter und eine eigene Nutzungstradition hat), erschwert aber doch den Besuchern das ordnungsgemäße Verhalten, weil es eben keinen allgemeingültigen Verhaltenskodex gibt. Man müsste sich stets parkspezifisch - neu informieren. Und natürlich mindert es die Akzeptanz 47
von Verhaltensver- oder -geboten, wenn sie - von Park zu Park - mal so oder so ausfallen. Soziologisch interessanter als diese quasi behördliche Durchsetzung des besuchergerechten Parkverhaltens qua Parkordnung ist jedoch, wie unterhalb dieser Gesetzes- und Ordnungswidrigkeitsschwelle bestimmte normative Standards sich institutionalisieren und Abweichungen davon sanktioniert werden. Üblicherweise läuft das über die soziale Kontrolle der Teilnehmer eines Interaktionssystems untereinander, indem sie rollen- und normgerechtes Verhalten belohnen (mit einem freundlichen Lächeln z.B.) und abweichendes bestrafen (mit der Zurredestellung des Abweichlers, einem strafenden Blick, der Vorenthaltung eines Grußes usf.). In ‚vollständig’ integrierten Situationen (vgl. Kap. 2.2) wie z.B. in der Nachbarschaft, im Kleingartenverein kann das noch einigermaßen klappen. Auch auf einem Spielplatz, wo sich die beaufsichtigenden Eltern mit ihren spielenden Kinder häufiger bis regelmäßig sehen, scheint die informelle soziale Kontrolle noch einigermaßen zu funktionieren, wie Grundmann (1985: 212) noch feststellen konnte. Immerhin, so die damaligen Befunde, über 90% würden einschreiten, wenn ein Kind ein Spielgerät absichtlich beschädigt, über 50% würden einschreiten, wenn ein Kind die Sandbauten eines anderen Kindes zerstört; allerdings würden nur 17% der Erwachsenen ein Kind, das an einen Busch pinkelt, zur Rede stellen. Welches Interesse und welche Sanktionsmittel aber haben die Parkbesucher jedoch, nicht rollenkonformes Verhalten zu verhindern, also in einer unvollständig integrierten Situation, wo keiner keinen kennt? x Zwar ist grundsätzlich ein solches Interesse zu unterstellen, aber es scheint von vornherein doch insofern begrenzt, als der Aufenthalt im Park ja der Entspannung, Erholung und sozialen Entlastung dient und (s.o.) ein freundlich-tolerantes Verhalten im Park gewissermaßen als Verhaltensnorm institutionalisiert ist; d.h. es ist im Park gegenüber nicht rollengemäßem Verhalten, wenn es nicht gar zu störend ist, ein liberales Klima vorauszusetzen. x Es kommt hinzu, dass der Parkbesuch ja nun kein existenzzentraler Bereich und zeitlich meist sehr befristet ist und schon von daher abweichendes Verhalten nicht so ernst genommen zu werden braucht (anders als etwa in der Wohnung, dem Wohnumfeld oder im Kleingartenverein). Dass man in Parks - zumal in größeren - zudem abweichendem Verhalten relativ leicht ausweichen kann (zeitlich wie räumlich), vermindert ebenfalls die Notwendigkeit und wohl auch ein bisschen die Legitimation sozialer Kontrolle. x Die Möglichkeiten sozialer Kontrolle werden auch dadurch gemindert, dass sich im Park in der Regel ja Personen begegnen, zwischen denen ansonsten keinerlei dauerhafte Beziehungen bestehen, so dass nahezu al48
le üblichen informellen Sanktionsmittel wie das Zeigen von Verachtung, die üble Nachrede, der Entzug von Sympathie, Degradierung in der Gruppenhierarchie usf. nicht greifen, anders als im Wohnumfeld oder im Kleingartenverein, wo man sich kennt und all diese Sanktionsmittel zumindest ansatzweise Wirkung zeigen. x Es kommt hinzu, dass viele Erwartungen an den Parkbesucher (z.B. wie er gekleidet sein, welchen Abstand er auf der Parkbank einhalten sollte usf.) ja nicht verbindlich oder gar schriftlich fixiert sind, sondern auf stillschweigender Übereinkunft qua Tradition beruhen. x Schließlich hat seit den 1960er Jahren in der Gesellschaft verstärkt ein sozio-kultureller Liberalisierungsprozess stattgefunden (vgl. hierzu noch Kap. 6.3), der ein Insistieren auf einer zu engen ‚Law-and-Order-Position’ sehr schwierig macht: Nacktheit im Park ist nicht mehr so ohne weiteres ‚unzüchtig’, und die „Besitzergreifung des Rasens“ (Grzimek 1983) ist heute geradezu als neue Parkverhaltenspflicht installiert. Als Folge dieser vielfältig begrenzten Möglichkeiten auch dieser informellen sozialen Kontrolle ist nun in fast allen größeren Parkanlagen eine Tendenz zur ‚normativen Sortierung’ zu beobachten; d.h. es bilden sich im Park bisweilen verschiedene normative Subsysteme, ‚Nutzungsmilieus’ heraus, die sich räumlich und oder zeitlich voneinander separieren: also dort die Alte-Leute-Ecke, am Kiosk die Arbeitslosen, auf der großen Wiese die jüngeren Leute und türkischen Familien, am Spielplatz die Mutter-Kind-Gruppen. In kleineren Anlagen kommt es nicht selten zu einer Art normativer Monopolisierung, d.h. zu einer Besetzung des Parks durch eine Gruppe und deren Rollenverständnis (vgl. Spitthöver 2003). Es sind dann oft gerade normabweichende Gruppen, die einen Park oder Platz ‚in Besitz’ nehmen, was sich erklären lässt. ‚Penner’, Ausländer, Arbeitslose o.ä. vertreiben die ‚normalen’ Parkbesucher häufig ja nicht deshalb aus dem Park, weil sie sich extrem normabweichend verhielten, sondern weil ihr bloßes Dasein als Gruppe bereits gegen das ‚Schöne-Heile-Welt-Bild’ des Parks verstößt. Sie beeinträchtigen durch ihre gleichsam bloße Präsenz, die ja nicht ‚strafbar’ ist, den ungetrübten Parkgenuss, also geht man lieber. Insbesondere aber irritiert die ‚normalen’ Parkbesucher die drohende Verkehrung der gesellschaftlichen Status- und Machtverhältnisse von Mehrheit und Minderheit. Man entwickelt gegen gesellschaftliche Randgruppen ja vor allem erst dann Ressentiments, wenn sie als gesellschaftlich diskriminierte Minoritäten auf einmal eine Szene zu prägen oder gar zu beherrschen beginnen, einen Stadtteil oder eben einen Teil eines Parks. Man gerät dann als ‚Normalbürger’, als Mehrheitsvertreter, in eine eigenartige Außenseiterrolle und fühlt sich entsprechend verunsichert, während die sonst diskriminierte, sonst unter erheblichem Anpassungsdruck stehende Randgruppe zunehmend an Selbstbewusstsein und Verhaltenssouveränität gewinnt. Die sonst herrschende Gesellschaftsordnung 49
von Mehrheit und Minderheit wird also gleichsam auf den Kopf gestellt. Da aber diesen Außenseitergruppen ansonsten kein massives Fehlverhalten im Park vorgeworfen werden kann, andererseits der Park öffentlich, also jedermann offen steht, fehlt eine legitime Handhabe sowohl zur Disziplinierung als auch zur Vertreibung dieser Gruppen, und dem ‚Normalbürger’ bleibt im Grunde nur der Rückzug aus dem Park, will er die Distanz zu den gesellschaftlich mindergeachteten, zum Teil diskriminierten Gruppen im Sinne einer negativen Bezugsgruppe auch räumlich aufrechterhalten bzw. zum Ausdruck bringen. Normgerechtes Verhalten qua Internalisierung Das doch immerhin noch überwiegend rollen- und normenkonforme Verhalten in den öffentlichen Parkanlagen wird weniger durch die räumliche Ausstattung und Gestaltung der Anlage, weniger durch die dort ausgeübte staatliche Aufsicht oder soziale Kontrolle der Mitbesucher durchgesetzt, sondern vielmehr durch das mangelnde Interesse der allermeisten Parkbesucher, von der üblichen Verhaltensrolle abzuweichen. Mit anderen Worten: das im Park sozial erwünschte Verhalten ist weitgehend zum Bedürfnis, zumindest zur unhinterfragten Gewohnheit geworden, es ist also weitgehend internalisiert, d.h. verinnerlicht worden. Rollenerwartungen und soziale Normen werden ja u.a. deshalb befolgt, weil man zu den entsprechenden Verhaltensweisen im Rahmen des Erziehungsprozesses angehalten worden ist, z.T. also aus Gewohnheit, aus Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitsüberlegungen, aus Einsicht in die Notwendigkeit der Einhaltung bestimmter Regeln und schließlich, weil man die von der Norm oder Position geforderte Verhaltensweise bewusst als Wert oder als Weg zu einem Wert akzeptiert. Die weit überwiegende Mehrheit der Parkbesucher, zumal der älteren, akzeptiert aus einem dieser Gründe den Parkbesuch in seiner heute üblichen Form, wobei vor allem die nun schon mehr als zwei Jahrhunderte währende Tradition öffentlich zugänglicher Parks mit ihrer verhaltensnormierenden und bedürfnisprägenden Wirkung hervorzuheben ist. Überdies scheint das, was das im Park als institutionalisierte Verhalten erlaubt und ermöglicht, so attraktiv, dass das, was es verbietet oder einschränkt, kaum ins Gewicht fällt. Die Quasi-Freiwilligkeit des Besuchs, d.h. die normentsprechende Selbstselektivität der Besucher kommt hinzu: Würden etwa alle Stadtbewohner täglich dort zum Aufenthalt gezwungen werden, so wäre sicherlich mit einer viel höheren Quote abweichenden Verhaltens zu rechnen. So aber, wo praktisch nur jene öffentliche Parkanlagen aufsuchen, die dies auch unter den gegebenen normativen Bedingungen mehr oder weniger wollen, wäre es in der Tat erstaunlich, von ihnen im nennenswerten Umfang abweichendes Verhalten zu erwarten. Wer Leistungssport treiben will, geht auf einen Sportplatz und eben nicht in einen Park. So ist also nur von jenen abweichendes Verhalten überhaupt zu erwarten und auch tatsächlich zu beobachten, die diese Aus50
wahlmöglichkeiten nicht haben und gewissermaßen aus Mangel an Alternativen in die Parks verschlagen werden: Kinder, die mit ihren Eltern spazieren gehen müssen, Jugendliche, die ansonsten keinen anderen, der Aufsicht ihrer Eltern entzogenen Aufenthaltsort haben, Ausländer, die sich nur hier als familiäre Großgruppe zum Grillen versammeln können, Stadtstreicher, Drogenabhängige, Homosexuelle usf., die überall sonst verjagt werden, Hundebesitzer, die nur im Park ihren Hund u.U. frei herumlaufen lassen können.
3.2
Typen konformen und non konformen Verhaltens Der Soziologe R.K. Merton (1959) hat schon vor längerer Zeit einmal eine Typologie vorgelegt, mit der er versucht hat, verschiedene Formen konformen bzw. non konformen Verhaltens analytisch zu trennen und unterscheidet fünf Arten: 1. Konformismus: Der Rolleninhaber bejaht und akzeptiert die Rolle als solche und alle daraus zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeleiteten Verhaltenserwartungen. Er ist also etwa vollkommen ineins mit seiner Rolle als Kleingärtner, Park- oder Friedhofsbesucher. 2. Innovation: Der Rolleninhaber akzeptiert zwar die Rolle als solche, aber nicht alle daraus abgeleiteten Verhaltenserwartungen. Vielmehr interpretiert er die Rolle neu, aber durchaus im Sinne der (alten) Rolle. Also etwa die ersten Parkbesucher, die im Park joggten, die den Rasen betraten, vielleicht sogar jene, die sich erstmals ‚oben ohne’ sonnten. Heute würde man diese Verhaltensweisen schon fast als konformistisch bezeichnen können, damals waren sie innovativ. 3. Ritualismus: Hier steht der Rolleninhaber nicht mehr hinter der Rolle, er identifiziert sich nicht mit ihr, ja, ist ihr vielleicht gänzlich entfremdet, aber trotzdem wird er den Verhaltenserwartungen gerecht - aus bloßer Routine, aus Angst vor Sanktionen o.ä.; ritualisiertes Verhalten findet sich bisweilen bei sog. Parkbesichtigungen, die viele über sich ergehen lassen, weil es halt auf dem Ausflugsprogramm vorgesehen ist. 4. Desinteresse: Hier steht der Rolleninhaber ebenfalls nicht mehr hinter der Rolle, aber er gibt sich auch keine Mühe mehr, irgendwelchen Erwartungen, die an die Rolle geknüpft sind, gerecht zu werden. Dieses auch als anomisch bezeichnete Verhalten findet man etwa bei Stadtstreichern im Park. Sie empfinden sich nicht als ‚Parkbesucher’ und sehen daher auch keine Notwendigkeit, sich ‚parkgemäß’ zu verhalten.
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5. Rebellion: Hier ‚reibt’ sich der Rolleninhaber sowohl an der Rolle an sich wie auch an den konkreten zeitgemäßen Verhaltenserwartungen. Er ignoriert die Rolle nicht (wie der Desinteressierte), noch beschränkt sich seine Ablehnung nur auf die Rolle an sich oder auf die gängigen Verhaltenserwartungen, sondern er rebelliert sowohl gegen die Rolle an sich wie auch gegen die konkreten Verhaltenserwartungen. Jemand, der auf dem Friedhof, sagen wir, Musik macht, Versteck spielt oder etwas Ähnliches, der würde ‚rebellisches Rollenverhalten’ an den Tag legen, wenn er behaupten würde, das erwartete Rollenverhalten auf einem Friedhof, also das stille, andachtsvolle, die Ruhe der Toten wahrende Verhalten, sei heuchlerisch, die Toten selbst würden nichts dagegen haben, wenn es über ihnen etwas lustiger zugehen würde. Für die Freiraumplanung ist diese Unterscheidung konformen und nonkonformen Rollenverhaltens also nicht unwichtig, verbergen sich doch hinter dieser Verhaltenstypologie zugleich sehr unterschiedliche planerische Eingriffsnotwendigkeiten und -möglichkeiten. Der Planer muss also einen Blick dafür bekommen, warum sich die Leute in den verschiedenen Freiräumen nicht so verhalten, wie es sich nach ihrem Planerverständnis bzw. der gesellschaftlichen Übereinkunft gemäß gehören würde. 3.3 Nicht intendierte Nutzungsschäden in historischen Gärten Seit Jahrhunderten wird z.B. darüber geklagt, dass die Besucher auch historischer Gärten sich nicht ‚richtig‘ in dem Sinne verhalten, als sie teils fahrlässig, teils bewusst in Kauf nehmend dem historischen Park ‚Schäden‘ zufügen, angefangen von Verschmutzungen (Hundekot, Müll u.ä.), über Trampelpfade, ausgetretene Wege bis hin zu zertretenen Blumenbeeten. Natürlich gibt es auch vorsätzliche Sachbeschädigungen. Beim vandalistischen Verhalten wird die Beschädigung des Parks ganz bewusst angestrebt, man nimmt sie nicht hin (als unvermeidliche Nebenfolge des eigenen Tun), sondern will den Schaden, wobei einem die Tatsache, dass es sich um einen historischen Garten handelt, einerseits ziemlich oder gar gänzlich egal sein, andererseits aber durchaus einen besonderen Reiz verschaffen kann (zu den Motiven vgl. auch noch Kap. 4.2). Diese bewusste Sachbeschädigung kommt in zwei Spielarten vor: als Spontan- und Affekthandlung und als regelrecht geplante Tat. Der Sprayer, der mit Sprühdose nachts im Park anrückt, um sich dort zu ‘verewigen’, geht geplant und damit vorsätzlich vor. Anders die Jugendlichen, die sich im Park langweilen und - einem spontanen Einfall folgend, sozusagen aus Jux und Dollerei, möglicherweise angetrunken - einen Abfallbehälter in Brand setzen. Aber hier sollen nicht diese vandalistischen Akte behandelt werden, sondern die etwas harmloseren ‚normalen Nutzungs52
schäden’, die gerade nicht vorsätzlich bzw. intendiert erfolgen, sondern z.B. aus Gedankenlosigkeit oder Fahrlässigkeit. Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die Leute meinen, dass einerseits das eigene Verhalten erlaubt sei, zumindest geduldet werde, also kein Fehlverhalten darstelle und andererseits man sich über die schädlichen Folgen des eigenen Verhaltens nicht klar ist, sich keine Gedanken macht oder sich einfach irrt. Fahrlässige Nutzungsschäden sind also Ausdruck von Naivität, Unkenntnis, Unklarheit, Gedankenlosigkeit oder Irrtum. Sie geschehen gleichsam absichtslos, ohne jeden Vorsatz. Unkenntnis über das erlaubte bzw. verbotene Verhalten ist oft Ursache für fahrlässige Nutzungsschäden. Die Kenntnis über die Parkordnung ist eher gering. Natürlich weiß man (auch ohne die Parkordnung zu kennen), dass man keine Abfalleimer in Brand stecken, keine Beete zertrampeln, keinen Müll liegen lassen sollte, aber in Bezug auf das Betreten des Rasens, des Fahrradfahrens, des Hundeanleinzwangs usf. ist es nicht ganz so klar, weil die Parkund Gartenordnungen von Park zu Park (auch in der speziellen Kategorie der historischen Gärten) in dieser Hinsicht durchaus unterschiedlich ausfallen. Mal ist das Fahrradfahren, das Betreten des Rasens erlaubt, mal nicht, mal muss der Hundekot beim Verlassen des Parks wieder mitgenommen werden, mal dürfen Hunde gar nicht in die Anlage hinein. Diese Unterschiedlichkeit der Parkordnungen (selbst in der Kategorie der denkmalgeschützten Anlagen!) ist, wie schon gesagt (vgl. Kap.3.1) einerseits sehr verständlich (weil jeder Park doch einen eigenen Charakter und eine eigene Nutzungstradition hat), erschwert aber doch den Besuchern das ordnungsgemäße Verhalten, weil es eben keinen allgemeingültigen Verhaltenskodex in denkmalgeschützten Anlagen gibt. Man müsste sich stets - parkspezifisch - neu informieren, und natürlich mindert es die Akzeptanz von Verhaltensver- oder -geboten, wenn sie - von Park zu Park - mal so oder so ausfallen. Auch die Parkverwaltungen tragen bisweilen mit ihrem Parkmanagement zu einer Erosion des Schadensbewusstseins auf Seiten der Parkbesucher bei: Im Georgengarten in Hannover z.B. spielen, wie schon erwähnt, seit Jahrzehnten die jeweiligen Studentengenerationen Fußball auf bestimmten Rasenflächen mit erheblichen Folgen für die Grasnarbe. Wahrscheinlich sehen die Fußballer die Schäden ihres Verhaltens, aber sie gehen, wie die Juristen sagen würden, von einer mutmaßlichen Erlaubnis (und damit Inkaufnahme auftretender Schäden) seitens der Parkverwaltung aus, die ganz offensichtlich – Gott sei Dank! - nichts tut, um dem Treiben ein Ende zu setzen, geschweige denn, dass sie versuchen würde, die Grasnarbe wiederherzustellen. Klar ist, dass ein solches Parkverwaltungshandeln das Schadenverursachungsbewusstsein auf Seiten der Fußball spielenden Studenten allmählich einschlafen lässt (wenn es denn je da war). 53
Und ähnlich wäre der Fußgänger zu sehen, der einen bereits ausgetretenen Trampelpfad benutzt. Muss er nicht von einer quasi mutmaßlichen Erlaubnis ausgehen, wenn die Parkverwaltung nichts gegen den Trampelpfad unternimmt, kein Schild aufstellt, keine Abpflanzung vornimmt, keinen neuen Rasen aussät? Wird es der Person nicht zumindest leicht gemacht, so zu denken bzw. eben nicht nachzudenken über etwaige Schäden? Ein Beispiel für den verbreiteten, wenn auch irrtümlichen Glauben, das eigene Verhalten würde schon keinen Schaden im Park anrichten, ist das Betreten des Rasens, das Anlehnen des Fahrrads an einen Baumstamm usf.; alles Dinge, die - von einem Einzelnen irgendwo im Park ausgeübt - im Regelfall noch keinerlei Spuren im Park hinterlassen und sich erst dann zu einer Beschädigung auswachsen (können), wenn viele weitere an derselben Stelle das gleiche Fehlverhalten ausüben (Kumulationseffekt), also wenn etwa der Baum am Rande der Liegewiese so zu etwas wie einem ‘Fahrradständer’ wird (mit Folgen für die Baumrinde). Erst dann entsteht ja vermutlich der Schaden, der vom ‚Ersttäter‘ oder jemandem, der sich als ‚Einzeltäter‘ sieht, nicht vorhersehbar ist. Unwissentliche (fahrlässige) Nutzungsschäden werden auch durch den für Parkanlagen typischen Umstand befördert, dass in Bezug auf die Vegetation der Schaden einer Handlung bisweilen nicht sofort erkennbar ist (Langzeiteffekt). Bodenverdichtungen und Baumrindenverletzungen können oft erst nach Jahren zu sichtbaren Schäden führen. Und klar ist, dass komplexere Wirkungsketten dem normalen Parkbesuchenden nicht bewusst und geläufig sind. Dass das Entenfüttern mehr Enten und mehr Entendreck produziert und damit zur Beeinträchtigung der Wasserqualität und der Ufervegetation führen kann (ganz zu schweigen davon, dass das Entenfüttern - ungewollt und unbewusst - meist mit einer Beschädigung der Ufersaumes einhergeht), ist dem Parkbesucher (ohne entsprechende Hinweise) sicherlich unbekannt (Wirkungsketteneffekt). Im Gegensatz zum eben behandelten Fehlverhalten, wo man sich keine großen, irrtümliche oder überhaupt keine Gedanken macht über die vom eigenen Tun ausgehenden möglichen Nutzungsschäden oder von einer Tolerierung und damit mutmaßlichen Erlaubnis seitens der Parkverwaltung ausgeht, gibt es aber auch Parkbesucher, die sich darüber durchaus klar sind, dass ihr Verhalten nicht richtig ist und Schäden verursachen kann. Sie tun es also sozusagen schadensbewusst, aber sie tun es nicht vorsätzlich oder mutwillig, sondern nehmen eventuelle Schäden ‘lediglich’ in Kauf, weil ihnen anderes wichtiger ist: vor allem wohl ihre Bequemlichkeit, ihre Spaß- und Erlebnisinteressen, ihre Hunde- und Kinderliebe, ihre Radfahr- oder Fußballspielleidenschaft oder ihr gartenkünstlerisches Bildungsinteresse. Da ist z.B. der Radfahrer, der trotz Radfahrverbot nicht absteigt, elegant die Kurven ‘schneidet’, scharf bremst und eine markante Bremsspur auf dem 54
Fußweg hinterlässt. Er will den Weg nicht vorsätzlich kaputtmachen, es ist nicht der Zweck des eigenen Handelns, aber akzeptierte Folge - weil das scharfe Bremsen, die Gefahr des Herumschleuderns halt doch so viel Spaß macht. Oder das Touristenpärchen, dass sich zwecks souvenirmäßiger Ablichtung in die Blumenpracht eines Beetes hineinstellt, der ‘Griller’, der durchaus weiß (und sieht), dass sein Feuer die Grasnarbe zerstört und sein Müll den Mülleimer wird überquellen lassen - ihnen allen ist das eigene Tun, der eigene Vorteil wichtiger als der tatsächliche und/oder mögliche Schaden im Park. Und das gilt selbst für die Oma, die sich ein ‘Pflanzen-Souvenir’ aus dem Park mit nach Hause nimmt. Nutzungsschäden in Kauf nehmende Besucher befinden sich in einer Art von Rollenkonflikt (vgl. Kap. 2.1): einerseits die Verhaltenserwartung an einen Parkbesucher, sich ordnungsgemäß zu verhalten, der sie durchaus gern nachgehen würden, andererseits die Quasi-Verpflichtung, auch noch anderen Erwartungen gerecht werden müssten: denen ihres Hundes, Kindes, ihrer Freunde bzw. ihren ureigenen Erwartungen, ihrer Bequemlichkeit, ihrem Spieltrieb, ihrem ‘Souvenirtick’ usf. Manchmal wächst sich der Rollenkonflikt (in den Augen des ‚Täters’) gar zu einer Art Notsituation aus, etwa wenn keine Toilette im Park vorhanden ist, wenn Abfallkörbe fehlen, oder das Wegesystem so unzeitgemäß ist, dass der damit verbundene Umweg für einen geradezu ‘unzumutbar’ wäre wie das Beseitigen des Kots des eigenen Hundes. In Kauf genommene Nutzungsschäden haben immer, das unterscheidet sie von vorsätzlichen Sachbeschädigungen, einen ‘Hauch von Legitimation’. Es gibt immer ein paar (vermeintlich gute) Gründe, die das Fehlverhalten entschuldigen könnten - nicht zuletzt das macht vermutlich die Häufigkeit und den Verbreitungsgrad dieser Art von (eher harmlosen) Nutzungsschäden aus. Dass die Besucher sich bisweilen auch in historischen Gärten achtlos verhalten, hängt auch manchmal mit der Unschärfe des Behavior Settings von historischen Anlagen zusammen. Diese Grünanlagen locken nicht nur viele Besucher und Touristen an, sondern Menschen mit sehr unterschiedlichen Besuchsmotiven. Historische Parkanlagen (mit Ausnahme der primär touristisch genutzten) ‘leiden’ in der Regel daran, dass ein Großteil der Besucher die Anlage nicht wegen ihrer besonderen Schönheit oder gar wegen ihres denkmalpflegerischen Wertes aufsucht, sondern weil es sich um die nächstgelegene Grünanlage handelt. Oft wissen sie gar nicht, dass es sich um einen denkmalgeschützten Garten handelt. Verständlich, dass Leute, die in historischen Park nur joggen oder den Hund ausführen wollen, für sich insgeheim zwar vielleicht noch nicht die Parkordnung außer Kraft gesetzt haben, aber sich doch ein Stück weit von der ‚Idee‘ des historischen Parks als QuasiMuseum entfernt haben. 55
Teilweise hilft die Parkverwaltung kräftig mit bei der Verunklarung des Behavior Settings, in dem sie etwa ‚parkfremde‘ Veranstaltungen durchführt oder bestimmte Freizeitnutzungseinrichtungen schafft. Kinderspielplätze, Kioske, Minigolfanlage bis hin zu Skaterbahnen usf. verursachen selbst teilweise unverhältnismäßig viele Nutzungsschäden und Pflegeaufwand, signalisieren dem Besucher zudem aber noch, dass hier der Park nicht so sehr als Gartendenkmal gesehen wird, sondern als Parkanlage für Freizeit und Erholung, für Spiel und Sport. Sie ziehen also Nutzergruppen an und legen Verhaltensweisen nahe, die dem historischen und/oder gartenkünstlerischen Wert der Anlage weniger Beachtung schenken. Denkmalpflegerisch sind diese zusätzlichen Ausstattungselemente also in doppelter Weise problematisch. Je eindeutiger ein historischer Garten als reiner ‘Besichtigungsgarten’ definiert ist, d.h. je weniger er sonst noch an Aktivitäten durch seine Gestaltung und Ausstattung zulässt bzw. nahe legt, desto selektiver ist von vornherein der Benutzerkreis und entsprechend höher die Konformitätsbereitschaft bzw. geringer die praktische Möglichkeit zur Normabweichung. Auch die Intensität der Parkpflege, der Pflegezustand symbolisiert im Sinne der ‚broken-windows-Theorie’ (vgl. Kap. 2.4) die Eindeutigkeit des Behavior Setting eines historischen Gartens. Je sauberer und gepflegter eine historische Parkanlage, desto klarer ihr Behavior Setting in punkto ordnungsgemäßes Verhalten und desto größer die Hemmschwelle, sie zu verschmutzen bzw. gar zu beschädigen. Vielerorts hat sich aber, wie gesagt, das Behavior Setting des historischen Gartens, des Gartendenkmals verschoben in Richtung eines ‚normalen’ Parks bzw. Freizeitparks – mit den entsprechenden Folgen auch für die Durchsetzbarkeit rigider Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen. 3.4 Präventionsarchitektur Das Problem abweichenden Verhaltens in städtischen Freiräumen ist, wie eben schon angedeutet, in den letzten Jahren und Jahrzehnten virulenter geworden; Parks, Plätze und Straßen werden zunehmend als ‚unsicher’ empfunden (vgl. hierzu bereits Tessin 2009). Von wirklicher Unsicherheit kann natürlich nur in Ausnahmefällen gesprochen werden. Aber vielen Leuten reichen bereits kleinste Indizien (eine zerschlagene Bierflasche etwa), einen Ort als unsicher erscheinen zu lassen, obwohl ‚objektiv’ nicht der geringste Anlass zur Sorge oder gar Angst besteht. Man kann also davon ausgehen, dass ‚unsichere’ Orte im wesentlichen auch ideologische Konstrukte (vgl. hierzu noch Kap. 8), Kopf- bzw. Angstgeburten sind. In einer Stadtplatzstudie in Hannover (Tessin 2005) wurde z.B. auch nach Kritik am jeweiligen Stadtplatz gefragt. Unter dem Aspekt ‚unsichere Orte’ 56
ist vor allem die dabei geäußerte Kritik am Publikum, am Geschehen auf dem Stadtplatz von Interesse. Es zeigte sich, dass auf einigen Plätzen überhaupt keine entsprechende Kritik geäußert wurde (ein ‚sicherer’ Platz?), aber auf anderen von mehr als jedem 2. Befragten; ja, in Bezug auf einen Platz waren es 85%! Nimmt man nun z.B. allein diesen Platz, dann zeigte sich, dass Frauen und Männer rein quantitativ gesehen etwa ähnlich häufig diesen kritischen Hinweis auf das Publikum und Geschehen machten. Interessant war jedoch, dass immerhin 45% der Männer dem Platz sozusagen trotzdem noch die Note ‚gut’ gaben, aber nicht eine einzige Frau! Hier wird deutlich, wie unterschiedlich junge und alte Leute, Nutzer und Nicht-Nutzer, Männer und Frauen ein und dasselbe Merkmal ‚lesen’ und interpretieren. Frauen scheinen deutlich allergischer auf Zeichen von Unsicherheit (Vandalismus, herumhängende Jugendliche, Müll) zu reagieren als Männer. Und ein Türke wird seine (ehemaligen) Landsleute auf einem Stadtplatz unter ‚Sicherheitsaspekten’ natürlich auch ganz anders lesen und werten als ein deutscher ‚Kleinbürger’. Grundlagen der Präventionsarchitektur Vor diesem Hintergrund kann Präventionsarchitektur als Versuch verstanden werden, das, was früher (in einer weniger pluralisierten, weniger libertären Gesellschaft) eine funktionierende soziale Kontrolle leistete, nämlich ‚gefühlte Sicherheit’, durch baulich-gestalterische Maßnahmen zu gewährleisten, also die Vermeidung von Unfällen, Kriminalität, Vandalismus, Nutzungsschäden, störendem Verhalten etc.; und in diesem Kontext kann es dann auch als sinnvoll erscheinen zu versuchen, bestimmte als ‚risikoreich’ eingeschätzte Nutzungsarten bzw. Nutzergruppen durch gestalterische Maßnahmen aus dem Freiraum fernzuhalten. Präventionsarchitektur als baulich-gestalterische Strategie leistet in diesem Kontext von ‚mehr Sicherheit’ naturgemäß nur einen Teilbeitrag und ist eingebunden in eine Vielzahl anderer Maßnahmen etwa der Sozial- und Gemeinwesenarbeit, der Öffentlichkeitsarbeit, der polizeilichen Überwachung und Bestrafung, des Quartier- und Freiraumkulturmanagements (vgl. noch Kap. 10, aber auch Simon 2001), der Wiedereinführung von Parkwächtern, von Spielplatzpaten, der Videoüberwachung usf. Der Ansatz der Präventionsarchitektur (vgl. hierzu schon Crowe 1991), leitet sich vor allem aus den folgenden fünf Diskussions- und Forschungssträngen ab: Präventionsarchitektur hat ihren klaren Rechtshintergrund zunächst einmal in der Verkehrssicherungspflicht; diese besagt, dass jemand verkehrssicherungspflichtig ist, wer eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, eine Sache beherrscht, die für Dritte gefährlich werden kann oder wer gefährliche Sachen dem allgemeinen Verkehr aussetzt oder in Verkehr bringt. So ist jener, der über einen Freiraum verfügt, verpflichtet, Vorkehrungen gegen voraussehbare Gefahren zu treffen, die durch gewöhnliche bzw. bestimmungs57
gemäße Benutzung eintreten können. Jede Art von Architektur hat dieser Verkehrssicherungspflicht des Eigentümers Rechnung zu tragen, und so haben sich dann im Laufe der letzten Jahrzehnte diverse Normen, Richtlinien und Bestimmungen entwickelt, deren Einhaltung dafür Gewähr tragen soll, dass keine Schuld- und/oder Haftungsfragen aus der Nutzung städtischer Freiräume entstehen (können). So ist also dafür Sorge zu tragen, dass in städtischen Freiräumen niemand über einen Wegbelag stolpert, im Winter ausrutscht oder von einem herabstürzenden Ast getroffen wird, Kinder sich beim Spielen nicht verletzten usf. Spätestens seit der schon erwähnten Studie von O.Newman (1972) wird der Zusammenhang von Architektur und Kriminalität diskutiert (vgl. Kap. 1.6). Für Newman war vor dem Hintergrund seiner Studien klar, dass eine Umwelt, die weniger anonym und unübersichtlich wäre, die von Nutzern oder Anwohnern ‚im Auge’ behalten werden konnte, einen Beitrag zu weniger Personenkriminalität und Sachbeschädigungen leisten würde, womit ein zentraler Ansatz der Präventionsarchitektur gefunden war: mit Hilfe einer entsprechenden ‚übersichtlichen’ räumlichen Gestaltung (Licht, Einsehbarkeit etc.) bzw. von ‚defensible spaces’ (Newman) ließen sich kriminelle Delikte einschränken. Dieser Ansatz spielte dann auch später unter dem Begriff ‚Angsträume’ in der Genderforschung eine wichtige Rolle. Eine dritte Grundlage der Präventionsarchitektur bildet die VandalismusForschung. Dabei spielt bekanntlich die schon erwähnte (vgl. Kap. 2.4) sog. „broken windows-Theorie“ (Wilson, Kelling 1982, deutsch 1996) eine besondere Rolle mit dem Befund, dass Vandalismus und andere Arten von Sachbeschädigungen in dem Maße zunehmen und sich beschleunigen, wie erste Spuren von Vandalismus in einer Gegend erkennbar seien: das erste zerbrochene Fenster, das erste Graffiti, der erste abmontierte Reifen an einem Auto führt schnell zu Folgetaten derselben oder ähnlicher Art. Die Konsequenz: Vandalismus ist am besten durch sofortige Reparatur und einen generell hohen Pflegestandard zu vermindern und natürlich durch eine vandalismusresistente, robuste Ausstattung und Gestaltung. Auch die Untersuchungen und Diskussionen um das Problem des abweichenden oder auffälligen Verhaltens bzw. marginalisierter Gruppen im öffentlichen Raum, die unter bestimmten Bedingungen als ‚Unsicherheitsfaktoren’ gelten, lassen sich ein ganzes Stück weit unter das Stichwort ‚Präventionsarchitektur’ einordnen. In dieser nach wie vor aktuellen AusgrenzungsDebatte geht es auch um baulich-gestalterische Möglichkeiten, diesen Gruppen den Aufenthalt dort zu verleiden, etwa durch den Abbau von Sitzbänken bzw. deren Umbau zu Einzelsitzen, um ihnen das Liegen oder Schlafen unmöglich zu machen. Aber auch die Einzäunung von Brunnen oder der Abbau von öffentlichen Toilettenanlagen dienen diesem Zweck. In dieselbe Richtung sollen auch - etwas subtiler - bestimmte Gestaltungsmerkmale wirken: 58
„In vielen Fällen ist die Semiotik des so genannten ‚zu verteidigenden Raumes’ so subtil wie ein großspuriger weißer Polizist. Die schicken pseudoöffentlichen Räume von heute (…) sind voller unsichtbarer Zeichen, die den ‚Anderen’ aus der Unterschicht zum Gehen auffordern. Architekturkritikern entgeht zwar zumeist, wie die gebaute Umwelt zur Segregation beiträgt, aber die Parias (…) verstehen ihre Bedeutung sofort“ (Davis 1994: 262). Auch in der ganz alltäglichen Nutzung von Freiräumen entstehen Schäden, die durch eine entsprechende Pflege zu beseitigen wären. Da gibt es, wie in Kap. 3.3 beschrieben, Fahrlässigkeiten in der Nutzung aufgrund von Gedankenlosigkeit oder Irrtum der Besucher oder Nutzungsschäden aufgrund von sozusagen billigender Inkaufnahme. Dabei weiß man, dass das eigene Verhalten nicht richtig ist und Schäden verursachen kann, aber um des eigenen Vorteils Willen nimmt man eine Wegabkürzung (ein Trampelpfad entsteht), man lässt den Hund frei herumlaufen, grillt dort, wo es einem am besten gefällt, lässt eine Zeitung oder eine Zigarettenschachtel auf der Parkbank liegen. Insbesondere die Hundehalter bzw. ihre Hunde stellen aus Sicht der Freiraumnutzer einen ganz zentralen Unsicherheitsfaktor dar: die Begegnung mit einem unangeleinten Hund verunsichert, die mit seinem Kothaufen verstimmt. Diese ‚normalen’ Gebrauchspuren (auch von Übernutzungen) würden an sich noch keine Präventionsarchitektur auf den Plan rufen, aber da die Pflege und Instandhaltung von öffentlichen Freiräumen in den Kommunen finanziell zu einem Problem geworden ist und ungepflegte Freiräume schnell ‚unsicher’ wirken, liegt es in der Logik der Präventionsarchitektur, einen Freiraum so zu gestalten, dass die zukünftige Pflege keine allzu großen Kosten verursachen wird, ohne dass er ‚ungepflegt’ und damit ‚unsicher’ wirkt. Ansätze der Präventionsarchitektur Die Ziele der Präventionsarchitektur sind relativ einleuchtend und decken sich zunächst mal mit denen der Bevölkerungsmehrheit, die ja ein starkes Interesse an ‚sicheren’ und intakten Freiräumen hat. Und als ‚unsicher’ werden in der Bevölkerung eben nicht nur jene Räume angesehen, die es tatsächlich sind, sondern die ‚unsicher’ aussehen, also bereits schmutzige und verdreckte Räume mit Zeichen von Vandalismus und Graffiti, mit Gruppen von herumhängenden Jugendlichen, mit herumliegenden Flaschen oder Drogenspritzen, mit Bettlern und Obdachlosen, mit heruntergekommenen Gebäuden und Ausstattungselementen. Es lassen sich nun grob zwei strategische Ansätze in der ‚Präventionsarchitektur’ unterscheiden, zwischen denen sich natürlich x-beliebige Abstufungen ausmachen lassen. Der erste Ansatz ist meist pejorativ gemeint und gemünzt auf Freiräume, x mit karger Ausstattung (sie könnte kaputt gehen), 59
x
mit wenig Vegetation (sie müsste gepflegt werden), stattdessen Pflasterflächen (hier hat man Kehrmaschinen), x mit Betonpollern (Autos könnten sonst dort geparkt werden), x ohne Wasserelemente (Kinder könnten daraus trinken oder darin ertrinken), x ohne Sitzbänke oder unbequeme Sitzgelegenheiten (Obdachlose könnten sich sonst dort hinlegen bzw. es sich bequem machen wollen), x keine Büsche (Abfall könnte sich darin verfangen und Sexualtäter könnten sich dahinter verstecken), x keine attraktiven Spielgeräte oder Spiellandschaften (Kinder könnten sich verletzen) x mit vielen Papier- und Abfallkörben (niemand geht ein paar Schritte, um seinen Abfall zu entsorgen) x Abgrenzungen, Einzäunungen, Abpflanzungen (um ‚Grenzkonflikte’ zwischen unterschiedlichen Nutzungen zu vermeiden, z.B. Bolzplatzkäfig, Abpflanzungen zur Straße hin), x keine Schmuckelemente wie Statuen (sie würden nur beschmiert), x keine Staudenrabatten (sie überleben die Kinder, Jugendlichen und Hunde nicht!) x keine Kioske oder Toilettenhäuschen, keine dunklen Ecken (es könnten die ‚falschen’ Leute angelockt werden) x keine Grill- und Picknickplätze (gibt nur viel Müll) x strapazierbares, robustes, pflegeleichtes Material (Stahl, Beton, eher kein Holz) x keine frei beweglichen Gegenstände wie (Liege-) Stühle, Bänke oder Abfallkörbe (sie könnten gestohlen oder irgendwohin ‚entfernt’ werden), Diese Art von Präventionsarchitektur scheint sich ganz auf das am jeweiligen Einsatzort herrschende unsichere Milieu einzustellen und versucht zu schützen, was zu schützen ist, an Gestaltung und Ausstattung nur das vorzusehen, was langfristig instand zu halten ist und ‚unsichere’ Personen nicht zusätzlich anlockt (keine Toiletten, Kioske, uneinsehbaren Ecken). Diese Art von Präventionsarchitektur erscheint wie eine Not- und Abwehrmaßnahme: der Freiraum wird milieugemäß ‚befestigt’. Ein angenehmer Ort entsteht so wahrscheinlich nicht; das Milieu bleibt unter sich. Tatsächlich gibt es einen zweiten Ansatz der Präventionsarchitektur, der Sicherheit nicht auf Kosten einer ‚Ästhetik des Angenehmen’ (Tessin 2008), sondern weitgehend in ihrem Sinne zu verwirklichen versucht. Die gesamte stadtsoziologische Forschung im Kontext von Kriminalität, Vandalismus, Ausgrenzung etc. ist sich nämlich in dem Punkt ziemlich einig, dass der sicherste Ort an sich jener ist, der von vielen Menschen aufgesucht wird und der durchgängig belebt ist. Man kann deshalb ‚präventiv’ im Grunde nicht mehr für die Sicherheit tun, als stets genügend viele Leute in einen Freiraum zu locken, was natürlich am besten dadurch gelänge, dass man den Freiraum 60
nicht unbedingt im Sinne der obigen Art von Präventionsarchitektur ‚befestigt’, sondern ihn als einen besonders attraktiven, angenehm belebten Ort ausbildet: dann stellen sich (so der Ansatz) Sicherheit und Sicherheitsgefühl gleichsam wie von selbst ein. Tatsächlich scheint ein Blick auf die unterschiedlichen Freiraumtypen einer Stadt dies zu bestätigen: besonders schöne, wertvolle, wertgeschätzte Parks und Gärten sind fast immer sichere Orte. So hat erst jüngst Spitthöver (2009: 55f) wieder darauf hingewiesen, dass die seitens der Landschaftsarchitektur gern etwas belächelten ‚Blümchengärten’, also die Schmuck- und Ziergartenbereiche bei Senioren besonders gut ankommen. Insbesondere ältere Frauen halten sich dort überproportional gerne auf. Ein solcher Bereich wird von ihnen „als ein ansprechender, sehr gepflegter, sicherer Ort, mit nur verhältnismäßig wenigen Störungen“ (ebenda: 59) angesehen. Solche ‚schmucken’ Park- oder Platzbereiche sind meist frei von Jugendlichen und Migranten, vermutlich mit ein Grund dafür, warum ältere Menschen, vor allem Frauen, gerade diese intensiv gestalteten und gepflegten Bereiche als ‚sicher’ ansehen (und natürlich als höchst angenehm). In diesem Sinne lassen sich ‚Blümchengärten’ also auch präventionsästhetisch deuten: ‚Blümchen’ wirken hier wie jene unsichtbaren Zeichen, von denen Davis (1994) meint, dass deren Bedeutung von den Leuten sofort verstanden werde: einerseits als reizvoll (hier vor allem auf ältere Frauen), andererseits als reizlos (für eher jüngere Männer), so dass ein im Sinne der Frauen ‚sicherer’ Ort entsteht. Es gibt denn auch tatsächlich eine zweite, etwas subtilere Art der Präventionsarchitektur, die den Freiraum, der unsicher ist, so ambitioniert um- und neu gestaltet mit dem Ziel, ein anderes (verhaltenskonformeres, ‚besseres’) Publikum anzulocken. Man hofft, dass sich das alte ‚unsichere’ Milieu gleichsam in Wohlgefallen auflöst, sei es, dass es sich integriert und ‚verharmlost’ im neu entstehenden ‚sichereren’ Milieu, sei es, dass es sich ‚verzieht’, weil es sich hier nicht mehr wohl fühlt wegen der Normalbürgerdominanz oder der gleichsam ‚milieufremden’ neuen Gestaltung und Ausstattung, bei der man sich nicht angesprochen fühlt und es auch - gewollt - nicht wird. Vor diesem Hintergrund wäre auch eine bestimmte, anspruchsvolle Art von moderner Landschaftsarchitektur zu analysieren, die zunächst eher künstlerisch, denn präventionistisch daher kommt. Die gemeinte Stilrichtung könnte man notdürftig vielleicht umschreiben mit Minimalismus, formale Gestaltung, (‚schräge’) Geometrie (vgl. hierzu ausführlich Tessin 2008). Man könnte nun präventionistisch argumentieren, dass diese formale, abstrakte, asketisch-strenge Gestaltung vielleicht auch das Verhalten entsprechend beeinflussen, ihm ‚Halt’ geben soll ganz im Sinne jener These Worringers (1908), der meinte, dass formale, abstrakte Stilrichtungen sich in der menschlichen Kulturgeschichte immer dann zeigten, wenn ein Gefühl von Unruhe und Unsicherheit zu spüren sei. Es gibt auch andere präventionistisch deutba61
re Dinge im Gestaltungsrepertoire moderner Landschaftsarchitektur: oft unbequeme Sitzgelegenheiten (z.B. Betonquader statt Sitzbänke), eine klare Übersichtlichkeit bis hin zur Leere (keine ‚dunklen Ecken’, keine Büsche etc.), vandalismussichere Materialverwendung (viel Pflaster, Granit und Beton), eine karge (minimalistische) Ausstattung. Und ist diese Art von moderner Landschaftsarchitektur nicht auch voll von jenen weiter oben angesprochenen subtilen semantischen Zeichen, die ‚exklusiv’, also auf die eine oder andere Gruppe ausgrenzend wirken und auch so wirken sollen? Handelt es sich also hier gar um eine ‚künstlerisch wertvolle’, sozusagen Präventionsarchitektur ‚de luxe’? Es liegt nun nahe anzunehmen, dass die krude Art von Präventionsarchitektur vor allem wohl in Bezug auf jene städtischen Freiräume angewandt wird, von denen man annimmt, sie wegen ihrer Lage, Funktion, Geschichte, sozialen Umgebung, ihres spezifischen Milieus oder einfach wegen fehlenden Geldes nicht aufwerten zu können. Der Freiraum wird milieugemäß ‚befestigt’. Auf der anderen Seite die ambitionierte Umgestaltungs- und Aufwertungsstrategie vor allem dort, wo man hoffen kann, (wieder) mehr und andere Bevölkerungsgruppen in den Freiraum locken zu können, also vor allem wohl in den zentraleren, besseren und aufwertungsträchtigen Lagen. Hier hofft man, gerade auch mit ‚moderner’ Formensprache den unsicheren Milieus, die ja nicht unbedingt zur ästhetisch-kulturellen Avantgarde gehören, zu signalisieren, dass sie hier nicht (mehr) so recht hinpassen. Präventionsarchitektur ist also ein Stück weit Segregationspolitik mit den Mitteln der Gestaltung: das handfest Robuste für die ‚da unten’, das gemütlich Hübsche für die etwas ängstlichen Frauen und älteren Herrschaften, das modern Coole für die Smarten zwischen 16 und 36. Sind also nur entsprechend bevölkerungshomogene Milieus ‚sichere’? Sind die Menschen mit der Pluralisierung der Lebenslagen und der Lebensstile (vgl. hierzu noch Kap. 5.4 und 6.3) im öffentlichen Raum überfordert und suchen sie ihr Heil im Rückzug in die jeweils sicheren, geschlossenen Horte und Orte der Gleichgesinnten?
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4. Freiraumbedürfnisse
4.1
Bedürfnis, Wunsch und Verhalten Es ist ziemlich banal zu sagen, dass menschliches Verhalten bestimmten Antriebskräften entspringt. Fragt man jemand, warum er dieses oder jenes tut, dann verweist er - wenn nicht auf Zwänge und Pflichten - meist auf entsprechende Bedürfnisse, einen Wunsch, es zu tun. Bevor auf das Bedürfniskonzept einzugehen sein wird ein paar Bemerkungen zu verwandten Begriffen wie ‚Instinkten’ und ‚Trieben’. Unter Instinkten werden weitgehend angeborene, reflexartige Reaktionen auf bestimmte Umweltreize verstanden, die immer gleich sind und manchmal - etwa bei Tieren - sogar von Attrappen ausgelöst werden können: die Katze, die einem Wollknäuel als Mausersatz nachjagt, der Stier in der Arena, der auf das rote Tuch des Toreros losgeht usf. Nestbau, Revierverhalten, Machtkämpfe in einer Herde, Flucht- oder Angriffsreaktionen erfolgen bei Tieren unreflektiert, quasi sofort und automatisch, eben instinktartig. Auch tierisches Verhalten ist nicht bis ins Letzte hinein und vollständig instinkthaft, auch bei ihnen gibt es nicht nur festgelegte Handlungsprogramme, auch ihr Verhalten ist z.T. erlernt. Aber unstrittig ist, dass im tierischen Verhalten Instinkte eine zentrale Rolle spielen. Inwieweit steuern aber nun Instinkte menschliches Verhalten? Es war eine Zeit lang populär, auf das ‚Tierische’ im Menschen hinzuweisen, auf angeborene, instinkthafte Reaktionen (vgl. hierzu die Arbeiten von Lorenz, Tinbergen, Eibl-Eibesfeldt). Reagiert der Mann nicht auf entsprechende Schlüsselreize der Frau? Ist sein Werbungsverhalten und Imponiergehabe tierischem nicht sehr ähnlich? Ist das Verhalten von Menschen in der Masse nicht oft instinkthaft, primitiv, unreflektiert, reflexartig auf bestimmte Reize kurzgeschlossen? Man spricht umgangssprachlich vom Machtinstinkt des Politikers, vom Torinstinkt eines Mittelstürmers. Es hat sich schon in den 1920er Jahren ein amerikanischer Forscher die Mühe gemacht, rund 400 einschlägige wissenschaftliche Abhandlungen danach durchzusehen, welche instinktartigen Reaktionen dem Menschen dort zugeschrieben werden. Er zählte 5.684 als Instinkte bezeichnete Handlungsweisen des Menschen bis hin zum Instinkt, mit dem Finger in schmale Ritzen zu fahren und darin verborgene kleine Tiere zu verscheuchen. 63 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Heute geht man in der Regel von einer „Verarmung des Machtbereiches der Instinkte“ (Portmann) beim Menschen aus. Man leugnet die Existenz und Wirksamkeit von Instinkten beim Menschen nicht, glaubt aber, dass sie nur wenige Bereiche menschlichen Handelns betreffen, stark kulturell überformt sind und ihr Reaktionsmechanismus beim Menschen weniger eindeutig und deterministisch, vielmehr gebrochen ist. Während die Instinkttheoretiker eine Viel- (um nicht zu sagen: Un-) zahl von Instinkten auch beim Menschen für verhaltenswirksam halten, geht die Trieblehre den entgegengesetzten Weg und versucht, menschliches Verhalten auf einen oder ganz wenige sog. Triebe zurückzuführen, worunter man einen inneren Spannungszustand des Organismus zu verstehen hat, der, periodisch durch physiologische Prozesse erzeugt, jeweils einen Verlust des inneren Gleichgewichts (Homeostase) und das Streben zu dessen Wiederherstellung bewirkt. Die Spannung erscheint nach außen als Ruhelosigkeit, sie kann subjektiv als inneres Drängen erlebt werden, ohne dass das Triebziel bewusst werden muss. Was Triebe voneinander unterscheidet und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist die Beziehung zu ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Hunger, Durst, Müdigkeit, Langeweile usf. lösen psycho-somatisches Unbehagen aus und mobilisieren (Trieb-) Energie, das Unbehagen zu beheben. Auch wenn es das Bestreben der Triebtheoretiker war und ist, möglichst viel menschliches Verhalten auf möglichst wenig Triebe zurückzuführen, so hat sich doch keine Einigkeit herstellen lassen, so dass allerlei Triebe diskutiert werden: Sexualtrieb, Aggressionstrieb, Geltungstrieb, Wandertrieb, Sammlertrieb, Spieltrieb, die Neugierde usf. Der zentrale Einwand gegen die Trieblehre ist demzufolge zum einen die relative Beliebigkeit, mit der man bestimmte Triebe behauptet (aber das gilt auch für die Bedürfnis- und Instinktlehre), zum anderen suggeriert die Annahme von Trieben eine starke Natur- und Tierhaftigkeit menschlichen Verhaltens, wie es im Begriff ‚triebhaft’ als ‚unkontrolliertem, von der menschlichen Norm abweichendem Verhalten’ ja auch zum Ausdruck kommt. Generell wird man jedoch die in der Trieblehre herausgearbeiteten Triebfedern menschlichen Verhaltens (Sexualität, Selbsterhaltung etc.) als plausibel akzeptieren, wenn auch heute mehr von menschlichen Bedürfnissen bzw. Grundbedürfnissen gesprochen wird. Die Beschäftigung mit menschlichen Antrieben bzw. Bedürfnissen wirft auf ganz grundsätzlicher Ebene eine Vielzahl ungeklärter Fragen auf, die einen unbefangenen Umgang mit Bedürfnissen zur Erklärung menschlichen Verhaltens erschweren. Ja, es gibt Vorschläge, wegen dieser theoretischen wie methodologischen Probleme auf den Bedürfnisbegriff gänzlich zu verzichten und das menschliche Verhalten nicht weiter zu interpretieren, sondern es bloß als das zu nehmen, als was es zu beobachten ist und ihm nicht irgendein Motiv zu hinterlegen (Thum 1980: 19). 64
Grundlage der Trieb-, aber auch der Bedürfnistheorie (vgl. hierzu u.a. Hondrich 1975; Schöpf 1987; Rudolf 1983) ist ja der Versuch, mehr oder weniger jegliche menschliche Aktivität auf ein entsprechendes Bedürfnis zurückzuführen. Man geht spazieren, weil man ein Bedürfnis nach Bewegung hat, man spielt, weil man als Mensch einen Spieltrieb hat. Dieses Bewegungsbedürfnis oder der Spieltrieb wird aber nur deshalb angenommen, weil man das entsprechende Verhalten beobachtet. Man ‚erklärt’ also ein Verhalten durch ein Bedürfnis, das man seinerseits durch das entsprechende Verhalten erst er- bzw. gefunden hat. Ein klassischer Zirkelschluss. In Kap. 9.3 wird noch von einem sog. Aneignungsverhalten die Rede sein, also von der Tatsache, dass sich Menschen ihre Umwelt ‚zu eigen’ machen. Aus dieser unbezweifelbaren Tatsache schließen einige ‚Aneignungstheoretiker’ (vgl. z.B. Obermaier 1980) auf ein entsprechendes Bedürfnis des Menschen, sich die Umwelt aneignen zu wollen. Aber könnte es nicht auch sein, dass sich räumliche Aneignung auch als quasi zwangsläufige Folge eines längeren Aufenthaltes an einem Ort ergibt, ob man es nun will oder nicht? Aber die Schwierigkeiten gehen weiter: Denn Bedürfnisse sind dem Handelnden nur z.T. bewusst, häufig ist man sich gar nicht über die ‚wahren’ Motive des eigenen Verhaltens klar, das meiste bleibt unbewusst, uneingestanden, weshalb Bedürfnisse schwer abfragbar sind. Auskünfte der Betroffenen über ihre Bedürfnislage sind meist nur Teilauskünfte, manchmal sogar regelrechte Falschaussagen. Menschliches Verhalten ist nämlich in der Regel vielfältig motiviert. Die unterschiedlichsten Bedürfnisse können zu ein und derselben Verhaltensweise führen etwa zum Wunsch nach einem Garten. Man kann spazieren gehen, weil man das Bedürfnis nach Bewegung hat, nach frischer Luft, nach Abwechslung, nach Naturerleben, nach Bekanntschaften, nach Erholung, nach Ruhe zum Nachdenken usf. Anders ausgedrückt: die unterschiedlichsten Bedürfnisse können zu demselben Verhalten führen. Und selten ist ein Verhalten nur durch ein Bedürfnis motiviert. Diese Vielfalt der Bedürfnisse ist nun nicht so zu verstehen, dass der eine eben dieses, ein anderer jenes, ein Dritter ein drittes hat, sondern in dem Sinne, dass jeder, der einen Spaziergang macht, zumindest 4 oder 5 Gründe (Motive, Bedürfnisse) angeben könnte. Natürlich kann ein und dasselbe Bedürfnis auch zu den unterschiedlichsten Verhaltensweisen führen. Das Bedürfnis nach Bewegung etwa kann zu allen möglichen Sport- und Spiel- und Bewegungsweisen führen, ja, irgendwelche Arbeiten in Haus und Garten können dazu dienen, das Bewegungsbedürfnis zu befriedigen. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung etwa kann man durch eine Unzahl von Aktivitäten erreichen. Bedürfnisse sind also nicht eindeutig zielgerichtet, auf ein ganz spezielles Verhalten fixiert. Die Kenntnis (und Wirksamkeit) eines Bedürfnisses sagt also noch nicht so sehr viel aus über das zu erwartende konkrete Verhalten, denn das ist 65
stark situationsabhängig, abhängig von den konkret zur Verfügung stehenden Befriedigungsmöglichkeiten (vgl. Kap. 5). Insofern ist es auch wichtig, zwischen Bedürfnissen und den jeweiligen Befriedigungsmöglichkeiten begrifflich klar zu trennen, denn sonst käme man auf unzählige Bedürfnisse, also etwa auf das Bedürfnis, ein Boss-Hemd tragen, einen Mercedes fahren oder ein Bier trinken zu wollen. Vielmehr sind das Boss-Hemd, der Mercedes, die Flasche Bier nur Befriedigungsmöglichkeiten für dahinterliegende Bedürfnisse. Kurzum, es ist wichtig, dass man nicht jedes Verhalten bzw. jeden Verhaltenswunsch schlankweg zu einem Bedürfnis erklärt, sondern es als Befriedigungsmöglichkeit ansieht für dahinterliegende Bedürfnisse (die auch eventuell anders zu befriedigen wären). Bedürfnisse beinhalten mehr generelle Verhaltensorientierungen. Wenn sie konkret werden, auf ein spezifisches Verhalten zielen, sollte man besser von Wünschen sprechen, die also als konkretisierte Bedürfnisse, besser: als erhoffte Befriedigungsmöglichkeiten anzusehen sind. Einen Park aufsuchen, einen Garten erwerben oder eine Fahrt ins Grüne unternehmen zu wollen, ist - in diesem Sinne - kein Bedürfnis, sondern ein Wunsch. Zwischen einem (Grund-) Bedürfnis und einem daraus letztlich resultierenden konkreten Verhaltenswunsch muss man sich also viele, um nicht zu sagen: unendlich viele Konkretisierungsstufen vorstellen etwa der Art: 1. Stufe: Grundbedürfnis nach körperlichem Wohlbefinden 2. Stufe: Bedürfnis nach Bewegung 3. Stufe: allgemeiner Wunsch nach Sportausübung 4. Stufe: konkreterer Wunsch, ins Fitness-Studio zu gehen 5. Stufe: konkreter Wunsch, dort die Hanteln zu stemmen. Wie auch immer schwierig diese Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Wunsch sein mag, so ist sie für die Freiraumplanung doch höchst bedeutsam. Planer haben nämlich sehr genau darauf zu achten, dass sie heute gängige Verhaltensweisen, Befriedigungsmöglichkeiten oder artikulierte Wünsche nicht umstandslos als Bedürfnisse deklarieren und akzeptieren, sondern zu prüfen versuchen, ob es für das zugrunde liegende Bedürfnis nicht vielleicht andere Befriedigungsmöglichkeiten gibt. Dass das nicht immer leicht ist, soll im Folgenden am Beispiel einerseits des verbreiteten Wunsches nach einem Eigenheim mit Garten angerissen werden, andererseits am Vandalismus, also am Wunsch, Dinge mutwillig zu beschädigen oder gar zu zerstören.
4.2
‚Falsche’ Bedürfnisse?
Bisweilen ist es so, dass Planer vor dem Hintergrund ihrer eigenen Werthaltungen und Überzeugungen, auch unter dem Anspruch, das Allgemein66
wohl zu vertreten, sich schwer tun, bestimmten Freiraumverhaltenswünschen der Bevölkerung nachzukommen. Sie sprechen dann bisweilen von ‚falschen’ Bedürfnissen der Bevölkerung, meinen aber im Grunde nur, dass die Leute ihre durchaus verständlichen Bedürfnisse ‚falsch’ zu befriedigen suchen, sich also das ‚Falsche’ wünschen, etwa ein freistehendes Eigenheim mit Garten (vgl. hierzu Tessin 1994). Für den Sozialpsychologen Mitscherlich (1975: 60) etwa schien vor gut fünfzig Jahre der damals massenhaft aufkommende Eigenheim-mit-GartenWunsch bare Ideologie, und er sprach damit aus, was man in Planerkreisen genauso sah: „Man braucht sich nur an die leblose oder auch gereizte Stimmung in vielen von 500 oder 1500 oder 5000 qm Rasen umgebenen Einfamilienhäusern zu erinnern, um zu begreifen, dass diese Parzellierung der Natur nicht das bringen wird, was der von idealisierenden Hoffnungen geschwellte Erbauer eines solchen Einfamilienhauses sich erträumt hatte.“ (Mitscherlich 1975: 60) Vor diesem Argumentationshintergrund liegt es nahe, den empirisch sich in breiten Kreisen der Bevölkerung zeigenden Wunsch nach einem Eigenheim mit Garten auf ‚falsches Bewusstsein’ und ‚Bewusstseinsmanipulation’ zurückzuführen. So schrieb schon Schwab um 1930: „Vielmehr hat bald nach dem Kriege und der Revolution eine planmäßige Beeinflussung eingesetzt, die darauf gerichtet war, das Ideal des ‚eigenen’ kleinen Häuschens und Gartens als eines der wichtigsten Ziele in die Herzen der Massen zu pflanzen.(...) Jeder Arbeiter sollte als letztes Ziel die Rückwandlung in den ‚freien Mann auf freier Scholle’ vor sich sehen, sozusagen die Existenz als Miniaturvillenbesitzer oder als Miniaturgutsherr, der nur so nebenbei, halb zu seinem Vergnügen, ein wenig in der Fabrik arbeitet.“ (Schwab 1930: 82) Dass es diese Beeinflussungsstrategie etwa seitens der Bausparkassen über fast ein Jahrhundert gab, ist wohl unstrittig (vgl. hierzu Frank, Schubert 1983: 69ff), und noch bis in dieses Jahrhundert hinein gehörte ja die Förderung des Eigenheims mit Garten zu den Grundfesten staatlicher Wohnungsbaupolitik. Aber es scheint sich dabei mehr um die Bedienung eines durchaus plausiblen Bedürfnisses auf Seiten der Bevölkerung nach Sicherheit, geschützter Privatheit, nach Unabhängigkeit, gesellschaftlicher Anerkennung und Selbstverwirklichung zu handeln. Für viele in der Stadt- und Landschaftsplanung Tätige bleibt dieser Wunsch mit Blick auf die damit verbundene Gefahr der Landschaftszersiedlung jedoch ein Alptraum (vgl. Tessin 1994). Schon Gemünd hatte formuliert:
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„Es kann deshalb auch nicht das Ziel der städtischen Dezentralisation sein, unsere Städte an der Peripherie immer mehr in ein Meer kleiner und kleinster, in Gärtchen eingebetteten Häuschen aufzulösen.“ (Gemünd 1913: 85) Und rund 60 Jahre später schrieb Mitscherlich (1976: 13): „Das Vorort-Einfamilienhaus, dieser Nachkömmling der stadtbezogeneren Villa des späten 19.Jahrhunderts, ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherren ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln.“ Aufgabe der Stadt- und Landschaftsplanung wäre es also entweder tatsächlich den Nachweis zu führen, dass ein Eigenheim mit Garten nicht zu mehr Unabhängigkeit, Sicherheit, geschützter Privatheit oder zu mehr Selbstverwirklichung führt, was vermutlich schwer fallen würde. Oder aber man akzeptiert vernünftigerweise diesen Eigenheim-mit-Garten-Wunsch und sucht und entwickelt gartenbezogenen Wohnformen, die vielleicht weniger mit dem Allgemeinwohlziel des flächensparenden Bauens kollidieren, die zugleich aber den dem Haus-mit-Gartenwunsch zugrundeliegenden Bedürfnissen in angemessener Weise Rechnung tragen. Und in Gestalt von Reihenhäusern, Kleingärten oder Mietergärten sind ja diese Alternativen zum freistehenden Einfamilienhaus mit Garten auch längst entwickelt worden. Schwerer dürfte es fallen, solche ‚Ersatzlösungen’ für den Wunsch mancher Jugendlicher zu finden, Dinge, die ihnen nicht gehören, mutwillig zu beschädigen, in Brand zu setzen oder gar zu zerstören. Oder ist gerade dieser ‚Sachbeschädigungswunsch’ eine Ersatzbefriedigung für an sich gesellschaftlich durchaus respektable Bedürfnisse (vgl. hierzu Tessin 2002b)? x Häufig spielen beim vandalistischen Verhalten Frustrationsmotive (Wut, Rache, Selbsthass, Langeweile) eine große Rolle. Man ist frustriert, ist geärgert, gedemütigt, vernachlässigt worden, man weiß nichts mit sich anzufangen und sucht irgendein Ventil für seine angestaute Aggression. Mal richtet sich diese Aggression gegen eine einzelne Person und eine ihr gehörende Sache, mal gegen eine Institution (Schule, Staat, Behörde), mal gegen bestimmte als Sündenbock fungierende Bevölkerungsgruppen, mal gegen alles und jedes, die Gesellschaft schlechthin. Zwischen der Frustrationsursache und dem Gegenstand der Sachbeschädigung kann, muss aber kein unmittelbarer Zusammenhang bestehen. x Vielfach spielen bei vorsätzlichen Sachbeschädigungen auch Anerkennungsmotive eine Rolle. Vor allem in jugendlichen Gruppen spielen Mutproben, riskante Ideen eine erhebliche Rolle für die jeweilige Stellung des einzelnen in der Hierarchie der Bezugsgruppe (vgl. Kap. 2.1): (vermeintlich) männliche Tugenden wie Wagemut, Kraft, Schnelligkeit, Pfiffigkeit (‚nicht erwischt werden’!) werden nicht zuletzt über Sachbeschädigungen 68
erprobt und nachgewiesen und zahlen sich aus in Form von Anerkennung in der Gruppe, nicht selten in (weiblicher) Bewunderung. x Für die Vandalismus-Forschung berühmt geworden ist der Aufsatz von Allen u. Greenburger (1978), die in ihrer „aesthetic theory of vandalism“, einfach und knapp formulieren: zerstören, in Brand setzen, demolieren macht einfach Spaß, ist Lustgewinn, ein intensiver sinnlich-ästhetischer Reiz. Sie verweisen auf die moderne Kunst, wo Dinge ebenfalls nicht in ihrer ‚heilen’ Schönheit gezeigt werden, sondern in ihrer Kaputtheit, Entstellung, Zerrissenheit und Demontage, und sie verweisen auf die Katastrophenfilme Hollywoods, auf die eigenartige sinnliche Faszination, die Autounglücke, Brände, Häuserabrisse in uns auslösen. Vandalismus, so Allen u. Greenburger, noch dazu als Straftat ist Lustgewinn, sinnliche Erregung pur. x Der Nervenkitzel der Sachbeschädigung hat auch was mit Entfaltungsmotiven zu tun: mit Experimentierfreude (was kann ich?), mit Neugier (was passiert, wenn ich das mache?), mit Ausprobieren (wann zerbricht was?), mit Machterprobung (ich bin Herr aller Dinge!), mit Grenzüberschreitung (werde ich erwischt?), mit Freiheitsdrang (ich lasse mich nicht durch einen spießigen Verhaltenskodex gängeln) bis hin zu künstlerisch-kreativen Bedürfnissen (etwa bei Graffitis). Alle diese (z.T. auch pubertären) Motive können einen veranlassen, Sachbeschädigungen zu begehen. x Bei Überzeugungsmotiven kommt schließlich ein politisch-weltanschaulicher, ideologischer Überbau hinzu: Man protestiert (angeblich) gegen den Feudalismus, die Repräsentationssucht der Reichen, gegen die Betonarchitektur der Neuzeit, die Nacktheit von Statuen im Park, gegen die Sauberkeit und Ordnung im Park, die Spießigkeit einer Parkordnung usf. Schaut man sich diese möglichen Motive an, die in der Regel vielfältig gemischt zum Tragen kommen, könnte man auf den Gedanken kommen, nicht die Sachbeschädigung sei als (Fehl-) Verhalten erklärungsbedürftig, sondern die Nicht-Sachbeschädigung. Warum verhalten sich nicht viel mehr Menschen vandalistisch, wenn es denn so viel Spaß oder Eindruck macht? Bekanntlich sind es zwei Gründe: Zum einen akzeptieren die meisten Menschen einfach die gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die Gesetzeslage, sei es aus Einsicht, sei es aus Angst vor Strafe. Zum anderen befriedigen die meisten Menschen ihre Bedürfnisse nach Anerkennung, nach Frustrationsentlastung, nach Spaß, nach Selbstverwirklichung, ihre politischideologische Überzeugungssucht auf andere (legitimierte) Art und Weise; sie haben zur Sachbeschädigung alternative Möglichkeiten der Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Sie brauchen nicht zu gesellschaftlich inakzeptablen Befriedigungsarten zu greifen. Am vandalistischen Verhalten der meist ja männlichen Jugendlichen sind also nicht die ihm zugrundeliegenden Bedürfnisse 69
problematisch oder gar ‚falsch’, als vielmehr die aus ihnen (z.T. aus Mangel an Alternativen) abgeleiteten Verhaltenswünsche. Vandalismusbekämpfung hieße also, den betroffenen Jugendlichen, alternative Möglichkeiten zu bieten, ihre Frustration abzubauen, Anerkennung zu finden, sich auszuprobieren. Das ist freilich leichter gesagt als getan. 4.3
Menschliche Grundbedürfnisse (Maslow) und Freiraumverhalten Es hat bis heute zahlreiche Versuche gegeben, so etwas wie Grundbedürfnisse des Menschen herauszuarbeiten, die allen Menschen zu eigen seien. Ihre Befriedigung müsse - mehr oder weniger - gewährleistet sein, damit der Mensch überlebe durchaus in einem etwas erweiterten Sinne. Einigkeit über die menschlichen Grundbedürfnisse herrscht freilich nicht. Von Maslow (1954) stammt der heute gängigste Katalog von Grundbedürfnissen. Er unterscheidet 5 Grundbedürfnisse: physiologische Grundbedürfnisse (Ruhe, Bewegung, Essen, Luft zum Atmen etc.) und Grundbedürfnisse nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit und Zuneigung, nach Achtung und Respekt und nach Selbstverwirklichung. Interessant ist nun (Tessin 2002c), dass Maslow diese Grundbedürfnisse in eine Art von hierarchischer Ordnung bringt (vgl. Abb. 3). Sie sind in der genannten Reihenfolge geordnet von sog. ‚niederen’ zu ‚höheren’ Grundbedürfnissen: x je niedriger die Stufe, desto lebensnotwendiger die Befriedigung des Bedürfnisses, je höher, desto verzichtbarer die Befriedigung. x Zugleich aber variiert der subjektiv erlebte Befriedigungswert in der entgegengesetzten Richtung. Die Befriedigung eines höheren Bedürfnisses wird subjektiv als befriedigender erlebt als die Befriedigung eines sog. niederen Bedürfnisses (vgl. Seiffge-Krenke, Todt 1977: 196). x Zugleich würden - so Maslow - die höheren Bedürfnisse erst dann auftreten, wenn die niederen hinreichend befriedigt wären. Der Parkbesuch etwa ließe sich mit Blick auf Maslow nun recht gut diesen Grundbedürfnissen, vor allem aber den physiologischen Grundbedürfnissen zuordnen. Fragt man die Leute, warum sie Parkanlagen aufsuchen, dann hört man eigentlich immer „frische Luft schnappen“, „körperliche Bewegung“, „ist gesund“, „dient der Erholung“ oder „in der Sonne sitzen“. Die anderen ‚höheren’ Grundbedürfnisse, Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Zuneigung, nach Achtung, nach Selbstverwirklichung, spielen mit hinein, stehen aber beim Parkbesuch nicht so um Vordergrund, wenn dies auch von Park zu Park recht unterschiedlich sein kann.
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Abb. 3: Hierarchie der Grundbedürfnisse nach Maslow Notwendigkeit der Befriedigung
Grundbedürfnis
subjektiv erlebter Befriedigungswert
Physiologische Grundbedürfnisse Sicherheit Zugehörigkeit/Zuneigung Achtung/Respekt Selbstverwirklichung
Wenn beim Parkbesuch das Selbstverwirklichungsmotiv nur am Rande auftaucht bzw. nur mit Blick auf ganz bestimmte Personen bzw. Parkanlagen, dann ist das beim eigenen Garten ganz anders, den man geradezu als Mittel zur Selbstverwirklichung bezeichnen könnte (vgl. Tessin 1994): Insofern das Gärtnern eine Form der Naturaneignung darstellt, die auf die Kultivierung von Natur abzielt, die noch gleichsam handwerklich ausgeübt wird, einen unmittelbaren und die Person total einbeziehenden Zugang zur Natur eröffnet, zugleich affektiv aufgeladen wie auch unmittelbar praktisch ist, vereint die Gartentätigkeit in geradezu einzigartiger Weise die unterschiedlichsten Formen der Naturaneignung. Zugleich handelt es sich bei der Gartenarbeit um eine Form suspensiver Arbeit, worunter nach einer These des Soziologen Habermas (1973) aus den 1950er Jahren ein Freizeitverhalten zu verstehen ist, das arbeitsähnlich ist, das aber von der mit der Berufsarbeit verbundenen Fremdbestimmung, Abstraktheit und Unverhältnismäßigkeit ‚suspendiert’ ist; die Gartenarbeit erschließt eine Befriedigungsmöglichkeit (im Gegensatz zur Berufsarbeit) für das „sonst abgewürgte Bedürfnis, etwas Ganzes, Rundes, Wachsendes von Anfang bis Ende herzustellen.“ (Tränkle 1975: 35) Man wirtschaftet mit eigenen Produktionsmitteln, auf eigenem Grund und Boden, nach eigenen Vorstellungen, für den eigenen Bedarf. Im Garten bzw. in der Gartenarbeit sind Arbeit und Kapital, Produktion und 71
Konsumtion, Kopf- und Handarbeit nicht wie im Berufsleben getrennt, sondern eng miteinander verknüpft. Das macht nach wie vor den Reiz der Gartenbeschäftigung aus. Dabei spielt das Gefühl, auf eigenem Grund und Boden sich ein Stück weit selbst zu verwirklichen, eine große Rolle: „Es ist etwas Eigenthümliches um die im Menschen liegende Sehnsucht nach Grundbesitz, einen Trieb, den selbst das fieberhaft pulsirende Güterleben der Gegenwart nicht abzuschwächen vermochte. Es ist dieß das unbewußte Gefühl von der wirthschaftlichen Errungenschaft, die der Grundbesitz darstellt. (...). Doch weit über diese materiellen Vortheile reicht die Segenskraft des Grundbesitzes. Wer so glücklich ist, einen solchen sein zu nennen, hat die denkbar höchste Stufe wirthschaftlicher Unabhängigkeit erreicht; er hat ein Gebiet, worauf er souverän schalten und walten kann, er ist sein eigner Herr, (...).“ (Sax 1869: 63) Natürlich weiß jeder Gärtner, dass er in seinem ‚Garten-Reich’ vielen Restriktionen der freien Gestaltung und Nutzung unterworfen ist. Mit der ‚Macht und Herrlichkeit auf der eigenen Scholle’ ist es nicht weit her, aber der Wunsch nach Besitz und Selbstbestimmung, nach einer ‚eigenen Scholle’, auf der man schalten und walten kann, ist nach wie vor vorhanden. Der öffentliche Park bietet also gegenüber dem eigenen Garten längst nicht so viel an ‚höheren’ Bedürfnisbefriedigungen insbesondere in Gestalt des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung. Allerdings können die Besuchsmotive auch bei einem Park durchaus unterschiedlich sein: So ergab eine Befragung in den Herrenhäuser Gärten in Hannover (eigene Unterlagen 2001), dass die Besucher der drei Gärten (Großer Garten, Berggarten, Georgengarten) den ihnen vorgelegten Motiven durchaus unterschiedliches Gewicht beimaßen je nachdem, ob sie sich im Berggarten, einer Art von Botanischem Garten, im Großen Garten, einer gartenhistorisch bedeutsamen Barockanlage, oder im Georgengarten, einem Landschaftspark, aufhielten. Die Mehrzahl der Besucher in allen drei Herrenhäuser Gärten eint zunächst mal das physiologische Grundbedürfnis nach Ruhe, Erholung, Sonne und frischer Luft. Neben diesem (vgl. hierzu weiter unten) für jegliches Freiraumverhalten grundlegenden Bedürfnis kommt die unterschiedliche Bedürfnislage der Besucher der drei Gartentypen jedoch recht deutlich zum Ausdruck: Der Berggarten ist besonders was für Pflanzen-, Natur- und Botanikinteressierte, der Große Garten etwas für Leute mit Interesse für Gartenkunst und Gartengeschichte (auch mit dem Hang zu Sehenswürdigkeiten), und der Georgengarten hat einen relativen motivationalen Schwerpunkt im Bereich von Gewohnheit, Zeitvertreib, Unterhaltung u.ä. Man könnte es so formulieren: im alltäglich genutzten Park dominieren physiologische Grundbedürfnisse, im Park, den man sozusagen besichtigt, die sog. höheren Bedürfnisse. 72
Es scheint zunächst schwierig zu sein, das häufig genannte Motiv (vgl. z.B. Nohl 1977, Thum 1980), „mich an der Schönheit der Natur erfreuen“, der Maslow’schen Typologie zuzuordnen. Ein Grundbedürfnis nach Schönheit oder nach Natur sieht Maslow nicht explizit vor. Er ordnet das ästhetische, auch das Kunstinteresse, jedoch dem Selbstverwirklichungsbedürfnis zu. Speziell in Bezug auf die ‚Naturliebe’ bzw. das Wohlbehagen in der Natur, das wir empfinden, scheint jedoch weniger dieses Selbstverwirklichungsbedürfnis zum Tragen zu kommen als möglicherweise vielmehr das Maslow’sche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Zuneigung anzuklingen. Ich neige der Natur zu, die ich ‚schön’ finde oder die mir ‚vertraut’ ist, in der ich mich wohl und ‚aufgehoben’ fühle. Ich stimme mich auf sie ein und erlebe dabei bisweilen einen stimmungsmäßigen Gleichklang. In ihm, so Smuda (1986: 61), „erleben wir eine Korrespondenz der Welt in uns mit der Welt außer uns.“ Bis hin (die Naturlyrik ist voll davon) zum Gefühl eines ‚Aufgehobenseins’ in der Natur, ein Teil dieser Natur oder Landschaft zu sein. Das scheint - gerade beim alltäglich genutzten Park - weniger was mit Selbstverwirklichung als was mit Zuneigung und Zugehörigkeit, letztlich also was mit Aneignung und Identifikation zu tun zu haben. Beim alltäglichen Parkbesuch stehen jedoch insgesamt mehr die genannten ‚niederen’, physiologischen Bedürfnisse im Vordergrund, was nach Maslow bedeuten würde, dass dem Parkbesuch eine nach wie vor große Bedeutung für das alltägliche Leben zukäme, was ja auch durch entsprechende Umfragen immer wieder bestätigt wird. „Frische Luft“, „ein bisschen Bewegung“ ist fast so wichtig wie das buchstäbliche „Dach über dem Kopf“, das tägliche Essen oder der nächtliche Schlaf. Aber, so Maslow, so wichtig die Befriedigung solcher physiologischen Grundbedürfnisse auch ist, ihr subjektiv erlebter Befriedigungswert ist relativ gering nach dem Motto: Frische Luft ist wichtig, aber sie einzuatmen macht (im landläufigen Sinn) nicht eigentlich Spaß. Wenn das so wäre, dann würde - entsprechend der Maslow’schen Theorie - andererseits folgendes gelten: x Die Gestaltung (Schönheit) eines Parks wird zunächst einmal subjektiv als weniger wichtig angesehen als etwa die Möglichkeit, sich zu ergehen, frische Luft zu schnappen. Auch die Sicherheit eines Freiraumes wäre demnach bedürfnismäßig wichtiger als sein Aussehen, wenn es denn nicht bereits als ‚gesichert’ angesehen wird. x In Bezug auf die Schönheit eines Freiraumes könnte man - ohne allzu große Bedürfnisfrustration - die meisten Abstriche hinnehmen. Tatsächlich suchen ja auch die Bewohner nicht den jeweils schönsten Park der Stadt auf sondern in der Regel den jeweils nächstgelegenen.
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x Schließlich aber: wenn ästhetische Bedürfnisse wirksam werden (etwa bei der Erstbesichtigung eines Parks), dann wird ihre Befriedigung subjektiv positiver erlebt als die Befriedigung eines grundlegenderen Bedürfnisses. Wenn man von einem Park oder einer Landschaft schwärmt, dann ist es wie man aus eigener Erfahrung weiß - wegen der Schönheit und weniger wegen der frischen Luft, die man dort atmet (vgl. hierzu ausführlich Tessin 2008). 4.4
Freiraumspezifische Bedürfnisse: Naturliebe oder Frischluft? Nun kann man kreativ tätig sein auch am Schreibtisch, soziale Erfahrungen kann man auch in einer Kneipe sammeln, innere Selbsterfahrung in Yoga-Stellung auf dem Wohnzimmerteppich, ästhetische Befriedigung auch in einer Kirche oder in einem Museum suchen. Also alle Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung, nach Zugehörigkeit ließen sich auch in geschlossenen Räumen befriedigen und wären demnach nicht freiraumspezifisch. Bisweilen wird behauptet, ein wie auch immer geartetes ‚Naturbedürfnis’ sei das ‚eigentliche’, dem Freiraumbesuch zugrundeliegende Bedürfnis. Mit Blick auf die Maslow’sche Typologie der Grundbedürfnisse wäre zunächst einmal zu sagen, dass es sich beim Naturbedürfnis auf keinen Fall um ein Grundbedürfnis handelt, dazu wäre es sozusagen schon ‚zu konkret’, zu zielgerichtet. Andererseits ist es auch noch kein konkreter Wunsch im oben definierten Sinne; dazu wäre es noch zu unspezifisch, denn es gäbe ja noch zu viele unterschiedliche Möglichkeiten, ein Naturbedürfnis zu befriedigen. Sprechen wir also von einem aus dem Grundbedürfnis nach Zuneigung und Zugehörigkeit resultierenden Bedürfnis nach ‚Natur’, das sich seinerseits in einer Vielzahl von Verhaltenswünschen manifestieren könnte, etwa im Wunsch, ans Meer fahren, einen Sonnenuntergang erleben, Tiere beobachten zu wollen. Ist dieses ‚Naturbedürfnis’ nun konstitutiv für den Besuch von Freiräumen? Zweierlei ist daran irritierend (vgl. Tessin 1991): zum einen die Tatsache, dass die Leute gar nicht so schrecklich auf die Natur achten, wenn sie ‚draußen’ sind. Ihre Naturerlebnis-Schilderungen bleiben meist blass und klischeehaft, an Details sind sie kaum interessiert. Zum anderen hat man in entsprechenden Umfragen häufig die Erfahrung gemacht, dass die Leute auf die Frage, warum sie in Parks und Grünanlagen gehen würden, von sich aus selten das Motiv ‚Naturerleben’ erwähnen, stattdessen Motive nennen wie Spazieren gehen, wegen der Kinder, um mich zu erholen etc.; Natur erleben scheint keine eigenständige Freizeitbeschäftigung zu sein. Wir sehen fern, hören Musik, treiben Sport, feiern Feste, gehen spazieren, aber keiner sagt, er hätte am Wochenende ‚Natur erlebt’. Naturerleben ist in aller Regel kein Selbstzweck, keine sich selbst genügende oder uns ausfüllende Tätigkeit, 74
vielmehr hat die Natur eher Kulissencharakter. Wir erleben Natur beim Spazieren gehen, beim Angeln, beim Jogging oder Golfen, beim Wandern, beim Gärtnern, gleichsam als Nebeneffekt. Es geht vielmehr um das eigene Tun (in schöner, gesunder oder auch nur anderer Umgebung), so wie man sich beim Essen im Restaurant gern einer schönen Atmosphäre erfreut. Das Motiv des Naturerlebens ist gleichsam in den anderen genannten Motiven bzw. Beschäftigungen mit gemeint und mit aufgehoben. Naturerleben geschieht eher beiläufig, im Hintergrund, nicht so, wie man ein Buch liest, einen Kinofilm sieht oder sich ein Konzert anhört. Aber weil beim Spazieren gehen, beim Hundausführen, beim Joggen das ‚Naturerleben’ stets mit aufgehoben ist, fällt es Befragten dann relativ leicht, wenn das Motiv ‚Naturerleben’ ihnen explizit in einer Befragung vorgelegt wird, es als ‚wichtig’ zu benennen zumal es sich ‚gut macht’. ‚Naturliebe’ war lange Zeit eine der meist angepriesenen Charaktereigenschaften in Bekanntschafts- und Heiratsannoncen. Im Rahmen einer eigenen unveröffentlichten Untersuchung zum Landschaftsraum am Kronsberg in Hannover wurde in mehreren Befragungen versucht herauszufinden, wie sehr die Besucher an Natur bzw. an der konkreten Landschaft des Kronsbergs interessiert sind, oder ob es ihnen mehr um Allerweltsaktivitäten wie ‚frische Luft schnappen’, ‚Hunde ausführen’ usf. geht: x 38% der Befragten bezeichneten sich selbst als ‚sehr naturinteressiert’, x 44% als durchaus interessiert, x 18% als kaum oder gar nicht interessiert. Auf die speziell auf die Landschaft am Kronsberg bezogene Frage äußerten x 18% ‚(sehr) großes’ Interesse, x 44% ‚durchaus Interesse’ und x 37% geringes (25%) bzw. kein Interesse (12%). Trotz der Problematik solcher und ähnlicher Fragen wird Zweierlei deutlich: die Mehrheit der Besucher ist - nach eigenen Aussagen - mehr oder weniger ‚naturinteressiert’. Doch nicht in jeder Landschaft setzt sich das allgemeine Naturinteresse in ein konkretes Interesse an der jeweiligen Landschaft um. Das Naturinteresse (meist gleichgesetzt mit ‚landschaftlichem Erleben’; vgl. dazu Tessin 1991) ist also sicherlich ein wichtiges und sehr verbreitetes Motiv, Freiräume aufzusuchen, und sicherlich ist ein solches Motiv auch in erster Linie in Parks und Landschaften zu befriedigen, aber ganz offensichtlich ist es (schon mit Blick auf die Vielzahl nicht landschaftlich geprägter Freiräume) so, dass nicht jedem Freiraumbesuch ein solches Naturinteresse zugrunde liegt.
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Auf der Suche nach einem nur im Freiraum zu befriedigenden und von allen Besuchern geteilten Bedürfnis, besser: Wunsch, könnte man jedoch vielleicht wie folgt argumentieren (vgl. hierzu ausführlicher Tessin 1981): Der Prozess der Verstädterung und Verhäuslichung des menschlichen Daseins hat den Menschen der ‚natürlichen’ Umgebung entfremdet. Über Jahrtausende hat er wesentlich auch ‚draußen’ gelebt, nicht in Häusern, sondern in der Natur, beim Fischen, Jagen, auf den Äckern und Wiesen in der Landwirtschaft. Und es ist kaum übertrieben festzustellen, dass der Wechsel des Menschen quasi ‚aus der Natur’ (Jäger- und Sammlergesellschaft) über das Landleben der Agrargesellschaft in die Stadt der Industriegesellschaft in seiner Tragweite durchaus vergleichbar ist dem mancher Reptilienarten vom Wasser auf das Land. Dieser - menschheitsgeschichtlich gesehen - abrupte Wandel des menschlichen Lebensraumes, insbesondere in der letzten Phase der Verstädterung seit der Industrialisierung, hat dazu geführt, dass zwischen dem realen Grad menschlicher Verstädterung und Verhäuslichung und seinem Bewusstsein, das noch in Form von Erinnerungen und Sehnsüchten unüberwundene Reste eines vergangenen Lebens im Freien in sich birgt, eine tiefe Kluft, eine Art Ungleichzeitigkeit besteht. Der verstädterte Mensch hat die objektiv erfolgte Verhäuslichung seines Lebens subjektiv (noch) nicht (ganz) nachvollzogen, sondern folgt ihr vielmehr gefühls-, bewusstseins- und auch bedürfnismäßig, vielleicht sogar physiologisch mit einem gehörigen ‚time lag’ nach. Er sehnt sich nicht unbedingt ganz und dauerhaft ‚ins Freie’ zurück, aber doch zeitweise als Ausgleich und Erholung. Stadt (als Gegensatz zur Natur) und Haus (als Gegensatz zum Freiraum) sind ihm einerseits zwar unentbehrlich, aber andererseits immer auch noch fremd und eng zugleich. Das Hinaus-Streben aus Stadt und Wohnung scheint vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Mensch über hunderttausende von Jahren ‚draußen’ gelebt hat, nur zu verständlich, auch wenn er sich immer mehr an das Leben ‚drinnen’ in Haus und Stadt hat gewöhnen müssen. Aber immer wieder, das lässt sich ja nun wirklich belegen, treibt es ihn hinaus zum Spaziergang, zum Ausflug, auf die Straße, in den Garten. Der Mensch braucht gewissermaßen als quasi kreatürliches Bedürfnis Auslauf und Auslüftung etwa so wie wir unsere Katze oder unseren Hund täglich rauslassen und unsere Zimmerpflanzen zumindest ab und zu rausstellen. Dieses draußen bzw. im Freien sein Wollen wäre allerdings nur im Freiraum und nicht in geschlossenen Räumen zu befriedigen. Die englisch-amerikanischen Ausdrücke wie ‚open air’ oder ‚outdoor-activities’ bringen dieses ‚Draußen-Sein’-Moment vielleicht sogar besser zum Ausdruck als der Begriff ‚Freiraum’. Im Begriff ‚Raum’ (trotz des Begriffs ‚Weltraum’ und seiner Quasi-Unendlichkeit) schwingt ja doch immer der Aspekt des Umgrenzten, ja, des Umschlossenen mit. Das Grundbedürfnis des Menschen, wenn er einen ‚Freiraum’ aufsucht, zielt aber wohl eher darauf, ‚draußen’ (an der frischen Luft, ‚im Freien’) zu sein. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass das, was man dann da draußen tut (Wan76
dern, Gärtnern, Grillen, Baden, einen Park besichtigen) im Grunde eher vorgeschobene Gründe, quasi Vorwände sind, um nach draußen kommen und sich dort länger aufhalten zu können. Der Freiraumbesucher genießt zunächst einmal das mit irgendeiner Tätigkeit verbundene ‚Draußen-an-der-frischenLuft-Sein’, das ‚Im-Freien-Sein’, wozu auch ganz wesentlich gehört, dass sich im Freien das Blickfeld weitet, der Blick also ‚frei’ in dem Sinne wird, dass sich ihm im Abstand weniger Meter nicht sofort etwas in den Weg stellt, eine Mauer, ein Wand, sondern - idealiter - der Blick auf Erden bis an den Horizont reicht und sich im Himmel in der Unendlichkeit verliert. Erst auf der Basis dieses Grunderlebnisses von Bewegungsfreiheit, frischer Luft und freiem Blick greift dann der konkrete ‚Freiraum’, wie ihn die Landschaftsund Freiraumplanung hergerichtet hat. Damit soll gesagt werden, dass der Wunsch, sich draußen, im Freien aufzuhalten, jeglichem Freiraumaufenthalt zugrunde liegt. Aber natürlich gibt es darüber hinaus - wie gezeigt - diverse andere Motive bis hin zu Selbstverwirklichungsbedürfnissen. 4.5
Der Freiraum als ‚locus amoenus’ Auf der Suche nach einem Begriff, der - aus sozialwissenschaftlicher Sicht, d.h. aus Sicht der Nutzer - die allgemeinste Funktionsbeschreibung jeglicher Art von Freiraum beinhalten könnte, stößt man schnell auf den gleichsam antiken Begriff des ‚locus amoenus’ (vgl. hierzu ausführlicher Tessin 2008). Im Deutschen wird der Ausdruck entweder in wörtlicher Übersetzung mit „idyllischer Ort“, „lieblicher Ort“ wiedergegeben. Doch ein solches Verständnis greift zu kurz. Der locus amoenus ist ein Ort, der sich von seiner Umgebung dadurch positiv auszeichnet, dass er zum Verweilen einlädt. Eingeschlossen, möglicherweise etymologisch abgeleitet aus ‚a-munus’ (‚frei von Arbeit’), ist dabei die Vorstellung, dass zu einem locus amoenus das Vergnügen gehört, das offensichtlich darin begründet liegt, dass die Personen dort keine Arbeit, und zwar speziell: landwirtschaftliche Arbeit, zu leisten haben. Was nun lädt am locus amoenus zum Verweilen ein? Was braucht es dazu? „Vor allem Schatten - wichtig für den Südländer! Also einen Baum oder eine Baumgruppe; ein sprudelnder Quell oder Bach zur Labung; ein Rasenpolster als Sitz. Dafür kann auch eine Grotte eintreten.“ (Curtius 1993: 195) Die zentralen Aspekte, die ein Römer mit dem locus amoenus assoziierte waren also: Freiheit von der (bäuerlichen) Arbeit, Schatten und Wasser (vgl. zum Topos des locus amoenus in der antiken Literatur z.B. Schönbeck 1962; Haß 1998). Von ihm geht eine ‚heilsame Wirkung’ aus, er ist oft ein ‚abgeschiedener Ort’ - Begegnungen mit Nymphen oder gar Göttern nicht ausgeschlossen. Was an diesem Verständnis von einem locus amoenus auffällt, ist das Fehlen jedweder Art von Natur- oder Schönheitsschwärmerei. Der Reiz 77
des locus amoenus resultiert in erster Linie aus seiner Funktion (Freizeit, Verweilen), Ausstattung (Sitzgelegenheiten, Schatten und Wasser) und Lage (abseits vom Alltagsbetrieb, Abgeschiedenheit), weniger aus einer besonders lieblichen ‚Gestaltung’. Locus amoenus könnte man vielleicht mit ‚angenehmer Ort’, als ‚Ort zum Wohlfühlen’ übersetzen, als Ort, an dem man sich gern aufhält, der einem gewisse Annehmlichkeiten bietet, und wo man sich von der Arbeit ausruhen und erholen kann. In der Ästhetik-Diskussion und bei ‚künstlerisch’ orientierten Landschaftsarchitekten ist der Begriff des ‚Angenehmen’ ja meist abwertend gemeint und wird abgegrenzt gegenüber dem anspruchsvolleren ‚Künstlerisch-Ästhetischen’. Dem Gefühl des Angenehmen (vgl. hierzu etwa Lukács 1972: 160ff) wird eine gewisse ‚Flach- und Seichtheit’ angelastet. Kennzeichnend für die (anspruchsvollere) künstlerisch-ästhetische Wahrnehmung sei die innere Kontemplation: „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein.“ (Benjamin 1977: 40) Beim Gefühl des Angenehmen sei dies nicht der Fall; es ähnele mehr einem beiläufigen Gefühl. Das Gefühl des Angenehmen verlange keine innere Konzentration, setze kein Denkvermögen voraus, kein Wissen, keine Geschmacksbildung - ein anspruchsloses Vergnügen, die bloße Gefälligkeit eines Objektes, einer Situation reiche aus, es auszulösen. Dem Gefühl des ‚Angenehmen’ fehle deshalb auch die ‚reinigende’, sozusagen katharsische Wirkung, wie sie das künstlerisch-ästhetische Erleben angeblich kennzeichne: „Gerade die Abhängigkeit vom Augenblick, gerade das Fehlen einer im Wesen der Sache liegenden Nötigung zur Konsequenz macht ein jedes Erlebnis des Angenehmen unaufhebbar in seiner Momentanität.“ (Lukács 1972: 161) Angenehm ist unmittelbar empfundenes Wohlbehagen - ohne nachhaltige Konsequenz. Ein weiterer Kritikpunkt am Gefühl des Angenehmen: es könne sozusagen ‚alles’ als angenehm empfunden werden, angefangen von der Zimmertemperatur, über ein entsprechend verlaufendes Gespräch, eine Reise bis hin zu einer abgeschlossenen Arbeit. In erster Linie entscheide die jeweilige augenblickliche Beschaffenheit des Subjektes, nicht der ‚Wert’ einer Sache. Selbst banalste Dinge können ein angenehmes Gefühl hervorrufen. Dem Angenehmen wird deshalb auch eine zu enge Beziehung zum Nützlichen und Alltäglichen vorgehalten, während ja das ‚Künstlerisch-Ästhetische’ gerade diesen Bezug negiert bzw. in spezifischer Weise verwandelt. Nicht nur, dass viele ‚bloß nützliche’ (statt ausschließlich künstlerischgestaltete Dinge) angenehme Gefühle auslösen können, scheint das Gefühl des Angenehmen zu diskreditieren, sondern auch eine spezifische KostenNutzen-Kalkulation: angenehm ist etwas, was leicht von der Hand geht, mit 78
wenig Aufwand zu machen oder zu haben ist, was einem zufällt. Nicht zwingend, aber doch sehr oft verbunden ist das Gefühl des Angenehmen mit ‚niederen’ Bedürfnislagen, insbesondere den physiologischen: ein Sonnenschein, ein kühler Luftzug, eine bequemer Stuhl, der erste Zug aus einer Zigarette. Angenehm ist etwas, was mit Ruhe, Gelöstheit, Entspannung zu tun hat, bequem ist. Angenehm und einfach, angenehm und bequem sind geradezu Synonyme. Auch wenn das Gefühl des Angenehmen - aus künstlerisch-ästhetischer Sicht - also nicht gerade sehr hoch im Kurs steht, es vielmehr in Bezug gesetzt wird zu Oberflächlichkeit, Seichtheit, Konsequenzendlosigkeit, zum Alltag, zum Nützlichen, zu niederen physiologischen Bedürfnissen, so ist es genau dieses Bedeutungsumfeld des Angenehmen, das den Begriff qualifiziert zur Funktionsbeschreibung von Freiräumen und zur Zielorientierung der städtischen Freiraumplanung. Städtische Freiräume, insbesondere wenn sie quasi alltäglich genutzt werden, dienen nicht in erster Linie der Emanzipation der Bevölkerung, nicht der gestalterischen Selbstverwirklichung der Landschaftsarchitekten, nicht dem Kunstgenuss, nicht dem Naturschutz, sondern dem Wunsch der Bevölkerung nach ‚angenehmen Orten im Freien’, wo man sich gern aufhält. Es ist das Gefühl des Angenehmen, das die Leute in erster Linie mit einem Freiraum als einem locus amoenus assoziieren. An einem solchen Ort fühlen wir uns ‚befreit’ vom Alltag, ‚abgelenkt’ von unseren Geschäften. Als von lästiger Arbeit befreite Orte, spüren wir in Garten, Park und Landschaft so etwas wie Harmonie, Herz, Glück, Liebe, Freiheit, Frieden, Ruhe, Ganzheit, Seele, Heimat, Geborgenheit, das Gute. Es verwundert also nicht, dass Seel (1996) den Kern ästhetischer Befriedigung in der Landschaft darin sieht, dass sie in uns die Vorstellung eines ‚guten Lebens’ zum Ausdruck bringe. Für den Garten, den Park gilt dasselbe. Die Leute würden sich ganz gern überall wohlfühlen, aber in Bezug auf den Freiraum, als Ort der Freizeit, stellen sie geradezu den Anspruch auf Wohlbehagen - oder sie bleiben weg. Die städtische Freiraumplanung sollte sich also an diesem Bild des locus amoenus, an einer ‚Ästhetik des Angenehmen’ orientieren und nicht versuchen, die künstlerisch-ästhetischen Ansprüche dabei allzu hoch zu hängen. So wie die Verwilderungs-Ästhetik der 70er, 80er Jahre (vgl. LoidlReisch 1986) erst ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz erreichte, als und in dem Maße wie sie sich der ‚Ästhetik des Angenehmen’ einfügte, so wird auch die sog. zeitgenössische, d.h. minimalistische und/oder dekonstruktivistische Landschaftsarchitektur ‚angenehmer’ werden müssen oder auf Gestaltungsaufgaben beschränkt bleiben, wo es nicht um Wohlbehagen der Nutzer geht, sondern um Repräsentations-, Herrschafts- und Besichtigungsarchitektur.
79
5. Soziale Milieus der Freiraumnutzung?
5.1
Wert und Kosten der Bedürfnisbefriedigung Dem Freiraumverhalten im Sinne einer Bedürfnisbefriedigung liegt eine Art von Abwägungsprozess zugrunde: Bedürfnisse, Möglichkeiten, Pflichten, ‚Kosten’ usf. werden gegeneinander abgewogen, vor allem aber auch Erfolgsaussichten des Handelns, Erwartungsniveaus, Verhaltensanreize: Lewin (1963) geht in seiner (schon in den 1930er Jahren entwickelten) sog. Feldtheorie davon aus, dass die Umwelt, der je individuelle (subjektiv wahrgenommene) Lebensraum, für den Einzelnen einen jeweils unterschiedlichen Aufforderungscharakter hat. Die Umwelt weist spezifische Valenzen auf, die - je nach Bedürfnislage - individuell sehr unterschiedlich sind, zudem auch für den Einzelnen entsprechend seiner jeweiligen Bedürfnislage variieren (können). Ein Briefkasten in der Straße hat nur dann eine hohe Valenz, wenn man gerade einen Brief einstecken möchte, ansonsten geht von ihm kein Handlungsanreiz aus. Tolman (1962) spricht in diesem Zusammenhang von ‚cognitive maps’, also kognitiven Landkarten. Auf ihnen wird die Umwelt bewertet als Mittel zur Erreichung eines Zieles bzw. Befriedigung eines Bedürfnisses. An die Umwelt heften sich seitens der Individuen bestimmte Erwartungen und Überzeugungen hinsichtlich ihrer Bedürfnis- und Zielerreichungsrelevanz. Wenn eine Person spazieren gehen möchte, dann werden die erreichbaren Straßen und Wege, Parks, Plätze usf. von ihr in eine bestimmte Rangordnung gebracht, und zwar aufgrund von Erfahrungen und Erwartungen hinsichtlich ihrer jeweiligen Eigenschaften bezüglich des ins Auge gefassten Spazierganges. „Auf der Basis früherer Erfahrungen“ (so Tolman, zit. in Krieger 1977: 120) „trägt das Individuum an jede neue Reizsituation eine modale Überzeugungs-Wert-Matrix heran. Diese (..) Matrix wird aktiviert und spezifiziert das Resultat der jeweils einwirkenden Umgebungsreize und der spezifischen Bedürfnisauslösungen im kritischen Augenblick. Diese aktivierende Matrix führt zusammen mit den Umgebungsreizen zu einem spezifischen Verhaltensraum.“ Ein anderer amerikanischer Psychologe, Atkinson (1975: 443), formuliert,
80 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
„daß die Stärke der Tendenz, in spezifischer Weise zu handeln, um ein spezifisches Ziel in einer spezifischen Situation zu erreichen, von einer relativ unspezifischen, als Motiv (..) klassifizierten Variablen beeinflußt wird, (...). Ferner kommen zwei relativ spezifische Einflüsse hinzu, welche mit dem spezifischen Akt zusammenhängen und durch Reize der unmittelbaren Umgebung definiert werden: die Stärke der Erwartung, daß die Handlung zu einer bestimmten Konsequenz führt (..), und der Anreizwert dieser Konsequenz.“ Und natürlich gehen die sog. Opportunitätskosten in die Kalkulation ein, also der entgangene Nutzen, wenn man dies und nicht jenes machen würde. Dabei findet selbstverständlich nie das gesamte Verhaltenspotenzial Berücksichtigung, aber zwei, drei Handlungsoptionen spielen meist schon eine Rolle. Also wenn man etwa abwägt zwischen dem Parkbesuch, dem Besuch von Freunden oder dem weiter faul auf der Couch Liegen. Und teils in Bruchteilen einer Sekunde, teils - à la Oblomow im Roman von Gontscharow - über Stunden hinweg wägt man ab, ob man dieses oder jenes tut. Man kalkuliert gewissermaßen Kosten und Nutzen der Handlungsoptionen, wägt sie gegeneinander ab und entscheidet dann, was man tut (am besten nichts). Die ungleichen Aufwand-Ertrags-Relationen lassen sich z.B. beim Parkbesuch recht gut veranschaulichen. Weiter oben wurde bereits auf eine Untersuchung in den Herrenhäuser Gärten in Hannover hingewiesen und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, die beim Besuch des Großen Gartens, des Berggartens und des Georgengartens eine Rolle spielen (vgl. Kap. 4). Dieser unterschiedlichen Bedürfnislage der Besucher der drei Herrenhäuser Gärten entsprechen nun auch ganz unterschiedliche räumliche Einzugsbereiche der drei Anlagen. Das Verhältnis zwischen in Hannover ansässigen und nicht ortsansässigen Besuchern schwankt zwischen x 80%:20% im Georgengarten, x 50%:50% im Berggarten und x 25%:75% im Großen Garten. Erkennbar wird, dass dort, wo sog. höhere Bedürfnisse beim Parkbesuch eine Rolle spielen (wie beim Berggarten und beim Großen Garten), eine Besichtigung des Parks im Vordergrund steht, die Leute auch von weit her kommen, anders als im Georgengarten, wo es überwiegend ‚nur’ um frische Luft, Gewohnheit und alltäglichen Zeitvertreib geht. In einem solchen Fall sind die Leute meist nur bereit, einen Weg von maximal 15 Minuten in Kauf zu nehmen. Die Entfernungssensibilität, also die Bereitschaft, Wegzeiten in Kauf zu nehmen, ist sehr unterschiedlich für die einzelnen freiräumlichen Verhaltenswünsche ausgeprägt. Eine Untersuchung über den Besuch von Talsperren im Sauerland (Tiedt 1992: 48ff) ergab z.B., dass die Leute insgesamt von weit her kamen (vereinzelt bis zu 150 km!), aber es zwischen ihnen erhebli81
che Unterschiede gab je nach dem Grund, weshalb sie die Talsperre besuchten. Jene, die nur zum Spaziergang gekommen waren, hatten meist nicht mehr als 10 km Anfahrtsweg zurückgelegt, jene, die baden wollten, immerhin schon bis zu 20 km, und schließlich jene, die Wassersport treiben wollten, rund 40 km. Abb. 4: Wert und Kosten der Bedürfnisbefriedigung beim Besuch einer Talsperre im Sauerland
45 40
40 35 30
km
25 20
20 15 10
10
5 0 S p a z ie rg a n g
B aden
W a s s e rs p o rt
Diese Kosten-Nutzen-Überlegungen spielen bei jeder Art von Freiraumverhalten eine Rolle, auch wenn es z.B. um die Anpachtung eines Kleingartens geht. Den Freuden des Gärtnerns stehen hier vor allem zwei ‚Kostenarten’ gegenüber: die Abstandszahlung, die man dem Vorpächter zu leisten hat (und die sich zwischen 1.000 und 10.000 € bewegen kann), und die Entfernung, die man zu überwinden hat, um von der Wohnung in den Kleingarten zu gelangen. Im Rahmen eines Kleingarten-Gutachtens für die Hansestadt Bremen (Bochnig, Tessin 2002) wurden jene Befragten, die sich die Anpachtung eines Kleingartens zumindest vorstellen konnten, gefragt, wo denn ihre finanzielle Schmerzgrenze läge, ab der sie sagen würden, sie würden lieber auf den Kleingarten verzichten. Es zeigte sich, dass x 20% der Interessierten nur bereit waren, 1.250 € zu zahlen, x 31% würden bis 2.500 € mitgehen, x 17% würden bis 5.000 € gehen, x 6% noch darüber hinaus und x 26% meinten, das hinge ganz stark ab von der Art und Lage des Kleingartens ab. 82
Und hinsichtlich der Entfernung wurde gefragt, ob auch ein Kleingarten in Frage käme, der weiter als 15 Minuten Fußweg von der Wohnung entfernt liegen würde. Für x 35% der Kleingarteninteressierten käme so ein Garten nicht in Frage, x 21% meinten, es komme darauf an, und immerhin x 44% äußerten, so ein Kleingarten käme durchaus in Frage. Deutlich wird, dass zwischen einem artikulierten Wunsch und seiner praktischen Umsetzung in ein entsprechendes Verhalten bisweilen eine große Lücke besteht. Insofern ist auch aus einem nicht ausgeübten Freiraumverhalten, etwa aus einem unterlassenen Parkbesuch oder der Nicht-Anpachtung eines Kleingartens, nicht so ohne weiteres auf ein offenbar nicht vorhandenes Interesse rückzuschließen. Vielmehr könnte schlichtweg die Wert-Kosten-Bilanz der Bedürfnisbefriedigung für die jeweilige Person nicht stimmen. Und genauso muss das ausgeübte Freiraumverhalten nicht unbedingt ein gültiger Indikator für ein entsprechend großes Interesse sein. Vielleicht handelt es sich beim Parkbesuch für den einen oder anderen nur um das ‚kostengünstigste’ Vergnügen (lieber täte er was Anderes). Offensichtlich spielen bei der Suche nach Bedürfnisbefriedigung auch die eigenen Möglichkeiten, die eigenen Handlungsressourcen eine Rolle. 5.2
Schichtzugehörigkeit und Freiraumverhalten Inwieweit das einzelne Individuum das gesellschaftlich erschlossene freiraumkulturelle Potenzial ausschöpft bzw. ausschöpfen und seine daraus abgeleiteten Bedürfnisse und Wünsche befriedigen, sich also einen Badeurlaub an der Ostsee, ein Haus mit Garten in der Großstadt leisten kann, das ist eine Frage wesentlich seiner Möglichkeiten, seiner Stellung in der Gesellschaft, die durch eine Vielzahl von Faktoren definiert wird: Einkommen, Alter, Geschlecht, Bildung oder Besitz, Grundbesitz. Unter einer sozialen Schicht (vgl. hierzu u.a. Bolte, Hradil 1984; Hradil 1987; Geissler, Hg., 1994) fasst man Menschen zusammen, die sich in punkto Einkommen, Beruf und Bildung ähneln und von denen man aufgrund dessen annimmt, dass sie mehr oder weniger über dieselben Lebenschancen und dasselbe Ansehen in der Gesellschaft verfügen. Dabei geht man davon aus, dass die jene schichtspezifischen Handlungschancen bestimmenden Variablen wie Einkommen, Stellung im Beruf, Bildung stark miteinander korrelieren, also hohes Einkommen, hohe Bildung und eine hohe berufliche Stellung in der Regel zusammengehen und nur in Ausnahmefällen jemand mit hoher Bildung oder ein Selbständiger wenig verdient. Man spricht in solchen Fällen von Status-(Schicht-)inkonsistenz, die aber nur in einem gewissen Rahmen vorkommt. In der Regel verdient eben der Arbeiter mit Volksschulbildung weniger als ein Beamter mit Hochschulausbildung. 83
Heute lässt sich der Schichtaufbau der Gesellschaft in Deutschland in etwa wie folgt beschreiben: x Zur Oberschicht gehören Großunternehmer, Großgrundbesitzer, überragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Manager großer Firmen, die mehrfache Besitzmillionäre sind. x Zur oberen Mittelschicht gehören meist sehr gut verdienende Selbständige (Ärzte, Rechtsanwälte, Geschäftsleute), aber auch leitende Angestellte in Firmen, der öffentlichen Verwaltung, bei denen ein Hochschulabschluss die Regel ist. x Zur mittleren Mittelschicht gehören kleinere Selbständige, Handwerker, gehobene/höhere Angestellte und Beamte; sie haben meist eine weiterführende Schul- bzw. Fachhochschulausbildung hinter sich. x Zur unteren Mittelschicht gehören mittlere Angestellte und Beamte, Facharbeiter (Meister), ohne Hochschulausbildung also. x Zur Unterschicht gehören vor allem die an- und ungelernten Arbeiter. x Zur untersten Schicht, für die sich kein allgemein akzeptierter Begriff gefunden hat, gehören jene, die von der Sozialhilfe leben, langjährig ohne feste Arbeit, teilweise ohne festen Wohnsitz sind. Sozial sind sie oft ausgegrenzt. Ein Teil der sehr schlecht versorgten Rentnerhaushalte gehört objektiv in diese Schicht, subjektiv fühlt man sich aber meist nicht dazu gehörig, weil die Altersarmut schichtmäßig anders bewertet wird als Armut bei Leuten im erwerbsfähigen Alter. Mag man nun auch akzeptieren, dass eine solche Schichtzugehörigkeit die Lebenschancen des Einzelnen in bestimmten Bereichen wie Auto- und Hauskauf, wie Theaterbesuch usf. stark bestimmt, so stellt sich doch die Frage, ob auch das konkrete Freiraumverhalten, die freiraumkulturelle Bedürfnisbefriedigung, sehr stark von der Schichtzugehörigkeit abhängig ist. Es sind vor allem zwei Argumente, die den Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf das Freiraumverhalten relativieren: x Freiraumverhalten ist bekanntlich ein ziemlich ‚billiges Vergnügen’. Freiräume werden in der Stadt überwiegend durch die öffentliche Hand mehr oder weniger unentgeltlich angeboten. Nur bestimmte Freiraumverhaltensweisen sind, wie noch zu zeigen sein wird, heute nicht jedermann finanziell möglich. x Auch sind - oberflächlich betrachtet - an das Freiraumverhalten kaum bildungsmäßige Voraussetzungen geknüpft, die ja schichtspezifisch variieren würden - anders als etwa beim Besuch bestimmter kultureller Einrichtungen (Oper, Museum, Bibliothek etc.).
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In einer Studie über das Sport- und Freizeitverhalten der Berliner Bevölkerung (IES 1995: 25) wurde nach den Gründen gefragt, warum man sportlich inaktiv sei. Genannt wurden Gründe wie Zeitmangel, Bequemlichkeit, gesundheitliche Probleme, berufliche Belastungen, sportliches Desinteresse, dass man so schon ausreichend Bewegung habe, ungünstige Arbeitszeiten und fehlende Sportmöglichkeiten in Wohnungsnähe. Die angegebenen Gründe scheinen nicht viel mit Schichtzugehörigkeit zu tun zu haben. Lässt man einmal die Frage beiseite, was die wahren Gründe für das sportliche Nichtstun sind, so wird doch deutlich, dass nicht Geld- oder Bildungsfragen von entscheidender Bedeutung sind, sondern Dinge, die mit der Schichtzugehörigkeit gar nichts oder nur sehr vermittelt was zu tun haben. Alter, Arbeitszeitregelungen, Gesundheit, die eigene Beweglichkeit und natürlich die eigenen Motivationslagen. Vor allem das Alter bzw. die jeweilige Lebensphase scheinen für das Freiraumverhalten besonders relevant. Viele städtische Freiräume sind geradezu altersspezifisch definiert: der Kinderspielplatz, der Bolzplatz für die Jugendlichen, die Freibäder und Fußballfelder für die jüngeren Erwachsenen, die Tennis- und Golfplätze für die Jungsenioren, der Friedhof für die Witwen, die Privatgärten für die Familie bzw. die ältere Generation. Im Kleingartenwesen beispielsweise sind oft 75% der Pächter über 50 Jahre alt und damit in einer ganz bestimmten (nachelterlichen und nachberuflichen) Lebensphase. Und natürlich unterscheiden sich - altersspezifisch - auch die Bedürfnislagen etwa bei einem Parkbesuch: Tab. 1: Wunschaktivitäten im Park nach (ausgewählten) Altersgruppen
Wunschaktivität: in Ruhe gelassen werden die Natur genießen mich sonnen spazieren gehen spielen Sport treiben Kind beaufsichtigen etwas erleben Leute kennenlernen
Altersgruppe: < 14 J. 15-24 J. 12% 43% 25% 60% 14% 56% 23% 59% 55% 33% 51% 29% 2% 7% 41% 21% 28% 26%
35-50 J. 45% 70% 37% 66% 16% 18% 18% 15% 23%
> 60 J. 47% 82% 30% 84% 6% 4% 7% 8% 26%
Quelle: Krause u.a. 1995: 310f (eigene Berechnungen)
85
Zumindest was die gewünschten Aktivitäten im Park anbetrifft, könnte man also von einer Parkkultur der Jugend, der Postadoleszenz, der Erwachsenen und der Alten sprechen. Zwar gibt es so gut wie keine Aktivität im Park, die nicht in allen Altersgruppen irgendwie gewünscht und somit wohl auch ausgeübt werden würde, aber die Altersgruppenanteile derjenigen, die die Natur genießen oder im Park Sport treiben wollen, differieren doch altersgruppenspezifisch recht stark. Wahrscheinlich ist von den vielen gruppenspezifischen Merkmalen einer Person keines so freiraumverhaltensrelevant wie gerade das Alter bzw. die Lebensphase. Demgegenüber spricht alles dafür, dass der Schichtzugehörigkeit freiraumkulturell keine alles entscheidende Rolle zukommt, auch wenn unmittelbar klar ist, dass in Bezug auf bestimmte Freiraumverhaltensweisen die Schichtvariablen Einkommen und Bildung sehr wohl einen wichtigen Einfluss ausüben können. x Unstrittig und für jedermann offensichtlich ist etwa der Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf die Ausübung bestimmter freiräumlicher Sportarten wie etwa Golf, Tennis, Segeln (vgl. hierzu auch Bourdieu 1987: 344ff; auch Schlangenhauf 1977: 158; Maase 1989: 139). x Der Besitz eines eigenen Gartens ist ebenfalls stark schichtabhängig und variiert in einer Großstadt wie Hamburg z.B. zwischen 20 und 80% je nach dem Haushaltseinkommen (vgl. Tessin 1994: 101). Der Landschaftsarchitekt Migge (1913) sprach noch Anfang des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Villenviertel einerseits und die Mietskasernenviertel andererseits vom Garten in der Großstadt als einem ‚Klassenprivileg’ und ‚Klassenvorrecht’. x Ausflüge ins Umland sind z.B. ebenfalls deutlich einkommensabhängig, wobei hier auch die Schichtvariable Bildung einen gewissen Einfluss hat. So erbrachte eine Umfrage in Hannover das Ergebnis, dass Autobesitzer mit weiterführender Schulbildung freizeitmobiler waren als solche ohne weiterführende Schulbildung. x Plausibel könnten auch Bildungsunterschiede hinsichtlich der Art des Natur- und Freiraumerlebens sein. Denkbar wäre, dass Leute mit höherer Bildung reflektierter, sensibler auf die Umwelt reagieren, ästhetische Reize subtiler entschlüsseln, reichhaltiger ihr Bildungsgut einfließen lassen etwa bei der Besichtigung eines Schlossparks, eines Barockgartens usf. (vgl. dazu auch noch Kap. 9). 5.3
Soziale Segregation und disparitäre Freiraumversorgung In diesen Zusammenhang fällt auch die Frage, inwieweit durch den eventuell schichtabhängigen Wohnort in der Stadt die Erreichbarkeit und damit 86
Nutzung bestimmter Freiräume erschwert bzw. erleichtert wird. Diese Debatte kreist um die Begriffe soziale Segregation und Infrastrukturdisparitäten (vgl. Herlyn, Hg., 1980) und unterstellt zweierlei: x erstens: die Menschen verteilen sich wohnstandortmäßig weitgehend schichtabhängig im Stadtgebiet (soziale Segregation), x zweitens: die öffentlichen Grünflächen verteilen sich ebenfalls ungleichmäßig im Stadtgebiet (Infrastrukturdisparitäten). Jeder kennt in der Stadt, in der er lebt, Arbeiterviertel, Villenviertel usf.; in einer Stadt wie Hannover z.B. variiert der Arbeiteranteil an den Erwerbstätigen in den einzelnen Stadtteilen zwischen 5-10% und 50% und mehr. Mag auch das Ausmaß der Segregation in Deutschland nicht so gravierend sein wie vielleicht in amerikanischen Städten, so ist die Tatsache einer räumlich ungleichen Verteilung der sozialen Schichten als solche unstrittig und zurückzuführen auf die schichtspezifischen Einkommensunterschiede und die damit verbundenen ungleichen Chancen auf dem Wohnungsmarkt, die den einen Haushalt ins Villen-, den anderen ins heruntergekommene Altbauviertel führen bzw. in eine Sozialwohnung in der Großsiedlung am Stadtrand. Grundlage dieses Verteilungsmechanismus ist die Neigung der meisten Menschen ‚to stick to his own people’, also unter sich bleiben zu wollen, unter seinesgleichen, die insbesondere in den höheren Kreisen ausgeprägt zu sein scheint. Seine Relevanz für das Freiraumverhalten in der Stadt erhält nun diese soziale Segregation durch die Behauptung, dass die öffentlichen Einrichtungen, also die Infrastruktur, insofern auch die öffentlichen Grünflächen, sich ebenfalls ungleichmäßig über das Stadtgebiet verteilen und zwar so, dass Besserverdienende unverhältnismäßig oft in der Nähe von Parkanlagen wohnen (Gleichmann 1963: 34; vgl. hierzu auch Herlyn, Hg., 1980: 47ff). Und ein Blick auf die Karte etwa von Hannover scheint die Aussage zu bestätigen: Alle Wohnviertel, die z.B. in der Nähe der Eilenriede, einem Stadtwald, liegen, sind Viertel mit einem unterdurchschnittlichen Arbeiteranteil. Tatsächlich ergab eine entsprechende Untersuchung (Herlyn, Hg., 1980) in Frankfurt, Gelsenkirchen, Hannover und Frankfurt das folgende Resultat: Stellt man die Einwohnerzahlen der Ortsteile mit unterdurchschnittlichen Arbeiteranteilen den Grünflächenanteilen an den jeweiligen Gesamtflächen gegenüber, wird die überproportionale Ausstattung sozialstrukturell gehobener Gebiete deutlich: „Frankfurt: auf 48% der Einwohner entfallen 70% der Grünflächen Gelsenkirchen: auf 30% der Einwohner entfallen 60% der Grünflächen Hannover: auf 43% der Einwohner entfallen 55% der Grünflächen Karlsruhe: auf 56% der Einwohner entfallen 70% der Grünflächen.“ (ebenda: 50) 87
Eine eigene Überprüfung auf der Basis einer Studie der Stadt Hamburg über räumliche Gründisparitäten (Freie und Hansestadt Hamburg 1983) ergab, dass die Grünflächenversorgung vor allem dort schichtspezifisch disparitär ist, wo es sich um historische, qualitätsvolle und prestigeträchtige Parkanlagen mit einem ‚Namen’ handelt. Diese Parks liegen allerdings eher in Gebieten mit höherem Sozialprestige, wohingegen ‚no-name-Grünflächen’ viel gleichmäßiger im Stadtgebiet verteilt sind. Trotz des unleugbaren Einflusses der Schichtzugehörigkeit auf bestimmte Freiraumverhaltensweisen wie Gartenbesitz, Reisen, exklusivere Sportarten wie Segeln, Golf usf. oder des darüber vermittelten Wohnstandorts auf das Freiraumverhalten, wäre es in Bezug auf die Nutzung städtischer Freiflächen heute nicht mehr gerechtfertigt, von einer schichtspezifischen Freiraumkultur zu sprechen; es handelt sich mehr um Nuancierungen derart, dass man beim Parkbesuch auf der Parkbank vielleicht unterschiedliche Zeitungen oder Bücher liest, dass die einen im Garten Gartenzwerge haben, die anderen nicht, die einen im Wald mehr Innerlichkeit, die anderen Geselligkeit suchen usf. Wenn man so differenziert und nach so „feinen Unterschieden“ (Bourdieu 1978) sucht, was man bisher freilich noch nicht ausreichend getan hat (weil es für die Freiraumplanung auch nicht so schrecklich relevant ist), dann erst dürften sich stärkere schichtspezifische Freiraumkulturen herauskristallisieren. Schaut man sich Freiraumtypen wie Bezirkssport-, Kleingarten- und alltäglich genutzte Parkanlagen, Freizeit- und Erlebnisparke an, so drängt sich der Eindruck auf, dass sich hier die breite Mittelschicht aufhält und lediglich Angehörige der oberen Mittel- bzw. der Oberschicht kaum zu sehen sind. 5.4
Individualisierung der Lebenslage Eine gewisse Unzufriedenheit mit der Schichttheorie, die sich - wie gezeigt - an Einkommen und Bildung orientiert, haben in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Soziologie dazu geführt, Menschen nicht mehr so sehr unter dem Gesichtspunkt ihrer materiellen und immateriellen Ressourcen zusammenzufassen (nämlich zu ‚Schichten’), sondern auf der Basis grundlegender Wertorientierungen, Bedürfnislagen und Lebenseinstellungen. Man spricht nicht mehr so sehr von Schichten, sondern von sozialen Milieus oder Lebensstilgruppen. Die Soziologie versucht, mit dem Begriff der „Pluralisierung der Lebensstile“ (Beck 1983; 1986) bzw. der „Individualisierung und Differenzierung der Sozialstruktur“ den sozialen Wandel der Gesellschaft der BRD zu fassen. Offenbar sind ‚jenseits von Schicht und Klasse’ Freiheitsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten der Lebensführung ganz allgemein gestiegen.
88
x
Die finanziellen Möglichkeiten der meisten Haushalte haben sich im letzten Jahrhundert drastisch verändert. Unter diesen Bedingungen ist heute beispielsweise im Industriearbeitermilieu möglich, „bei einfacher Lebensweise und Verzicht auf Urlaubsreisen oder kostenträchtige Vergnügungen, Haus- und Grundbesitz zu erwerben. (...) Was der Haushalt im einzelnen wählt, ist nicht eine Frage schichtspezifischer Verhaltensnormen, sondern eine Frage des Lebensstils.“ (Zapf 1989: 469) x Auch zeitliche Spielräume sind entstanden: mehr Urlaub, Absenkung der wöchentlichen Arbeitszeit, Teilzeitarbeit, Verringerung der Lebensarbeitszeit durch längere Ausbildungszeiten und früheres Ausscheiden aus dem beruflichen Leben usf.; in den letzten hundert Jahren habe sich, so heißt es, die Zahl der geleisteten Arbeitstage pro Jahr von 300 auf rund 200 Tage verringert. x Auch räumliche Spielräume haben sich aufgetan. Die Verbreitung des PKW-Besitzes - heute hat fast jeder Haushalt zumindest ein eigenes Auto, bei den Haushalten, die von der Rente leben bzw. Sozialhilfe beziehen allerdings nur jeder 2.Haushalt - und der Ausbau der Massenverkehrsmittel (bis hin zum Flugzeug) haben zu neuen Möglichkeiten der Ausdehnung des eigenen Lebensraumes geführt - nahezu über alle Schichtgrenzen hin weg. x Auch neue geistige Spielräume sind erwachsen. Dies zeigt sich zum einen am deutlichen Anstieg des schulischen Bildungsniveaus. Die Bildungsexpansion der 1960er Jahre hat zu einem vermehrten Besuch von Real- und Oberschulen beigetragen und zu einer starken Zunahme von höheren Schulabschlüssen (Abitur) von 10 auf 40% geführt. Auch die Verbreitung der Massenkommunikationsmittel wie Fernsehen, Internet usf. hat zu einer enormen Ausbreitung von Information, Wissen und (Halb-) Bildung geführt. Die Ausweitung dieser finanziellen, zeitlichen, räumlichen, geistigen und normativen Handlungsspielräume bei immer mehr Menschen in dieser Gesellschaft (vgl. hierzu Tessin 1993) hat nun zu einer, wie es heißt, ‚Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Lebenslagen’ geführt. In Folge dieser Einsicht ist die Vorstellung von Lebensstilen als neuen Strukturmerkmalen der Bevölkerung aufgekommen (vgl. Hradil 1987), bei denen die individuellen Bestimmungsgründe von Lebensstilen stärker betont werden, wenn diese definiert werden als „typische Grundstrukturen der Alltagsorganisation“, die „relativ unabhängig von ‚objektiven’ Determinanten zu Stande kommen“ (Hradil 1992: 28). Insofern interessieren jetzt auch eher die soziokulturellen Ausprägungen der unterschiedlichen Lebensstile selbst, wie sie sich beispielhaft, und hier macht sich der Einfluss von Pierre Bourdieu (1987) bemerkbar, 89
im persönlichem Habitus, in Wertvorstellungen, Geschmacksrichtungen und Verbrauchsgewohnheiten, in Art und Umfang der sozialen Kontakte, in politischen Affinitäten und Erziehungsstilen, in Medienkonsum und Freizeitverhalten niederschlagen (vgl. zum Lebensstilkonzept u.a. Berger, Hradil 1990; Dangschat, Blasius 1994; Konietzka 1995; Georg 1998; Spellerberg 1996). Derartige Lebensstile lassen sich in sog. sozialen Milieus zusammenfassen, verstanden als „Gruppe von Menschen (...), die solche äußeren Lebensbedingungen und/oder innere Haltungen aufweisen, aus denen sich gemeinsame Lebensstile herausbilden“ (Hradil 1987, 165). Eine frühere Lebensstilanalyse (Nowak, Becker 1985) unterschied beispielsweise die folgenden Milieus, die man nicht ganz eindeutig bestimmten Schichten zuordnen kann: x konservatives gehobenes Milieu (10% der Bevölkerung), x kleinbürgerliches Milieu (29%), x traditionelles Arbeitermilieu (9%), x traditionsloses Arbeitermilieu (8%), x aufstiegsorientiertes Milieu (21%), x technokratisch-liberales Milieu (11%), x hedonistisches Milieu (8%). x alternativ-linkes Milieu (4%). Im konservativ gehobenen Milieu beispielsweise dominieren konservative Werte wie Glaube, Pflichtbewusstsein, soziale Verantwortlichkeit, Familie; die klassische Hochkultur dominiert. Im kleinbürgerlichen Milieu sind Werte wie Gemütlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Sauberkeit und Ordnung vorherrschend. Auch hier dominiert eine konservative Werthaltung, aber mit einer etwas anderen Akzentsetzung: Angst vor Veränderung, eine gewisse Rigidität des Verhaltens. Wichtig ist, nicht aufzufallen (Konformismus). Im sog. hedonistischen Milieu herrschen Werte vor wie Freiheit, Kreativität, Selbstverwirklichung in Freizeit und Beruf. Spontaneität gilt ebenso als Tugend wie ein gewisses Maß an Nonkonformität. Geld ist wichtig für einen genussbetonten Lebensstil. Das (links-) alternative Milieu unterscheidet sich vor allem durch ein gewisses Maß an politischem Interesse und Engagement. Nicht beruflicher Erfolg oder hohes Einkommen sind wichtig, sondern eine befriedigende Arbeit, die einen nicht ‚auffrisst’ und Zeit lässt für Partnerschaft, Projekte und politische Arbeit. Die gesellschaftlichen Institutionen wie Staat, Kirche, Militär, Familie etc. werden ‚kritisch’ gesehen, wie auch eine gewisse Kapitalismus- und Zivilisationskritik und Technikskepsis vorherrschend sind. Ob allerdings solche Lebensstil-Konstrukte relevant sind für die Erklärung gruppenspezifisch unterschiedlicher Muster der Freiraumnutzung, diese Frage ist derzeit noch offen. Es ist schlicht noch nicht versucht worden, die Freiraumnutzung des hedonistischen oder des aufstiegsorientierten Milieus mit in die Analyse einzubeziehen. Oder ist das Freiraumverhalten, die Nut90
zung städtischer Freiräume (mit Ausnahme etwa des Golfspiels), sozial vergleichsweise wenig distinktiv? Es gibt Anzeichen dafür. Schulze hat in seiner Untersuchung zur ‚Erlebnisgesellschaft’ (Schulze 1992; vgl. hierzu noch Kap. 10) die Bevölkerung nach den unterschiedlichsten Merkmalen ihres Freizeitverhaltens befragt, u.v.a. auch nach ausgewählten freiräumlichen Freizeitaktivitäten wie Gartenarbeit, Waldlauf, Jogging, Schwimmen gehen, Fußball spielen, Tennis, Skifahren, Surfen, ins Grüne fahren, größere Spaziergänge, Wandern, mit dem Auto oder Motorrad durch die Gegend fahren, für ein paar Tage verreisen, Straßen- bzw. Stadtteilfeste besuchen. Es zeigte sich nun, dass sich die Bevölkerung hinsichtlich ihrer Freizeitorientierungen und -aktivitäten vor allem mit Blick auf Lesegewohnheiten, Musikvorlieben, Kino- und Theaterbesuche, Zeitungslektüren, Fernsehgewohnheiten unterschied, aber die abgefragten Freiraumaktivitäten (mit Ausnahme von Tennis, Skifahren, Surfen) kaum differenzierend waren und keinem Milieu zugeordnet werden konnten (ganz ähnlich bei Giegler 1994). Zumindest die ausgewählten Merkmale des freiraumkulturellen Verhaltens scheinen nicht lebensstilrelevant zu sein.
5.5
Freiraumkulturelle Milieus? Bisher ist allerdings noch nicht versucht worden, genuin freiraumkulturelle Milieus oder freiraumkulturelle Lebensstile gegeneinander abzugrenzen. Von Strey (1991: 11ff) stammt lediglich ein früher und sehr partieller Versuch, die Menschen hinsichtlich ihrer Naturorientierung in der Freizeit bzw. im Urlaub zu klassifizieren. Tessin (1994) ist der Frage nachgegangen, ob sich in den unterschiedlichen Gartentypen (Hausgarten, Kleingarten, Kleinsiedlungsgarten, Reihenhausgarten, Grabeland) so etwas wie ein eigenständiges gartenkulturelles Milieu entwickelt bzw. erhalten hat. Ausgegangen wurde dabei von der Überlegung, dass jeder Gartentyp durch ganz spezifische Bedingungen gekennzeichnet sei wie Gartengröße, Erreichbarkeit, Gartenbesitz oder -pacht, sozialstrukturelle Selektivität, nachbarschaftliche Kontrolle u.ä.; die Ergebnisse waren allerdings ambivalent: in manchen Punkten unterschieden sich die Gartentypen durchaus, in anderen wiederum nicht. Von einer einigermaßen homogenen gartentypspezifischen Gartenkultur konnte jedoch nicht die Rede sein. Gibt es also keine freiraumkulturellen Milieus? Offenbar relativ weit verbreitet und sozial kaum distinktiv ist ein freiraumkulturelles Grundrepertoire an Allerweltsaktivitäten wie Spaziergang, Ausflug, Parkbesuch. Erst auf dieser sehr breiten Basis ergeben sich dann möglicherweise freiraumkulturelle Akzentuierungen und Abweichungen bei Teilen der Bevölkerung. Jene, die hin und wieder spazieren gehen, einen Ausflug machen, einen nahegelegenen Park aufsuchen, ein bisschen Sport machen, abends hin und wieder auf dem 91
Balkon sitzen oder sich in einen Biergarten setzen, das sind - wenn sie nicht noch etwas Anderes, Besonderes, Abweichendes machen - freiraumkulturelle Normalbürger, sie gehören keinem (besonderen) freiraumkulturellen Milieu an, sondern dem freiraumkulturellen ‚mainstream’. Jeder ist ein Stück weit freiraumkultureller Normalbürger, aber manche sind es nur und ausschließlich. Ein anderer Teil der Bevölkerung dagegen macht darüber hinaus noch etwas mehr bzw. längst nicht alles, macht etwas Anderes, etwas Spezielles oder auf eine ganz besondere Art und Weise. Allein diese Personen haben sozusagen einen ‚eigenen’, von der Allgemeinheit abweichenden freiraumkulturellen Stil. Vor diesem Hintergrund lassen sich - hypothetisch - die folgenden (abweichenden) Milieus unterscheiden: Wohnumfeldgebundenes Milieu: Hier dominiert das unmittelbare Wohnumfeld als Aufenthaltsort im Freien (vgl. hierzu auch Kap. 6.2): Balkon, Straße, Spiel- und Bolzplatz, Stadtplatz, der nächstgelegene Park. Man geht (fast täglich) spazieren, führt seinen Hund aus, beaufsichtigt das Kind, trifft sich (als Jugendlicher, Rentner oder Arbeitsloser) mit seiner Clique. Freiräume außerhalb dieses engeren Wohnumfeldes werden dagegen kaum aufgesucht und spielen praktisch keine Rolle (auch am Wochenende nicht). Diese räumliche Beschränkung ergibt sich aus den Lebensverhältnissen der Personen, deren Mobilität aufgrund von Alter, Armut, Arbeitslosigkeit, Lebensphase (Jugendliche), Hausfrauenrolle u.ä. begrenzt ist. Also richtet man sich freiraumkulturell im näheren Wohnumfeld ein. Ein Stück weit ist jeder freiraumkulturelle Lebensstil natürlich wohnumfeldbezogen, aber wohnumfeldgebunden ist nur jener, der - durch die Lebensumstände erzwungen - räumlich kaum darüber hinausgreift, was nicht unbedingt bedeuten muss, dass die Betroffenen deshalb unzufrieden sein müssten. Man hat eher mehr Zeit als andere Gruppen, so dass man sich durchaus - z.T. aus Mangel an Alternativen - fast täglich und lange im Freiraum aufhält. Aber es fehlt diesem Aufenthalt der besondere Reiz. Hobbyzentriertes Milieu: Solange jemand z.B. einen Garten hat, aber sonst auch das übliche Freiraumverhalten an den Tag legt (spazieren geht, Sport treibt, Ausflüge macht etc.), gehört er dem freiraumkulturellen Mainstream an. Erst wenn diese Person sich (auf Kosten sonst üblicher Freiraumaktivitäten) fast nur noch im Garten aufhält, Gartenbücher verschlingt, Gartenschauen besucht, der Garten also zum Hobby, zum quasi Lebensmittelpunkt wird, dann weicht die Person hinreichend vom freiraumkulturellen Mainstream ab und gehört diesem hobbymäßig auf eine bestimmte Aktivität fokussierten Milieu an, das sich auch auf den Sport, das Wandern oder auch das ‚bird watching’ beziehen kann. Dabei verbringt man nicht unbedingt die meiste, aber deutlich mehr Freizeit 92
als im freiraumkulturellen Normalmuster im Garten, beim Wandern, im Tennisclub, auf der Skateranlage, beim Joggen oder Rudern. Vor allem aber handelt es sich dabei um Aktivitäten, die einem Spaß machen, wobei sich möglicherweise entsprechend dem jeweiligen Hobby zwei relevante Untergruppen herausschälen könnten: das garten- und das sportorientierte Milieu. Niveauorientiertes Milieu: Es gibt Sportarten wie Segeln, Golfen, die Jagd und Freizeitaktivitäten wie klassische Konzerte oder Kunstausstellungen im Park, Vorträge über Gartenkunst, Besuche historischer Gartenanlagen anderenorts, Hausgärten, die man sich von einem Landschaftsarchitekten anlegen ließ usf., die nicht zum freiraumkulturellen mainstream gehören. Auch hier würde gelten: wenn es sich dabei um gelegentlich ausgeübte Aktivitäten handeln würde, ansonsten alles im freiraumkulturellen mainstream bliebe, dann läge hier noch kein abweichender freiraumkultureller Lebensstil vor. Stellte man aber fest, die Person würde bei allem, was sie im Freiraum tut (und lässt), auf ein ‚gehobenes Niveau’, das besondere ‚Ambiente’ achten und alle Orte meiden, wo sich der freiraumkulturelle mainstream breit macht, dann würde man die Person eben diesem gehobenen, niveauorientierten freiraumkulturellen Milieu zuordnen. Naturorientiertes Milieu: Der abweichende Akzent dieses freiraumkulturellen Milieus läge in der besonderen Bedeutung, die man - vor allem am Wochenende - dem Aufenthalt ‚in der Natur’ beimisst. Es zieht einen hinaus in die Berge, an die See, in sein Wochenendhaus; man wandert, macht Fahrradtouren, Ausflüge in die durchaus auch weitere Umgebung der Stadt, mehr als das im freiraumkulturellen mainstream üblich ist. Man sucht den Kontrast zum Stadtleben, die ‚Natur’ oder ‚das einfache Leben’ beim Dauercampen, beim Angeln oder auf der Hütte. Das ist nicht einfach ein Hobby, sondern ein bewusst gewählter Kontrast zum Leben in der Stadt. Desinteressiertes Milieu: Hierbei handelt es sich fast nicht um ein freiraumkulturelles Milieu, weil hier Freiraumkultur praktisch nicht stattfindet. Die zuvor angedeuteten Milieus wichen ja vom freiraumkulturellen mainstream vor allem dadurch ab, dass dem Freiraum doch eine erheblich größere und/oder spezifischere Bedeutung als üblicherweise zukommt. Hier nun spielt der Freiraum praktisch keine Rolle, sei es aus mangelndem Interesse, beruflicher Überlastung oder aufgrund vollkommen anders gelagerter Interessen. Vielleicht, dass der eine oder andere mal joggt, sich ins Straßencafé oder in einen Biergarten setzt, aber ganze Bereiche des freiraumkulturellen mainstreams (Ausflüge ins Grüne, Sportausübung, Spaziergänge) finden hier nicht statt. Die Straße, der Platz, der Boulevard, urban geprägte Freiräume spielen u.U. eine gewisse 93
Rolle, vielleicht open-air-Konzerte, aber mit ‚Garten, Park und Landschaft’ kann man nicht viel anfangen. Nun sind Milieus ja so gekennzeichnet, „daß die Homogenität innerhalb der Gruppen und dass die Heterogenität zwischen den Gruppen maximal sein soll.“ (Blasius 1994: 240) Wäre das bei den hier - rein hypothetisch - vorgestellten freiraumkulturellen Milieus der Fall? Ist es nicht doch problematisch, Angehörige so unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen wie Arbeitslose, Rentner, Jugendliche, Hausfrauen ein und demselben - wohnumfeldgebundenen - freiraumkulturellen Milieu zuzuordnen, nur weil sie sich überwiegend im Wohnumfeld aufhalten? Oder müsste man innerhalb dieses Milieus einfach nur noch weiter differenzieren nach bestimmten ‚Szenen’ etwa der Jugendlichen, der Arbeitslosen (vgl. zur Theorie der Szene z.B. Schulze 1992: 459ff)? Müsste man im hobbyorientierten, ja selbst noch sportorientierten Milieu nicht auch noch x Untergruppierungen und Szenen unterscheiden? Was hat der Tennisspieler mit dem Inlineskater gemein außer der Tatsache, dass beide im Freiraum einem ausgeprägten Sportinteresse nachgehen? Trennen ansonsten beide nicht geradezu ‚Welten’? Für einen bestimmten Zweck mögen solche ein- oder zweidimensionalen Milieukonstrukte durchaus sinnvoll sein, aber würde man - anders als hier - etwa freiraumkulturelle Geschmacksrichtungen als zentrales Unterscheidungsmerkmal heranziehen, käme man wieder zu ganz anderen Milieusortierungen. Tatsächlich geht die empirische Milieu- und Lebensstilforschung auch anders vor. Sie berücksichtigt nicht - wie hier - ein oder zwei Merkmale, sondern eine Vielzahl von teilweise über 50 und 100 Variablen. Mit Hilfe sog. Cluster- und Korrespondenzanalysen (vgl. hierzu Blasius 1994) werden Personen anhand dieser vielen Merkmale derart zusammengefasst, dass Personen mit ähnlichen Merkmalsausprägungen zum gleichen Cluster gehören. Und natürlich liegt das zentrale Problem der empirischen Milieu- und Lebensstilforschung in der Bestimmung und Definition dieser ‚Ähnlichkeit’: in wie vielen Merkmalsausprägungen müssen die Personen wie sehr übereinstimmen, dass man sie zu einem Cluster, einem Milieu zusammenfassen kann? Blasius hat das Problem der Lebensstil- und Milieuforscher exakt beschrieben: „Je kleiner die zu differenzierenden Gruppen gewählt werden, desto homogener sind sie, im Extremfall gibt es genauso viele Gruppen wie Befragte gesucht ist jedoch eine Lösung mit möglichst wenig Gruppen (Stilen).“ (ebenda: 240) Meist geht man sehr pragmatisch vor und sagt vorab, dass man nicht mehr als 8, 10 oder 12 Milieus haben will, und ordnet die relativ am nächsten zueinander liegenden Personen demselben Milieu zu mit der Folge, dass die 94
Homogenität der jeweiligen Milieus nicht immer sehr groß sein muss und die Differenz zu den anderen Milieus ebenfalls nicht allzu groß ist. Je mehr Merkmale man berücksichtigt und je ‚feiner’ man die unterschiedlichen Merkmalsausprägungen dabei berücksichtigt, desto mehr Lebensstile würde man entdecken bzw. desto inhomogener würden die einzelnen Milieus ausfallen. Blasius konstatiert lakonisch: „Es ist lediglich eine Frage des Forschungsdesigns, wie viele und welche ‚Lebensstile’ ermittelt werden.“ (ebenda: 254) Die Lebensstil- und Milieuforschung hat etwas ‚Konstruiertes’ an sich. Sie mag Recht haben in ihrer Ausgangsthese, dass die Individuen heute immer weniger durch Merkmale wie Alter, Einkommen, Bildung, Geschlecht usf. in allen ihren Lebensäußerungen eindeutig festgelegt sind, dass sie sich aus diesen Sozialkategorien ein Stück weit ‚befreit’ haben, aber das heißt nicht unbedingt, dass sie sich nun allesamt eindeutig bestimmten Lebensstilgruppen und Milieus zuordnen ließen. Den Individualisierungsprozess wirklich ernst nehmen, könnte bedeuten, dass das Individuum tatsächlich in vielen Bereichen ‚frei’ ist, das zu tun, was es möchte. Die Lebensstil- und Milieuforschung unterstellt allen Lebensäußerungen eines Menschen ein ‚ordnendes Prinzip’, einen ‚Stil’, gewissermaßen ein ‚Motto’, unter dem mehr oder weniger das Leben steht. Könnte es nicht sein (vgl. hierzu schon Herlyn, Scheller, Tessin 1994: 230), dass den meisten Menschen ein solches ordnendes Prinzip, ein solches Motto fehlt, und sie ziemlich wahllos, gleichsam prinzipienlos das tun, was sie möchten, sie also keine in sich geschlossene, klar definierte Persönlichkeit, gar keinen Lebensstil, sondern eine Art von ‚patchwork-Identität’ oder ‚every-thing-goes-Mentalität’ entwickeln, wo sich also freiraumkulturell gesehen - Natur und Disko, Ruhe und Bewegung, Kitsch und Kunst, Garten und Sport, Angeln und Volksfest sich überhaupt nicht ausschließen müssen? 5.6
Zum gruppenspezifischen Ansatz in der Freiraumplanung Die 1970er Jahre waren in der Stadt- und Freiraumplanung stark von der Frage geprägt, inwieweit man die gesellschaftlich bedingten unterschiedlichen Lebenschancen der einzelnen Bevölkerungsgruppen durch eine Art von kompensatorischer Infrastrukturplanung ausgleichen könne und solle (vgl. u.a. Herlyn, Hg., 1980; Schön 1990). Müsse man sich nicht darauf konzentrieren, den unterprivilegierten, gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, den Kindern, Jugendlichen, Armen, den (Haus-) Frauen, Alten, den Behinderten zu helfen, ihnen entsprechende Angebote zu machen, die auch sie sich leisten können bzw. die vor allem für sie nützlich sind? Die anderen, nicht benachteiligten Gruppen könnten sich doch mehr oder weniger selbst helfen, in dem sie überall hinfahren, Ausflüge machen, sich einen privaten Garten leisten 95
können. Dieser damalige Unterprivilegierten-Ansatz setzte denn auch richtigerweise im Wohnumfeld dieser Leute an, denn das ist der für sie freiraumkulturell relevante Bereich. Es wurden im Rahmen von städtebaulichen Sanierungsvorhaben Maßnahmen der Verkehrsberuhigung, der Fassaden- und Hinterhofbegrünung, der Schaffung neuer Freiräume durch eine sog. Entkernung durchgeführt. Mietergärten und neuartige sog. Abenteuer-Spielplätze entstanden. Alles Maßnahmen, die für die unterprivilegierten, ans Wohnumfeld gebundenen Milieus sicherlich eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und ihrer freiraumkulturellen Möglichkeiten beinhalteten. Generell ist mit den Jahren jedoch die Skepsis gewachsen, dass man über entsprechende Freirauminfrastrukturangebote die Lebensbedingungen gesellschaftlich benachteiligter Gruppen nennenswert verbessern könne und wichtiger noch - es gibt kaum noch kommunale Finanzmittel, um eine solche kompensatorische Freiraumpolitik zu betreiben. Jeder gruppenspezifische Ansatz in der Landschafts- und Freiraumplanung birgt überdies gewisse Probleme in sich: x Zum einen die Tendenz zu räumlichen Lösungen, die auf eine Art Gettoisierung der jeweiligen Gruppe hinauslaufen: Kinderspielplätze, Arbeiter- oder Türkengärten, Altenbereiche in Parks, ‚Frauenräume’. Dabei ist die Gefahr groß, dass es zu einer räumlichen Isolierung kommt, wo man gerade im öffentlichen Freiraum eher das Ideal sozialer Integration und einer ‚ausgewogenen Bevölkerungsmischung’ verfolgt, ohne freilich bislang einen überzeugenden empirischen Nachweis erbringen zu können, der die Frage pro und contra ‚Mischung’ bzw. ‚Segregation’ (vgl. Herlyn 1974: 30ff) hätte etwas klären können. x Zum anderen ist es bei der zur Verfügung Stellung und/oder Aufwertung öffentlicher Freiräume für bestimmte Bevölkerungsgruppen schwierig zu gewährleisten, dass diese auch tatsächlich ihnen zugute kommen. Es war eine schmerzliche planerische Erfahrung der 1960er, 70er und 80er Jahre, dass die oben genannten Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen in Sanierungsgebieten, die von ärmeren und/oder älteren Bevölkerungsgruppen bewohnt wurden, bisweilen die Attraktivität der Gebiete so sehr verbesserten, dass nun auch andere, einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen Interesse entwickelten, dort zu wohnen. In Folge dieser gut gemeinten Sanierungs- und Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen vollzog sich ein regelrechter Verdrängungsprozess. Die ärmeren Bevölkerungsgruppen konnten sich nun die teurer gewordenen Wohnungen nicht mehr leisten und zogen nach und nach fort. Einkommensstärkere Gruppen, Wohngemeinschaften, ‚Dinks’ (double income no kids) ersetzten sie. x Ein gruppenspezifischer Ansatz birgt überdies die Tendenz in sich, gruppenspezifische Verhaltensweisen und Wertvorstellungen zu verfestigen. 96
Durch eine gruppenspezifische Planung städtischer Freiräume werden die Rollenklischees zementiert: alte Menschen werden zum Sitzen auf einer Parkbank in einem Rosengarten ‚verdammt’, Kinder zum Spielen, Jugendliche zum Bolzen, Arbeiter zum Kleingärtnern. Zwar ließe sich auch ein gruppenspezifischer Ansatz denken, der gerade versucht, diese verfestigten Rollenklischees aufzubrechen, aber in der Planungspraxis läuft es doch meist mehr auf eine ‚Berücksichtigung’, d.h. aber Bestätigung dieser Klischees hinaus. x Angesichts des oben skizzierten Individualisierungsprozesses und der Lebensstildiskussion scheinen auch Zweifel daran angebracht, ob diese sog. unterprivilegierten Großgruppen (Frauen, alte Menschen, Kinder) überhaupt noch freiraumkulturell als einigermaßen ‚homogene’ Gruppen aufzufassen sind. Die freiraumkulturellen Interessen und Möglichkeiten von Frauen oder alten Menschen sind nicht grundsätzlich anders, sondern unterscheiden sich nur graduell von denen anderer gesellschaftlicher Gruppen, und die gruppeninternen Unterschiede können bisweilen größer sein als die Unterschiede zu anderen Gruppen. Deshalb scheint es heute in der Planung sinnvoller, weniger von gesellschaftlichen Gruppen, freiraumkulturellen Milieus als von konkreten Nutzungsarten, Aktivitätstypen, Geschmacksrichtungen, Trends auszugehen, wobei es unerheblich ist, ob etwa der Ruhe- oder Spielbereich, der Naturerlebnisbereich von alten Menschen, Kindern, Frauen oder auch Männern benutzt wird.
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6. Freiraumkultureller Wandel
6.1
Freiraumkultur als Rahmen individuellen Freiraumverhaltens Schon mehrfach ist der Begriff der Freiraumkultur gefallen. Unter ‚Kultur’ versteht man bekanntlich die Gesamtheit an Vorstellungen, Fertigkeiten, Werthaltungen, Kenntnissen, Verhaltensweisen sowie an Einrichtungen und Geräten, die für die Menschen innerhalb einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit verfügbar sind. ‚Kultur’ kann als eine Art Mittel oder Ressource verstanden werden, mit dem der Mensch sich seine Umwelt zur Befriedigung seiner Bedürfnisse aneignen kann. Kultur hat also „Werkzeugcharakter“ (Greverus 1978: 61). Unter ‚Freiraumkultur’ ist dann also die Gesamtheit an Vorstellungen, Fertigkeiten, Verhaltensweisen, Werthaltungen, Kenntnissen, Einrichtungen und Geräten einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe zu verstehen, soweit sie für das Freiraumverhalten von Bedeutung sind. Üblicherweise wird Kultur in zwei große Bereiche aufgeteilt: Der materielle Bereich der Freiraumkultur bezieht sich auf alles das, was in einer Gesellschaft an Freiraumtypen (Garten, Park, Stadtplatz, Landschaft) entwickelt worden ist. Zugleich gehören zum materiellen Bereich der Freiraumkultur alle jene Geräte, Fahr-, Spiel- oder Werkzeuge, Kleidungsstücke, die im Freiraum Verwendung finden (also vom Wanderschuh über den Regen- oder Sonnenschirm, den Rasenmäher, das Grillgerät, die FrisbeeScheibe bis hin zu Fahrrädern, Segelbooten und was auch immer). Heute helfen dem Hobbygärtner z.B. beim Kampf gegen unerwünschte Moose, Gänseblümchen und Klee spezielle Super-Rasendünger mit extremer Langzeitwirkung, Unkrautvernichter, Rasenerneuerungselixiere, Sprays usf.; Der Rasen, „das Herzstück des deutschen Gartens“ (Dahl 1984: 120), der in den meisten großstädtischen Gärten mehr als 50% der Gartenfläche einnimmt, hat seinen Siegeszug einerseits aufgrund seines immergrünen und stets gepflegten Aussehens angetreten (vgl. hierzu ausführlicher Lendholt 1960), andererseits (und vor allem) aber auch aufgrund der Revolutionierung der Rasenmäherund Rasensprengerkultur. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts hielt man die englische Rasenkultur aus Klimagründen für nicht nach Deutschland übertragbar, heute ist das feuchte Rasenklima Englands technisch machbar ge98 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
worden. Das „Koniferenland“, als das Disko (1984:130) die (west-) deutschen Gärten bezeichnete, ist wesentlich auch den Pflanzenzüchtern und Baumschulen zu verdanken, die nicht nur aus den über 500 bekannten Koniferen-Arten eine stattliche Anzahl für die Gartenverwendung überhaupt erst erschlossen, sondern denen es auch gelang, zwerg- bzw. schwachwüchsige Koniferen zu züchten. Zum immateriellen Bereich der Freiraumkultur gehört die Gesamtheit an gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen, sozialen Normen, Verordnungen, Bedürfnissen und der gesamte symbolisch-ideologische Überbau, der sich auf Freiräume bezieht. Und auch in Bezug auf bestimmte Aktivitätstypen wie etwa das Wandern, den Spaziergang, das Baden hat die Gesellschaft Spielregeln, Gerätschaften und z.B. Bekleidungsutensilien entwickelt. Es gibt kulturgeschichtliche Abhandlungen über ‚Wanderzwang und Wanderlust’ (Albrecht, Kertscher 1999), über das ‚Sonnenbräunen’ (Tavenrath 2000) oder den ‚Spaziergang’ (König 1996), die also zeigen, wie bestimmte Freiraumverhaltensweisen in der Vergangenheit entstanden sind und gesellschaftlich institutionalisiert wurden. Am Beispiel des Sports etwa ließe sich zeigen, wie das Spiel- und Bewegungsbedürfnis des Menschen erst in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt wurde, ehe es als gesellschaftlich wertvoll akzeptiert wurde: x Spiel und Sport wurden geschlechterweise getrennt, quasi ‚entsexualisiert’ und zunächst propagiert, um ‚überschüssige Triebenergie’ vor allem bei jungen Männern zu binden und gesellschaftlich unschädlich zu machen. x Spiel und Sport wurden unter das Leistungsprinzip gestellt im Sinne des Höher, Schneller, Weiter. ‚Glücksspiele’ gelten als schädlich, weil hier Erfolg nicht auf Leistung beruht. Im ‚wertvollen’ Spiel und Sport wurden die Erfolgskriterien so entwickelt, dass sie einerseits quasi objektiv messbar gemacht wurden: geschossene Toren, gelaufene Zeiten, gesprungene Meter etc. Andererseits erlerntes (antrainiertes) Leistungsvermögen und Erfolg in einem direkteren Zusammenhang stehen (anders als im verwerflichen Glücksspiel). x Spiel und Sport wurden dem Wettbewerbsprinzip unterworfen, d.h. die eigene Leistung wird bewertet im Vergleich zur Leistung anderer und/oder zur eigenen, bisherigen Leistung. Erwartet wird, dass sie stets besser sein oder besser werden muss. x Spiel und Sport wurden einem bestimmten Tugendkatalog unterworfen: Teamgeist, Fairness, Kameradschaftlichkeit, Selbstdisziplin, Toleranz, Größe in der Niederlage, Bescheidenheit im Sieg usf., alles Dinge, die nicht sozusagen von Natur aus im Menschen angelegt sind. 99
Diese Werte wie Leistung, Konkurrenz, Beharrlichkeit, Ausdauer usf. sind nun nicht nur im sog. Leistungs- sondern auch beim Freizeitsport wirksam: wir versuchen, unsere Jogging-Leistung (auch ohne Konkurrenz) zu verbessern, trauen uns beim Skilaufen auf immer steilere Abhänge, schimpfen selbst beim Kneipenfußball über ein Eigentor, ärgern uns, wenn beim Boule-Spiel unsere Kugel zu weit rollt, überbieten uns mit waghalsigen Manövern auf dem Skateboard. Ganz typisch auch das Verhalten, meist nur Spiel- und Sportarten auszuüben, die wir einigermaßen beherrschen, wo wir uns also nicht allzu ungeschickt anstellen. Genauso typisch das Verhalten älterer Menschen, den Sport, vor allem Mannschaftssportarten aufzugeben, wenn die eigene Leistung ‚nicht mehr stimmt’, man gegenüber den jüngeren Mitstreitern leistungsmäßig allzu sehr abfällt. Diese und ähnliche Verhaltensweisen sind nur verständlich, wenn man die Wirksamkeit gesellschaftlicher Werte wie Leistung, Erfolg, Konkurrenz im Spiel- und Sportbereich berücksichtigt, auch wenn in den letzten Jahrzehnten ein Prozess zu beobachten war, der die Wirksamkeit dieses Wertekanons im Sport zurückdrängte. 6.2
Freiraumkultur im gesellschaftlichen Wandel „Früher schätzten bei uns in Deutschland die wenigsten Menschen körperliche Übungen, Sport und ausgedehnte Wanderungen: es war die Zeit des Stammtischtums und Bierphilisteriums, (…). Dank den englischen Vorbildern hat sich da manches geändert. (…) Dementsprechend ist in der heutigen Generation wieder ein Gefühl erwacht, das unseren Vorfahren teilweise abhanden gekommen zu sein scheint, die Liebe und Begeisterung für die Schönheiten der Natur. (…) Immer mehr treten das Wirtshaus und die Kneipe in den Hintergrund, und an ihre Stelle werden die freie Natur, Wälder, Seen, Wintersportplätze, Spiel- und Turnplätze, Tummelplatz und Erholungsstätte von jung und alt treten.“ (Gemünd 1913: 190) Worauf hier angespielt wird, sind die vielfältigen gerade auch freiraumkulturell relevanten Reformbewegungen der Jahrhundertwende kurz vor und nach 1900, die bei allen Unterschieden zwischen einander doch einen gemeinsamen Kern hatten: die „Liebe zur Landschaft und Natur“, die Sehnsucht nach einem naturnäheren Leben: sei es nun die Siedlungs-, Heimat-, Gartenstadt- und Naturschutzbewegung, die Jugend-, Freikörperkultur-, Naturheilkunde- oder die Lebensreformbewegung insgesamt, die alle schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden waren, sie alle hatten ein ‚natürlicheres Leben’ mehr oder weniger explizit zum Ziel und waren damit für die Entwicklung der Freiraumkultur in Deutschland von größter Bedeutung. Die Freiraumkultur befindet sich in ständiger Entwicklung, mal stärker, mal schwächer. Besonders in der Langzeitperspektive wird dieser Wandel sichtbar. Stadtplätze ließen sich hier z.B. anführen. Früher oft ein Ort der Be100
gegnung und des repräsentierenden Verhaltens bürgerlicher Schichten einer Stadt, sind sie heute mancherorts zu einem Ort für gesellschaftliche Randgruppen geworden: Arbeitslose und Obdachlose, die sich um einen Kiosk scharren, ein paar unsicher gewordene Mütter mit ihren Kleinkindern, gruppiert um eine Sandkiste, und eine Gruppe Jugendlicher, eingepfercht in einen umzäunten Bolzplatz. Der Stadtplatz hat seine Funktion als Ort bürgerlicher Präsenz und Repräsentanz weitgehend verloren (vgl. Selle 2003). Im Folgenden soll dem freiraumkulturellen Wandel an zwei Beispielen etwas genauer nachgegangen werden: Bedeutungswandel des Wohnumfeldes Früher, im ausgehenden 19. Jahrhundert, war das Wohnumfeld (Hof, Straße, Platz) der Lebensmittelpunkt der Bewohner. Hier vollzog sich das alltägliche Leben, hier wurde nicht nur gewohnt, sondern vielfach auch gearbeitet. Die damaligen, ‚durchmischten’ Stadtviertel waren noch durchsetzt mit Handwerksbetrieben, Kohlehändlern, Einzelhandelsgeschäften. Zugleich wurde hier die meiste Freizeit verbracht: in den Straßen, Hinterhöfen, in den Freiräumen des Viertels, aber natürlich auch in seinen Eckkneipen und Gaststätten. Die Nachbarschaft spielte eine große Rolle in allen ihren Facetten von harmloser Kommunikation über Hilfe in Notfällen bis hin zur rigiden sozialen Kontrolle. Die Viertel waren belebt, bisweilen ein regelrechtes ‚Gewusel’. Kein Wunder: die Wohnungen waren ‚überbelegt’ und die durchschnittliche Haushaltgröße belief sich auf 4 und mehr Personen (heute: 1-2 Personen!). Die Bevölkerungsdichte war damals also sehr hoch und insbesondere gab es viele Kinder. Entsprechend seiner Funktion als Lebensmittelpunkt war das Wohnumfeld also für viele so etwas wie ‚Heimat’, ein Ort der Identifikation, wenn auch die Lebensbedingungen als solche bekanntlich durchaus schlecht waren. An dieser freiraumkulturellen Bedeutung des Viertels bzw. des Wohnumfeldes hat sich im letzten Jahrhundert Grundlegendes geändert, wofür eine Vielzahl von Gründen und Facetten des gesellschaftlichen Wandels eine Rolle spielt; ein paar wichtige seien hier kurz erwähnt, auch weil sie für den Nutzungswandel auch anderer Freiräume in der Stadt von Bedeutung sind: x Entflechtung von Arbeit und Wohnen (Funktionstrennung): Die seinerzeit vorhandene größere Durchmischung von Arbeit und Wohnen löste sich auf und wurde durch die Stadtplanung im Rahmen der Planungsideologie der Funktionstrennung bewusst aufgelöst zu Gunsten von Industrie- und Gewerbegebieten. Immer mehr Arbeitsplätze wurden aus den Wohngebieten an den Stadtrand ausgelagert, neue Wohnviertel entstanden als mehr oder weniger ‚reine’ Wohngebiete mit der Konsequenz: die Berufstätigen verlassen morgens das Wohnviertel und kommen abends zurück, das Wohnumfeld ‚entleert’ sich tagsüber. 101
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Automobilisierung der Privathaushalte (Massenmotorisierung): Die seinerzeit ausgeprägt vorhandene Präsenz der Leute im Viertel war natürlich Ausdruck ihrer fehlenden Mobilität. Mit dem Erwerb eines Autos (und dem Ausbau des ÖNV in den Städten) gab es immer weniger Zwänge, im eigenen Viertel zu bleiben mit der Konsequenz: zunehmend mehr Leute konnten das gesamte Freizeitangebot der Stadt bzw. des Umlandes nutzen, das Wohnumfeld ‚entleerte’ sich nicht nur, sondern ‚füllte’ sich mit parkenden Autos, was wiederum die Aufenthaltsqualität im Viertel stark beeinträchtigte. Dieser Prozess setzte in der späten 1950er Jahren ein im Zuge des damals so genannten ‚Deutschen Wirtschaftswunders’. x Kultivierung der Privatsphäre: mit steigendem Wohlstand, der Verringerung der Haushaltsgröße auf durchschnittlich 1-2 Personen, mit der Anschaffung von Haushaltsgeräten (Eisschrank, Geschirrspüler, Waschmaschine etc.) und Medien (Telefon, Radio, Fernsehen, PC etc.) und mit der Steigerung des allgemeinen Wohnungskomforts (Heizung, Warmwasser, Bad/Toilette in der eigenen Wohnung) lässt sich eine Privatsphäre kultivieren, wie das im 19. Jahrhundert für die Masse der Bevölkerung überhaupt noch nicht denkbar war, mit der Konsequenz: immer mehr Zeit wird nun in den eigenen vier Wänden verbracht (und nicht mehr im Wohnumfeld). x Überlokale Vergesellschaftung: immer mehr Aktivitäten (Schul- und Veranstaltungsbesuche, Einkaufen, Reisen, Vereinsmitgliedschaften) finden außerhalb des Wohnviertels, also stadtübergreifend statt. Die Medien integrieren die Leute in gleichsam weltweite Interaktions- und Kommunikationsstrukturen mit der Konsequenz: das Wohnumfeld verliert nach und nach seine alltägliche Bedeutung, nachbarschaftliche Kommunikation scheint zunehmend entbehrlich, ja, eher lästig. x Individualisierung der Lebenslage: der schon beschriebene Prozess der Individualisierung (vgl. Kap. 5.4) bei vermehrter Multikulturalität führt zu Spannungen im Wohnumfeld. Die Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Bewohner ‚driften’ auseinander, so dass sich (zwecks Konfliktvermeidung) distanziertere bis anonyme ‚Grußnachbarschaftsbeziehungen’ und nur punktuell ‚Zweckgemeinschaften’ anbieten, die Besuchskontakte bzw. Hilfeleistungen einschließen mit der Konsequenz: man lässt sich nicht mehr auf das Viertel ein und vermeidet (potenziell konfliktträchtige, also fast alle) Aktivitäten im Wohnumfeld. Wenn so gesehen das städtische Wohnumfeld in den letzten Jahrzehnten freiraumkulturell an Bedeutung eingebüßt hat, so hat es seine Bedeutung natürlich nicht gänzlich verloren. Insbesondere für weniger mobile Menschen (Kinder, alte Menschen, Arbeitslose etc.) ist es nach wie vor bedeutsam. Auch hat man seit den 1970er, 80er Jahren versucht, das Wohnumfeld mit 102
planerisch-gestalterischen Mitteln wieder aufzuwerten: ‚Entkernung’ von Hinterhöfen, Anlage von Mietergärten, Durchführung von Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung usf.; aber deren freiraumkulturelle Wirkung bleibt natürlich begrenzt im Rahmen des o.g. gesellschaftlichen Wandels. Deutlich wird jedoch daran, wie die Freiraumplanung immer wieder auf solche und andere freiraumkulturelle Entwicklungen reagieren muss, was natürlich eine Kenntnis und ein Verständnis dieses Wandels zur Voraussetzung hat. Bedeutungswandel des Kleingartens? Auch im Kleingartenwesen waren eine Zeit lang gesellschaftliche Entwicklungen im Gange, die den Kleingarten, eine ‚Erfindung’ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als freiraumkulturelle Institution latent in Frage zu stellen schienen (vgl. Tessin 1995); behauptet wurde nämlich bisweilen: x Kleingärten seien sozialpolitisch ‚überholt’, x sie seien ‚fehlbelegt’ und x hätten sich ihren einstigen gartenkulturellen Ursprüngen ‚entfremdet’. Die öffentliche Förderung des Kleingartenwesens - so die damalige Argumentationslinie - leite sich historisch aus den desolaten Lebensumständen der Masse der Bevölkerung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab und aus den beiden Kriegs- und Nachkriegszeiten im 20. Jahrhundert. Schlechte (feuchte), überbelegte Wohnungen, dunkle Mietskasernenviertel, Armut, Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit als Massenschicksal, keine Urlaubsreisen oder Wochenendausflüge mit dem eigenen Auto, keine Kaufkraft, um anderen (heute üblichen) Freizeitvergnügungen nachgehen zu können. Zumal aus heutiger (sozialpolitisch geläuterter) Sicht dürfte jedem die damalige Einrichtung und öffentliche Förderung des Kleingartenwesens vollauf gerechtfertigt erscheinen. Aber heutzutage würden eben diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - auch für weite Kreise der Unterschicht - ganz andere sein und von daher sei auch das Kleingartenwesen überholt. Wenn überhaupt, dann hätte es nur noch rein freizeitliche Funktion ähnlich wie das Wochenendhaus oder Dauercamping, wofür es ja - zu Recht - keine, dem Kleingartenwesen vergleichbare öffentliche Förderung gebe. Diese sozialpolitische Überholtheit werde auch daran erkennbar, dass die Nahrungsmittelproduktion im Kleingarten kaum noch eine Rolle spiele. Tatsächlich schien vor dem Hintergrund der besseren sozialstaatlichen Abfederung von Arbeitslosigkeit, der Beseitigung von kriegs- und nachkriegsbedingter Nahrungsmittelknappheit, der zunehmenden (relativen) Verbilligung und zugleich Verbesserung des marktwirtschaftlichen Angebots an Obst und Gemüse, was Frische und Vielseitigkeit anbetrifft, der ökonomische Zwang, den Kleingarten als Obst- und Gemüsegarten anlegen zu müssen, bei den allermeisten Kleingärtnern geschwunden zu sein. Obst- und Gemüseanbau werde, so hieß es, zwar durchaus noch im Kleingartenwesen betrieben, aber 103
es dominiere (wenn überhaupt) das eher hedonistische Interesse an frischem Obst und Gemüse, an ‚eigener Ernte’, am Spaß, den der Obst- und Gemüseanbau mache. Kaum noch jemand habe sich seine Parzelle zum Zwecke der Selbstversorgung angeschafft. Ja, in vielen Fällen würden sich die Pächter nicht mehr daran halten, nicht einmal ein Drittel ihrer Kleingartenparzelle dem Obst- und Gemüseanbau zu widmen, wie es das kleingärtnerische Selbstverständnis an sich vorsehe. Ursprünglich waren Kleingärten ja auch eher Arme- bzw. Kleine-LeuteGärten; noch bis in die 1950er Jahre hinein waren rund 60% der Kleingärtner Arbeiter! Noch in den 1990er Jahren verwiesen die Kleingartenfunktionäre selbst jedoch nicht ohne Stolz darauf, dass sich die Sozialstruktur der Kleingärtner dem Bevölkerungsdurchschnitt angepasst hätte. Die Ergebnisse aus jener Zeit hinsichtlich des monatlichen Netto-Haushaltseinkommens für Hamburg (vgl. Andreä u.a. 1994) z.B. machten bei aller gebotener Vorsicht deutlich: Kleingartenpächter rekrutierten sich nicht mehr ausschließlich aus den einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen, sie bildeten auch einkommensmäßig keinen repräsentativen Querschnitt durch die Hamburger Bevölkerung, sondern verdienten im Schnitt eher mehr als in Hamburg üblich und dasselbe galt wohl für alle Großstädte (im damaligen Westdeutschland). Und das sei, so die damalige Argumentation, nicht dem Desinteresse der einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen geschuldet (vgl. hierzu Spitthöver 1982), sondern den seinerzeit ‚zu hohen’ Abstandszahlungen, die man als Neupächter einer Kleingartenparzelle dem Vorpächter zu zahlen hat für dessen Investitionen in den Garten und die Gartenlaube. Ärmere Bevölkerungsgruppen konnten sich damals ganz einfach die Abstandszahlungen von häufig über 3, ja, 5000 € nicht leisten. Ein dritter nun gartenkulturell begründeter Einwand gegen das Kleingartenwesen bestand schließlich darin, dass die traditionelle gartenkulturelle Ideologie des Kleingartenwesens immer mehr erodiere und Kleingartenanlagen immer mehr Quasi-Wochenendhausgebieten ähneln würden. Entsprechend der Studie von Andreä u.a. (1994) war in Westdeutschland der Anteil jener, die den Kleingarten gleichsam als Freizeitgarten nutzten mit einem nur noch als symbolisch zu nennenden Obst- und Gemüseanbau, einem pflegeleichten Garten, der nicht viel Arbeit macht, und mit einem erheblichen Laubenkomfort auf rund 30% zu schätzen. 33% der damals befragten Pächter würden gern, wenn es erlaubt wäre, im Rahmen ihrer jeweiligen finanziellen Möglichkeiten ihre Laube zu ‚festen Wohnsitzen’ ausbauen. Die meisten Lauben verfügten schon damals über einen Wasser- und Elektroanschluss in der Laube. Das Vereinsleben im Kleingartenwesen, ein Kernpunkt der gesamten Kleingartenideologie, liege ebenfalls danieder. Der Anteil der Mitglieder, die sich aktiv am Vereinsleben beteiligen würden, sei sehr begrenzt (vgl. Matthäi 104
1989). Zwar würden die gemeinschaftlichen Arbeiten mehr oder weniger noch klaglos mitgemacht werden, aber dazu, Posten im Verein zu übernehmen, würden sich nur noch ganz vereinzelt Leute bereit erklären. In einigen Vereinen blieben Posten vakant. Die Vereinsfeste würden immer nur von einem kleinen, immer gleichen Kreis von Leuten organisiert werden, der Besuch der Feste sei mäßig. Vereinzelt hätten Vereine einige traditionell übliche Feste aus dem Programm gestrichen. Vor diesem Hintergrund verwundert die damalige Diskussion nicht, ob die vereinsmäßige Organisation und Verregelung des Kleingartenwesens noch zeitgemäß sei. Wollen sich nicht immer mehr Menschen frei machen von behördlichen Vorgaben, nachbarschaftlicher sozialer Kontrolle, tradierten Norm- und Wertvorstellungen? Steht die kleingärtnerische ‚Vereinsmeierei’ diesen Strömungen nicht diametral entgegen? Kurzum, es schien, als habe der Kleingarten im Zuge des gesellschaftlichen Wandels seine alte sozialpolitische Funktion (und Rechtfertigung) weitgehend eingebüßt und wäre zu einem reinen Freizeitvergnügen für gar nicht mal so ganz einkommensschwache Leuten ‚heruntergekommen’. Tatsächlich gab es entsprechende Diskussionen (vgl. Tessin 1995), dass Kleingartenwesen müsse sich mit diesem freiraumkulturellen Wandel auseinandersetzen, sei es, dass man versucht, diese ‚Fehlentwicklungen’ zu korrigieren, sei es, dass man diese ‚Fehlentwicklungen’ als unvermeidlich ansieht und entsprechend ‚alten ideologischen Ballast’ über Bord wirft und das Kleingartenwesen ‚zeitgemäß’ erneuert. Inzwischen hat sich diese Entwicklung im Kleingartenwesen jedoch wieder ganz grundlegend geändert. Und das hängt wiederum mit dem gesellschaftlichen, insbesondere mit dem demografischen Wandel zusammen: einerseits mit dem Bevölkerungsrückgang vor allem in vielen ostdeutschen Städten nach der Wende, zum anderen mit dem Geburtenrückgang. Aufgrund des in den 1960er Jahren einsetzenden Geburtenrückganges um 20-30% pro Jahrgang (Stichwort: Pillenknick!) kommen nun seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend diese geburtschwachen Jahrgänge als Nachfrager von Kleingärten auf den Markt, und es ist klar, dass sich dies negativ auf die Nachfrage auswirkt und dies umso mehr je mehr Kleingartenpächter aus den geburtenstarken Jahrgängen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten altersbedingt ihren Kleingarten aufgeben werden. Im Jahr 2040 (dann sind die letzten geburtenstarken Jahrgänge aus den früher 1960er Jahren etwas über 80 Jahre alt) wird dieser Prozess abgeschlossen sein: dann wird es nur noch geburtenschwache Jahrgänge geben, die für das Kleingartenwesen in Frage kommen. Schon jetzt hat sich bundesweit die Nachfrage nach Kleingärten verringert, und sie wird sich (je mehr die geburtenschwachen Jahrgänge nachrücken) mittel- bis langfristig weiter verringern - nicht dramatisch, aber kontinuierlich. Schon heute gibt es in einigen kleingärtnerisch gut versorgten Städten Verpachtungsprobleme bzw. Leerstände. So heißt es in einer entspre105
chenden bundesweiten Studie: „Zum Zeitpunkt der Befragung standen in den einbezogenen 118 Vereinen 2,5% der Gärten schon länger als ein Jahr leer. Leerstand gibt es bei einem Drittel der Vereine. Für 8% von ihnen stellt der Leerstand bereits ein echtes Problem dar, weil dort mehr als 5% der Gärten länger als ein Jahr leer stehen.“ (BMVBS 2008: 49) Dass der Nachfragerückgang im Kleingartenwesen, der sich wesentlich aus dem Nachrücken der geburtenschwachen Jahrgänge ergibt, sich in Städten, die bislang noch keinen nennenswerten Bevölkerungsrückgang aufwiesen, derzeit nicht noch deutlicher in Verpachtungs- und Leerstandsproblemen manifestiert, ist vor allem auch darauf zurückzuführen, dass einerseits Kleingärten bis ins relativ hohe Alter angepachtet bleiben (sich also der Austausch der geburtenstarken durch die geburtenschwache Jahrgänge über einen sehr langen Zeitraum hinziehen wird), und andererseits darauf, dass es Bevölkerungsgruppen, die bislang im Kleingartenwesen kaum zum Zuge gekommen waren, nun gelungen ist, dort Fuß zu fassen. So kann man heute kaum noch von einem Prozess der Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen aus dem Kleingartenwesen sprechen – eher im Gegenteil. Ja, war das Kleingartenwesen noch vor einigen Jahrzehnten weitgehend ‚ausländerfrei’, so ist heute der Anteil von Pächtern mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich (vor allem in Westdeutschland). Der Grund hierfür ist einfach: wegen des deutlichen Rückgangs der Kleingartennachfrage geht vielerorts die Höhe der geforderten bzw. auf dem Markt durchsetzbaren Abstandszahlungen zurück und die Kleingartenvereine sind (angesichts von Leerstandsbefürchtungen) eher bereit, auch an ärmere Leute mit und ohne Migrationshintergrund zu verpachten, was man ‚früher’ sozusagen nicht nötig hatte. Freiraumkulturell hat diese gesellschaftlich veränderte Situation dazu geführt, dass sich bestimmte, eventuell problematische Entwicklungen im Kleingartenwesen derzeit nicht mehr fortsetzen und man fast so etwas wie einen Prozess ‚back to the roots’ beobachten kann: wieder mehr ärmere Bevölkerungsgruppen (mit und ohne Migrationshintergrund), wieder mehr Obst- und Gemüseanbau, weniger aufwendige Lauben. Es ist also auch für Landschafts- und Freiraumplaner wichtig, den gesellschaftlichen Wandel aufmerksam zu verfolgen, der sich eben auch freiraumkulturell auswirken und daher planerisch zu berücksichtigen sein wird.
6.3
Pluralisierung als Trend des gesellschaftlichen Wertewandels
Der gesellschaftliche Wandel, auf den bereits eingegangen wurde, hat sich u.a. auch als Wertewandel manifestiert. Kennzeichnend für die deutsche Gesellschaft (wie für das ‚typisch deutsche’ Kleingartenwesen) war bis in die 106
1960er Jahre hinein bekanntlich der Werte- und Tugendkanon Gehorsamkeit, Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit. Untersucht man Entstehung und Wandel dieses Wertekanons eingehender, dann wird deutlich, dass er sich in der Zeit vom 15. bis zum 18.Jahrhundert, der sog. frühen Neuzeit, herausbildete. Der Soziologe Weber hat diesen Prozess in Verbindung gebracht mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Protestantismus, zumal des Calvinismus. Im asketischen Protestantismus, so Weber, sei die Welt in ihrer kreatürlichen Verworfenheit ausschließlich bedeutsam als Gegenstand der Pflichterfüllung durch rationales Handeln. Der rationale, nüchterne, nicht an die Welt hingegebene Zweckcharakter des Handelns und sein Erfolg ist das Merkmal dafür, dass Gottes Segen darauf ruht. Nicht Keuschheit, wie beim Mönch, aber Ausschaltung aller erotischen Lust, nicht Armut, aber Sparsamkeit und Verzicht auf Verschwendung, nicht die asketische Abtötung des Klosters, aber wache, rational beherrschte Lebensführung und Vermeidung aller Hingabe an die Schönheit der Welt, der Kunst oder an die eigenen Stimmungen und Gefühle sind die Anforderungen. Disziplinierung und Methodik der Lebensführung sind das eindeutige Ziel. Aus dieser grundsätzlichen Ethik eines gottgefälligen Lebens leiten sich dann die Werte ab wie Mäßigung, Fleiß, Sparsamkeit, Ordnungsliebe usf. Die Arbeit wird zum vom Gott vorgeschriebenen Selbstzweck des Lebens überhaupt. Die Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes und - wie man weiß - aller Laster Anfang! „Der zeitgenössische, holzschnittartig verkürzte Moralvergleich der Nationen notierte noch um 1600 exzessive Trunkenheit, überbordende Lebensfreude und eine generelle Maßlosigkeit als hervorstechende Merkmale des deutschen Lebensstiles. 200 Jahre später hatte sich, (...), die Situation grundlegend gewandelt. Nun wurden den Deutschen mit Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit alle jene Eigenschaften zugeschrieben, die seitdem ihr Selbst- und Fremdbild entscheidend prägen.“ (Münch 1984: 14) Es versteht sich, dass ein solcher Tugendkanon nicht ohne Wirkung geblieben ist - auch auf das Freiraumverhalten. Die Sauberkeit und Ordnung in deutschen Grünanlagen war lange Zeit sprichwörtlich. Ein ‚Herumhängen’ auf der Straße gab es nicht. Undenkbar, dass man in der Öffentlichkeit getrunken hätte. Noch in den 1990er Jahren erklärten immerhin rund 30% der Gartenbesitzer, so eine Umfrage, sie könnten „einfach nicht untätig im Garten herumsitzen“ und würden „möglichst jede freie Minute nutzen, um im Garten etwas zu machen“. Bei der Beurteilung eines Parks spielt neben der Gestaltung, der Ausstattung und der Ruhe bzw. Lärmbelästigung auch der Pflegezustand, also die Sauberkeit und Ordnung der Anlage nach wie vor eine große Rolle. Auf Anzeichen von Verwahrlosung reagiert die Bevölkerung schnell mit Meidung dieser Räume. Nohl (1973: 518) konnte feststellen, dass der Pflegezustand einer Grünanlage sich nicht nur auf den Bewertungsdimensionen der Pflege und Sauberkeit selbst äußerte (sauber-schmutzig, ungepflegt-gepflegt), „sondern offenbar ist der Pflegecharakter auch für die Ein107
schätzung auf den übrigen (Bewertungs-, Erg.d.Verf.) Skalen von entscheidender Bedeutung.“ Es herrscht nun jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass seit Beginn der 1960er Jahre in den hoch industrialisierten Gesellschaften mit ihrem Übergang in sog. postindustrielle Dienstleistungsgesellschaften und im Zuge der weltweiten Studentenbewegung, des Globalisierungsprozesses usf. bestimmte Werte an Bedeutung verloren, andere an Bedeutung gewonnen haben (vgl. hierzu u.a. Klages 1984). Traditionelle Werte wie Pflicht, Ordnung, Disziplin, Unterordnung, Verzicht, Opfer, Anständigkeit, Sparsamkeit, Fleiß, jene viel geschmähten ‚Sekundärtugenden’, ‚bürgerlichen Tugenden’ (Münch 1984), Tugenden der protestantischen Arbeitsethik, hätten an Bedeutung verloren. An ihre Stelle getreten bzw. neu hinzugekommen seien Ansprüche auf Selbstverwirklichung, Sinn und Spaß. Als weitere Aspekte des Wertewandels werden genannt: Infragestellung von Autorität und Herrschaft, Bedeutungssteigerung des Wertes Gleichheit, Wandel der Erziehungswerte und -ziele, Abkehr von traditionellen religiösen Institutionen und Glaubensvorstellungen, Bedeutungserhöhung des Umweltbewusstseins, Veränderung der Werthaltung gegenüber Natur und Technik, Wandel der Ehe-, Familien- und sexuellen Moralvorstellungen und Pazifismus. Man hat versucht, diesen offenbar vielschichtigen und facettenreichen Wandel zu fassen mit Begriffen wie von ‚Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungs- und Engagementwerten’ (Klages), vom ‚Materialismus zum Postmaterialismus’ (Inglehart) oder von der ‚Leistungsethik hin zur Freizeitorientierung’ (Noelle-Neumann). Und wer kennt nicht den Slogan von der ‚Arbeits- zur Spaßgesellschaft’. Neben diesem Prozess des wie auch immer zu fassenden Wertewandels ist noch (fast wichtiger) ein anderer Aspekt zu berücksichtigen. Werte hatten trotz ihrer immer schon fehlenden wissenschaftlichen Begründbarkeit doch immer eine Art von Allgemeinverbindlichkeit. Sie ließen sich ableiten aus dem (christlichen) Glauben, dem Naturrecht, der Tradition oder dem absoluten Herrschaftsanspruch eines Monarchen. Sie hatten also eine seinerzeit unstrittige, allgemeinverbindliche Legitimationsbasis. Die fehlt heute. Das macht Werte heute nicht unwichtig, aber beliebiger. Manche sprechen auch von einem Entnormativierungsprozess: kein Wert könne heute mehr nur aufgrund von Tradition, christlicher Fundierung o.ä. Geltung beanspruchen. Alle Werte seien begründungspflichtig, und das Individuum könne sich selbst für bestimmte Werte entscheiden, nach denen es sein Leben ausrichten möchte (vgl. hierzu Hahn 1995). Dieser Entnormativierungsprozess erstreckt sich auf fast alle Lebensbereiche.
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Wenn man heute vom Wertewandel spricht, dann meint man also zweierlei: x zum einen eine Verschiebung des gesellschaftlichen Wertsystems in ganz bestimmte Richtungen, sagen wir ruhig: von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten, x zum anderen aber ein Verlust an Allgemeinverbindlichkeit, d.h. eine Pluralisierung, ja, Individualisierung des gesellschaftlichen Wertesystems. Zu diesem Wertewandel gerade im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sind jedoch (aus heutiger Sicht) ein paar relativierende Anmerkungen erforderlich: Man kann keinesfalls von einem vollständigen Austausch der alten Werte durch irgendwelche neuen Werte sprechen, ein Vorgang, der gleichbedeutend mit dem Verlust der alten Werte wäre. Es haben sich vielmehr nur die Relationen verschoben. Einige Werte sind etwas wichtiger, andere etwas weniger wichtig geworden, aber sie sind nicht aus dem gesellschaftlichen Wertesystem verschwunden. Es geht also weniger um die Ersetzung alter Werte durch neue, sondern mehr um eine Facettenanreicherung; d.h. neue Werte werden ins alte Wertesystem integriert. Durchaus schon vorhandene Werte gewinnen oder verlieren (etwas) an Bedeutung oder werden nun anders verstanden, auf andere Lebensbereiche bezogen (etwa die ‚Spaßerwartung’ auf das Berufsleben). Andererseits gibt es Wertbereiche, die vom Prioritätenwandel kaum tangiert worden sind. So ergaben Untersuchungen, dass Werte wie partnerschaftliche Harmonie, Kommunikativität, Gesundheit usf. kaum ihre Bedeutung verändert haben. Fraglich ist auch die bevölkerungsstrukturelle Verbreitung des Wertewandels. Auch in Zukunft werden - quasi ganz traditionell - 80% der Männer und Frauen heiraten. Nur für Minderheiten der Bevölkerung gehören ‚Pflichtbewusstsein und Selbstdisziplin’ nicht zu ‚den wichtigsten Dingen der Welt’, und nur in der jüngeren Generation orientiert man sich mehr an Freiheits- und Selbstentfaltungswerten als an traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten. Die Mehrheit der Bevölkerung betrachtet ‚Sparsamkeit’ nach wie vor als eine wichtige Eigenschaft, ja, man hält sich selbst für einen ‚sparsamen Menschen’. Nur ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich ‚der Kirche überhaupt nicht mehr verbunden’. Die Aussage, ‚möglichst nicht aus der Reihe zu tanzen’, findet noch immer mehrheitlich Zustimmung. Der Wertewandel beschränkt sich also auf mehr oder weniger große Minderheiten vor allem der jüngeren Jahrgänge in der sog. Postadoleszensphase. Sicherlich werden viele Aspekte auch von den anderen Bevölkerungsgruppen übernommen werden, aber eben - entsprechend den jeweiligen Lebensumständen - alters-, lebensphasen-, einkommens-, bildungs- und geschlechtsspezifisch mehr oder weniger stark abgemildert, modifiziert, ja, individualisiert. Mit der Gründung ei109
ner Familie, der Geburt eines Kindes, der beruflichen Etablierung, der altersund beruflich bedingten Erschöpfung gewinnen lebenszyklisch bedingt traditionellere Wertvorstellungen wieder an Bedeutung. Schließlich ist fraglich geworden, inwieweit dieser Wertewandelsschub sich in Zukunft fortsetzen und immer mehr Menschen erfassen wird, oder ob es sich hierbei um einen Pendelausschlag des Wertsystems handelt, der in den letzten Jahren bereits wieder zurückgependelt ist. Denn es hat den Anschein, dass in den letzten Jahren Werte wie Leistung, beruflicher Erfolg, Verdienst, von denen man annahm, sie hätten an Bedeutung verloren, gerade wieder eine Bedeutungsaufwertung erfahren haben, wohingegen sog. ‚neue’ Werte wie Partizipation, sexuelle Freiheit usf. wieder an Relevanz eingebüßt zu haben scheinen. Und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass im Zuge der ökonomischen Stagnation, sinkender Reallöhne, des Rückbaus des Sozialstaates und des Einschlafens bestimmter sozialer Bewegungen (auch im Zuge der Überalterung der Gesellschaft) die Wertereise in eine andere Richtung gehen wird. Dennoch wäre es töricht, den Wertewandel in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ignorieren, der zumindest zu einem andersartigen Mischungsverhältnis gesellschaftlich vorhandener Werte und zur Möglichkeit pluraler Wertmuster geführt hat. Im Kleingartenwesen wird dieser Wertewandel - wie gezeigt - längst sichtbar, aber fast noch deutlicher ist er auf dem Friedhof bzw. in der Diskussion um die zukünftige Entwicklung des Friedhofswesens (vgl. hierzu Nohl, Richter 2000) zu erkennen mit den Trends hin zu anonymen Bestattungen, zu Feuerbestattungen. Im Zuge der Säkularisierung der Gesellschaft, des Rückgangs an konfessionell gebundener Religiosität, der fortschreitenden Individualisierung und der zunehmenden Wohnsitzmobilität (die Kinder - sofern überhaupt vorhanden - leben nicht unbedingt am Ort ihrer Eltern) haben sich die Vorstellungen über die angemessene Art der Bestattung in unserer Gesellschaft ganz offensichtlich verändert bzw. pluralisiert mit durchaus gravierenden Folgen für die Friedhofsverwaltungen. Der Trend hin zu Urnenbestattungen (z.T. anonym), die z.B. weniger Platz benötigen, hat dazu geführt, dass inzwischen viele Flächen auf Friedhöfen sozusagen ‚brach’ liegen. In Hannover hat man einen Flächenüberhang von 88-135 ha berechnet, das sind 40-50% der bestehenden Friedhofsflächen, die aber meist nicht ‚am Stück‘ zusammen liegen, sondern sich flickteppichartig auf den Friedhöfen verteilen (Tradierte) gesellschaftliche Institutionen, verstanden als auf Dauer angelegte Verhaltenssysteme bzw. Behavior Settings (vgl. Kap. 2.3) wie etwa das Wohnumfeld, der Kleingarten, der Friedhof, der Park, wandeln sich in der Regel eher langsam, manchmal fast unbemerkt gleichsam ‚wie von selbst’. Andere gesellschaftliche bzw. freiraumkulturelle Veränderungen lassen sich als Folge irgendwelcher technischer Erfindungen (Uhr, Auto, Com110
puter) erkennen, wiederum andere als Ausdruck der Wertvorstellungen bestimmter (durchsetzungsfähiger, einflussreicher) gesellschaftlicher Gruppen (‚Trendsetter’). Der Prozess des gesellschaftlichen Wandels und seiner freiraumkulturellen Institutionalisierung in den unterschiedlichen Freiraumtypen ist also höchst komplex. Er hat viel mit gesellschaftlicher Macht, gesellschaftlichem Ansehen und den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und daraus resultierenden Bedürfnislagen zu tun. Auch die Garten- und Landschaftsarchitektur ist in Bezug auf ihr berufliches Arbeitsfeld in diesen Prozess gesellschaftlicher Wertsetzung eingebunden. Sie hat die Aufgabe, die tradierte und quasi institutionalisierte Freiraumkultur darauf hin zu überprüfen, inwieweit sie dem gesellschaftlichen Wandel noch entspricht und gegebenenfalls die herrschende Freiraumkultur weiter zu entwickeln und diese Weiterentwicklungen - als Experiment - der gesellschaftlichen Bewährungsprobe auszusetzen. Manches wird als ‚Flop’, als Modeerscheinung schnell wieder verschwinden, aber manches hat, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eben auch das Zeug dazu, sich im Alltag der Bevölkerung zu bewähren und gesellschaftlich - zumindest eine Zeit lang als neuer Stand der Freiraumkultur institutionalisiert und damit auch internalisiert zu werden.
6.4
Freiraumkulturelle Laufzeiten planerischer Konzepte
Das Verhältnis von Planung und gesellschaftlicher Entwicklung scheint relativ eindeutig. Planung reagiert auf gesellschaftliche Veränderungen. Letztlich entscheiden letztere über den Erfolg bzw. die Lebensdauer von planerischen Konzepten und ‚Produkten’, die deshalb ganz unterschiedliche Konjunkturverläufe und freiraumkulturelle ‚Laufzeiten’ haben können. Da gibt es das glatte Scheitern oder (schon besser) den Flop, wo das neue Produkt nach einem kurzen Anfangserfolg schnell wieder verschwindet, das erfolgreiche Produkt mit einem breiten und stetigen und lang anhaltenden Erfolg, das nostalgische Produkt, das eigentlich schon überholt ist, aber aufgrund einer bestimmten gesellschaftlichen Veränderung auf einmal wieder ‚in’ ist und ‚zurückkommt’. Da gibt es das Produkt oder Konzept, das den laufenden gesellschaftlichen Veränderungen immer wieder angepasst wird und auf diesem Wege erfolgreich bleibt oder das ‚relaunchte’ Konzept, also eine Idee, die es früher schon mal gab, aber nun ‚wiederentdeckt’ und neu propagiert wird wie etwa die heutigen Bewegungsparcours, die ja in gewisser Weise eine Wiederauflage des Trimm-Dich-Pfades aus den 1960er, 70er Jahren sind. Und natürlich gibt es auch das ‚Nischenprodukt’, das sich nur in einem bestimmten Milieu durchsetzt. So könnte man z.B. das Konzept der Revierparks für ein solches ‚Nischenprodukt’ halten, weil es nur - nomen est 111
omen – im Ruhrgebiet umgesetzt wurde und nirgendwo sonst und auch dort nur eine bestimmte Zeit lang. Das Konzept des Abenteuer- bzw. Aktivspielplatzes ist so eine planerische Idee, an der man einen solchen ‚Konjunkturverlauf’ gut nachzeichnen kann. Die Idee wurde bereits in den 1940er Jahren in Dänemark entwickelt, wurde aber im damaligen Deutschland nicht nur kriegsbedingt, sondern auch lange danach nicht aufgegriffen. Die Zeit war in Deutschland offenbar noch nicht ‚reif’. Die Frage von Kinderspielplätzen kam erst Ende des 19., Anfang des 20.Jahrhunderts in Deutschland auf die ‚planerische Tagesordnung’. Bis dahin spielten die Kinder im Wohnumfeld, auf der Straße, in den Hinterhöfen, am (meist noch nahen) Stadtrand. Vielleicht ging es am Sonntag mal in einen Park, wo es bereits erste Kinderspielplätze gab. Wohnungsnahe Kinderspielplätze waren zwar bereits planerisch gefordert, aber noch relativ selten umgesetzt worden. Von einer Pflicht zur Anlage von Kinderspielplätzen war man noch weit entfernt. Aber ab den 1920er Jahren wurden Spielplätze immer üblicher, die man sich aber als recht karg ausgestattet vorstellen muss: Ein paar Reckgeräte, eine Sandkiste, eine Sprunggrube, vielleicht ein Schaukel. Bisweilen gab es einen Spielplatzwächter, der für Ordnung sorgte. Noch in den frühen 1930er Jahren ergab die bekannte Kinderspielplatzuntersuchung von Muchow, Muchow (neu aufgelegt: 1998), dass das Haupt- und Lieblingsspielgelände für Großstadtkinder nach wie vor die Straße war, gefolgt von Grünanlagen, Brachflächen, Flussläufen usf. ‚Offizielle’ Kinderspielplätze spielten damals eine untergeordnete Rolle - auch natürlich deshalb, weil es sie noch nicht sozusagen ‚flächendeckend’ gab. Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte eine umfassende Kinderspielplatzplanung ein. Konzeptionell blieb es beim ‚spartanischen’ Gerätespielplatz. Das Spielgeräterepertoire wurde zwar etwas vielfältiger, Wippen, Klettergerüste usf. kamen hinzu. Solange es noch genügend andere Spielmöglichkeiten für Kinder in der Stadt gab, damals gab es noch Trümmergrundstücke und die Nebenstraßen waren noch wegen der wenigen Autos meist bespielbar, konnte man über die offenkundigen Kinderspielplatzmängel hinwegsehen. Aber spätestens mit dem Ende des Wiederaufbaus und dem Einsetzen der Massenautomobilisierung in den 1960er Jahren war es damit vorbei. Noch wichtiger war das Aufkommen der sog. ‚antiautoritären Erziehung’ im Rahmen der Studentenbewegung: Kinder, so deren Forderung, sollten sich ‚frei’ entfalten, Phantasie und Kreativität entwickeln können, und schnell gerieten die Gerätespielplätze in die ‚Schusslinie’. Kritisiert wurde nun vor allem die Phantasielosigkeit der Spielgeräte, die Uniformität der Spielplatzgestaltung (Klettergerüst, Schaukel, Sandkasten) als ‚genormte Langeweile’, die fehlende pädagogische Betreuung, der fehlender Natur- und Tierbezug (ausschließlich ‚tote’ Stahlgeräte), die fehlenden Möglichkeiten zum Matschen bzw. Wasser112
spiel oder zu einer kreativen Veränderung des Spielplatzes. Man sprach von „Kinder-Käfighaltung“. Empirische Studien wiesen nach, dass Kinder mehr und lieber woanders spielen würden. In dieser Zeit nun entdeckten die Eltern wie auch die Planung die dänische ‚Gerümpelgarten-Idee’ bzw. den englischen ‚Abenteuerspielplatz’ (adventure playing ground). Und ungefähr ab Ende der 1960er Jahre entstanden auch in der damaligen BRD nun die ersten Abenteuer- bzw. Aktivspielplätze (Fromme u.a. 1987), wobei es sich zunächst einmal um einen pädagogisch betreuter Spielplatz handelt auf einem recht großen Gelände von 3-8000 qm mit möglichst abwechslungsreicher Topografie (Hügel, Mulden), mit einem festen Gebäude (Spielräume, Werkstätten, Toiletten und Stromanschluss), mit einer Wasserstelle, Klettermöglichkeiten und wenn möglich mit einem Bauspielplatz inkl. Material. Das Spielangebot sollte sich an 3- bis 16-Jährige richten. Die Ziele waren klar: die Kinder sollten hier (ganz anders als auf einem reinen Gerätespielplatz) motorische, kreative und kognitive Grundfähigkeiten erwerben, Fähigkeiten zur Umweltbewältigung, ein soziales Übungsfeld vorfinden und erste Naturerfahrungen machen. Das Konzept des Aktivspielplatzes lässt sich also sehr gut aus der damaligen Zeit heraus erklären, der Zeit der Studenten- und der dann folgenden Ökologiebewegung. Es war übrigens weniger eine Idee der Planer bzw. der Kommunen, sondern eine der Eltern, die dann allerdings vielerorts von den Kommunalverwaltungen aufgegriffen und/oder unterstützt wurde. Heute gibt es auch die ersten Aktivspielplätze in der ehemaligen DDR. Aber das Konzept des Aktivspielplatzes ist doch so etwas wie ein (sympathisches) Nischenprodukt geblieben. Es hat die üblichen Kinderspielplätze nicht ersetzen bzw. verdrängen können, sondern die meist wenigen Aktivspielplätze blieben in der jeweiligen Stadt die Ausnahme, die man sich als ‚kinderfreundliche Stadt’ mal leistete bzw. leisten musste, aber mehr auch nicht. Dabei ist das Konzept offensichtlich pädagogisch-ideologisch keineswegs ‚out’ (es gibt nach wie vor auf Initiative einer Elterngruppe vereinzelt Neuplanungen), aber die Kommunen haben immer weniger Geld für sog. freiwillige Leistungen (etwa einer pädagogischen Spielplatzbetreuung) und die Kinder, wenn sie nicht gerade aus engagierten, wohlbehüteten bzw. ‚grün-alternativen’ Elternhäusern kommen, haben heute eher andere Sorgen, Interessen und Voraussetzungen. In vielen Spielparks (mancherorts ein anderer Ausdruck für Aktivspielplätze) sind die Betreuer nicht mehr so sehr mit Bastelarbeiten, Hamstern und Lagerfeuern beschäftigt, sondern mit reinem Konflikt- und Aggressionsmanagement. In vielen Städten kämpfen die Aktivspielplätze um Zuschüsse und Personal und damit um’s Überleben. Der Aktivspielplatz ist also ein Beispiel für eine gelungene ‚Produktinnovation’ innerhalb der städtischen Freiraumplanung, die sich aber nicht wirklich breit durchsetzen konnte, nicht weil es an gesellschaftlicher Akzeptanz 113
fehlen würde, sondern ausschließlich daran, dass die Kommunen die erforderlichen Geldmittel nicht aufbringen konnten oder wollten und der politische Druck seitens der Bevölkerung, sie einzufordern, zu gering war und ist. So wie das Konzept des Aktivspielplatzes nicht die gesamte Kinderspielplatzversorgung veränderte, sondern es lediglich ergänzte (es gibt nach wie vor eine Unzahl von langweiligen Gerätespielplätzen), so geht das mit den meisten ‚neuen Ideen’ in der Freiraumplanung. Sie lösen das Bestehende nicht ab, sondern ergänzen es meist. So haben wir etwa in einer parkmäßig gut versorgten Stadt oft das ganze Arsenal von Parkideen, angefangen vom ehemaligen Feudalpark über den Bürgerpark des 19. Jahrhunderts, den Volkspark des beginnenden 20. Jahrhunderts bis hin zu den Brachflächenparks der heutigen Zeit. Und wenn in den 1970er, 80er Jahren Fassadenbegrünung propagiert wurde, so finden sich eben auch ein paar Gebäude, deren Fassaden nach wie vor begrünt sind, und wir finden dann ebenso ein paar Fußgängerzonen, ein paar Wohnstraßen, ein paar Badeteiche, ein paar Mietergärten, ein paar alte und ein paar neue Friedhöfe usf. Experten gehen dann durch die Straßen und sagen, dass das ‚typisch’ sei für diese oder jene Phase. Das habe man so in den 1920er oder so in 70er Jahren gemacht, das sei ein typischer Stadtplatz zu Anfang des 21. Jahrhunderts, das ein Stadtplatz à la Sitte aus dem 19. Jahrhundert. Eine Stadt kann man also als freiraumkulturelles Museum sehen und ‚lesen’. Da gibt es Freiräume und Freiraumkonzepte aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten, die durchaus noch ihre Funktion erfüllen. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob die freiraumkulturelle Laufzeit von planerischen Konzepten vielleicht weniger durch die realen gesellschaftlichen Veränderungen bestimmt wird als vielmehr durch das berufsständische Bedürfnis der Planer und Architekten nach Abwechslung, Abgrenzung und Neuem und den daran für sie geknüpften psychologischen wie ökonomischen Interessen beruflicher Profilierung und Positionierung (vgl. hierzu Kap. 10.1). Vermeintliche oder tatsächliche gesellschaftliche Veränderungen scheinen dem Berufsstand oft mehr als Anlass oder günstige Gelegenheit zu dienen, um neue Ideen und Lösungsvorschläge zu entwickeln und zu rechtfertigen. Gesellschaftlich ‚erforderlich’ ist das alles eher selten, allenfalls plausibel, einleuchtend, sozusagen ‚zeitgemäß’. Wenn heute mit Blick auf den demografischen Wandel und die neuen ‚fitten Alten’ Bewegungsparcours propagiert werden (unterstützt durch die entsprechenden Gerätehersteller), so ist das also durchaus plausibel, aber natürlich überhaupt nicht zwingend. Es gibt ja schon die diversen Ertüchtigungsprogramme für diese Bevölkerungsgruppe: Sportvereine, Golfclubs, Nordic Walking, Fittness-Center, Jogging usf.; vermutlich brauchen sie die Bewegungsparcours nicht, aber dem einen oder anderen werden sie vielleicht gefallen. Man muss sich also den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und neuen planerischen Konzepten nicht allzu eng vorstellen. Er ist vielmehr spielerisch-locker. Aber ge114
rade diese lose Verbindung ermöglicht andererseits, dass zu irgendeinem Zeitpunkt entstandene Freiraumkonzepte auch noch lange Zeit danach funktionieren können, wenn die Planer und Architekten schon längst neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen auf der Spur sind. Schade allerdings, dass die Firma Planung & Architektur wie ein Modegeschäft arbeitet und immer nur ein begrenztes Entwurfssortiment, nur sozusagen die ‚aktuelle Kollektion’ führt: Der Park à la Lenné, der Stadtplatz à la Sitte, der Volkspark à la Lesser, noch immer höchst populäre Architekturprodukte, sind nicht mehr im Entwurfsangebot - angeblich wegen fehlender ‚Zeitgemäßheit’. Und vermutlich werden irgendwann einmal auch wohl die Aktivspielplätze oder die Bewegungsparcours aus dem Angebotssortiment der Firma Planung & Architektur genommen nicht so sehr, weil sie nicht mehr gesellschaftlich passen würden, sondern vor allem, weil sie den Planern und Architekten nicht mehr passen und ihrem Verständnis von ‚Zeitgemäßheit’ (vgl. hierzu Kap.10.1). Umso mehr ist natürlich klar, dass man sich als Landschafts- und Gartenarchitekt mit dieser Ideengeschichte der Freiraumplanung, mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Entstehungskontext und freiraumkulturellen Konjunkturverlauf einer ‚neuen Idee’ auseinandersetzen sollte - auch um sich der Zeit- bzw. gesellschaftlichen Bedingtheit des eigenen gestalterischen Handelns stets bewusst zu sein einschließlich des Bewusstseins der subjektiven, berufsständisch ‚verzerrten’ Wahrnehmung dieser Zeit- und Gesellschaftsbedingtheit der eigenen Arbeit.
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7. Ästhetische Wahrnehmung
7.1
Zur Selektivität räumlicher Wahrnehmung Der Freiraum wird weniger in seiner physischen Tatsächlichkeit verhaltenswirksam als vielmehr in seiner subjektiv wahrgenommenen Qualität (vgl. insgesamt zu Kap.7 ausführlicher Tessin 2008). Mit diesem Aspekt der subjektiven Wahrnehmung setzt sich die Wahrnehmungs- und Umweltpsychologie auseinander (als Einführung z.B. Kruse 1974; Kaminski 1976; Ittelson, Proshansky u.a. 1977; Geisler 1978). Hier können nur einige ihrer Befunde genannt werden, aber die Kernaussage lautet: Räume werden unterschiedlich wahrgenommen sowohl in Richtung auf das, was man sieht, als auch in Richtung, wie das Wahrgenommene auf einen wirkt. In jedem Augenblick reagiert die wahrnehmende Person nur auf einen Bruchteil der räumlichen Umgebung, was die Polizei bei sog. Augenzeugenaussagen ja bekanntlich schier zur Verzweiflung bringt. Gewohntes, häufig Gesehenes weckt weniger Aufmerksamkeit als Unbekanntes. Bewegungen im Raum erwecken mehr Aufmerksamkeit als Dinge, die sich nicht bewegen. ‚Wesentliches’ wird vom ‚Unwesentlichen’ fast instinkthaft unterschieden und wahrgenommen, Details ‚übersieht’ man zunächst. Dass man nur einen Bruchteil dessen wahrnimmt, was ‚objektiv’ vorhanden ist, stellt für den Menschen eine Überlebensnotwendigkeit dar. Anders als Tiere, die nur ganz bestimmte, überlebenswichtige Aspekte ihrer Umwelt wahrnehmen, ist der Mensch ein ‚weltoffenes’ Wesen, er nimmt gleichsam ‚viel zu viel’ wahr. Er muss also lernen und Erfahrungen machen, mit dieser Umweltkomplexität umzugehen. Am Ende dieses (freilich niemals abgeschlossenen) Prozesses steht die Tatsache, dass wir unsere jeweilige Umgebung optisch fast völlig übersehen in der doppelten Bedeutung dieses Wortes. Uns gelingt einerseits eine Übersicht, wir sind - blitzschnell - in der Lage, die wahrgenommene Umwelt einzuordnen, andererseits übersehen wir vieles bzw. nehmen es nur ganz oberflächlich oder beiläufig zur Kenntnis, eine Überlebensstrategie für ein Wesen, das, wie der Sozialphilosoph Gehlen einmal schrieb,
116 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
„der offenen Weltfülle ausgesetzt und einer zweckmäßigen Auslese des Wahrnehmbaren, wie sie dem Tiere zukommt, entbehrend, sich doch in der Welt orientieren muß, (...).“ (Gehlen 1965: 50) Ergebnis dieses lebenslangen Prozesses ist eine eigenartige oberflächliche Vertrautheit mit der Umwelt wie auch zugleich eine eigenartige Distanz zu ihr. Man weiß sie fast auf Anhieb, sozusagen ‚at first sight’ einzuordnen, man erkennt sie als Park, als Straße, als Wohnzimmer, und das reicht meist zur Handlungsorientierung (vgl. Kap. 2); auf darüber hinaus gehende Details, auf die Individualität, Hintergründe dieser Umwelt lässt man sich meist gar nicht mehr ein und hält sie sich damit zugleich ‚auf Distanz’, um der Weltfülle und der daraus resultierenden Reizüberflutung nicht ausgeliefert zu sein. Nur in ganz bestimmten Situationen lässt man sich auf die Umwelt mehr und näher ein, wenn irgendein persönliches Interesse dies nahe legt, vor allem auch wenn sie uns nicht auf Anhieb vertraut vorkommt und wir sie noch nicht richtig einordnen können. Diese Art oberflächlicher, distanzierter Wahrnehmung einer auch nur in groben Zügen vertrauten Umwelt ist eine anthropologische Überlebensnotwendigkeit und zugleich alltägliche Verhaltensroutine. Sie ‚entlastet’ uns, macht uns ‚frei’ und zugleich ‚handlungsfähig’. Nun hat sich die Weltfülle im menschlichen Zivilisationsprozess, vor allem im Industrialisierungs- und Verstädterungsprozess aber um ein Vielfaches noch potenziert. Damit ist der Zwang, der Reizüberflutung wahrnehmungs- und verarbeitungsmäßig Herr zu werden, dramatisch gestiegen. Schon um 1900 hat der deutsche Soziologe Simmel in Bezug auf die besondere Informations- und Reizüberflutung in der Großstadt auf die damit verbundene enorme Steigerung des Nervenlebens hingewiesen, „die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“ (Simmel in Schmals 1983: 237). Daraus resultiere eine über das menschenübliche Maß hinaus gehende Distanz zur Umwelt, die Simmel als großstadtspezifische Blasiertheit bezeichnet, „in der die Nerven ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden, darin entdecken, daß sie sich der Reaktion auf sie versagen - die Selbsterhaltung gewisser Naturen um den Preis, die ganze objektive Welt zu entwerten...“ (ebenda: 240f) Und der Autor fährt fort: „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“ (ebenda: 240)
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Und dies wurde - wie bereits gesagt - 1903 geschrieben: Und wie unermesslich hat sich die Umweltkomplexität in den letzten 100 Jahren erhöht, so dass nur zu verständlich wird, dass sich die reizüberfluteten und informationsübersättigten Menschen durch Blasiertheit bzw. Abstumpfung entlasten und von ‚unnötigen’ Umwelteindrücken befreien müssen. Der Stadtplaner Sieverts (1999) spricht in diesem Zusammenhang von der Stadt bzw. der Stadtregion als dem „Reich der Anästhetik“, in dem man sich wie betäubt bewege. „‚Anästhetik’ meint jenen Zustand, wo die Elementarbedingung des Ästhetischen - die Empfindungsfähigkeit - aufgehoben ist (...) und auch dies auf allen Niveaus: von der physischen Stumpfheit bis zur geistigen Blindheit.“ (Welsch 1995: 10) Das, was man wahrnimmt, ist also immer höchst selektiv, bestimmt u.a. durch die jeweilige Bedürfnislage, durch Erfahrungen und Kenntnisse, die Position oder Rolle, die man in der jeweiligen Situation einnimmt. x Wenn ein Bauer seine Äcker und Wiesen anschaut, sieht er sie anders als ein Tourist. x Jemand, der auf Wohnungs- oder Hotelsuche ist, schaut sich in einer Straße anders um als die Frau, die zum Einkaufen geht. x Ein Naturschützer sieht eine innerstädtische Brachfläche mit anderen Augen als ein Kind oder der Eigentümer dieser Fläche. Im Rahmen einer Untersuchung zu Nutzungsschäden in historischen Gärten (Tessin 2001) gab es geradezu regelmäßig den Fall, dass der Parkverantwortliche davon sprach, dass - aus seiner Sicht - solche Nutzungsschäden (Trampelpfade, ausgetretene Wegränder, Müll usf.) schon ein recht großes Problem seien, während mancherorts nur 5% der jeweiligen Besucher auf die Frage, ob ihnen im Park irgend etwas negativ aufgefallen sei, von sich aus auf Nutzungsschäden hinwiesen. Auch in der Forschergruppe hatte man den Eindruck, dass die Parkverantwortlichen irgendwie ‚übertreiben’ würden. Nutzungsschäden gab es, aber sie sprangen einem nicht ins Auge. In einem solchen Fall (keine augenfällige Schadenssituation) achten unbefangene Besucher auf etwas Anderes. Besucher kommen in aller Regel ja nicht mit einem (gartenhistorisch oder sonst wie bedingten) Interesse oder gar Vorsatz in den Park, um dort nach Nutzungsschäden Ausschau zu halten, anders als Gartendenkmalpfleger, Parkverantwortliche oder einschlägige Forschergruppen, die nicht (wie Besucher) gleichsam zufällig über Nutzungsschäden stolpern, sondern den Park mehr oder weniger systematisch nach ‚Spuren der Missachtung’ absuchen. Diese Fachleute aktivieren dabei von sich aus die gartenhistorischen und gartendenkmalpflegerischen Wahrnehmungs- und Bewertungsdispositionen - völlig unabhängig davon, ob die ‚objektive’ Schadenssituation im Park dies nahe legt oder nicht. Sie setzen ihr (vorge118
fasstes) ‚Such- und Erkenntnisinteresse’ gegenüber der Umwelt durch. Die normalen Besucher dagegen überlassen es der Situation im Park selbst, u.U. dem Zufall, welche latent in ihnen vorhandenen Wahrnehmungsinteressen und Werthaltungen aktiviert werden, was in der Regel darauf hinausläuft, Nutzungsschäden (bis zu einer bestimmten Unauffälligkeitsschwelle) nicht bewusst oder nur sehr beiläufig zur Kenntnis zu nehmen, vor allem aber sie nicht isoliert, sozusagen schadensfixiert, sondern sie - eingebunden in das Gesamterlebnis des Parks - wahrzunehmen. Das Ausmaß an Nutzungsschäden wird deshalb - wenn überhaupt wahrgenommen - von ihnen auch in diesen Gesamtkontext des Parkerlebnisses relativierend eingeordnet und nicht allein auf das eigene gartenhistorische Interesse und Wertsystem bezogen, was den Unterschied zur Sicht etwa der Gartendenkmalpflege oder des Parkverantwortlichen ausmacht, deren ‚interessiertere’ (schadensfixiertere) Wahrnehmung verständlicherweise zu anderen Einschätzungen führt. Der Parkbesucher nimmt aufgrund seiner anderen Interessenslage die vorhandenen Nutzungsschäden, wenn sie nicht zu ‚auffällig’ sind und sich nicht gleichsam ‚aufdrängen’, gar nicht oder nur am Rande wahr. Tatsächlich, daraufhin direkt angesprochen, konnten die Parkbesucher durchaus Nutzungsschäden im Park benennen, aber sie hatten sie nur am Rande wahrgenommen, beiläufig, sie waren ihnen nicht besonders oder bewusst aufgefallen. Die interessensbedingte Selektivität der Wahrnehmung geht also nicht so weit, dass man das, was einen im Augenblick nicht interessiert und nichts angeht, gänzlich ignoriert. Eine Person „nimmt stets vielerlei in irgendeiner Weise auf, was im Moment ‚überflüssig’ zu sein scheint.“ (Bahrdt 1996: 62) An was sie sich aber später vielleicht einmal erinnern, was sie wiedererkennen wird, wenn sie einmal an den Ort zurückkehren sollte. Nutzungsschäden waren offenbar von den Besuchern schon irgendwie wahrgenommen worden, aber wohl mehr unbewusst, beiläufig, an sich nicht der Erinnerung wert. Aber daraufhin angesprochen, ‚kramten’ sie in ihrem Unterbewusstsein doch den einen oder anderen Schaden hervor. Der Anteil ‚unbewusster Wahrnehmung’ ist offensichtlich sehr hoch: „Bewusstsein ist für das Komplizierte, das nicht Eingeübte, das Neue, das Anspruchsvolle da. Diesen Zustand versucht das Gehirn aber zu vermeiden, weil er - (...) - stoffwechselphysiologisch teuer ist. Er ist überdies fehleranfällig, anspruchsvoll und kompliziert. Folgerichtig sprechen wie von ‚geistiger Anstrengung’. Das Gehirn versucht deshalb Bewusstsein zu vermeiden, wo immer es geht, versucht immer alles ‚ohne großes Bewusstein’ in Routinen zu gießen. Neunundneunzig Prozent dessen, was wir tun, sind Routinen, über die wir nicht nachdenken müssen.“ (Roth 2003: 65) Die oben aufgeführten Beispiele bewusster, subjektiver Wahrnehmung gehen davon aus, dass man die Umwelt unter einem bestimmten Interesse (Verwertungsinteresse) betrachtet als Bauer, als Naturschützer oder als Gar119
tendenkmalschützer, als Tourist o.ä.; es gibt nun aber - gerade auch im Bereich des Freiraumverhaltens, etwa bei einem Spaziergang - daneben eine Selektivität bewusster Wahrnehmung, die nicht durch situationsspezifische Interessen gesteuert ist, sondern gleichsam interesselos wie zufällig erfolgt. Seel spricht von kontemplativer Wahrnehmung und umschreibt diese Wahrnehmungsweise wie folgt: „Die kontemplative Wahrnehmung verweilt bei den Erscheinungen, die ihr Gegenstand aufweist, sie ergeht sich in den Unterscheidungen, die sie ihrem Gegenstand abgewinnt, ohne darüber hinaus auf eine Deutung zu zielen. (...) Es ist die sinnfremde phänomenale Individualität eines Gegenstands, auf die es der kontemplativen Wahrnehmung ankommt. Diese Individualität wird sichtbar, sobald von jeder Wichtigkeit und Wertigkeit der Dinge für das Erkennen oder Handeln abgesehen wird; die Dinge erscheinen als sinnfremd, weil ihnen keinerlei Lebensbedeutung beigemessen oder zugemutet wird. (...) Kontemplation ist relevanzlose, in diesem Sinn rücksichtslose Betrachtung; nur deswegen kann sie auf alles ihr Erscheinende Rücksicht nehmen. Rücksichtslos wiederum kann sie nur sein, wenn sie sich in das, was sich ihr bietet, von einer zufälligen Position aus vertieft. (...) Diese Betrachtung ist uninteressiert auch darin, daß sie sich für ihren Gegenstand nur im Moment ihrer Aufmerksamkeit interessiert.“ (Seel 1996: 39f) Eine solche Betrachtungsweise ist gewissermaßen müßiggängerisch, sie verweilt zufällig an Gegenständen, verliert sich, vergisst sie, schweift ab. Dieses kontemplative Wahrnehmungsmuster ist im Bereich des alltäglichen Freiraumverhaltens besonders verbreitet, weil es eben mit Freizeit und Müßiggang eng verknüpft ist, d.h. die Interessen und Intentionen unspezifisch und diffus sind. Unsere Wahrnehmung ist gleichsam offen (für neue, aber auch abseitige Eindrücke). 7.2
Zur Bandbreite der ästhetischen Wahrnehmung und Bewertung Wird ein Gegenstand oder ein Raum überhaupt ästhetisch wahrgenommen, dann kann sich diese ästhetische Wahrnehmung und Bewertung von Person zu Person nicht unbeträchtlich unterscheiden. Kluth (1993) hat in diesem Zusammenhang z.B. die folgende Untersuchung durchgeführt: Er wählte 5 Parkmotive aus und legte sie als Photos 17 Parkbesuchern vor. Zugleich legte er ihnen 5 kurze Beschreibungen vor etwa in der Art: x „Das Motiv ist gekennzeichnet durch Ruhe, Stabilität, Ernst, Melancholie, Harmonie, aber auch Unentschiedenheit.“
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x
„Das Motiv strahlt Lieblichkeit, Feierlichkeit, Abwechslungsreichtum zusammen mit einer gewissen Strenge aus und zeigt deutliche Schwerpunktsetzung.“ Nun sollten die Befragten den 5 Photos die Beschreibungen zuordnen: welche Beschreibung passt zu welchem Bild am besten? Kluth hatte in Gartenkunstbüchern nach Textstellen gesucht, in denen berühmte Landschaftsarchitekten die Anmutungsqualität bestimmter landschaftsgestalterischer Motive, etwa einer Allee, einer Trauerweide am Teich, zu beschreiben versucht hatten. Kluth wollte also prüfen, ob diese Motivbeschreibungen von sozusagen normalen Besuchern eines Parks geteilt würden. Es zeigte sich, dass jeweils maximal nur knapp die Hälfte der Befragten dieselben Zuordnungen vornahm. Nur in einem Fall waren sich 16 der 17 Befragten einig: die Beschreibung. „Das Motiv betont die Raumtiefe, ist geprägt von Strenge, Regelmäßigkeit und Ordnung und zeigt im Verhältnis zur Umgebung Steifheit und Härte“, wurde von fast allen einem, dem einzigen Allee-Photomotiv zugeordnet. Aber sonst war, wie gesagt, die Übereinstimmung nicht so groß, wenn sie auch jeweils über der Zufallswahrscheinlichkeit lag. Bei der Zuordnung der Beschreibungen auf die einzelnen Photos ließ man sich in erster Linie von quasi-objektiven Eigenschaftswörtern leiten wie (ordentlich, ruhig, weit etc.), über die vermeintlich mit den Parkmotiven verbundenen Stimmungs- und ästhetischen Erlebniswerte wie melancholisch, ernst, feierlich etc. war man sich überhaupt nicht einig. Im Rahmen einer eigenen unveröffentlichten Untersuchung zur Akzeptanz eines neu geschaffenen Landschaftsraumes am Kronsberg in Hannover wurden 391 Besucher gefragt, welche drei Eigenschaftswörter ihnen spontan zur Charakterisierung der Landschaft einfielen. Rund 60 Eigenschaftswörter wurden genannt, kein Eigenschaftswort wurde von mehr als 25% der Befragten genannt. Das meistgenannte Eigenschaftswort war ‚grün’, es folgte das Wort ‚schön’. Eigenschaftswörter, die etwas spezifischer auf den Charakter der Landschaft eingingen, waren x ‚windig’ (73 Nennungen, 19% der Befragten), x ‚weit(läufig)’ (56 Nennungen, 14% der Befragten), x ‚friedlich-ruhig’ (48 Nennungen, 12% der Befragten) und x ‚kahl-karg-ausgeräumt’ (45 Nennungen, 12% der Befragten). Die assoziierten Eigenschaftswörter bezogen sich auf ganz unterschiedliche Aspekte der Landschaft und des Landschaftserlebens: auf das Klima, die Bodenverhältnisse, die Vegetation, den Pflegezustand, den Grad der Natürlichkeit, die Topographie, die verkehrliche Erschließung, die eigene Mühsal beim Gang durch die Landschaft usf.; offenbar wird eine Landschaft unter ganz unterschiedlichen Aspekten ästhetisch rezipiert.
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Um herauszufinden, wie ihnen der neu gestaltete Landschaftsraum am Kronsberg in Hannover gefiele, wurde den Besuchern die etwas provokante Äußerung vorgelegt: „Manche Leute sagen, die Landschaft am Kronsberg ist einfach noch zu karg, ausgeräumt und wenig abwechslungsreich, als dass man sich hier richtig wohl fühlen würde. Was ist Ihre Meinung?“ Es stellte sich heraus, dass etwa die Hälfte der Besucher dieser Meinung mehr oder weniger zustimmte, die andere Hälfte sie aber genauso ablehnte. Ein Faktor, der dieses gespaltene Meinungsbild unter den Besuchern besonders beeinflusste, war der folgende: x Leute, die die Landschaft am Kronsberg aus der Zeit vor der Umgestaltungsmaßnahme kannten, lehnten die oben zitierte Meinung zu 66% ab, x jene, die die Landschaft zum ersten Mal sahen, nur zu 37%. Offenbar aktivieren die Betrachter oder Besucher ganz unterschiedliche Bezugsrahmen für ihre ästhetische Wahrnehmung und Bewertung. Die einen vergleichen das Landschaftsbild möglicherweise mit einem Idealbild, die anderen mit dem Bild der Landschaft, wie sie früher aussah. x Rund 60% der Besucher, die in der nah gelegenen Kronsberg-Siedlung lebten, fanden den Landschaftsraum alles Andere als kahl, ausgeräumt und wenig abwechslungsreich, x wohingegen es nur 36% bei jenen Besuchern waren, die von außerhalb nach Hannover gekommen waren. Auswärtige Besucher äußerten sich also viel ‚negativer’ als die Einheimischen. Hat die Bewertung einer Landschaft also auch was mit Lokalpatriotismus zu tun, oder hat einer, der von weither anreist (vgl. Kap. 5), einfach nur höhere ästhetische Ansprüche an eine Landschaft? Aufgrund solcher und anderer Einflussfaktoren auf die Wahrnehmung und Bewertung einer Landschaft verwundert es nicht, dass die Landschaft am Kronsberg ästhetisch sehr unterschiedlich benotet wurde (vgl. Abb. 5). Die ‚Noten’ reichten im Jahr der Untersuchung tatsächlich von ‚eins’ bis zu ‚vier und schlechter’. Allerdings konvergierten die Meinungen doch einigermaßen dahingehend, dass man die Landschaft mehrheitlich mit Noten zwischen ‚zwei’ und ‚drei’ bewertete. Auffällig wiederum die Bewertungsunterschiede zwischen jenen, die die Landschaft häufiger aufsuchen (Besucher), und jenen, die in den umliegenden Stadtteilen wohnen (Bewohner). Ob man eine solche Bandbreite der Landschaftswahrnehmung und -bewertung freilich auch bei sog. Postkartenlandschaften (also ‚Toskana im Abendlicht’, oder ‚Alm mit schneebedecktem Bergmassiv im Hintergrund’), also hochgradig konventionalisierten Landschaftsbildern vorfindet, ist jedoch eher unwahrscheinlich.
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Abb. 5: Zur ästhetischen Bewertung der Landschaft am Kronsberg in Form von Schulnoten 45% 40% 35% 30% 25%
Besucher Bewohner
20% 15% 10% 5%
schlechter
drei bis vier
drei
zwei bis drei
zwei
eins bis zwei
eins
0%
Ob wir einen konkreten Park, Garten oder eine Landschaft als schön oder weniger schön bewerten, hängt (bei aller Individualität der eigenen Vorstellungen) mit diesen in der Gesellschaft bzw. in einzelnen gesellschaftlichen Kreisen kursierenden ästhetischen Wertvorstellungen zusammen, in denen wir uns bewegen. Diese Anpassung der eigenen Meinungen, Einstellungen und Geschmacksvorstellungen an die der sozialen Umwelt ist umfänglich untersucht worden (vgl. zum Konzept der Bezugsgruppe schon Kap. 2.1). Berühmt geworden sind die Untersuchungen von Sherif schon aus den 1930er und von Asch aus den 1950er Jahren. Beim Versuch von Asch erhielt eine Gruppe von 7-9 Studenten die Aufgabe, die Länge einer einzelnen Linie mit der drei ähnlich langer zu vergleichen und anzugeben, welche der drei Vergleichslinien der einzelnen gleicht. Der Trick des Versuches lag nun darin, dass nur eine Person in der Gruppe getestet wurde, während die anderen Gruppenmitglieder vorher instruiert worden waren, ganz bestimmte, vorher vereinbarte Schätzungen abzugeben. Das Ergebnis: Wurden die naiven, nicht instruierten Versuchspersonen mit einem einheitlich von der eigenen Wahrnehmung abweichenden Gruppenurteil konfrontiert, schlossen sich 37% von 123 Versuchspersonen der Meinung der Mehrheit an. In der Kontrollgruppe (Einzelversuche) traten praktisch keine Fehlurteile auf. Es zeigte sich, dass manche 123
sich der Gruppenmeinung angepasst hatten, weil sie diese für richtig hielten, aber manche schlossen sich der Mehrheit auch an, obwohl sie wussten, dass deren Urteil falsch war. Und bei diesem Versuch handelte es sich ja um eine relativ einfache Wahrnehmungsleistung: die Abschätzung der Länge einer Linie, wo man sich eigentlich - die fehlerlosen Ergebnisse der Kontrollgruppe zeigen es - kaum täuschen konnte. Aber wie groß muss dann erst die Bereitschaft der Leute sein, sich den Meinungen ihrer Umgebung anzupassen, wenn man sich auf sozusagen ‚unsicherem’ Terrain von Geschmacksvorstellungen bewegt, wo es ja - anders als bei der zu schätzenden Länge der Linien im obigen Experiment - keine ‚objektiv richtige’ Meinung gibt? Als ein Stück weit empirisch belegtes Beispiel für eine solche Verschiebung und Anpassung individueller Geschmacksvorstellungen an den Zeitgeist bzw. an eine Mode kann der Meinungswandel angeführt werden in Bezug auf einen „wilden, wuchernden, sich selbst überlassenen Garten“. Hätte man die westdeutschen Gartenbesitzer in den 1950er oder 60er Jahren hierzu befragt, wäre sicherlich eine einhellige Ablehnung herausgekommen. In den 1970er und 80er Jahren setzte aber bekanntlich die sog. Naturgartenbewegung ein, die eine solche Art von Gartengestaltung jedoch geradezu als Ideal propagierte. In den Jahren 1986 und 1991 (vgl. hierzu Tessin 1994: 151) wurden vor diesem Hintergrund westdeutsche Gartenbesitzer gefragt, was sie von „einem wilden, wuchernden, sich selbst überlassenen Garten“ halten würden. Es zeigte sich nun, dass die Quote der extremen Ablehnung einer solchen Gartengestaltung innerhalb von nur 5 Jahren von 43% auf 36% zurückgegangen und die Quote der ‚Befürworter’ von 23% auf 28% gestiegen war. Offenbar war im Zuge der damaligen Ökologiebewegung ein gewisser Wandel der Geschmacksvorstellungen eingetreten; einige hatten sich dem neu propagierten Geschmackstrend bereits angepasst. Meinungen, Vorstellungen, Geschmacksurteile, die jemand äußert, haben eine wichtige Funktion für seine Position in der Gesellschaft, sie fungieren gewissermaßen als Visitenkarten und Aushängeschilder. An ihnen erkennt man nicht nur, wes Geistes Kind man ist, sondern auch zu welcher Gruppe, zu welchem Milieu man gehört (vgl. Kap. 5). So beschreibt Schulze (1992) in seinem Buch „Erlebnisgesellschaft“ das sog. Niveaumilieu (vergleichbar etwa dem Begriff Bildungsbürgertum) mit den folgenden sog. alltagsästhetischen Indikatoren. Angehörige des Niveaumilieus präferieren Konzerte, Museumsbesuche, Oper, Theater, klassische Konzerte, lesen überregionale Tageszeitungen und können nichts anfangen mit Hand- oder Bastelarbeiten, mit Volksfesten, deutschen Schlagern, verachten Trivialliteratur und die Regenbogenpresse; sie grenzen sich geschmacklich stark von anderen Gruppen ab und halten ihren eigenen Geschmack für den guten und richtigen. Gerade im ästhetischen Bereich lassen wir uns sehr gern von den Meinungen und Geschmacksvorstellungen unserer Umgebung leiten, sei es, dass 124
wir sie übernehmen (zwecks sozialer Integration), sei es, dass wir sie ablehnen (Zwecks sozialer Abgrenzung gegenüber der negativen Bezugsgruppe). Diese sich über gesellschaftliche Übereinkünfte herauskristallisierenden Vorstellungen leiten unser eigenes ästhetisches Urteil - auch wenn jeder einzelne Mensch in diesem Kontext eventuell seine eigene Geschmacksnuance entwickelt. Aber bei dieser individuellen Geschmacksfindung spielen die gesellschaftlich bzw. gruppenspezifisch vorfindbaren Wertmaßstäbe eine beachtliche Rolle. Diese stecken zumindest einen ungefähren Rahmen unseres Urteils ab. Wir haben eine ungefähre Vorstellung davon, was ein ‚friedlicher Abend’, ein ‚schöner Herbsttag’, eine ‚großartige Aussicht’, eine ‚weite Landschaft’ ist, aber wissen es eigentlich erst dann genauer, wenn sich dieses ästhetische Ideal uns ‚offenbart’, sich in der konkreten Situation gewissermaßen ‚operationalisiert’, leibhaftig und erlebniswirksam wird. Diese gesellschaftliche Verständigung über das, was und wann etwas schön, erhaben, niedlich ist, geht sicherlich unterschiedlich weit, aber in der Landschaftswahrnehmung beispielsweise geht oder ging sie doch einigermaßen weit. Die Worpsweder Moorlandschaft z.B. war lange Zeit niemandem eine Reise wert. Erst dadurch, dass sich dort Ende des 19. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie ansiedelte, die eine dort vorhandene, aber als ärmlich und kaputt betrachtete Landschaft, ein Torfmoor, als Sujet ihrer Landschaftsmalerei entdeckte, gewann dieselbe Landschaft nun auch für die Bevölkerung ästhetisch an Reiz. Und ähnliche Prozesse lassen sich nachweisen in Bezug auf die Heide- (vgl. hierzu Eichberg 1983), Gletscher- (Großklaus 1983; Wagner 1983) oder Küstenlandschaften (Paul 1998). Diese Landschaftstypen wurden durchaus nicht immer als ästhetisch reizvoll angesehen, sondern mussten erst gesellschaftlich-kulturell erschlossen werden, wobei stets Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, aber auch Dichter, eine besondere Rolle spielten, was Oscar Wilde vor über 100 Jahren in Bezug auf die Naturwahrnehmung zu der These verleitete: „Die einzigen Eindrücke, die sie uns bieten kann, sind die Eindrücke, die wir bereits durch die Poesie oder die Malerei kennen. Dies ist das Geheimnis für den Zauber der Natur und zugleich die Erklärung ihrer Schwäche.“ (Wilde 1982: 44) Diese ästhetische Erschließung von Landschaften durch die Kunst und die nachfolgende ästhetische Ausschlachtung durch die Werbung hat unsere Landschaftswahrnehmung stark beeinflusst und stereotypisiert. 7.3
Ästhetisierung der Umwelt als individuelle Verhaltensdisposition Das ästhetische Wahrnehmungsmuster i.e.S. von ‚schön-hässlich’ wird im Alltagsleben nur relativ selten aktiviert. Zwar kann prinzipiell jeder beliebige Gegenstand unter dem Aspekt von ‚schön-hässlich’ wahrgenommen werden, 125
aber ob dies erfolgt, ist situationsabhängig und auch stark persönlichkeitsbedingt. Wir alle kennen in unserer Umgebung Menschen, für die alles eine ästhetische Funktion annimmt, und umgekehrt auch solche, die für die ästhetische Funktion relativ unempfänglich sind (Mukarovský 1974: 14). Im Alltag (anders als im Urlaub) spielt, wie gesagt, der ästhetische Bezugsrahmen i.e.S. nur eine nachgeordnete Rolle, man hat anderes zu tun, als sich stets zu fragen, ob das nun schön oder hässlich sei. Im Rahmen einer Untersuchung (Leist u.a. 1982) wurden Bewohner nach ihren Bewertungsmaßstäben befragt: worauf kommt es ihnen im Stadtviertel an? Von zwölf vorgegebenen Eigenschaften (z.B. Einkaufsmöglichkeiten, ruhige Wohnlage, nachbarschaftliches Milieu, Aufenthaltsmöglichkeiten im Freien usf.) wurde die bauliche Gestaltung des Viertels, also die ästhetische Dimension an Unwichtigkeit nur von der Versorgung des Stadtviertels mit Sportanlagen und Schwimmbädern übertroffen (ebenda: 126ff). Nicht zufällig beginnt Burckhardt (1972: 69) seinen Aufsatz, „Was erwartet der Bürger von der Stadtgestalt?“, lakonisch mit einem „schnöden ‚gar nichts!’“. Ästhetikfragen, so wichtig sie für den Architekten sein mögen, haben nicht denselben Stellenwert im Alltagsleben der Bevölkerung. Wie lässt es sich nun aber erklären, dass die Menschen hinsichtlich ihrer sozusagen normalen baulichen Umwelt nur sehr bedingt ästhetisch interessiert sind, wohingegen sie es offensichtlich in Bezug auf Park- und Grünanlagen sehr wohl sind? Man könnte vielleicht sagen: die bauliche Umwelt sei eben - anders als der Park - nicht schön. Aber das ist es nicht allein. Gesellschaftliche Konvention entscheidet in der Regel darüber, ob wir überhaupt ein Objekt als potenziell schön, als primär ästhetisches Objekt erleben. Als Marcel Duchamp Anfang des 20. Jahrhunderts ein ordinäres Pinkelbecken als ‚Fontäne’ bzw. ‚Brunnen’ ausstellen ließ (vgl. Tessin 2008), wollte er nicht nur den bürgerlichen Kulturbetrieb und das damalige Kunstverständnis provozieren, sondern deutlich machen, dass ein so profaner Gegenstand seinen (ästhetischen) Wert total verändert, wenn man ihn aus seinem bisherigen Sinn- und Funktionszusammenhang einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in ein Kunstmuseum verlagert. Die Pop-Art hat dann später mit diesem Phänomen gespielt, indem sie Blechbüchsen, Filzhüte, Coca-ColaFlaschen aus dem gewohnten Alltags- und Funktionszusammenhang herausnahm und zu Kunstobjekten machte allein dadurch, dass man sie in den Sinnund Funktionszusammenhang eines Kunstmuseums (aus)stellte. Bis dahin verstand man unter Kunst nur jene Versuche, bei denen der Künstler xbeliebiges profanes Material wie z.B. eine Obstschale, eine sitzende Person oder eine Ehetragödie in ein ‚Gemälde’, eine ‚Plastik’ oder ein ‚Drama’ verwandelt, also das profane Material durch eine gestalterische Leistung und Verwandlung ‚valorisiert’ (Groys 1999). Nun schien auf einmal der Nachweis erbracht, dass eine bislang unbeachtet herumliegende zerbeulte Coca 126
Cola Dose sozusagen Kunststatus erlangen könnte, wenn sie nur eben als Kunst- bzw. ästhetisches Objekt wahrgenommen werden würde, was offensichtlich am besten dadurch zu erreichen war, dass man diese Dose in einem Museum (aus)stellte und zwar ohne, dass man sie vorher groß ‚künstlerisch’ zu bearbeiten hatte. Mag man vielleicht auch heute noch darüber streiten, ob dieser quasi bloße ‚Tapetenwechsel’ für die zerbeulte Coca Cola Dose schon als ‚Kunst’ zu bezeichnen sei, unstrittig dürfte sein, dass die Dose im neuen Funktions- und Sinnzusammenhang des Museums vom Betrachter ganz anders als üblicherweise (im Alltag) wahrgenommen wird und zwar nun primär als ästhetisches Objekt und nicht mehr als profaner Nutzgegenstand. Damit wir etwas überhaupt als schön oder hässlich, als primär ästhetisches Objekt erleben (von ‚müssen’ ist keine Rede!), bedarf es also offenbar u.a. entweder x einer gestalterischen, unmittelbar erkennbaren (offensichtlichen) Absicht des Produzenten, am besten eines Künstlers oder Designers, etwas (auch) ‚schön’ zu gestalten (Beispiel Park), x einer gesellschaftlichen Konvention, die uns sagt, dass es sich hierbei eo ipso um ein ‚ästhetisches Objekt’ handelt (Beispiel ‚Pinkelbecken im Museum’), selbst dann, wenn keine künstlerische Gestaltungsabsicht erkennbar ist, x
einer Abweichung des Gegenstandes von seinem üblichen, normalen, alltäglichen Aussehen. Das Besondere, das Außergewöhnliche, das Neuartige, das die normale Erscheinung Über- oder Unterbietenden kann Impuls sein, den Gegenstand primär unter ästhetischen Gesichtspunkten wahrzunehmen: das Schöne/Hässliche ist das Seltene, Unwahrscheinliche, Abweichende, nicht Alltägliche.
Darüber hinaus aber ist die Wahrscheinlichkeit ästhetischen Wahrnehmens und Erlebens vor allem von den eigenen Verhaltensdispositionen abhängig, den eigenen Interessen und auch Fähigkeiten, dem Kontext, in dem wir den Gegenstand wahrnehmen. So nehmen wir, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, Landschaft ganz anders wahr, wenn wir in ihr wohnen und arbeiten oder sie im Rahmen eines Ausflugs, sozusagen ‚touristisch’ erleben. 7.4
Landschaft als ästhetisches Objekt und Wohngegend „Die Grundkonstellation ist, daß Landschaft als ästhetisch angeschaute Natur das wissenschaftsentlastete, arbeitsentlastete, handlungsentlastete Korrelat der wissenschaftlich erforschten, in Arbeit und Handlung gesellschaftlich angeeigneter Natur ist, wie sie in der Neuzeit Objekt des forschenden, arbeitenden und handelnden Menschen ist.“ (Piepmeier 1980) 127
Die Wahrnehmung der Natur als Landschaft, der rein ästhetische Blick auf sie, ist ein Ergebnis des Industrialisierungs- und Verstädterungsprozesses, der es erlaubte, einen kleinen, dann immer größer werdenden Teil der Bevölkerung zunächst aus der primären, landwirtschaftlichen, dann auch aus der sekundären, handwerklich-industriellen Naturbearbeitung freizusetzen und für ‚tertiäre’ Tätigkeiten zu reservieren, die kaum noch in Zusammenhang mit einer unmittelbaren Naturbearbeitung stehen: Handel, Dienstleistung und Verwaltung. Diese besondere Stellung des Städters im und zum gesellschaftlichen Naturbearbeitungsprozess, die gleichsam infrastrukturelle Absicherung seines ‚Überlebens’ in der Natur, haben ihn nun - erstmals in der Menschheitsgeschichte - überhaupt erst befähigt, Natur rein ästhetisch erleben zu können, d.h. losgelöst von den Zwecksetzungen der wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Naturbearbeitung. Joachim Ritter, der diesen Aspekt in seinem Beitrag „Landschaft - Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ besonders prägnant herausgearbeitet hat, schreibt: „Natur ist für den ländlich Wohnenden immer die heimatliche, je in das werkende Dasein einbezogene Natur: der Wald als Holz, die Erde der Acker, die Wasser der Fischgrund. Was jenseits des so umgrenzten Bereiches liegt, bleibt das Fremde; es gibt keinen Grund hinauszugehen, um die ‚freie’ Natur als sie selbst aufzusuchen und sich ihr betrachtend hinzugeben.“ (Ritter 1978: 13) Gerade auch im Rahmen der landwirtschaftlichen Naturbearbeitung wird ‚Natur’ selbstverständlich erlebt, sogar in einem sehr tiefen und umfassenden Sinne, „bis in die Mitte des Lebensbewußtseins“ hinein, wie Arnold Gehlen (1964: 13) dies einmal ausgedrückt hat, aber eben doch weitgehend eingebunden in den Prozess der Naturbearbeitung, ins „werkende Dasein“, wie es Ritter nennt. Der Städter, soweit er in seiner überwiegenden Mehrheit von der unmittelbaren Naturbearbeitung fast ganz entlastet ist, kann es sich leisten, Natur in Muße, gleichsam zweckfrei zu betrachten und zu erleben, freilich auch nur so lange, wie von ihr keine Gefahr oder Unannehmlichkeit ausgeht. Zitat: „Wie subjektiv angesehen die Muße die Voraussetzung des Erlebnisses der Natur ist (wir würden einschränkend sagen: des rein ästhetischen Erlebnisses der Natur!), so objektiv gesellschaftlich die Sicherheit, die Bequemlichkeit ihres Erreichens, ihres Inbesitznehmens“. (Lukacs 1972: 73) Oder noch einmal Joachim Ritter (1978: 30): „Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen also die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus.“ Dieses Privileg des verstädterten Menschen, Natur in Muße und Sicherheit, sorglos, zweckfrei-genüsslich erleben zu können und nicht unter dem 128
Zwang der Naturbearbeitung, stellt eine zivilisationsgeschichtlich bedeutsame Ausweitung des menschlichen Naturerlebens dar. Und in diesem - positiven - Sinne wird auch das in der modernen Gesellschaft nun mögliche ästhetische Naturerleben als gleichsam zivilisatorische, freiraumkulturelle Errungenschaft gewürdigt. Aber diese spezifische Art des Naturerlebens hat zugleich weitreichende, höchst ambivalente Folgen für die Art des Naturerlebens selbst. In der Agrargesellschaft, in der man alltäglich in seiner Lebenspraxis mit der Natur umzugehen hatte, war das Erleben der Natur allgegenwärtig, geradezu unvermeidlich, schließlich lebte und arbeitete man in ihr. In der verstädterten Gesellschaft wird es zum Freizeitvergnügen. Man sucht sich die Natur gleichsam nach Lust und Laune aus. Das Naturerleben wird im höchsten Maße wählerisch, abhängig vom individuellen Befriedigungswert. In der NichtFreizeit stört sie meist mehr, als dass sie erfreut: Wie süß ist ein Mäuschen in der Feldflur, wie schrecklich im Hausflur! Wie schön die Sonne beim Baden, wie schrecklich im Büro! Im Alltagsgeschäft wird Natur praktisch nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn erlebt, es sei denn, sie dränge sich gleichsam als Störgröße oder als Naturereignis auf, als Unwetter, Ungeziefer, Unkraut oder als Mondfinsternis. Ansonsten will man eigentlich nur in der Freizeit Natur erleben. Diese Ankoppelung des Naturerlebens ans Freizeitvergnügen impliziert zugleich andererseits die Erwartung, Natur als etwas Angenehmes erleben zu wollen (vgl. hierzu auch Lukacs 1972: 70; auch Kap. 4.5 zum Begriff des locus amoenus). Deshalb präferieren wir in aller Regel die Kulturlandschaft als angenehmer gegenüber der Wildnis, meiden Natur bei Kälte, Regen, Sturm und Dunkelheit, haben gern ein Café in der Nähe, meiden unwegsame Natur, haben sie lieber grün und bunt, statt kahl und welk. Unser Interesse an Natur hält sich also durchaus in Grenzen, bleibt auf ihren angenehmen Teil beschränkt bzw. auf ein wohl dosiertes Maß an realer Natur. Es kommt hinzu, dass das Wissen und die Erfahrung über Natur aufgrund der Abkoppelung des Städters vom Prozess der Naturbearbeitung heute in vielfältiger Weise eingeschränkt sind. Vermutlich weiß der durchschnittliche Städter heute dennoch mehr über die Natur als der vorindustriegesellschaftliche Landbewohner, aber dieses Wissen ist vollkommen anders: es ist eher abstrakt als konkret, angelernt statt erfahren und erlebt, theoretisch statt praktisch, vermutlich mehr physikalisch-chemisch denn biologisch-pflanzenkundlich, es ist auch eher zufällig und beliebig statt zweckgerichtet oder relevant. In diesem fehlenden berufspraktischen Bezug zur Landschaft und in dem Wunsch, Natur von der angenehmen Seite her erleben zu wollen, liegt natürlich die Gefahr der Idealisierung von Natur: 129
x
Im - wenn man so will - agrargesellschaftlichen Überlebenskampf des Menschen in der Natur wird diese vornehmlich ‚funktionalistisch’, d.h. unter dem Aspekt ‚nützlich-unnütz-schädlich’, also zwar ziemlich einseitig, aber im ganzen wohl ziemlich ‚realistisch’ erlebt, schon deshalb weil man sich Wahrnehmungsirrtümer und Fehleinschätzungen hier nicht lange leisten kann. x Im industriegesellschaftlichen Kontext des bloß ästhetischen Naturgenusses wird Natur dagegen unter Aspekten wie ‚schön’, ‚niedlich’, ‚erhaben’ usf. wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund verwundert es also überhaupt nicht, dass in dem Maße, wie der verstädterte Mensch aus den Zwängen der unmittelbaren Naturbearbeitung befreit und ihm die Möglichkeit eingeräumt wurde, Natur ästhetisch zu genießen, er sie emotional aufgeladen, idealistisch überhöht hat und in ihm eine große Bereitschaft gewachsen ist, Natur als Landschaft schön, harmonisch usf. zu finden und Entsprechendes zu erwarten. Landschaft als Wohngegend Bekanntlich sind Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung sehr dieser Vorstellung von Natur als ‚schöner Landschaft’ verpflichtet. Und entsprechend heftig reagieren sie auf den Verstädterungsprozess, der die schöne Landschaft zu zerstören scheint. Ja, der Verstädterungsprozess avancierte aus landschaftsplanerischer Sicht zum gesellschaftlichen Grundübel Nr.1, aber er war natürlich gesellschaftlich viel zu mächtig, als dass ihn Stadt-, Regionalund Landschaftsplanung hätten verhindern oder auch nur abmildern können mit so schönen Konzepten wie der ‚Urbanität durch Dichte’, der ‚Stadt der kurzen Wege’, der ‚kompakten Stadt’ oder der ‚Nach- oder Innenverdichtung’. Denn bis in unsere Tage hinein hat sich am (suburbanen) Verstädterungsprozess ja nicht allzu viel verändert. Und so ist in den letzten 100 Jahren ein Landschaftstypus entstanden, mit dem vor allem die Landschaftsplanung sich sehr schwer tut: eine einstmals ‚schöne’ Landschaft’ droht, ein für alle Mal ‚ästhetisch verhunzt’ und ‚ökologisch zerstört zu werden! Also gilt es, diese schöne Landschaft zu retten und zu bewahren - wo immer es geht. Und wer wollte diesem ehrenwerten Anliegen widersprechen? Klar ist aber zunächst einmal (vgl. zum Folgenden Tessin 2010), dass diese ja durchaus noch vorhandenen ‚schönen Landschaften’ nicht das Ergebnis irgendwelcher landschaftsarchitektonischen Gestaltungsmaßnahmen waren, sondern das Ergebnis einer Jahrhunderte langen landwirtschaftlichen Arbeit, die unwegsame, unnütze Natur ins Menschendienliche zu verwandeln, sich in der Natur - entsprechend den damaligen Möglichkeiten - sozusagen ‚wohnlich’ einzurichten. Vermutlich werden die damaligen Menschen ihre Gegend nicht als besonders ‚schön’ empfunden haben. Aber sie werden vielleicht
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darauf stolz gewesen sein, wie relativ gut bzw. wie überhaupt es sich hier nun leben ließ. Wenn wir heute diese Gegend betrachten und wir sie als ‚schön’ bezeichnen, so meinen wir auch eher weniger das, was wir tatsächlich sehen, sondern vielmehr das, was wir nicht sehen (müssen): nämlich keine Hochhäuser, keine Autobahnkreuze, keine Gewerbegebiete, kaum Autos etc.; und uns gefällt auch eigentlich noch mehr, was sozusagen unsichtbar ‚hinter’ der äußerlich wahrnehmbaren Landschaft steht bzw. was wir an Agrarromantik so alles in sie hineinprojizieren können: Ruhe und Geborgenheit, ein ruhiges, bescheidenes Leben, eine sozusagen ‚heile Welt’. Hard (1983) hat es ausführlich analysiert. Wir sind auf einem Ausflug, im Urlaub und schauen uns das gern einmal an: Schön hier! Sagen wir: schön nicht in einem bloß gestalterischen, sondern in einem ganz umfassenden Sinne, so wie wir sagen: ein schöner Tag! Für die in diesen ‚schönen Landschaften’ heute noch lebenden und wohnenden Menschen ist das ästhetische Erlebnis bekanntlich deutlich anders akzentuiert, denn es ist ihr alltäglicher Lebensraum. Nicht, dass sie ihre Wohngegend hässlich fänden, ganz und gar nicht, aber Gewöhnung macht halt ‚blind’ bzw. relativiert doch ein wenig. Und ihr Lebensalltag ist eben so gar nicht arkadisch angehaucht. Für sie bedeutet diese ‚schöne’ Landschaft vielfach eben auch Verzicht: auf Wohlstand, auf Bildung, auf Freiheit, auf Unterhaltung, auf Versorgung. Und so können sie die touristische, sozusagen ‚losgelöste’ Glückseligkeit der Wanderer und Ausflügler nicht recht nachvollziehen. Ja, insgeheim machen sie sich lustig über das, was wir Ausflügler ‚schön’ finden: die Dorfkirche, das alte Bauernhaus, irgendwelche Blümchen am Wegesrand, die Kühe auf der Weide, der Waldessaum. Die Städter: die spinnen! Landschaft als „Totalcharakter einer Erdgegend“ meint eben für die Ortsansässigen in erster Linie ‚Lebensraum’, ‚Wohngegend’ und nicht ‚malerische Szenerie’. Und nur im oberflächlichen Touristenblick neigen wir dazu, die rurale Landschaft als ‚schöne’ Landschaft zu idealisieren, vielleicht sogar als ideale Wohngegend, aber die Einheimischen wissen es besser. Und im Grunde auch wir, und kaum jemand würde ernsthaft hierher ziehen wollen. Seien wir ehrlich: ‚schöne Landschaften’ sind auf Dauer ‚pottenlangweilig’! Gerade das macht sie für uns so erholsam. Aber was machen wir bloß dort, wenn wir erholt sind? Der Totalcharakter vieler Erdgegenden, also die landschaftliche Realität sieht freilich vielerorts bekanntlich anders aus. Spätestens seit dem Erscheinen des Buches von Th. Sieverts über die Zwischenstadt (Sieverts 1999) und der Kontroverse zwischen Prominski (2004; 2005) einerseits und Körner (2006) bzw. Eisel (2007) andererseits wird die Frage diskutiert, was mit den 131
Landschaftsräumen ist, die zunächst einmal nicht diesem Ideal der vorindustriellen Agrar- und Kulturlandschaft entsprechen, die mehr oder weniger verstädtert sind. Für einen ‚echten’ Landschaftsästhetiker sind diese Gegenden schlichtweg ‚hässlich’ und auch im Touristenblick scheint sich da nichts Schönes zu bieten. Ästhetische Freude kommt jedenfalls nicht auf, eher schon, so Sieverts, ein Zustand ästhetischer Anästhesie. Andererseits ist die Attraktivität der verstädterten Landschaft als Wohngegend, als menschlicher Lebensraum eigenartiger Weise völlig unbestritten. Seit Jahrzehnten haben die Großstädte gegenüber ihrem Umland ein negatives Wanderungssaldo: es ziehen mehr Menschen aus der Stadt ins Umland, als von dort in die Stadt. Lässt man die finanziellen Aspekte einmal beiseite und auch die möglichen berufsbezogenen Gründe, so kristallisieren sich als wohnqualitätsbezogene Gründe für den Umzug in die von Landschaftsarchitekten als ach so hässlich empfundene verstädterte, suburbane Landschaft die folgenden heraus: x Ruhige Wohnlage x Mehr Grün, Landschaft und Umgebung x Umweltqualität, Kleinklima x Sicherheit, weniger Kriminalität x Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder x Eigenheim mit Garten Also da ist viel ‚Landschaftliches’ dabei, vor allem auch das Gefühl ‚landschaftlicher’ Weite. Anders als in der Kenstadt, die als eng, dicht und voll erlebt wird, hat man hier noch hin und wieder den Horizont im Blick und natürlich auch noch ein bisschen Landwirtschaft in Sichtweite, so dass sich auch hier noch viele landschaftlich ganz schöne Ansichten ergeben. Umfragen in der Bevölkerung zum ‚idealen Wohnort’ zeigen jedenfalls denn auch immer wieder, dass nicht die Großstadt und nicht das entlegene Dorf präferiert werden, sondern Kleinstädte und Dörfer im Einzugsbereich von Großstädten, also gewissermaßen der suburbane Raum: das ist gleichsam der ideale Kompromiss zwischen Arbeit, Shopping, Bildung und Kultur in der Großstadt und der Beschaulichkeit, aber auch Überschaubarkeit des kleinstädtischen Lebens ‚im Grünen’. Und durch die jahrelange Vertrautheit verliert auch die jeweilige baulichräumliche Gemengelage, also der sog. Siedlungsbrei, deutlich an Unübersichtlichkeit oder auch Beliebigkeit, sondern ist ‚angenehm vertraut’ und integriert in den individuellen Sinn- und Lebenszusammenhang der Einheimischen und damit keineswegs so austauschbar und ohne Eigenart, wie es für den Ortsfremden erscheinen mag. Sie, die Einheimischen, wählen jedoch eher nicht ‚Landschaft’ als ästhetischen Bezugs- und Bewertungsrahmen (schon gar nicht die ‚arkadische 132
Landschaft’ - das ist allenfalls der enttäuschte Touristen- bzw. Landschaftsarchitekten-Blick), und sie haben an diese Erdgegend auch keine besonderen Schönheitserwartungen; es ist ihr Wohnort, ihr Lebensraum - so wie wir an unsere Lebenspartner ja auch nicht immer und alle die allerhöchsten Schönheitsansprüche stellen, wir sie aber trotzdem - hoffentlich! - gerne haben, einfach, weil es sich so gut mit ihnen leben lässt. Das meiste gefällt eben, auch ohne direkt ‚schön’ i.e.S. zu sein. Ja, wenn die Bewohner suburbaner Landschaften Ebenezer Howards Idealvorstellung von der Vermählung von Stadt und Land kennen würden, würden sie wahrscheinlich glauben, ihr Wohnstandort in Großstadtnähe böte genau das, wovon die Gartenstädtler immer geträumt hätten, die Verknüpfung der Vorteile von Stadt und Land in der so genannten ‚LandStadt’. Es sind denn eigentlich auch nur die Planer selbst, die an der verstädterten Landschaft so sehr leiden und auf die ‚Schnapsidee’ kommen, die suburbane Landschaft in erster Linie gestaltästhetisch ‚als Landschaft’ sehen zu wollen, gewissermaßen touristisch, und nicht als schon jetzt durchaus attraktive ‚Wohngegend im Grünen’. Ganz so, als ließe sich Landschaft nur als ‚schöne’ Landschaft denken. Aber gibt es nicht auch zerklüftete Hochgebirgslandschaften, Salzwüsten oder irgendwelche Dürre-, Steppen- oder Sumpfgebiete in Sibirien oder sonst wo, die im landläufigen Sinne weder ‚schön’ noch ‚arkadisch’ sind mit allem, was ästhetisch-ideologisch dazu gehören würde? Und doch erleben wir diese Gegenden ohne Frage als Landschaft, so ungemütlich sie uns auch vorkommen mögen. Die Alpen, die Heide, das Moor oder die Meeresküste: all das wurde vor der touristischen Entdeckung und Erschließung durchaus nicht als schön oder auch nur als reizvoll bezeichnet und doch waren es natürlich schon damals ‚Landschaften’ im Sinne der mehr geografischen Definition von Landschaft als ‚Totalcharakter einer Erdgegend’. Man muss deshalb auch nicht erst nach Amerika schauen (vgl. hierzu Prominski 2004), um zu einem ästhetisch wertneutralen Landschaftsbegriff zu kommen. Er liegt (wie manche meinen, seit Alexander von Humboldt’s Tagen!) längst vor. So definiert z.B. Buchwald in dieser Begriffstradition Landschaft schon vor Jahrzehnten als „Qualität eines Teilraumes der Erdoberfläche unter Einschluss aller bebauten Flächen“ (Buchwald 1978, Bd.2: 1). Wir sprechen, so Buchwald weiter, „von der Bördelandschaft und kennzeichnen damit eine bestimmte Qualität, einen Landschaftstypus mit einer für ihn charakteristischen ökologischen, strukturellen, physiognomischen, historischen und sozioökonomischen Eigenart“ (ebenda: 2). Von Schönheit ist hier nicht die Rede, sondern nur von einer bestimmten physiognomischen oder sagen wir in unserem Zusammenhang besser: ästhetischen Eigenart. Und in diesem Sinne lässt sich die verstädterte Landschaft durchaus eben als Landschaftstyp auffassen, der neben allem Anderen insbesondere durch seine bauliche Land133
nutzung geprägt ist, durch den relativ hohen Anteil von bebauter, versiegelter Erdoberfläche. Wenn es in Bezug auf die verstädterte Landschaft aus den verschiedensten Gründen keinen Sinn mehr macht, sie insgesamt als ‚schöne Landschaft’ entwickeln zu wollen, fragt es sich, warum man nicht (anknüpfend an die ja genau in diese Richtung gehenden Vorstellungen der Wohnbevölkerung) die verstädterte Landschaft nicht an ‚schöner Landschaft’ misst, sondern einfach als Wohngegend attraktiver zu machen versucht. Einheimische sind in ihrer Wohngegend gleichsam ‚geerdet’ und das pragmatisiert, relativiert und entmystifiziert, wie gezeigt, zunächst einmal die entsprechenden ästhetischen Ansprüche und lässt ‚touristische’ oder ideell aufgeladene ‚landschaftsästhetische’, aber auch allzu ‚gestaltungsfreie’ Vorstellungen von ‚Landschaft’ gar nicht erst aufkommen. Also ginge es darum, die verstädterte Landschaft nicht in eine ‚schöne Landschaft’ zu verwandeln (unmöglich genug!), sondern sie, ansetzend an ihren schon vorhandenen ästhetischen (nur eben nicht arkadischen) Qualitäten, zu einer noch angenehmeren und abwechslungsreicheren Wohngegend zu entwickeln. Für die Touristen, Ausflügler und professionellen Landschaftsästhetiker werden sich (in etwas weiterer Entfernung) noch genügend im Ganzen ‚richtig’ schöne, auch arkadisch angehauchte Landschaften finden lassen, zum Ausspannen und Abschalten. Keiner jedoch braucht die verstädterte Landschaft als ‚schöne Landschaft’, als ‚rein ästhetisches Objekt’, wenn sie als angenehme, abwechslungsreiche Wohngegend funktioniert.
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8. Freiraumideologie
8.1
Ästhetisch-ideologische Inwertsetzung der städtischen Brachfläche Wahrgenommen (wenn auch subjektiv verschieden) wird nicht nur das, was sozusagen ‚objektiv’ da ist, sondern teilweise auch etwas, was überhaupt nicht da, nicht sichtbar ist und vom Betrachter gewissermaßen in die Person oder den Gegenstand hineingesehen, hineinprojiziert wird. Und oft ist das, was solcherart in einen Gegenstand hineinprojiziert wird, viel verhaltensrelevanter als das, was vordergründig zu sehen ist. Ein Beispiel: Innerstädtische Brachflächen (vgl. Tessin 2002a) wurden in den 1950er und 60er Jahren als reine ‚Übergangsflächen’ angesehen, ihre Wiederbebauung war nur eine Frage der Zeit. Es waren buchstäblich ‚Restflächen’, mit denen man nichts anzufangen wusste. Der Naturschutz sah damals Naturschutzpotenziale nur außerhalb der Stadt. Städtische Brachflächen waren keine ‚richtige Natur’, vielmehr Natur aus 2., 3. oder gar 4.Hand, weil die vorherige Nutzung (Bahn, Industriebetrieb o.ä.) die ‚natürlichen’ Standortbedingungen bereits verändert hatte, so dass dort eine Vegetation entstanden war, die so gut wie nichts mit der potenziell natürlichen Vegetation zu tun hatte. Aus Sicht der Bevölkerung waren Brachflächen eher ‚Verlegenheitsflächen’, d.h. allenfalls geeignet (aber zugleich auch beargwöhnt) als Flächen für spielende Kinder, streunende Jugendliche, müllbeseitigende Leute, Hundeauslaufflächen. Die damals noch stärker ausgeprägte Orientierung der Bevölkerung an Sauberkeit und Ordnung machte Brachflächen zudem zu so etwas wie ‚Schmuddelecken’ in der Stadt. Diese spezifische (ideologische) Sichtweise änderte sich im Laufe der 1970er Jahre. Das damals verstärkt einsetzende und sich bis heute fortsetzende Industriesterben ließ immer mehr Brachflächen entstehen, und dabei handelte es sich nicht um kleine Restflächen mehr, um Baulücken oder dergleichen, sondern mancherorts fielen riesige Areale brach, die schon allein flächenmäßig nicht einfach mehr zu ignorieren waren. Zugleich stellte sich heraus, dass diese brachgefallenen Flächen auch nicht einfach wieder schnell zu bebauen sein würden. Teilweise waren die Flächen kontaminiert: eine Wiederbebauung hätte eine Bodensanierung zur Voraussetzung gehabt, was naturgemäß teuer geworden wäre. Fabrikhallen usf. hätten abgerissen werden müssen. Hinsichtlich der Verkehrsgunst konnten manche Industrie- oder Mi135 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
litärbrachflächen nicht mit ausgewiesenem und gut erschlossenem Bauland am Stadtrand oder gar im Umland konkurrieren. Teilweise wollten die AltEigner diese Flächen auch gar nicht sofort loswerden, sondern betrieben eine Art Bodenvorratspolitik und Bodenspekulation. Schließlich setzte eine vieljährige wirtschaftliche und demografische Stagnation in Deutschland ein. Die Nachfrage nach Bauland dieser ganz speziellen Brachflächen-Art war also insgesamt gering, auch wenn das eine oder andere leer gefallene Fabrikgebäude zu einem Technologiezentrum umgenutzt wurde (vgl. zur Konversionsflächenproblematik Hauser 2001). Vor diesem Hintergrund traf es sich, dass die in den 1970er und 80er Jahren erstarkte ökologische Bewegung nun auch die Stadt ‚unter die Lupe’ nahm. Brachflächen, die man zunächst in der Landwirtschaft als Naturschutzpotenzial entdeckt hatte, wurden nun auch in Bezug auf die Stadt interessant. Auf den städtischen Brachflächen durchgeführte Biotopkartierungen führten zu damals erstaunlichen Ergebnissen: die Vielfalt der Brachflächenvegetation übertraf die der Stadtparks bei weitem. Städtische Brachflächen (insbesondere am Beginn ihrer Entwicklung, im Pionierstadium), das waren auf einmal potenzielle Naturschutzgebiete in der Stadt! Der in den Jahren allmählich um sich greifende Gedanke, den Menschen, die in den Ballungsräumen lebten, Natur nahe zu bringen, der Wunsch, die Stadtbevölkerung ans ‚wahre Naturerleben’ heranzuführen, verstärkte die potenzielle Bedeutung der innerstädtischen Brachflächen. Die damals aufkommende Naturgartenbewegung lehnte die steril und uniform gestalteten öffentlichen wie privaten Grünflächen in der Stadt ab und entwickelte einen neuen Gestaltungsstil: Sie wollte die Grünanlage so weit wie möglich dem Vegetationsmuster annähern, „das für dieses Stück Boden gelten würde, wenn die Natur ihren Lauf nehmen würde“. Propagiertes Leitbild war nicht mehr die idealisierte Kulturlandschaft, sondern die Naturlandschaft, ja Wildnis. Brachflächen konnten in diesem neuen Licht quasi als Fortsetzung und Zuspitzung der Landschaftsgartenidee angesehen werden, als Prototyp des Naturgartenstils. Auch die nicht so sehr ökologisch oder gestalterisch orientierte Freiraumplanung entdeckte Brachflächen neu: als Nutzungspotenzial. Die früher als unschicklich empfundenen Nutzungen wurden ‚hoffähig’ nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass im Zuge der studentischen ‚Kulturrevolution’ Werte wie Sauberkeit und Ordnung relativiert und stattdessen Werte wie Freiheit, Spontaneität, Chaos betont wurden. Brachflächen schienen in diesem Zusammenhang als Ausdruck einer neuen Wertorientierung: ein Stück Anarchie, ein Stück weit Abkehr von der bürgerlichen Wohlanständigkeit, die noch typisch war für die Nutzung von Gärten und Parks in den 1950er und 60er Jahren. Und allmählich kristallisierte sich eine neue ‚BrachflächenIdeologie’ heraus, die sich um die folgenden Aspekte zentrierte und auch in der Bevölkerung einigermaßen verbreitet zu sein schien (vgl. hierzu Unge136
heuer 1996: 857f), wenn sie dort freilich auch nicht so ‚auf den Punkt’ gebracht werden dürfte: x Ökologie (Artenvielfalt, Ausgleichsfunktion), x unreglementiertes Handeln (Möglichkeit des unbeobachteten Handelns), x körperliche Aneignung (direkte Auseinandersetzung mit Natur), x Kinderspiel (Sinnesschulung), x emotionale Betroffenheit (Ort für wichtige Erfahrungen und mit persönlicher Bedeutung), x Lesbarkeit (Brachflächen als ein Ort mit Geschichte), x zerstörte Umwelt (Brachfläche als Ort für bedrohte Natur), x Zivilisationskritik (wilde Natur als Symbol für Widerstand), x Natur als Gegenwelt (Brachen als frei interpretierbarer Ort), x Sehnsucht nach Wildnis (wildes Grün als Ort für sinnliches Erleben und Naturnähe), x Versöhnung (Sinnbild für eine bessere Zukunft) und x Spiritualität (Ort zum Wohlfühlen und Träumen). Die innerstädtische Brachfläche wurde also in den 1970er und 80er Jahren im Zuge der Ökologiebewegung und der damals so bezeichneten ‚Demokratisierung des Stadtgrüns’ ästhetisch-ideologisch regelrecht in Wert gesetzt und mit allerlei sehr positiven Konnotationen und Assoziationen ausgestattet: Die Brachfläche als Ort für bedrohte Natur, als Ort der Geschichte, als Sinnbild für eine bessere Zukunft, für die ewige Wiederkehr der Natur, die Vergänglichkeit menschlicher Bauwerke, für einen nicht herrscherlich-ausbeuterischen Umgang mit der Natur (vgl. u.v.a. Loidl-Reisch 1986). Als in den 1970er und 80er Jahren die Vorstellung entwickelt wurde, die Brachfläche so zu sehen und zu empfinden (und nicht mehr als bloße Schmuddelecke und Verlegenheitsgrün), da waren die Zeiten jedoch bekanntlich noch andere als 30 Jahre später: da wurde die natürliche Umwelt noch als ‚Mitwelt’ propagiert, die Aussöhnung mit der Natur schien bevorzustehen, der Kapitalismus am Ende, die gesellschaftliche Zwänge der Wohlanständigkeit schienen sich zu lockern, ja, aufzulösen bis hin zu anarchistischen Vorstellungen; ‚zurück aufs Land’, Selbstversorgung, Anti-AKW-Bewegung, antiautoritäre Erziehung der Kinder, Dritte-Welt-Läden. Für viele der damaligen Vertreter der Landschafts- und Freiraumplanung hatte die ästhetischideologische Inwertsetzung der Brachfläche viel mit diesen gesellschaftlichen Prozessen zu tun. Sicherlich, ein Nebenschauplatz, aber signifikant für damals ablaufende und mit viel Hoffnung begleitete gesellschaftliche Entwicklungen. Um die Jahrtausendwende, 20-30 Jahre später, hatte sich dieser gesellschaftlich-ideologische Kontext jedoch drastisch wieder verändert. Der Kapitalismus hatte den vorläufigen ‚Endsieg’ errungen, gesellschaftspolitische Alternativen scheinen ein für alle mal ‚vom Tisch’, Ökologie kaum noch ein 137
Thema. Auch die Landschafts- und Freiraumplanung blieb von diesem Paradigmenwechsel nicht verschont. Die ‚Ökologen’ hatten ihre Meinungsführerschaft in der Disziplin an die ‚Gestalter’ abgeben müssen, für die - lebenskulturell wie gestalterisch - nichts mehr ‚out’ war als naturnah oder gar ökologisch. Kurzum: auf allen gesellschaftlichen Ebenen hatte sich das ideologische Klima grundlegend verändert, und es ist völlig ausgeschlossen, dass eine innerstädtische Brachfläche in einem so veränderten gesellschaftlichen Kontext noch dieselben Hoffnungen, Assoziationen und Konnotationen auslöst wie in den 1970er und 80er Jahren. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Brachflächen nun eher etwas anderes signalisieren: Industriesterben, Arbeitslosigkeit, Finanzkrise des Staates, Rückzug aus der Fläche, Niedergang. Äußerlich betrachtet hat sich das Aussehen einer innerstädtischen Brachfläche im jeweiligen Sukzessionsstadium nicht verändert. Sie sieht so aus, wie sie immer aussah. Und trotzdem hat sich das, was wir gleichsam ‚in ihr’ sehen, ziemlich grundlegend verändert und das in den letzten Jahrzehnten gleich mehrfach. 8.2
Ideologisierung als ‚Auslegung des Seins’ Die Umwelt wird also nicht nur im Rahmen allgemeiner gesellschaftlich konventionalisierter ästhetischer Vorstellungen unterschiedlich wahrgenommen und bewertet (vgl. Kap. 7), sondern man sieht in ihr auch z.T. etwas, was im Grunde gar nicht da und zu sehen ist. Solche ideologisch geprägten Wahrnehmungen können so weit gehen, dass man die Umwelt regelrecht ‚verzerrt’ und gar ‚falsch’ sieht, aber in erster Linie machen sie unsere Wahrnehmung viel ‚reicher’. Wir sehen einfach viel mehr in einem Gegenstand als an ihm ‚dran’ ist. Wenn wir in Südfrankreich sind, sehen wir viele Platanenbäume an den Straßenrändern oder auf Stadtplätzen. Ein hübscher Anblick. Der ganze Reiz dieser Platanenbäume erschließt sich einem jedoch erst, wenn man - etwa aus einem Reiseführer - mehr erfährt über die Funktion und Bedeutung dieser Bäume: „Sicher ist, daß Ludwig XIV. den militärischen Nutzen des robusten Baumes erkannte: Der Sonnenkönig spendete seinen Soldaten Schatten und ließ in Landesgegenden mit häufigen Truppenbewegungen Platanenalleen anlegen. Napoleon, mit seinen Soldaten zumeist außer Landes unterwegs, förderte per Dekret die zivile Nutzung der Platane als Stadtbaum. Mit ihren ehrfurchtgebietenden Stämmen und gleichmäßig gestutzten Ästen ließen sich Verwaltungsbauten repräsentativ schmücken und, ganz in zentralistischem Sinne, landesweit einheitliche Plätze und Märkte gestalten. Der geniale Verwaltungsakt des schlauen Korsen war zukunftsweisender als mancher seiner politischen Winkelzüge: Der staatlich verordnete Baumschnitt macht die Plata138
ne langlebig und verdichtet die Baumkrone. Zudem vergrößert der Eingriff den Umfang des Stamms und erhöht dessen Speicherkapazität für Wasser, das vom dichten Laub der gestutzten Äste vor rascher Verdunstung geschützt wird. Nur so konnte der Baum nördlicher Breitengrade in der heißen Mittelmeerregion überleben...“ (Dumont-Reiseverlag, Hg., Provence-Côte d’Azur 2002: 142) An den Platanenbäumen ließe sich ein Großteil der französischen Kulturgeschichte erschließen: von Napoleon bis zum Boule-Spiel. Dinge, die wir wahrnehmen, sind wie Spitzen eines Eisbergs: in ihnen steckt viel mehr, als es zunächst den Anschein hat. Man sieht, heißt es, was man über einen Gegenstand weiß. Ein Beispiel: Auf einem Universitätsgelände in Hannover hatte sich eine Spontanvegetation entwickelt. Beschäftigte wie Studierende (nicht der Landschaftsplanung!) beklagten sich über die ‚ungepflegte’ Fläche. Als man ihnen sagte, dies sei eine ‚wissenschaftliche Versuchsfläche’ und ein entsprechendes Schild aufstellte, gab es keine weiteren Klagen mehr. Die Fläche hatte nicht ihr Aus-, wohl aber ihr ‚Ansehen’ geändert. Der Franzose Latour (2002) entwickelte in diesem Kontext die Vorstellung von den Dingen als ‚Hybriden’ in dem Sinn, dass Dinge nie nur Materie, sondern beides zugleich seien: Natur und Kultur; Materie und Geist. Und in diesem Kontext entwickelt er auch die Vorstellung von den Dingen als einer Art von Knoten in Netzwerken. Die Platane (als Knoten in einem Netz gedacht) ist verknüpft mit einer Viel-, wenn nicht Unzahl von anderen Dingen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, historischen Ereignissen, Urlaubserinnerungen usf.; in jedem Ding ist gleichsam ‚die Welt’ enthalten, es eröffnet Bezüge jedweder Art. Manche Assoziationen mögen nahe liegen, manche resultieren aus scheinbar aberwitzigen Gedankensprüngen. Wenn hier von Ideologie die Rede ist, so ist damit also nicht ein eingeschränkter Ideologiebegriff gemeint (etwa im Sinne einer politischen Überzeugung, eines professionellen Standesdünkels, auf den noch im nächsten Kapitel einzugehen sein wird), sondern ein sehr viel allgemeinerer, gleichsam ‚totaler’ Ideologiebegriff im Sinne Karl Mannheims (1969). Mannheim hatte auf dem Soziologentag im September 1928 die Fachwelt mit der These geschockt, dass alle Erkenntnis über die Welt (auch die vermeintlich streng naturwissenschaftliche) letzten Endes ideologisch sei. Das Denken, so Mannheim, habe es niemals mit der nackten Realität, dem ‚Ding an sich’ oder der wirklichen Wirklichkeit zu tun, sondern bewege sich in einer immer schon interpretierten, verstandenen und sprachlich vermittelten Wirklichkeit. Wir erkennen die Welt nur auf der Grundlage unserer eigenen Erfahrungen und Denkstile. Die externe Welt, so wie wir sie wahrnehmen, ist eine Funktion des Erkenntnisprozesses, ein ideologisches Konstrukt.
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Als ideologisches Konstrukt soll also alles das verstanden werden, was wir über ein Objekt wissen, meinen, zu wissen glauben, was wir vom Objekt verstehen und was wir davon halten. Auch das (natur-) wissenschaftlich erwiesene Wissen, das wir über einen Gegenstand haben (er ist 50 cm groß, er ist kugelrund etc.), wird hier im weitesten Sinne als ideologisch bezeichnet nicht in dem Sinne, dass die Angaben falsch wären, sondern nur insoweit es sich um gesellschaftsspezifische Sichtweisen, individuell zufällige Kenntnisse handelt. Ideologie als gesellschafts-, gruppen- oder subjektspezifische ‚Auslegung des Seins’. Wer an einem Gegenstand in erster Linie sieht, dass er 50 cm groß ist, irrt u.U. nicht, aber zeigt eine individuell verzerrte oder einseitige Wahrnehmung und Kenntnis des Gegenstandes. Im Grunde wird also alles das als ‚ideologisch’ gefasst, was ein Gegenstand, eine Person, ein Raum an Wissen, Gefühlen, Meinungen, Assoziationen und symbolhaften Bedeutungen in einer Person auslöst und was diese in einen Gegenüber, einen Gegenstand oder Raum ‚hineinprojiziert’, ihm sozusagen ‚andichtet’. Es ist ideologisch, weil es nicht ‚objektiv’ ist, nicht ‚vollständig’, nicht ‚wertfrei’ und in jedem Fall maßgeblich beeinflusst ist durch die konkreten Lebensumstände in dieser oder jener Gesellschaft, in dieser oder jener Kultur oder Subkultur, dieser oder jener Person, hier und heute. „Der Mensch verleiht den wahrgenommenen Wirklichkeiten da draußen etwas aus ‚sich selbst’, etwas, was die Dinge an sich nicht besitzen“ (Mühlmann 1966: 32) Ein Besen ist zwar in erster Linie ein Besen (also zum Fegen geeignet), aber für uns als in der europäischen Kulturgeschichte Aufgewachsene, ist er natürlich auch ein Fluggerät für Hexen, ein literarisches Zitat aus Goethes ‚Zauberlehrling’ („Besen, Besen, sei’s gewesen“) und was sonst noch. Angesichts eines realen vor unseren Augen befindlichen Besens könnten einem darüber hinaus persönliche Besen-Erlebnisse einfallen: Putzärgernisse, Erinnerungen an Tante Frieda, die ein arger ‚Feger’ war usf.; all dies, also was in den einzelnen Gegenständen und Personen um uns herum latent, unsichtbar ‚drinsteckt’ und von uns ggfs. aktiviert werden und in die Wahrnehmung einfließen könnte, seien es Vorurteile, Einstellungen, Aversionen, Wertvorstellungen, Erinnerungen, Erkenntnisse usf., soll hier als Ideologie bezeichnet werden. Und insoweit wir im Anblick eines Gartens, Parks oder Spielplatzes diese Vorstellungswelt aktivieren, die wir mit dem Objekt verbinden, sprechen wir vom Objekt als ideologischem Konstrukt. Ideologisierung in dem hier verwendeten Sinne ist nichts Anrüchiges oder Verwerfliches, sondern unvermeidliche Folge unserer ‚Auslegung des Seins’. Der hier verwendete Begriff der Ideologisierung schließt die in diesem Zusammenhang häufig auch benutzten Begriffe der Symbolisierung (vgl. zum Symbolbegriff die Arbeiten von Lorenzer 1971 und 1972) oder der Einstel140
lung bzw. der Attitude (vgl. u.a. Benninghaus 1976; Stroebe 1978; Schäfer, Petermann 1988; Klauer 1991) mit ein. Dieser - weit gefasste und hier keineswegs negativ, sondern eher positiv besetzte - Ideologiebegriff bezieht sich also auf bestimmte Regelmäßigkeiten des Menschen, in Bezug auf die Umwelt zu reagieren. Dabei lassen sich drei Komponenten unterscheiden, nämlich eine affektive, eine kognitive und eine Handlungs- oder Aktionskomponente: „Die affektive oder Gefühlskomponente besteht darin, daß mit dem betreffenden Objekt oder der Kategorie von Objekten, auf die sich die Einstellung richtet, ein bestimmtes Gefühl verknüpft ist bzw. daß durch diese Objekte regelmäßig ein bestimmter emotionaler Zustand hervorgerufen wird.“ (Süllwold 1975: 475) „Die kognitive Komponente (...) äußert sich in den Vorstellungen, Ideen oder Glaubensüberzeugungen des Individuums in Bezug auf das betreffende Objekt. Diese Komponente wirkt sich ferner in den Urteilen und Schlußfolgerungen der Person aus, insbesondere dahingehend, daß eine Sache grundsätzlich für gut oder schlecht, für wertvoll oder wertlos, für erwünscht oder unerwünscht gehalten wird.“ (ebenda: 476) „Mit der Handlungs- oder Aktionskomponente ist gemeint, daß das Objekt, auf das die Einstellung des Individuums bezogen ist, regelmäßig bestimmte Handlungstendenzen hervorruft, z.B. die Bereitschaft, das Objekt zu schützen und zu pflegen, einen bestimmten Menschen bzw. eine Menschengruppe zu fördern und zu unterstützen oder - im Fall der negativen Einstellung - das jeweilige Objekt bzw. den jeweiligen Menschen zu schädigen oder gar zu vernichten. Es ist wichtig zu bemerken, daß es sich hier in erster Linie um eine mit der Einstellung verbundene Aktionsbereitschaft handelt; es ist also nicht unbedingt notwendig, daß die betreffende Handlung tatsächlich ausgeführt wird.“ (ebenda: 476) Sieht jemand einen Ort, eine x-beliebige Gegend etwa als seine ‚Heimat’ an (vgl. hierzu Greverus 1979), dann handelt es sich um eine spezifische Einstellung ihr gegenüber, um eine spezifische ideologische Auslegung der Umwelt. x Auf der affektiven Ebene bedeutet es, dass diese Gegend ein Gefühl der Vertrautheit, des Wohlfühlens, der Sicherheit und Geborgenheit auslöst. Mit dem elterlichen Haus, der Schule, einem Baum sind Lebenserinnerungen verbunden, Kindheits- und Jugenderinnerungen haben dort ihre Wurzel. x Auf der kognitiven Ebene bedeutet Heimat, dass man sich hier auskennt, die Menschen kennt, jeden Steg und Weg. Zugleich wird die als Heimat erlebte Gegend bewertet, wertgeschätzt, in der Regel als etwas Wertvolles, Unwiederbringliches. Das kann so weit gehen, dass man die Heimat 141
zum Maßstab nimmt zur Beurteilung von Fremden, von anderen Gegenden, die man besucht. Eine solche Zentrierung der eigenen Gedankenwelt auf die Heimat kann zu einem Verhalten führen, das mit Ethnozentrismus bezeichnet wird: man nimmt sich, seine Heimat, seine Landsleute, die eigenen Traditionen und Gepflogenheiten als Ideal, an dem gemessen mehr oder weniger alles abfällt, minderwertig und verachtenswert erscheint. Die Heimat als Nabel der Welt, um den sich die Welt dreht oder drehen sollte! x Auf der dritten, der Handlungsebene, bedeutet Heimat, dass man zumindest latent bereit ist, sich für sie einzusetzen, sie zu schützen und zu pflegen. Heimatschützer neigen ja häufig dazu, sich gegen Veränderungen ihrer Heimat zu wehren: man ist gegen den Zuzug von Fremden, gegen bauliche Veränderungen. Man verlässt sie ungern, freut sich auf die Heimkehr usf. Gegenstand einer so weit gefassten ‚Ideologisierung’ kann alles sein, wovon man sich ein Bild macht. So wie sich etwa mit dem Kleingartenwesen ein ganz bestimmtes (möglicherweise auch unrichtiges) Vorstellungsbild (spießig, kleinkariert, Gartenzwerge) verbindet, so gilt das - wenn auch nicht immer ganz so dezidiert - für alle Freiräume bzw. Freiraumverhaltensweisen. x Segeln, Drachenfliegen, Golfen, Klettern gilt in manchen Kreisen als ‚cool’, x ein Parkbesuch als ‚langweilig’, x ein Urlaubsaufenthalt im Harz als etwas ‚für ältere Menschen’. Oder man denke an den Garten: für viele ist da der Garten Eden, das Paradies, immer gleich mitgedacht: „Seither ist der Garten für die christlich-abendländische Bevölkerung zu einem Symbol geworden für eine Vielzahl von Bedeutungen, die sich aber fast alle aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel ableiten lassen. All diese Bilder haben sich tief in bewusste und unbewusste Schichten des Menschen eingegraben, und es ist nahe liegend, dass diese gleichsam mythischen Bilder vom Garten Eden noch heute den Wunsch nach einem Garten – unbewusst natürlich – mitprägen.“ (Tessin 1994: 124) Oder der sich im Gartenwunsch äußernde Kult des Landbesitzes. Hierzu ein paar Zitate: „Wer so glücklich ist, einen solchen (Garten, Erg.d.Verf.) sein zu nennen, hat die denkbar höchste Stufe wirthschaftlicher Unabhängigkeit erreicht; er hat ein Gebiet, worauf er souverän schalten und walten kann, er ist sein eigner Herr, (…).“ (Sax 1869: 63) „Der Vater sah das freie, unbebaute Land. Er, der sich den ganzen Tag in der Fabrik müde gearbeitet hatte, nahm die Schaufel in die Hand und begann 142
die Erde umzugraben. Ackerland entstand, der Schrebergarten, neues selbst geschaffenes Vaterland, diesmal das Wirkliche: die selbst bebaute Scholle des Siedlers.“ (A.Loos zit in: Janssen 1971: 78) Der Gartenbesitzer sähe in seiner Parzelle, so Janssen (1971) in polemischer Überspitzung, aber durchaus den Kern der Gartenideologie treffend, „das Modell eines Reiches, dessen König er selbst ist. In ihm exerziert er beispielhaft staatspolitische Aktion: er befestigt Grenzen, rüstet auf, verteidigt, greift an, schließt Frieden, verfasst eigene Gesetze und Moral, gründet Traditionen, organisiert Festlichkeiten, Bankette und Konferenzen, hortet Kulturbesitz, repräsentiert Reichtum und Eigenarten, gruppiert Möbel zu Städten und Dörfern und sorgt für Respekt und Ordnung im Innern.“ (ebenda: 87) Und so, wie sich mit dem Garten ganz bestimmte Vorstellungen verbinden, so auch mit dem Kinderspielplatz, wie die Ergebnisse einer Untersuchung zeigen, in der es um die Wahrnehmung und Beurteilung der Störungen durch einen Kinderspielplatz im Wohnumfeld ging (Grundmann 1985). In der Nähe zweier Kinderspielplätze wurden jeweils rund 100 Bewohner befragt, inwieweit sie sich durch den Spielplatz gestört fühlen würden und welche Störungen für sie am schlimmsten seien. Als eindeutig gravierendste Störungen wurden genannt, x dass Hunde und Katzen den Platz beschmutzen, x die Kinder die Pflanzen und Geräte beschädigen, x die Unsauberkeit des Platzes x und dass auch Jugendliche den Platz benutzen würden (Grundmann 1985: 79). Der Spiellärm selbst wurde überraschenderweise als nicht so sehr störend angesehen. Der Verfasser lakonisch zu diesen Ergebnissen seiner Umfrage, Zitat: „Ein Vergleich der Durchschnittsnoten der Störungsarten mit ihrer tatsächlichen Existenz führt zu einer verblüffenden Erkenntnis: Am höchsten werden nicht oder fast nicht vorhandene Störungen bewertet (...).“ (Grundmann 1985: 113) Die Untersuchung der konkreten Spielplätze hatte nämlich ergeben, dass die beiden Spielplätze keineswegs x durch Hunde und Katzen beschmutzt waren, x die Kinder Pflanzen und Geräte kaum beschädigten, x von einer Unsauberkeit der Plätze nicht die Rede sein konnte x und Jugendliche zwar die Spielplätze auch benutzten, aber in der Regel zu Zeiten, in denen Kinder nicht (mehr) spielten (nach 17 Uhr). Der Autor erklärt sich dieses contrafaktische Wahrnehmungs- und Beurteilungsverhalten als Ausdruck von allgemein verbreiteten (negativen) Vor143
urteilen einerseits gegenüber Hunden, Katzen, Kindern und Jugendlichen, andererseits gegenüber einem Spielplatz als solchem. Man benutzt gesellschaftlich verbreitete Klischeevorstellungen, alles, was man so über Kinderspielplätze weiß und gehört hat, um seine negative Einstellung gegenüber Spielplätzen zu kaschieren. Interessant war auch, dass der Spielplatzlärm als störend bzw. als nicht störend bezeichnet wurde und zwar überraschenderweise weitgehend unabhängig davon, wie weit man vom Spielplatz entfernt wohnte (ebenda: 126), also weitgehend unabhängig von der tatsächlichen Lärmbelastung. Auch dieses Verhalten wird vom Autor der Studie als Ausdruck einer „nicht nur vom Lärm abhängigen spielplatzunfreundlichen Einstellung“ gewertet, was ihn zu Recht dazu führt, seine Untersuchung über Spiellärm und andere Störungen, die von Kinderspielplätzen ausgehen, auch als eine Studie über kinderfreundliche bzw. kinderfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung zu interpretieren (ebenda: 12f). Ob man sich durch etwas gestört fühlt, hängt eben wesentlich davon ab, welche Einstellung man gegenüber der Störquelle hat. Grundmann hat also im Grunde das ideologische Konstrukt ‚Spielplatz’ untersucht, und in der Vorstellung vieler Leute ist eben ein Spielplatz ein Ort, wo Hundekot herumliegt, Kinder Spielgeräte kaputt machen, Jugendliche ‚herumhängen’ und wo es laut ist. Klar, dass solche ideologischen Konstrukte (und sei es gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Ausländern) das Freiraumverhalten maßgeblich beeinflussen. 8.3
Städtisches Grün ideologisch als ‚Dimension des Anderen’ Der Gedanke, dass Menschen mit Räumen, Orten, Bauten, Geräten, Pflanzen und Tieren bestimmte Vorstellungen verbinden, ihnen Bedeutungen zuschreiben, sie individuelle wie „kollektive Erinnerungen“ (Halbwachs 1950) bewahren, ist naturgemäß von großer Bedeutung für die Landschaftsund Freiraumplanung, gilt es doch, auf diese Vorstellungen Bezug und Rücksicht zu nehmen. So war es für die Stadtplaner der 1960er Jahre noch völlig unverständlich, wieso sich die Bevölkerung gegenüber den damaligen sog. Flächen- und Abrisssanierungen zur Wehr setzte. Die Stadtplaner hatten nichts Anderes gewollt, als die in den heruntergekommenen Altbauten lebenden Menschen aus ihrem vermeintlichen Wohnungselend zu befreien, und hatten ihnen schöne, helle, zentralgeheizte Wohnungen versprochen mit fließend Warmwasser und einer Toilette nicht auf der Etage sondern in der eigenen Wohnung, also Komfort (aus damaliger Sicht) ohne Gleichen. Tatsächlich empfand ein beachtlicher Anteil der betroffenen Mieter die bevorstehende Sanierung jedoch zunächst einmal als Bedrohung ihres vertrauten Lebenszusammenhanges. Man hatte emotionale Beziehungen zur Wohnung und zur Wohnumgebung aufgebaut, hatte einen Großteil seines Lebens dort verbracht, individuelle wie gemeinschaftliche Erinnerungen waren entstanden. 144
Vor allem aber bedeutete die Wohnung und das Altbauviertel ein Stück Stabilität und Vertrautheit im Leben der Betroffenen (vgl. Tessin u.a. 1983). Tatsächlich stehen die Räume, Bauten und langlebigen Dinge um uns herum ja in einem ganz eigenartigen, spannungsreichen Verhältnis zur Zeit. Sie stehen einerseits für ein Stück Permanenz, Stabilität und Dauerhaftigkeit, sozusagen für Haltbarkeit und Standfestigkeit im Strom der Zeit, zugleich aber zeigt sich an ihnen auch ein steter Wandel: sie werden älter, setzen Patina an. Es zeigen sich an ihnen Gebrauchs- oder Verfallsspuren, es werden an ihnen Veränderungen vorgenommen, sie beginnen ‚unzeitgemäß’ oder altmodisch zu wirken. Langlebige Dinge, Räume, Bauten, Landschaften kennzeichnet also stets ein mehr oder weniger großes Maß an Ungleichzeitigkeit. Sie sind allesamt ein paar Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte alt und werden von uns heute wahrgenommen und/oder genutzt. Aus dieser zeitlichen Disparität, dieser Ungleichzeitigkeit von zeitlich wie auch immer weit zurückliegender Entstehung und aktueller Nutzung resultiert - wie gesagt ein ganz spezieller ideologischer Reiz. Die gebaute und gewachsene Umwelt um uns herum funktioniert wie eine virtuelle Zeitmaschine. Der Begriff ‚Ungleichzeitigkeit’ stammt von Ernst Bloch (1973) und thematisiert den Prozess des gesellschaftlichen Wandels und verweist darauf, dass nicht alle Teilbereiche und Elemente einer Gesellschaft sich gleichmäßig und gleichzeitig, gleichsam synchronisiert entwickeln, vielmehr bestimmte Aspekte sich schneller ändern als andere. So macht die Wissenschaft ständig neue Entdeckungen und Erfindungen, die im Bereich etwa der Technik auch relativ schnell umgesetzt werden, die aber in breiten Kreisen der Bevölkerung auf ein diesbezüglich überhaupt noch nicht vorbereitetes Bewusstsein stoßen. Auch die Kunst produziert ständig Neues (Groys 1999). Es versteht sich, dass es der Bevölkerung mit Blick auf das ‚ständig Neue’ schwer fallen muss, permanent ‚Anschluss’ zu halten und sich auf den ‚neuesten Stand’ der jeweiligen Entwicklung zu bringen. Teilweise versteht sie diese neuen Entwicklungen überhaupt nicht, teilweise sieht sie in ihnen keine Vorteile für sich, teilweise empfindet sie das Neue regelrecht als Bedrohung - wie etwa die Bewohner der innerstädtischen Altbauviertel in den 1960er Jahren die Flächensanierungen - und leistet passiven Widerstand oder entzieht sich, so weit es irgendwie geht. Die Folge ist, dass das Bewusstein der Bevölkerung beinahe zwangsläufig der gesellschaftlichen Entwicklung hinterherhinkt (vgl. dazu schon Kap. 4.4) und sich damit in Bezug auf das aktuelle Geschehen eine ‚ideologische Ungleichzeitigkeit’ auftut. Das, was heute passiert, erleben und verarbeiten wir mit einem Bewusstsein von gestern oder gar vorgestern. So sind z.B. bis in die heutige Zeit in der Bevölkerung noch immer starke (negative) Vorurteile gegenüber der Großstadt und positive Vorurteile gegenüber dem Land verbreitet. Das Landleben wird (noch immer) tendenziell 145
als einfach und überschaubar, natürlich, als gemeinschaftlich orientiert angesehen. „Zu diesem Bild des Dorfes und des ländlichen Lebens gehört das Gegenbild der verderbten Stadt, die dabei im Grunde ebenso wenig wie das Dorf in ihren wirklichen Bestandteilen ins Blickfeld kommt. Stadt - das ist hier der Bezirk des Unnatürlichen, des Künstlichen. Die Stadt ist unüberschaubar, ein Bereich menschlicher Verlorenheit und Vereinzelung. Charaktere können sich hier nicht entfalten; sie verkümmern, die Menschen werden krank oder verlogen, undurchschaubar und öde auch sie - wie die Stadt als Ganzes.“ (Bausinger 1978:19f) Es handelt sich hierbei insofern um Ideologien, als die partielle Unrichtigkeit und Unbewiesenheit und Einseitigkeit dieser Einstellungen sofort ins Auge springt. Großstadtfeindschaft und Agrarromantik (Bergmann 1970) speisen sich aus der tiefen Verunsicherung der Bevölkerung im Zuge des unaufhaltsamen Verstädterungsprozesses seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Tief beunruhigt und verstört durch die sich abzeichnende Auflösung der Agrargesellschaft idealisiert(e) man die ‚Geborgenheit’ des Landlebens. Dieser Aspekt des Dorfes, dem ja auch auf der anderen Seite eine straffe gesellschaftliche Hierarchie und eng gefasste soziale Spielregeln gegenüberstanden, wird rückblickend sehnsuchtsvoll aufgeladen, aus dem Gesamtzusammenhang des Dorflebens herausgenommen, und seine Schattenseiten werden verdrängt. Solche ideologischen Konstrukte kann man nur aus der Funktion verstehen, die sie für den Einzelnen haben. Gerade deshalb halten sie sich oft so lange, weil es weniger um Wahrheit geht als vielmehr um den eigenen Seelenhaushalt. Auch heute noch sind agrarromantische Vorurteile - wenn auch der milderen Art - nicht gänzlich aus dem gesellschaftlichen Leben verschwunden. Die Wochenendausflüge, das Wandern, die Zweit- und Ferienwohnsitze auf dem Land, signalisieren ein ‚Bedürfnis nach Landleben’, nach ‚Landschaft’ (vgl. Kap. 7.4), nach Vergangenheit. Die Hartnäckigkeit gewisser agrarromantischer Einstellungen - trotz aller scheinbar gegenteiligen Realität - dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Diskrepanz, die sog. ‚kognitive Dissonanz’ (Festinger 1957) zwischen agrarromantischen Wunschträumen und der städtisch geprägten Lebensrealität sozialpsychologisch nicht als unangenehm erlebt wird. Man weiß um die Fragwürdigkeit und Irrealität der eigenen Vorstellungen, und gerade weil man sie nicht so todernst nimmt, kann man sie hegen und pflegen. Falsche (vorgestrige) Vorstellungen vom Leben sind manchmal eben ganz reizvoll, und sie werden vom Leben auch nicht bestraft, solange man weiß, dass die Vorstellungen falsch (einseitig, romantisch, verzerrt) sind und keine weiteren Konsequenzen für das ‚wirkliche’ Leben haben. Die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklung zeigt sich nun nicht nur im ‚Nachhinken’ des Bewusstseins weiter Kreise der Bevölkerung hinter 146
bestimmten künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen oder ökonomischen Entwicklungen, sondern - wie schon angedeutet - auch im jeweiligen Bestand an langlebigen Gütern, worunter insbesondere auch die Gebäude, Siedlungsstrukturen, Straßenzüge, Parkanlagen und Landschaftsräume zählen. Alles das, was in der Gesellschaft ‚neu’ ist, setzt sich z.T. gar nicht, z.T. nur punktuell und nur sehr langfristig auch baulich-räumlich um. Das Neue wird sozusagen in den Bestand integriert und schafft sich Raum und Platz nur in dem Maße, wie es erforderlich ist. Das meiste kann bleiben und bleibt, wie es ist, allenfalls leicht angepasst. Deshalb erleben wir auch heute noch auf dem Land bestimmte traditionelle dörfliche Elemente: die alte Dorfkirche, Bauernhöfe, alte Bäume, Getreidefelder, Heckenlandschaften. Es gibt also noch gewisse bauliche und landschaftliche Anknüpfungspunkte für unsere agrarromantischen Anwandlungen. Und solchermaßen durchsetzt mit Altund Uraltbeständen ist unsere gesamte Umwelt. Es gibt Altbau- und Gründerzeitviertel, Kirchen und öffentliche Gebäude aus fast allen Jahrhunderten. Wir gehen Straßen entlang, die sozusagen immer schon zum Nachbarort geführt haben. Wir erholen uns in Parkanlagen nicht selten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, bestatten unsere Verstorbenen auf hundert und mehr Jahre alten Friedhöfen. Bestimmte Landstriche haben sich kaum in ihrem Erscheinungsbild verändert. Bäume gibt es, die vor 20, 40 und 400 Jahren schon an derselben Stelle standen. Wohlgemerkt: nichts ist gänzlich so, wie es einmal war, aber alle räumlichen, baulichen und landschaftlichen Strukturen bergen mehr oder weniger Spuren der Vergangenheit und manches sieht (vordergründig) noch so aus wie vor 50 oder 100 Jahren. Dieses Trägheitsmoment der räumlich-landschaftlichen Strukturen, ihre Ungleichzeitigkeit und buchstäbliche Langlebigkeit (inzwischen durch Naturund Denkmalschutz ganz bewusst gegen die rasante gesellschaftliche Entwicklung in Stellung gebracht) eröffnet dem einem permanenten Modernisierungs- und Veränderungsdruck ausgesetzten und ihm permanent nachhinkenden Bewusstsein einen Bereich des Alten und Beständigen, der Stabilität und Vertrautheit, ja, der historischen und/oder biografischen Verwurzelung, aber auch der Rückschau auf die zurückgelegte gesellschaftliche Entwicklung. In dem wir einen Park aus dem 18. Jahrhundert betreten, eine Eiche betrachten, die schon zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges stand, die Heidelandschaft durchwandern und uns an Löns oder die Heimatfilme der 1950er Jahre erinnern oder auf dem Friedhof die Grabsteininschriften lesen: immer eröffnet sich uns der ästhetisch-ideologische Reiz der Ungleichzeitigkeit und eine wohlige Ambivalenz der Gefühle: einerseits der wehmütige Blick auf die ‚gute, alte Zeit’, andererseits die klammheimliche Freude, ihr doch nicht mehr so ausgeliefert zu sein und jederzeit in die freiere und komfortablere Gegenwart zurückkehren zu können. Auch unser gleichsam ‚archaisches’ Freiraumverhalten - wir wandern, gehen spazieren, angeln, legen uns ins Gras, sitzen im Biergarten, besteigen Berge, schauen den Vögeln oder Wol147
ken nach fast so, wie man es am selben Ort auch schon vor 100 und mehr Jahren machte - vermittelt (ganz zu schweigen vom Himmel über uns) die mitunter tröstliche Augenblicksillusion, dass sich im Grunde nicht wirklich etwas verändert hat. Dass etwas, was ich gerade anschaue, schon da war, als ich noch nicht geboren war, und vermutlich noch da sein wird, wenn ich schon längst gestorben bin, hat etwas Tröstliches, aber auch etwas Wehmütiges: der Raum als (Aufent-) Halt in der Zeit. Vermutlich resultiert die inzwischen weitgehende Wertschätzung von Gartendenkmalpflege und Naturschutz denn auch weniger aus einem dezidierten Interesse an der Geschichte der Gartenkunst oder an der Unversehrtheit der Natur, sondern aus diesem gleichsam sozialpsychologisch wie philosophisch nachvollziehbaren Interesse der Bevölkerung an Zuständen, die dem gesellschaftlichen Wandel entzogen sind. In quasi stationären Agrargesellschaften ist dieses Bedürfnis nach Stillstand nicht existent, es ist schlichtweg ‚befriedigt’ (bis hin zur Unerträglichkeit). In dynamischen Industriegesellschaften wird der Stillstand (zumindest in Bezug auf die baulich-landschaftliche Umgebung) zur Sehnsucht nach dem Motto: „Wenn der innere Zusammenhalt zerbrochen ist, muß häufig die äußere Welt als Ersatz herhalten.“ (Baretzko 1986: 15) Diese Sehnsucht nach (räumlichem) Halt geht so weit, dass Volkes Stimme mehr oder weniger vorbehaltlos jedem Wiederaufbau eines Schlosses und jeder vorgehängten Gründerzeitfassade an einem Kaufhaus ‚aus ganzem Herzen’ zustimmt - zur großen Empörung aller Puristen der Denkmalpflege: „Die Inszenierung des Denkmals zielt im gegenwärtigen Kontext alleine (...) auf die Inszenierung einer der Gesellschaft das vertraute Bild einer historisch gewachsenen Umwelt vorspiegelnde Kulisse. (...) Die Frage nach der historischen Originalität von Objekten tritt (..) in den Hintergrund. Im Vordergrund des Interesses steht allein noch die Möglichkeit einer Rezeption der als schön, weil vermeintlich alt und original empfundenen Denkmale als Kulissen gegenwärtiger Geschichtsbildillusionen und gesellschaftlicher Wunschvorstellungen.“ (Trimborn 1999: 133) Gebäude, Grünanlagen und Landschaften sind dem gesellschaftlichen Wandel also ein Stück weit entzogen, als sie ihm mit einem gehörigen time lag nachfolgen. Doch die baulich-räumliche Umwelt steht zur Gesellschaft nicht nur in einem Verhältnis der mehr oder weniger großen Ungleichzeitigkeit, sondern insbesondere das städtische Grün versinnbildlicht zur Gesellschaft einen Kontrast, eine ‚Dimension des Anderen’ (vgl. hierzu schon Tessin 2008: 25): Städtisches Grün birgt nämlich - trotz aller Gestaltung durch den Menschen - ja immer auch noch einen ‘Naturrest’ und verweist damit, wie Lefèbvre (1972: 142) schreibt, auf "absolute, unzugängliche Natur, (...)". Mit 148
diesem ‘Naturrest’ hängt ein Weiteres, ja, das Wesentliche städtischen Grüns als Ideologie überhaupt zusammen: Obwohl in vielfältiger Weise gesellschaftlich überformt und in Dienst genommen, entzieht sich die Vegetation des städtischen Grüns in eigentümlicher Weise einer letzten gesellschaftlichen Vereinnahmung. Ihr bloßes, bewusstseinslose Da-Sein, das keine Vergangenheit und Zukunft, keine Schuld und Sühne, kein Freud und Leid kennt, keine Ziele, Werte, Zwecke und Gründe, versinnbildlicht eine zur menschlich-gesellschaftlichen Existenz prinzipiell andere Daseinsform, eine Art Gegenwelt, eine "Dimension des Anderen" , wie sie Marcuse (1974: 84) für die (frühere) Kunst postuliert hat, also etwa für den Salon, das Konzert, das Theater, die Oper im 19. Jahrhundert oder für alte religiöse Bau- und Kultstätten: „Ganz gleich, wie nahe und vertraut der Tempel oder die Kathedrale den Menschen waren, die um sie herum lebten, sie verblieben in erschreckenden oder erhebendem Gegensatz zum alltäglichen Leben des Sklaven, des Bauern und des Handwerkers - und vielleicht sogar zu dem ihrer Herren.“ (ebenda: 83) Dieses Kontrasterlebnis, diese ‚Dimension des Anderen’ gilt nun auch in gewisser Weise für das Grün in der Stadt, das so zum Gegenstand menschlicher Sehnsucht, zum Fluchtpunkt wird: der ‘Naturrest’ im Menschen, der sich totaler Vergesellschaftung entziehen will, findet im ‘Naturrest’ des städtischen Grüns (vermeintlich) seine Entsprechung: dieses wird zum Synonym für soziale Entlastung (vgl. dazu schon Gleichmann 1963: 54 f) und zur Metapher all dessen, was die Gesellschaft vorenthält: Das Stück Natur in der Stadt ist dann, die Werbefachleute wissen es längst, schön, still, friedlich, abenteuerlich, gut, sauber, einfach, gesund und so fort, schlichtweg alles, was die verstädterte Gesellschaft nicht ist und in die Natur nur irgendwie hinein interpretiert werden kann. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Hard (1984) zum semantischen Umfeld der Wörter Natur oder Landschaft, die ganz eindeutig in Richtung Seele, Geborgenheit, Tradition, Freiheit, Heimat positiv konnotiert sind. Städtisches Grün, indem es auf Natur und Landschaft verweist, symbolisiert also diese ‘Dimension des Anderen’ zur verstädterten Gesellschaft. Dadurch gewinnt es eine weitere symbolische Funktion: in ihm vermittelt sich als kollektives Gedächtnis gleichsam Rückwärtiges in die Gegenwart. Der ‘Naturrest’ im städtischen Grün erinnert - bruchstückhaft - an die ‘verlorene Utopie’ (Wedewer 1978) des Aufgehobenseins des Menschen in der Natur. 8.4
Verlust an ‚Zweidimensionalität’ in der Landschaftsarchitektur Die Dinge um uns herum haben also ein spezifisches ideologisches Umfeld, in dem wir sie wahrnehmen. Ohne dieses ideologische Umfeld wären die Dinge sehr viel uninteressanter. Ist es nicht reizvoll im Anblick eines 149
Gartens, gleichsam die Kulturgeschichte des Gartens vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen: der Garten als Ort des Friedens, des Ineinsseins mit der Schöpfung, als Ort der Verlockung, der Lüste gar, als Paradies, als verlorenes Paradies? Aber inwieweit kann heute noch unterstellt werden, dass die Besucher von Parks, von historischen Gärten, von Naturschutzgebieten genügend ‚wissen’, genügend ‚fühlen’, um sich den ganzen ideologischen Reiz etwa der Ungleichzeitigkeit, der ‚Dimension des Anderen’ ästhetischer Wahrnehmung erschließen zu können. Bleibt nicht die Wahrnehmung gleichsam an der Oberfläche? Man empfindet den Park als ‚schön’, als ‚schön grün’, aber es werden ganz offensichtlich nicht mehr sehr viele tiefergehende Vorstellungen, Kenntnisse oder Assoziationen geweckt. Es werden keine - im positiven Sinne - ideologischen Beziehungen zum Raum aufgebaut. Ist also das, was wir über den Garten oder die Natur an Vorstellungen alles so im Kopfe haben, nicht mehr erlebniswirksam? Ist die Landschafts- und Freiraumplanung ihres ideologischen Überbaus oder ihrer ‚Dimension des Anderen’ verlustig gegangen? In der Tat (vgl. hierzu bereits Tessin 1981). Es handelt sich dabei offensichtlich um denselben Prozess, den Marcuse in anderen Bereichen der Kultur beschrieben und den er mit Begriffen wie ‚Entsublimierung’ und ‚Verlust an Zweidimensionalität’ zu fassen versucht hat. Mit dem Blick auf den Kulturbetrieb und die Ausbreitung der Massenkultur argumentiert Marcuse, dass die ‚Dimension des Anderen’ „vom herrschenden Zustand aufgesogen“ werde. Die Werke der Kunst werden der „Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt (…). Sie werden so zu Reklameartikeln (…).“ (Marcuse 1974: 84) Und ähnlich heißt es in Bezug auf die Natur: „Wenn Städte, Autobahnen und Naturschutzgebiete die Dörfer, Täler und Wälder ersetzen, wenn Motorboote über die Seen rasen und Flugzeuge den Himmel durchstoßen - dann verlieren diese Bereiche offenkundig ihren Charakter als eine qualitativ andere Wirklichkeit, als Gebiete des Widerspruchs.“ (ebenda: 86) Indem nun die Grünflächen immer mehr in den Alltags- und Freizeitbetrieb einer Stadt, auch in das städtische Erholungs- und Gesundheitswesen, historische Anlagen in den Tourismusbetrieb eingebunden werden, sie zum reinen Nutzungs- und Gebrauchsgrün mutieren, handelsüblich gemäß Baumschulkatalog, typenstandardisiert, pflegeleicht, unfall- und verletzungssicher, richtwertorientiert, normgerecht und kostengünstig angelegt werden, verlieren sie zugleich immer mehr ihre Distanz und Andersartigkeit gegenüber der Stadt, gleichsam ihre Dimension des Anderen, und das so angenehme ‚beingaway-Gefühl’ (Kaplan 1995: 174) eines Freiraumaufenthaltes bleibt aus. Dieser Prozess der Entsublimierung, man könnte auch fast sagen: der ‚Entideo150
logisierung’, auf der Ebene der Produktion und Gestaltung findet natürlich längst sein Pendant auf der Ebene der Aneignung. Das, was das Grün in der Stadt als Natur, die Brachfläche, der Garten (ideologisch) zu versprechen schien (scheint?), war ja immer in erster Linie auch eine Projektionsleistung der verstädterten Menschen gewesen, d.h. wurde von ihnen in das Grün hineininterpretiert. Dazu scheinen sie nun immer weniger willens und/oder in der Lage zu sein. Man findet das Grün zwar ‚schön’, nimmt es wohlgefällig, aber doch eher beiläufig zur Kenntnis. Es werden kaum darüber hinaus gehende Vorstellungen und Erinnerungen hervorgerufen. Die Wahrnehmung des Äußeren, der Oberfläche wird schon für das ganze Erlebnis genommen. Die Überfülle an Reizen und Informationen, die Bilderflut, die Schnelllebigkeit und Hektik der Gegenwart scheint einen nachvollziehbaren Zwang nach Entlastung, nach Reduktion von Umweltkomplexität auszulösen. Die Trennung von ‚überflüssiger’ und ‚zweckdienlicher’ Information wird immer wichtiger, das schnelle Vergessen und Verdrängen von ‚überflüssigem Ballast’ überlebensnotwendig. Ist da überhaupt noch Zeit und Interesse, den z.T. subtilen Bedeutungen nachzuspüren? Wenn aber ausgeführt wurde, dass der Reiz der Wahrnehmung von Dingen nicht zuletzt auch darin liegen kann, in ihnen gewissermaßen ‚die Welt’ (und sei es die ‚eigene’) zu entdecken, den Verknüpfungen nachzuspüren, die das jeweilige Ding mit der Welt, der Zeit und der eigenen Person verbindet, dann stellt sich für die Landschafts- und Freiraumplanung die Frage, ob man dem Trend zur bloß noch oberflächlichen Betrachtung entgegenwirken könnte oder sollte. Sollte es also wieder mehr Aufgabe der Landschafts- und Freiraumplanung sein, x einerseits das, was die Menschen mit Natur, mit Garten, Park und Landschaft assoziativ verbinden, stärker zum Ausdruck zu bringen, (wieder) erlebbar zu machen, x andererseits aber auch diese symbolischen Bedeutungen und Assoziationen, sei es als Schein (unwirklich), sei es als Ideologie zu identifizieren? x Ließen sich dieser bestehenden Vorstellungswelt auf gestalterischem Wege gar neue Erfahrungen und Assoziationen hinzuzufügen? In der Architektur der 1980er und 90er Jahre hat es eine vergleichbare Diskussion gegeben. Die Architektur habe, so die post-modernen Kritiker der modernen, funktionalistischen Architektur (Jencks 1993; Wellmer 1985), aufgehört, glaubwürdig zu sein, weil sie weder in der Lage sei, eine echte Verständigung mit den Nutzern zustande zu bringen, noch ihr eine wirkliche Verbindung mit der bestehenden Stadt und ihrer Geschichte gelungen sei. Diese Art von Architektur widerspräche, so könnte man sagen, der Vorstellungswelt der Masse der Bevölkerung über das gewohnte Aussehen eines Hauses oder eines Stadtteils. Von dieser rein funktionalistischen, von allem schmückenden Ballast gereinigten Architektur heißt es, 151
„daß sie keine neuen Erinnerungen hervorbringt, wohl aber alte (auch verhängnisvolle) auflöst. Wie die Räume, die sie errichtet, so ist auch die Architektur selbst geschichtslos, spurenlos geworden.“ (Müller 1977: 179) Deshalb forderten die Vertreter der post-modernen Architektur eine Architektur, die professionell fundiert und populär zugleich ist, die neue Techniken und alte Muster integriert (vgl. hierzu Jencks 1993: 256), eine Architektur also, die zwar an traditionellen und/oder populären Vorstellungen in der Bevölkerung anknüpft, aber sie nicht unbedingt zur Gänze und schon gar nicht in gewohnter Weise bedient und erfüllt, sondern sie modifiziert, neuzeitlich interpretiert, sie vielleicht ironisiert oder auch verfremdet. Gefordert wurde ein gleichsam spielerischer Umgang mit dem traditionellen Gestaltungsrepertoire und den damit verbundenen Vorstellungen in der Bevölkerung. Tatsächlich sind auch in der Landschaftsarchitektur neuere Gestaltungstendenzen erkennbar, die versuchen, dem städtischen Grün wieder mehr „Andersheit“ (Welsch 1995: 39) bzw. eine „Dimension des Anderen“ angedeihen zu lassen, wenn auch manchmal in etwas irritierender Weise: x Inszenierung städtischen Grüns durch Verzicht auf Gestaltung, Pflege, Richtwerte, Baumschulkataloge und so fort und Förderung bzw. Duldung ‚spontaner, wilder Vegetation’ etwa im Sinne der Wildgärten à la Schwarz, der Naturgärten à la Le Roy. x Inszenierung städtischen Grüns durch Kontrastierung mit nichtnatürlichen Elementen wie Mauerwerk (Ruinen), Plastiken, Spiegel, Maschinen bis hin zur Verpackung eines Baumes à la Christo oder durch ‚überraschenden Einsatz’ in der gebauten Umwelt der Stadt: Gemüsegärten auf Sanierungsbrachflächen, eine Wiese als Theater- oder Rathausvorplatz oder - wie in Leipzig - ein Getreidefeld auf einer innerstädtischen Brachfläche (Schulze, Oegel, Reinhard, Hg., 2001). x Inszenierung des städtischen Grüns durch ‚minimalistischen’ oder ‚streng gerasterten’ Einsatz von Pflanzen etwa auf Stadtplätzen. So begründete der Landschaftsarchitekt Kienast seine oft ‚reduktionistischminimalistischen’ Entwürfe mit dem Hinweis auf einen vermeintlichen Bedeutungsverschleiß in der Gartenkultur und mit seiner Aversion gegenüber einer sinnüberladenen „Geschwätzigkeit“ (vgl. hierzu Krebs 2002: 92). x Inszenierung des städtischen Grüns schließlich auch durch ‚ironisierende Distanzierung’. Man denke hier auch an die überdimensionalen ‚Blumentöpfe’ in einigen Entwürfen der 1990er Jahre. Vor dem Hintergrund dessen, was hier unter dem Begriff ‚locus amoenus’ (vgl. Kap. 4.5) gesagt und in der ‚Ästhetik des Angenehmen’ (Tessin 2008) weiter ausgeführt wurde, scheint es tatsächlich jedoch unwahrscheinlich, dass 152
die Leute sich mit irgendeiner Art von ‚irritierender’ Gestaltung anfreunden würden. Sie lieben das städtische Grün als ‚angenehmen’ Kontrast zur Stadt einerseits und zur Wildnis andererseits. Alles, was das städtische Grün als ‚angenehmen Ort’, als das ‚angenehm Andere’ inszeniert, wird gern gesehen, alles, was diese positiv besetzte Klischeevorstellung nicht bedient oder gar bewusst verweigert, nicht. Das gilt gleichermaßen für die Position, die städtisches Grün sozusagen als Wildnis zu inszenieren versucht, wie für die, die es allzu minimalistischcool präsentiert. Solchermaßen ‚modern’ gestaltete Freiräume verstehen sich ja u.U. durchaus auch als Kontrast zur Umwelt, indem sie sich asketisch von der Informations- und Bilderflut, der „neuen Unübersichtlichkeit“ abwenden, klar, einfach, sauber, streng, nicht „geschwätzig“ (Kienast) gestaltet sind. Aber sie verweigern sich ganz bewusst den vertrauten Klischeevorstellungen des Landschaftsgartens und den daran gekoppelten arkadischen Bedeutungsinhalten, ja, man will diese brechen, verfremden. Also inszeniert man Brüche und Kanten, und nie lässt man die Illusion aufkommen, dass hier etwas ‚natürlich’ sei: bloß keinen natürlich wirkenden Hügel aufschütten, lieber ihn als Kegel, Welle oder Pyramide in Szene setzen, Wasser stets in ‚Form gießen’ (Rinne, Kanal, Becken), damit ja keine (‚falsche’ = idyllische) Assoziation an Bach, Fluss, Teich oder See aufkomme. Ein mutiges, künstlerisch ehrenwertes Unterfangen. Die Bevölkerung mit ihrer noch immer traditionellen, gleichsam ‚arkadischen Affinitätsstruktur’ in Bezug auf städtische Grünflächen hätte es freilich gern weniger mutig bzw. künstlerisch wertvoll, stattdessen lieber einen ‚richtigen’ Hügel, einen ‚richtigen’ Bachlauf und eine ‚richtige’ Parkbank (statt eines Beton-Quaders). Die Leute wollen das städtische Grün so angenehm wie möglich und sei es als Illusion. Erst jüngst haben Franke, Kühne (2010) wieder auf diesen letztlich arkadisch-romantischen Blick der Bevölkerung auf alles Landschaftliche hingewiesen, den die moderne Landschaftsarchitektur zwar gerne als „Kitsch“ abtut, den sie aber als Erwartung der Bevölkerung an sie trotzdem nicht los wird. Wie überhaupt sich Planer und Architekten gerne und oft falsche Vorstellungen über das Freiraumverhalten der Leute machen bzw. ihre Überlegungen gern an bestimmten Verhaltensidealen ausrichten.
153
9. Planerideale
9.1
Planerideologien und Ideologiekritik So wie die Bevölkerung bezüglich bestimmter Freiräume bestimmte Kenntnisse, Vorstellungen, Assoziationen und Gefühle entwickelt, so gilt das natürlich auch für die Landschafts- und Freiraumplaner. Und am Beispiel der Brachfläche (vgl. Kap. 8.1) wurde ja deutlich, dass man (erfolgreich) bestimmte professionelle Vorstellungen durchzusetzen versucht hat, die so zunächst einmal gar nicht in der Bevölkerung vorhanden waren. Seitens der Landschafts- und Freiraumplanung wurde die Brachfläche der Stadtbevölkerung sozusagen erst ‚schmackhaft’ gemacht, was ohne Zweifel mit zur Aufgabe der Landschafts- und Freiraumplanung gehört. Aber die Propagierung bestimmter Ideale und Vorstellungen seitens der Planer birgt naturgemäß auch bestimmte Probleme insbesondere dann, wenn diese Vorstellungen einseitig bestimmte professionelle Eigeninteressen zum Ausdruck bringen. Der Begriff Ideologie (vgl. hierzu u.a. Lenk 1976; Boudon 1988; Zima 1989; Eagleton 2000) wird - das wurde weiter oben (vgl. Kap. 8.2) schon angedeutet - im Allgemeinen in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die oft miteinander verwechselt werden und zu Missverständnissen Anlass geben. Einerseits im Sinne des hier bislang verwendeten ‚totalen Ideologiebegriffes’ im Sinne von Mannheim (1969). Dieser besagt, dass jede Wahrnehmung, jede Erkenntnis ein ideologisches Konstrukt darstellt, insofern sie notwendiger Weise Ausdruck ganz bestimmter gesellschaftlicher und/oder individueller Lebensumstände ist. „In der zweiten, heute häufiger verwendeten Bedeutung enthält der Begriff Ideologie eine betont negativ-kritische Wertung: Ideologie meint dann nicht irgendeine beliebige Überzeugung, sondern eine die Wirklichkeit bewusst oder unbewußt verfälschende, verzerrende Betrachtungsweise oder Weltanschauung. Dabei wird unterstellt, daß bestimmte Gruppen mit Hilfe ihrer Ideologien die Öffentlichkeit und manchmal auch die eigenen Anhänger über ihre wahren Interessen täuschen, ihre Herrschaftsinteressen verschleiern oder z.B. bestehende Privilegien und Herrschaftspositionen wirkungsvoller absichern wollen.“ (IWU 1978: 242f)
154 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
So könnte man der Landschafts- und Freiraumplanung vorwerfen, sie habe die Brachflächen nur deshalb ideologisch in Wert gesetzt (vgl. Kap. 8.1), um ihren eigenen ‚Herrschaftsbereich’ in der Stadt auszuweiten, ihre kommunalpolitische Bedeutung zu erhöhen und vielleicht vermehrt für entsprechende Biotopkartierungen Aufträge zu akquirieren. In Kap. 1.4 wurde bereits ausgeführt, dass es im Rahmen der sog. Ideologiekritik i.e.S. auch eine wesentliche Aufgabe der Soziologie sei, diesen oft verschwiegenen Interessen auf die Spur zu kommen oder aber einfach die Vorstellungen bestimmter Leute oder Professionen als ‚verzerrt’, ‚wirklichkeitsfremd’ und ‚korrekturbedürftig’ zu entlarven. So erliegt, um ein erstes Beispiel zu nennen, die Landschaftsarchitektur (vgl. hierzu Tessin 2008: 96ff), sofern sie sich ‚künstlerisch-gestalterisch’ versteht, systematisch und allzu gern der Versuchung, ästhetische Fragen mit Gestaltungsfragen mehr oder weniger gleich zu setzen. Dieser Sichtweise liegt die (wenn auch oft unausgesprochene Wunsch-) Vorstellung zugrunde, der anspruchsvoll gestaltete Platz, Garten oder Park werde ‚besichtigt’, gewissermaßen wie ein Landschaftsbild als ‚Werk’ ästhetisch rezipiert. Dies mag in jenen Fällen gegeben sein, wo die Besucher einen Park besichtigen, aber eher nicht dort, wo sie sich im Park nahezu täglich aufhalten, der Park ihnen zur quasi Alltagsroutine geworden ist. Dort ist das an der Gestalt des Parks interessierte Wahrnehmungsbedürfnis in der Regel recht bald gestillt. Zu erklären ist diese Sättigung mit Verweis auf das Theorem der sog. Hintergrundserfüllung (vgl. Kap. 10.2). Es besagt, dass Bedürfnisse, die dauerhaft befriedigt werden, deren Befriedigung gesichert ist, gar nicht mehr als Bedürfnisse, d.h. als empfundene Mangelsituationen, ins Bewusstsein dringen und unser Verhalten gegenüber der Umwelt dann auch nicht steuern mit der Folge, dass andere (weniger befriedigte) Bedürfnisse verhaltensrelevanter werden. Wir nehmen die Schönheit des Parks sozusagen als ‚gegeben’ hin und wenden uns anderen Aspekten zu. Beim Betreten des Parks (auch noch beim x-ten Mal) wird das ästhetische Erlebnis des Parks (als Kontrasterlebnis zur zuvor erlebten Umgebung) noch virulent, es klingt dann aber in dem Maße ab, je länger man sich im Park aufhält. Auch der für den Parkbesuch ja typische Spaziergang, also die ununterbrochene Veränderung des Blickwinkels auf den Park, hilft dann bald nicht mehr weiter, der Parkgestalt (im Sinne einer am Gegenstand interessierten Wahrnehmung) neue ästhetische Eindrücke abzugewinnen. Die Parkgestalt wird dann zwar noch ästhetisch (wohlgefällig) wahrgenommen, aber nicht mehr bzw. nur noch hin und wieder ästhetisch (interessiert) erlebt. Zugleich verschiebt sich das Augenmerk hin zum Geschehen im Park. Unsere Augen fungieren ja wie ‚Bewegungsmelder’ und wenden sich fast automatisch jeder Art von Bewegung oder Veränderung im Raum zu, während das Konstante, das Statische, schon Bekannte, hier die Ausstattung und Gestaltung des Parks, zur Kulisse des Geschehens wird. Ja, unser Blick sucht die Umgebung - und insofern bleibt die Parkgestalt auch 155
immer im Blick - geradezu nach Veränderungen, Abweichungen, Bewegungen, Neuem ab. Bekanntlich hält es selbst ein (doch irgendwie interessierter) Museumsbesucher durchschnittlich nicht einmal eine Minute vor einem Gemälde aus. Klar nun, dass Landschaftsarchitekten es gerne sähen, wenn ihr ‚Werk’ stets im Mittelpunkt des ästhetischen Erlebens von Freiraumbesuchern stünde, aber es ist halt nicht so. Aber man versteht sehr gut, warum Landschaftsarchitekten sozusagen berufsbedingt an dieser Fiktion (Ideologie) festhalten, dass es in erster Linie um ‚Gestaltung’ gehe und nicht um das jeweilige Geschehen im Freiraum (vgl. hierzu noch Kap. 10). Aber es gibt noch diverse andere Beispiele für diese berufsbedingt verzerrte Wahrnehmung des Freiraumverhaltens, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
9.2
‚Uneigentliches’ Verhalten In Bezug auf die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, speziell in Bezug auf die Philosophie Heideggers, sprach der Soziologe Adorno einmal vom „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno 1964). Heidegger hatte mit ‚Uneigentlichkeit’ jenen Aspekt menschlicher Existenz gemeint, der sich in alltäglicher Routine erschöpft, im Gerede, in der Zerstreuung, im Betrieb. Die einzelnen Menschen lebten als ‚man’, wie Heidegger es ausdrückt, im ‚Uneigentlichen’. ‚Eigentlichkeit’ erlange man nur in seltenen Ausnahme-, sog. Grenzsituationen, vor allem im Angesicht bzw. im Bedenken des eigenen Todes. Erst in solchen Situationen wie Krankheit, Krieg, im Tod, in der Angst oder Einsamkeit werde man ‚auf sich selbst zurückgeworfen’, der Schutzmantel gesellschaftlicher Institutionen und alltäglicher Routinen und Ablenkungen falle von einem ab - und man erkenne sich als ‚sich selbst’ und das, was es heißt, Mensch zu sein, d.h. als ‚Sein zum Tode’, ‚Man’ wird ‚eigentlich’. An diese (etwas verstiegene) Vorstellung von ‚Eigentlichkeit’ kann man sich erinnert fühlen, wenn man die Lamentos einiger Vertreter der Stadt- und Landschaftsplanung über das Verhalten der Menschen in öffentlichen Freiräumen vernimmt. Verfolgt man beispielsweise die in Planerkreisen geführten Diskussionen um den öffentlichen Raum, so ist sie geprägt durch bestimmte Idealvorstellungen über das Verhalten der Menschen in öffentlichen Freiräumen und entsprechend großen Unmutsäußerungen über das tatsächliche Verhalten dort. Im Folgenden soll an zwei Beispielen diese Debatte um ‚eigentliches’ und ‚uneigentliches’ Verhalten in öffentlichen Freiräumen aufgezeigt werden, wie das tatsächliche Verhalten der Besucher hinter den entsprechenden (Ideal-) Vorstellungen und Ideologien der Planer weit zurückbleibt. In beiden Fällen 156
ist das, was die Planer sich als Regel- bzw. als Idealverhalten erträumen, eher die Ausnahme. Und pikanterweise (aber deshalb wurden sie hier ja ausgewählt) wird in beiden Beispielen von ganz unterschiedlichen Idealvorstellungen vom Verhalten im öffentlichen Freiraum ausgegangen, aber beide Vorstellungen gehen auf bestimmte ideologische Strömungen in den 1950er Jahren zurück. Damals wurden in Deutschland zwei soziologische Buchbestseller heiß diskutiert: ‚Aufstand der Massen’ von José Ortega y Gasset und ‚Die einsame Masse’ von einem David Riesman. Obwohl beide Bücher recht unterschiedlich in ihrer Art waren, hatten sie doch dasselbe Thema zum Gegenstand: den allmählichen Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft hin zur sog. Massengesellschaft oder, wie es damals auch hieß, zur nivellierten Mittelstandsgesellschaft (Schelsky). Und für die Stadt- und Landschaftsplaner, allesamt wohl eher dem bildungsbürgerlichen Lager zuzurechnen, stellte sich die bange (freilich sich im Grunde selbst beantwortende) Frage: wie lassen sich (bildungs-) bürgerliche Verhaltensstandards im öffentlichen Raum retten und aufrechterhalten in einer immer weniger bürgerlich geprägten Gesellschaft? ‚Uneigentliches’ Besuchsverhalten in historischen Parks Welchen Wert und welche Funktion historische Gärten haben sollten und welche speziellen Verhaltenserwartungen daraus resultieren (vgl. Tessin 2002b), das ist für die Vertreter der Gartendenkmalpflege relativ klar. Es handelt sich um Denkmale der Gartenkunst und entsprechend schonend ist mit ihnen umzugehen. Das Ideal-Bild der Gartendenkmalpflege vom richtigen und angemessenen Verhalten läuft auf ein primär ästhetisch-kontemplatives Besuchsverhalten hinaus: man schaut sich in erster Linie das Denkmal an, ehrfurchtsvoll, nachdenklich, neugierig, kenntnisreich, innerlich anteilnehmend, unabgelenkt, ganz im Sinne der Vorstellung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Park solle den Besucher „bilden, belehren und veredeln, ihn sittlich und ästhetisch erziehen“ (Wiegand o.J.: 16). Der Parkbesuch wäre danach eine Art Bildungs- und Kulturveranstaltung, einem Museumsbesuch nicht unähnlich. Dieses (hier nur etwas überzeichnete) Ideal der Gartendenkmalpflege vom ästhetisch-kontemplativen, empfindsamen Parkbesucher wird - ex negativo - sichtbar, wenn man z.B. in einer Kritik des massentouristischen Parkbesuchs liest: „Das sich am stärksten negativ auswirkende Ergebnis dieser Veränderungen ist aber, daß die Masse von Menschen an Wochenenden durch ihre Ansammlung selbst sie nicht den Eindruck erkennen läßt, den die Wörlitzer Anlagen als künstlich und künstlerisch gestaltete Natur erzeugen wollen bzw. sollen. Die einmaligen Gärten sind wunderschön, wenn man sie so erleben kann, wie sie gedacht sind: als ruhiger Ort der Zurückgezogenheit, welcher Stimmun157
gen anregen soll, wo Landschaft und Natur oder Tages- und Jahreszeiten zu erleben sind. Man soll sich hier bilden können und die Nützlichkeit des Schönen spüren (...). Die Natur mit ihren Vogelstimmen ist im Lärm der Besucher nicht zu hören, der Duft der Blüten und des frischen oder trocknenden Grases zwischen schwitzenden oder parfümierten Gästen nicht zu riechen. Der Spaziergänger blickt zu Boden, um dem Vordermann nicht auf die Füße zu treten. (...).“ (Trauzettel 1997: 63) Und an anderer Stelle heißt es weiter: „Viele Besucher haben heute andere Erwartungen an die Nutzung eines historischen Gartens. Mancher reist mit dem Eindruck des Berliner Tiergartens oder des Münchener Englischen Gartens und der Vorstellung in Wörlitz an, mit seinem Fahrrad die Anlagen zu durchstreifen oder vor einem Sonnenbad auf einer Wiese sein Picknick zu genießen.“ (ebenda: 65) Was in ‚normalen’ Parkanlagen (so ‚normal’ sind die genannten Parks ja nun auch wieder nicht) üblich ist, wird hier also ganz dezidiert als für historische Gärten (zumal Wörlitz) unangemessenes Verhalten angesehen, weil dann nicht mehr die Idee, die Einmaligkeit der Anlage erlebbar sei. Das Publikum würde im historischen Garten alles Mögliche tun, auch durchaus das, was in Parks sonst so üblich geworden ist wie Grillen, Federballspielen, auf dem Rasen lagern usf., nur eben nicht ,das Wesen’ des Parks als einem Kunstwerk oder Denkmal erfahren. Abgelenkt durch das Drücken der Schuhe, von der Sehnsucht nach einer Tasse Kaffee getrieben, verstrickt in den Tratsch und Klatsch eines Spazierganges, gelangweilt den Ausführungen einer Parkführung folgend, Kind und Hund beaufsichtigend, sich ‚voll konzentriert’ der Sonnenbräunung hingebend usf., wäre es weder willens noch dazu in der Lage, auch nur den Hauch, geschweige denn die Quintessenz der Gartenbotschaft zu erfahren. Nichts als seichtes Wohlbehagen: der Park als hübsche, beiläufig wahrgenommene Kulisse. Das Verhalten ist u.U. durchaus korrekt (in Übereinstimmung mit der Parkordnung), nur eben (aus Sicht der Gartendenkmalpflege) ‚am Thema vorbei’, uneigentlich, dem ‚eigentlichen Zweck’ eines historischen Gartens entfremdet - über ‚Gestalt und Geschehen’ Entsprechende Untersuchungsergebnisse (Tessin, Widmer, WolschkeBulmahn 2001) waren - erwartungsgemäß - parkspezifisch recht unterschiedlich, aber insgesamt stützen sie tatsächlich die These, dass ein Großteil, oft die Mehrheit der Besucher den historischen Park nicht als Gartendenkmal sieht, sondern ihn - gleichsam ‚uneigentlich’ - als bloße, wenn auch durchaus als sehenswerte Grünfläche wahrnimmt und entsprechend nutzt. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass in vielen historischen Parks die weit überwiegende Mehrheit der Besucher mehr oder weniger regelmäßig den Park aufsucht. Die Parks fungieren hier für die allermeisten 158
Besucher als quasi alltäglich nutzbarer Freiraum. Historische Gärten wie der Wörlitzer Park (mit einem Anteil von 40% an Erstbesuchern) dagegen sind noch deutlich mehr ‚klassische’ Besichtigungsparks. Mit der Veralltäglichung des Parkbesuchs in vielen historischen Gärten geht dieses Besichtigungsmotiv verständlicherweise verloren. Der Park büßt seine Besonderheit ein und wird immer mehr zu einer gewöhnlichen Kulisse, der man keine besondere Beachtung mehr schenkt. Das Parkverhalten wird damit (im Sinne der Gartendenkmalpflege) ‚uneigentlich’, dem Denkmalzweck entfremdet. Die Verbreitung ‚uneigentlichen’ Parkverhaltens resultiert auch aus dem nur begrenzt vorhandenen Interesse und Kenntnisstand der Besucher an und über die Geschichte der Gartenkunst. Zwar erkannten fast alle Befragten die jeweiligen Parkanlage als „Sehenswürdigkeit“ an und ihre „besonderen Qualitäten“, aber die allerwenigsten von ihnen begründeten dies explizit mit gartenkünstlerischen und/oder gartenhistorischen Argumenten (vgl. hierzu schon Jordan 1972). Offenbar greift hier, was in Kap. 8.4 unter dem Begriff ‚Verlust an Zweidimensionalität’ diskutiert wurde: die Besucher städtischer Freiräume, selbst historischer Gärten sind mehrheitlich immer weniger willens und/oder in der Lage, sich mit dem Gesehenen länger und vertiefter gedanklich auseinander zu setzen und schon gar nicht, sich jene Kenntnisse und Sichtweisen anzueignen und beim Besuch zu aktivieren, die nach Meinung der Gartendenkmalpflege angemessen wären. Das Verhalten der Besucher historischer Gärten entspricht allenfalls in reinen Besichtigungsgärten (z.B. Wörlitz, Großer Garten Hannover-Herrenhausen) noch dem (dem Museumsbesuch abgeschauten) Idealbild des Parkbesuchs, wie ihn sich einige Gartendenkmalpfleger im Grunde erträumen. Selbst dort sind dezidiertes gartenhistorisches Interesse, konkrete Geschichtskenntnisse über den Park und ein ausgeprägtes Besichtigungsverhalten nicht oder nur knapp mehrheitliches Verhalten. Allerdings kommt das Verhalten dort in Gestalt eines ruhigen, ästhetisch-kontemplativ ausgerichteten Spaziergangs (äußerlich betrachtet) dem Idealbild doch noch recht nahe. So weit das erste Beispiel. ‚Uneigentlichkeit’ im urbanen öffentlichen Raum Berühmt geworden (vgl. zum folgenden Tessin 2003) sind die Ausführungen von H.P. Bahrdt, einem Stadtsoziologen, aus den 1960er Jahren über das Verhalten in der Öffentlichkeit, insbesondere über die wechselseitige Kontaktaufnahme. Er spricht in seinem Buch „Die moderne Großstadt“ von unvollständiger Integration und meint damit (wie schon in Kap. 3 ausgeführt wurde), dass die Menschen dort, wo keiner keinen kennt, frei sind in ihrer wechselseitigen Kontaktaufnahme, aber auch frei sind in dem, was sie dem unbekannten Gegenüber preisgeben von ihrer Person mit der Folge, dass nur ein kleiner, zufälliger, oder aber genau kalkulierter Ausschnitt der Persön159
lichkeit sichtbar wird. Der Gegenüber weiß nicht, dass man Abteilungsleiter ist, drei Kinder hat, die aber bei der geschiedenen Frau leben, aber er lernt einen als ‚charmanten Typ’ kennen (weil man sich so gibt). Bahrdt (1969: 63ff) führt dann detailliert aus, wie die Passanten in Kontakt treten und welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind. Die doppelte Aufgabe sei es, einerseits zu verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt vorenthalten werden soll, andererseits ihr alles das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zu zeigen, damit auch im flüchtigen Kontakt ein Arrangement gelingt. Bahrdt weist in diesem Zusammenhang auf das sog. darstellende Verhalten hin, das diese doppelte Aufgabe lösen soll und spricht dabei von einem „raffinierten Spiel“, von „Virtuosität“, einem Habitus, der einem Dörfler „in der Tat als exaltiert erscheinen“ könnte (ebenda: 67f). Man denke etwa an die Grafik von Paul Klee über jene beiden Männer, die sich begegnen und sich dabei wechselseitig in höherer Position wähnen und sich in ihrer ‚Bücklings-Haltung’ wechselseitig überbieten: darstellendes Verhalten pur! Bahrdts Anliegen läuft darauf hinaus, diesen Prozess der Kontaktaufnahme in der öffentlichen Sphäre zu analysieren und die positive Kulturleistung der Stadt darin zu sehen, dass die Großstädter gelernt hätten, eben unter den Bedingungen der Anonymität flüchtige Kontakte mit Fremden herzustellen. Bahrdt untersucht nicht, wie häufig und unter welchen Bedingungen das passiert, und schon gar nicht behauptet er, dass diese Art der Interaktion und Kommunikation der Zweck des Aufsuchens des öffentlichen Bereichs der Stadt sei. Kurzum: über die Bedeutung dieser Art Kontaktaufnahme in der Öffentlichkeit wird bei Bahrdt im Grunde nichts ausgesagt. Er sagt nur etwas darüber, wie so etwas abläuft, wenn es denn geschieht. Dennoch suggeriert seine ausschließliche Behandlung dieser Art von Kontaktaufnahme und Interaktion in der öffentlichen Sphäre unter den Bedingungen unvollständiger Integration (kein anderes Verhalten wird von ihm thematisiert), dass dieser Interaktion eine sehr große Bedeutung zukäme so, als handele es sich dabei um das ‚Eigentliche’ des Verhaltens in der Öffentlichkeit, wozu auch seine Ausgangsvorstellung vom Markt als der Urform von Öffentlichkeit beiträgt, wo es tatsächlich (und fast ausschließlich) um die Kontaktaufnahme zwischen Händler und Kunden geht, übersehend, dass der Markt (zumindest heute) eher einen Sonder- denn den Normalfall von Öffentlichkeit darstellt. Man wird sicherlich nicht bestreiten können, dass es sich bei der Kontaktaufnahme zwischen Fremden um eine Verhaltenskonstellation handelt, die so nur im öffentlichen Raum gegeben ist. Tatsächlich ist aber wohl davon auszugehen, dass die verbale Kontaktaufnahme in der großstädtischen Öffentlichkeit, also unter Fremden, das unwahrscheinlichste und seltenste Verhalten in der Öffentlichkeit überhaupt ist. Es ist nicht klar, ob Menschen, die öffent160
liche Freiräume aufsuchen, damit das Interesse verfolgen, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Nohl (1977: 16ff) hatte seinerzeit das Befragungsergebnis, dass nur sehr wenige Interviewte ein solches Motiv für ihren Parkbesuch als wichtig angaben, dahingehend interpretiert, dass dieses Motiv sozusagen trotzdem relevant sei, weil es zwar nicht zentrales Motiv des Aufenthaltes im öffentlichen Freiraum sei, wohl aber sozusagen willkommene Begleiterscheinung. Thum (1980: 123) referiert Untersuchungen, wonach zumindest im Park bei rund 70% der Besucher eine hohe Kontaktbereitschaft bestünde, schreibt dann aber mit Blick auf andere Untersuchungen, dass „im Park (...) fast überhaupt keine neuen Kontakte geknüpft (werden).“ (Thum 1980: 126) Eigene, bisher unveröffentlichte Untersuchungen in Bezug auf das Kontakt- und Kommunikationsverhalten auf Stadtteilplätzen, legen demgegenüber zwar nahe, dass eine solche Kontaktaufnahme (zumindest dort) mit Personen, die man nicht persönlich kennt, durchaus stattfindet, wenn fast 70% der Befragten meinten, dies käme bei ihnen hin und wieder oder gar öfter vor, aber aus der Untersuchung war nicht zu entnehmen, dass diesen Kontakten von den Befragten eine besondere Bedeutung zugeschrieben würde. In seiner Kritik an Bahrdts Buch „Die moderne Großstadt“ hat schon Schmidt-Relenberg (1968) angemerkt, dass Bahrdt nicht deutlich trennen würde zwischen Bereich und Verhalten. Es sei in der Öffentlichkeit durchaus auch ‚privates’ Verhalten möglich und er (Schmidt-Relenberg) verwies seinerzeit auf das Liebespaar im Park. Bezeichnend ist die Bahrdtsche Antwort: „Selbstverständlich (sei) privates Verhalten in einem ‚öffentlichen Bereich’ (Liebespaar im Park) nicht nur möglich, sondern (...) in bestimmten Fällen wahrscheinlich.“ (Bahrdt 1969: 62f) Diese Antwort kann aber doch wohl nur so verstanden werden, dass Bahrdt privates Verhalten im öffentlichen Bereich, das von ihm leider in diesem Zusammenhang nicht klar definiert wird, lediglich ‚in bestimmten Fällen’, also nicht als Regel, für wahrscheinlich hält. In gar keinem Fall dürfte er es für das ‚eigentliche’ Verhalten in der Öffentlichkeit gehalten haben. Tatsächlich ist jedoch genau dieser Verhaltenstyp der in der Öffentlichkeit vorherrschende. Verhalten im öffentlichen Raum ist in erster Linie - überspitzt gesagt - Fortsetzung ‚privaten’ Verhaltens unter besonderen (teils erschwerten, teils erleichterten) Bedingungen: Man unterhält sich mit seinen Freunden und Bekannten, mit seinem Lebenspartner, liest ein Buch, führt seinen Hund aus, isst einen Apfel, sonnt sich, hört Musik, sitzt herum, geht spazieren, telefoniert mit seinem Handy oder spielt mit seinem i-Pad, hetzt zur Straßenbahnhaltestelle, ja, betrachtet das Treiben der Leute auf dem Platz oder im Park - aber eben ‚für sich’, ohne jeglichen Kontaktwunsch. Ja, mehr noch, man sieht sich geradezu gezwungen, uninteressiert und gelangweilt (blasiert) umher zu schauen. Jeder gezielte oder gar ‚neugierige’ Blick in der Öffentlichkeit wird (von bestimmten Situationen abgesehen) als ein unstatt161
haftes Eindringen in die Privatsphäre des Anderen angesehen. Die Verhaltensnorm in der Öffentlichkeit ist gerade nicht das Anreden, nicht das Ansehen, sondern das Weg-Hören und Aneinander-Vorbeischauen. Die verbale oder nonverbale Kontaktaufnahme unter sich Fremden in der Öffentlichkeit ist also insgesamt nicht die Regel, sondern absolute Ausnahme. Und es bedarf ganz besonderer Anlässe, gleichsam ‚Störungen des Normalbetriebs’ der Öffentlichkeit, damit das passiert, was Bahrdt und die ‚Urbanisten’ für das ‚eigentliche’ Verhalten in der Öffentlichkeit ansehen: wechselseitige verbale und/oder nonverbale Kontaktaufnahme. Eine kleine Recherche, die in Hannover am Bahnhofsvorplatz u.a. auch unter dieser Perspektive durchgeführt wurde (vgl. v. Seggern, Tessin in: Riege, Schubert, Hg., 2002), hat nachdrücklich diese Argumentation bestätigt: Verbale und nonverbale Kontaktaufnahme erfolgte mehr oder weniger (wenn auch dann meist sehr bereitwillig) nur bei gegebenem Anlass, quasi als von der Norm ‚abweichendes’, legitimierungsbedürftiges Verhalten: x wenn jemand hilfe- und/oder auskunftsbedürftig erscheint, x er sich in irgendeiner Weise exponiert, d.h. abweicht (Kleidung, Betteln, Straßenmusikant etc.), x sich ein ‚Zwischenfall’ ereignet (Unfall, Polizei etc.), x Hunde und/oder Kinder ‚Anlässe’ bieten, x bei (ungewöhnlichen) räumlichen ‚Engpässen’ (auf einer Bank etwa) oder x wenn bestimmte Gestaltungsmaßnahmen ‚Neugier’ oder ‚Meinungsaustausch’ rechtfertigen usf. Vor diesem Hintergrund ist es schon erstaunlich, wie die ‚urbanistischen’ Ideologien gerade die Kontaktaufnahme mit und die zwischenmenschliche Kommunikation unter Fremden als ‚eigentlichen’ Verhaltenstypus in der Öffentlichkeit derart privilegieren und propagieren, obwohl es doch eher der unübliche Verhaltensmodus ist, nicht nur was seine tatsächliche Häufigkeit, sondern gerade auch was seine normative Legitimität anbetrifft. Die Kontaktaufnahme in der Öffentlichkeit (verbal wie nonverbal) ist ja sehr subtil (vgl. Goffman 1971) und im Ganzen eher restriktiv - fast als Ausnahme - geregelt. Mittlerweile ist zwar vielleicht nicht schon der Flirtversuch, in jedem Fall aber die ‚Anmache’ im öffentlichen Freiraum als unerwünschtes Eindringen in die (weibliche) Privatsphäre vollkommen zu Recht tabuisiert, handelte es sich dabei doch um eine Benachteiligung der Frau in Bezug auf die Wahrung ihrer Privatsphäre in der Öffentlichkeit. ‚Bitte nicht stören’ bzw. ‚in Ruhe lassen’ ist (wie immer) erste Bürgerpflicht im öffentlichen Raum und gerade nicht Ansprache und Kontaktaufnahme (wie es die Urbanisten gerne sähen)! Bleibt die Frage, was die Gartendenkmalpfleger oder ‚urbanistischen’ Stadtplaner dazu veranlasst, contrafaktisch das jeweilige Ausnahmeverhalten zum ‚eigentlichen’ Verhalten hoch zu stilisieren und das ‚übliche’ (sozusagen 162
volkseigene) Verhalten so gering zu achten und als ‚uneigentlich’ abzuqualifizieren. Hier dürfte eine bildungsbürgerliche Kulturkritik am Werke sein, die sich stets darin zeigt, „dass Vergangenheiten, die je nach Geschmack vom Biedermeier bis zu den Pelasgern reichen, als Zeitalter anwesenden Sinnes figurieren, getreu der Neigung, auch politisch und sozial die Uhr zurückzustellen“ (Adorno 1964: 33). Bei den Gartendenkmalpflegern figuriert das ausgehende 19. Jahrhundert in seiner noch feudalistisch-bürgerlichen Variante als Maßstab für ‚Eigentlichkeit’ im (historischen) Garten, bei den ‚urbanistischen Stadtplanern’ irgendein ideologisches Konstrukt zwischen Agora, mittelalterlicher Stadt und biedermeierlichem Residenzstädtchen oder - zeit-, aber nicht realitätsnäher die italienische Piazza (Karrer 1995). In jedem Fall figuriert eine Zeit bzw. Situation als Referenzpunkt, in der man in einer noch überschaubaren Öffentlichkeit (zumal als ‚Bürger’ = Notar, Apotheker, Fabrikbesitzer, Lehrer, Arzt) einem (Groß-) Teil der Anwesenden bekannt war (vom Sehen, vom Namen, vom Status her) und deshalb als ‚Bekannter’ agierte und wie selbstverständlich mit irgendwem ins Gespräch kam, ja vermutlich geradezu die Pflicht bestand, es zu tun. Im Unterschied zu heute, wo man (auch als Fabrikbesitzer) als absoluter ‚Nobody’ und ‚Anonymus’ in einer großstädtischen Öffentlichkeit untertaucht, in der niemand irgendwen (vom Sehen, vom Namen, vom Status her) kennt, und wo weder die Pflicht noch - normalerweise - der geringste Anlass besteht, mit irgendwem (da unbekannt) in Kontakt zu treten. Bahrdt hat seine These von der subtilen Art der Kontaktaufnahme in der anonymen Öffentlichkeit bekanntlich ganz bewusst gegen den damaligen Zeitgeist der bürgerlichen Großstadtkritik und der Vermassungs-These geschrieben. Er wollte zeigen, dass das mit der Anonymität gar nicht so schlimm sei, ein Stück, ein letzter Rest traditioneller ‚bürgerlich-kommunikativer Öffentlichkeit’ sei gar nicht verloren gegangen. Deshalb auch seine etwas übertrieben klingenden, aber die Werteskala bürgerlicher Kreise genau ansprechenden Formulierungen wie „raffiniertes Spiel“ und „Virtuosität“ zur Beschreibung der Kontaktaufnahme. Bei diesem ideologischen Tröstungsversuch hat er, was die Bedeutung dieser Kontaktaufnahme anbetrifft, (wie gezeigt) ein bisschen geflunkert bzw. sich so unbestimmt ausgedrückt, das nun die ‚urbanistischen’ Stadtplaner glauben konnten, in diesen Resten und Ruinen ‚bürgerlich-kommunikativer Öffentlichkeit’ stecke nach wie vor der ‚eigentliche Wesenskern’ der großstädtischen Öffentlichkeit. Nichts ist dagegen einzuwenden, (sozusagen trotz allem) wieder ein mehr innerlich-kontemplatives Besuchsverhalten in historischen Gärten und ein extrovertiert-kommunikatives Verhalten im (sonstigen) öffentlichen Freiraum zu fördern. Problematisch, d.h. gleichermaßen realitätsfern wie ideologisch, wird es erst dann, wenn diese beiden Verhaltensmodi jeweils - im Grunde be163
reits versinkendes Kulturgut - als das ‚Eigentliche’ hochstilisiert und die anderen, üblicheren Verhaltensweisen gleichsam als defiziente Verhaltensmodi oder gar kulturelle Fehlleistungen der ‚Masse’ ideologisch abgewertet werden. In jedem Fall sollten sich die Planer immer selbstkritisch die Frage stellen, ob das, was sie aus ihrer speziellen professionellen oder ‚akademischen’ Sicht für ‚eigentlich’ halten und propagieren, von der Bevölkerung geteilt wird oder nicht. Aber diese Kritik der Planer an bestimmten baulichräumlichen Zuständen und/oder Verhaltensweisen der Menschen hat, wie noch in Kap. 10 zu zeigen sein wird, Methode: denn alles, was - aus welchen Gründen auch immer - (gemessen an einem Ideal oder besser: an purer Ideologie) nicht optimal ist, kann verbessert werden. Und für Verbesserungen aller Art sind berufsmäßig Planer zuständig. Ein anderes Beispiel eines solchermaßen aus beruflichen Interessen heraus ideologisch aufgeladenen Begriffes ist jener der ‚Aneignung’, der zumindest in 1970er und 80er Jahren ein Lieblingswort von Planern war.
9.3
‚Aneignung’ als Ideal der Freiraumnutzung?
Freiräume, zumal Grünflächen in der Stadt werden in der Bevölkerung hoch geschätzt, das zeigen alle Umfragen. Aber es irritiert dann doch bisweilen, wie anspruchslos diese Wertschätzung des Grüns ist: wenn es nur grün ist! Die große Mehrheit der Bevölkerung scheint vom Grün zunächst einmal nichts Anderes zu wollen, als dass es da und eben grün ist. Das Freiraumverhalten ist oft reduziert und bleibt weit hinter dem zurück, was freiraumkulturell an sich möglich wäre, sowohl was die Häufigkeit als auch was das Repertoire der ausgeübten Aktivitäten anbelangt. Besondere Gestaltungsaspekte von Parkanlagen werden meist nur beiläufig zur Kenntnis genommen, es sei denn, sie widersprächen konventionellen ästhetischen Klischees (dann freilich schaut man lieber weg). Ein besonderes Interesse an Pflanzen und Tieren ist - mehrheitlich - nicht erkennbar. Ausstattungselemente wie Sandkästen, Tischtennisplatten, Stehschachanlagen bleiben oft ungenutzt - desgleichen Grillecken, Sitzecken im Innenhof. Stadtplätze kümmern dahin, belebt allenfalls durch eine gesellschaftlich ausgegrenzte Kioskklientel. Wenn hier auch überzeichnet und wie auch immer tatsächlich genutzt, klar ist: es ließe sich (aus freiraumplanerischer Sicht) eine immer noch intensivere, noch breitere, noch abwechslungsreichere, noch sensiblere, noch kommunikativere Nutzung der Freiräume vorstellen. Diesen Vorgang, in dem sich der Mensch seiner Umwelt zuwendet und sich mit ihr - wie auch immer auseinandersetzt, sie benutzt, bezeichnet man als Aneignungsprozess. Menschen eignen sich - wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß ihre Umwelt an, sie machen sie sich zu Eigen bis hin zu dem Punkt, wo sie 164
sich mit bestimmten Aspekten ihrer Umwelt identifizieren und von ‚ihrem’ Zimmer, ‚ihrem’ Stadtviertel, ‚ihrem’ Garten sprechen. Dieser räumliche Aneignungsprozess (vgl. hierzu ausführlicher Chombart de Lauwe 1977; Obermaier 1980) läuft auf den verschiedensten Ebenen ab (vgl. hierzu Graumann 1990: 126), muss dabei aber nicht alle Ebenen erfassen und tut es in aller Regel auch nicht: x wahrnehmen, x erkunden mit Hilfe der Sinne, x praktisch nutzen (in Gebrauch nehmen), x sich geistig mit dem Objekt beschäftigen (sich vorstellen, sich erinnern), x emotionale Beziehungen aufbauen (affektiv besetzen), x eigene Spuren hinterlassen durch Zeichen, Verteilen persönlicher Dinge im Raum, Umgestalten, Souvenirs mitnehmen (Photos, Steine etc.) x schließlich rechtlich-materielle Inbesitznahme durch Erwerb, Einfriedung, durch Vertreibung anderer, aber auch sprachliche Zu-EigenMachung (davon sprechen, ‚mein’ sagen) im Sinne eines Territoriums, das man anderen gegenüber abgrenzt und gegebenenfalls verteidigt. „Aneignung enthält gegenüber der ‚Benutzung’ eine produktive und kreative Komponente, nämlich die aktive Anwendung instrumenteller, kognitiver und emotionaler Fähigkeiten, die zum ‚Begreifen’ natürlicher und sozialer Umwelt eingesetzt werden.“ (Obermaier 1980: 7) Aneignung des Raumes ist, so Chombart de Lauwe, das „Resultat der Möglichkeiten, sich im Raum frei bewegen, sich entspannen, ihn besitzen, etwas empfinden, bewundern, träumen, etwas kennenlernen, etwas den eigenen Wünschen, Ansprüchen, Erwartungen und konkreten Vorstellungen gemäßes tun und hervorbringen zu können.“ (Chombart de Lauwe 1977: 6) Es gibt demgegenüber eine Position, die mit dem Aneignungsbegriff in Bezug auf die Umwelt nicht viel anfangen kann. Gesagt wird, dass im Grunde „jede liebevolle Zuwendung zu den Gegenständen, jede affektive Befriedigung an der Umwelt als ‘Fetischismus’, d.h. als unzulässige Verschiebung menschlicher Liebesbeziehungen auf den Umgang mit Gegenständen anzusehen sei.“ (Lorenzer 1971: 55f) Hingewiesen wird dann meist zum einen auf Stammlokale und Stammtische, Lokalpatriotismus, Heimatverbände, Gartenzwerge, Gartenzäune, Autoaufkleber, Nippes in Wohnzimmern, Graffiti, alles - vermeintlich - etwas peinliche Formen der Aneignung, zum anderen wird verwiesen auf die (vermeintliche) Unzeitgemäßheit einer allzu intensiven Aneignung von Umwelt. Eine solche Identifikation sei für die Agrargesellschaft typisch und nachvollziehbar, wo die Menschen ihr Leben lang an einem Ort lebten. In der mobilen 165
Gesellschaft von heute sei eine allzu starke Bindung an Orte dysfunktional. Typisch und zeitgemäß sei vielmehr ein „Stil oberflächlicher Objektbeziehungen“ (Mitscherlich 1976: 129). Man ließe sich gerade nicht mehr allzu sehr auf Dinge und Orte ein, man orientiere sich zunehmend überlokal (Oswald 1966). Dieser Argumentation ist schon früh entgegengehalten worden, ob die damit implizit angesprochene ‚mobile Gesellschaft’ nicht auch nur ein Mythos, eine Ideologie sei, mit der die „Unfähigkeit unserer Gesellschaft, ihren Mitgliedern an ihren Wohnorten, den Orten ihrer Wahl, objektiv humane und befriedigende Existenzbedingungen zu schaffen“ (Lenz-Romeiss 1970: 23), verschleiert werde. Und die Autorin plädiert zwar nicht für eine lebenszeitliche Immobilität, sondern dafür, dass auch dem mobilen Menschen Städte geschaffen werden, die „in ihrer Individualität wenigstens Chancen offen lassen, eine Beziehung zu ihnen zu entwickeln“ (ebd.: 24), das bis hin zu einem Gefühl der ‚Heimat’ reichen kann, zur einer Art von räumlicher ‚Identifikation’. Diese damalige Debatte um die Bedeutung des Raumes, ausgelöst durch die Massenautomobilisierung und die Verbreitung des Fernsehens in den 1960er Jahren, hat sich in den letzten Jahren wieder neu belebt. Im Zuge des Globalisierungsprozesses und der weltweiten elektronischen Vernetzung wird wiederum der Tendenz zur ‚Enträumlichung der sozialen Bezüge’ das Wort geredet. Der konkrete Raum ‚vor Ort’ werde zunehmend bedeutungslos gegenüber dem virtuellen Raum, der sich im Internet konstituiere. Die Erfahrungen mit den bisherigen Medien (Schallplatte, CD, Photographie, Film und Fernsehen etc.) haben allerdings eher gezeigt, dass das Interesse am ‚Echtraum’, am Live-Erlebnis nicht gesunken, sondern eher gestiegen ist. Die CD-Platte ersetzt eben nicht das Live-Konzert, der FlorenzBildband nicht den Stadtbesuch, der Chat im Internet nicht den Kneipenbesuch mit Freunden. „Das fotografierte Bild und die auf die Platte gebannte Aufführung ermöglichen höchstens eine Ahnung davon, was zu erfahren wäre. Die sinnliche Unmittelbarkeit lässt sich nicht technisch vermitteln. Sogar die vollkommenste Wiedergabe bleibt notwendig hinter dem Original zurück, denn Originale sind per definitionem nicht zu vervielfältigen. Die dazwischentretende Technik stört die Intensität des ursprünglich sinnlichen Kontaktes. (...) Die Surrogatwirkung dessen, was nur aus der Reproduktion bekannt ist, enthüllt sich schlagartig bei jeder echten Konfrontation mit einem Bild und jedem körperlich ergreifenden Aufführungserlebnis.“ (Bubner 1989: 61) 166
Der These einer restlosen Virtualisierung der Raumbezüge wird denn auch mehrheitlich widersprochen, wenn etwa Matthiesen (1998) oder Berking (1998) davon ausgehen, dass die ‚enträumlichten’ sozialen Beziehungen im Internet keinesfalls die räumlich gebundenen Interaktionen ‚vor Ort’ ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. In Planer- und Soziologenkreisen wird bzw. wurde also gern unterstellt oder wie selbstverständlich angenommen, es gäbe auf Seiten der Nutzer ein solches Aneignungsinteresse, das über die bloße ‚Benutzung’ deutlich hinausgehe. Es scheint „sinnvoll und realistisch, den Benutzer als eine mit physischen und psychischen Bedürfnissen ausgestattete Person zu konzipieren, die intentional handelt und sich in einer aktiven Rolle gegenüber ihrer Umwelt verhalten möchte: als Person, die sich die physische und soziale Umwelt ‚aneignen’ möchte.“ (Obermaier 1980: 7) Und an anderer Stelle: „Die Möglichkeit, Umwelt den eigenen Wünschen entsprechend zu nutzen und zu gestalten, kann als grundlegendes Bedürfnis von Personen gewertet werden, (...).“ (ebenda: 7f) Dem wird hier auch nicht grundsätzlich widersprochen, nur ist relativierend folgendes zu fragen: x Bezieht sich dieses Aneignungsbedürfnis notwendigerweise auf die gesamte physische wie soziale Umwelt oder ist es nicht doch hochgradig selektiv z.B. in unserer auf dem Primat des Privateigentums beruhenden Gesellschaft beschränkt auf Dinge, die einem gehören bzw. auf Dinge, die einem was bedeuten (aus welchen Gründen auch immer)? x Zielt Aneignung letztlich wirklich immer auf materielle Verfügungsgewalt über die Umwelt und sind alle vorgelagerten Aneignungsformen der emotionalen Zuwendung, des kognitiven Interesses, der ‚bloßen’ Nutzung gleichsam zweitrangiger Natur, letztlich ‚unbefriedigend’? x In der Maslow’schen Typologie der Grundbedürfnisse (vgl. Kap. 4) taucht ein Aneignungsbedürfnis gegenüber der Umwelt nicht explizit auf. Ist der Wunsch, sich die Umwelt anzueignen, also mehr nur eine bestimmte Art, die Grundbedürfnisse nach Selbstverwirklichung, nach Achtung und Respekt, nach Zuneigung und Zugehörigkeit, nach Sicherheit zu befriedigen? Und würde das bedeuten, es gäbe (und müsste geben) ganz unterschiedliche Formen und Grade des Aneignungsinteresses je nach dem zugrundeliegenden Grundbedürfnis? x Gibt es auch eine Art von räumlicher Aneignung, die gar nicht gewollt ist, also keinem entsprechenden Wunsch oder Bedürfnis entspringt, sondern sich gleichsam ‚von selbst’ einstellt als quasi zwangsläufige, un167
vermeidliche Folge eines häufigen oder langen Aufenthalts an irgendeinem Ort? x Wie hätte eine Umwelt auszusehen, die sich die Menschen aneignen, mit der sie sich vielleicht sogar identifizieren könnten? Hätte sie was zu tun mit der Gestaltungsqualität, dem vielzitierten ‚humanen Maßstab’ oder dem ‚defensible space’ (Kap. 1), mit einer Gestaltung, in der sich der sog. Volksgeschmack wiederfindet, mit der „Fähigkeit, den objektiven Raum in Übereinstimmung mit dem subjektiven, dem vorgestellten Raum zu bringen, was den Eindruck einer kognitiven Vertrautheit ermöglicht.“ (Chombart de Lauwe 1977: 3; vgl. Hubbard 1983 und sein Votum für eine konventionelle Architektur), oder hat räumliche Aneignung fast nichts mit der konkreten Architektur zu tun? Ist alles eine Frage von Zeit, Gewohnheit und individueller Verfügungsgewalt? Eingangs wurde der Begriff des ‚uneigentlichen’ Verhaltens ein- und ausgeführt, dass in Teilen der Planungs- und Architekturszene die Tendenz bestehe, an das Verhalten der Menschen sehr hohe Erwartungen zu knüpfen, etwa in Bezug auf das Verhalten in historischen Gärten oder in Bezug auf ein erwünschtes ‚urbanistisch-kommunikatives’ Verhalten auf den Straßen und Plätzen. Das, was die Planer sich an Verhalten erträumen, das sollen die Leute gefälligst einlösen. Die Verwendung des Begriffes der ‚Aneignung’ im Planerjargon beinhaltet latent auch den Vorwurf des ‚uneigentlichen Verhaltens’ dann nämlich, wenn die Menschen sich bestimmte Freiräume eben nicht oder nicht so intensiv aneignen, wie es die Planer gern sähen, so als bestünde gleichsam Aneignungs-Pflicht, so als sei es eine unverzeihliche Sünde, sich den von Planerhand geschaffenen Ort nicht anzueignen. Tatsächlich ist die ‚bloße’ Benutzung eines Freiraumes die Verhaltensregel, die ‚Aneignung’ (in einem anspruchsvolleren Sinne) eher die Ausnahme, und sie muss es sein aufgrund der Überfülle an Dingen, die potenziell kognitiv-emotional aneignungsfähig sind, und der Tatsache, dass man über 99% der städtischen Umwelt und seiner Freiräume als Privatmensch materiell nicht (selbstbestimmt) verfügen kann. Private Gärten gehören sicherlich zu jenen Freiräumen, die - aufgrund der privaten Verfügungsmacht - noch den höchsten Grad persönlicher Aneignung und Identifikation gestatten und auch tatsächlich aufweisen. Für mehr als die Hälfte der Gartenbesitzer ist ihr Garten ein wesentlicher Bestandteil ihrer Lebensqualität (Burda 1986: 7); fast 60% können sich nicht vorstellen, auf ihren Garten zu verzichten (Burda 1993: 28). Eigene Umfragen in Hannover ergaben, dass fast zwei Dritteln der Befragten der Garten „sehr wichtig“ ist (Tessin 1994: 121). Hamburger Kleingärtner bezeichneten zu 50% den Garten als ihr „ein und alles“ und verbringen - nach eigenen Aussagen - „fast die gesamte Freizeit“ in ihrem Garten (Andreä u.a. 1994: 12). Für rund 20-30% aller Gartenbesitzer ist der Garten ihr „liebstes Hobby“ (Burda 1991). All das 168
spricht für einen relativ hohen Aneignungs- und Identifikationsgrad in Bezug auf den Garten. Ähnliches gilt für öffentliche Freiräume oder Freiräume in Wohnsiedlungen natürlich nicht: hier setzen etwa die Eigentumsverhältnisse der Aneignung ziemlich rigide Grenzen (vgl. hierzu Chombart de Lauwe 1977). Aber auch hier gibt es Aneignungsformen, die sich ausdrücken in intensiverer Nutzung, in Regelmäßigkeiten der Nutzung, in Stammplätzen auf Bänken im Park, in Zurechtweisungen von Kindern, die sich im Wohnumfeld ungebührlich aufführen, in heimlichen Pflanzaktionen im Eingangsbereich des Hauses, in einer Unterschriftenaktion. Aber auch ganz einfach in Zurkenntnisnahme, in dem Wohlbehagen, mit sich und der (Um-) Welt in eins zu sein. Im Rahmen der (bislang unveröffentlichten) Untersuchung zum (umgestalteten) Landschaftsraum am Kronsberg, am südöstlichen Stadtrand von Hannover, wurde den Bewohnern der umliegenden Stadtteile und den Besuchern u.a. auch die folgende Frage gestellt: „Mal eine Pflanze genauer anschauen, sich still verhalten um ein Tier zu beobachten, irgendwas entdecken (einen Stein, ein Nest, Tierspuren); welche Rolle spielt so was bei Ihrem Aufenthalt hier am Kronsberg?“. Die Antworten verteilten sich wie folgt: x 9% meinten, dass sei für sie sehr wichtig, x 10%‚ dass würden sie oft und gern tun, x 29% hin und wieder und x 44% meinten, so etwas käme kaum oder gar nicht vor. Bei jedem 5. Besucher ließen sich also Anzeichen einer aktiveren Aneignung nachweisen, was sich auch darin ausdrückt, dass 14% der im Landschaftsraum befragten Besucher die Frage, ob sie denn einem Ortsfremden auch etwas über die Landschaft am Kronsberg erzählen könnten, uneingeschränkt mit ‚ja’ beantworteten. Auf die Frage, ob ihnen die Landschaft in einem gewissen Umfang „bereits vertraut geworden, ihnen sozusagen schon ‚ans Herz gewachsen’ sei, oder ob das (noch) nicht so der Fall sei“, ergab sich, dass rund 25% der Bewohner in den umliegenden Stadtteilen und 44% der im Landschaftsraum befragten Besucher dies bestätigten. Wenn man alle Indikatoren einer gewissen Art von Aneignung des Landschaftsraumes zusammenträgt wie Häufigkeit des Besuches, spezielles Interesse an der Landschaft, Teilnahme an Führungen und Veranstaltungen, exploratives Verhalten gegenüber der Natur, positive Bewertung der Landschaft usf., dann kristallisiert sich doch eine beachtliche Quote unter den Besuchern des Landschaftsraumes heraus, bei denen man von einer ‚Aneignung’ des Raumes durchaus sprechen kann, verstanden als ein über die bloße Nutzung des Raumes hinausgehendes, positiv-emotional gestimmtes Verhal169
ten (freilich ohne Verfügungsmacht und Umgestaltungschancen, wie es ja die ‚höchste Stufe’ eines Aneignungsprozesses implizieren würde). Diese Aneignung hat, so die Ergebnisse der Untersuchung, in erster Linie etwas mit quasi alltäglichem Aufenthalt und Gewohnheit zu tun, weniger (aber natürlich auch etwas) damit, dass einem der Ort nun besonders gefällt oder er gar als ‚schön’ bezeichnet wird. Dies wird an dem Befragungsergebnis deutlich, dass am Kronsberg zwar (aber auch nur) 58% der Leute, die sich mit dem Landschaftsraum in einem gewissen Ausmaß identifizieren, aber doch auch immerhin noch 36% der Leute, die sich nicht mit ihm identifizieren, dem Landschaftsraum eine Note zwischen ‚eins’ und ‚zwei’ geben. Identifikation und Vertrautheit haben etwas mit dem Gefallen der Landschaft zu tun, aber es gibt ganz offensichtlich einerseits ein Gefühl der Identifikation und Vertrautheit, ohne dass man die Landschaft besonders reizvoll findet, andererseits eine sehr positive Beurteilung der Landschaft, ohne dass man sich mit ihr nun unbedingt identifizieren würde oder müsste. Identifikation hat mehr etwas zu tun mit Aufenthaltsdauer, mit Zeit, die man - aus welchen Gründen auch immer - ‚vor Ort’ verbringt als mit dem Aussehen des Ortes. Wie auch immer: Menschen bauen bisweilen - teils gewollt, teils ungewollt - individuelle, relativ stabile, mehr oder weniger intensive kognitivemotionale Beziehungen zu Teilen ihrer Umwelt auf und insofern ist das planerische Postulat der Aneignung nicht gänzlich ideologisch. Da ist also was dran. Aber früher, als man vielleicht sein ganzes Leben an einem und demselben Ort verbrachte, war dieses Beziehungsgeflecht sicherlich intensiver und umfassender, und vor allem handelte es sich noch mehr um einen kollektiven Aneignungsprozess. Die medienvermittelte wachsende überlokale Orientierung der Menschen (vgl. hierzu schon früh: Oswald 1966) und die allmähliche, nun fast vollständige Übertragung der Gestaltung, Pflege und Verantwortlichkeit für die Wohnumwelt auf Behörden, anonyme Investoren und Haus- und Stadtverwaltungen hat die Bewohner gleichsam ‚enteignet’; sie brauchen sich nicht mehr darum zu kümmern, das entlastet sie, aber entfremdet sie auch ein Stück weit ihrer Umwelt, die heute nur noch sehr bedingt und dann eher instrumentell denn emotional ‚angeeignet’ wird. In Planerkreise herrschen also oft unrealistische, bisweilen regelrecht idealistische Vorstellungen nicht nur darüber vor, wie die räumliche Umwelt insgesamt aussehen sollte, sondern auch darüber, wie die Menschen sich in ihr verhalten sollten. Diese Vorstellungen lassen sich insofern als ideologisch i.e.S. bezeichnen, als in ihnen nicht zuletzt auch berufliche Eigeninteressen der Planer zum Tragen kommen. Denn gemessen an diesen Idealvorstellungen beinhaltet die Realität stets planerischen Handlungsbedarf - zum Wohle der Auftragslage von Architekten und Planern.
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10. Freiraumkulturmanagement
10.1 Hehre Ziele Die Arbeit der Planer ist geprägt durch hehre Ziele. Man kämpft gegen die ‚Zersiedlung’ der Landschaft, man versucht ‚Urbanität’ herzustellen, das Interesse für Naturschutz und/oder Gartenkunst im einfachen Volk zu fördern. In den letzten Jahren ist ein neues Ziel hinzugekommen, das der sog. Nachhaltigkeit. Und auch hier tut sich eine ähnlich große Diskrepanz auf zwischen dem auf, was aus planerischer Sicht sein sollte und dem, was tatsächlich ist. Das spricht selbstverständlich überhaupt nicht gegen diese Zielsetzungen, aber ordnet sie doch sozusagen ‚realistisch’ ein. Wie insgesamt die angeführten Beispiele des ‚uneigentlichen’ Verhaltens (Kap. 9.1) und der vermeintlich ‚falschen’ Bedürfnisse (Kap. 4.2) in der Bevölkerung nicht so zu verstehen sind, dass die Planung sich keine ‚unrealistischen’ Vorstellungen und Hoffnungen über menschliches Verhalten machen sollte. Planung sonst bräuchte man sie nicht - muss immer den Versuch beinhalten, das menschliche Leben zu verbessern, und muss damit immer ein Stück weit über die bestehende Realität hinausweisen. Aber es ist schon eine Frage, woran man sich bei diesen Verbesserungsbemühungen orientiert: an akuten Not- und Missständen, den tatsächlich unbefriedigten Bedürfnissen, am gesellschaftlich artikulierten Bedarf oder an normativen (Ideal-) Vorstellungen ‚interessierter’ Berufsgruppen. Die im vorigen Kapitel geschilderten Beispiele haben deutlich gemacht, dass Planer sehr stark von normativen (Ideal-) Vorstellungen darüber ausgehen, wie sich die Menschen in historischen Gärten oder auf urbanen Plätzen verhalten, wie sie wohnen sollten (nämlich möglichst nicht in einem freistehenden Einfamilienhaus mit Garten) und dass sie sich die Räume um sie herum ‚aneignen’ sollen; d.h. Planung bemisst die Realität an Idealvorstellungen von ‚eigentlichem’ Verhalten, von ‚richtigen’ Bedürfnissen, von ‚gutem’ Geschmack, an ‚hehren’ gesellschaftlichen Zielen. Die zentrale Logik der Freiraum- wie jeglicher Planung lautet: Gemessen an irgendeinem Optimum, einem Ideal, ist in der Realität nichts so gut, dass es nicht noch verbessert werden könnte. Und Stadt- und Landschaftsplanung haben den gesellschaftlichen Auftrag erhalten bzw. legen ihn so für sich aus, sich um die stete Verbesserung der räumlichen Umwelt zu kümmern, so wie 171 W. Tessin, Freiraum und Verhalten, DOI 10.1007/978-3-531-92906-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
die Verkehrsplanung oder die Bildungsplanung in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen die Aufgabe der Daueroptimierung übertragen bekommen haben. Diese Logik der Planung als Daueroptimierung steht in einem gewissen Widerspruch zu einer Logik, die sich an Bedürfnissen bzw. konkreten Wünschen orientieren würde (vgl. Kap.4). Der einzelne Mensch verfolgt ja eine Unzahl von Zwecken und Bedürfnissen, und seine Logik geht meist mehr dahin, sie lediglich ‚zufriedenstellend’ zu lösen. „Solange Bedürfnisse halbwegs angemessen befriedigt sind, besteht für ihn kein Anlaß, durch Aufwand eine Optimierung zu erstreben. (...) Erst wenn irgendwo die Lücke zwischen Gratifikation und Anspruch zu groß wird, entsteht deshalb ein Antrieb, die Gewohnheitshandlung durch erhöhte Rationalität in ihrem Ertrag zu verbessern.“ (Tenbruck 1972: 115) Der individuelle Mensch neigt also dazu (zumal in nicht existenz- bzw. bedürfniszentralen Bereichen), sich eher zufrieden zu geben als sich permanent darum zu bemühen, seine Befriedigungswerte zu verbessern. Würde sich die Planung nun aber ausschließlich an dieser individuellen Bedürfnislogik orientieren, käme sie gewissermaßen nun dann zum Zuge, wenn irgendwo die Lücke zwischen Gratifikation und Anspruch wirklich zu groß werden würde, also eher in Ausnahme- und Notfällen, in wirklich dringlichen Fällen. Nicht zuletzt aus berufspolitischen Überlegungen heraus ist es daher für die Planung naheliegend, sich nicht auf diese (eher anspruchslose) individuelle Bedürfnisbefriedigungslogik einzulassen, denn sie würde den Berufsstand nur schwerlich mit Aufträgen versorgen und auslasten. Da sichert die Logik der Daueroptimierung mit Blick auf bestimmte gesellschaftliche oder planerisch propagierte Ideale schon mehr die Dauerbeschäftigung. Also liegt es für die Planung nahe, nicht so sehr von der individuellen Bedürfnisseite her argumentativ Handlungsbedarf zu reklamieren als vielmehr von der Idealseite her. Tatsächlich ist nirgendwo die Kritik an der Struktur und Entwicklung der räumlichen Umwelt und den raumbezogenen Verhaltensweisen so gravierend wie gerade unter Fachleuten, die für eben diesen Bereich zuständig sind. Während in der Bevölkerung eine doch sehr weitgehende Zufriedenheit mit diesen (frei-)räumlichen Rahmenbedingungen gegeben ist, wo und unter welchen (frei-)räumlichen Bedingungen man auch immer lebt, Kritik nur sehr bedingt geäußert wird, sind es die Stadt- und Landschaftsplaner selbst, die von sich aus, gleichsam ohne konkrete Not, bestimmte (vermeintliche) Fehlentwicklungen thematisieren und dies nicht selten mit Blick auf ganz bestimmte Ideale, die - außer ihnen - niemand als Messlatte heranziehen würde, ja, die sie selbst nicht selten erst ‚erfinden’. So heißt es in Bezug auf das Dauerwehklagen der Landschaftsarchitekten und Stadtplaner über die ‚Zersiedlung der Landschaft’: 172
„Wer leidet denn unter den Einfamilienhauswüsten, unten der hingewürfelten Gewerbegebieten, unter den künstlichen Einkaufsparadiesen - sind es am Ende nur die Architekten?“ (Rauterberg 2003: 7) Tatsächlich: gemessen an den planerischen Konzepten der ‚Gartenstadt’, der ‚organischen Stadtbaukunst’, der ‚gegliederten und aufgelockerten Stadt’, der ‚Urbanität durch Dichte’, der ‚Stadt der kurzen Wege’, der ‚kompakten Stadt’, kann man die reale Siedlungsentwicklung nur bejammern (vgl. Tessin 1990). Aber niemand außer ihnen selbst kennt diese Ideale und niemand außer ihnen selbst misst denn auch die reale Siedlungsentwicklung an diesen Vorstellungen. Indem die Stadt- und Landschaftsplanung bestimmte räumliche Strukturen, Entwicklungen und Verhaltensweisen für ‚ungeordnet’, für ‚unzeitgemäß’, für ‚ungerecht’, ‚uneigentlich’ und ‚unzumutbar’ erklärt, ergibt sich - im Sinne einer Art von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme - jener gesellschaftliche Handlungsbedarf, den abzudecken (wenn auch meist nur vorgeblich) nur sie in der Lage seien. Es sind in erster Linie immer die Planer selbst, die die unter Schutzstellung eines historischen Gartens oder einer Landschaft fordern, die Sanierung eines Stadtviertels, die Erneuerung eines Stadtparks, die flächendeckende Bereitstellung von bestimmten Infrastruktureinrichtungen. Indem sie immer wieder Verbesserungsvorschläge unterbreiten und Vorstellungen entwickeln, wie man etwas auch anders bzw. besser räumlich gestalten könnte, suggerieren sie einen gesellschaftlichen Handlungsbedarf - nicht selten mit Erfolg. Denn in der Tat: wer könnte (und wollte) dem widersprechen, dass nichts so gut ist, dass es nicht noch besser (gemacht) werden könnte. Insoweit es sich dabei zunächst einmal nur um planerische Vorschläge handelt, die durch irgendwen (Bevölkerung, Kommune, Bauträger etc.) erst umgesetzt, also akzeptiert werden müssten, ist nichts dagegen einzuwenden. Problematisch wird es, wenn Planung die Vorschläge gleichsam als ‚Sachzwang’ ausgibt bzw. ein Expertenwissen vortäuscht, dem der Laie (auch jener in den Behörden und politischen Gremien) nichts entgegen zu setzen hat. In seiner Aufsatzsammlung „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’“ schrieb ein bekannter Soziologe: „Das Abhängigkeitsverhältnis des Fachmannes vom Politiker scheint sich umgekehrt zu haben – dieser wird zum Vollzugsorgan einer wissenschaftlichen Intelligenz, die unter konkreten Umständen den Sachzwang der verfügbaren Techniken und Hilfsquellen sowie der optimalen Strategien und Steuerungsvorschriften entwickelt.“ (Habermas 1971: 122) Zwar ist das Expertenwissen in der Freiraumplanung selten so kompliziert, dass es nicht auch mit dem gesunden Menschenverstand nach zu vollziehen wäre, aber da es sehr stark ideologisch verpackt ist, kann der planerische Vorschlag so suggestiv sein, dass man ihm quasi ‚blind’ folgt. Ideologien (vgl. hierzu schon Kap. 9.1) könnte man ja definieren als Aussagen, in denen Werturteile und Handlungsanweisungen in der Verkleidung von Tatsa173
chenbehauptungen auftreten. Gerade diese ‚unheilige’ Verknüpfung macht aber die große Suggestionskraft von Ideologien zur Legitimation von planerischen Konzepten und Entwürfen aus. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind ja idealiter wertfrei, und aus ihnen lassen sich keine Handlungsanweisungen unmittelbar ableiten. Indem Ideologien aber genau das zu leisten vorgeben, sind sie für die Planungsbegründung nahezu unverzichtbar. Sie sind auch was die Tatsachenbehauptungen anbetrifft - nicht grundsätzlich falsch, aber meist einseitig, interessenverzerrt, nur halbwahr. Sie sind affektiv aufgeladen und rückgekoppelt auf sog. Grundwerte oder Ideale, die jeder teilt. Die Begrifflichkeit ist meist unkritisch und vage, aber das stärkt nur ihre Breitenwirkung. Wenn es dem Planer bzw. Architekten gelingt, seinen Vorschlag oder Entwurf auf quasi stringente Weise rück zu führen auf emotional hochgradig besetzte Grundwerte (Ideale) wie Freiheit, Heimat, Natur, Urbanität, dann ist ihm ein gutes Stück Überzeugungsarbeit gelungen. Ideologien erreichen aber ihre Stringenz, Faszination und Überzeugungskraft nur auf der Basis von Einseitig- und Zeitgeistigkeit, ihr Scheitern bzw. ‚aus-der-ModeKommen’ ist also vorprogrammiert. Bis dahin aber lässt sich gut und erfolgreich mit ihnen arbeiten. Vor dem Hintergrund ihrer großen Suggestionskraft wird die überragende Bedeutung von Ideologien und Leitbildern, von Visionen für die Stadt- und Landschaftsplanung deutlich. Es mag einen kleinen Bereich von Planungsaufgaben geben, der sich relativ unmittelbar aus frustrierten Bedürfnislagen der Bevölkerung ergibt, wo also die Bevölkerung von sich aus einen gesellschaftlichen Handlungsbedarf anmeldet. Überwiegend funktioniert aber Planung so, dass sie gewissermaßen aus sich selbst und ihrem gesellschaftlichen Auftrag heraus auf Probleme öffentlich aufmerksam macht, indem sie die Realität an einem Ideal misst und nicht an der konkreten Unzufriedenheit der Bevölkerung. Das liegt, wie schon angedeutet, nicht zuletzt auch an der für Planer ‚kontraproduktiven Anspruchslosigkeit’ (Gleichgültigkeit) der Bevölkerung (zumal in freiraumplanungsrelevanten Bereichen). 10.2 Anspruchslosigkeit und Erlebnisorientierung im Freiraumverhalten Bedürfnisse (außer einigen physiologischen Bedürfnissen wie Schlaf, Essen, Bewegung) sind hochgradig anpassungsfähig. Sie können ansonsten erweckt, verdrängt, umgelenkt, sublimiert werden und auch nicht zuletzt einfach unbefriedigt bleiben, ohne dass das zwangsläufig weitreichende Folgen haben müsste. Abhängig ist das davon, wie ‚erfolgreich’ man selbst seine Bedürfnisse manipulieren, sich anpassen kann (und will) an eigentlich unbefriedigende Umstände. Die eigenen Ansprüche zu reduzieren, sich zu bescheiden, ja, sie zu unterdrücken, wurde einem noch bis in die 1950er Jahre von Kindesbeinen an 174
anerzogen. Verzicht und Bescheidenheit waren über Jahrhunderte vor allem in Bezug auf das sog. einfache Volk zentrale Tugenden, gesellschaftliche, ja hohe christliche Werte. „Froh sein über das, was man hat“, „Jedem das Seine“, „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“, „Es wachsen die Bäume nicht in den Himmel“ sind solche Redensarten, die diese Verzichts- und Bescheidungsmentalität zum Ausdruck bringen, die gerade auch in Bezug auf das Freiraumverhalten wirksam ist. Jeder kennt die Tricks, die man dabei anwendet: Man gewinnt der Frustration etwas Gutes ab, indem man sich etwa sagt, es sei im Grunde ja viel gesünder, nicht zu rauchen, beim Sport würde man ohnehin nur ins Schwitzen kommen, die Wohnung sei zwar klein und ohne Komfort, aber dafür eben billig; der mehr finanziell erzwungene Verzicht auf ein Eigenheim wird zur ökologischen Großtat stilisiert, die erzwungene Frustrierung wird also zu einer ethisch motivierten Verzichtsleistung umgewertet. Oder man relativiert das frustrierte Bedürfnis als „letztlich nicht so wichtig“, stellt es in einen anderen Bezugsrahmen und gewinnt so eine ganz andere Perspektive. Offenbar ist ein stets erneut frustriertes Bedürfnis auf die Dauer schlechter zu ertragen als ein Bedürfnis, das man sich irgendwie ausgeredet und ‚abgeschminkt’ hat. Die Wirksamkeit dieser nach wie vor großen resignativen Anpassungsbereitschaft in der Bevölkerung lässt sich vielfältig belegen: So ist z.B. bekannt, und das bestätigte sich auch in einer entsprechenden Umfrage in Hamburg (Tessin 1994: 109), dass der Gartenwunsch auch in einer Großstadt sehr verbreitet ist. Neben den 30%, die bereits über einen Garten verfügen, äußerten weitere 25% ein spontanes Interesse. Bei jenen restlichen 45%, die einen solchen Gartenwunsch zunächst einmal nicht äußerten, stellte sich jedoch heraus, dass lediglich rund 15% wirklich keinen wollten, aber 30% sich den Gartenwunsch nur ‚abgeschminkt’ hatten, weil er für sie doch nicht zu verwirklichen sei bzw. ihre Lebensumstände dies nicht zuließen. Unter anderen Umständen hätten sie sehr wohl gern einen Garten. Ein anderes Beispiel: Der Stadtplaner Sieverts hat Mitte der 90er Jahre darauf hingewiesen, dass die Menschen die großstädtischen Siedlungsstrukturen ästhetisch nicht wertschätzen, geschweige denn überhaupt ästhetisch wahrnehmen würden. Sie würden sie in einem Zustand partieller ästhetischer Amnesie erleben, d.h. gar nicht in ‚ästhetischen Kategorien’ wahrnehmen. Der Mensch strebt ja nach Lustgewinn und Vermeidung von Frustration. Fast instinktartig reagieren wir deshalb auf ‚Schönes’, es ist Lustgewinn pur. ‚Hässliches’ dagegen suchen wir zu vermeiden. Es bedeutet (in der Regel) Frustration, auch wenn es natürlich einen ästhetischen Reiz des Hässlichen geben kann. ‚Hässliches’ wird dann erträglich, wenn wir es schaffen, es zu ignorieren oder unsere ästhetischen Ansprüche gegenüber dem Gegenstand aufzugeben: wenn unsererseits keine Schönheitserwartung besteht, kann sie auch nicht frustriert werden. Entsprechend lernt man, das ‚Hässliche’ der großstädtischen Siedlungsstrukturen entweder zu übersehen oder in Bezug 175
auf sie gar nichts ‚Schönes’ mehr zu erwarten (vgl. Kap. 7.4). Wir haben uns gegen das ‚Hässliche’ ein Stück weit immunisiert, was dann die oben zitierte Äußerung Rauterbergs zur Wahrnehmung der Zersiedlung im Ballungsraum durch die Bevölkerung verständlich macht: es sind in erster Linie die Architekten, die ihre ästhetischen Ansprüche und planerischen Idealvorstellungen in Bezug auf eine ‚geordnete Stadtlandschaft’ (siehe oben) noch nicht aufgegeben haben, die Bevölkerung hat es längst getan, zumal sie durchaus auch Vorteile sieht, im suburbanen Bereich zu leben. Dieser Mechanismus der passiven, resignativen Bedürfnisanpassung ist so umfassend, dass es beispielsweise sehr schwer fällt, im Rahmen von Wohnwunsch- und Wohnzufriedenheitsbefragungen diese allseitig resignativ angepasste Bedürfnisstruktur zu durchbrechen. Nur so wird erklärlich, warum derartige Untersuchungen in der Regel immer eine hohe „Zufriedenheit“ mit den jeweils waltenden Umständen erbringen. In einer Untersuchung (tessin 2005) wurden die Anwohner von insgesamt 29 Stadtteilplätzen u.a. auch nach der Note gefragt, die sie dem jeweiligen Platz geben würden. Über 80% der Befragten bewegten sich im Noten-Rahmen zwischen „gut“, „befriedigend“ und „ausreichend“. Man zeigte sich, vielleicht besser: gab sich „zufrieden“. Erklärbar werden diese meist hohen „Zufriedenheitsquoten“ u.a. auch mit Blick auf das Theorem der sog. Hintergrundserfüllung (vgl. hierzu Tenbruck 1972: 88). Wenn Bedürfnisse einigermaßen befriedigt sind, kann ja zweierlei passieren. Auf der einen Seite eine stete Anspruchssteigerung, der Wunsch nach stets besserer Befriedigung im Sinne von immer weiteren Reisen, besseren Restaurants, härteren Drogen, andererseits aber auch das, was man als Hintergrundserfüllung von Bedürfnissen bezeichnet. Das Bewusstsein, dass eine Befriedigung eines Bedürfnisses jederzeit möglich ist, verändert in charakteristischer Weise das Bedürfnis selbst: „es tritt aus dem Vordergrund der Affektivität zurück, und das nennen wir Hintergrundserfüllung, wobei im Grenzfalle das vorausgesetzte Bedürfnis gar nicht mehr in handlungsbesetzende Aktualität übergeht. Es erfüllt sich dann offenbar im Zustande der Virtualität am bloßen dauernden Dasein der Außengaranten.“ (Gehlen 1975: 50) Hier findet also keine stete Anspruchssteigerung statt, sondern das Bedürfnis gilt als zufriedenstellend befriedigt und man wendet sich anderen Bedürfnissen zu. Bedürfnisse, deren Befriedigung als im Prinzip gesichert angesehen werden, erwecken also nicht immer einen Anspruch auf Steigerung der Bedürfnisbefriedigung, sondern können geradezu ‚einschlafen’. Dass etwas im Prinzip gesichert ist, eine Bedürfnisbefriedigung stets möglich wäre, kann dazu führen, dass das Bedürfnis gar nicht einmal mehr (oder nur noch höchst selten) aktiviert wird. Es ist in die sog. Hintergrundserfüllung abgesunken, wie es in Bezug auf das ästhetische Interesse an der Gestaltung etwa eines 176
Parks gezeigt wurde (vgl. Kap. 9.1): hält man sich in einem Park oft und lange auf, wird seine Schönheit immer weniger erlebniswirksam, obwohl man natürlich jederzeit, entsprechend danach gefragt, seine Schönheit nicht leugnen würde. Nur wird sie nicht mehr so recht erlebniswirksam. Das Grundbedürfnis nach Sicherheit ist in Bezug auf das Freiraumverhalten beispielsweise ebenfalls so ein Bedürfnis, wo das Prinzip der Hintergrundserfüllung voll greift. So lange die Sicherheit in einem Freiraum gewährleistet ist, spielt es so gut wie keine Rolle. Sie ist ‚gegeben’ und ‚gesichert‘, folglich bedürfnisirrelevant. Die Bedeutung des Grundbedürfnisses nach Sicherheit wird im Freiraumverhalten allerdings sofort virulent, wenn es nicht gegeben ist (vgl. hierzu schon Kap. 3.4). Es äußert sich dann in der Meidung solcher Räume, die Angst machen und Unsicherheit ausstrahlen. Wie gesagt: das Bedürfnis nach Sicherheit ist eines, das, nachdem es individuell gesichert erscheint, an Virulenz verliert, es sinkt ab in die Hintergrundserfüllung. Aber es gibt auch Bedürfnisse, wo das Gegenteil passiert: die Sucht nach immer neuen, subtileren oder erlebnisreicheren Befriedigungsmöglichkeiten (vgl. hierzu auch Hondrich 1979: 130ff). 1992 erschien von G. Schulze das Buch „Die Erlebnisgesellschaft“. Seine Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Orientierung der Menschen in der Wohlstandsgesellschaft wird immer weniger von außersubjektiven Pflichten, Normen und Werten gesteuert, sondern immer mehr von subjektiven Bedürfnissen. Allgemeinstes Bedürfnis sei nicht mehr so sehr das nach Wohlstand, Gesundheit, Familie, einem Haus im Grünen usf., sondern das subjektive Erlebnis, das sich mit all diesen Dingen verbindet. Die Menschen seien - als allgemeinster Nenner all ihrer Bemühungen - auf der Suche nach Erlebnissen, dem außergewöhnlichen Reiz. Die große Mehrheit der Bevölkerung scheint mit wachsendem Wohlstand die Erfahrung gemacht zu haben, dass alle (materiellen) Errungenschaften (Haus, Auto, Urlaub, Geld usf.) letztlich nichts bringen, wenn sie nicht (mehr) erlebniswirksam werden. Alle Errungenschaften (inklusive Partnerschaften) verlieren an Befriedigungswert, wenn es einem nicht (mehr) gelingt, sie aus der Routinebefriedigung oder der Hintergrundserfüllung herauszuholen, um sie bewusst zu erleben, den Genuss regelrecht zu inszenieren. Nach was für Erlebnissen strebt man nun? Schulze unterscheidet drei wie er sich ausdrückt - „alltagsästhetische Schemata“: das Hochkultur-, das Trivial- und das Spannungsschema: x Im Hochkulturschema suche man Kontemplation, x im Trivialschema Gemütlichkeit, x schließlich - im Spannungsschema - Aktivität. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich hinsichtlich des Mischungsverhältnisses, in dem sie nach diesen drei Erlebnisarten su177
chen. Die Gebildeten suchen mehr Kontemplation, die unteren Schichten mehr Gemütlichkeit, Jüngere bzw. Junggebliebene Aktivität und Event. Unterstellt man eine gewisse Plausibilität dieser Schulze’schen Argumentation, dann stellt sich die Frage nach deren Relevanz für das Freiraumverhalten bzw. die Freiraumplanung. Welche Erlebnisse bieten Garten, Park und Landschaft? Grünflächen, so Schulze (1992: 135) wenn auch nur in einem Nebensatz, üben nur einen schwachen oder gar keinen objektiven Erlebnisreiz aus. Nur wenn sie etwas Besonderes aufweisen würden (Treffpunkt von Drogenabhängigen, sonntags ein Morgenkonzert mit den Oberkrainern, eine botanische Führung, ein Joggingwettbewerb, ein Fest etc.), würde ein besonderer Erlebnisreiz von Grünflächen ausgehen. Natürlich gehen die Menschen auch ohne diese zusätzlichen Reize in die Parks, weil sie frische Luft schnappen, sich sonnen, den Hund ausführen wollen, aber sie werden auf die Frage, was man erlebt habe, nicht viel antworten können. Ein Parkbesuch, der Aufenthalt im Garten, das Joggen, das Naturerlebnis ganz generell (von Highlights und Aussichtspunkten abgesehen) ist ja eher beiläufiger Natur, zielt nicht auf das tiefe, intensive Erlebnis. Mag der Garten-, Park- und Landschaftsaufenthalt immerhin noch ein gewisses kontemplatives Erlebnis im Rahmen des Hochkulturschemas bieten, so fragt sich, ob er wenigstens gemütlich oder spannend sein kann. Es gibt keine Gemütlichkeit unter freiem Himmel, so Schulze (1992: 151). Man macht es sich in Räumen gemütlich, in Wohnzimmern, in Cafes usf., aber nicht eigentlich in Freiräumen. Oder? Immerhin: kann es einem nicht im eigenen Garten, auf dem Balkon, im Biergarten auch ‚gemütlich’ sein? Und spannend? Spannend (abwechslungsreich, erregend) ist Freiraumverhalten selten, eigentlich nur bei einigen Sportarten wie Surfen, Segeln, Drachenfliegen, beim Querfeldeinlaufen oder Fallschirmspringen. Oder wenn zufällig etwas im Freiraum passiert: ein Unfall, ein Menschenauflauf, ein sportlicher Wettkampf. Schließlich kann unberührte, unbeherrschte Natur spannend und erregend sein: ein Gewitter, das Meer, die Wüste, ein Felsvorsprung. Wenn die Theorie von der Erlebnisgesellschaft stimmen sollte, die von einer Steigerung des Erlebnisbedürfnisses in den jeweiligen alltagsästhetischen Schemata (Hoch-, Trivial- und Spannungskultur) ausgeht, dann hätte die Freiraumplanung einen bedürfnisorientierten Ansatz gefunden, diese neuen Bedürfnisstrukturen aufzugreifen und sich neue Aufgabenfelder zu erschließen.
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10.3 Von der Freiraumplanung zum Freiraumkulturmanagement Es macht freilich nicht den Eindruck, als beklagten die Menschen den Umstand, dass sie in ihrer alltäglichen freiraumkulturellen Praxis nicht das gesamte freiraumkulturelle (Erlebnis-) Potenzial ausschöpfen bzw. dass das alles nicht besonders ‚erlebnisträchtig’ sei. Das, was sie tun und dabei empfinden, reicht ihnen, sie haben sich den Verhältnissen passiv angepasst und sich eingeschränkt. Das, was sie tun, das Stückchen Eudämonie, das sie im städtischen Freiraum erwischen, das scheint ihnen zu reichen. Und von der Entfremdung, die sie vielleicht auch im städtischen Freiraum spüren, wissen sie, dass sie im Berufsalltag eher oder gar sehr viel größer ist. Kein Grund also zu klagen, eher ein Grund, sich über das bisschen ‚Erleichterung’ und ‚Entspannung’ zu erfreuen, das ihnen die städtischen Freiräume gewähren. Der von Schulze behauptete Trend zur Erlebnisgesellschaft sollte also nicht überschätzt werden - gerade auch in Bezug auf die Grünflächen in der Stadt nicht, die traditionellerweise mit Alltagsfreizeit und bisher (aus den erwähnten Gründen) kaum mit ‚Event-Freizeit’ assoziiert werden. Die gesamte Logik der Erlebnisorientierung spricht ja dafür, sie nicht immer und überall zu suchen, sondern sie als bewussten Kontrast zum Alltag einzusetzen. Eine ununterbrochene Erlebnissuche verbraucht sich sehr schnell und würde die eigene Erlebnisfähigkeit ja auch weit überziehen. ‚Erlebnisse’ sind Ausnahmen, keine Dauerereignisse. Insofern ist die These von der neuen Erlebnisgier stark zu relativieren: Man will nicht immer Erlebnisse, wohl aber hin und wieder, vielleicht auch: immer öfter. Die vermehrte Erlebnisorientierung tritt also in Bezug auf die städtische Grünflächen nicht an die Stelle des nach wie vor zentralen Ruhe- und Erholungsbedürfnisses, sondern ergänzt es allenfalls - dann und wann. Gerade auch von Grünflächen erwartet man nach wie vor auch Ruhe und Muße. Die Besucherfülle an besonders schönen Tagen, der boomartig angestiegene Garten- und Parktourismus und die europaweite Welle der Freizeit- und Erlebnisparke signalisieren jedoch, dass z.B. Parks massenhaft Besucher anlocken können, wenn etwas Besonderes oder Zusätzliches geboten wird und der Besuch ‚Erlebnischarakter’ annimmt, es also nicht nur um ‚frische Luft’ und ‚ein bisschen Bewegung’ geht. Hier setzt nun das Freiraumkulturmanagement an; es versucht (vgl. hierzu Tessin 1997, 1998) diese Defizite im Bereich der Freiraumnutzung, die Diskrepanz zwischen dem freiraumkulturell Erwünschten und Möglichen und der freiraumkulturellen Praxis der Leute abzubauen. Bei diesem ja zumindest ansatzweise längst praktizierten (wenn auch nicht immer so bezeichneten) Versuch des Freiraumkulturmanagements handelt es sich um Maßnahmen, die zwar auch räumlich-gestalterisch angelegt sein können (Lehrpfade, neue Spielgeräte, Kunst im Freiraum, Land Art etc.), aber vor allem um ‚weiche’, sozusagen Dienstleistungsmaßnahmen wie Werbung, Sozialarbeit, Freizeit-, 179
Spiel-, Natur-, Kunstpädagogik, Öffentlichkeitsarbeit, Schutz- und Beaufsichtigungsdienste, aber auch um Kulturbetrieb, um Veranstaltungen wie Sonntagskonzerte, Sonnenwendfeiern, Kunstausstellungen usf. Ziel des Freiraumkulturmanagements ist die Beeinflussung der potenziellen Freiraumbesucher: sie sollen informiert, motiviert und angeleitet werden, und etwaige ‚Verhaltenssperren’ oder Vorbehalte sollen gelockert und abgebaut werden. Freiraumkulturmanagement setzt also bei den Bedürfnislagen, den Normund Wertstrukturen und individuellen Verhaltensressourcen auf Seiten der Bevölkerung an, setzt aber nicht nur rein räumlich-gestalterische Mittel ein wie die traditionelle Freiraumplanung sondern alle verhaltensbeeinflussenden Strategien inklusive etwa der Werbung. Als Träger solcher Maßnahmen käme also auch weniger die herkömmliche Freiraumplanung mit ihrem räumlich-gestalterischen Repertoire in Frage als vielmehr die Freiraumverwaltung, also die Grün- und Sportflächenämter, Wohnungsbaugesellschaften, Parkverwaltungen, das städtische Forstamt, die Sport- und Kleingartenvereine, also die Eigner, Pächter oder Verwalter der freiräumlichen Infrastruktur einer Stadt. Und in der Tat gibt es bei ihnen auch seit längerem entsprechende Initiativen: Tage der offenen Tür in Sport- und Kleingartenvereinen, Aufräumaktionen im städtischen Forst, Veranstaltungsprogramme in Parks und Botanischen Gärten (vgl. hierzu z.B. Hudak 1996; Stölting-Höcker, Witte, Weiß 2003) usf.; meist handelt es sich um Flächen wie Zoos, Botanische Gärten, Sport- und Kleingartenflächen, wo die Bevölkerungsakzeptanz von gewisser Bedeutung ist und zudem quantifiziert werden kann in Form von Besucher- und Mitgliederzahlen, wo also eine gewisse Leistungskontrolle stattfindet. Letztlich sind diese Initiativen aber doch bisher vor allem deshalb begrenzt geblieben, weil die für die Freiflächen qua Amt bzw. Ehrenamt Zuständigen in jeder freiraumkulturellen Inwertsetzung der von ihnen verwalteten (= gepflegten) Flächen zunächst einen Mehraufwand an Zeit, an Initiative, an Geld, an Personal, vor allem aber an (nachträglicher) Pflege sehen und ihr daher - aus verständlichen Gründen - ablehnend gegenüberstehen, denn seit Jahren werden im Pflegebereich erhebliche Einsparungen vorgenommen. Diesem einseitig die Pflege einer Freifläche akzentuierenden, quasi hoheitlichen Verwaltungsverständnis wäre also ein kundenorientiertes Dienstleistungsverständnis gegenüber zu stellen: Nicht Grünflächenpflege i.e.S., sondern Freiraumkulturmanagement! Sicherlich gehört dazu auch die herkömmliche Pflege und Instandhaltung der Fläche, aber darüber hinaus eben auch die Optimierung (nicht Maximierung!) ihrer Nutzung und Aneignung durch die Bevölkerung oder eine besondere Klientel. Und zu diesem Freiraumkulturmanagement würden dann eben auch alle jene oben angesprochenen Aufgaben zählen, insbesondere alle möglichen Arten von Veranstaltungen wie Feste, Führungen, Ausstellungen, Aufführungen, Events. 180
Der sozialwissenschaftliche Ansatz in der Freiraumplanung bedeutet also (in letzter Zuspitzung), dass man nicht nur bei der Planung x die freiraumkulturellen Institutionen und Behavior Settings, x die gruppenspezifisch unterschiedlichen Bedürfnisse und Verhaltenswünsche, Wertvorstellungen und ungleich verteilten Verhaltenschancen der Bevölkerung, x die unterschiedlichen Geschmacks- und Wahrnehmungsmuster und x die freiraumkulturellen Vorstellungswelten (ideologische Konstrukte) berücksichtigt, die sich in der Bevölkerung um bestimmte Freiräume, Nutzergruppen und Verhaltensweisen ranken, sondern auch, dass man die daraus resultierende freiraumkulturelle Praxis immer wieder daraufhin prüft, inwieweit sie hinter den gesellschaftlichen Möglichkeiten und latent gestiegenen Erlebnisansprüchen der Bevölkerung zurückbleibt. Insofern könnte für den Ansatz des Freiraumkulturmanagement dasselbe zutreffen, was für den Ansatz von Planung schlechthin gesagt wurde: man orientiert sich mehr an einem Ideal als an konkret geäußerten Bedürfnissen. Breite Kreise der Bevölkerung dürften mit ihrem Freiraumverhalten durchaus zufrieden sein und sehen für sich keine Notwendigkeit, ‚mehr’ aus diesem Lebensbereich herauszuholen. Aber wahrscheinlich würde ein Großteil von ihnen mitmachen, wenn ihnen im Freiraum ‚mehr’ geboten werden würde: nicht immer, aber vielleicht immer öfter. Insofern muss (und soll) Freiraumkulturmanagement zwar auch als eine Art von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gesehen werden. In dem Maße, wie die Planung und Schaffung neuer Freiräume in Zukunft möglicherweise eher zurückgehen wird (angesichts von demografischer, ökonomischer und fiskalischer Stagnation und Rezession), könnte sich ein Aufgabenfeld für Planer dort auftun, wo es um die Instandhaltung und Inwertsetzung vorhandener Freiräume geht: Statt quantitativer Ausweitung der städtischen Freiraumversorgung ihre qualitative Aufwertung! Freiraumkulturmanagement ist der Versuch, ‚mehr’ aus den vorhandenen Freiräumen zu machen. Aber mit Blick auf die These von der Erlebnisgesellschaft ist Freiraumkulturmanagement nicht nur Arbeitsbeschaffungsprogramm für Planer, sondern ihm liegt auch ein tatsächlicher gesellschaftlicher Bedarf zugrunde - teils latent, teils manifest. Die Freiraumplanung muss sich also mit der Frage auseinandersetzen, was ihre Leistung ist: beinhaltet Freiraumplanung die Produktion von Freiraum oder von Freiraumkultur? Im ersten Fall (und das ist wohl nach wie vor herrschende Lehrmeinung) hört das berufliche Selbstverständnis der Freiraumplanung mit der Realisierung entsprechender (vermeintlich nutzergerechter) Freiräume auf, im zweiten, sozialwissenschaftlich erweiterten Verständnis von Freiraumplanung würde es die dauerhafte freiraumkulturelle Inwertsetzung mit einschließen. 181
Vorbehalte Generell gewinnt man den Eindruck, dass der Gedanke, nicht einfach nur einen Freiraum zur Verfügung zu stellen (Planung) und ihn zu unterhalten (Pflege), sondern sich um seine Nutzung und Akzeptanz dauerhaft zu kümmern, innerhalb der herkömmlichen Freiraumplanung und -pflege auf vielfältige Vorbehalte stößt. Es mischen sich da die unterschiedlichsten Bedenken und Befürchtungen: x Bedeutet die freiraumkulturelle Inwertsetzung einer Freifläche nicht doch letztlich eine Kritik an der ihr zugrundliegenden Planung, die offenbar nicht ausreichend ‚ankommt’? ‚Gute’ Planungen bräuchten keine freiraumkulturelle ‚Nachbesserung’, allenfalls eine Neu- oder Überplanung. x Besteht überdies nicht die Gefahr, dass die Freifläche durch solche Maßnahmen selbst in den Hintergrund rückt (wie bei kommerziellen Freizeitparks)? x Muss denn jede Freifläche immer optimal genutzt werden, unterwirft man sich damit nicht einer irrwitzigen Auslastungsideologie? Wer bestimmt überhaupt das optimale Nutzungspotenzial einer Freifläche? Liegt nicht der Reiz mancher Grünfläche in ihrer Menschenleere, gerade darin, dass sie Ruhe gewährt und soziale Entlastung? x Und: ist es denn wirklich so schlecht um die Nutzung der städtischen Freiräume bestellt, dass man so etwas ‚nötig’ hat? x Würde ein Mehr an Nutzung nicht nur ein Mehr an Abnutzung (‚Naturzerstörung’) und damit an (heute nicht mehr leistbarer) Pflege bedeuten? Schließlich das (traditionelle) berufliche Selbstverständnis der Freiraumplanung: x Man sei für die Bereitstellung entsprechender Flächen zuständig (Herstellung und Pflege), nicht für das, was dann darauf an Freiraumkultur passiere. Die freiraumkulturelle Inwertsetzung entsprechender Flächen sei Aufgabe der Bürger selbst, ihrer Vereine, ihrer Nachbarschaften usf. Die Kette freiraumplanerischer Vorbehalte ließe sich beliebig verlängern: x Sind solche Maßnahmen denn überhaupt machbar - zumal in der gegenwärtigen Zeit? Kostet das nicht zuviel Geld, wer soll das Personal stellen? x Und wie sähe der Erfolg denn überhaupt aus: bekäme man wirklich mehr ‚Freiraumkultur’, und was für eine wäre es: eine inszenierte, betreute, eine rein konsumtive, am Tropf der Animateure, Sozialarbeiter und Umweltpädagogen hängende urbane Freiraumkultur!? x Und wenn schon Förderung: dann doch wohl besser durch Sozialarbeiter, Kunst- und Freizeitpädagogen, Lehrer, Polizisten, Künstler, vielleicht sogar durch Brauereien, Sportgeschäfte u.ä., die solche Maßnah182
men sicherlich erfolgreicher durchziehen würden als die in diesen Fragen gänzlich unausgebildeten Freiraumplaner. Alle diese Einwände sind mehr als nur berechtigt und wären, wenn auch flächen-, maßnahme- und klientelspezifisch, zu diskutieren und selbstverständlich ein Stück weit auch zu akzeptieren. Aber vielleicht stellt sich die zentrale Frage doch etwas anders. All das, was hier gefordert wird, wird ja bereits praktiziert von wem, zu welchen Gelegenheiten und mit welchen Zielen auch immer, und in einigen historischen Parks und den Naturparks gehört ein Teil davon (z.B. Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit) ohnehin schon zur quasi pflichtigen Aufgabe der jeweiligen Parkverwaltung. Insofern wird hier auch gar nichts Neues propagiert, sondern nur die Frage aufgeworfen, ob die Freiraumplanung sich an diesen Aufgaben beteiligt (und sich darin vielleicht sogar ein neues berufliches Tätigkeitsfeld erschließt - freilich mit Konsequenzen für die entsprechenden Ausbildungsgänge!) oder sich ihnen (aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, s.o.) verschließt. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf entsprechende Ansätze im Bereich der Landschaftsplanung. Auch dort geht es immer weniger noch darum, einzelne neue Landschafts- und Naturschutzgebiete auszuweisen, sondern vielmehr zunehmend darum, die Land- und Forstwirte flächendeckend zu einem landschaftspflegerischen Umgang mit den entsprechenden Flächen zu bewegen. Man arbeitet mit Aufklärungskampagnen, mit Subventionen im Rahmen der Vertragslandwirtschaft usf.; Ziel ist nicht so sehr die Schaffung neuer Naturschutzflächen, die Gestaltung neuer Landschaftsräume, sondern die Einflussnahme auf den Umgang der Bevölkerung mit der vorhandenen Landschaft. Und genau das wird hier in Bezug auf die städtischen Freiräume gefordert: den Umgang der Stadtbevölkerung mit den vorhandenen Freiräumen fördern, optimieren, managen! Dass die Freiraumplanung diese (erweiterte) Aufgabe nicht allein leisten könnte, sondern nur in Kooperation mit Pädagogen, Sozialarbeitern, Künstlern, vielleicht der Polizei, Vereinen, sonstigen Bürgerinitiativen, den einzelnen Bürgern, mit Schulen und Volkshochschulen, den Arbeitsämtern, Wohnungsbaugesellschaften, der lokalen Presse, der ortsansässigen Geschäftswelt usf., versteht sich von selbst, denn dort liegen ja die freiraumkulturellen Ressourcen, die es zu aktivieren gilt. Diese freiraumkulturellen Ressourcen in der jeweiligen Fläche selbst wie auch in der Stadt aufzuspüren und zu entwickeln, wäre also die Zielsetzung, die auch insofern genuin freiraumplanerisch wäre und sich deutlich unterschiede von der Perspektive etwa der Sozialarbeit, Freizeitpädagogik, der Künstler usf., deren Ziel ja eben nicht die freiraumkulturelle Inwertsetzung von Freiräumen ist, sondern die Lösung bestimmter sozialer, pädagogischer oder künstlerischer Probleme und Fragen, wobei der Freiraum ja oft nur als (austauschbares) Mittel zum Zweck fungiert. Die Aufgabe der Freiraumplanung könnte sich dabei sicherlich nicht in 183
der Moderatorenrolle erschöpfen, vielmehr hätte sie zunächst (und wohl für eine lange Zeit) eine Art von Hebammenrolle zu übernehmen. Ihre Aufgabe bestünde nicht unbedingt darin, die Inwertsetzungsmaßnahmen selbst durchzuführen, sondern darin, sie lediglich anzuregen, entsprechende Akteure (Künstler, Schulen, Vereine, Geschäftsleute, Bürgergruppen) ausfindig zu machen und freiraumkulturell auf eine Freifläche hin zu mobilisieren. Die Maßnahmen selbst sollten - sofern nur irgendwie möglich - von diesen Akteuren in Eigenregie durchgeführt werden. Freiraumkulturmanagement leistet dazu konzeptionelle, organisatorische, publizistische, möglicherweise auch Hilfe beim fund-raising usf., aktiviert die freiraumkulturellen Ressourcen und Potenziale der Stadt, bringt das, was latent da ist, zielgerichtet zum Tragen (Hebammenrolle). Versucht es wenigstens - denn dass die Nutzung öffentlicher Freiräume jemals den Idealvorstellungen der Freiraumplanung entsprechen könnte (vgl. Kap. 9), das wird man nicht erwarten können. Ansätze Neben bestimmten Maßnahmen des Marketings sind vor allem pädagogische Maßnahmen im Rahmen des Freiraumkulturmanagements relevant (vgl. hierzu Tessin 1997, 1998), die nicht nur in Freiräumen stattfinden (können), sondern die diese Freiräume zum Gegenstand von Lern- und Erfahrungsprozessen machen. Insoweit es sich dabei um umwelt-, freizeit-, spiel- und sozialpädagogische Ansätze handelt, die außerhalb der ‚klassischen’ Erziehungsinstitutionen (Schule, Kindergarten, Elternhaus, Militär, Firma etc.) ablaufen, verbindet sich mit ihnen ein hoher Grad an Freiwilligkeit der Teilnehmer und eine geringe Sanktionsgewalt der ‚Erzieher’, woraus ganz spezifische Chancen, aber auch Grenzen dieser Art von freiraumkultureller Pädagogik resultieren. Die Freiwilligkeit der Teilnahme an solchen Maßnahmen, ihre zeitlich meist begrenzte Dauer, die Unmenge an gegenläufiger Informationsflut, das verbreitete Unbehagen, sich außerhalb von Bildungsanstalten ‚pädagogisieren’ zu lassen, all das macht diese Maßnahmen nicht allzu erfolgsträchtig in pädagogischer Sicht, wohl aber in dem Sinne, dass man u.U. etwas Interessantes erfährt, Lustiges erlebt oder auch nur bestimmte soziale Probleme zeitweise verdrängen kann - ohne tiefere oder länger anhaltende Wirkungen. Im letzten Jahrzehnt ist die Durchführung von jedweder Art von Veranstaltungen etwa in Parks zu einem ‚freiraumkulturellen Renner’ geworden. Veranstaltungen bieten sich tatsächlich unter verschiedenen Gesichtspunkten als zentrales freiraumkulturelles Instrument an (vgl. hierzu Tessin 2002c): x Veranstaltungen sind zunächst einmal als solche schon eine Abwechslung zum üblichen Parkalltag. Veranstaltungen definieren den Ort, an dem sie stattfinden, sozial neu (eben veranstaltungsgemäß), setzen die bestehenden sozialen Erwartungen z.T. außer Kraft und eröffnen neue, spezifische Verhaltensoptionen, die nur durch die Tatsache gegeben sind, 184
dass genügend viele Menschen zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, dasselbe wollen. Das Behavior Setting des Parks (vgl. Kap.2.3) ändert sich. x Veranstaltungen verschieben die Position des Parks auf der Maslow’ schen Hierarchie der Grundbedürfnisse (vgl. Kap. 4.3) nach ‚oben’. Der Park würde (am Veranstaltungstag) nicht mehr in erster Linie die Bedürfnisse nach Sonne, frischer Luft und Bewegung bedienen, sondern vermehrt - je nach Art der Veranstaltung - Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung. Dies hätte - entsprechend den obigen Ausführungen - zur Folge, dass der subjektiv erlebte Befriedigungswert anstiege. Eine Veranstaltung im Park ist wahrlich nicht ‚wichtiger’ als ein normaler Parkbesuch, aber sie verschafft ungleich mehr Befriedigung. x Die Veranstaltung schafft - und sei es nur für Stunden - eine Art ‚Norm-, Wert- und Erlebnisgemeinschaft, also ‚soziale Integration auf Zeit’ und überwindet für diese Stunden die sonst übliche rudimentäre Integration, die ‚Tyrannei der Intimität’, die ‚Langeweile der Privatheit’ oder das ‚Ghetto des Alleinseins’. 30-40% der großstädtischen Haushalte sind Einpersonenhaushalte! Niemand will wieder eintauchen in eine Art dauerhafter ‚erzwungener Volksgemeinschaft’, aber es besteht ein enorm breites Interesse, freiwillig, sporadisch und stundenweise sein ‚Für-sichsein’, seine sonst bloß rudimentäre soziale Integration aufzugeben und in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, in einem ‚Bad in der Menge’ gleichsam aufzugehen. Eine Veranstaltung ermöglicht das auf eine völlig einfache und zugleich längerfristig vollkommen konsequenzenlose Art und Weise. Nach Abschluss der Veranstaltung ist man wieder ‚für sich’, frei und ungebunden. Der Veranstaltungsboom des letzten Jahrzehnts ist nicht anders zu erklären als mit diesem im Zuge des Individualisierungsprozesses gestiegenen Wunsch nach einer freiwilligen, sporadischen und lockeren ‚Integration auf Zeit’. x Veranstaltungen und Feste unterbrechen nun nicht nur den Alltag, markieren nicht nur Übergänge (Jahreszeiten, Lebenszyklen, historische Ereignisse), stiften nicht nur vordergründig Gemeinschaft und Geselligkeit, rufen nicht nur die tragenden Sinnorientierungen (Familie, Beruf, Religion) der Fest- und Wertgemeinschaft in Erinnerung. Heute dürften dies alles bestenfalls nur Vorwände sein, Feste zu begehen. Das Fest ist heute in erster Linie eine bestimmte, hochattraktive Art von ästhetischer Erfahrung, wie sie am ehesten noch im Theater erlebbar ist. Das ästhetische ‚Objekt’, der Erlebnisgegenstand ist nicht bereits vorhanden, sondern das Fest entsteht erst im Beisein, ja, unter Mitwirkung des Publikums, endet auch nicht in einem fertigen Produkt oder Artefakt, sondern bleibt ein flüchtiges Phänomen, einmalig und unwiederholbar: ein Ereignis. Die Mehrheit der Vertreter der Grünflächenämter, die Gartendenkmalpflege, ja, vermutlich die Mehrheit der Landschaftsarchitekten lehnt Veranstaltungen in Parks inzwischen nicht mehr grundsätzlich ab, aber befürchtet 185
doch mehrheitlich eine Art von Degradierung des Parks zu einer bloßen Veranstaltungskulisse. Sofern der ‚Park selbst’ (vermutlich gemeint: die Parkgestaltung) zum Thema einer Veranstaltung gemacht (und das gut gemacht) werde, sei nichts einzuwenden, aber viele Veranstaltungen würden vom ‚eigentlichen Wesen’ des Parks nur ablenken (vgl. Kap. 9.2). ‚In sich’ ist die Argumentation schlüssig, nur geht sie von einer berufsbedingt verzerrten Annahme über die Funktion eines Parkbesuchs aus. Allenfalls bei der (Erst-) Besichtigung eines Parks steht aber die (bewusste) ästhetische Wahrnehmung der Gestalt des Parks im Vordergrund des Besuchsinteresses, ansonsten (etwa beim ‚Stammpublikum’) ist sie eher beiläufiger Natur: Fast immer mit eingeschlossen, aber selten vordergründig und kaum bewusst, stattdessen rückt das Geschehen im Park in den Vordergrund des Interesses. Kein Architekt, der ein Wohnhaus, einen Stadtplatz oder ein Theater gebaut hat, kein Innenarchitekt, der ein Restaurant eingerichtet hat, käme auf den Gedanken, dass er etwas Anderes gemacht hätte, als ein bestimmtes Ambiente, eine stimulierende Kulisse für eine bestimmte gesellschaftliche Aktivität geschaffen zu haben. Nie käme er darauf, sich zu beklagen, dass er ‚nur’ eine Kulisse für ein Essen, eine Theateraufführung, ein Familienleben entworfen hat. Unverständlich, wieso Landschaftsarchitekten (latent) enttäuscht darüber sind, dass Leute im Park ‚bloß’ ihren Hund ausführen, ‚bloß’ joggen, ‚bloß’ in der Sonne vor sich hinsinnen, oder grillen oder Boule spielen. Oder gern ein Popkonzert hören wollen. Aber es ist wohl nicht nur diese befürchtete Degradierung des ‚Werks’ zu einer bloßen Kulisse, zu einem Teil eines Ereignisses, die einige Vertreter der Landschafts- und Freiraumplanung gegen die Durchführung von Veranstaltungen in Parkanlagen aufbringt, sondern eine tief verwurzelte Assoziation von ‚Natur’ bzw. ‚Park’ mit Begriffen wie ‚Innerlichkeit’ und ‚Stille’, wie sie Poblotzki (1992: 80ff) in ihrer ideologiekritischen Arbeit über Menschenbilder in der Landespflege zwischen 1945 und 1970 nachgewiesen hat. Teile der Disziplin taten sich schon in den 1960er und 70er Jahren schwer, von diesem Leitbild abzurücken, als die Besucher begannen, die Rasenflächen zu betreten und dort zu lagern, zu grillen und sich auszuziehen (vgl. hierzu Grzimek 1983). Umso verständlicher die inneren Reserven gegen (vermeintlich) allzu viel ‚Rummel’ im Park, der dann - wenn auch nur an den Veranstaltungstagen - Einzug hielte. Der Park gehört jedoch der Öffentlichkeit, der Bevölkerung, nicht der Grünplanung oder dem Grünflächenamt. Das sollte Veranstaltungen in Parkanlagen nicht als ‚Gefahr’ oder (zusätzliche) ‚Last’ sehen, sich also nicht bloß als ‚nörgelnder Platzwart’ verstehen, sondern in dieser zusätzlichen Aufgabe eine Legitimations- und Entwicklungschance erkennen und sich als großzügiger Gastgeber präsentieren. Bisweilen hört man noch immer das Selbstverständnis, die Grünflächenämter seien zuständig für die Pflege und den Unterhalt der Grünanlagen in 186
der Stadt. Bei einem solchen Selbstverständnis ist es kommunalpolitisch nicht gar zu abwegig, sie mit der Müllabfuhr oder der Straßenreinigung organisatorisch zusammenzufassen. In dem Maße wie die (räumlich-gestalterischen) Planungsaufgaben ‚im Zeichen leerer Kassen’ die Grünflächenämter nicht mehr ausreichend zu legitimieren scheinen, könnte ihnen im freiraumkulturellen Management der vorhandenen Grünflächen, das auch die Durchführung von Veranstaltungen im Park einschließt, eine neue Legitimationsaufgabe zuwachsen: das Grünflächenamt als (Freiraum-) Kulturamt!
10.4 Freiraumkulturelles Stadtbrachenmanagement Freiraumkulturmanagement beinhaltet also den Versuch, das Nutzungspotential städtischer Freiräume sozusagen voll auszuschöpfen. Durch einen versprochenen ‚Zusatznutzen’ soll der Besuch des jeweiligen Freiraumes angeregt werden. Das macht sicherlich dort Sinn, wo einem an einer ‚regen Nutzung’ gelegen ist. Nun scheint es aber zunehmend auch städtisches Grün zu geben, wo dieses Interesse an ‚reger Nutzung’ nicht mehr so ganz offensichtlich ist, ja, einen das Gefühl beschleicht, hier sei eine Fläche ‚grün’ sozusagen aus purer Verlegenheit (vgl. hierzu z.B. Giseke, Spiegel 2007). Tatsächlich war es ja schon immer auch eine Aufgabe kommunaler Grünplanung (vgl. hierzu Tessin 1983), solche Art von Flächen, die keiner profitablen privatwirtschaftlichen Nutzung zugänglich waren bzw. die (weshalb auch immer) nicht bebaut werden konnten, irgendwie grünplanerisch im weitesten Sinne zu nutzen. Das städtische Grün besteht daher schon immer z.T. auch aus solchen Vorhalte-, Reserve-, Abstands- oder Restflächen, die (da wirtschaftlich nicht gebraucht) von der Grünflächenpolitik sozusagen ‚versorgt’ werden müssen. Denn was kann man mit solchen gleichsam ‚unnützen’ Flächen, Anderes anstellen, als sie einfach ‚grünen’ zu lassen und aus ihnen - offiziell oder inoffiziell - städtisches Grün zu machen? Ein Grün, das aber andererseits im Grunde keiner sonderlich dringend braucht, geschweige denn gefordert hätte, nicht zuletzt deshalb, weil es oft geradezu wie zufällig anfällt und nicht unbedingt dort, wo es gebraucht wird. Zudem lässt es die kommunale Finanznot oft nicht zu, diese Art von ‚Flächenabfall’ aufwendig zu gestalten, auszustatten, zu pflegen und somit nutzerfreundlich herzurichten, denn nicht jeder ‚Flächenanfall’ kann ja mit Hilfe von Gartenschau- und/oder IBA-Mitteln aufwendig in Wert gesetzt werden. Auch wenn es diese Brachflächenentwicklung immer schon gegeben hat, so scheint sie vor allem in ostdeutschen Städten erheblichen Umfang angenommen zu haben, ohne das Hoffnung bestünde, dass sie über kurz oder lang wieder bebaut würden.
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Zu berücksichtigen ist bei alldem zudem, dass es mancherorts schon jetzt sogar offizielle Grünflächen gibt, die nicht mehr so zur Gänze gebraucht und genutzt werden: Kleingartenparzellen, Spielplätze, Friedhofsflächen. Denkt man nun noch an die auch zukünftig vielerorts brach fallenden Flächen (Stichwort: Altindustrie, Stichwort: Bahn- und Militärgelände), so zeichnet sich für schrumpfende Städte (Deutschland wird bis zum Jahr 2050 von etwa 82 auf rund 70 Mio. Einwohner schrumpfen!) am Horizont durchaus die Gefahr eines gewissen ‚Grünüberschusses’ ab, dem keine entsprechende Nachfrage mehr entspricht. Und da dieses überschüssige Grün auch nicht ausreichend gestaltet, ausgestattet und gepflegt werden kann, droht es, als Verlegenheitsgrün langfristig bloß vor sich hin zu kümmern. Städtische Grünflächenpolitik wird also unter diesem Aspekt in Zukunft immer mehr auch Ähnlichkeit bekommen mit kommunaler Sozialpolitik. Hier wie dort werden Produktionsfaktoren (hier: Boden, dort: Arbeitskräfte), die für nichts mehr ‚gebraucht’ werden, alimentiert und dies notgedrungen oft nur gerade mal so eben. Städtisches Grün (vgl. hierzu Wenzel 2003) wird also neben Anlagen mit hohem Image, hoher touristischer Attraktivität, neben Anlagen mit hohem Gebrauchswert eine Kehr- und Schattenseite entwickeln: ein Grün, das - falsch gelegen, kaum gestaltet, kaum ausgestattet, kaum gepflegt und daher kaum genutzt - mehr oder weniger einfach nur so da ist. Vielleicht kann man diesen Flächen dann noch einen gewissen ökologischen und/oder kleinklimatischen, vielleicht auch forstwirtschaftlichen Nutzen zubilligen, ihr sozialer Gebrauchswert und ‚rekreativer’ Zusatznutzen wäre dagegen gering, weil ihr ‚Hartz-IV-Appeal’ doch ein wenig der verbreiteten Vorstellung vom städtischen Grün als angenehmen Aufenthaltsort widerspricht. Und doch gibt es, scheint’s, zu diesem Hartz-IV-Grün keine realistische Alternative. Oder doch? Stadtplaner und Landschaftsarchitekten sind derzeit händeringend auf der Suche nach den sog. urban pioneers, die mit diesen Flächen, die zunächst einmal keiner mehr zu brauchen scheint, doch etwas anfangen können. Es werden freiraumkulturelle Pioniere gesucht, die in Do-it-yourself-Manier auf diesen brach gefallenen Flächen ihre ganz individuellen Vorstellungen umzusetzen versuchen. In einem Gutachten für den Berliner Senat heißt es hierzu: „Das Spektrum ist weit gespannt und reicht von sportlichen Aktivitäten, die die klassischen Vereine zum Teil noch nicht entdeckt haben und die vor allem zeitlich ungebunden und räumlich unabhängig von Institutionen ausgeübt werden können, bis hin zu Gesundheits- und therapeutischen Angeboten in Kooperation mit Sozialprojekten, Aktivitäten können auch der Selbstdarstellung von Einzelnen und Gruppen dienen, die Schnittstelle zu ökonomischen Aktivitäten ist häufig nicht weit. Andere Gruppen nehmen die Gestaltung ihrer ‚Claims’ in die Hand und verändern diese ständig, wie z.B. die Jugendlichen mit ihrem Dirt-Bike-Strecken oder Kinder-Erwachsenen-Initiati188
ven mit ihren Naturerfahrungsräumen. Erhebliche Nachfrage gibt es auch nach Flächen, um gärtnerisch tätig zu werden (Urban Gardening).“ (bgmrLandschaftsarchitekten 2010: 7f) Und in einem anderen Beitrag heißt es weiter: „Um überhaupt die für eine Brachflächenaktivierung erforderlichen Akteure ausfindig zu machen, werden verschiedene Managementorganisationen eingerichtet, z.B. die ‚Vermittlungsagentur Brache’ in Leipzig oder die ‚Koordinierungsstelle Flächenmanagement’ in Berlin Marzahn-Hellersdorf ‚Tausche Fläche gegen Nutzungsidee’, ein Pilotprojekt von Senat und Bezirk mit vor allem gärtnerischer Nutzung als Pachtgrabeland.“ (Becker 2007: 245) Egal, wie man die Erfolgschancen dieser Aktivitäten nun einschätzen mag, klar ist, dass hier weniger Landschaftsarchitektur gefragt ist als Freiraumkulturmanagement, verstanden als Strategie, Akteure dahingehend zu mobilisieren, das Nutzungspotential von Freiräumen (hier nun von Stadtbrachen) in ihrem Sinne auszuschöpfen. Der sozialwissenschaftliche Ansatz in der Landschafts- und Freiraumplanung läuft also, so die abschließende These, auf dieses hier in Umrissen skizzierte Freiraumkulturmanagement hinaus. Bei der herkömmlichen, ‚klassischen’ Freiraumplanung ist die Gestaltung des Freiraumes das zentrale Anliegen und das ausschließliche Mittel, das Freiraumverhalten in gewünschter Weise zu beeinflussen. Beim Freiraumkulturmanagement steht dagegen die Freiraumnutzung, das Freiraumgeschehen im Vordergrund, wobei die konkrete Freiraumgestaltung ein zwar wichtiges Mittel, eine gleichsam infrastrukturelle Voraussetzung der Zielerreichung ist, aber keinesfalls das einzige Mittel. Die ‚klassische’, rein räumlich-gestalterisch ausgerichtete Freiraumplanung wird, wie deutlich geworden sein dürfte, dem komplexen Verhältnis von Raum und Verhalten nicht gerecht. Das Freiraumkulturmanagement zieht daraus Konsequenzen und setzt an allen, vor allem auch an den nicht räumlich-gestalterischen Bestimmungsfaktoren des Freiraumverhaltens an.
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