Erich Grießler · Harald Rohracher (Hrsg.) Genomforschung – Politik – Gesellschaft
Österreichische Zeitschrift für Soziologie Sonderheft 10/2010 Herausgeber: Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie: Jens Dangschat, Christian Dayé, Marianne Egger de Campo, Karina Fernandez, Markus Schweiger, Frank Welz.
Erich Grießler Harald Rohracher (Hrsg.)
Genomforschung – Politik – Gesellschaft Perspektiven auf ethische, rechtliche und soziale Aspekte der Genomforschung
Österreichische Zeitschrift für Soziologie Vierteljahresschrift der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie 35. Jahrgang, Sonderheft 10, November 2010 Herausgeber: Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie: Jens Dangschat, Christian Dayé, Marianne Egger de Campo, Karina Fernandez, Markus Schweiger, Frank Welz. Redaktion: Eva Buchinger, Hubert Eichmann, Eva Flicker, Johanna Hofbauer, Lorenz Lassnigg, Heinz-Jürgen Niedenzu, Franz Ofner, Dieter Reicher, Martin Weichbold, Angelika Wetterer, Meinrad Ziegler. Redaktionssprecher: Franz Ofner (Universität Klagenfurt,
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ISSN 1011-0070
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien ISBN 978-3-531-17362-7
Inhaltsverzeichnis Erich Grießler, Harald Rohracher Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oliver Kemper ELSA in der Genomforschung – eine vorübergehende Erscheinung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Ulrike Felt, Maximilian Fochler, Michael Strassnig Experimente partizipativer ELSA-Forschung. Eine methodenpolitische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Alexander Bogner, Karen Kastenhofer, Helge Torgersen Antizipierte Technikkontroversen als Governance-Problem . . . . . . . .
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Erich Grießler, Daniel Lehner „Praxis heißt, es ist ein üblicher Vorgang“. Politische Praktiken in der Regierung biomedizinischer Technologien in Österreich . . . . .
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Bernhard Wieser Genetisches Testen: ELSA im Kontext medizinischer Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Erich Grießler, Anna Pichelstorfer Die Diskussion der genetischen Beratung in der politischen, klinischen und juristischen Domäne Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Ingrid Metzler Über „Moralapostel“ und „smooth operators“: Die Praxis der Bioethik im Feld eines österreichischen Biobankenprojekts . . . . . 203 Christina Lammer Empathografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Erich Grießler, Harald Rohracher Erich Grießler, Harald Rohracher
Einleitung Im Jahr 2001 richtete das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMWF) das Forschungsprogramm Genomforschung in Österreich (GEN-AU) ein. Ziel des auf neun Jahre konzipierten, mit rund 100 Millionen Euro ausgestatteten und damit für österreichische Verhältnisse hoch-dotierten Förderungsprogramms ist es, die Wettbewerbsfähigkeit österreichischer Forschung in den sogenannten life-sciences zu steigern. Von Beginn an war im Rahmen des GEN-AU Programmes die Förderung von ELSA Projekten vorgesehen, die die Erforschung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte der Genomforschung sowie deren Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft zum Ziel haben (vgl. Kemper in diesem Band). Seit 2002 wurden neunzehn sozial- und geisteswissenschaftliche Projekte im Ausmaß von etwa fünf Millionen Euro gefördert, was für Österreich eine außergewöhnlich hohe Summe für zielgerichtete und langfristige sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung darstellt. Im Dezember 2008 veranstaltete die Sektion Techniksoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) gemeinsam mit dem BMWF, dem GEN-AU Programm, dem Institut für Höhere Studien und dem Interuniversitären Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur die Tagung „Genomforschung, Politik, Gesellschaft. Perspektiven auf ethische, rechtliche, soziale und ökonomische Aspekte der Genomforschung in Österreich“. Ziel war, eine vorläufige Bestandsaufnahme der Ergebnisse des ELSA Programmes innerhalb von GEN-AU vorzunehmen sowie den Erfahrungsaustausch zwischen den beteiligten ForscherInnen zu fördern. Darüber hinaus sollten die Forschungsergebnisse in eine breitere sozialwissenschaftliche Diskussion eingebunden werden. Die Veranstalter hatten dazu VertreterInnen der am Programm beteiligten Forschungsgruppen sowie weitere Personen eingeladen, die sich mit Fragestellungen von Technik, Innovation, Medizin und Genomforschung befassen. Der vorgelegte Tagungsband stellt die überarbeiteten Beiträge der Tagung der Öffentlichkeit vor und schafft somit einen ersten Überblick über einige sozialwissenschaftliche Projekte des GEN-AU Programmes. Die Beiträge E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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zeigen ein breites Spektrum an ELSA Forschung in Österreich: Je zwei Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten der ELSA Forschung, der klinischen Anwendung von Biomedizin aus Perspektive von PatientInnen und Angehörigen sowie deren politischen Regulierung in Österreich. Je ein Artikel fokussiert die Rolle der Bioethik im Aufbau von Biobanken sowie unterschiedliche Konzeptionen von genetischer Beratung in klinischer Praxis, Politik und Justiz. Oliver Kemper stellt zunächst das Konzept von ELSA Forschung vor, skizziert unterschiedliche Förderungsprogramme und vergleicht in internationaler Perspektive deren institutionelle Verankerung, Finanzierung und thematische Ausrichtung. Dabei weist er auch auf die Gefahr einer möglichen Instrumentalisierung solcher Art von Forschung zur Beruhigung technikkritischer Stimmen hin. Er stellt ELSA Forschung in die Tradition kritischer Reflexion und Begleitung von Naturwissenschaften, wie sie seit dem 19. Jahrhundert gefordert wird. Seit einigen Jahren wird darüber hinaus von SozialwissenschaftlerInnen vermehrt die Schaffung sozial robusten Wissens eingemahnt. Dies setzt die Beteiligung von Öffentlichkeit voraus, was – so Kemper – einen zentralen Beitrag von ELSA Forschung darstellen kann: kritische Reflexion von Naturwissenschaften in Begrifflichkeiten zu leisten, die die Partizipation der Öffentlichkeit erleichtert und ermöglicht. Ulrike Felt, Maximilian Fochler und Michael Strassnig setzen in ihrem Beitrag die Beschäftigung mit dem Thema Partizipation fort und befassen sich mit der Rolle, die an ELSA Forschung beteiligte Personen – NaturwissenschaftlerInnen sowie Laien – bei der Erzeugung des in diesen Projekten geschaffenen Wissens einnehmen. Die Methodenwahl bei der Konzeption partizipativ gestalteter ELSA Projekte als „politische“ Entscheidung begreifend, untersuchen sie anhand dreier Forschungsprojekte, welche unterschiedlichen Sprechrollen und -positionen verschiedenen AkteurInnen bei unterschiedlichen Kommunikationsformen – Fokusgruppen, runden Tischen oder biographischen Interviews – zur Verfügung stehen und welche Auswirkungen dies auf Möglichkeiten der Partizipation hat. Alexander Bogner, Karen Kastenhofer und Helge Torgersen verbleiben in ihrem Beitrag beim Thema Partizipation, wenden sich jedoch der Makroebene realer und antizipierter Technikkontroversen zu. Sie betonen die Bedeutung der inhaltlichen Rahmung (framing) einer Technikkontroverse und unterstreichen den Unterschied zwischen dem framing einer Technikkontroverse in Kategorien von Risiko und Ethik. Das jeweilige framing hat Auswirkungen auf die governance einer Technologie, wobei sie zwischen risk und ethics governance unterscheiden. Letztere hat in den vergangen Jahren – auch etwa im Bereich der Genomforschung – an Bedeutung gewonnen. In
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der Anwendung dieser Konzepte auf emerging technologies als lediglich antizipierte Kontroversen, sind die AutorInnen skeptisch, dass die Frage der governance dieser Technologien durch den bloßen Rückgriff auf Erfahrungen mit vergangenen Technikkontroversen gelöst werden kann und sehen die Notwendigkeit eines – ebenfalls nicht unproblematischen – neuen Typus von „anticipatory governance“. Dabei konstatieren sie einen Funktionswandel von Expertise: die mit Technikfolgenabschätzung befassten WissenschaftlerInnen werden von BeobachterInnen zu MitspielerInnen. Auch Erich Grießler und Daniel Lehner befassen sich in ihrem Beitrag mit Politik – wechseln jedoch von der Makro- wieder auf die Mikroebene – und untersuchen, auf welche grundsätzlichen Voraussetzungen des „Politik-Machens“ die Steuerung kontroverser Technologien – etwa der medizinischen Anwendungen von neuen Biotechnologien – treffen. Auf unterschiedliche Konzeptionen sozialer Praktiken zurückgreifend, skizzieren sie anhand der Regulierung biomedizinischer Technologien politische Praktiken, die MinisterInnen, BeamtInnen und Abgeordnete anwenden. Die Möglichkeiten politischer Steuerung von Wissenschaft sind aus dieser Perspektive skeptisch zu sehen. Wissenschaftliche Expertise und Bevölkerungsbeteiligung stellen innerhalb dieser Praktiken nur eine von vielen Einflussgrößen eines Entscheidungsprozesses dar, der in vielen Settings stattfindet und von vielen AkteurInnen (mit)bestimmt wird. Der gesetzliche Regierungsprozess erweist sich als hoch komplex, unsicher und durch spezifische Praktiken geformt. Mit Bernhard Wiesers Beitrag verlassen wir das Feld der unmittelbaren Politik. Er wendet sich genetischen Tests im Kontext medizinischer Anwendungen – Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening – zu. Er zeigt auf, dass in diesen etablierten medizinischen Routinen eine rasche Diffusion von Untersuchungen stattfindet, die auf das Auffinden genetisch bedingter Erkrankungen abzielen, deren Praxis jedoch im Lichte zentraler Dogmen der genetischen Medizin wie informed consent und Entscheidungsautonomie problematisch ist. In weiterer Folge argumentiert Wieser, dass Abby Lippmans Genetisierungsthese – wonach Menschen sich zunehmend in genetischen Kategorien definieren – aus der Perspektive empirischer Forschung, die die Sichtweise von Betroffenen und Angehörigen untersucht, differenziert zu beurteilen ist. Erich Grießler und Anna Pichelstorfer greifen ebenfalls das Problem der genetischen Beratung auf und untersuchen, welche AkteurInnen, mit welchen Argumenten, in welchen Arenen genetische Beratung in Österreich diskutieren. Sie stellen nicht nur fest, dass sich die drei Bereiche klinische Praxis, Politik und Justiz zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten mit dem
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Problem der genetischen Beratung befasst haben, sondern auch, dass sie dies mit sehr unterschiedlicher Intensität getan haben. Zentral ist aber, dass die drei Domänen in der Definition der Leitkonzepte genetischer Beratung deutlich voneinander abweichen. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis von ÄrztInnen und PatientInnen, sondern erschwert auch die politische Regulierung der Genanalyse am Menschen. Ingrid Metzler thematisiert in ihrem Beitrag die wechselseitige Koproduktion von Biobanken und Bioethik. Sie zeigt anhand des Beispiels des Aufbaus einer österreichischen Biobank und der damit verbundenen Veränderungen im Bereich der akademischen, klinischen und industriellen Forschung, dass Bioethik der medizinischen Forschung nicht extern und die beiden einander nicht antagonistisch gegenüber stehen, vielmehr sind sie ineinander verwoben. Bioethische Begriffe und Praktiken ermöglichten in ihrem Fallbeispiel den Aufbau einer Biobank und konnten dazu dienen, unterschiedliche Konflikte innerhalb der ForscherInnengemeinde zu artikulieren, zu entschärfen und zu verwalten. Christina Lammer greift in ihrem Essay auf Videointerviews von Frauen zurück, die von Brustkrebs betroffen sind. Aus der Perspektive dieser Patientinnen thematisiert sie, welchen Wandel ihres Körperbilds und -bewußtseins Patientinnen im Kontakt mit dem medizinischen System durchlaufen, wie ihre Autonomie und Selbstbestimmung dadurch in Frage gestellt werden und wie sie versuchen, diese wieder zu gewinnen. Die vorgestellten Artikel bieten nicht nur ein breites Spektrum sozialwissenschaftlicher Forschung von ethischen, rechtlichen, sozialen und politischen Aspekten der Genomforschung in der österreichischen Gesellschaft, sie zeigen auch interessante Überschneidungen. Eine Reihe von Beiträgen setzt sich kritisch mit den Möglichkeiten öffentlicher Partizipation auseinander, wenngleich ihr im österreichischen Kontext – auch aufgrund einer fehlenden interessierten Öffentlichkeit – nur eine geringe reale Rolle zugeschrieben wird. Oliver Kemper sieht in ELSA einen wichtigen Beitrag, um Partizipation zu ermöglichen. Ulrike Felt et al. weisen darauf hin, dass methodische Entscheidungen wichtige Festlegungen für die prinzipielle Möglichkeit von Partizipation darstellen, während Alexander Bogner und KoautorInnen die Abhängigkeit der Möglichkeiten der Bevölkerungsbeteiligung vom jeweiligen framing des Themas konstatieren. Erich Grießler/Daniel Lehner und Erich Grießler/Anna Pichelstorfer heben schließlich die Schwierigkeiten von Partizipation angesichts spezifischer politischer Praktiken hervor, die Bevölkerungsbeteiligung erschweren, sowie fehlender politischer/öffentlicher Arenen, die diese ermöglichen würden.
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Ein gemeinsamer Topos des Bandes ist auch die Mehr- und Vieldeutigkeit von Begriffen, die von unterschiedlichen AkteurInnen und in unterschiedlichen Kontexten – zum Teil strategisch – genutzt werden. Dies betrifft etwa das Konzept der Autonomie, der Aufklärung und informed consent (siehe etwa die Beiträge von Ingrid Metzler, Erich Grießler und Anna Pichelstorfer sowie Christina Lammer). Ein weiteres Thema dieser ÖZS-Sondernummer ist die Problematik bioethischer Dogmen und deren Konsequenzen in Österreich. Bernhard Wieser kritisiert den in Österreich real stattfindenden informed dissent in Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening; Ingrid Metzler verweist auf den Doppelcharakter von Bioethik als Moralapostel und smooth operator; Erich Grießler und Anna Pichelstorfer zeigen auf, dass Autonomie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich verstanden wird; Christina Lammer weist auf die Herausforderungen und Grenzen von informed consent hin. Zu guter Letzt heben einige Beiträge das reflexive Element von ELSA Forschung hervor und betonen die (oft nicht-intendierte) Beteiligung von SozialwissenschafterInnen an den politischen Konsequenzen des von ihnen produzierten Wissens. Dies gilt vor allem im Beitrag von Ulrike Felt et al. für Methodenentscheidungen bei ELSA Projekten und für Alexander Bogner et al. bei von SozialwissenschaftlerInnen initiierten und moderierten partizipativen Prozessen in gesellschaftlichen Technikkontroversen. Die Beiträge dieses Sonderbandes der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie (ÖZS) wurden im Rahmen eines international üblichen, doppelt anonymisierten Evaluationsverfahrens durch jeweils zwei internationale EvaluatorInnen begutachtet. Von dieser Praxis wurde bei zwei Beiträgen abgegangen: Christine Lammer wählte für ihren Beitrag eine sich traditioneller wissenschaftlicher Kritik entziehende, essayistische Darstellungsweise, deren entschiedener Vorteil in der Einfühlsamkeit liegt mit der sie dem Leser/ der Leserin die Ängste und Konflikte der Frauen nachvollziehbar macht, die von Brustkrebs und genetischem Testen betroffen sind. Oliver Kempers Beitrag bietet einen interessanten Einblick in die ELSA Forschung aus der Sicht eines Praktikers der Forschungsförderung. Wir möchten einer Vielzahl von Institutionen und Personen unseren Dank ausdrücken, ohne die diese Publikation nicht möglich gewesen wäre: dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die finanzielle Unterstützung der Tagung und des Sammelbandes, der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und dem Programmmanagement des GEN-AU Programms für die freundliche und bereitwillige Unterstützung dieses Vorhabens; allen TagungsteilnehmerInnen für ihre interessanten Referate und Diskussionsbeiträge; den anonymen GutachterInnen für
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ihre unbezahlte Arbeit und wertvollen Hinweise; der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie für die Förderung der Erstellung der Publikation; der Redaktion der ÖZS für die Möglichkeit der Publikation im Rahmen dieses Sonderbandes sowie Susanne Haslinger und Christine Grießler für ihr Lektorat.
Wien und Graz, Juli 2010
Oliver Kemper Oliver Kemper
ELSA in der Genomforschung – eine vorübergehende Erscheinung? Zusammenfassung: Durch die Wandlung der Wissenschaft von einer Produzentin „zuverlässigen“ Wissens zur „post-normalen“ Wissenschaft, die „sozial robustes“ Wissen liefern soll, ist die kritische Reflexion ihrer Ergebnisse, aber auch ihrer Ansätze und Forschungsausrichtung notwendig geworden. Eine „sozial robuste“ Reflexion kann jedoch weder durch separat betriebene Sozialwissenschaften, noch durch von NaturwissenschaftlerInnen dominierte „Think Tanks“ oder ExpertInnenkommissionen geliefert werden. Sie schließen das notwendige Element der Öffentlichkeit aus. Die schwierige Aufgabe, die Öffentlichkeit einzubinden, kann nur durch eine Forschung gelöst werden, die zum einen in Forschungsprogrammen integriert ist und aus nächster Nähe die Forschenden und ihre Forschungsräume (und die Konzeption neuer Forschungsansätze) beobachtet, zum anderen jedoch distanziert genug ist, eine kritische Reflexion vornehmen zu können und Konzepte bzw. eine Sprachebene zu entwickeln, die diese kritische Reflexion ermöglicht. Das Aufspannen eines konzeptuellen Raumes zur kritischen Würdigung der Forschung ermöglicht es der Öffentlichkeit, diesen Raum in Besitz zu nehmen und ihre demokratische Aufgabe – informierte Entscheidungen zu treffen – zu erfüllen. Schlagworte: Genomforschung · GEN-AU · Post-normale Wissenschaft · Sozial robustes Wissen · ELSA · ELSI · Kritische Reflexion Öffentlichkeit
ELSA in Genomic Research – A Temporary Phenomenon? Abstract: The change from “reliable” to “socially robust” knowledge requires a critical reflection of results, approaches and direction of research. A reflection of what is “socially robust”, however, cannot be provided by social science research alone, nor by think tanks, foresight institutes which are dominated by natural scientists or expert commissions. All exclude a mandatory element – the “public”. The difficult task to involve the public can only be solved by a kind of research which is integrated in programmes of natural science research and therefore engages with the researcher (and the conceptualization of novel research programmes) from close proximity. On the other hand, this kind of research must be distant enough to allow for a critical reflection and to develop E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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concepts and a language which supports that reflection. The establishment of a conceptual space and appropriate language makes it possible for the public to inhabit that space and carry out its political function within a democracy – making informed decisions. Keywords: Genome Research · GEN-AU · Post-Normal Science · Socially Robust Knowledge · Critical Reflection · ELSA · ELSI · Public
1 Einleitung – das Entstehen der ELSA Forschung ELSA Forschung ist eine relativ neue Erscheinung. Als ihr „Erfinder“ kann James Watson gelten, der erste Direktor des Humangenomprojektes in den USA. Bereits bei der Einrichtung dieses Forschungsprogramms entschied Watson, einen Teil des Forschungsbudgets für das Studium der ethischen und gesellschaftlichen „Implikationen“ der modernen Genomforschung zu verwenden. Die Begründung für diese Neuerung war einleuchtend: Die Ergebnisse und Technologien aus der Genomforschung sollten zu einer noch nie da gewesenen, explosionsartigen Zunahme des Wissens über den menschlichen Körper führen. Auch die Qualität dieses Wissens war neu: Erstmals sollte das menschliche Genom vollständig bestimmt werden und somit die Erbinformation aller Gene vollständig offen liegen. Hier lag ein Paradigmenwechsel vor: Statt der mühseligen „Entdeckung“ einzelner Gene, die wie eine Stecknadel im Heuhaufen gesucht und (manchmal erst nach jahrelanger Forschungsarbeit) schließlich gefunden werden konnten, sollte die als Rohmaterial leicht zugängliche genomische Erbinformation einfach vollständig durchsequenziert werden. Die Tatsache, dass die dazu notwendigen Technologien anfangs nicht zur Verfügung standen, machten das Programm auch zu einem Technologie-Entwicklungsprogramm: Ziel war es, die Sequenziertechnologien wesentlich zu verbessern und die aus der Sequenzierung resultierenden riesigen Datenmengen der ForscherInnengemeinde in leicht durchsuchbarer Form zur Verfügung zu stellen. Dabei konnte auf wissenschaftliche Hypothesen zur Funktion einzelner Gene oder Gengruppen erstmals vollständig verzichtet werden – die Beschäftigung mit derartigen Hypothesen wäre lediglich als unnötiger Ballast erschienen, der notwendige Ressourcen gebunden hätte. Damit weist bereits das Ende der 1980er Jahre begonnene Humangenomprogramm einige Charakteristika auf, die in der biomedizinischen Forschung bis heute große Programme bestimmen:
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1. Massive Konzentration auf die Aufklärung von Eigenschaften (Sequenz, Struktur, Interaktion etc.) einer großen Zahl von gleichartigen Molekülen (DNS1, Proteine, Metaboliten, Lipide etc.) 2. „Hypothesenfreie“ Forschungsansätze 3. Entwicklung von Technologien, die die Datensammlung und Datenarchivierung bzw. Analyse unterstützen 4. Entwicklung von Software bzw. Robotik, die einen großen Teil der Forschungsarbeit automatisiert erledigt 5. Einrichtung von Datenbanken (bzw. auch Gewebebanken), die der ForscherInnengemeinde zur Verfügung gestellt werden bzw. Einspeisung der Forschungsergebnisse in existierende Datenbanken Die in der Folge in Kanada und dann auch in Europa eingerichteten Humangenomforschungsprogramme orientierten sich an dem in den USA eingerichteten Programm. Dies war notwendig, weil die gestellte Aufgabe derart überwältigend war, dass sie zwischen einzelnen Ländern aufgeteilt werden musste. So erhielt z. B. Deutschland, das 1995 sein erstes Humangenomforschungsprogramm auflegte, das menschliche Chromosom 21 (eines der kleineren Chromosomen von insgesamt 23, die das menschliche Genom ausmachen) zur Analyse zugewiesen. Auch das Konzept der „Begleitforschung“ wurde übernommen und als Folge der großen Genomforschungsprogramme in Europa etabliert. Hier entstanden allerdings z. T. erhebliche Verzögerungen: So wurde in Deutschland beispielsweise erst 2001, sechs Jahre nach dem Start des Humangenomprogramms, mit der Förderung von ELSA Projekten begonnen.2 In Österreich dagegen wurde die ELSA Forschung zeitgleich als Teil des im Jahr 2001 eingerichteten Genomforschungsprogramms GEN-AU begonnen.
2 Unterschiedliche Ansätze in den USA und Europa Die Implementierung der ELSA Begleitforschungsprogramme zeigt wesentliche Unterschiede im Ansatz und in den Erwartungen an diese Forschung auf. In den angelsächsischen Ländern, vor allem aber in den USA, hat die dort ELSI genannte Forschungsrichtung (der Buchstabe I steht hier für implications) eine klar umrissene Aufgabe: Die Implikationen der neuen Technologien zu erforschen, deren Risiken abzuschätzen, und womöglich Handlungsanweisungen an Politik, Gesetzgeber und Wissenschaftstreibende zu formulieren. So sollen die neu entwickelten Technologien optimal und (der
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Verdacht drängt sich auf) möglichst reibungsarm, d. h. unter geringstem Verbrauch an Ressourcen, implementiert werden können. Trotz des begleitenden, analytischen und (möglicherweise) kritischen Ansatzes der Forschung ist eine Diskussion gerade kritischer Aspekte mit der Öffentlichkeit nicht – zumindest nicht explizit – vorgesehen. Einigen Autoren zufolge soll das Programm von Watson sogar mit dem ausdrücklichen Zweck eingerichtet worden sein, die Wissenschaftler unbehelligt forschen zu lassen, indem kritische Aspekte von den Sozial- und Geisteswissenschaftlern separat analysiert und „zerredet“ würden (a „group that would talk and talk and never get anything done“ (Fortun 2000)). Sollte hier statt kritischer Diskussion und der möglichen Etablierung ethischer Standards einfach eine Möglichkeit geschaffen werden, den „Fortschritt“ so wenig wie möglich zu behindern? Die von Francis Collins, dem Nachfolger Watsons, 2004 in der Zeitschrift „Nature“ (Collins 2004) veröffentlichten „Grand Challenges“ der ELSI Forschung scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Alle vorgestellten Themen beschäftigen sich entweder mit möglichen Barrieren der Umsetzung (z. B. „Intellectual Property Issues Surrounding Access to and Use of Genetic Information“) oder der möglichst verlustfreien Verwendung genetischer Information („Issues surrounding the Use of Genetic Information and Technologies in non-Health Care Settings“). Besonders offensichtlich wird die positive Grundeinstellung, wo es um medizinische Anwendungen geht („Ethical, Legal and Social Factors that Influence the Translation of Genetic Information to Improved Human Health“). Dass hier geförderte Projekte explizit das Ziel haben, die Verwendung und den Zugang zu der neuen genetischen Information für die „Verbesserung menschlicher Gesundheit“ zu untersuchen, gibt der ELSI Forschung relativ klare Richtlinien vor. Diese „grand challenges“ sind denn auch keineswegs (wie z. B. die Themenvorschläge in den Ausschreibungen der österreichischen ELSA Programmschiene) als „mögliche“ Themen formuliert, sondern klar als „Program Priorities“ definiert. Abgesehen von dieser „vorgegebenen“ positiven Grundeinstellung den neuen Technologien gegenüber ist allerdings anzumerken, dass deren Verwendung in gesellschaftlich kritischen Bereichen – vor allem betreffend die Privatsphäre und die Nutzung genetischer Daten für Arbeitgeber und Versicherungen – in den USA auch von Collins selbst kritisch betrachtet wurde. Der Einsatz Collins’ für den Schutz der Privatsphäre und die Nicht-Verwendung genetischer Daten3 hat vermutlich zur gesetzlichen Verankerung von Regelungen beigetragen, die die Verwendung genetischer Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen einschränken (Genetic Information Nondiscrimination Act, GINA, 2008).4
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Dies ist kompatibel mit der oben angenommenen Zielsetzung des ELSI Programms – die Wissenschaftler ungehindert arbeiten zu lassen, während das Programm einerseits sowohl die Implementierung der erarbeiteten Technologien enthusiastisch begleitet („Verbesserung der menschlichen Gesundheit“), andererseits aber auch die Anwendung der Technologien in einigen (top-down als kritisch identifizierten) Bereichen soweit einschränkt5, dass sie sozial kompatibel sind, ohne den Fortschritt oder die wirtschaftliche Umsetzung zu beeinträchtigen. Wurde diese Zielsetzung auch in Kanada und den europäischen Ländern verfolgt, oder gab es hier einen offeneren Umgang mit dieser neuen Forschungsrichtung? Es scheint, dass ein derart „utilitaristischer“ Ansatz wie in den USA den kontinentalen Sozial- und Geisteswissenschaften im Grundsatz eher fremd ist. Es wäre daher zu erwarten, dass er keine obligatorische Entsprechung in offen konzipierten Begleitforschungsprogrammen findet. Dies scheint z. B. für das ELSA Begleitprogramm für das österreichische Genomforschungsprogramm GEN-AU des bmwf, oder auch das ELSA Programm für die modernen Lebenswissenschaften und die Biotechnologie des deutschen bmbf zuzutreffen.
3 ELSA in Österreich Das österreichische ELSA Begleitforschungsprogramm wurde 2001 als Teil des österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU konzipiert. Die Ausschreibungen waren sehr offen gestaltet und schlossen Forschungen zu „ethischen, rechtlichen, politikwissenschaftlichen, ökonomischen, soziologischen, kommunikations-wissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen oder sonstigen sozial- und geistes-wissenschaftlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit Genomforschung“ ein. Die Forschung war daher thematisch nicht auf die „Auswirkungen“ der Genomforschung beschränkt, sondern blieb offen für bottom-up, frei zu wählende „Aspekte“ bzw. „Fragestellungen“. Dies stellt einen grundsätzlichen Unterschied zum ELSI Programm der USA dar. Obwohl bereits in den vorangegangenen Phasen des Programms Dialogprojekte gefördert worden waren, wurden für die 2009 gestartete dritte und letzte Phase des Programms explizit auch Diskursprojekte ausgeschrieben. Diese Änderung der Ausschreibung reflektiert ein Problem im gewünschten Diskurs, der über Themen der Genomforschung offenbar nicht einfach zu erreichen war. In einem anderen Aspekt
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wurden die Projekte allerdings thematisch eingeschränkt: Sie sollten explizit einen Bezug zur Genomforschung haben, Fragestellungen etwa der klassischen Genetik waren ausgeklammert.
4 Deutsche ELSA Forschung Eine derartige Einschränkung gab es für das deutsche ELSA Programm nicht. Im Gegenteil wurde das direkt vom Ministerium für Bildung und Forschung bmwf ausgerichtete Programm – anfänglich als Begleitforschung zum deutschen Humangenomprojekt konzipiert – rasch auf Aspekte der „Lebenswissenschaften“ ausgeweitet. Dabei sind die Bekanntmachungen sehr breit formuliert (gefördert wird etwa die Erforschung eines „konkreten, aktuellen Themas, das aus dem breiten Bereich der ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekte der modernen Lebenswissenschaften gewählt werden kann“). Auch hier wird nicht explizit auf die Auswirkungen der Lebenswissenschaften auf die Gesellschaft, sondern lediglich auf „Aspekte“ verwiesen, wodurch der aufgespannte Rahmen an Themen sehr weit wird. Anders als im österreichischen Begleitforschungsprogramm wurden die ausgeschriebenen Projekte allerdings in Kategorien unterteilt, die die strategischen Interessen der Fördergeber spiegeln: nationale Förderprojekte, internationale Konsortien, Nachwuchs-(Struktur-)Förderung, Diskurs und Ressourcenförderung.6 Deutschland förderte die ELSA Wissenschaften bislang mit insgesamt etwa 22 Mio.
(seit 2001), die österreichische Förderung belief sich im gleichen Zeitraum auf knapp 5 Mio.
. Interessanterweise förderte Deutschland internationale ELSA Projekte mit insgesamt ca. 20% der Gesamtausgaben, während das kleinere Österreich hierfür ca. 10% bereitstellte.
5 ELSA in weiteren europäischen Ländern Es scheint, dass die in Österreich und in Deutschland implementierten Programme bzw. begleitende ELSA Forschung (in beiden Fällen keine separaten Forschungsprogramme, aber mit separatem Budget versehene regelmäßige Ausschreibungen) tatsächlich (von der Zielsetzung her) offener als ihr US Gegenstück konzipiert sind. Trifft dies auch für Kanada und andere europäische Länder zu? Eine Erhebung aus dem Jahr 2006 beleuchtet die Situation einiger europäischer Länder (Nelis et al. 2008). Aus der Studie lassen sich einige Aspekte
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der oben getroffenen Unterscheidung auch für die untersuchten Länder herausarbeiten. Die Förderung von ELSA Projekten erfolgt – wenig überraschend – sehr unterschiedlich. So haben einige wenige Länder Zentren eingerichtet (Großbritannien, Niederlande, Kanada), die zum Teil finanziell sehr gut ausgestattet sind (in den Niederlanden etwa werden über 10% der nationalen Mittel für Genomforschung für die ELSA7 Forschung zur Verfügung gestellt8). Diese Länder verfügen über eine ELSA Forschungsgemeinde, auch werden Konferenzen ausgerichtet und themenspezifische Journale publiziert. Hier haben die SchülerInnen offenbar den Meister übertroffen, denn die USA haben ihr ELSI Programm auch nach zwei Jahrzehnten noch strukturell und organisatorisch in der Genomforschung (HGRI – Human Genome Research Institute) verankert. Dieser Ansatz wird auch von einigen europäischen Ländern (Österreich, Deutschland, Finnland, Norwegen) verfolgt9. Diese Länder verfügen – möglicherweise als Folge der Art der Förderung – nicht über eine starke Forschungsgemeinde, meist fehlen auch eigene Konferenzen oder Journale. In einigen Ländern (Schweiz, Israel) schließlich wird ELSA Forschung überhaupt nicht separat gefördert, sondern lediglich in einzelnen Projekten aus offenen Ausschreibungen10. Hier kann fast als sicher angenommen werden, dass eine solche Art der Förderung (die auch für die meisten anderen, nicht untersuchten europäischen Länder angenommen werden kann) ursächlich für das Fehlen einer etablierten ELSA Forschergemeinde, von Konferenzen oder Journalen ist. Eine Forschung, die nach der obigen Analyse als „utilitaristisch“ einzustufen wäre, sollte den Aspekt der „Erleichterung der Implementierung der neuen Technologie“ enthalten. Nach Nelis und anderen (Nelis et al. 2008) verfolgen Finnland, Norwegen, die Schweiz und Kanada dieses Ziel, interessanterweise aber nicht Großbritannien, Deutschland, Österreich und die Niederlande (zumindest nicht explizit). Ein Grund für diese Zielsetzung liegt möglicherweise in der strukturellen Anbindung der ELSA Forschung: Sowohl Großbritannien als auch die Niederlande haben eigene Zentren eingerichtet, die (auch wenn ELSA in den Niederlanden ein Teil der naturwissenschaftlichen Genomforschung ist) klar von geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen (GSK) Zugängen dominiert werden. In Großbritannien ist sogar die für ELSA zuständige Fördereinrichtung auf GSK-Forschung eingeschränkt. Diese Beobachtungen sind kompatibel mit einer von österreichischen GSK-Wissenschaftlern zuweilen geäußerten Anmerkung, die ELSA Forschung sei auch in Österreich zu sehr auf das Erreichen strategischer Ziele der Fördergeber (Erleichterung der Implementierung der Technologien) ausgerichtet, auch wenn die Ausschreibungstexte dies nicht erkennen las-
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sen. Dies lässt darauf schließen, dass Vertreter der europäischen GSK Disziplinen sensitiv auch gegenüber nur angenommenen Beeinträchtigungen ihrer Forschungsfreiheit sind (Workshop „The Future of ELSA Genomics”, bmbwk, 19. 10. 2006). Interessanterweise verfolgt Österreich als einziges Land mit seiner ELSA Forschung auch die Ziele, BürgerInnen in die Wissenschaftspolitik einzubinden – und ihnen unbegründete Ängste vor neuen Technologien zu nehmen. Inwieweit diese Ziele erreicht wurden, muss derzeit allerdings dahingestellt bleiben. Beide Ziele beruhen wesentlich auf einer erfolgreichen Einbindung der Öffentlichkeit in den Diskurs über neue Technologien – eine Aufgabe, die eine gewisse Herausforderung darstellt.
6 Forschungsthemen Die Verteilung nach geförderten Themen in allen untersuchten Ländern lässt klar einen Schwerpunkt erkennen: In ca. 60% aller geförderten Projekte waren mit Gesundheit verbundene Themenstellungen Forschungsgegenstand. Dies trifft, soweit sich dies aus den „grand challenges“ herauslesen lässt, ebenfalls für das ELSI Programm der USA zu. Während dieses Programm allerdings auf Humangenomik beschränkt ist, sind einige Programme thematisch weiter gespannt (in Österreich umfasst das Genomforschungsprogramm auch Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen, in Deutschland schließt die ELSA Förderung Aspekte der Lebenswissenschaften insgesamt ein). Dennoch wurden z. B. in Österreich Aspekte pflanzlicher Genomforschung von den Antragstellern nicht eingebracht. Auch in Deutschland waren solche Aspekte weit untergeordnet: Die „Grüne Gentechnik“ war Thema in nur zwei von mehr als 120 geförderten Projekten. Eine eher untergeordnete Rolle spielte die „grüne Gentechnik“ auch in den Förderungen anderer EU Länder, mit Ausnahme Norwegens, wo sie – ob strategisch gefordert oder wegen des ausschließlichen Interesses der Antragsteller – den Hauptteil der geförderten Projekte ausmacht (Nelis et al. 2008).
7 Finanzierung Die Finanzierung der ELSA Forschung scheint dem von James Watson vorgegebenen Konsensmodell zu folgen: In vielen Fällen werden ca. 3–5% der insgesamt für Genomforschung bereitgestellten Mittel für ELSA Forschung
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aufgewandt (z. B. USA, Österreich). In einem Fall wurden über 10% für ein Zentrum aufgewandt (Niederlande), während manche Länder nur 1% ihrer für Genomforschung vorgesehenen Mittel für ELSA Forschung aufwenden. Bei manchen Ländern (Schweiz, Israel) können Zahlen nicht erhoben werden, weil keine gesonderten Mittel für ELSA verfügbar sind und die wenigen existierenden Projekte nicht in Relation zu einem bestimmten Forschungsprogramm gesetzt werden können.
8 ELSA Themen in der EU Im Rahmen der Priorität 1 – Life Sciences, Genomics and Biotechnology for Health – des 6. EU Rahmenprogramms war die Integration von Fragestellungen zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten in naturwissenschaftliche Forschungsprojekte gefordert. Allerdings wurden unter dieser Priorität keine separat diesem Thema gewidmeten Projekte gefördert. Auch ein Überblick über die bearbeiteten ELSA Fragestellungen bzw. Subprojekte fehlt. Einige Projekte aus dem „Science and Society“ Bereich des 6. Rahmenprogramms schließen Genomics unter „converging technologies“ ein: so etwa CONTECS (Untersuchung der Auswirkung der „converging technologies“ auf die Sozial- und Geisteswissenschaften).11 Eher spezifische Fragestellungen (Biodiversität, „Gen-Piraterie“, Beteilung („benefit sharing“) mit Entwicklungsländern) wurden in zwei Projekten aus dem Bereich Science and Society erforscht. Für den ELSA Genomics Bereich fehlt jedoch ein übergreifendes Forschungsprojekt. Auch eine spezifische Förderungsschiene für ELSA Genomics Themen fehlt sowohl im 6. wie auch im 7. Rahmenprogramm. Interessanterweise wird selbst der Begriff „ELSA“ in den Förderunterlagen der Kommission nicht verwendet. Ob dies strategische Überlegungen der Kommission reflektiert, ist unklar. Einen thematischen Schwerpunkt für ELSA Genomics Themen scheint es nicht zu geben. Hier sollte das ERA-NET ERA-SAGE (societal aspects of genomics) ansetzen.12 Das ERA-NET war ein Zusammenschluss aus sechs EU Ländern, der Schweiz, Norwegens, Israels und Kanadas. Das Ziel, gemeinsame Initiativen zu definieren und über die beteiligten Partnereinrichtungen zu fördern, wurde allerdings nicht erreicht. Im Gegenteil war dieses ERA-NET das bislang erste, das durch eine Entscheidung der Kommission vor dem Ende seiner Laufzeit beendet wurde. Es ist unklar, ob diese Tatsache dem eher langwierigen Prozess zur Einrichtung (und der fehlenden Übereinstimmung zwischen den Partnern über die Ziele) gemeinsamer Förderinitiativen geschul-
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det war oder – wie aus dem Report des ERA-NET über die europäische Förderlandschaft ersichtlich – den höchst unterschiedlichen Strukturen und Voraussetzungen der nationalen ELSA Genomics Förderungen, oder ob sie gar strategische Überlegungen der Kommission zu ELSA Förderungen reflektiert.
9 Transnationale ELSA Forschung in Europa Einige Partnerländer (Deutschland, Österreich, Finnalnd) haben unter österreichischer Koordination eine transnationale Initiative eingerichtet, die spezifisch länderübergreifende Projekte im ELSA Genomics Bereich fördert.13 Ziel ist die Förderung kooperativer Forschungsprojekte, deren Fragestellungen aus dem weit gefassten Themengebiet ELSA Genomics unter Bevorzugung human-relevanter Themenstellungen gewählt werden können. Dabei war das Aufzeigen einer Verwendungsmöglichkeit für die erwarteten Projektergebnisse, mithin eines klaren Nutzens für die Öffentlichkeit, Voraussetzung für die Förderung. In Anbetracht der uneinheitlichen nationalen Förderungen und des Fehlens eines EU-weiten Fokus für ELSA Genomics muss daher ELSAGEN – trotz der geringen Anzahl an teilnehmenden Ländern und einem relativ geringen Budget – als die einzige echte internationale europäische Initiative in diesem Bereich gelten.
10 ELSA in anderen Wissenschaftsgebieten Eine „Begleitforschung“ wird auch in anderen Wissenschaftsgebieten betrieben. Insbesondere in den „Nanowissenschaften“ sind begleitende GSKorientierte Forschungsprojekte sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene eingerichtet worden. So wurden z. B. im 6. Rahmenprogramm Projekte zu Ethik, Dialog und Politik gefördert.14 Nationale Förderungen dagegen verfolgen Schwerpunkte eher im Bereich Risiko Assessment bzw. Aufklärung, z. B. die österreichische NanoTrust Programmlinie des nationalen Nanotechnologieprogramms15, die niederländische NanoNed Initiative bzw. das deutsche Nanobüro (eine Plattform für interaktive Gespräche). In den – hauptsächlich in den Nanowissenschaften vertretenen – ELSA bzw. Begleitforschungsinitiativen anderer Wissenschaftsbereiche steht, verglichen mit den in der Genomik verfolgten Ansätzen, eher die Risikoeinschät-
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zung und die Aufklärung der Öffentlichkeit im Vordergrund. Dies könnte mit der Tatsache zusammenhängen, dass aus dem Gebiet der Nanotechnologie bereits Produkte (z. B. Lacke) zur Verfügung stehen, bei denen eine konkrete Risikoabschätzung sinnvoll ist. Auch die Aufklärung der Öffentlichkeit gestaltet sich angesichts demonstrierbarer Produkte mit erwünschten Eigenschaften anders als etwa in der Genomforschung, deren inhärente Komplexität und Produktferne anders geartete Fragen aufwerfen muss. Die ELSA Genomics Forschung in Europa erscheint im Grundsatz freier und thematisch sowie in ihrer Prioritätssetzung offener als die ELSI Forschung in den USA, die (1) thematisch fokussiert, (2) an festgelegte Prioritäten gebunden und (3) organisatorisch nicht nur in das Humangenomforschungsprogramm, sondern in das daraus abgeleitete Forschungsinstitut für Humangenomforschung NHGRI eingebunden bleibt. Die europäische ELSA Forschung wird daher auch – im Gegensatz zu ihrem Pendant in den USA – nicht durch „Handlungsimperative (. . .) bestimmt“ (Rossini und Pohl 2009).
11 Ein Nutzen bzw. Ziel der ELSA Forschung? Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass eine derart offen konzipierte ELSA Begleitforschung notwendigerweise im weitesten Sinn frei, d. h. auch frei von einem eventuellen Zweck oder Nutzen ist. Worin könnte ein solcher Nutzen liegen? Sollte ELSA Forschung einem „Handlungsimperativ“ unterworfen sein? Sollten NaturwissenschaftlerInnen, gar ein überwiegend naturwissenschaftlich orientiertes Forschungsinstitut, die Mittel für ELSA Forschung verwalten und ihre strategischen Prioritäten festsetzen? Um diese Fragen anzugehen, müssen zunächst die historischen Wurzeln dieser Forschungsrichtung beleuchtet werden. Zwar ist sie dem Namen und der Schwerpunktsetzung nach im Kontext des Humangenomprojektes entstanden. Doch Ansätze zu einer kritischen Betrachtung der Wissenschaften und ihrer Entwicklung gibt es sehr viel länger. Was kann aus diesen Ansätzen abgeleitet werden? Bereits 1902 forderte der Soziologe H. G. Wells (Wells 1902) eine systematische Untersuchung zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Die technischen Wissenschaften, so der Kern seines Arguments, beeinflussten die Gesellschaft in nicht-linearer Weise. Die Auswirkungen müssten durch rationale, wissenschaftliche Methoden eingeschätzt werden, die es zu entwickeln gelte16. Wells’ Forderungen blieben lange ohne Beachtung, da die Geisteswissenschaften zwar die Naturwissenschaften analysier-
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ten, ihren Fokus jedoch eher auf die innere Struktur der Wissenschaften, z. B. auf die ihnen inhärente Logik und Erkenntnisfindung legten. Eine Änderung dieser Betrachtungsweise fand erst in den 1970er und 80er Jahren statt – beeinflusst möglicherweise durch Sorge um destruktive Entwicklungen (Szilard 1945)17 bzw. die Analyse wissenschaftlicher Umwälzungen und ihres Einflusses auf gesellschaftliche Entwicklungen (Kuhn 1962). In der Folge etablierten sich neue Forschungsrichtungen wie die Science-to-Society Studies, die u. a. den Gedanken Wells’ aufgriffen. Auch erlebte die philosophische Richtung der Ethik eine neue Entwicklung – nicht zuletzt durch die aus den neuen technischen Möglichkeiten (vor allem im Bereich der Biologie und Medizin) resultierenden normativen Fragestellungen. Konsequenterweise entwickelten sich in weiterer Folge Gebiete wie die Medizinethik, Bioethik und sogar Ethik der Forschung. Diesen Wissenschaften ist jedoch gemeinsam, dass sie weder transdisziplinär sind, noch die traditionelle Distanz der kritischen Analyse aufgeben, da sie sich als eigenständige, von anderen Richtungen unabhängige Forschungszweige mit eigenen Abteilungen und Journalen etablierten. Parallele Entwicklungen führten zur Etablierung weiterer Forschungszweige, etwa dem „Technology Assessment“ (die mathematisch unterstützte Einschätzung der Auswirkung bereits weit entwickelter Technologien). Auch wird versucht, langfristige Entwicklungen einzuschätzen – durch „Foresight“ Forschung, die allerdings meist in der Art von „Think Tanks“ überwiegend von NaturwissenschaftlerInnen betrieben wird. Parallel dazu gab es direkt aus den Naturwissenschaften heraus Bestrebungen, ethisch motivierte Beschränkungen im Rahmen einer Selbstkontrolle zu implementieren (Asilomar 1975)18. Diese Bestrebungen blieben selten – im Allgemeinen ziehen es NaturwissenschafterInnen vor, „unbehelligt“ zu arbeiten und dies mit der Charakterisierung ihrer Tätigkeit als „reine“ Grundlagenforschung“ zu begründen. Offensichtlich wurde bei der Einrichtung des Humangenomprojektes auf keine dieser bereits existierenden Forschungsrichtungen bzw. Einrichtungen vertraut – im Gegenteil wurde die neue Forschungsrichtung „ELSI“ (die ihre Wurzeln z. T. in den drei oben genannten Forschungsrichtungen hat) etabliert. Dabei wurde erstmals eine im Grunde geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung direkt in ein naturwissenschaftliches Forschungsprogramm integriert. Diese Integration hatte – für die in den USA verwendete ELSI Forschung – Folgen: Die Forschung war strategischen Zielsetzungen unterworfen, die direkt aus dem naturwissenschaftlichen Programm heraus generiert wurden und klarerweise den Forschungsergebnissen grundsätzlich positiv gegenüberstanden. Eine grundsätzliche Reflexion oder gar Rich-
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tungsbestimmung etwa der Genomforschung oder der Nanotechnologie durch die ELSI Forschung ist damit nahezu ausgeschlossen. Dies gilt jedoch nicht für die europäische „ELSA“ Forschung. Diese ist vom Begriff her (in den meisten Ländern, die solche Forschung unterstützen) weiter gefasst – sie schließt damit grundsätzlich einen Einfluss der ELSA Forschung auf die Einrichtung und Richtungsbestimmung naturwissenschaftlicher Forschung nicht aus (vgl. Rossini und Pohl 2009, S. 10). Die ELSA Forschung kann sogar so weit gefasst werden, dass sie (als „Begleitforschung“ definiert) neun unterschiedliche Ansätze bzw. Forschungsgebiete subsumiert, von denen nur zwei unter den typischen „ELSI“ Ansatz fallen (siehe Fiedeler 2009). Alle darin aufgeführten Ansätze (von der Technikfolgenabschätzung bis hin zum Diskursprojekt) fallen ohne Zweifel unter die österreichische Definition von ELSA Genomics. Die transnationale ELSAGEN Initiative zeigt zudem, dass eine sehr weit gefasste Definition von ELSA Genomics auch mit der Forschungsförderung anderer europäischer Länder kompatibel ist. Es scheint daher, als habe die Entwicklung der ELSI Forschung zwar auf dem von Wells angestoßenen Gedanken gefußt, zukünftige Entwicklungen der Technik müssten eingeschätzt werden, weil diese einen wesentlichen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Die sich hier anschließende Forderung allerdings, eine derartige Forschung solle auch eine Rückwirkung auf die von ihr untersuchten Forschungsprogramme bzw. die Ausrichtung der naturwissenschaftlichen Forschung haben, ist – zumindest in den USA – offensichtlich keine (erlaubte) Aufgabe der ELSI Forschung. Dagegen ist in Europa ein solcher „reflexiver Beitrag“ durchaus vorstellbar. (Rossini und Pohl 2009: „Im Gegensatz zu den USA, wo Handlungsimperative die ELSI-Forschung bestimmen, besteht im europäischen Forschungsraum die Tendenz, Technikentwicklung aktiv, demokratisch und reflektiert mitzugestalten“.) Allerdings beziehen sich Rossini und Pohl auf die Nanotechnologie – ein synthetischer Forschungsbereich, der erst durch die entsprechenden Forschungsprogramme definiert und geschaffen wurde.
12 Der „Neue Sozialvertrag“ für die Wissenschaft Eine „demokratisch und reflektiert“ betriebene „Mitgestaltung von Technikentwicklung“, wie sie von Rossini und Pohl für die Nanotechnologie in Europa angenommen wird, folgt den Entwürfen von Gibbons (Gibbons 1999). Dieser hatte 1999 einen „neuen Sozialvertrag“ der Wissenschaften
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gefordert. Der neue Vertrag sollte einen Einfluss der Gesellschaft auch auf frühe Stadien der Wissenschaftsentwicklung sichern. Nach der Erzeugung von „verlässlichem“ Wissen, das im 20. Jahrhundert entscheidend gewesen sei, müsse nun „sozial robustes“ Wissen erzeugt werden. Das könne nur gelingen, wenn die Wissenschaft nicht erst im Stadium der technischen Anwendung gesellschaftlich reflektiert werde, sondern eine derartige Reflektion bereits frühzeitig stattfinde. Die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Debatte um „Atomfreiheit“ und wenig später „Genfreiheit“ scheinen Gibbons Recht zu geben: In beiden Fällen wurden Technologien zum Zeitpunkt ihrer wirtschaftlichen Umsetzung zum Teil radikal abgelehnt. Diese Ablehnung war mit einer Abnahme des allgemeinen Vertrauens in die Wissenschaft selbst korreliert. Ein derartig gestörtes Vertrauensverhältnis ist jedoch nachteilig für eine moderne Gesellschaft – insbesondere dann, wenn angenommen wird, dass die Lösung gesellschaftlicher Probleme – Wohlstand (modern operationalisiert als Wirtschaftswachstum), Gesundheit, Lebensqualität bei gleichzeitig minimaler Umweltbelastung – wesentlich von wissenschaftlichen Entwicklungen abhängt.
13 Sozial robustes Wissen Wie kann sozial robustes Wissen erreicht werden? Es ist offensichtlich, dass die Festlegung wissenschaftlicher Forschungsprioritäten und Schwerpunkte durch Expertengremien, Think Tanks, Foresight Institute oder sozialwissenschaftliche Analysen und die Umsetzung daraus generierter Empfehlungen nicht ausreicht. Allein die Frage, wer die ExpertInnen hinterfragen soll, die die Wissenschaftsentwicklung analysieren und Empfehlungen ausarbeiten, macht dies deutlich. Zudem kann durch eine reine ExpertInnenempfehlung das Vertrauen der Gesellschaft nicht hergestellt werden. Hier ist offenbar die – frühzeitige – Einbindung der Öffentlichkeit erforderlich. Wie kann dies umgesetzt werden? Ist hier für die Genomwissenschaften eine andere Vorgehensweise erforderlich als für andere Wissenschaftszweige? Wissenschafts- bzw. Technologiebereiche unterscheiden sich hinsichtlich der Entwicklungszeit für Produkte: So vergehen bis zur Markteinführung eines Medikaments über 14 Jahre mit Grundlagen- und angewandter Forschung. Dagegen ist neue Software und zunehmend auch Hardware im Rhythmus von einigen Monaten verfügbar. Wissenschaften und Technolo-
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gien unterscheiden sich auch hinsichtlich der Radikalität ihrer Ergebnisse bzw. deren Umsetzung. So kann etwa eine neue Version einer Software eine kleine Verbesserung enthalten, während der Ersatz von menschlichem Gewebe oder menschlichen Organen durch auf biologischer Grundlagenforschung erarbeiteter Robotik oder Elektronik eine radikale Veränderung darstellt – insbesondere dann, wenn es sich um Nervengewebe handelt, das wir (im Fall der Großhirnrinde) als Sitz unserer Persönlichkeit ansehen. Auch die Erzeugung synthetischer Lebewesen (eine Forschungsrichtung der Post-Genomik, die sich aus der Systembiologie entwickelt) kann als radikale Änderung begriffen werden. In Abbildung 1 sind Radikalität und Entwicklungszeiten für einige Technologie-Bereiche schematisch dargestellt. Abbildung 1
Es scheint, dass für kurze Entwicklungszeiten eine „sozial robuste“ Verwendung von Technologien angenommen werden kann. So können z. B. neue Handys, mp3 player oder Tablet PCs am Markt erprobt werden. Sie beruhen auf (weitgehend) bekannten Prinzipien und stellen daher keine grundlegende radikale Neuerung dar. Ihre Anwendung kann über ihre Markteinführung „sozial robust“ gemacht werden, da eine Ablehnung sich umgehend in niedrigen Verkaufszahlen auswirkt. Dies führt wiederum zu einer Änderung der Erforschung neuer Anwendungen, mit dem Ziel, diese den Vorstellungen der Konsumenten besser anzupassen.
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Auch bei der Nanotechnologie kann davon ausgegangen werden, dass die erzeugten Produkte keine radikale Änderung bewirken: Sie erscheinen als verbesserte Versionen bekannter Materialien. Selbst ihr mögliches Gefährdungspotential ist von bereits existierenden Materialien (etwa Asbest) her bereits in den Grundzügen bekannt. Demgegenüber weisen die Genomforschung und die sich aus ihr entwickelnden post-genomischen Wissenschaften (insbesondere Systembiologie und synthetische Biologie) ein bislang noch nicht dagewesenes Potential an Radikalität auf. Zum einen können Produkte aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstreplikation die Umwelt nachhaltiger beeinflussen als jede selbst in großen Mengen ausgebrachte chemische Substanz ohne diese Fähigkeit. Zum anderen können neu entwickelte Lebewesen, Nahrungsmittel und Körpergewebe sowohl unsere Lebensbedingungen als auch unser Verständnis von uns selbst bis zur Unkenntlichkeit – und damit radikal – verändern. Die solche Veränderungen bewirkenden Produkte erfordern allerdings – wie alle Produkte aus dieser Forschungsrichtung – eine sehr lange Entwicklungszeit. Diese wird vermutlich durch die zunehmende Komplexität des Forschungsansatzes (von der Genomforschung zur Systembiologie) eher länger als kürzer. Wie kann in diesem Forschungsbereich die Erzeugung eines „sozial robusten“ Wissens aussehen?
14 Beteiligung der Öffentlichkeit Die Einbindung der Öffentlichkeit in komplexe Forschungsgebiete ist nicht einfach – insbesondere wenn es um eine Diskussion und nicht lediglich um die Vermittlung von Informationen gehen soll. So wurde 2004 in einer Evaluierung des GEN-AU Diskurstages „Genomforschung und Medizin – Was habe ICH davon“ festgestellt, dass „die meisten Teilnehmer Informationen austauschen wollten, statt eine Diskussion oder einen Dialog zu führen“. Da dieser Austausch stattfand, wurde die Veranstaltung von den TeilnehmerInnen positiv beurteilt. Der schwerwiegendste Kritikpunkt war allerdings das Fehlen der „Öffentlichkeit“ am Diskurstag (Meili et al. 2004). Auch im Rahmen des österreichischen Gentechnik-Volksbegehrens (1996) wurde festgestellt, dass die Einbindung der Öffentlichkeit nicht einfach sei: „Die Forderung nach stärkerer Einbindung der Öffentlichkeit (. . .) ist demokratiepolitisch zu unterstützen, stößt aber auf erhebliche Schwierigkeiten bei ihrer Einlösung“. Dies liege nicht zuletzt daran, dass die „Öffentlichkeit (. . .) letztlich ein soziologisches und politisches Konstrukt“ sei.
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Wenn auch die Öffentlichkeit als homogene Einheit nicht existiert, kann dies jedoch nicht als Rechtfertigung dafür dienen, den mit ihr zu führenden Dialog in „repräsentative“ Expertenkommissionen zu verbannen. Damit wäre das Ziel, eine „sozial robuste“ Wissenschaftsentwicklung zu verfolgen, nicht erreichbar. Möglicherweise sind jedoch die von SozialwissenschaftlerInnen und GeisteswissenschaftlerInnen angenommenen Themen (noch) nicht interessant für Teile der Öffentlichkeit. Dennoch ist ihre Arbeit für einen Dialog mit der Öffentlichkeit unverzichtbar. Zum einen muss angenommen werden, dass eine solche öffentliche Diskussion umso notwendiger ist, als die erforschten und entwickelten Technologien zu potentiell radikalen Änderungen der menschlichen Lebenswelt führen können. Zum anderen kann der Dialog nicht (nur) über die (ausschließlich ihrer Quote verpflichteten) Medien geführt werden. Zudem sind allgemein gültige Wertesysteme, die eine Anwendung von Technologien oder von Forschungsrichtungen erlauben könnten, in der Postmoderne nicht mehr verfügbar bzw. haben sie ihren Absolutheitsanspruch eingebüßt. Sie wären zudem ungenügend ausgerüstet für die Herausforderungen, die sich aus den radikal neuen Technologien ergeben. Der für die Aufstellung der Spielregeln zum Umgang mit der Post-Genomforschung notwendige Konsens kann daher nur durch einen fokussierten Diskurs mit der Öffentlichkeit erzielt werden. Hierfür ist weder die Sprache der Naturwissenschaften noch die der Medien geeignet. Ohne eine geeignete Sprachebene und die sich aus der kritischen Reflexion ergebenden Konzepte kann jedoch ein solcher Diskurs nicht die geforderte „Robustheit“ liefern, sondern liefe Gefahr, radikal verkürzt und möglicherweise von Ideologien beeinflusst zu werden (siehe „Genfreiheit“). Die modernen Medien können in gewissem Ausmaß eine Sprache etablieren, in der die Öffentlichkeit einen Diskurs führen kann. Die verwendeten, notwendigen Elemente (Vereinfachung, Verallgemeinerung, Konkretisierung, Dramatisierung) reichen allerdings keineswegs aus, um das geforderte Element der kritischen Reflexion zur Verfügung zu stellen. Dieses Element kann nur durch die genau in dieser Kapazität geschulten Disziplinen der Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften bereitgestellt werden: Politikwissenschaften, Sozialwissenschaften, Philosophie, Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und andere Disziplinen eint die Befähigung, Auswirkungen zu analysieren und Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Dies gilt insbesondere im Bereich der ELSA Forschung, für die auch spezialisierte Techniken der Analyse entwickelt werden. Dabei muss die ELSA Forschung insbesondere auch Methoden des Dialogs mit der Öffent-
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lichkeit bzw. mit Teilöffentlichkeiten entwickeln bzw. untersuchen. Ansätze hierzu zeigen sich etwa in den Arbeiten von Felt und Mitautoren (Felt 2009). Die Weiterentwicklung von Methoden wie Fokusgruppen, Diskurstagen oder Interviews – mit dem Fokus auf wissenschaftsrelevante Fragestellungen – kann die soziale „Robustheit“ von Forschung verbessern helfen. Angesichts der zunehmenden Komplexität der Wissenschaft und Technologie, ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung, der Unvorhersehbarkeit ihrer Ergebnisse und der Radikalität der von ihr angestoßenen Umwälzungen – ist eine fokussierte ELSA Forschung eine gesellschaftlich unverzichtbare Aufgabe. Dies muss insbesondere für die Genomwissenschaften und die sich aus ihnen entwickelnden Forschungsgebiete gelten. Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder. Der Autor dankt Mag. N. Firnberg für kritische Anregungen und vielfältiges Hinterfragen, sowie Dr. E. Grießler für periodische Impulskraft. Anmerkungen 1 2 3 4
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Desoxyribonukleinsäure, das Erbmaterial aller höheren Organismen Siehe: http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/186.php, 21. 6. 2010. Siehe z. B.: http://en.wikipedia.org/wiki/Francis_Collins_(geneticist), 21. 6. 2010. Siehe: http://frwebgate.access.gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi?dbname=110_cong_public _laws&docid=f:publ233.110.pdfhttp://frwebgate.access.gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi? dbname=110_cong_public_laws&docid=f:publ233.110.pdf, 21. 6. 2010. Hier bleibt allerdings unklar, ob die Identifikation von Problemen und die letztendliche rechtliche Umsetzung das Ergebnis von ELSI Projekten ist, oder (soweit es auf den Einfluss des Humangenomprogramms zurückgeht) dem persönlichen Einsatz des Direktors F. Collins geschuldet ist. Siehe: http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/186.php, 21. 6. 2010. Im Folgenden wird der Begriff „ELSA“ synonym mit „ELSA Genomics“ gebraucht. H. Zwart, persönliche Miteilung. Deutschland nimmt hier eine Sonderstellung ein, da sein ELSA Programm, obwohl im internationalen Vergleich finanziell eher gering ausgestattet, thematisch offener (Bezug auf Lebenswissenschaften) und daher keinem nationalen Forschungsprogramm angegliedert ist. Israel fördert keine ELSA Projekte, sondern lediglich Workshops bzw. Seminare. Siehe: http://www.contecs.fraunhofer.de, 21. 6. 2010. Siehe: http://www.erasage.org/indexphp?option=com_frontpage&Itemid=1, 21. 6. 2010. Siehe: http://www.elsagen.at, 21. 6. 2010. Siehe z. B.: DEEPEN, Deepen Ethical Impact and Participation in Emerging Nanotechnology, http://www.geography.dur.acuk/projects/deepen, 21. 6. 2010; NANOLOGUE, www.nanologue.net, 21. 6. 2010. Auch das bereits genannte CONTECS Projekt schließt Nanowissenschaften ein.
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Siehe: http://nanotrust.ac.at, 21. 6. 2010. Bereits hier deutet sich an, dass die technische Entwicklung möglicherweise – statt lediglich nicht-linear – schlicht unvorhersehbar sein könnte. Leo Szilard war ein ungarischer Physiker, der u. a. zusammen mit Albert Einstein eine Aufforderung an den U.S. Präsidenten Roosevelt verfasst hatte, der drohenden Entwicklung einer auf Kernspaltung beruhenden Bombe durch das faschistische Deutschland zuvorzukommen und eine US-amerikanische Bombe entwickeln zu lassen. Szilard – der H.G. Wells gelesen hatte – hatte 1945 versucht, den Einsatz der Bombe zu verhindern und wurde später für seine scharfe Kritik des Bombeneinsatzes bekannt. Die von Paul Berg, einem Molekularbiologen, organisierte „Asilomar Conference on Recombinant DNA“ (1975) etablierte auf dem Vorsichtsprinzip beruhende Standards zum Umgang mit rekombinanter DNA.
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Ulrike Felt, Maximilian Fochler, Michael Strassnig Ulrike Felt, Maximilian Fochler, Michael Strassnig1
Experimente partizipativer ELSA-Forschung Eine methodenpolitische Reflexion Zusammenfassung: Ziel dieses Artikels ist eine methodenpolitische Reflexion partizipativer ELSA-Forschung. Aufbauend auf drei Forschungsprojekte analysieren wir, wie unterschiedlich gestaltete methodische Räume verschiedene Repräsentationen von Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen. Erstens diskutieren wir, in welcher Weise verschiedene Methoden unterschiedliche Sprech- und Denkmöglichkeiten eröffnen. Zweitens wenden wir uns den „BewohnerInnen“ – BürgerInnen und WissenschaftlerInnen – dieser Räume zu: Akzeptieren sie die gegebenen Strukturen oder versuchen sie diese nach ihren Vorstellungen umzugestalten? Drittens fragen wir, wie die diskutierten Experimente von den Teilnehmenden in Bezug auf eine breitere governance technowissenschaftlicher Entwicklungen im Rahmen einer bestehenden techno-politischen Kultur verortet wurden. Abschließend ziehen wir Schlussfolgerungen zur Methodenpolitik der ELSA-Forschung und zu Fragen der Verantwortung, die mit der Gestaltung solcher Räume einhergehen. Schlagworte: Partizipation · Methodenpolitik · Methodenreflexion · ELSAForschung
Experiments in Participative ELSA-Research. Reflecting the Politics of Method Abstract: The aim of this article is to reflect the politics of method of participatory ELSA-research. Building on three research projects we analyse how different methodical settings allow for different representations of science and society. We first discuss how the three settings open up different possibilities to think and talk about a given topic. Second, we turn to the citizens and scientists “inhabiting” the settings: Do they accept the given structures or do they attempt to rearrange them according to their visions? Third, we ask how the participants relate the discussed experiments to broader dynamics of the governance of techno-scientific developments in the framework of a given techno-political culture. We conclude by discussing the politics of method of participatory ELSA-research, as well as the responsibility of those designing participatory research settings. Keywords: Politics of Method · Participation · ELSA-Research E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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„The ways in which we know and re-present the world (both nature and society) are inseparable from the ways we choose to live in it. Knowledge and its material embodiments are at once products of social work and constitutive of forms of social life.“ (Jasanoff 2004: 2) „So what of research methods? Our argument is that these are performative. By this we mean that: they have effects; they make differences; they enact realities; and they can help to bring into being what they also discover.“ (Law and Urry 2004: 393)
1 Einleitung ,ELSA-Forschung‘, also Forschung zu ethischen, legalen und sozialen Aspekten neuer naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen, tritt meist mit zwei verknüpften Zielen an: einerseits Wissen über die gesellschaftlichen Auswirkungen naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen zu erzeugen und dieses gesellschaftlichen Akteuren zur Verfügung zu stellen; und andererseits, einen Reflexionsprozess über diese Auswirkungen in den jeweiligen wissenschaftlichen Feldern anzuregen. Oft wird in diesem Zusammenhang kritisiert, dass sich etwa die Genomforschung der Vorstellungen von Gesellschaft, die sie gemeinsam mit dem von ihr produzierten Wissen erzeugt, nicht hinreichend bewusst sei (Jasanoff 2005); oder im Sinn des einleitenden Zitats von Jasanoff (2004), dass ForscherInnen kaum reflektieren, wie sowohl durch die gestellten Fragen als auch die Methoden, mit denen sie die Natur repräsentieren, immer zugleich implizite Vorstellung von gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Ordnungen und Wertstrukturen produziert werden, und dass dadurch Gesellschaft aktiv gestaltet wird. Ziel dieses Artikels ist es allerdings nicht, nach der Reflexivität der Naturwissenschaften zu fragen. Wir wollen vielmehr die Forderung nach einer Reflexion der eigenen Methoden auf die ELSA-Forschung selbst beziehen. Wir folgen dabei dem Argument von Law und Urry (2004), dass die Repräsentationen, die Sozialwissenschaften von Gesellschaft erzeugen, nicht notwendigerweise weniger – wenngleich oft impliziter – wirkmächtig sind, als naturwissenschaftlich produzierte ,Fakten‘. ELSA-Forschung erzeugt daher nicht einfach Wissen über manifest präsente oder mögliche zukünftige Auswirkungen von naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, sondern
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liefert dabei immer auch explizite oder implizite Vorstellungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Nimmt man die Forderung von Law und Urry (2004) – Forschung und ihre Methoden immer auch als performativen Akt zu betrachten – ernst, dann bedeutet dies in einem ersten Schritt, dass die Methoden, mit denen diese Aussagen erzeugt werden, die Realität nicht nur abbilden, sondern selbst aktiv in die Herstellung jener Realitäten involviert sind. Dies bedeutet nicht, dass sich sozial- oder naturwissenschaftliche Methoden ihre Realitäten einfach nach Belieben herstellen können. Es besagt allerdings, dass verschiedene Methoden auch verschiedene Antworten auf bestimmte Fragen geben können. So wird man etwa auf die in Österreich immer wieder gerne medial und politisch gestellte Frage, wie kritisch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gegenüber einer Technologie eingestellt ist, und aus welchen Gründen, im Rahmen einer quantitativen Umfrageuntersuchung gänzlich andere Antworten bekommen als durch detaillierte qualitative Interviews (vgl. Wynne 1995). Wenn, wie gerade in diesem Bereich häufig der Fall, solche Antworten dann zur Grundlage politischer Handlungen werden, wird deutlich, wie weitreichend die politische Dimension methodischer Entscheidungen ist. Damit erhält die Reflexion von Methoden eine gänzlich neue Bedeutung, die über die klassische Frage, inwieweit ein bestimmtes Verfahren die Realität ,besser‘ oder ,schlechter‘ abbildet, weit hinausgeht. Wenn verschiedene Methoden der ELSA-Forschung verschiedene Repräsentationen von Wissenschaft und/oder Gesellschaft erzeugen, die Folgen im politischen und damit auch im wissenschaftlichen Kontext mit sich bringen, dann können wir im Sinn von Law (2004) von einer Politik der Methoden oder einer Methodenpolitik sprechen. Die Reflexion einer solchen Methodenpolitik in Bezug auf ELSA-Forschung scheint aus mehreren Gründen wesentlich. Zum einen ist ELSA-Forschung ein relativ neues interdisziplinäres Feld, das keineswegs klar umrissene Traditionen und Reflexionsräume hat – was die Frage der Standards in der Forschung aufwirft. ELSA-ForscherInnen kommen aus sehr unterschiedlichen Feldern, welche von der Wissenschaftsforschung (Science and Technology Studies, STS), über Technikfolgenabschätzung, Ethik, verschiedene Sozialwissenschaften bis hin zur Philosophie reichen. Gleichzeitig ist derzeit international ein Boom in der ELSA-Forschung auszumachen (von dem Österreich allerdings nur sehr partiell erfasst wurde), wobei der Fokus vor allem auf jenen technowissenschaftlichen Feldern liegt, denen ein hohes Zukunftspotenzial zugeschrieben wird. Damit ist ELSA-Forschung auch von politischem Interesse, da damit Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit sensiblem technowissenschaftlichen Wissen und dessen Umsetzungen auf-
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geworfen werden. Damit stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung für das im Rahmen von ELSA-Forschung erzeugte Wissen. Nachdem eine methodenpolitische Reflexion detailliertes Wissen über die jeweiligen Forschungs- und damit auch Entscheidungszusammenhänge erfordert, wird das zentrale Argument dieses Artikels auf drei ELSA-Projekten aufbauen, die die AutorInnen selbst durchgeführt haben, und die sich in Bezug auf die verwendete Methodik stark unterscheiden. Vier verschiedene Faktoren und deren Zusammenwirken sind dabei methodenpolitisch von besonderer Bedeutung: (1) die Interessen, Erwartungen und Erfahrungen der durchführenden ELSA-ForscherInnen, (2) der räumliche, zeitliche und organisatorische Aufbau des methodischen Settings selbst, (3) der Umgang der teilnehmenden WissenschaftlerInnen und BürgerInnen mit den jeweils eröffneten Möglichkeiten und gesteckten Grenzen, und (4) der kulturell-politische Kontext, in den das Setting eingebettet ist. Der erste und der zweite der eben genannten Faktoren sind auf das Engste verknüpft, sind es doch die durchführenden ForscherInnen, die den sozialen, materiellen und zeitlichen Raum jedes methodischen Settings entlang ihrer Fragen und Erwartungen, aber auch entlang der gegebenen Projektstrukturen, gestalten. Es wird in der folgenden Analyse darum gehen, aufzuzeigen, wie unterschiedlich gestaltete ,methodische Räume‘ unterschiedliche Repräsentationen von Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen, aber auch ganz verschiedene Formen und Objekte der Auseinandersetzung hervorbringen. Als die durchführenden ForscherInnen sind wir dabei immer zugleich im Vorteil und im Nachteil. Einerseits haben wir naturgemäß detailliertes Wissen über unsere eigenen Fragen und Erwartungen und wie diese in die Gestaltung der jeweiligen Räume einflossen. Andererseits unterliegen unsere Aussagen natürlich allen Geboten methodischer Vorsicht, die bei dieser und ähnlichen Formen der Selbstbeobachtung und -reflexion angebracht sind. Hilfreich erweist sich dabei aber die Tatsache, dass alle Projekte immer von Forschungsgruppen durchgeführt wurden und daher methodische Entscheidungen einen bestimmten Grad der Explikation erreichen mussten. In Bezug auf die dritte genannte Dimension, die Teilnahme der beforschten Personen an der Erzeugung des jeweiligen Wissens, ist uns wichtig zu betonen, dass sich unsere Argumente in diesem Text ausschließlich auf partizipativ gestaltete ELSA-Forschung beziehen. Darunter verstehen wir in einer eher breiten Auslegung des Partizipationsbegriffs alle Methoden, in denen die teilnehmenden Personen aktiv gestaltend an der Erzeugung des Wissens mitarbeiten können. In diesem Sinn schließt unser Argument an Debatten zur Methodenreflexion an, die etwa in der Technikfolgenabschätzung (z. B. Abels/Bora 2004) oder in der internationalen Wissenschaftsforschung
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(z. B. Wynne 2008) zu Verfahren der Beteiligung von Öffentlichkeit an der gesellschaftlichen Diskussion und Entscheidungsfindung zu neuen Technologien geführt werden. Unser Partizipationsbegriff unterscheidet sich allerdings wesentlich vor allem von jenem der Technikfolgenabschätzung, da sich ELSA-Forschung unserem Verständnis nach nicht nur mit der Abschätzung und Debatte der Folgen befasst, die naturwissenschaftliches Wissen für die Gesellschaft haben kann, sondern eine breitere Analyse des Verhältnisses von naturwissenschaftlicher Wissensproduktion und Gesellschaft anstrebt. Dabei ist es für uns besonders wichtig zu betonen, dass im Rahmen der ELSA-Forschung oft auch (Natur)WissenschaftlerInnen als Beforschte und/oder ForschungspartnerInnen an der Gestaltung dieses Wissens mitwirken. Damit beschränkt sich unser Interesse nicht auf klassische Formen der BürgerInnenbeteiligung (Fokusgruppendiskussionen, BürgerInnenkonferenzen etc.), sondern schließt alle Methoden ein, in denen die Beforschten in unterschiedlichen Graden aktiv an der Produktion von Wissen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft mitwirken können. Wie BürgerInnen und WissenschaftlerInnen sich entscheiden, einen methodischen Raum konkret zu ,bewohnen‘, ist daher von zentralem Interesse. Unsere Annahme dabei ist, dass diese Entscheidungen jeweils nicht nur in Bezug auf das konkrete methodische Setting getroffen werden, sondern immer auch in einem bestimmten politischen und kulturellen Kontext. Diese Kontexte formen mit, was in einem bestimmten Setting überhaupt als denkmöglich und anschlussfähig erscheint. So legt etwa eine spezifische technopolitische Kultur, also spezifische Arten und Weisen wie Technowissenschaften durch Praktiken, Strukturen oder Mechanismen mit Gesellschaft verwoben sind, bestimmte BürgerInnenrollen nahe. Auch die spezifische Kultur eines bestimmten wissenschaftlichen Feldes kann die Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft entweder fördern oder erschweren. Die Spuren dieser kulturellen Kontexte in unseren Projekten nachzuzeichnen, wird daher ein weiteres Ziel unseres Artikels sein. Nachdem entsprechende Reflexionen zur ELSA-Forschung bisher kaum vorliegen, beginnen wir mit einer Diskussion relevanter theoretischer Debatten rund um die Partizipation von Öffentlichkeit in der governance von Wissenschaft. Nach einer kurzen Skizze relevanter Aspekte des österreichischen Kontexts, in dem sich unsere methodischen Settings verorten, werden wir die drei Projekte, auf die sich unsere Aussagen beziehen, näher beschreiben. Als Kern unseres Arguments versuchen wir auf der Basis dieses Materials drei zentralen Fragen nachzugehen: Zunächst thematisieren wir die performative Dimension der experimentellen Räume selbst: In welcher
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Weise führen verschiedene Methoden und die thematischen, temporalen und sozialen Räume, die sie aufspannen, zu verschiedenen Repräsentationen von Wissenschaft und Gesellschaft in der ELSA-Forschung? Welche Sprech- und Denkmöglichkeiten eröffnen bzw. verschließen sie in Bezug auf ein bestimmtes Thema? Zweitens wenden wir uns den ,BewohnerInnen‘ – BürgerInnen und WissenschaftlerInnen – dieser Räume zu: Wie ,bewohnen‘ sie die angebotenen Räume? Akzeptieren sie die gegebenen Strukturen mit ihren Möglichkeiten und Grenzen oder versuchen sie diese nach ihren Vorstellungen umzugestalten? Welche Sprechrollen und -positionen erarbeiten sie sich? Und auf welche Ressourcen greifen sie dabei zurück? Und drittens: Wie werden die diskutierten Experimente von den Teilnehmenden in Bezug auf eine breitere governance techno-wissenschaftlicher Entwicklungen im Rahmen einer bestehenden techno-politischen Kultur verortet? Abschließend ziehen wir Schlussfolgerungen zur Methodenpolitik der ELSA-Forschung und zu Fragen der Verantwortung, die mit der Gestaltung solcher Räume einhergehen.
1.1 Die performative Dimension partizipativer Räume In der internationalen Wissenschaftsforschung wurde in den letzten Jahren vermehrt auf die Performativität partizipativer Methoden hingewiesen und damit in Frage gestellt, ob Partizipation per se automatisch mit besserer Entscheidungsfindung gleichgesetzt werden kann. AutorInnen wie Irwin (2006) oder Wynne (2008) verwiesen dabei auf die impliziten Choreografien partizipativer Events, die darüber entscheiden, was im Kern zur Diskussion gestellt wird, und wie der Diskussionsprozess verlaufen kann. Wynne (2008, 107) bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Deliberately or not, invited public involvement nearly always imposes a frame which already implicitly imposes normative commitments – an implicit politics – as to what is salient and what is not salient, and thus what kinds of knowledge are salient and not salient [. . .].“ Damit verweist er darauf, dass die Fragen, die im Rahmen eines bestimmten Verfahrens diskutierbar sind, vielfach schon durch die thematische und organisatorische Rahmung durch die VeranstalterInnen weitgehend festgelegt sind. Er kritisiert dabei, dass bedingt durch diese Rahmung oft lediglich über mögliche Risken technologischer Entwicklungen diskutiert werden kann, breitere Fragen der Passform technologischer Entwicklungen mit gesellschaftlichen Werten oder Erwartungen allerdings ausgeklammert werden. Thematische, soziale und temporale Organisation eines partizipativen Raums haben somit wesentli-
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chen Einfluss auf die Form und die Ergebnisse der Interaktionen, die darin stattfinden können. Damit ist auch die Rolle der experts of community (Irwin 2001, Rose 1999), d. h. jener Akteure, die Partizipation in der Praxis konzeptualisieren bzw. organisieren, von zentralem Interesse für eine Analyse der Performativität partizipativer Verfahren. Denn sie sind es, die die zu diskutierenden Themen und legitimen Sprechpositionen definieren, aber auch in der Positionierung der Ergebnisse in einem breiteren gesellschaftspolitischen Rahmen eine Schlüsselfunktion einnehmen. Gerade im Bereich der Partizipation hat sich ein eigener Markt für diese Form der Expertise entwickelt, die oft darin besteht, Partizipation ohne weiter reichende Reflexion – quasi nach einem Rezeptbuch – zu organisieren. Nimmt man die in der Einleitung skizzierten Argumente zur Methodenpolitik ernst, so hat dieses Phänomen weit reichende gesellschaftspolitische Konsequenzen.
1.2 Sprechrollen und Sprechpositionen: Partizipative Räume als Maschinerien zur Erzeugung von Öffentlichkeiten und Wissenschaften Die Konstruktion von Sprechrollen und -positionen im Kontext partizipativer Verfahren hat in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. Autoren wie Irwin (2006) oder Lezaun und Soneryd (2007) weisen darauf hin, dass die von den jeweiligen experts of community gestalteten methodischen Räume auch Vorstellungen darüber enthalten, wer legitime Teilnehmende an diesen Verfahren sind und wie sich diese im Rahmen des Settings verhalten sollten. Oft basieren diese Annahmen auf einem ganz bestimmten Bild des scientific citizen, der vor seinem Engagement im jeweiligen Setting keine festgelegte Meinung zum Thema hatte, und diese auf der Basis von Experteninformation im Rahmen des Settings erarbeitet. Kritischere Öffentlichkeiten werden oft als „Aktivisten“ von vornherein von der Teilnahme ausgeschlossen (Wynne 2008, Lezaun/Soneryd 2007, Irwin 2006). Die Konstruktion legitimer Sprechrollen geschieht meist mit implizitem oder explizitem Bezug auf breitere Öffentlichkeiten, für die die ausgewählten BürgerInnen sprechen sollen (Felt/Fochler 2010c). Dadurch werden nicht nur die Rollen der Teilnehmenden innerhalb des Settings geformt, sondern auch spezifische Repräsentationen von Öffentlichkeiten hervorgebracht bzw. andere ausgeblendet. Felt und Wynne (2007, 57) argumentieren, „how deeply encoded different constructions of the public are in these participatory events, highlighting that they are never simply an arena in
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which interactive deliberation takes place, but they perform a certain vision of the public without acknowledging that they are doing this.“ Autoren wie Goodin und Dryzek (2006) fragen danach, wie es gelingt, etwa Fokusgruppen oder BürgerInnenpanels als repräsentativ für breitere Öffentlichkeiten zu konstruieren, und weisen darauf hin, dass jedes partizipative Setting im Grunde doppelte Überzeugungsarbeit leisten muss: einmal nach innen, um der Gruppe das Gefühl zu vermitteln, eine legitime Sprechposition einnehmen zu können; und einmal nach außen, um glaubhaft das Argument von Repräsentativität machen zu können. Welche Sprechpositionen die Teilnehmenden im Kontext eines spezifischen Settings einnehmen, entscheidet sich demnach immer einerseits in einer dynamischen Aushandlung mit den in das jeweilige Setting eingeschriebenen Erwartungen und andererseits mit der angenommenen Beziehung der Teilnehmenden zu breiteren Öffentlichkeiten (Michael 2009). Kritisch anzumerken ist, dass sich die Diskussion zur Konstruktion legitimer Sprechrollen in partizipativen Designs ausschließlich auf die Konstruktion von BürgerInnenrollen und Öffentlichkeiten beschränkt. Dass auch den an diesen Verfahren teilnehmenden WissenschaftlerInnen und den Wissenschaften, die sie als ExpertInnen repräsentieren sollen, in ähnlicher Weise spezifische Rollen zugeschrieben werden, wurde in der bisherigen Debatte wenig beachtet.
1.3 Techno-politische Kulturen: Die Bedeutung des breiteren gesellschaftspolitischen Rahmens partizipativer Methoden Welche Sprechpositionen für WissenschaftlerInnen und BürgerInnen im Rahmen einer Methode zur Verfügung stehen und welche Fragen diskutierbar sind, hängt auch mit dem politischen und kulturellen Kontext zusammen, in dem das Setting verortet ist. So konnten etwa Dryzek und Tucker (2008) in einer vergleichenden Analyse von Konsensuskonferenzen in drei Ländern zeigen, wie stark der Ablauf, die Wahrnehmung und die Auswirkungen des Verfahrens mit seiner Passform mit bestehenden institutionellen Routinen einer politischen Kultur verknüpft sind. Neben der politischen Kultur im engeren Sinn spielen auch breitere kulturelle Formen des Umgangs mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft eine Rolle. So gibt es etwa nach Horst und Irwin (2010) in Dänemark eine kulturell bedingte Skepsis gegenüber elitären Formen der ExpertInnenargumentation, die es den Teilnehmenden im Rahmen einer Konsensuskonferenz erleichtert, die Positionen der geladenen ExpertInnen kritisch zu hinterfragen.
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Nicht nur die politische Kultur ist jedoch in diesem Kontext von Bedeutung. Gabrielle Hecht (2001) argumentiert in ihrer Studie zum Verhältnis von nationaler Identität und Atompolitik in Frankreich, welche bedeutende Rolle kulturell eingeübte Beziehungen zu Technologien für den gesellschaftspolitischen Umgang mit technowissenschaftlichen Entwicklungen spielen. Sie verweist mit Nachdruck auf die enge Verwobenheit von kulturellen Werten, institutionell verankerten politischen Prozessen und Vorstellungen technologischen Fortschritts. In diesem Sinn verwenden wir den Begriff der techno-politischen Kultur, um die spezifischen kulturellen Formen, Repräsentationen und Praxen zu beschreiben, in denen eine bestimmte Technologie mit einer Gesellschaft verwoben ist. Im Kontext eines in diesem Artikel diskutierten ELSA-Projektes wurde gezeigt, dass die Wahrnehmung biomedizinischer Technologien, wie etwa postnataler Gentests, in verschiedenen europäischen techno-politischen Kulturen stark unterschiedlich ausfällt (Felt et al. 2009a). Diese verschiedenen kulturellen Wahrnehmungsmuster rahmen auch die Positionen, die für die Teilnehmenden partizipativer Methoden in Bezug auf die diskutierten Wissenschaften und Technologien möglich und sinnvoll erscheinen.
1.4 Wissenschaft und Öffentlichkeit in der österreichischen techno-politischen Kultur Auf welche kulturellen Ressourcen und Erfahrungen können BürgerInnen und WissenschaftlerInnen, die im österreichischen Kontext an partizipativen Methoden der ELSA-Forschung teilnehmen, zurückgreifen? Im Rahmen dieses Beitrags können und wollen wir nicht den Anspruch erheben, eine auch nur annähernd vollständige Darstellung der österreichischen technopolitischen Kultur zu liefern. Wir werden uns daher auf einige Kernargumente beschränken, die für die Rahmung der analysierten Methoden zentral erscheinen. Österreich kann gerade im Vergleich mit anderen europäischen Ländern nicht wirklich auf eine verankerte Kultur des partizipativen Umgangs mit Fragen von Wissenschaft und Technologie verweisen. Diese These lässt sich recht anschaulich anhand der zaghaften Versuche der letzten zehn Jahre belegen, eine breitere Öffentlichkeit in die entsprechenden Debatten einzubeziehen. Zwar ist die Forderung nach Partizipation und einem Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit ein wesentliches rhetorisches Element rezenter österreichischer Politikdokumente geworden (vgl. RFTE 2009, BMWV 1999). Allerdings beschränkte sich der Politikdiskurs zu die-
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sen Themen meist auf eine Übernahme und/oder Übersetzung von Konzepten aus dem europäischen Diskurs in den österreichischen Kontext. Tatsächliche Verfahren oder Initiativen, Öffentlichkeiten in die Diskussion einzubeziehen, beschränkten sich auf wenige Einzelbeispiele, und vermochten damit keine Kultur der breiten Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Technologie zu begründen2. Diesen Einzelinitiativen ist gemeinsam, dass sie erstens keine erkennbare Anbindung an politische Entscheidungsfindungsprozesse oder bestehende öffentliche Diskussionen hatten. Zweitens blieb die Öffentlichkeitswirksamkeit in allen Fällen äußerst begrenzt und beschränkte sich auf bestehende professionell oder betroffenheitsbedingt interessierte Teilöffentlichkeiten. Drittens war die Diskussion jeweils von einer starken Hierarchie zwischen ExpertInnen und BürgerInnen geprägt (vgl. Felt et al. 2003, Bogner 2004). Verfahren, die Wissenschaft verpackt als Infotainment der Öffentlichkeit näher bringen sollen und dabei vielfach einem lineareren Kommunikationsmodell folgen, wie etwa ,Science Weeks‘ oder die ,Lange Nacht der Forschung‘, konnten sich in den letzten Jahren hingegen relativ erfolgreich als Teil der öffentlichen Beschäftigung mit Wissenschaft und Technologie in Österreich etablieren (Fochler/Müller 2006). Dies legt die Vermutung nahe, dass die klassischeren Rollen von WissenschaftlerInnen und BürgerInnen, als ExpertInnen und Publikum, die in diesen Formaten angelegt sind, eine bessere Passform mit der österreichischen techno-politischen Kultur haben als jene des/der BürgerIn, der/die Wissenschaft kritisch hinterfragt oder des/ der WissenschaftlerIn, der/die mit diesen kritischen BürgerInnen in einen Diskurs über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft tritt. Die Expertenzentriertheit der österreichischen techno-politischen Kultur zeigt sich auch im Umgang mit ELSA-relevanten Fragen im Kontext der Bioethik. Mit der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt wurde 2001 eine reine ExpertInnenkommission geschaffen, in der quasi stellvertretend für ,die Gesellschaft‘ über größere ethische Fragen zu biomedizinischen Themen reflektiert werden soll. Die Einbindung gesellschaftlicher Gruppen ebenso wie jegliche Verwendung von „Instrumente[n] partizipativer Demokratie“ (Gmeiner/Körtner 2002) wurden von dieser Kommission dezidiert abgelehnt. Die Ethisierung der österreichischen Debatte führt somit zu einem Diskurs, der stark von einer überschaubaren Anzahl an ExpertInnen geführt wird und eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit kaum zu Wort kommen lässt. Man kann daher argumentieren, dass ethische und soziale Debatten über Wissenschaft im Allgemeinen und die Genomforschung im Speziellen im österreichischen Kontext größtenteils an eigens geschaffene ExpertInnen-
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gremien delegiert werden. Außerhalb dieser Gremien gibt es so gut wie keine institutionalisierten Orte, an denen eine Reflexion ethischer und sozialer Implikationen der Genomforschung stattfinden könnte, weder innerhalb der Wissenschaft noch in der Öffentlichkeit. Auch für die meisten WissenschaftlerInnen bleibt die Beschäftigung mit ethischen und sozialen Fragen innerhalb ihrer professionellen Praxis auf formale Handlungen, wie die Argumentation ethischer Aspekte im Rahmen eines Forschungsantrags oder die Interaktion mit klinischen Ethikkommissionen, beschränkt. Diese kurze Diskussion der österreichischen Kultur des Umgangs mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in der österreichischen techno-politischen Kultur legt nahe, dass das Repertoire an möglichen Rollenbildern und anderen kulturellen Ressourcen, auf die BürgerInnen und WissenschaftlerInnen in partizipativen Settings der ELSA-Forschung zurückgreifen können, äußerst beschränkt ist, und damit wenig Unterstützung bietet, den klassischen Gegensatz von ExpertInnen und Laien aufzubrechen.
2 Drei Experimente partizipativer ELSA-Forschung Die folgende Analyse rekurriert auf drei rezente Forschungsprojekte (für eine Übersicht siehe Tabelle 1), die durch ihre unterschiedlichen Herangehensweisen verschiedene Spielarten partizipativ orientierter ELSA-Forschung abdecken. Durch ihren Vergleich sollen zentrale methodenpolitische Dimensionen dieser Forschung herausgearbeitet werden. Das erste Projekt – Challenges of Biomedicine: Socio-Cultural Contexts, European Governance and Bioethics – entstand vor dem Hintergrund der Debatte um ,europäische Werte‘ und der Rolle von Wissenschaft und Technologie in demokratischen Gesellschaften. Ziel des Projekts war – auf Basis von Fokusgruppendiskussionen mit BürgerInnen zu bereits weitreichend umgesetzten biomedizinischen Technologien (Gentests, Organtransplantation) – die Erstellung einer explorativen kulturellen Landkarte des Umgangs mit biomedizinischen Technologien in verschiedenen europäischen Ländern. Die Idee des zweiten Projekts – Reden wir über GOLD! Eine Analyse der Interaktion zwischen Genomforschern und der Öffentlichkeit als Lernprozess – war es, den im ELSA-Kontext zentralen Terminus der Begleitforschung ernst zu nehmen und direkt in Kooperation mit einem Konsortium von LebenswissenschaftlerInnen zu arbeiten. Diese sollten sich gemeinsam mit einer Gruppe eingeladener BürgerInnen an einen ,Runden Tisch‘ setzen, um
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Tabelle 1: Charakterisierung der drei ELSA-Projekte Forschungsprojekt
Format
Teilnehmende
Challenges of Biomedicine EU, FP6, 2004–2007 http://www.univie.ac.at/ virusss/cobpublication
4× 2-stündige Fokusgruppen getrennt nach 2 unterschiedlichen biomedizinischen Technologien und nach Betroffenheitsformen; geführt nach einem semistrukturierten Leitfaden, in dem auch mehrere zu diskutierende Szenarien eingebaut waren (Ländervergleich zwischen D, F, NL, S, A und CY)
Jeweils 7–10 BürgerInnen, wobei der Versuch unternommen wurde, diese in Gruppen von mehr oder weniger direkt Betroffenen zu differenzieren
Reden wir über GOLD! ELSA/GEN-AU, 2004–2007 http://sciencestudies. univie.ac.at/index. php?id=57575
„Runde Tische“ nach adaptiertem Schweizer Modell (externe Moderation); 6× 1 Tag trafen WissenschaftlerInnen und BürgerInnen in einer offenen Diskussionskonstellation zusammen; zusätzlich 1 Tag mit den BürgerInnen zur Reflexion dieses Formates; Interviews davor und danach mit allen Teilnehmenden
14 BürgerInnen aus ganz Österreich und 6–8 WissenschaftlerInnen aus einem großen mehrjährigen Projektkonsortium im Bereich der Lebenswissenschaften
Living Changes in the Life Sciences ELSA/GEN-AU, 2007–2010 http://sciencestudies. univie.ac.at/forschung/ living-changes-in-the-lifesciences/
Ca. 50 biographisch orientierte leitfadengestützte Reflexionen, Dauer: 2–3 Stunden
WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen akademischen Bereichen der Lebenswissenschaften und in unterschiedlichen Phasen ihres akademischen Lebens (von DoktorandInnen bis zu ProfessorInnen)
Alle Veranstaltungen der Projekte wurden audiotechnisch aufgezeichnet, vollständig transkribiert und nach verschiedenen Perspektiven ausgewertet; Ergebnisse wurden bereits publiziert: Für Challenges of Biomedicine siehe: Felt et al. 2008; Felt et al. 2009a, Felt/Fochler 2010c. Für Reden wir über GOLD! siehe: Felt et al. 2009b; Felt/Fochler 2008; 2010b; 2010c. Für Living Changes in the Life Sciences siehe: Felt/Fochler 2010a.
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Auswahlverfahren
Diskussionsthemen
Gestaltungsraum für Teilnehmende
Öffentlicher Aufruf (15.000 Flugblätter) im Wiener Raum; Ziel war möglichst diverse Gruppen zusammenzustellen, wobei neben Geschlecht, Alter, Bildungsgrad auch die Frage von Religion/ Weltanschauung eine Rolle spielte
Ethische und soziale Aspekte von Organtransplantation und postnatalen Gentests wurden an Hand von Szenarien diskutiert, wobei auch Aspekte von governance dieser biomedizinischen Technologien im Zentrum standen; Diskussion über bereits weitgehend implementierte Technologien
Innerhalb bestimmter Frageblöcke bestimmten die Teilnehmenden die Diskussion, eröffneten spezifische Themenfelder oder schlossen andere relativ rasch
Öffentliche Aufrufe in verschiedenen Regionen Österreichs; Ziel war eine möglichst diverse Gruppe zusammenzustellen, wobei die Kategorien Geschlecht, formale Bildung, Berufsfeld, Position zum Thema, Herkunftsregion, Altersgruppe, sowie Nähe/ Distanz zu wissenschaftlicher Forschung eine Rolle spielten
Debatte über Forschungsfragen und Herangehensweisen der anwesenden WissenschaftlerInnen. Soll und kann man (und falls ja wie) zu einem relativ frühen Zeitpunkt in der Entwicklung eines Forschungsfeldes ethische und soziale Aspekte der Forschung diskutieren? Debatte um die Nähe/ Ferne zu Anwendungen
Vorgegeben waren die Zahl der Treffen und in einer ersten Phase die Fokussierung auf die Arbeit der ForscherInnen (wurde von diesen vorgestellt); innerhalb der Tage gab es Gestaltungsraum durch die Teilnehmenden. Sie konnten darüber entscheiden, was thematisch im Zentrum stehen sollte, und beschließen, ob ein formales Endprodukt gewünscht war
Rekrutierung nach einem Diversitätsprinzip, sowohl was fachliche Orientierung, Arbeit mit bestimmten Methoden oder Forschungsobjekten als auch das biographische Alter und die bisherige Mobilitätsgeschichte anging
Vergleichender Blick auf die eigene Biographie aus heutiger Perspektive; wie wird heute wissenschaftliches Arbeiten organisiert? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Veränderungen in der Neugestaltung des wissenschaftlichen Lebens?
Wenig Gestaltungsspielraum was die Gesamtstruktur des Gesprächs betrifft, aber innerhalb bestimmter Fragestellungen lag sowohl die Orientierung der Beantwortung der Frage sowie die Detailliertheit im Gestaltungsspielraum der Personen
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sechs ganze Tage lang thematisch weitgehend offen über konkrete und mögliche Zusammenhänge von technowissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen zu diskutieren. Im dritten Projekt – Living Changes in the Life Sciences: Tracing the „Ethical“ and „Social“ within Scientific Practice and Work Culture – verlagerten wir den Ort der Reflexion ins Wissenschaftssystem selbst. In offenen Interviews mit WissenschaftlerInnen, die als biographisch orientierte leitfadengestützte Reflexionen konzipiert waren, ging es uns darum zu verstehen, wie sich öffentliche Debatten um die ethischen und sozialen Implikationen der Genomforschung, die immer engere Verknüpfung von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Logiken und der Wandel rechtlicher Rahmenbedingungen (Arbeitsverhältnisse, Patentfragen, Regulierungen etc.) auf das Leben und Arbeiten der ForscherInnen auswirken. Wir werden diese Projekte im Folgenden entlang von drei Dimensionen diskutieren. Zunächst thematisieren wir die performative Dimension der methodischen Räume selbst: Welche Sprech- und Denkmöglichkeiten eröffnen bzw. verschließen sie in Bezug auf ein bestimmtes Thema? Zweitens fokussiert die Analyse auf Sprechrollen und -positionen innerhalb der Räume und auf die Ressourcen, auf die die Teilnehmenden dabei zurückgreifen (können). Drittens werden wir reflektieren, wie die diskutierten Settings von den Teilnehmenden in Bezug auf eine breitere governance techno-wissenschaftlicher Entwicklungen verortet werden. tab1
2.1 Die performative Dimension methodischer Räume In welcher Art und Weise hat die methodische Ausgestaltung der Diskussionsräume Einfluss auf die Dynamik der Diskussion, auf die Möglichkeiten bestimmte Themen anzudenken und anzusprechen sowie auf die Repräsentationen von Wissenschaft und Gesellschaft, die erzeugt werden (können)? Auf den Punkt gebracht: Welche Lern- und Reflexionsmöglichkeiten entstehen in den einzelnen Settings? Lernen verstehen wir dabei nicht im Sinne einer Aufnahme faktischer Informationen zum jeweiligen Thema, sondern im Sinne einer prozesshaften reflexiven Auseinandersetzung mit einer Thematik sowie mit anderen Perspektiven auf dieses Thema. Dabei ist es wesentlich, ob Lernen als individueller oder als kollektiver Prozess stattfindet. Verbleibt die Reflexion, die im jeweiligen Setting stattfindet, also auf der Ebene der (Weiter-)Entwicklung individueller Positionen oder entstehen in der Auseinandersetzung zwischen den Individuen neue kollektivere Positionen, die es ohne das jeweilige methodische Setting nicht gegeben hätte?
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Analysiert man die Räume der Auseinandersetzung, die sich durch eine spezifische methodische Herangehensweise eröffnen, so sind drei zentrale Dimensionen zu berücksichtigen: Erstens ist der Diskussionsraum durch die breitere Rahmung des Themas strukturiert – es wird also implizit oder explizit festgelegt, welche Aspekte ihren Platz in der Diskussion haben und welche als ,deplatziert‘ gelten. Zweitens unterliegt die Diskussion einer zeitlichen Ordnung, wobei sowohl die Gesamtzeit der möglichen Diskussion als auch die zeitliche Mikrodynamik (Redezeit, Reaktionszeit auf ein vorhergehendes Statement etc.) eine Rolle spielen. Drittens ist jeder Diskussionsraum auch ein Raum sozialer Interaktion, erleichtert/ermöglicht bestimmte Formen der Beziehungen und erschwert andere. Jede dieser Dimensionen unterliegt kontinuierlichen Verhandlungen zwischen GestalterInnen und Teilnehmenden. Während Erstere versuchen, dem Raum eine bestimmte Form zu geben, um so ihre Forschungsinteressen zu wahren, geht es Letzteren darum, sich den Raum anzueignen, gewisse Vorgaben zu übernehmen und sich gleichzeitig anderen gegenüber als widerständig zu erweisen. Diese Dynamiken möchten wir nun für unsere drei Settings diskutieren. In den Fokusgruppen des Projekts Challenges of Biomedicine steht die individuelle Positionierung der Teilnehmenden zu einem von den OrganisatorInnen recht eng definierten Thema im Vordergrund. In allen Fokusgruppen, sowohl jenen zur Organtransplantation als auch jenen zu postnatalen Gentests, waren der strukturierende Leitfaden sowie die Interventionen der Moderatorin darauf ausgelegt, die Diskussion auf eine Reflexion ausgewählter Dimensionen des Kernthemas zu fokussieren. Von den Teilnehmenden darüber hinaus eingebrachte Themen – etwa die Pränataldiagnostik – mussten als ,off topic‘ vorsichtig unterbunden werden, oder konnten nur äußerst kurz zur Sprache gebracht werden. Den Möglichkeiten der Teilnehmenden, zu einer eigenen Rahmung des Themas zu gelangen, waren damit recht enge Grenzen gesetzt. Diese thematische Engführung gemeinsam mit der Tatsache, dass über bereits etablierte Technologien gesprochen wurde, erlaubte eine recht konkrete und kontroversielle Diskussion zu deren ethischen und sozialen Implikationen, sowie zu ihrer governance. Die Fokussierung und Konkretheit der Diskussion etwa im Vergleich mit den Runden Tischen wurde dadurch ermöglicht, dass die Teilnehmenden recht rasch einige grundlegende Tatsachen über die Möglichkeiten und Grenzen der diskutierten Technologien für sich außer Streit stellten, und sich dann innerhalb dieses Rahmens über soziale und ethische Problemfelder austauschen konnten. Grundlegendere Fragen, wie etwa ob die medizinischen Probleme, für die Organtransplantation die Antwort ist, nicht auch durch die Entwicklung anderer Therapieformen behandelbar wären, wurden nicht angesprochen.
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Der enge zeitliche Rahmen von etwa zwei Stunden hatte sowohl ermöglichende als auch einschränkende Konsequenzen. Erstens erlaubte er Personen eine Teilnahme ohne massives Zeitinvestment, was zu einer höheren Teilnahmebereitschaft führte als dies etwa für die Runden Tische der Fall war. Zweitens wurden die jeweiligen individuellen Einschätzungen kaum erst im Rahmen der Auseinandersetzung entwickelt, sondern müssen weitreichend schon als ,mitgebracht‘ betrachtet werden. Die Teilnehmenden bezogen sich in ihre Positionierungsarbeit also zumeist auf Ressourcen (Erfahrungen, Wissen etc.) außerhalb des Settings. Dies bewirkte, dass wir als durchführende ForscherInnen gerade in der Anfangsphase der Diskussionen einen Einblick in ein relativ breites Meinungsspektrum erhielten. Drittens führte die Einmaligkeit des Ereignisses und die Kürze der Interaktion zu einer relativ offenen und teils kontroversiellen Diskussion. Dies hängt eng mit der sozialen Strukturierung des DIskussionsraums zusammen. Da unsere Fokusgruppen nicht mit bestehenden sozialen Gruppen (etwa Selbsthilfegruppen) deckungsgleich waren, sondern mit über einen call for participants rekrutierten Einzelpersonen durchgeführt wurden, sahen die Teilnehmenden offen geäußerte Kritik nicht als nachhaltige Gefährdung sozialer Beziehungen an. Der gebotene Diskussionsraum wurde damit nur als ,sozialer Zwischenraum‘ wahrgenommen, den man auf kurze Zeit betritt und der nach der Auseinandersetzung wieder verlassen wird. Die Sorge um die Beziehungen der Teilnehmenden zueinander konnte – im Rahmen gewisser Grenzen – beim Betreten des Raums quasi ,an der Garderobe abgegeben werden‘. Da die Fokusgruppe kaum als ein Raum wahrgenommen wurde, in dem eine nachhaltige kollektive Meinungsbildung stattfinden kann oder soll, waren kollektivere Formen des Lernens so gut wie nicht zu beobachten. Die geäußerten Positionen wurden daher meist nur im Sinne eines Vergleichs mit der eigenen Meinung zueinander in Beziehung gesetzt und es gab kaum Versuche, unterschiedliche Meinungen zu einem kollektiveren Argument zusammenzuführen oder von gegensätzlichen Positionen auf einen Konsens hinzuarbeiten. Im Laufe der Diskussionen waren auch so gut wie keine wesentlichen Verschiebungen in den Positionierungen einzelner SprecherInnen zu verzeichnen. Dies bedeutet nicht, dass keine Lernprozesse stattgefunden hätten, sondern dass sie aufgrund der Kürze der Diskussion eher erst im Nachfeld wirkten und damit nicht in den Reflexionsraum zurückgespielt werden konnten. Damit stellen sich Fokusgruppen als ein methodisches Setting dar, in dem interessante Einblicke in ein kontroverses Spektrum öffentlicher Meinungen zu techno-wissenschaftlichen Fragen möglich werden, aber reflexive und kollektivere Lernprozesse nur sehr wenig Raum haben.
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Durch die thematische Verortung der Diskussion im Bereich der Grundlagenforschung, die gleichzeitige Präsenz zweier klar definierter Gruppen – WissenschaftlerInnen und BürgerInnen –, die Dauer über sechs ganze Tage und die Anwesenheit von durchschnittlich 20 Teilnehmenden gestaltete sich der Raum für Auseinandersetzungen an den Runden Tischen im Projekt Reden wir über GOLD wesentlich anders als in den Fokusgruppen. Thematisch gesehen strukturierten wir als OrganisatorInnen den Verlauf der Diskussion weit weniger stark, da wir im Vergleich zu den Fokusgruppen die interaktive Entwicklung einer gemeinsamen Rahmung des Themas fördern und so kollektive Lernprozesse anregen wollten. Ein offenerer Zugang war allerdings auch nicht zuletzt durch die Tatsache erforderlich, dass mögliche Anwendungen des diskutierten Forschungsprojekts erst in der Zukunft liegen würden. Die Beteiligten mussten daher beträchtliche Imaginations- und Extrapolationsarbeit leisten, um mögliche ethische und soziale Implikationen der diskutierten wissenschaftlichen Erkenntnisse für sich fassbar zu machen. Strategien, dies zu tun, waren etwa der Vergleich mit historischen Beispielen technologischer Innovation, z.B der Entwicklung der Atombombe, oder das ,Erfinden‘ eines fiktiven Produkts, der ,Fettpille‘, welches dann nach seinen ethischen und sozialen Implikationen befragt werden konnte. In den Diskussionen rund um die ,Fettpille‘ konnten grundlegende Wertentscheidungen in der gesellschaftlichen Rahmung des Problems Fettleibigkeit sowie in den daraus entwickelten Lösungsansätzen reflektiert werden. So wurde etwa in Frage gestellt, warum ein an der Genomforschung orientierter medizinischer Zugang zu diesem Thema mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Ressourcen erhalte als alternative Zugänge, die etwa auf psychologische oder soziale Veränderungen abstellen. Diese Diskussionen blieben allerdings meist auf einer eher abstrakten Ebene, und im Gegensatz zu den Fokusgruppen gelang es den Teilnehmenden nur äußerst selten, auf konkretere ethische und soziale Herausforderungen zu fokussieren und diese im Detail zu diskutieren. Dies hing nicht zuletzt mit der Teilnehmendenstruktur des Settings zusammen: die WissenschaftlerInnen konnten auf Argumentationsressourcen zurückgreifen, die den BürgerInnen nicht zugänglich waren, um die Diskussion über bestimmte mögliche Zukünfte zu schließen. Schließlich fand die Diskussion sowohl thematisch als auch örtlich auf wissenschaftlichem ,Territorium‘ statt, und so konnten die WissenschaftlerInnen wiederholt erfolgreich auf ihre Expertise und ,wissenschaftliche Fakten‘ rekurrieren, um Debatten über gesellschaftliche Wertentscheidungen zu beenden (Felt et al. 2009b). Die Diskussionen an den Runden Tischen verliefen generell wesentlich unkontroversieller im Vergleich zu den Fokusgruppen. Zu beobachten war
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eine Dynamik der wechselseitigen ,Zähmung‘, d. h. die längerfristige Interaktion zwischen WissenschaftlerInnen und BürgerInnen bedingte – positiv formuliert – gesteigerten wechselseitigen Respekt oder – kritischer ausgedrückt – eine starke latente Hemmung, kritische Positionen zu formulieren, die die sozialen Beziehungen zueinander nachhaltig negativ hätten beeinflussen können. Tendenziell wurde Kritik vor allem von Seiten der BürgerInnen weit eher in Kontexten geäußert, in denen die WissenschaftlerInnen nicht anwesend waren (etwa in Kleingruppendiskussionen), bzw. an uns SozialwissenschaftlerInnen delegiert. Indem man etwa einen kritischen Punkt in den Einzelinterviews nach den Runden Tischen ansprach, nahm man implizit an, dass dieser in geeigneter Form an die WissenschaftlerInnen zurückgespielt werden würde. Auch die Beziehung von individuellen zu kollektiven Positionen spielte in diesem Setting eine wesentlich wichtigere Rolle als in den Fokusgruppen. Mit den WissenschaftlerInnen war eine bereits bestehende soziale Gruppe anwesend, wodurch die BürgerInnen indirekt als Gruppe der Nicht-WissenschaftlerInnen konstituiert wurden. Die Langfristigkeit des Settings erlaubte in einem gewissen Rahmen einen reflexiven Lernprozess durch die tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Positionen der jeweils anderen Gruppe. Die BürgerInnen konnten so etwa Widersprüche in der Argumentation der WissenschaftlerInnen ausmachen, wenn es darum ging, die eigene Forschung – je nach Diskussionszusammenhang – entweder als ,reine Grundlagenforschung‘ oder als mögliche Lösung für ein gesellschaftliches Problem darzustellen. Diese Widersprüche waren für die BürgerInnen bedeutsam. Zum einen erkannten sie, dass die jeweiligen Positionierungen von den WissenschaftlerInnen strategisch eingesetzt wurden, um die (Un-)Möglichkeit der Übernahme von Verantwortung für Folgen der eigenen Forschung zu betonen und zum anderen wurde ihnen durch die detaillierten Einblicke in die Perspektiven der ForscherInnen klar, dass die Beurteilung der Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wesentlich komplexer war als ursprünglich angenommen. Allerdings führte der Lernprozess zwischen den Gruppen auch dazu, dass eventuelle Widersprüche und kontroversielle Positionen innerhalb der Gruppe der BürgerInnen im Prozess der Positionierung gegenüber den WissenschaftlerInnen tendenziell nivelliert und unter den BürgerInnen nicht ausdiskutiert wurden. Dies und die erkannte Komplexität der Thematik führte dazu, dass die BürgerInnen gar nicht den Versuch unternahmen, eine pointierte gemeinsame Position zu entwickeln. In der Folge lehnten sie es auch ab, ein kollektives Abschluss-Statement zu verfassen, und delegierten die weitere Interpretation der Debatten an uns SozialwissenschaftlerInnen.
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Die biographisch orientierten leitfadengestützten Reflexionen im Rahmen von Living Changes in the Life Sciences spannten wiederum einen thematisch und sozial deutlich anders strukturierten Rahmen auf. In einer Interviewsituation kann Positionierungsarbeit nicht im Austausch mit anderen Meinungen erfolgen, und die angeregten Lernprozesse bleiben damit notwendigerweise individuell. Dies war auch explizites Ziel, denn bestimmte Reflexionen zu veränderten Lebensbedingungen in der Wissenschaft wären in einem kollektiveren Setting kaum zur Sprache gebracht worden. Unsere Erfahrungen an den Runden Tischen hatten gezeigt, dass Bedingungen des Lebens und Arbeitens in der Wissenschaft gerade in hierarchisch heterogen strukturierten Gruppen kaum diskutierbar waren. Der Grund dafür lag allerdings nicht nur in den Hierarchien zwischen den Diskutierenden, sondern auch in der Tatsache, dass es im Forschungskontext gerade für jüngere ForscherInnen keine Orte gibt, an denen über Auswirkungen von systemischen Veränderungen in der Wissenschaft auf das eigene Leben und Arbeiten diskutiert wird, und sie somit auch auf keine Ressourcen für die Positionierungsarbeit zurück greifen können. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sollte durch die biographischen Reflexionen ein Raum entstehen, in dem individuelle Auseinandersetzung und Lernprozesse möglich werden. Ziel war es, eine vielfach mehr oder weniger unreflektierte Betroffenheit der LebenswissenschaftlerInnen durch Veränderungen im Wissenschaftssystem in eine reflektierte Betroffenheit überzuführen und somit auch Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Durch eine Strukturierung des Gesprächs zunächst entlang der persönlichen Karriere, dann entlang der eigenen epistemischen Entwicklung und schließlich nach den institutionellen Rahmungen, die in dieser Entwicklung durchlaufen wurden, wurde versucht, den unterschiedlichen Facetten des wissenschaftlichen Lebens und Arbeitens, aber auch den Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen gerecht zu werden. Durch wiederkehrende Aufforderungen, Elemente der eigenen Geschichte mit vergangenen oder potenziellen zukünftigen Entwicklungen zu vergleichen, wurden Anstöße zu einer kollektiven Verortung der individuellen Geschichte gegeben. Zeitlich spielt die mit zwei bis drei Stunden beträchtliche Länge des Interviews eine entscheidende Rolle, da im Rahmen eines solchen Zeitraumes auch Brüche und Widersprüche in der eigenen Erzählung sichtbar und thematisierbar werden. So kamen etwa ethische und soziale Fragen meist an vielen verschiedenen Punkten des Gesprächs als lose Elemente vor, ohne dass sich diese in eine bewusste kohärente Reflexion vor dem Hintergrund der eigenen Arbeit zusammenfügten. Eine in diesem Zusammenhang nicht unübliche Gesprächskonstellation war etwa, die Frage nach gesellschaftlichen Ein-
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flüssen auf die eigene Arbeit zu verneinen, da man eigentlich nur am Erkenntnisgewinn interessiert sei, um nur wenige Minuten später die eigene Forschung durch ihre gesellschaftliche Relevanz zu legitimieren. Das Sichtbar-werden dieser Widersprüche erlaubt einerseits analytisch reiche Einblicke in die Verknüpfung von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Logiken, und ermöglicht andererseits den Befragten selbst neue Perspektiven auf ihre eigene Geschichte entwickeln. Zentral für das Anregen eines solchen Lernprozesses war auch die soziale Beziehung zwischen interviewender und interviewter Person. Anders als in klassischen Interviewsituationen wurde der/die interviewende SozialwissenschaftlerIn im Verlauf der Interviews immer stärker als peer wahrgenommen, d. h. als Person, die von ähnlichen Entwicklungen betroffen ist, und der man daher vertrauen kann. Sätze wie „Das wird ja bei Euch nicht viel anders sein.“ deuten eine solche versuchte Kollektivierung an, die für die interviewende Person eine methodische Herausforderung darstellen. Denn einerseits ist ein gewisses Maß an peer-to-peer Beziehung notwendig, um Vertrauen herzustellen, andererseits birgt dies auch die Gefahr, dass wichtige Erzählelemente als geteilt bekannt vorausgesetzt werden und damit implizit bleiben.
2.2 Sprechrollen und -positionen „Warum bin/sind gerade ich/wir hier?“, war in allen drei Settings eine oft gestellte Frage der Teilnehmenden nach den Gründen für ihre Auswahl. Damit wurde von ihnen selbst explizit die Frage nach den Rollen in der Diskussion, aber auch nach den Positionen, von denen aus sie legitim sprechen können und sollen, aufgeworfen. Dies verweist darauf, dass Sprechrollen und -positionen keineswegs als selbstverständlich angesehen werden, sondern erst vor Ort ausgehandelt werden (müssen). Gerade aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erscheint daher die Frage nach unterschiedlichen Erwartungen, der Koordination wechselseitiger Erwartungs-Erwartungen bezüglich der Sprechpositionen und den damit gekoppelten impliziten Anforderungen an die Teilnehmenden in den unterschiedlichen methodischen Settings zentral. Drei Ressourcen für die Konstruktion einer Sprechposition waren in unseren Settings von besonderer Bedeutung: (1) Betroffenheit wurde als Verweis auf einen lebensweltlichen Bezug zum Thema/Objekt verstanden, das zur Diskussion steht; (2) Erfahrung hingegen bedurfte keines unmittelbaren Bezugs zum diskutierten Thema, sondern konnte durch Analogieschlüsse etwa auf professionelle Erfahrungen oder auf kulturell geteilte Mythen rekurrie-
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ren und damit einen Beitrag zur Positionierungsarbeit leisten. (3) Wissen als dritte von uns analysierte Ressource wurde per definitionem immer als kollektiv gültig konstruiert und bezog aus dieser Annahme auch seine Autorität. Ein anschauliches Beispiel für den sehr unterschiedlichen Einsatz der drei Ressourcen bieten die biographisch orientierten leitfadengestützen Reflexionen. Zu Beginn der Gespräche begaben sich die WissenschaftlerInnen meist in den Modus eines ExpertInneninterviews, d. h. sie sahen sich als über Wissen über das System Wissenschaft verfügend, welches für uns SozialwissenschaftlerInnen von Interesse war. Dies führte in der ersten Gesprächsphase meist zu einem relativ sicheren Gesprächsverhalten, aber auch zu einer eher faktenzentrierten Form der Erzählung. Erfahrung und Betroffenheit spielten zwar eine Rolle, blieben aber im Vergleich zum Wissen anfangs marginal. Graduell führte der Gesprächsleitfaden und der durch ihn eröffnete Reflexionsraum dazu, dass immer mehr die ,Lebenswelt Forschung‘ und damit persönliche Erfahrungen und Einschätzungen in den Vordergrund rückten und den WissenschaftlerInnen völlig neue Ordnungs- und Interpretationsarbeit abverlangten. Dies gestaltete sich zum Teil aufwändig, da durch das Fehlen institutionalisierter Reflexionsräume zu diesen Themen auch keine eingeübten Sprechrollen und -positionen vorhanden waren, auf die man zurückgreifen hätte können. Im Laufe des Gespräches wurde für die WissenschaftlerInnen sukzessive deutlich, dass die ExpertInnenrolle nicht so leicht auf den Kontext ,Erfahrungswelt Forschung‘ umgelegt werden konnte. Der/ die SozialwissenschaftlerIn wurde gleichzeitig immer stärker zu einem/r ExpertIn, der/die die notwendigen Anleitungen für eine Selbstreflexion bereitstellen konnte. Fragen wie „Was sagen denn die anderen dazu?“, Anmerkungen wie „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, oder die Verwendung eines wesentlich spekulativeren Vokabulars als in der Anfangsphase veranschaulichen diesen Wandel. Anfänglich individuellere Beschreibungen gingen graduell in eine kollektivere Ebene der Beobachtung und Reflexion über. Durch die Einordnung eigener Erfahrungen und persönlicher Betroffenheiten in allgemeinere Systembeschreibungen gewannen diese Beobachtungen für die Konstruktion einer legitimen Sprechposition an Bedeutung. Die Gesprächsführung ermächtigte die ForscherInnen schließlich aus einer neuen Perspektive über systemische Problemfelder zu sprechen und eröffnete damit für sie zumindest diskursiv neue Möglichkeiten, die identifizierten Veränderungen zu reflektieren und gestaltend nachzudenken. Im Kontext der Fokusgruppen zu biomedizinischen Technologien wurden Sprechrollen bis zu einem gewissen Grad durch uns als OrganisatorInnen
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vorgegeben oder nahe gelegt. Dies geschah etwa dadurch, dass wir die TeilnehmerInnen baten, sich auf dem Bewerbungsbogen in die Kategorien ,betroffen‘ oder ,nicht-betroffen‘ einzuordnen, und die Form ihrer Betroffenheit näher zu spezifizieren, unter der Annahme, dass Betroffenheit oder NichtBetroffenheit einen großen Unterschied für die jeweilige Positionierungsarbeit machen würden. In den konkreten Diskussionen wurde dann allerdings deutlich, dass die Trennung von Betroffenen und Nicht-Betroffenen je nach ihrer Selbstzuschreibung keineswegs Diskussionsräume erzeugte, die in Bezug auf den Einsatz verschiedener Ressourcen homogen gewesen wären. Der Begriff der Betroffenheit erwies sich als extrem variabel, wobei Fremd- und Selbstzuschreibungen oft nicht deckungsgleich waren. Unterschiedlich wahrgenommene Grade individueller Betroffenheit führten in der Folge zu unterschiedlichen Sprechpositionen in der Gruppe, wobei die Performanz einer manifest verkörperten, emotional aufgeladenen Betroffenheit besonders starke Auswirkungen auf die Diskussionsdynamik zeigte. So wurden etwa die Argumente einer im Rollstuhl sitzenden Krebspatientin von den anderen TeilnehmerInnen kaum kritisch debattiert, sondern eher umgangen, obwohl sie offensichtlich gegen die dominante Position der Gruppe argumentierte. Damit wird deutlich, dass Betroffenheit erst in der konkreten Konstellation an Bedeutung erlangt. Sie wird im Kontext eines partizipativen Settings nicht nur zu einer Ressource, die einen Zugang zu bestimmten Themen eröffnet, sondern die in manchen Konstellationen auch zu frühzeitigen Schließungen führen kann. Interessanterweise war es für die Legitimität einer Sprechposition kaum von Bedeutung, ob aus einer individuellen Betroffenenrolle heraus gesprochen wurde, oder ob sich eine Person als RepräsentantIn eines Kollektivs von Betroffenen (z. B. Selbsthilfegruppe) positionierte. Dies ist insofern überraschend, als in allen anderen Settings als kollektiv konstruierte Ressourcen wie Erfahrung oder Wissen durchgängig wirkmächtiger waren als rein individuelle Perspektiven. Eine Erklärung hierfür könnte die weitgehende öffentliche Unsichtbarkeit kollektiver Formen von Betroffenheit und vor allem ihr geringer politischer Vertretungsanspruch im österreichischen Kontext sein. Dies wäre also ein Verweis auf die Bedeutung des breiteren kulturellen Kontextes für die Konstruktion von Sprechrollen und -positionen; ein Punkt auf den wir später noch zurückkommen werden. Insgesamt lässt sich für die Betroffenengruppe festhalten, dass Betroffenheit und Erfahrung weitgehend deckungsgleich verwendet und Wissen vielfach implizit als über Betroffenheit erworben angesehen wurde. Damit fand in diesem Kontext mehr oder weniger eine Gleichsetzung der drei Ressourcen statt.
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In der Gruppe derjenigen, die sich selbst keine Betroffenheit zuschrieben, spielte hingegen Wissen und vor allem die Performanz des Verfügens über Wissen als Ressource bereits in den kurz gefassten Bewerbungsstatements eine zentrale Rolle, da die Teilnehmenden erwarteten, dass diese Ressource für unsere Auswahl entscheidend wäre. In diesen Erwartungs-Erwartungen spiegelt sich damit der breitere politisch-kulturelle Kontext wider. Eine Mindestausstattung an Wissen wird darin als Voraussetzung für das Einnehmen einer Position zu technowissenschaftlichen Entwicklungen angenommen, um als scientific citizen (Irwin 2001) legitimerweise die Möglichkeit der Teilhabe an potenziell entscheidungsrelevanten Diskussionen zu haben. Für die Frage, welche Sprechpositionen innerhalb einer bestimmten politischen Kultur als erkennbar und legitim gelten, ist eine weitere Beobachtung aus den Fokusgruppen von Interesse. Trotz expliziter Rekrutierungsbemühungen war es kaum möglich, Teilnehmende mit Migrationshintergrund und aus nicht-christlichen Religionen für die Diskussion zu gewinnen. Der Grund dafür könnte etwa in der fehlenden Passform partizipativer Settings mit Vorstellungen des politischen Teilhabens liegen, die in gegebenen MigrantInnen- bzw. nicht-christlichen Religionsgemeinschaften existieren3. Dies macht es den Mitgliedern dieser Gemeinschaften schwer, ihre eigene Rolle in diesen ELSA-Settings zu imaginieren, selbst wenn sie auf die Ressourcen Betroffenheit, Wissen und Erfahrung zurückgreifen könnten. Die Runden Tische wurden von uns als ein Reflexionsraum geplant, in dem grundlegend unterschiedliche Sprechpositionen durch die gleichzeitige Anwesenheit von Mitgliedern der breiteren Öffentlichkeit und von LebenswissenschaftlerInnen gegeben sein sollten. Damit war von Anfang an eine Konfrontation sehr heterogener Umgangsformen mit den Ressourcen Erfahrung, Betroffenheit und Wissen zu erwarten. Genau dadurch – so unsere Hoffnung – würden die unterschiedlichen Relevanzwelten sichtbar werden und damit möglicherweise auch wechselseitige Lernprozesse angeregt werden. Nicht ganz unerwartet war wissenschaftliches Wissen als Ressource zentral für den Diskussionsverlauf. Gleichzeitig erwarteten wir aber auch, dass eine potenzielle Betroffenheit der BürgerInnen in Bezug auf Fettstoffwechselprobleme einen Zugang zu den ethischen und sozialen Aspekten der Genomforschung in diesem Bereich erleichtern und eine wesentliche Ressource in der Diskussion darstellen würde. So hatten mehrere BürgerInnen bei ihrer Bewerbung Betroffenheit als Begründung ihres Interesses an der Teilnahme angeführt, obwohl dies als Kategorie nicht auf dem Bewerbungsbogen vorzufinden war. Allerdings spielte dies interessanterweise im konkreten Diskussionsverlauf in diesem direkten Sinn – also bezogen auf Fettstoffwechselerkrankungen – kaum mehr eine Rolle. Zum einen ließe sich
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diese Abwesenheit dadurch erklären, dass Wissen und wissenschaftliche Expertise durch die Anwesenheit der WissenschaftlerInnen eine zentrale Rolle erhielten. Zum anderen waren die Teilnehmenden selbst – ähnlich wie in den Fokusgruppen – überzeugt, dass es wesentlich wäre, sich zuerst ausreichend Wissen über die Forschung anzueignen, bevor man legitim mitsprechen könnte. Die so etablierte Ordnung nahm allerdings durch die Längerfristigkeit des Prozesses der Auseinandersetzung eine interessante Wende. Durch die Kommunikation mit den WissenschaftlerInnen lernten die BürgerInnen Wissenschaft immer mehr nicht nur als abstrakte Produktionsinstanz von Wissen kennen, sondern auch als ein soziales Arbeitsumfeld, das in mancherlei Hinsicht mit ihren eigenen professionellen Erfahrungen vergleichbar war. Dadurch konnten auch neue Ressourcen in die Debatte eingebracht werden, die die Dominanz wissensbasierter Argumentationen bis zu einem gewissen Grad schwächten. Während es den BürgerInnen im Verlauf der Diskussion gelang, Erfahrung als Ressource zu nutzen und sich immer wieder neue Positionen und Rollen temporär anzueignen – der/die SteuerzahlerIn, der/die PatientIn, der/die Berufstätige, der/die besorgte BürgerIn usw. – war es für die WissenschaftlerInnen ungleich schwieriger, auf diese Repertoires zurückzugreifen, da sie sich selbst stark auf die ExpertInnenposition fixierten und dies vielfach von den BürgerInnen auch noch verstärkt wurde. Die Problematik dieser relativ einschränkenden Positionierung wurde in der Debatte um ethische Fragestellungen in Bezug auf ihre Forschung besonders deutlich: Es dauerte relativ lange, bis ethische Fragen rund um Tierversuche auf einer persönlichen Ebene von den WissenschaftlerInnen thematisiert werden konnten. Gerade diese Thematisierung auf der Erfahrungsebene war aber zentral für die Beziehung der beiden Gruppen. Erst das Zeigen von Emotionen gegenüber Versuchstieren wurde von den BürgerInnen als ein angemessener Umgang mit dem komplexen Thema angesehen und ermöglichte diesbezüglich eine Entspannung in der Beziehung zwischen beiden Gruppen. Die Schwierigkeit der WissenschaftlerInnen, erfahrungsbezogene Ressourcen in der Interaktion mit den BürgerInnen zu verwenden, ist besonders bemerkenswert, als sie in Diskussionen ohne Beteiligung der BürgerInnen recht selbstverständlich auf diese zurückgriffen.
2.3 Kontexte und Adressaten der Reflexion Wie wurden die diskutierten partizipativen Settings von den Teilnehmenden in Bezug auf eine breitere governance techno-wissenschaftlicher Entwicklungen, und damit in einer konkreten techno-politischen Kultur, verortet?
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Den drei Settings ist gemein, dass die Teilnehmenden Schwierigkeiten hatten, den Diskussionsraum selbst und die in ihm produzierten Reflexionen in einem weiteren Kontext zu verorten. Dies äußerte sich einerseits in wiederholten Fragen nach den Finanziers der Projekte, die dann meist mit Vermutungen über die politischen Intentionen dieses Akteurs – und damit des Settings selbst – verbunden wurden. Andererseits waren die Teilnehmenden nicht in der Lage, konkrete Adressaten für die von ihnen produzierten Reflexionen zu identifizieren. Um zu diskutieren, wie die Teilnehmenden die Fokusgruppen in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext verorteten, ist zunächst wesentlich zu verstehen, welche Abgrenzungsarbeit diese von einer breiteren Öffentlichkeit vornahmen. Die Teilnehmenden positionierten sich als informierter als die allgemeine Öffentlichkeit und sahen sich daher auch nicht als repräsentativ an. Dennoch hatten sie detaillierte Ansichten zur Frage wie die gesellschaftliche Steuerung technologischer Entwicklungen ablaufe und welche Rolle die Öffentlichkeit darin spiele/spielen sollte. Interessanterweise waren diese Vorstellungen für die beiden diskutierten Technologien – Organtransplantation und postnatale Gentests – grundlegend verschieden (Felt et al. 2008). Daraus wird deutlich, wie sehr die zur Debatte stehende Technologie die Art und Weise strukturierte, wie die Teilnehmenden über Steuerungsmechanismen und insbesondere die Rolle der Öffentlichkeit nachdachten. Die Regulierung von Organtransplantation wurde vor allem im nationalen Kontext diskutiert und die Teilnehmenden sahen im österreichischen Staat den zentralen Akteur, der die Öffentlichkeit bewusst im Unklaren über die bestehende gesetzliche Regelung4 halte, aber sich gleichzeitig auch um die medizinische Versorgung der BürgerInnen kümmern würde. Damit wurde die Öffentlichkeit zwar als unwissend und aus der Steuerung der Technologie ausgeschlossen konstruiert, aber auch als potentielle Gefahr für das gute Funktionieren der geltenden Regelung gesehen, sollte sie sich der bestehenden Situation bewusst werden. Im Gegensatz dazu skizzierten die Teilnehmenden der Gentest-Gruppen die politische Steuerung dieser Thematik als eine, die in globalen Kontexten zu verorten sei, und in der vor allem nicht einfach zu identifizierende ökonomische Interessen eine Schlüsselrolle spielten. Der österreichische Staat wurde in diesem Zusammenhang als völlig machtlos gesehen, während die Öffentlichkeit als von mächtigeren Akteuren etwa über mediale Berichterstattung manipulierbar konstruiert wurde. Je nachdem, ob es sich um eine klassische objektzentrierte Technologie wie Organtransplantation handelte, oder um eine Technologie wie postnatale Gentests, die vornehmlich Wissen und Informationen über Menschen erzeugt, wurden Partizipations- und Steuerungsmöglichkeiten unterschied-
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lich diskutiert und beurteilt. In beiden Fällen fiel es den Teilnehmenden schwer zu imaginieren, welchen Einfluss Partizipation auf die gesellschaftliche Steuerung der jeweiligen Technologien haben könnte. Anders als die Fokusgruppen legte das Setting der Runden Tische kollektivere Formen der Meinungsbildung nahe, etwa in Form der von uns eingeräumten Möglichkeit eines kollektiven Abschluss-Statements. Die Gruppe machte von dieser Möglichkeit allerdings nicht Gebrauch, da es ihr schwer fiel zu verorten, wo ein Abschlussstatement wirklich aufgenommen werden würde und zu welchen Formen der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung es beitragen könnte. Auch hier hing die Steuerungsvorstellung eng mit dem diskutierten Thema zusammen. Für bestimmte eng definierte forschungsethische Themen, wie etwa Tierversuche, vertrauten die BürgerInnen weitgehend der Selbststeuerungsfähigkeit der WissenschaftlerInnen innerhalb existierender gesetzlicher Rahmungen. Sobald es aber um generellere gesellschaftliche Auswirkungen des Wissens ging, erwies sich die Situation als weitaus komplexer. Den BürgerInnen erschien die gesellschaftliche Steuerung techno-wissenschaftlicher Entwicklung als ein opakes Netzwerk von Akteuren – nicht unähnlich den Teilnehmenden an den Fokusgruppen zu Gentests. Dabei wurde nationalstaatliche Politik als ein Akteur gesehen, der weder das Interesse noch die Mittel habe, in die Dynamik der Wissensproduktion und in deren soziale und ethische Implikationen einzugreifen. Die WissenschaftlerInnen allerdings, welche die BürgerInnen am ehesten als AdressatInnen eines potenziellen Statements sahen, lehnten eine breitere Verantwortung für ihre Forschung mit dem Verweis auf ihre Rolle als GrundlagenforscherInnen kategorisch ab. Darüber hinaus äußerten die Teilnehmenden auch Bedenken, im Namen einer wie auch immer gearteten breiteren Öffentlichkeit zu sprechen, und damit gleichsam einen Raum zu besetzen, zu dem andere, nicht präsente Akteure ebenso relevante Beiträge liefern könnten. Den Teilnehmenden war ihre eigene Rolle in Relation zu anderen Formen und Repräsentationen von Öffentlichkeit unklar. Dies führte wieder latent dazu, die weitere Verortung der geäußerten Meinungen ,den ExpertInnen‘, also den organisierenden SozialwissenschaftlerInnen, zu überlassen. Im Rahmen der biographisch orientierten leitfadengestützen Reflexionen waren Fragen des Zusammenwirkens wissenschaftlicher Praxis mit politischen Rahmungen sowie der politischen und gesellschaftlichen Implikationen der eigenen Arbeit am schwersten zu thematisieren. In so gut wie allen Fällen konnten die Befragten solche politischen Steuerungsprozesse weder skizzieren noch einschätzen. Während es ihnen gelang, für Fragen ihrer Karrieren oder epistemischer Entwicklungen von der eigenen Befindlichkeit
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zu abstrahieren und diese in Bezug zu breiteren Debatten zu setzen, funktionierte dies bei gesellschaftsbezogenen Themen kaum. Viele GesprächspartnerInnen betonten einerseits die Selbststeuerungsfähigkeit der Wissenschaft sowie andererseits die Verantwortung von Politik und Gesellschaft, über die Implikationen des erzeugten Wissens zu befinden. Damit wurde Wissenschaft als System imaginiert, welches innerhalb seiner Grenzen eine Kapazität zur autonomen Reflexion und Entscheidung bezüglich ethischer und sozialer Dimensionen des Forschungshandelns besitzt. Diese Annahme einer Selbststeuerungsfähigkeit der Wissenschaft basiert in den Erzählungen meist auf dem Mythos einer ,systemischen Vernunft‘, die allerdings an keinem konkreten institutionellen oder sozialen Ort festmachbar scheint. Als Evidenz für diese These wurde auf historische Beispiele wie die AsilomarKonferenz 1975 als Prototyp der Selbstregulierung der Lebenswissenschaften verwiesen. Hinweise auf ähnliche Vorgänge oder gar institutionelle Orte in den heutigen Lebenswissenschaften finden sich so gut wie nicht. Diese Befunde deuten darauf hin, dass das Sprechen über die Verortung des eigenen Handelns zu weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen in der alltäglichen Praxis der Lebenswissenschaften kaum eingeübt wird und auch keinen institutionellen Ort hat. Dies deckt sich mit Beobachtungen, die wir zur Rolle von ELSA-Themen in der Sozialisation in den Lebenswissenschaften machen konnten. Zum einen werden einschlägige Lehrangebote sowohl in den Studienplänen als auch in der Praxis als klar von den naturwissenschaftlichen Kernfächern getrenntes Zusatzangebot gerahmt. Andererseits sind sie meist am Anfang des Studiums verortet und werden in Form von wenig interaktiven Vorlesungen und in thematischer Nähe zu anderen zu erwerbenden soft skills, wie Präsentationstechniken, angesiedelt. Der Grundzugang ist daher kaum der einer mit der konkreten Forschungspraxis verknüpften prozesshaften Reflexion, sondern eher der des Erlernens eines oft recht praxisfernen, abfragbaren ethischen Grundwissens. Des Weiteren waren in den Gesprächen selbst eine Vielzahl von Faktoren zu beobachten, die Reflexion im Allgemeinen und kollektivere Reflexion im Besonderen aus der Perspektive der ForscherInnen zum ,Luxusgut‘ werden lassen. Als wesentliche Faktoren dafür sind die immer höhere Zentralität ,objektiver‘ Messbarkeit wissenschaftlichen Outputs im Rahmen einer Audit-Logik zu nennen, im Rahmen derer Tätigkeiten, die nicht direkt verbuchbaren Output produzieren (wie Forschungsethik), zu einem Wettbewerbsnachteil werden (Felt/Fochler 2010a). Mit zunehmender Outputorientierung geht auch eine Veränderung temporaler Strukturen und Praktiken einher. Zeit, die nicht direkt einem Zweck oder Output zugeordnet ist, nimmt
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gegenüber zielgerichteter Zeit stetig ab. Die Konkurrenz um akademische Arbeitsplätze mit längerfristiger Perspektive steigt gerade in den Lebenswissenschaften rapide an, wodurch vor allem in der Wahrnehmung von JungwissenschaftlerInnen ,unproduktive‘ Tätigkeiten wie die Reflexion der eigenen Praxis zu einem riskanten Investment werden können. All dies macht eine eventuelle Erweiterung des Reflexionsraums über die zeitlichen und sozialen Grenzen des biographischen Einzelinterviews hinaus schwierig und stellt weit mehr als nur eine methodische Herausforderung dar, da damit zentrale Elemente der derzeitigen Wissensproduktionskultur in den Lebenswissenschaften berührt werden.
3 Abschließende Überlegungen: Partizipation, Methodenpolitik und die Verantwortung der ELSAForschung In unseren abschließenden Überlegungen wollen wir die Frage der methodenpolitischen Dimension partizipativer ELSA-Forschung diskutieren. Fünf Beobachtungen sind hierbei zentral. Erstens hat unsere Analyse auf die Bedeutung von lokalen techno-politischen Kulturen für die partizipative ELSA-Forschung hingewiesen. Jedes partizipative Setting wird von den Teilnehmenden implizit auf seine Passform mit einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext hinterfragt. Dies kann sich konkret in Fragen nach den potentiellen Adressaten der Ergebnisse der Diskussionen, nach den Finanziers solcher Projekte oder nach erfolgreichen Beispielen von Entscheidungsprozessen, in denen Partizipation eine Rolle gespielt hat, manifestieren. In Bezug auf die in diesem Artikel vorgestellten Settings kann man festhalten, dass die Teilnehmenden große Schwierigkeiten hatten, ihre Rolle und die Rolle des Verfahrens in einem weiteren politischen Kontext zu verorten und eine Vorstellung zu entwickeln, für wen und zu wem sie in diesem Rahmen sprechen könnten. Diese Beobachtung deckt sich mit rezenten Diagnosen in der Wissenschaftsforschung (vgl. Wynne 2008), die betonen, dass im Rahmen von partizipativen Verfahren „eingeladene“ Öffentlichkeiten – im Gegensatz zu „uneingeladenen“ Öffentlichkeiten wie etwa Bürgerinitiativen – oft Schwierigkeiten haben, eine eigene Position zu einem Thema jenseits der von ExpertInnen vorgegebenen Rahmungen zu entwickeln. Die techno-politische Kultur gibt aber auch die Rahmung für im Kontext eines partizipativen Verfahrens essentielle Fragen vor wie etwa, worum es eigentlich in der Debatte gehen kann oder welche Sprechpositionen über-
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haupt denkbar erscheinen. Die Fokusgruppen zu zwei unterschiedlichen biomedizinischen Technologien zeigten darüber hinaus, dass techno-politische Kulturen zwar gewisse Basisstrukturen besitzen, aber dennoch verschiedene Technologien je sehr unterschiedlich rahmen können. Aus den hier berichteten Erfahrungen heraus scheint es daher wesentlich, sowohl die Rolle von nationalstaatlichen Rahmungen in Form von techno-politischen Kulturen als auch ihre Interaktion mit den Spezifika des jeweiligen Themas nicht zu unterschätzen und expliziter mit in die Auswahl von Verfahren und die Interpretation von Daten einzubeziehen. Zweitens hat unsere Analyse der drei Settings die methodenpolitische Bedeutung von Zeitlichkeit mit Nachdruck verdeutlicht. Zwei unterschiedliche Dimensionen von Zeit wurden hier sichtbar: (1) die Dauer (Lang- oder Kurzfristigkeit); (2) der Moment der Partizipation im Innovationsprozess. Was den ersteren Aspekt betrifft, so lässt sich feststellen, dass kurzfristig angelegte Verfahren wie Fokusgruppen eher breitere Teilnahme möglich machen, da die individuelle zeitliche Verpflichtung gering bleibt. Darüber hinaus nehmen die Teilnehmenden in kürzeren Treffen auch durchaus kritische Positionen ein, da das Treffen nur als punktuell wahrgenommen wird und somit auch keine nachhaltigen sozialen Beziehungen zu den anderen Teilnehmenden entstehen. Längerfristigkeit wiederum ermöglicht eine reflexive Verortung der eigenen Sprechposition und des Verfahrens an sich in einem breiteren Kontext, sowie wechselseitiges Lernen und die Weiterentwicklung von Positionen. Eine zentrale Herausforderung im Kontext längerfristiger Diskussionen ist allerdings, die auftretenden sozialen ,Zähmungseffekte‘ so gering wie möglich zu halten. Der Konsens (Horst/Irwin 2010), der in vielen Verfahren als erstrebenswert gilt, kann dabei zu einem wesentlichen Hindernis werden, wenn es darum geht, pointierte und kritischere Positionen einzunehmen. Dieses Argument, dass Zeitspanne und kritische Positionierungsmöglichkeit miteinander in Beziehung stehen, gilt auch für die beschriebenen reflexiven Gespräche mit WissenschaftlerInnen. Je länger die Gespräche dauerten, um so eher bewegten sich die Interviewten von einer ExpertInnenposition weg und begannen kritisch auch die eigene Position zu hinterfragen. Allerdings kam es im Verlauf des Gesprächs auch zum Aufbau von peer-to-peer Beziehungen zwischen den beiden Gesprächspartnern, in denen gewisse Elemente als gemeinsam bekannt angenommen und daher nicht mehr explizit gemacht wurden. Der Moment im Innovationsprozess, an dem partizipative ELSA-Forschung stattfindet, verändert nachhaltig den Reflexionsprozess. Je früher die Reflexion im technowissenschaftlichen Entwicklungsprozess angesiedelt ist, umso mehr Imaginations- und Extrapolationsleistung muss erbracht wer-
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den, was die Möglichkeiten der einzelnen Teilnehmenden – je nach Ressourcenlage – einschränken kann. An den Runden Tischen war es bemerkenswert festzustellen, dass die BürgerInnen erst eine Anwendung erfinden mussten – die ,Fettpille‘ –, um überhaupt über potenzielle Auswirkungen der Genomforschung auf die Gesellschaft sprechen zu können. Dies verweist darauf, dass das gesellschaftliche Repertoire, mit dem zukünftige wissenschaftliche und technologische Entwicklungen imaginiert und nach ihren Implikationen befragt werden können, äußerst begrenzt zu sein scheint. Aber auch für die teilnehmenden WissenschaftlerInnen erschien die Konstruktion einer Sprechposition zu dieser Art von ELSA-Fragen schwierig, da die derzeitige Kultur und Praxis des Arbeitens in den Lebenswissenschaften nur wenig Raum für die Übung von Reflexion lässt. Partizipative Verfahren, wie die im Rahmen dieses Artikels beschriebenen, können hier zu einem empowerment beitragen, sofern sich die OrganisatorInnen bewusst sind, dass es dabei zentral auch um die Entwicklung von Imaginations- und Sprechfähigkeiten innerhalb der Settings geht, und nicht nur um die Repräsentation bestehender, quasi ,mitgebrachter‘ Positionen. Unsere dritte Schlussfolgerung ist, dass die zu diskutierenden Themen und die Sprechpositionen, die Teilnehmende in Bezug auf diese einnehmen können, immer ko-produziert sind. Weder Sprechpositionen noch thematische Rahmungen und Fragestellungen können vorausgesetzt und mit einer standardisierten Methodologie einfach repräsentiert werden. Jeder Aufruf zur Teilnahme, jedes Einleitungsstatement, jede Intervention der Moderation sind immer schon eine Rahmung, die bestimmte Positionen offensichtlicher macht als andere. Daher ist es wesentlich die ontologische Politik (Mol 2002) innerhalb solcher/durch solche Settings zu berücksichtigen. Es geht also darum zu verstehen, dass innerhalb einer Methode als denkmöglich Erscheinendes nicht gegeben ist, sondern im Setting selbst erst hergestellt wird. Innerhalb der Diskussionsräume werden also nicht einfach vorgegebene Realitäten und ihre Ordnungen reflektiert – die Frage, wer in welcher Form ,betroffen‘ ist, ist hier ein sehr anschauliches Beispiel –, sondern diese Realitäten und Ordnungen werden erst in der Diskussion und beeinflusst durch die Rahmung der Methode und der techno-politischen Kultur ausgehandelt. Damit sind auch die zu diskutierenden Probleme nicht einfach gegeben, sondern werden in den Diskussionen hervorgebracht und erlangen bisweilen ein Leben jenseits von diesen. Dies bedeutet aber auch, dass jede methodische Entscheidung immer auch eine Form ontologischer Politik ist und damit auch die Frage der Verantwortung aufwirft. Viertens lässt sich aus den Beobachtungen schließen, dass partizipative Settings nicht einfach Öffentlichkeiten repräsentieren, sondern vielmehr als
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politische Maschinerien zu verstehen sind, die kontingente Repräsentationen von Wissenschaft und Öffentlichkeit über die Grenzen des Settings hinaus im öffentlichen Raum und im politischen Diskurs erzeugen (Felt/ Fochler 2010c). Die konkrete Form dieser Repräsentation ist, wie wir zu zeigen versucht haben, eng mit der Ausgestaltung der Auseinandersetzungsräume verbunden. Dies führt uns zur Frage, wem in welcher Form in diesen Kontexten Stimme gegeben wird, und wer durch explizite oder implizite Mechanismen ausgeschlossen bleibt, sei es durch eine negative Selbstselektion oder weil die angebotenen Sprechrollen keinen kulturellen Wiedererkennungswert besitzen. Für eine methodenpolitische Reflexion partizipativer Verfahren ist es daher zentral einerseits explizit zu machen, welchen potentiellen Öffentlichkeiten keine Stimme gegeben wird und welche Aspekte und Teile einer Gesellschaft damit ausgeschlossen bleiben. Andererseits ist es aber mindestens ebenso zentral zu reflektieren, in welcher Form und durch wen Wissenschaft in diesen Kontexten repräsentiert wird. Dies bringt uns, viertens, zur Frage, wie sehr ein partizipatives Setting die Möglichkeit beinhaltet, auch kollektive Positionen jenseits individueller Meinungsbildung zu entwickeln. Anders formuliert könnte man methodenpolitisch fragen, ob es hier um eine kollektive Form des Experimentierens mit Fragen von Wissenschaft und Gesellschaft geht, oder eher darum, dass Einzelpersonen im selben Raum Überlegungen zu einem Thema anstellen, wobei diese aber weitgehend unverschränkt bleiben. Damit wird aber auch die zentrale Herausforderung von Partizipation nicht aufgegriffen, nämlich über eine gemeinsame Positionierung zu einem Thema zu verhandeln. Wir können bei allen drei Fallbeispielen festhalten, dass das Fehlen einer Vorstellung, zu wem man auf einer politischen Ebene eigentlich spricht, gemeinsam mit gewissen Konfliktvermeidungstendenzen dazu führte, dass kollektivere Formen des Lernens von den Teilnehmenden nicht wirklich als erkennbares Ziel gesehen wurden. Dadurch konzeptualisierten die meisten Teilnehmenden Lernen eher als individuellen Prozess und richteten die Form ihrer Teilnahme danach aus, diesen zu optimieren. Individuelle Ziele standen damit klar im Vordergrund gegenüber politischeren Agenden, wie etwa partizipativ zu einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion und Entscheidungsfindung bezüglich einer bestimmten technowissenschaftlichen Entwicklung beizutragen. Dies bedeutet, dass es Formate zu entwickeln gilt, in denen kollektiveres Nachdenken einerseits gefördert und andererseits an den breiteren Kontext der jeweiligen techno-politischen Kultur anschlussfähig wird. All dies verweist, fünftens, auf die zentrale Rolle der experts of community, die diese Verfahren durchführen und dabei wesentliche methodenpolitische Entscheidungen treffen. Sieht man dies im Licht der eingangs getätig-
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ten Feststellung, dass wir derzeit einen wahren Boom in der ELSA-Forschung erleben und Partizipation – zumindest diskurspolitisch – zum Goldstandard erhoben wurde, so drängt sich die Frage der Qualität und Verantwortung dieser Forschung in besonders nachdrücklicher Weise auf. Es geht also darum, dass ELSA-Forschung nicht einfach zum „Schmiermittel zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (Rip 2009, 666) werden sollte, sondern dass sie vielmehr einen Beitrag leisten könnte, reflexive Auseinandersetzungen mit Wissenschaft und Gesellschaft in unterschiedlichen Akteurkonstellationen zu ermöglichen. Wenn letzteres unsere Erwartung an ELSA-Forschung ist, dann erfordert die Rolle eines/einer expert of community an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft Reflexionsfähigkeit sowie eine Vielzahl zusätzlicher Kompetenzen. ,Standardpartizipation‘ nach Rezeptbuch, einer einfachen best practice-Ideologie folgend, scheint aus dieser Perspektive kaum sinnvoll bzw. konterproduktiv – auch wenn sich hierfür ein blühender Markt zu entwickeln scheint.
Anmerkungen 1
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3
4
Wie jede akademische Arbeit ist auch diese eine wesentlich kollektivere als dies die Nennung der AutorInnen zum Ausdruck bringt. Wir danken all jenen, die auf verschiedenste Weise in die drei in diesem Artikel diskutierten Forschungsprojekte eingebunden waren – entweder als MitarbeiterInnen im Projekt, im Konsortium oder als Mitglieder der uns stets mit Rat und Tat zur Verfügung stehenden Advisory Boards der Forschungsprojekte. Weiters gilt unser Dank den OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen des Workshops Genomforschung, Politik, Gesellschaft Perspektiven auf ethische, rechtliche, soziale und ökonomische Aspekte der Genomforschung in Österreich am 4./5. Dezember 2008. Besonderer Dank ergeht an Michael Penkler für die Vielzahl der nützlichen Anmerkungen am Manuskript. Unser Dank gilt aber insbesondere auch den zahlreichen WissenschaftlerInnen und BürgerInnen, die uns ihre wertvolle Zeit zur Verfügung gestellt haben. Als wesentliche partizipative Verfahren zu nennen wären hier die vom Forschungsprogramm GEN-AU organisierten „Diskurstage“ in den Jahren 2002 und 2004 sowie die „Bürgerkonferenz Genetische Daten“ im Jahr 2003, die als „dialogisches Element“ im Rahmen der Kampagne „Innovatives Österreich“ des Rats für Forschung und Technologieentwicklung durchgeführt wurde. Diese Hypothese basiert auf Interviews mit VertreterInnen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, die in einem Wiener Krankenhaus PatientInnen religiös betreuen. Die sog. Widerspruchslösung besagt, dass jeder Person auf österreichischem Staatsgebiet nach festgestelltem Hirntod Organe zur Transplantation entnommen werden können, sofern kein expliziter schriftlicher Widerspruch deponiert worden ist.
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Alexander Bogner, Karen Kastenhofer, Helge Torgersen Alexander Bogner, Karen Kastenhofer, Helge Torgersen
Antizipierte Technikkontroversen als Governance-Problem Zusammenfassung: Risiko und Ethik haben sich als dominante Problematisierungsweisen in Technikkontroversen etabliert. Diese Rahmungen sind mit bestimmten Governance-Regimes assoziiert. Im Fall der erst im Entstehen begriffenen, sogenannten emerging technologies wie Nanotechnologie oder synthetische Biologie wird Kontroversialität vielfach antizipiert, ohne dass konkrete Anwendungen, Folgen oder Problematisierungen existieren. Hinter solchen Reaktionen auf antizipierte Zukünfte verbirgt sich die Annahme, dass zukünftige Kontroversen nach dem Muster vergangener gestrickt sein werden. Auf Basis dieser Unterstellungen werden Strategien einer antizipierenden Governance entwickelt. In diesem Artikel wird argumentiert, dass technology governance auf Basis einfacher Analogien zu kurz greift. Die Antizipation von Technikentwicklungen und -kontroversen wird selbst zu einem bedeutenden Einflussfaktor in der Produktion gesellschaftlich-technologischer Zukünfte. Für die beteiligte sozialwissenschaftliche Expertise resultiert daraus ein Funktionswandel: Sie wird vom Schiedsrichter zum Mitspieler. Schlagworte: Technikkontroversen · Anticipatory Governance · Rahmen · Risiko · Ethik
Governing Anticipated Technology Controversies Abstract: In technology controversies, risk and ethics are established as dominant frames to expound the problems of the technology at hand. These frames are associated with particular governance regimes. Regarding so called emerging technologies such as nanotechnology or synthetic biology, a propensity for controversies is often anticipated even before concrete applications, consequences or problem frames exist. It is implicitly assumed that future controversies will follow the pattern of past ones. On this basis, strategies of anticipatory governance are developed. In this article we argue that technology governance based on simple analogies poses an inadequate simplification. Rather, the anticipation of technological developments and controversies becomes an important factor for the production of socio-technological futures. This results in a shift in function of the social scientific expertise involved: from a referee to a player. Keywords: Technology Controversies · Anticipatory Governance · Frame · Risk · Ethics E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Alexander Bogner, Karen Kastenhofer, Helge Torgersen
Die gesellschaftliche Kontroversialität von Wissenschaft und Technik scheint aus soziologischer Perspektive zunächst einmal keine neue oder innovative Themenstellung zu sein. Spätestens seit den 1950er Jahren ist mit den Konflikten um Kernenergie und Großchemie die Krisenanfälligkeit eines Modernisierungsprojekts ins öffentliche Bewusstsein getreten, das Aufklärung, technischen und sozialen Fortschritt in Eins setzt und daher auf die Institutionalisierung von Wissenschaft und Technik angewiesen ist (Gehlen 2007). Technikkontroversen sind daher schon bald zu einem dezidierten Gegenstand empirischer Studien und – seltener – der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung geworden (vgl. Nelkin 1984, Lau 1991). Auch wenn sich die Mobilisierungs- und Aushandlungsformen geändert haben mögen, geraten doch auch heute bestimmte Forschungs- und Technologieprojekte unter Druck. Es genügt, an den Streit um die Stammzellforschung zu erinnern oder an die andauernden Auseinandersetzungen um die Grüne Gentechnik. Obwohl also einerseits der Glaube recht stabil zu sein scheint, dass Wissenschaft und Technik zur Verbesserung des Lebens, zu Wohlstand, Sicherheit und neuen Wahlfreiheiten beigetragen haben (Gaskell et al. 2006), ist doch andererseits evident, dass konkrete wissenschaftliche Forschungen und Anwendungsoptionen immer wieder Gegenstand öffentlicher Problematisierung und Kritik waren – und werden. Eine gänzlich neue Perspektive entsteht nun allerdings für die soziologische Forschung, wenn politisches Regieren und Regulieren sich nicht auf real existierende Technikkontroversen um bereits etablierte oder entwickelte Technologien beziehen, sondern antizipierte Kontroversen zum Gegenstand haben. Beobachtbar ist dies derzeit im Bereich der sog. emerging technologies, also in Technologiebereichen, die erst im Entstehen sind bzw. im Hinblick auf ganz disparate Technisierungsprojekte, denen dieser Begriff gewissermaßen als gemeinsame Klammer dient (unter ökonomischer Perspektive Giersch 1982). Angesichts der potenziellen Kontroversialität solcher emergierenden Technologien wie der Nanotechnologie oder der synthetischen Biologie liegt die Überlegung nahe, Lehren aus vergangenen Technikkontroversen für den Umgang mit zukünftigen Kontroversen zu entwickeln. In diesem Sinn fordert Rita Colwell, Direktorin der US-amerikanischen National Science Foundation und somit des größten Fördergebers der USA für Nanotechnologie: „We can’t risk making the same mistakes that were made with the introduction of biotechnology“, wobei Colwell sich dabei vor allem auf die Kommunikation zwischen Forschung, Technologiepolitik und Öffentlichkeit bezieht.1 In ähnlicher Weise äußert sich der britische Wissenschaftsminister David Sainsbury: Die Regierung sei aufgerufen, der Nanotechnologie dasselbe Schicksal wie der Grünen Gentechnik zu ersparen.2
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Hinter solchen Aussagen verbirgt sich offensichtlich die Erwartung, dass antizipierte Technikkontroversen bezüglich Akteurskonstellationen, Mobilisierungs- und Austragungsformen nach dem Muster vergangener Kontroversen gestrickt sein werden. Derartige Analogiebildungen sind freilich problematisch, wie wir im Folgenden zeigen werden, weil sie politisches Handeln auf Basis ungeeigneter Prämissen programmieren. Um dies zu erkennen, bedarf es allerdings eines analytischen Instrumentariums, das systematische Vergleiche zwischen Technikkontroversen erlaubt. Zu diesem Zweck wird im ersten Abschnitt auf den Begriff des Rahmens rekurriert; dies macht deutlich, dass Technologien auf der Ebene ihrer öffentlichen Diskursivierung ganz unterschiedlichen Thematisierungsweisen unterworfen sind (1.). Daran anschließend wird die Frage aufgenommen, welche Konsequenzen sich aus der spezifischen Rahmung von Technikkontroversen für technology governance ergeben (2.). Mit dem Schwenk auf gegenwärtige Debatten um emerging technologies geraten Technologiebereiche in den Blick, die aufgrund der ihnen zugeschriebenen potenziellen Kontroversialität zum Gegenstand vielfältiger politischer Steuerungsbemühungen werden; diese durch ihre spezifische Zeitperspektive geprägten Aktivitäten werden unter dem Begriff anticipatory governance gefasst (3.). Der damit verbundene Governance-Wandel wird im letzten Schritt im Hinblick auf die Rolle einer beratungsorientierten sozialwissenschaftlichen Expertise genauer beleuchtet. Dabei wird deutlich, dass es im Zuge von anticipatory governance zu einem Funktionswandel dieser Expertise kommt, der sich in Form neuartiger Mitgestaltungs- und Verantwortlichkeitsimperative dokumentiert (4.). Am Ende steht ein kurzes Resümee (5.). In diesem Artikel wird also die These entwickelt, dass Technikkontroversen jeweils spezifische Herausforderungen für technology governance darstellen und daher politische Strategien auf Basis einfacher Analogien zu kurz greifen müssen. Mit Blick auf den Bereich der emerging technologies wird ganz konkret gezeigt, dass sich im Fall antizipierter Technikkontroversen ein Funktionswandel von Expertise vollzieht: Es kommt zu einer strategischen Einbeziehung von ExpertInnen und ForscherInnen in den Prozess der Technikgenese; sie werden Teil eines vorsorglichen politischen Umgangs mit antizipierten Kontroversen, und das heißt gleichzeitig, dass sie zu AdressatInnen veränderter Erwartungen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten werden.
1 Technikkontroversen und ihre Rahmungen Der folgende Abschnitt hat zum Ziel, die Bedeutung von Rahmen (oder Frames) für die analytische Differenzierung von Technikkontroversen zu unter-
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streichen. Es wird gezeigt, dass Technikkontroversen in ihrer Struktur und Verlaufsform ganz wesentlich durch Rahmen geprägt werden. Diese Einsicht ist für die Diskussion, inwiefern man aus vergangenen für zukünftige (oder antizipierte) Technikkontroversen lernen könne, einigermaßen folgenreich. Denn schon die noch recht schematische Differenzierung von Kontroversen anhand ihrer Rahmungen macht deutlich, dass technology governance auf Basis einfacher Analogiebildungen zwischen Technikkonflikten zu kurz greift. Im Anschluss an Goffman (1993) verstehen wir Frames als machtvolle Organisationsprinzipien individueller Wahrnehmungen und Deutungen. In Konflikten kommt Frames die Aufgabe zu, eine gemeinsame diskursive Basis für deren Austragung herzustellen. In diesem Sinne stellen Frames so etwas wie gemeinsam geteilte Relevanzen dar, die für die grundsätzliche Ordnung des Diskursverlaufs maßgeblich sind. Auf der Ebene konkreter Bewertungen sind Frames ergebnisoffen: Man kann innerhalb desselben Frames zustimmen oder ablehnen, aus welchen Gründen auch immer (divergierende Interessen, Fundamentalkritik am dominanten Framing etc.). Dies muss deshalb betont werden, weil Frames oft mit konkreten normativen Positionen in der politischen Auseinandersetzung assoziiert werden (z. B. Schön/Rein 1994). Technikkonflikte erscheinen auf diese Weise als Kampf konkurrierender Frames. Eine solche Konzeption ist soziologisch unbefriedigend; sie bleibt hinter Georg Simmels Einsicht zurück, dass Konflikte gemeinsam geteilter Relevanzen bedürfen, um überhaupt ausgetragen werden zu können (Simmel 1958). Ohne derartige Gemeinsamkeiten werden Konflikte nicht sichtbar; es herrscht vielmehr wechselseitige Indifferenz. Für die Entwicklung und diskursive Austragung von Kontroversen sind also die Gemeinsamkeiten zumindest ebenso konstitutiv wie die normativen Differenzen. In diesem Sinne sind Rahmen weder identisch mit normativen Positionen oder Vorannahmen, noch bestimmen sie im Einzelnen über die Tragfähigkeit von Argumenten. Sie legen vielmehr fest, was als Argument gelten kann. In den großen Technikkontroversen, so die hier vertretene These, waren und sind im Wesentlichen zwei Rahmen dominant: Risiko und Ethik (Bogner 2009, Kastenhofer 2009a). Die Auseinandersetzungen um Kernenergie, Grüne Gentechnik, Mobilfunk oder den Klimawandel sind herausragende Beispiele für Risikokontroversen.3 Was charakterisiert solche Kontroversen, die in den Kategorien des Risikos ausgetragen werden? Greifen wir als Beispiel die Grüne Gentechnik heraus. Im Mittelpunkt der Kontroverse um die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen steht die Frage: Wie hoch ist das Risiko eines Natureingriffs? Welche ökologischen und gesundheitlichen Gefahren resultieren aus dem Versuch, Pflanzen mithilfe der Gentechnik re-
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sistenter gegen Schädlinge zu machen? Es wird um Sicherheitsbehauptungen und Risikoeinschätzungen gestritten, nicht um den Wert des Lebens. Damit legt man sich innerhalb dieses Rahmens auf den Problemhorizont der Naturwissenschaften fest. Wichtigster Trumpf in diesen Auseinandersetzungen ist das naturwissenschaftliche ExpertInnenwissen. Nur diejenigen, die ihre Position mithilfe wissenschaftlicher Studien zu begründen wissen, können sich in dieser Debatte auf Dauer behaupten. Natürlich: Hinter der Kritik an der Grünen Gentechnik stehen nicht nur alternative Risikokalkulationen, sondern auch ganz andere Werthaltungen, etwa ein alternatives Naturverständnis (Gill 2003) oder auch Kapitalismuskritik im Gewande der Ökologie. Das heißt, der Risikodiskurs hat selbstverständlich normative Impulse, so wie auch Risikoanalyse und Risikomanagement niemals wertfrei sind. Doch auf diese „tiefer liegende“ Ebene greift unser Frame-Ansatz nicht zu. Es geht uns nicht um die Frage: Was ist der eigentliche Konfliktgrund? Sondern: In welcher Form wird der Konflikt diskursiv bearbeitet? Und auf dieser Ebene der Diskursivierung von Technologien ist klar: Der dominante ExpertInnendiskurs wurde und wird weitgehend als Wissenskonflikt gerahmt. Ein gutes Beispiel dafür bietet das WZBVerfahren zur Herbizidresistenz (van den Daele et al. 1996). Dieser auf Rationalisierung abzielende Deliberationsprozess konnte auf die Frage des Risikos transgener Pflanzen festgelegt werden, weil dies als adäquate Behandlung des Konflikts um Gentechnik galt – auch, zumindest anfangs, unter den Beteiligten. In diesem Sinne ist das WZB-Verfahren als Abstraktion des dominanten Diskurses zu verstehen. Gestritten wurde in erster Linie um ökologische Gefährdungen. Den Kern der Auseinandersetzungen von ExpertInnen und GegenexpertInnen, die an diesem Verfahren teilnahmen, bildeten konfligierende Wahrheitsansprüche. In ähnlicher Weise wurde im Fall der Kernenergie, des Klimawandels oder der BSE-Krise vorwiegend um die Durchsetzung naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche gerungen. All diese Konflikte waren (und sind) durch die Annahme geprägt, dass auf Basis wissenschaftlicher Expertise und Methodenanwendung über die Tragfähigkeit von Kausalitätsvermutungen und Gefahrenprognosen entschieden werden kann (und muss). Normative Fragen, die nicht als Risikoaspekt reformulierbar sind, bleiben notwendigerweise ausgeklammert. Im Kern der Risikokontroversen geht es um die naturwissenschaftliche Evidenz und damit – im Fall von Evidenzstreitigkeiten – um die Qualität des Wissens. Nun werden heute viele Technikkonflikte mit ausdrücklichem Bezug auf Ethik und Moral verhandelt und nicht allein und primär in Risikobegriffen. Das heißt, Wissenschafts- und Technikkontroversen sind in der jüngsten Vergangenheit mehr und mehr „ethisiert“ worden (Lindsey et al. 2001, Maa-
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sen 2002). Insbesondere im Streit um die Biomedizin wird die Ethik zur maßgeblichen Reflexions-, Begründungs- und Legitimationsinstanz. In diesen ethisierten Technikkonflikten geht es nicht vorrangig um das richtige Wissen. Der Streit dreht sich vielmehr um das moralisch Gebotene. Zwar behält das ExpertInnenwissen in diesem Kontext weiterhin eine wichtige Funktion („Sachstandswissen“); es dient jedoch nunmehr als Grundlage für Auseinandersetzungen, in denen um den Grenzverlauf zwischen gut und böse gerungen wird. In diesen Kontroversen steht darum nicht die Qualität des verfügbaren (ExpertInnen-)Wissens im Vordergrund, sondern die Plausibilität normativer Grenzziehungen. Maßgebliche Fragen lauten denn auch: Welche Forschungs- bzw. Technisierungsprojekte sind unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten akzeptabel? Welches Wissen wollen wir überhaupt? Und wo sind die Grenzen der Forschung? In Tabelle 1 sind diese grundlegenden Differenzen zwischen Risiko- und Ethik-Rahmen im Vergleich dargestellt. Tabelle 1: Risiko- und Ethik-Rahmen im Vergleich Risiko
Ethik
Streitgegenstand
Das richtige Wissen
Das moralische Gebotene
Kernfragen
Wie hoch ist das Risiko eines Natureingriffs? Sind schädliche Folgen tatsächlich zu erwarten?
Wo sind die Grenzen der Forschung/Technisierung? Welches Wissen wollen wir?
Basisunterscheidung
Wahr/Unwahr
Gut/Böse
Beispiele
Kernenergie, Klimawandel, Mobilfunk, Grüne Gentechnik, Nanotechnologie
Klonen, Gendiagnostik, human enhancement
Diese idealtypische Darstellung darf nicht zu dem Missverständnis verleiten, dass die einzelnen Rahmen zwingend mit bestimmten Technologien verknüpft wären. Die Technologie determiniert nicht die Art und Weise ihrer Problematisierung. Vielmehr sind Rahmungen immer Resultate vermachteter Aushandlungsprozesse, und zwar über die Form des Diskurses. Zweitens: Die obige Darstellung insinuiert keinesfalls, dass Rahmen in der Praxis in „Reinform“ auftreten würden. In Technikkontroversen existieren
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immer mehrere Rahmen parallel. So wird beispielsweise in der Biomedizin auch in Wissenskategorien gestritten, etwa: Sind Heilungserfolge durch die Stammzellforschung überhaupt zu erwarten? Wie hoch ist der Verbrauch an Eizellen, um geklonte embryonale Stammzellen zu kultivieren? Stellt die IVF ein gesundheitliches Risiko dar? Diese Auseinandersetzungen treten aber hinter die ethischen Auseinandersetzungen um den Status des Embryos und das Wesen der menschlichen Natur zurück. Das heißt, ein bestimmter Rahmen ist dominant, andere sind ihm untergeordnet. Ebenso werden auch in den Risikokontroversen nicht nur Konflikte um das „wahre“ Wissen deutlich (also um korrekte Risikoberechnungen und Folgenabschätzungen), sondern auch unterschiedliche Wertsetzungen. Etwa: Ist der Erhaltung der Biodiversität mehr Gewicht beizumessen als dem Ziel der Maximierung des landwirtschaftlichen Ertrags? Andere Rahmen, wie etwa der ÖkonomieFrame (z. B. Verteilungsgerechtigkeit), treten in den Hintergrund, obwohl sie von einzelnen AkteurInnen zumindest ebenso vorgebracht werden. Frames sind mit erheblichen Machtwirkungen verbunden. Zum einen steuern und strukturieren Frames unsere Seh-, Denk- und Handlungsgewohnheiten; zum anderen determinieren Frames Kontroversen insofern, als die KontrahentInnen sich konstruktiv auf etablierte Frames beziehen müssen. Für die aktuellen Ethikdebatten heißt das beispielsweise: PolitikerInnen und ForscherInnen können ihr Plädoyer für die Stammzellforschung nicht einfach nur ökonomisch begründen („Standortsicherung“); sie müssen es immer auch ethisch reformulieren. Eine schöne Illustration für die Macht der Frames bietet der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Im Kontext der damals auflebenden Debatte um die Chancen und Risiken der Biotechnologie sagt er dem „Tagesspiegel“: „Und ich möchte nicht, dass man mir, der ich kein prinzipieller Gegner dieser Technologie bin, unterstellt, dass ich nur unethische Motive hätte. Über die Frage nachzudenken, was man mit Gentechnik an Heilungsprozessen bisher unbekannter Art in Gang setzen kann, ist auch ethische Verantwortung. Ich setze noch einen drauf: Es ist nicht unethisch, darüber nachzudenken, ob man einem Volk in einer entwickelten Industriegesellschaft die ökonomische Nutzung dieser Technologie möglich macht oder nicht. Die Biotechnologie eröffnet uns wirtschaftliche Chancen, und sie wird ähnlich wie die Kommunikations- und Informationstechnologie in Zukunft die Volkswirtschaft beeinflussen.“ (Tagesspiegel, 7. 4. 2001)4
Es wird anhand dieser Interviewpassage offensichtlich, dass der Kanzler sich gezwungen sieht, sich positiv auf den dominanten Diskurs der Ethik zu be-
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ziehen. Gleichzeitig sensibilisiert dies dafür, wie schwierig es ist, etablierte Rahmungen selbst in Frage zu stellen – auch wenn im Kontext manifester Kontroversen selbstverständlich immer Kämpfe um die Rahmung mitlaufen.
2 Governance-Regimes Was bedeutet es nun für technology governance, wenn Technikkontroversen im Rahmen von Risiko oder Ethik ausgetragen werden? Welche Implikationen hat die spezifische Rahmung von Technikkontroversen für politisches Regieren und Regulieren? Hinter diesen Fragen verbirgt sich die Vermutung, dass die jeweilige Rahmung für den politischen Umgang mit Technikkontroversen einen Unterschied macht. Dies soll im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden. Zuvor jedoch erscheint es angezeigt, etwas genauer auf den allgegenwärtigen Begriff der Governance einzugehen. Im Prinzip kondensieren im Governance-Begriff Beobachtungen über einen Formwandel des Regierens, der nicht-hierarchische, netzwerkförmig organisierte und kooperative Formen schärfer profiliert. Auch wenn der Begriff aufgrund multidisziplinärer Verwendung bis heute keine festen Konturen gewonnen hat, so lässt sich immerhin für die Sozialwissenschaften ein gemeinsamer Bedeutungskern festhalten. Governance bezieht sich hier auf Formen kollektiver Handlungskoordination, die nicht markt- oder hierarchieförmig organisiert und nicht zentralstaatlich gesteuert sind (Zürn 2007, Mayntz 2009). Es handelt sich um Formen des (Selbst-)Regierens, die sich nicht auf die gesetzliche Regulierung einzelner Aspekte (top-down) beschränken, sondern die verschiedenen relevanten AkteurInnen (Wissenschaft, Privatwirtschaft, Interessenvertretungen, zivilgesellschaftliche Organisationen etc.) in einer umfassenden Weise in Entscheidungen über neue Technologien einzubinden versuchen. Mögliche Maßnahmen sind somit nicht nur Gesetze und Verordnungen, sondern alle Arten von „soft law“ wie z. B. Selbstverpflichtungen, professionelle Richtlinien, Vereinbarungen zwischen AkteurInnen etc. In diesem Sinne halten Karinen und Guston (2009, S. 219) fest: „Governance commonly refers to the move away from a strictly governmental approach to one in which a variety of regulatory activity by numerous and differently placed actors becomes possible without detailed and compartmentalised control from the top“.
Die Rede von Governance impliziert im Kern also einen Formwandel des Regierens aufgrund komplexer Interdependenzen und verteilter Steuerung. Ein solcher Ansatz wird unterschiedlich argumentiert: Einerseits soll er ei-
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nem empfundenen demokratischen Defizit entgegenwirken (Europäische Kommission 2001), andererseits wird der Governance insbesondere in Mehrebenensystemen wie der EU gegenüber einer bloßen Regulierung eine höhere Steuerungseffizienz und die Entlastung staatlicher Institutionen zugesprochen (von Blumenthal 2005). Im Weißbuch der Europäischen Kommission, einem hochrangigen Dokument zur Reform des Europäischen Regierens, wird dementsprechend vorgeschlagen: „. . . die politische Entscheidungsfindung zu öffnen, und mehr Menschen und Organisationen in die Gestaltung und Durchführung der EU-Politik einzubinden. Es plädiert für mehr Offenheit sowie für eine größere Verantwortung und Rechenschaftspflicht aller Beteiligten.“ (Europäische Kommission 2001, S. 4)
Im Folgenden soll nun für die Differenzen zwischen risk governance und ethics governance sensibilisiert werden. Dahinter steht die Vorstellung, dass unterschiedliche Rahmen ganz unterschiedliche Erwartungen an Konfliktkonstellationen, institutionelle Architekturen, Politik- und Legitimationsmuster zum Ausdruck bringen – und damit auf unterscheidbare Governance-Strukturen verweisen.5 Die Bedeutung der einzelnen Rahmen für das Regieren und Regulieren von Technologie(kontroverse)n wird im Einzelnen aufgeschlüsselt anhand der Dimensionen von 1) Politikberatung 2) Öffentlichkeitsbeteiligung und 3) politischer Legitimation. 1) Nimmt man die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Interdisziplinarität zum Ausgangspunkt (Kastenhofer 2009b), so lassen sich auf der Ebene der Politikberatung signifikante Unterschiede zwischen risiko- bzw. ethikspezifischer Expertise herausarbeiten. Diese Differenzen betreffen sowohl die Institutionalisierungs- und Produktionsform von Expertise als auch die an sie gerichteten Qualitätskriterien. Schwache Interdisziplinarität bezeichnet die Kooperation innerhalb von Fakultäten oder Fachkulturen (im Sinne von Snow 1963), also z. B. die Zusammenarbeit zweier Fächer innerhalb der Naturwissenschaften; unter starker Interdisziplinarität verstehen wir Kooperationen über die Grenzen der Fachkulturen hinaus, also etwa die Zusammenarbeit zwischen natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Die für Risikokontroversen relevante Expertise ist durch schwache, jene in Ethikdebatten tonangebende Expertise durch starke Interdisziplinarität (oder sogar durch Transdisziplinarität im Sinne der Beteiligung von Laien) gekennzeichnet. Für die biologische Sicherheitsforschung spielt sozial- oder geisteswissenschaftliches Spezialwissen gegenwärtig keine besondere Rolle (und wenn doch, dann wird dieses Wissen in getrennten Foren verhandelt)6; hingegen versammeln die in den großen bioethischen Regulierungsdebatten maßgeblichen nationalen Ethikräte in der Regel Vertre-
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terInnen aller Fachkulturen (Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften sowie der Medizin). Während Ethikexpertise im Modus der Deliberation erstellt wird, verläuft Risikoexpertise im Modus der Forschung. Diese Forschung ist in Deutschland im Rahmen spezifischer Forschungsinstitutionen organisiert, wie etwa dem Robert-Koch-Institut, dem Umweltbundesamt oder dem seit 2002 bestehenden Bundesinstitut für Risikobewertung. Die Erwartungen an diese Risikoexpertise sind – entsprechend den wissenschaftlichen Qualitätskriterien – Objektivität und Reliabilität. Demgegenüber wird man Ethikexpertise kaum nach der Messlatte wissenschaftlicher Wahrheit beurteilen, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer Ausgewogenheit: Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Pluralismus sollte Ethikexpertise eine gewisse weltanschauliche Heterogenität zum Ausdruck bringen. Politische Aufgabe der nationalen Ethikräte ist denn auch allenfalls die Koordinierung des Dissenses – nicht dessen Überwindung. Anders ist dies im Fall der Risikoforschung: Die in Risikofragen gegeneinander anforschenden ExpertInnen leben und arbeiten im Prinzip nach dem Ideal akademischer Wahrheitsfindung. 2) Im Kern des Risiko-Rahmens geht es um Statistik und Wahrscheinlichkeiten, rationales Entscheiden beruht auf naturwissenschaftlicher Expertise. Damit einher geht eine Privilegierung wissenschaftlicher Rationalität und – wenigstens im Prinzip – eine Abwertung alternativer Wissensformen. Typisch für risk governance sind standardisierte Verfahren (Benchmarking, Monitoring, Audits) und der Rekurs auf sound science.7 Im Risikodiskurs dominiert die Sprache der Ingenieure, es geht um Sicherheit, Kontrolle und Objektivität. Natürlich gibt es auch im Kontext des Risikos Bestrebungen, die Öffentlichkeit zu beteiligen und alternative Rationalitäten aufzuwerten (De Marchi 2003). Doch der Status der Öffentlichkeit bleibt im Kontext des Risikos zumindest ambivalent: Es besteht prinzipiell immer die Möglichkeit, Risikofragen als reine Wissenschaftsangelegenheit auszugeben und abweichende Laienpositionen als „irrational“ und damit aufklärungsbedürftig zu brandmarken. Genau dies erklärt auch das Beharrungsvermögen von Interventionsformen, die primär auf ein traditionelles public understanding of science abzielen und als Einwegkommunikation zu Aufklärungszwecken praktiziert werden (kritisch dazu Michael 1996, Irwin 2001). Demgegenüber ist es in Ethikfragen nicht länger legitim, Laien als aufklärungsbedürftige KlientInnen der Wissenschaft zu konzeptualisieren. Die Durchsetzung des Ethik-Frames formuliert vielmehr den Anspruch einer Laienbeteiligung auf Augenhöhe; wenn es um Wertfragen geht, zählt zwangsläufig die Meinung jedes und jeder Einzelnen. Genau daraus entsteht ein subtiler Zwang zur Öffentlichkeitsbeteiligung, wobei der politische Wille
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gleichwohl in der Praxis häufig auf ein geringes Partizipationsinteresse stößt. Gerade Bürgerkonferenzen – Experimente zur Beteiligung von Laien, die wir verstärkt zu bioethischen Themen finden (Abels/Bora 2004) – sind viel eher Verfahren, um bislang nicht aktive VertreterInnen der schweigenden Öffentlichkeit in einen Partizipationsprozess zu involvieren, denn eine Methode zur Kanalisation oder Befriedung politischer Teilhabebestrebungen. BürgerInnenbeteiligung realisiert sich im Kontext der Ethisierung nicht als Protest, sondern als „Laborexperiment“, nämlich in Form wissenschaftlicher Dialogprojekte, die von „Partizipationsprofis“ initiiert und organisiert werden – ohne reale Teilhabebestrebungen und individuelle Betroffenheiten, ja meist ohne ein vorgängiges Themeninteresse der Beteiligten (Bogner 2010). 3) Auch im Hinblick auf politische Legitimationsstrategien lassen sich charakteristische Unterschiede zwischen Risiko- und Ethikkontroversen ausmachen. Während im Fall des Risikos – wie erwähnt – das ExpertInnenwissen der entscheidende Bezugspunkt politischer Legitimation ist, werden im Fall ethisierter Konflikte politische Entscheidungen mit Rekurs auf das persönliche Gewissen legitimiert. Dazu zwei Beispiele: Als im Frühjahr 2009 die deutsche Landwirtschaftsministerin die Aussaat einer gentechnisch veränderten Maissorte verbot, hielt sie ausdrücklich fest, sie habe „eine fachlich begründete und keine politische Entscheidung getroffen“.8 Obwohl die Ministerin eingestand, dass die Skepsis der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der Grünen Gentechnik sie nicht kalt gelassen habe, verwies sie in ihrer politischen Entscheidung ausschließlich auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Zwei experimentelle Studien hätten nachgewiesen, dass „Genmais“ der Umwelt schaden könne.9 Demgegenüber wird in den großen bioethischen Kontroversen politisches Handeln in den Bereich individueller Wertentscheidung verlagert. Gerade in Debatten um die Embryonenforschung wurde und wird immer wieder betont, wie sehr es sich um eine persönliche Bewertung, eine Gewissensentscheidung handle, vor der die ParlamentarierInnen oder die Regierungen stünden: Nicht ExpertInnenenvernunft oder Parteimoral dienen zur Begründung des politischen Votums, sondern Subjektivität und Authentizität. Als Sternstunden des Parlaments gelten in Deutschland noch heute jene Debatten zum deutschen Stammzellgesetz Anfang 2002, in der die ParlamentarierInnen im eigenen Namen sprachen und nach individueller Gewissensüberzeugung abstimmten – ohne auf die Parteidisziplin achten zu müssen. Wer jedoch – wie der britische Premier Gordon Brown im Vorlauf zum neuen Embryonenforschungsgesetz – bioethische Fragen nicht als Gewissensentscheidung freigeben möchte, der sieht sich starker Kritik ausgesetzt, auch aus den eigenen Reihen (BBC News, 25.03.2008).10
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Die oben ausgeführten, Governance-relevanten Differenzen zwischen Risiko- und Ethik-Frame sind in Tabelle 2 dargestellt. Tabelle 2: Differenzen zwischen Risk und Ethics Governance Risk Governance
Ethics Governance
Relevante Expertise
Naturwissenschaften
Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften; Laien
Institutionalisierungsform
Risikoforschungsprogramme
Kommissionsethik (Ethikräte)
Produktionsform von Expertise
Forschung
Deliberation
Erwartung an Expertise
Objektivität
Ausgewogenheit
Artikulationsform
Protest (Selbstmobilisierung)
Laborexperiment (Mobilisierung durch „Partizipationsprofis“)
Rahmenkompatibilität
nein
ja
Politische Legitimation
ExpertInnenwissen
Gewissen
Politikberatung
Öffentlichkeitsbeteiligung
Die Darstellung verdeutlicht, dass die für die Austragung von Technikkontroversen maßgeblichen Semantiken, eben Risiko oder Ethik, mit spezifischen Ansprüchen an deren politisches Management verknüpft sind, oder kurz: Dass Technikkontroversen als jeweils spezifische Governance-Aufgaben zu verstehen sind. Schon dies dürfte klar machen, dass einzelne Technikkontroversen nicht einfach kommensurabel sind.
3 Emerging Technologies und antizipatorische Governance Eine völlig neue Situation ergibt sich im Hinblick auf solche Technologiebereiche, die sich eben erst entwickeln und ausdifferenzieren, also den emerging technologies. Darunter werden etwa die Nanotechnologie, die synthetische Biologie11 oder neue technologische Entwicklungen im informationsund neurowissenschaftlichen Bereich gefasst. Für sie alle gilt, dass es noch
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keine entwickelten und diskursiv klar strukturierten Technikkontroversen, etwa zu möglichen Risiken oder ethischen Aspekten, gibt. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit vergangenen Kontroversen werden solche allerdings erwartet, und es wird auf diese antizipierten Kontroversen sogar im Voraus reagiert. Womit genau hat man es nun bei diesen sogenannten emerging technologies zu tun? Zwar fehlt eine konzise Begriffsdefinition, es lässt sich aber zusammenfassen, dass darunter (1) ganze Technologiebereiche verstanden werden (im Gegensatz zu konkreten technologischen Anwendungen) und somit ein hohes Abstraktionsniveau besteht, dass (2) die hierunter fallenden Technologiebereiche allesamt Grundlagenforschung und Technologieentwicklung untrennbar verknüpfen und damit auch als Technowissenschaften (im Sinne von Nordmann 2004) bezeichnet werden können, und dass (3) für diese Technologiebereiche die Herausbildung von technologischen Anwendungen in absehbarer Zukunft erwartet oder zumindest angekündigt wird. So fasst der Bericht von Roco und Bainbridge (2002) zusammen, dass wichtige wissenschaftliche Durchbrüche im Kontext der Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionstechnologien in den nächsten 10 bis 20 Jahren zu erwarten seien und diese etwa dieselbe Zeitspanne benötigen würden, um in maßgebliche technologische Anwendungen übersetzt zu werden (Roco/ Bainbridge 2002, S. ix). Diese Eigenschaftskonstellation ist für die Technikregulierung und allgemeiner für den Diskurs über diese Technologien von einiger Bedeutung. Die Vision von gegenwärtig im Entstehen begriffenen technologischen Möglichkeiten, in naher Zukunft absehbaren Anwendungen und daraus resultierenden Kontroversen bringt in besonderer Weise den Faktor Zeit ins Spiel. Sie wirft insbesondere die Frage nach dem „richtigen“ Interventionszeitpunkt auf. Auf diese Frage bezieht sich schon das von Collingridge (1981) formulierte Kontroll-Dilemma. Dieses bestehe, so Collingridge, zwischen einer (zu) früh einsetzenden und darum zwar innovationsrelevanten, aber wenig voraussagefähigen Technikregulierung und einer (zu) spät einsetzenden Technikregulierung, die bereits konkrete Anwendungen vor Augen habe, aber eben auch schon vor vollendeten Tatsachen stehe. Emerging technologies ziehen nun freilich erneut die vertraute – und auch dem Collingridge-Dilemma implizite – Vorstellung in Zweifel, dass Technikentwicklung ein mehrstufiger, linearer Prozess sein könne. Vannevar Bush hatte 1945 in seinem einflussreichen Bericht „Science: The Endless Frontier“ noch die Differenz zwischen Grundlagenforschung und Technologieentwicklung hervorgehoben und einen kausalen Zusammenhang zwischen Investition in Forschung, Förderung von technologischer Innovation und öko-
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nomischer Prosperität postuliert. Auf die neu emergierenden Technowissenschaften lässt sich dieses lineare Modell nicht anwenden, weil Grundlagenforschung und Technologieentwicklung hier kaum noch von einander zu trennen sind. Die Konvergenz der beiden Bereiche betrifft auch die ihnen zugesprochenen Eigenschaften, die postulierte Unsteuerbarkeit und Wertneutralität wissenschaftlicher Innovation und die postulierte Gerichtetheit und Bewertbarkeit technologischer Anwendungsgestaltung. Emerging technologies scheinen beide Eigenschaftskombinationen zu vereinen. Sie gelten als emergent (und damit als nicht direkt planbare Produkte eines komplexen Systems) und zugleich regulierbar, als wertneutral und zugleich bewertungspflichtig. Zu der erneut virulent gewordenen Frage nach dem richtigen Zeitpunkt regulatorischer Interventionen kommt eine stabilisierte zivilgesellschaftliche Disposition, technologische Innovationen und ihre Steuerung zu problematisieren. Diese „Verringerung der Problematisierungsschwelle“ wird von Politik- wie auch (Techno-)Wissenschaftsseite als Vertrauensverlust der Öffentlichkeit gedeutet, sei es in die Selbststeuerung industrienaher Technowissenschaft, in wissenschaftliche Expertise oder auch in staatliche Regulierung. So fasst der Parlamentsausschuss für Wissenschaft und Technologie des britischen House of Lords im Jahr 2000 (und damit knapp nach dem Höhepunkt der BSE-Kontroverse) zusammen, dass die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Öffentlichkeit und Wissenschaft (inklusive ihrer technologischen Anwendungen in der Bio- und Informationstechnologie) in einer kritischen Phase stecke. Diese bestünde in einem Vertrauensverlust in wissenschaftliche Regierungsberatung ebenso wie in großem Unbehagen über die enormen Möglichkeiten, die die Wissenschaft gegenwärtig realisiere und die sich abseits der öffentlichen Wahrnehmung und Deliberation zu entwickeln schienen (House of Lords 2000, Absatz 1.1). Diese Situation mündete – in Verknüpfung mit der wahrgenommenen Konvergenz von Grundlagenforschung und Technologieentwicklung – in die zivilgesellschaftliche Forderung und das politische Versprechen eines upstream engagement, d. h. einer Teilhabe der Öffentlichkeit nicht nur an der Regulierung fertiger technologischer Produkte, sondern bereits an den Bedingungen, unter denen technologieassoziierte Grundlagenforschung stattfindet. Allerdings bleibt diese Öffentlichkeitsbeteiligung in Wissenschafts- und Technikfragen sowohl hinsichtlich ihrer Realisierungsformen als auch im Hinblick auf ihre normativen Zielsetzungen reichlich divers: Neben Forderungen nach einer Demokratisierung von Technologiepolitik im Allgemeinen (Sclove 1995, Feenberg 1999)12 steht das Ansinnen, qua Partizipation unterschiedliche Perspektiven und Wissensformen zu mobili-
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sieren (Stichwort Transdisziplinarität, vgl. Bogner et al. 2009) ebenso wie Bestrebungen, heiße, unauflösbare Konfliktsituationen und generelle Ablehnung im Voraus zu vermeiden.13 Die bislang entwickelte Argumentation macht zweierlei deutlich: Emerging technologies stellen vorwiegend diskursive Phänomene dar und werden auf diese Weise zu Objekten antizipatorischer Governance. Zu vorwiegend diskursiven Phänomenen werden sie zum einen, weil sie als solche (nämlich: als ganze Technologiefelder) markiert und zum Gegenstand von Diskursen werden, zum anderen, weil sie sich zu diesem frühen Zeitpunkt und auf dieser Abstraktionsebene kaum als technischer Gegenstandsbereich definieren lassen (vgl. Selin 2007, Fiedeler 2008). Auch von Seiten der Natur- und TechnikwissenschaftlerInnen werden Begriffe wie Nanotechnologie oder synthetische Biologie zwar in Konferenzankündigungen und Projekteinreichungen bemüht, ihre Definition bleibt aber unklar und ist für die wissenschaftliche Forschungspraxis offenbar auch nicht maßgeblich (vgl. etwa die Suche nach einer adäquaten Definition von Nanotechnologie, Schummer 2006). Zudem orientieren sich Regulierungsansprüche zunehmend stärker an antizipierten Zukünften als an der Gegenwart und inkludieren eine Vielzahl an AkteurInnen und Mechanismen. Das Interesse an (antizipierten) Diskursen und Kontroversen über zukünftige Technologien scheint der Steuerung gegenwärtiger technologischer Anwendungen zunehmend den Rang abzulaufen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Forderung nach einem vision assessment (Grin/Grunwald 2000), einem concern assessment (IRGC 2006), einer primär auf Diskurse bezogenen Technikfolgenabschätzung (Saretzki 1999) oder die Herausbildung einer Sociology of Hopes and Expectations.14 Vor diesem speziellen Hintergrund wird gegenwärtig denn auch das Modell einer antizipatorischen Governance wirkmächtig,15 insbesondere im Kontext des Ringens um eine good governance der Nanotechnologie. Karinen und Guston (2009) definieren anticipatory governance schlicht als „a distributed form of emerging political order with an emphasis on long-term thinking“ (ibid., S. 8), wobei sie – nicht frei von Widersprüchlichkeit – die Möglichkeit der Vorhersage zwar in Zweifel ziehen, gleichzeitig aber die Option der Vorbereitung stark machen.16 Antizipatorische Governance sei nämlich, in anderen Worten, „the ability of a variety of stakeholders and the lay-public to prepare for the issues that NSE [nano-scale science and engineering] may present before those issues are manifest or reified in particular technologies“ (Karinen/Guston 2009, S. 226).
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Diese Zielsetzung könne, und hier greifen Karinen und Guston auf Barben et al. (2008, S. 991 f.) zurück, durch ein großskaliges Forschungsensemble, das sich mit Vorausschau, öffentlicher Beteiligung und der Integration von soziologischen Studien mit Naturwissenschaften und Ingenieurspraxis befasse, verfolgt werden, wenn Fähigkeiten wie kollektive Selbstkritik, Imagination und Lernen aus Versuch und Irrtum eingesetzt würden. Freilich muss antizipatorische Governance als Konzept oder Praxismodell zu diesem frühen Zeitpunkt noch relativ vage erscheinen. Der Versuch, die Governance von Technologien bereits vor deren endgültiger Ausdifferenzierung mitzugestalten, ist aber offensichtlich durch die Erwartung mitgeprägt, dass emerging technologies in Zukunft auf merklichen Widerstand treffen könnten. Es wird die Entwicklung darauf aufbauender Kontroversen und letztlich unauflösbarer Lagerspaltungen – hier Industrie und Forschung, dort BürgerInnen und zivilgesellschaftliche NGOs – antizipiert. Arie Rip (2006) spricht in diesem Zusammenhang recht drastisch von einer nanophobia-phobia (also der Antizipation einer Angstreaktion der Öffentlichkeit auf Ankündigungen nanotechnologischer Innovation) sowie von der Antizipation eines Wow-Yuck Pattern (als einer Lagerspaltung in extrem positive und extrem negative Reaktionen). Er postuliert, dass diese Erwartungshaltungen auf folk theories zurückgingen und nicht auf soziologisch nachgewiesene Evidenz, dass sie allerdings das Verhalten der technowissenschaftlichen Akteure selbst beobachtbar prägten. Blickt man in der Geschichte der Technikkontroversen ein paar Jahrzehnte zurück, so wird schnell ersichtlich, dass die frühzeitige Problematisierung neuartiger Technologien kein prinzipielles Novum ist. So entzündeten sich rund um die potenziellen Risiken der Arbeit mit rekombinanter DNA im Labor bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt Kontroversen um die Biotechnologie – das Stichwort lautet Asilomar-Konferenz. Allerdings, und das ist nun allerdings entscheidend: Diese Kontroversen blieben zu diesem frühen Zeitpunkt noch auf Expertenzirkel beschränkt (Nisbet/Lewenstein 2002). Die sehr konkreten Risikohypothesen und klaren Evidenzregeln innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft erlaubten zudem eine (vorerst) relativ rasche Bearbeitung und Schließung der Kontroverse (auch wenn einige warnende Stimmen nie ganz verstummten). In der breiten Öffentlichkeit wurde die Technologie erst relativ spät und unerwartet Thema; der Höhepunkt der Kontroverse setzte zu einem Zeitpunkt ein, an dem Produkte der Agrobiotechnologie bereits auf dem Markt waren. Dieser Konflikt war außerdem im Wesentlichen auf Europa beschränkt und eng an andere mediale Ereignisse gekoppelt, wie z. B. den Bericht über das Klon-Schaf Dolly und die von Großbritannien ausgehende BSE-Krise Ende der 1990er Jahre (Bauer/Gaskell 2002).
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Die neu emergierenden Technologien hingegen werden bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt als Auslöser potenzieller öffentlicher Kontroversen verstanden und somit zu einem legitimen Gegenstand antizipierender Governance-Maßnahmen. Da jedoch aber weder die tatsächliche weitere Entwicklung der Technologie und ihre konkreten Anwendungen, noch die öffentlichen Akteurskonstellationen und Mobilisierungsformen vorauszusehen sind, wird unter anderem auf Prognosen zurückgegriffen, die sich qua Analogiebildungen auf die vergangenen Entwicklungen stützen (s. Einleitung). Es ist allerdings fraglich, inwieweit Vergleiche mit vergangenen Technologieentwicklungen und Technologiekontroversen tragfähig sind (vgl. das Postulat der folk theories bei Rip 2006). Im Gegensatz zu etablierten technologischen Anwendungen sind emerging technologies nur in Umrissen erkennbar. Sie „leben“ vor allem in und von Darstellungen (und Gegendarstellungen), die sich an konkrete Fördergeber, potentielle AbnehmerInnen oder die breite Öffentlichkeit wenden (wie Forschungsprogramm-Ausschreibungen, Einreichungen zu Innovationswettbewerben oder öffentlichen PR-Maßnahmen). Eine Konferenzankündigung zum Thema Nanotechnologie aus dem Jahr 2007 verspricht etwa „die weltverändernde Macht der Nanotechnologie zu feiern“.17 Die sogenannten konvergierenden Technologien werden angekündigt als eine Entwicklung, die eine flexible Manipulation von Bits, Atomen, Neuronen und Genen und damit von Information, Materie, Gehirn und dem Code des Lebens erlaubt.18 Ein Spiegel-Artikel zur Zukunft der Biowissenschaften titelt: „Synthetische Biologie. Frankensteins Zeit ist gekommen“.19 Dem Machbarkeits- und Fortschrittsdiskurs auf der einen Seite stehen Warnungen in Form von Risiko- oder Ethikdiskursen auf der anderen Seite gegenüber, ohne dass zu klären wäre, wie sich der diskutierte Technologiebereich definieren lässt und welche konkreten Artefakte und Anwendungssituationen in absehbarer Zeit zu erwarten sind. Dies erklärt die Orientierung an vergangenen Technikkontroversen. Doch angesichts der starken Dissoziation der emerging technologies auf Anwendungs- oder Produktebene ist eigentlich noch nicht einmal klar, inwieweit traditionelle Kontroversen vom Typ des Gentechnik- oder Kernenergiestreits überhaupt zu erwarten sind. Noch unklarer ist, welche Rahmungen solche Kontroversen annehmen würden, und welche Governance-Erfordernisse sich aus diesen Rahmungen ergäben.
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4 Zum Funktionswandel von Expertise Im Folgenden gehen wir detaillierter auf die Frage ein, welche Folgen anticipatory governance für beratungsorientierte Expertise hat. Damit greifen wir auf die Ausführungen im zweiten Abschnitt zurück, in dem bereits die recht divergierenden Formen und Funktionen von Expertise in unterschiedlichen Governance-Regimes skizziert wurden. Mit Blick auf die in antizipierten Kontroversen um emerging technologies spezifische Rolle von sozialwissenschaftlicher Expertise lässt sich – so die zentrale These – von einem Funktionswandel von Expertise sprechen. Die Beschreibung eines solchen Funktionswandels vermag gleichzeitig zu einer Präzisierung des Begriffs der anticipatory governance beizutragen. In unserer Analyse beziehen wir uns insbesondere auf das Feld sozialwissenschaftlicher Technikforschung, wie es in Form der Technikfolgenabschätzung (TA), der ELSI-Begleitforschung (Ethical, Legal and Social Implications) bzw. – im weiteren Zusammenhang – den Science and Technology Studies (STS) repräsentiert wird. Anhand dieser Beispiele lässt sich der enge Zusammenhang zwischen dem Funktionswandel von Expertise und dem Wandel von Rahmungen illustrieren. Die Institutionalisierung der TA in den 1970er und frühen 1980er Jahren lässt sich als Folge der Interpretation und Verhandlung maßgeblicher PolicyProbleme im Bereich von Wissenschaft und Technik als Risikofragen verstehen. Die TA ist gewissermaßen Zeugnis dafür, dass man zur Konfliktlösung auf besseres oder problemadäquateres Faktenwissen setzte – ein Kennzeichen von Risikokontroversen. Die TA, so die gängige Erwartung, sollte die Politik mit umfassenden objektiven Informationen über die ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgen neuer Technologien im Sinne einer Frühwarnfunktion versorgen – und damit gleichzeitig jenes ExpertInnenwissen liefern, das als legitime Grundlage politischer Entscheidungen in Risikofragen gilt. Diese Erwartungen spiegeln sich beispielhaft in der Einrichtung des Office of Technology Assessment (OTA) in den USA im Jahre 1972 wider (Porter 1995).20 Das bekannte „Expertendilemma“ (Nennen/Garbe 1996), d. h. die Selbstrelativierung der ExpertInnen infolge widersprüchlicher Gutachten, indizierte allerdings bald die brüchige Autorität einer sich als objektiv verstehenden ExpertInnenrationalität. Auch hinsichtlich einer interdisziplinären Abschätzung von Technikfolgen ließ sich der Glaube an eine objektive Wahrheit nicht aufrecht erhalten. Die damit einher gehende Unsicherheit ließ die Bedeutung normativ geprägter Aushandlungsprozesse wieder stärker hervor treten. So wurde von TA die Berücksichtigung von Argumenten
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(etwa Sozialverträglichkeit) eingefordert, die gesellschaftliche Wertentscheidungen betrafen, wissenschaftlich aber als nicht handhabbar galten (van den Daele 1993). In der Folge versuchte man, weitere AkteurInnen und Interessen – etwa Stakeholder, aber auch Laien – in den Abschätzungsprozess einzubinden und Ausgewogenheit durch externe Ergebniskontrolle zu gewährleisten (van Eijndhoven 1997). Diese Krise des wissenschaftlichen Wahrheitsmonopols manifestierte sich u. a. in unterschiedlichen Implementierungsformen von TA im Europa der 1980er Jahre. In Dänemark und den Niederlanden etablierte sich eine „öffentliche TA“ (van Eijndhoven 1997) mittels Konsensus- oder BürgerInnenkonferenzen. Die kognitiven Grundlagen wurden zwar weiterhin von ExpertInnen in Hearings geliefert, die Bewertung aber kam von Laien (Joss 1995). Damit kündigte sich eine Änderung des Diskursrahmens an: Es ging nun nicht mehr vorrangig um die ExpertInnenfrage nach der Evidenz eines Risikos und folglich um die Bestimmung eines richtigen, kognitiv überlegenen Wissens. Vielmehr wurde von den Laien eine Bewertung davon erwartet, was als moralisch inakzeptabel, vertretbar oder geboten zu gelten hätte. Die Plausibilität eines Risikos wurde zu einem Teilaspekt der übergeordneten Frage nach der Akzeptabilität im Lichte von Interessenlage, Nutzenverteilung und Betroffenheit. Mit anderen Worten: Anstelle der ExpertInnendomäne des Wissens trat die den Laien zugesprochene Domäne der Moral in den Vordergrund. Der Fokus der Debatte verschob sich somit von Wahrheit auf Werte. Das ist es, was oben unter dem Begriff der Ethisierung gefasst wurde. Somit entspricht eine spezifische Form von TA immer auch einer dominanten Rahmung des bearbeiteten Problems. Während eine expertInnenbasierte Folgenabschätzung die kognitive Frage nach der (wissenschaftlichen) Wahrheit bzw. nach der Plausibilität einer Risikobehauptung in den Mittelpunkt stellt, kreist eine partizipative TA unter Laienbeteiligung typischerweise um die Frage nach der moralischen Richtigkeit. Im Rahmen der partizipativen Wende tritt die TA vorrangig als Organisator und zuweilen auch als Beobachter von Deliberationsprozessen in Erscheinung (Abels 2009). Ob man dies als Funktionswandel der TA beschreiben kann, mag offen bleiben. In jedem Fall handelt es sich um eine Ausdifferenzierung von TA-Formen und -Funktionen, die auf die Koexistenz unterschiedlicher ProblemRahmungen verweist und mit diesen interferiert. Offensichtlich wird ein Funktionswandel jedoch im Hinblick auf die antizipatorische Governance von emerging technologies. Denn im Kontext antizipierter Kontroversen übernimmt die TA eine gestaltende Funktion in der Deutung emergierender Technologien: Wenn die Elemente einer Tech-
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nologie umstritten und die Anwendungsgebiete unklar sind, wenn der Vergleichsmaßstab umstritten und die Präzedenz interpretationsabhängig ist, sind „Folgen“ zwar imaginier-, aber nicht identifizierbar. Wenn also erst festzulegen ist, welche Eigenschaften einer Technologie zuzuordnen und in welchem Rahmen diese sinnvollerweise zu diskutieren sind, dann geht es letztlich um die Definition dessen, was eine bestimmte emerging technology überhaupt ausmacht bzw. um die Festlegung einer Problematisierungsperspektive. In solchen Fällen bedarf es nicht nur einer externen Expertise, sondern einer Reflexionsinstanz über gesellschaftsrelevante Themen in situ, in enger Kooperation mit der Wissenschaft. Auf diese Weise vollzieht sich im Kontext antizipatorischer Governance ein Funktionswandel sozialwissenschaftlicher Expertise: Sie wird – im Prinzip jedenfalls – zu einem politiknahen Akteur, weil sie mit Gestaltungsfragen konfrontiert wird, die die Kapazität reiner Beobachtung überfordern. TA mutiert auf diese Weise – um eine Fußball-Metapher zu bemühen – während des Spiels vom Linienrichter zum Mitspieler, und zwar für alle ZuschauerInnen sichtbar. Damit gehen notwendigerweise neue Verantwortungszuschreibungen einher: Eine auf Beobachtung und Analyse kaprizierte Technikforschung kann ihre qua Wahl der Beobachtungsperspektive realisierte Deutungsmacht invisibilisieren, die Optionenwahl bleibt auf diese Weise vollständig dem Entscheidungsträger überlassen; eine „eingebettete“ Sozialwissenschaft jedoch gestaltet die entstehende Technologie ganz offensichtlich mit, und zwar sowohl über die – nunmehr als Interpretation kenntlich gemachten – Interpretationsangebote als auch qua expliziter Definition derjenigen Fragen, die als gesellschaftlich relevant zu gelten haben. An dieser Stelle gilt es freilich, einen nahe liegenden Einwand zu entkräften. Macht denn nicht bereits das Programm einer Constructive TA (CTA) Technikgestaltung zu ihrem expliziten Ziel? Und wenn ja, worauf bezieht sich dann der behauptete Funktionswandel? Tatsächlich zielt ja die CTA auf die Mitgestaltung oder Optimierung entstehender Technologien durch Stakeholder- und NutzerInnen-Beteiligung im Sinne des Gemeinwohls (Rip et al. 1995). Doch jenseits dieser recht abstrakten Gemeinsamkeit eines allgemeinen Gestaltungsanspruchs lassen sich deutliche Differenzen zwischen CTA und jener TA konstatieren, die sich im Rahmen einer anticipatory governance herausbildet. Die CTA fokussiert in ihrem Modell aktiver Technikgestaltung auf Technologien, die so weit ausgereift sind, dass konkrete Anwendungen zum Gegenstand der TA gemacht werden können. In der Praxis bezieht sich CTA denn auch v. a. auf Industriebetriebe, in denen neue Technologien und deren praktische Anwendungen entwickelt werden. Im Kontext von emerging technologies wie der Nanotechnologie oder der syntheti-
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schen Biologie hingegen bleibt der Anwendungsbezug oft hypothetisch. TA ist auch hier aufgerufen, Technikentwicklung nicht mehr nur von außen zu untersuchen, sondern aktiv an deren Gestaltung teilzunehmen – jedoch nicht auf materialer (CTA), sondern gewissermaßen auf symbolischer Ebene: Es geht, wie erwähnt, um Deutungs- und Definitionsprozesse. Die TA richtet sich hier auf technowissenschaftliche Felder, die weder über fachliche oder disziplinäre Identität noch über einen präzisen Gegenstands- oder Anwendungsbereich verfügen. Ein vergleichbarer Wandel scheint sich auch auf dem weiten Feld der STS abzuzeichnen. Dafür lassen sich eine Reihe von Indizien anführen. So haben in der letzten Zeit Reflexionen an Bedeutung gewonnen, die die Rolle sozialwissenschaftlicher Expertise für politische Entscheidungsprozesse thematisieren. Daraus hat sich mittlerweile eine Debatte entwickelt, die auf unterschiedlichen Ebenen, sowohl empirisch-deskriptiv als auch programmatisch, geführt wird. Ein vielbeachteter Beitrag ist in diesem Zusammenhang die Analyse und Programmatik von Collins und Evans (2002). Die beiden Autoren argumentieren in ihrem Artikel über die „Third Wave of Science Studies“, dass STS gegenwärtig bereits zum zweiten Mal von einer grundlegenden Umwälzung betroffen sei. Der erste Wandel habe eine positivistische, objektivitätsgläubige Wissenschaftsforschung ab den 1970er Jahren in ihre konstruktivistische und dekonstruierende Phase geführt (maßgeblicher Bezugspunkt sind hier die sog. Laborstudien). Einen zweiten Wandel postulieren bzw. fordern die Autoren für die Gegenwart. Er solle die STS in eine Phase stärkerer politischer Relevanz versetzen. Voraussetzung dafür sei, dass wissenschaftlicher Expertise eine epistemische Sonderstellung zugestanden werde. In diesem Sinne geht es den Autoren um die Rekonstruktion einer klaren Grenzziehung zwischen Laien und ExpertInnen bzw. Politik (als Arena gesellschaftlicher Diskurse) und Technologie (als Arena des Faktischen). Dahinter steht der Anspruch, STS solle nicht nur über Geschichte reflektieren, sondern diese aktiv mitgestalten („sociologists of scientific knowledge . . . have a role to play in making history“, ibid., S. 241). Bei der Forderung allein ist es nicht geblieben. Es lässt sich vielmehr eine zunehmende Reflexion der praktischen Bedeutung von STS-Expertise für die Wissenspolitik (im Sinne von Stehr 2003) beobachten. Dies deutet darauf hin, dass in der STS-community das Bewusstsein zunimmt, über eine Akteurs-Position in diesem Feld zu verfügen. Ist es die Rolle von „ironists, reformers, or rebels“ (Gisler/Schicktanz 2009), ist es die einer helfenden Hand oder einer Hilfswissenschaft (vgl. Burchell 2009)? Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der gegenwärtig zu beobachtende Boom der Expertisefor-
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schung verstehen. Im Vordergrund steht dabei der Versuch, auf Grundlage empirischer Studien Modelle der Verknüpfung von Wissen und Werten im Bereich der Forschungs- und Technologiepolitik zu entwickeln (z. B. Hoppe 2005). Zwecks Reflexion der politischen Bedeutung und Verwertung von Expertise werden Förderprogramme aufgelegt (z. B. das BMBF-Programm „Wissen für Entscheidungsprozesse“), es werden Zeitschriften gegründet (wie die seit 2008 erscheinende Zeitschrift für Politikberatung) und entsprechende Schwerpunktsetzungen in den Verlagsprogrammen vorgenommen, die sich in einem signifikanten Anstieg von Monographien, Überblicksdarstellungen und Handbüchern zur Politikberatung äußern (z. B. Weingart/ Lentsch 2008, Bröchler/Schützeichel 2008, Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2006, Falk et al. 2006, Bogner/Torgersen 2005). Ein weiteres Indiz für unsere These des Funktionswandels ergibt sich mit Blick auf die Institutionalisierung eines seltsam hybriden Feldes, nämlich der ELSI-Begleitforschung zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten von emergierenden Technologien in den 1990er Jahren. Das prominenteste Beispiel ist hier sicher das anlässlich der Initiative zur Erforschung des Humangenoms in den USA gestartete Programm. Dabei legte man implizit – ähnlich wie in der frühen TA – ein lineares Modell von Technologieentwicklung zugrunde. Dementsprechend hatte die ELSI-Forschung von außen die gesellschaftlichen Folgen einer unabhängigen und ihren eigenen Gesetzen folgenden wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu untersuchen. Dieses einfache Modell von Ursache-Wirkungsbeziehungen ist verschiedentlich kritisiert worden (Cook-Deegan 1994). Ausgehend davon entwickelten zuletzt Rabinow und Bennett (2008) eine Initiative, mittels anthropologischer Expertise Technowissenschaften und Begleitforschung zu integrieren und Grundlagen für eine erhöhte Reflexivität im Forschungsalltag bereitzustellen. In ähnlicher Weise zielt die „Laboratory Engagement Study“ von Fisher (2007) auf Intervention in die Wissenschaftsgenese, und zwar vom Inneren der Technowissenschaft aus. In diesem Ansatz wird die Sozialwissenschaft mittels teilnehmender Beobachtung zu einem Organisator von entscheidungsrelevanter Reflexion im Forschungsalltag. Aber auch die ELSI-Programme gehen heute neue Wege. Mit Blick auf die ELSI-Projekte im Rahmen des österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU lässt sich ein deutlicher Wandel konstatieren: Es geht nunmehr vorrangig um die zeitnahe Begleitung von Forschungs- und Technisierungsprojekten sowie die Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu diesen Themen. Das vorrangige Ziel besteht darin, die Forschung zur Reflexion auf die ethischen oder sozialen Implikationen ihrer Praxis zu bewegen. In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass ELSI-Forschung
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auf die Expertise von STS zurückgreift und gleichzeitig die eher für TA typische Beratungsfunktion anstrebt. So ergeben sich zwischen STS, TA und ELSI deutliche Konvergenzen und vielfältige Überschneidungen hinsichtlich der Zielbestimmungen und Methoden sowie, nicht zuletzt, der beteiligten Institutionen.
5 Resümee In diesem Text wurde argumentiert, dass Kontroversen um Wissenschaft und Technik je spezifische Herausforderungen für Governance darstellen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Problematisierung von Technologien sich notwendigerweise innerhalb bestimmter Rahmungen vollzieht, wobei Risiko und Ethik die beiden prominentesten Fälle darstellen. Es sind diese kulturell geprägten Muster der Sinngebung, die einen bestimmten politischen Umgang mit Technologien implizieren, eben je nachdem, ob sie als Risiko- oder als Ethikproblem verstanden werden. Unter den Titeln von risk bzw. ethics governance wurde vorgeführt, welche Governance-Variationen sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Rahmung ergeben. Dargestellt wurde dies konkret an den Beispielen von Expertise, Öffentlichkeitsbeteiligung und politischer Legitimation. Zu betonen bleibt, dass das Verhältnis von Rahmung und Governance als ein wechselseitig sich bedingendes zu denken ist – und nicht als einseitiges Determinationsverhältnis, in welcher Form auch immer. So wie eine bestimmte Rahmung ganz bestimmte politische Verfahrensformen und Begründungsmuster als legitim erscheinen lässt, sind auch umgekehrt die jeweils aktualisierten Governance-Formen für die Stabilisierung bzw. Modifikation des Rahmens relevant. Wir sind davon ausgegangen, dass neu entstehende Technologien, die aktuell in dem noch recht anspruchslosen Begriff der emerging technologies gefasst werden, in erster Linie als diskursives Phänomen verstanden werden müssen. Auf politischer Ebene gilt die Sorge einer vorsorglichen Auseinandersetzung mit denkbaren Konfliktpotenzialen. Vor diesem Hintergrund artikulieren sich neuartige Ansprüche und Erwartungen, die sich im Prinzip sowohl auf Beteiligungsformate und Verfahrensformen, aber auch auf die in diesen Prozessen relevante Expertise beziehen. Dies wurde als Übergang zu einer antizipatorischen Governance diagnostiziert. In theoretischer Hinsicht zielt unser Beitrag also darauf ab, dem in der Literatur noch recht vagen Begriff einer anticipatory governance schärfere Konturen zu verleihen – wobei auf der Hand liegt, dass dies erst den Einstieg in eine notwendige Debatte bedeutet. Immerhin wurde im Rekurs auf
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Expertise ein Governance-relevanter Bereich vorgeführt, in dem aufgrund veränderter Zeitstrukturen sich wandelnde Rollenerwartungen bemerkbar werden. In praktischer Hinsicht reagieren unsere Befunde kritisch auf die im politischen Diskurs prominente Unterstellung, man könne die Erfahrungen mit vergangenen Kontroversen umstandslos auf die Zukunft übertragen. Grundlegende Voraussetzung für ein „Lernen aus vergangenen Konflikten“ ist die Differenzierung zwischen Technikkontroversen, die in diesem Text entlang der Unterscheidungen von real/antizipiert und Risiko/ Ethik vorgenommen wurde. Anticipatory governance muss gerade deshalb als problematisch gelten, weil nicht vorhergesagt werden kann, innerhalb welcher Rahmen Kontroversen über zukünftige Technologien ausgetragen werden. Jede Intervention wird selbst zu einer Beteiligung an dieser kontingenten Entwicklung. Der diagnostizierte Funktionswandel sozialwissenschaftlicher Expertise gründet sich letztlich auf einem Wandel von Konflikt- und Politikmustern im Zuge veränderter Formen und Vorstellungen von Wissenschafts- und Technikentwicklung. Sozialwissenschaftliche Expertise – sei es in den Formaten von TA, ELSI oder STS – sieht sich gegenwärtig mit neuen Rollenerwartungen konfrontiert: Sie wird auf diese Weise zu einer bewussten (und damit auch verantwortungspflichtigen) Mitspielerin in der politischen Gestaltung von realen oder antizipierten Kontroversen um Wissenschaft und Technik.
Anmerkungen 1 2
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Rick Weiss: „For Science, Nanotech Poses Big Unknowns“, Washington Post, 1 February 2004, S. A01. Anna Fazackerley: „Nanotechnology won’t suffer GM fate“, Times Higher Education Supplement, 27 June 2003, http://www.timeshighereducation.co.uk/story.asp?sec tioncode=26&storycode=177714 (abgerufen am 14. 7. 2009). „,Risk‘ is the only game in town“, wie ein Gutachter dieses Artikels treffend anmerkt. Die Dominanz des Risikodiskurses steht dabei in Wechselwirkung mit dem vorhandenen Regulierungsinventar (Regulierungsbehörden und -instrumente), das ebenfalls auf Risikoevidenzen fokussiert. „Ich bin kein Briefträger, der Botschaften überbringt“ – Gerhard Schröder im Interview; http://www.tagesspiegel.de/politik/art771,1967538 (abgerufen am 8. 8. 2006). Der Bezug zwischen Rahmen und Governance-Strukturen kann als wechselseitig gedacht werden. Bestimmte Rahmen bestärken die mit ihnen kompatiblen Governance-Strukturen, indem sie ihnen Legitimität zusprechen. Die Entwicklung bestimmter Governance-Strukturen wiederum befördert die mit ihnen kompatiblen Rahmen, weil die in diesen Rahmen operierenden Argumente unmittelbar in konkrete steuerungspolitische Forderungen übersetzbar sind.
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Man vergleiche dazu etwa das Deutsche Mobilfunk Forschungsprogramm (DMF) des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz. Es verfolgt vier parallele Forschungsstränge: Biologie, Epidemiologie, Dosimetrie und Risikokommunikation. Nur in letzterem Bereich tauchen die Sozialwissenschaften auf (http://www.emf-forschungsprogramm. de/forschung). Eine Aufweichung dieser Prinzipien, etwa im Kontext des Vorsorgeprinzips (vgl. von Schomberg 2005), kann daher als Indiz für einen Frame-Wandel gesehen werden. „Ich habe nichts gegen grüne Gentechnik“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 4. 2009; http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/ Doc~E2E172490B21D4065A0B82A067E105840~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 28. 8. 2009). Jörg Albrecht/Volker Stollorz: „Kleine Käfer, große Fragen. Ist Genmais gefährlich?“ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. 4. 2009, http://www.faz.net/s/Rub 80665A3C1FA14FB9967DBF46652868E9/Doc~E5C0249F49858443FADC2C9C8 A73A0999~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 20. 4. 2009). „Brown compromise over embryo vote“, in: BBC News, http://news.bbc.co.uk/2/hi/ uk_news/politics/7312715.stm (abgerufen am 20. 10. 2009). Die synthetische Biologie versucht, analytische Erkenntnisse der Biologie (etwa über Genome) in ingenieursmäßiger Weise in Konstruktionen umzusetzen. Es geht um praktische Anwendungen, aber auch um die Herstellung von Organismen zum Erkenntnisgewinn. Empirische Analysen zu Beteiligungsexperimenten im Bereich der Nanotechnologie zeigen allerdings, dass sich die damit erhofften Demokratisierungs- oder Rationalisierungspotenziale bisher nicht realisiert haben (Kurath/Gisler 2009). Tony Blair warnt etwa in einer Rede vor der Royal Academy of Sciences 2002, dass die Leistungen der Wissenschaft nur erfolgreich umgesetzt werden könnten, wenn der (implizite) Vertrag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit neu formuliert würde. (http:/ /www.dius.gov.uk/science/science_and_society/public_engagement/public_attitudes _2005, abgerufen am 11. 10. 2009). Vgl. etwa das 2002 ins Leben gerufene „Expectations Network“, siehe im Netz unter http://www.york.ac.uk/res/satsu/expectations/about.htm. (abgerufen am 5. 10. 2009) Auch in diesem Fall muss es aussichtslos bleiben, so etwas wie einen Ursprung des Begriffs bestimmen zu wollen. Immerhin lässt sich eine allmähliche Durchsetzung dieses Begriffs ab der Jahrtausendwende beobachten. Karinen und Guston (2009) unterscheiden drei Verwendungskontexte, nämlich die Umweltwissenschaften, Studien zu öffentlicher Verwaltung und Management sowie ELSA-Forschung zu Nanotechnologie. Vgl. zu einer ersten Verwendung in diesem Kontext: Guston/Sarewitz (2002). Dieser Widerspruch wurde bereits in Zusammenhang mit der Ausformulierung des Vorsorgenprinzips eingehender diskutiert (van Asselt/Vos 2006). „Nanotechnology – the ability to understand and control matter with ultimate precision – is the most powerful and enabling technology humankind has ever developed. Nanotechnology is used to create materials, devices and systems with fundamentally new properties and functions that will change the world as we know it.“ Ankündigungstext für eine hochkarätig besetzte Tagung an der Cornell University am 14. Juni 2007 (http://www.cnf.cornell.edu/cnf_nanofutures.html, zuletzt abgerufen am 28. 9. 2009).
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So etwa die kritische, aber häufig zitierte Action Group on Erosion, Technology and Concentration (ETC Group) unter http://www.etcgroup.org/en/issues/bangconvergence.html. (abgerufen am 1. 10. 2009) Bernhard Epping: „Synthetische Biologie. Frankensteins Zeit ist gekommen“, Der Spiegel, 27. 12. 2008, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,596579, 00.html (abgerufen am 5. 8. 2009). Das OTA wurde 1995 im Sinne der damals dominanten konservativen Strömung als entbehrlich angesehen und geschlossen.
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Erich Grießler, Daniel Lehner Erich Grießler, Daniel Lehner
„Praxis heißt, es ist ein üblicher Vorgang“. Politische Praktiken in der Regierung biomedizinischer Technologien in Österreich1 Zusammenfassung: Der Beitrag befasst sich mit politischer Regulierung biomedizinischer Technologien in Österreich aus praxistheoretischer Perspektive. Unter Einbeziehung der Bourdieu’schen politischen Soziologie und Foucaults weiter Regierungskonzeption wird ein Begriff politischer Praxis vorgestellt, der sowohl anschlussfähig an gegenwärtige Theorien sozialer Praxis ist, als auch die Spezifität politischer gegenüber anderen sozialen Praktiken hervorzuheben vermag. Zudem dient dieser Begriff politischer Praxis als exploratives Werkzeug für empirische Untersuchungen, was der zweite Teil des Artikels an Hand der Analyse dreier Gesetzgebungsprozesse im biomedizinischen Politikfeld nachweist. Im Zentrum steht die Fragestellung, welche politischen Praktiken und Prozesse in der politischen Regierung biomedizinischer Technologien identifiziert werden können und welche Strukturmerkmale sich davon ausgehend für das biomedizinische Politikfeld Österreichs abzeichnen. Schlagworte: Praxistheorie · Gesetzgebung · Biomedizin · Politische Praxis
“Practice Means the Usual Process”. Political Practices in the Governing of Biomedical Technologies in Austria Abstract: This article deals with the political regulation of biomedical technologies in Austria from a theory of practice perspective. Building on Bourdieus’ political sociology and Foucault’s broad conception of government a concept of political practices is introduced which is not only compatible with contemporary theories of social practice but also able to accentuate the distinctiveness of political in comparison to other social practices. In the second part of this contribution the concept of political practices is applied as an explorative tool for empirical research in the policy field of biomedical regulation in Austria. At the centre of this section of our paper is the question which political practices and processes can be identified in the political government of biomedical technologies in Austria. Keywords: Practice Theory · Law-Making · Biomedicine · Political Practice E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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1 Einleitung Biomedizinische Technologien sind häufig Gegenstand politischer Maßnahmen wie z. B. der Gesetzgebung. Beispiele dafür sind in Österreich das Gentechnik-, Fortpflanzungsmedizin- sowie das Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz. Die politische Regulierung biomedizinischer Technologien ist aus mehreren Gründen soziologisch interessant: • Im biomedizinischen Politikfeld – als Subsystem des politischen Feldes als Überschneidung von Gesundheits-, Wissenschafts- und Forschungspolitik fassbar – wird höchst ausdifferenziertes ExpertInnenwissen in Beziehung zu individuellen, auch existenziellen Fragen gesetzt. Jeder/jede ist mit Fortpflanzung, Krankheit und Tod konfrontiert, weshalb biomedizinische Technologien potentiell jeden/jede betreffen. • Weil politische Regelungen Ausdruck, Gegenstand wie auch Ergebnis sozialer Kräfteverhältnisse darstellen, sind deren Inhalte wie Legitimationsmuster dazu angetan, Auskunft über gesellschaftlich hegemoniale Deutungsmuster zu geben: Welche Formen humaner Reproduktion werden als legitim betrachtet? Wie soll der Zugang zu biomedizinischen Technologien geregelt sein? • Biomedizinische Technologien sind eng mit sprachlichen Imaginationen verknüpft (Hedgecoe 1999, Petersen 2001, Domasch 2007). Entsprechende Heilungsversprechen, Gefahrenhinweise und Ängste prozessieren in der Öffentlichkeit. Ihre politische Regulierung hat daher das Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Anwendung und öffentlicher Rezeption zu berücksichtigen. • Da politische Regulierungen von biomedizinischen Technologien direkt wie indirekt Vorstellungen von der menschlichen Gattung bzw. Konzeptionen von „Leben“ be- und verhandeln, ist deren Genese besonders für die Analyse normativer wie ethischer Konflikte zwischen politischen Akteurskonstellationen geeignet. • Darüber hinaus konfrontieren technologische Entwicklungen das politische Feld laufend mit Innovationen, weshalb von einer reziproken Dynamisierung des biomedizinischen Politikfeldes und der medizinisch-wissenschaftlichen Praxisarrangements auszugehen ist. Das Politikfeld ist kontinuierlich mit Ungewissheit konfrontiert (vgl. Shapiro 1999). Dieser Beitrag befasst sich mit politischer Regulierung biomedizinischer Technologien in Österreich aus praxistheoretischer Perspektive.2 Ziel ist die Entwicklung einer Konzeption von politischer Praxis, die sowohl an gegenwärtige Theorien sozialer Praxis anschlussfähig ist, als auch die Spezifität
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politischer gegenüber anderen sozialen Praktiken hervorzuheben vermag. Andererseits soll der Begriff politischer Praxis so aufbereitet werden, dass er als analytisches Werkzeug für empirische Untersuchungen dienen kann. Dies versucht der zweite Teil dieses Beitrages mittels der Analyse dreier politischer Entscheidungsprozesse im biomedizinischen Politikfeld nachzuweisen. Im Zentrum stehen dabei folgende Fragen: Welche politischen Praktiken und Prozesse können in der politischen Regierung biomedizinischer Technologien identifiziert werden und welche inhaltlichen wie prozeduralen Strukturmerkmale zeichnen sich davon ausgehend für das biomedizinische Politikfeld Österreichs ab? Die politische Regierung biomedizinischer Technologien wurde aus mehreren Gründen zur Identifizierung politischer Praktiken ausgewählt. Zum einen ergab sich dieser Bereich aufgrund der Förderung des Forschungsprojektes innerhalb des Förderungsprogrammes „GEN-AU“. Zum anderen ist das Politikfeld durch die Vielzahl an Konflikten, die zum Teil öffentlich ausgetragen werden, sozialwissenschaftlich leichter beobachtbar als weniger konfliktreiche Politikfelder, in denen kaum Informationen „nach außen“ dringen. Darüber hinaus sind biomedizinische Technologien, wie dargestellt, ein sozialwissenschaftlich interessantes und innerhalb der Politik etabliertes Politikfeld, in dem verschiedene Ministerien, Interessensorganisationen und das Parlament in für das österreichische politische Feld typischen Prozessen miteinander interagieren.3 Zu Beginn des Beitrages werden biomedizinische Technologien als Prozesse medizinisch-wissenschaftlicher Praxisarrangements konzipiert, die an der Schwelle von Natur und Kultur menschliche Organismen mit dem Versprechen bearbeiten, diese länger und besser leben zu lassen (Abschnitt 2). Diese Technologien adressieren den Gattungskörper der Bevölkerung und können daher einer biopolitischen Regierungsrationalität zugeordnet werden, die Foucault (vgl. 1983, 2006a, 2006b) unter dem Begriff der Gouvernementalität analysiert hat. Als Konzept gesellschaftlicher Regierung betont Gouvernementalität, dass eine Engführung politischer Analysen entlang juristischer Prozesse sowie eine top-down-Konzeption politischer Herrschaft zu kurz greifen. Stattdessen werden Machtverhältnisse und Regierungsrationalitäten hervorgehoben, wobei über eine Ausdehnung des Regierungsbegriffes die Integration verschiedenster sozialer AkteurInnen in die Analyse gesellschaftlicher Regierungsprozesse ermöglicht wird (Abschnitt 3). Gleichzeitig entsteht aber – so ein Argument dieses Beitrages – das Problem, dass in Anbetracht der Ausdehnung des Regierungsbegriffes auf gesamtgesellschaftliche Arrangements wie Strukturen, Politik bzw. politische Praktiken kaum näher bestimmt werden können. In diesem Artikel wird daher ein theoretischer Kompromiss
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vorgeschlagen: Politische Praktiken werden als sequenzielle Elemente politischer Regierungsprozesse entwickelt. Mit einer adäquaten theoretischen Differenzierung politischer (Abschnitt 5 bzw. 6.2) von anderen sozialen Praktiken (Abschnitt 4) kann, so unsere Annahme, ein Mittelweg eingeschlagen werden, der weder Politik bzw. die Besonderheit politischer Praktiken in gesamtgesellschaftlichen Macht- und Regierungsprozessen auflöst, noch in der Unzulänglichkeit einer engen, juristischen Politikkonzeption verharrt. Ein solcher Politikbegriff ,mittlerer Reichweite‘ wird neben einer zu entwickelnden Definition politischer Praxis auf Bourdieus Konzept des politischen Feldes zurückgreifen (Bourdieu 2001a), womit auch die Spezifität staatlicher Institutionen und deren zentrale Bedeutung für die Um- wie Durchsetzung politischer Regierungsprozesse in den Blick rücken (Abschnitt 6.1). Abschnitt 6.2 erläutert unsere Arbeitsdefinition politischer Praxis, während anschließend ein mehrdimensionales Schema zur Differenzierung politischer Praktiken vorgestellt wird (Abschnitt 6.3). Abschnitt 7 stellt die wesentlichen Ergebnisse der Analyse der österreichischen politischen Praktiken und die damit einhergehende Regierungsstruktur im Bereich der biomedizinischen Technologien dar. Dabei wird anhand dreier Fallbeispiele der Frage nachgegangen, welche politischen Praktiken bzw. „üblichen Vorgänge“ (4: 200)4 im politischen Feld Österreichs und in den staatlichen Institutionen im biomedizinischen Kontext deutlich werden. Die dafür gewählten Beispiele sind die Entwicklung des österreichischen Gentechnikgesetzes (GTG) (BGBl. Nr. 510/1994), das die Genanalyse am Menschen regelt und seine Novelle im Jahr 2005, die vor allem wegen der im Ministerialentwurf vorgesehenen Aufhebung des Verbots der Präimplantationsdiagnostik (PID) umstritten war (BGBl. Nr. 127/2005). Der dritte Fall ist die Entscheidung über die österreichische Position zur Förderung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (HES) im 6. Europäischen Rahmenprogramm für Forschung, Demonstration und technologische Entwicklung (im Folgenden RP6) im Jahr 2002 (Pichler 2005, Kneucker 2008, Gottweis et al. 2009). Anhand dieser Fallbeispiele wird untersucht, welche politischen Praktiken sich in Ministerien und dem Nationalrat – als zwei zentrale Institutionen – identifizieren lassen. Im Zentrum stehen dabei mit MinisterialbeamtInnen, Abgeordneten und MinisterInnen drei Akteursgruppen, deren politische Praktiken in vielerlei Hinsicht verwoben sind und gemeinsam wesentliche Elemente der politischen Entscheidungsprozesse ausmachen.5 Zur Beantwortung dieser Fragestellungen werden Interviews herangezogen, die einer der Autoren mit jeweils drei MinisterInnen und MinisterialbeamtInnen sowie drei Nationalratsabgeordneten geführt hat. Kriterium für deren Auswahl war ihre Befassung mit der entsprechenden politischen Re-
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gelung. Im Zentrum der leitfadengestützten face-to-face Interviews standen Fragen nach der Entstehung der jeweiligen politischen Regulierung. Die Analyse konzentrierte sich darauf, innerhalb der Erzählungen politische Praktiken zu identifizieren.6 Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung wesentlicher empirischer Ergebnisse (Abschnitt 8) im Lichte praxistheoretischer Argumentationen.
2 Was sind biomedizinische Technologien? Als biomedizinische Technologien werden in diesem Beitrag jene Prozesse bezeichnet, die sich im Überschneidungsbereich von Medizin, Wissenschaft und Forschung in den menschlichen Organismus mit dem Versprechen einschreiben, diesen länger und/oder besser leben zu lassen. Sie bearbeiten und rekonfigurieren gegenwärtige und zukünftige Körper(teile) und umfassen so unterschiedliche Verfahren wie Organtransplantation, Xenotransplantation, therapeutisches Klonen sowie Präimplantations- oder Pränataldiagnostik. Biomedizinische Technologien streben nicht nur nach Heilung, sondern versuchen, vitale Prozesse zu optimieren. Als Elemente einer Politik des „Lebens selbst“ (Rose 2007), d. h. einer Politik, die mit steigenden Fähigkeiten befasst ist „to control, manage, engineer, reshape, and modulate the very vital capacities of human beings as living creatures“ (ebd., S. 3), können sie nicht mit Techniken oder Geräten identifiziert werden. Vielmehr sind diese Teilelemente von Technologien, welche wiederum als soziales Beziehungsgeflecht aufgefasst werden: „Technology, here, refers to any assembly structured by a practical rationality governed by a more or less conscious goal. Human technologies are hybrid assemblages of knowledges, instruments, persons, systems of judgment, buildings and spaces, underpinned at the programmatic level by certain presuppositions and objectives about human beings.“ (Rose 1996, S. 26). Trotz großer Unterschiede ist biomedizinischen Technologien gemein, dass sie am menschlichen Körper ansetzen, diesen verändern, aber auch erschaffen. Sie konstituieren sich auf der scheinbar stabilen Grenze von Natur und Kultur, weshalb ihre Anwendungen und öffentliche Rezeption geeignet sind, die gesellschaftlich ausgehandelte Differenz sowie das Verhältnis von Kultur und Natur sozialwissenschaftlich zu erschließen. Biomedizinische Technologien sind zudem Verfahren medizinisch-wissenschaftlicher Praxisarrangements, in denen sich biomedizinisches Wissen
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historisch ausbildet und damit auch kulturelle Muster, Gesundheitskonzeptionen und soziale Konfigurationen humaner Reproduktion außerhalb von Labors und Kliniken wesentlich beeinflusst: Biomedizinische Praktiken und das in ihnen gegenwärtige Wissen stehen daher in Zusammenhang mit medizinischen, wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen (Burri/Dumit 2007). Die biomedizinischen Praktiken sind in eine AkteurInnenstruktur eingebettet, wobei dem politischen Feld die Aufgabe der (gesetzlichen) Regulierung der Technologien und deren institutionellen Rahmenbedingungen zukommt. Das spezialisierte Wissen und die ethischen Implikationen biomedizinischer Technologien haben vielfach dazu geführt, dass deren politische Erörterung wie Bewertung in institutionalisierte ExpertInnenkomitees ausgelagert wird (Fuchs 2005, Bogner et al. 2008). Die Stellungnahmen u. a. dieser Kommissionen spielen in den politischen Konflikten eine maßgebliche Rolle, weshalb in der sozialwissenschaftlichen Analyse politischer Regelungsprozesse von biomedizinischen Technologien der Rückgriff auf theoretische Ansätze nahe liegt, die einen engen Politik- wie Staatsbegriff zurückweisen und verschiedenste AkteurInnen in den Blick nehmen können, die auf die Ausgestaltung und Umsetzung der Regelungen bzw. Gesetze Einfluss haben.
3 Gouvernementalität – zur Regierungsrationalität biomedizinischer Technologien Innerhalb sozialwissenschaftlicher Zusammenhänge versucht dies das Foucault’sche Konzept der Gouvernementalität zu leisten. Dieses fokussiert gesellschaftliche Regierungsprozesse im weiten Sinne des Wortes und lässt eine verkürzende Staatszentrierung hinter sich: Gouvernementalität bezeichnet die spezifische Art und Weise des Regierens, eine Regierungsrationalität, deren Techniken innerhalb Foucaults Theoriearchitektur zwischen den strategischen Beziehungen von Macht/Widerstand und den Herrschaftszuständen angesiedelt ist (Foucault 2005b, S. 298). Mit diesem breiten Regierungsbegriff können Machtbeziehungen perspektivisch als Führungsverhältnisse untersucht werden. Regieren – Foucault greift hier auf die weite Bedeutung des 16. Jahrhunderts zurück (Foucault 2006a, S. 135 ff.) – benennt die strategische Strukturierung von Handlungsfeldern anderer. Als Form der Machtausübung nimmt Regierung in diesem Sinne Einfluss auf Handlungswahrscheinlichkeiten anderer Subjekte. Dieser Regierungsbegriff vermittelt zwischen Machtverhältnissen und Subjektivierungsmodi und
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erlaubt die Verknüpfung von Formen politischer Regierung mit Techniken des „Sich-selbst-Regierens“ (Foucault 2005c). Über den Begriff der Gouvernementalität rückt die politische Rationalität ins Blickfeld, wobei Gouvernementalität jenen staatlich vermittelten Machtkomplex aus Institutionen, Analysen, Strategien und Taktiken meint, welcher „als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ (Foucault 2006a, S. 162). In dieser Ausdehnung der Foucault’schen Machtanalytik um die Dimension der Regierung(stechnologien) (vgl. Lemke 2005) wird die Entwicklung von Staatlichkeit aber immer in Beziehung zu historischen Subjektivierungsmodi gesetzt, wobei die Regierungspraxis den Regierten weniger auferlegt wird, sondern eher als „eine Praxis, die die jeweilige Charakterisierung und Stellung der Regierten und der Regierenden zueinander festlegt“ (Foucault 2006b, S. 28), zu verstehen ist. Foucault spricht von einer historischen „,Gouvernementalisierung‘ des Staates“ (ders. 2006a, S. 163), im Zuge derer sich die Bevölkerung als Interventionsfeld von Regierungstechniken etabliert.7 Biopolitik bezeichnet dabei genau jene Konfiguration politischer Regierungsrationalität, die biologische Prozesse der Bevölkerung selbst bzw. deren „Leben“ adressiert. Diese seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene Regierungstechnologie ist eng mit dem Auftauchen liberaler Regierungsformen verknüpft (ders. 2006b) und stellt eine positive „Lebensmacht“ dar, „die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“ (ders. 1983, S. 132 f.). Das Leben der menschlichen Gattung selbst tritt in die Ordnung des Wissens und der Macht ein (ders. 1983).
4 Grundelemente soziologischer Praxistheorien Die in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften zu beobachtende Konjunktur von Praxistheorien – Schatzki et al. (2001) sprechen von einem „Practice turn“ – integriert Impulse verschiedenster theoretischer Stränge: Soziologische Theorien (Bourdieu 1976, Giddens 1988; vgl. Hillebrandt 2009) und sozialphilosophische Konzeptionen (Taylor 1985, Schatzki 2002) haben ebenso zu einem praxistheoretisch erneuerten Verständnis von Handlungen, sozialen AkteurInnen bzw. Subjekten beigetragen wie kulturwissenschaftliche Zugänge (Reckwitz 2000, Hörning/Reuter 2004), Arbeiten der ,Science and Technology Studies‘ (Pickering 1995, Rouse 1996) oder poststrukturalistische Ansätze (vgl. Moebius 2008). In verschiedenen akademischen Teildis-
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ziplinen lösen Referenzen auf den Praxisbegriff theoretische Konzepte wie Struktur, System, Handlung aber auch Bedeutung und Lebenswelt ab, womit – aus praxistheoretischer Sicht – Engführungen, die häufig in individualistischen, strukturalistischen, humanistischen wie systemtheoretischen Ansätzen angelegt seien, überwunden werden könnten, ohne aber die spezifischen Impulse der jeweiligen Paradigmen zu vernachlässigen: Sinnstrukturen, Wissensbestände, Diskurse, Handlungen, soziale Institutionen und Artefakte werden als Komponenten von Praxisfeldern aufgefasst und darüber praxistheoretisch reformuliert. Trotz spezifischer Einsätze lässt sich als gemeinsamer Nenner von Praxistheorien angeben: die Aufmerksamkeit für Körper und die über Praktiken konstituierte Körperlichkeit, die Zentralität geteilter Kenntnisse und Wissensbestände für Praktiken und die Verdeutlichung der wechselseitigen Verflechtung von humanen Aktivitäten und materiellen, bedeutungsvollen Objekten (Schatzki 2001). Ähnliche Merkmale gegenwärtiger Praxistheorien arbeitet Reckwitz (2003) mit der Materialität von Praktiken und deren impliziter, informeller Logik heraus: Soziale Praktiken – „verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ,Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ,inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ,verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“ (ebd., S. 289) – haben einerseits immerzu eine materielle Struktur, weil sie mit Körpern und Artefakten zwei materielle Instanzen umfassen, die eine Praxis erst ermöglichen. Diese Körperlichkeit und die Einschreibung von Artefakten als Teilelemente jeder Praxis könnten von diskurstheoretischen oder kulturalistischen Zugängen nicht adäquat erfasst werden. Andererseits betonen Praxistheorien, dass sich Handlungen weder auf rationale Entscheidungen (homo oeconomicus) noch auf soziale Normen (homo sociologicus) zurückführen lassen, sondern diese als Tätigkeiten in einem raum-zeitlichen Arrangement zu analysieren sind, in dem implizites Wissen, materielle Artefakte und Körper produktiv zusammengespannt werden. Praxis soll daher als wissensbasierte Tätigkeit begriffen werden, „als Aktivität, in der ein praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines ,know how‘ und eines praktischen Verstehens zum Einsatz kommt“ (ebd., S. 292). In der Analyse sozialer Praktiken gilt es dabei, das Wechselspiel von Routine und Unberechenbarkeit, d. h. die Offenheit für Neuarrangements von Praktiken und deren Strukturiertheit nicht gegeneinander auszuspielen. Ritualisierung und Performanz bilden zwei Seiten derselben ,Logik der Praxis‘ (Reckwitz 2003). Eben diese Eigenständigkeit einer ,Logik der Praxis‘ auch gegenüber einer objektivierenden, wissenschaftlichen ,Theorie der Praxis‘ steht im Zentrum
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von Bourdieus Praxistheorie (Bourdieu 1976, 1993, 2001b). Bourdieu ortet den theoretischen Fehler vieler ökonomischer wie ethnologischer Zugänge darin, dass diese den Eigentümlichkeiten des praktischen Sinns nicht gewahr werden (ders. 1993, S. 147 ff.): Sie würden ihre theoretische Sicht der Praxis (Modelle, Schemata) für das praktische Verhältnis zur Praxis ausgeben. Diese strukturelle Differenz zwischen dem praktischen Sinn und der wissenschaftlichen Befassung mit Praktiken sieht Bourdieu u. a. im unterschiedlichen Zeitbegriff angelegt: Rhythmus, Tempo und Richtung der Praxis sind für sie Sinn bildend, nicht nur weil Praxis sich in der Zeit abspielt, sondern weil sie strategisch mit der Zeit und dem Tempo spielt. Die praktisch involvierten AkteurInnen sind von einer Dringlichkeit erfasst. Sie schreiben augenblicklich, „d. h. unter Bedingungen, unter denen Distanzgewinnen, Zurücklehnen, Überschauen, Abwarten, Gelassenheit ausgeschlossen sind“ (ebd., S. 150), Zukünftiges spielerisch in ihre Gegenwart ein. Diese ,praktische Logik‘ beruht auf einer Ökonomie der Einsparung, opfert Exaktheit der Einfachheit und ist um eine praktische Schlüssigkeit herum organisiert, für die Unregelmäßigkeit und Verschwommenheit genauso notwendig sind wie Regelmäßigkeit sowie leichte Handhabung und Bequemlichkeit. Darüber hinaus wird nie mehr Logik angewendet, als für die Praxis unbedingt nötig ist. Dieser praktische Sinn ist unmittelbar habituell in die Körper eingeschrieben und in seiner „Wahl“ von Objekten und Handlungen getrieben von dem, ,worum es gerade geht‘. Er lässt sich dabei von einer praktischen und stillschweigenden Relevanz leiten (Bourdieu 1993). Um annähernd die Praxis und deren Eigenschaften erklären zu können, muss wissenschaftliche Praxis den ihr eigenen Zeitbegriff und die Effekte ihrer totalisierenden Tätigkeit kennen. Das wissenschaftliche Privileg ,neutralisiert‘ die praktischen Funktionen. Durch diese beobachtende Analyseposition sucht Wissenschaft Antworten auf Fragen, die sich innerhalb der Praxis erst gar nicht stellen können. Diese analytische Entzifferung ist den praktisch involvierten AkteurInnen per se nicht möglich. Werden diese Effekte wissenschaftlicher Theoretisierung von Praktiken mit bedacht, treten im Umkehrschluss die erwähnten Eigenschaften einer Logik der Praxis hervor, die sich per Definition einer theoretischen Erfassung entziehen: „Man muss der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als diese zu bieten hat.“ (ebd., S. 157) (Bourdieu 1993). In der Praxis wenden sich die inkorporierten Dispositionen des Habitus als praktischer Sinn an. Die praktisch Tätigen können den „modus operandi zur Erzeugung der richtigen rituellen Praxis nur dann hinreichend beherrschen (. . .), wenn sie ihn praktisch fungieren lassen, also in der Situation
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und bezogen auf praktische Funktionen.“ (ebd., S. 165) Nur in actu kommt die praktische Logik den Subjekten in den Sinn, außerhalb jeder Situation – im Leeren – kann sie nicht funktionieren. Die praktische Logik ist völlig gegenwärtig, in den praktischen Funktionen aufgehoben und schließt den Rekurs auf sich selbst aus. Sie trotzt der wissenschaftlichen Logik und kann auch nur dann erfasst werden, wenn man sich der Transformationseffekte bewusst ist, die mit der Praxis wissenschaftlicher Konstruktion und Totalisierung einhergehen (Bourdieu 1993). Abseits dieser hier mit Reckwitz und Bourdieu dargestellten Basisannahmen praxistheoretischer Ansätze ist die Reichweite des Praxisbegriffs bzw. dessen genaue Konzeptualisierung in den verschiedenen Praxistheorien verschieden angelegt (vgl. Wagenaar/Cook 2003, S. 143 ff.). Der Praxisbegriff dient seinen ProponentInnen vielfach als Fluchtlinie aus einem als unbefriedigend empfundenen theoretischen Rahmen: Er vermeide Sackgassen methodologisch-individualistischer, strukturalischer wie kulturalistischer Theorien. Praxistheorien betonen die Kontextualität von Praktiken, deren Einbettung in Interaktionen und alltägliche Wissensbestände (Wagenaar 2004), die Verknüpfung mit kollektiven Lern- und Identitätsprozessen (Wenger 1998) oder integrieren Handlungs-, Wissens- und Diskurskonzepte sowie Emotionalität und Normen in ihr jeweiliges Praxiskonzept (Wagenaar/Cook 2003). Zu vielfältig sind diese Ansätze, als dass sich eine sozialwissenschaftliche Praxistheorie bestimmen ließe. In Überwindung individualistischer wie holistischer Methodologien vermeiden aber alle ein zu hohes Abstraktionsniveau, „indem theoretische Aussagen mit Hilfe des Praxisbegriffs auf die praktischen Bedingungen der Sozialität und des Lebens der sozialen Akteure bezogen werden.“ (Hillebrandt 2009, S. 370)
5 Konzeptionen politischer Praxis Die analytische Hinwendung zu den politischen Praktiken selbst, also dem, was PolitikerInnen, BeamtInnen und andere AkteurInnen im Rahmen politischer Prozesse „tatsächlich tun“, versucht einer rationalisierenden, schematisierten wie auch behavioristischen Politikkonzeption entgegenzuwirken und demgegenüber der Komplexität, Variabilität und Ergebnisoffenheit politischer Praktiken gerechter zu werden. Politische Mechanismen, Regeln, Normen wie staatliche Machtstrukturen werden nicht einfach vorausgesetzt. Diese werden vielmehr aus den Praxisarrangements selbst entwickelt bzw. darüber reartikuliert, womit nicht nur die alltäglichen Koordinationsund Improvisationsleistungen der AkteurInnen in den Blick rücken, sondern
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man auch den verschiedenen Bedeutungen eher gerecht werden kann, die diese politischen Regeln wie Strukturen in den Praktiken selbst annehmen können (vgl. Biegelbauer/Grießler 2009). Der Begriff der politischen Praxis soll dabei ein mikroanalytisches Gegengewicht zur politikwissenschaftlichen Institutionenzentrierung bilden, wodurch die Prozesshaftigkeit von Politik eher erfasst werden kann (Pritzlaff/Nullmeier 2009). In der definitorischen Abgrenzung politischer von anderen sozialen Praktiken werden vielfach systemtheoretische Annahmen praxistheoretisch adaptiert: Politisch seien z. B. Praktiken, die auf die „Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Regelungen abzielen“ (Biegelbauer/Grießler 2009, S. 63; vgl. Luhmann 2000), womit besonders die Praktiken im Rahmen der Entwicklung, Diskussion und Verabschiedung von Gesetzen fokussiert werden, oder „Zusammenhänge von körperlichem Verhalten, Bewegungen und Sprechen [. . .], die eine Einheit bilden und auf die Herstellung politischer Verbindlichkeit ausgerichtet sind“ (Pritzlaff/Nullmeier 2009, S. 12). Diese Ansätze fassen nun nicht mehr nur den unmittelbaren Akt des Entscheidens bzw. die Verabschiedung einer Regelung als politisch, sondern auch die vor- wie nachbereitenden Praxisarrangements im Rahmen der verbindlichen Regelung kollektiver Einheiten. Politisch seien Praktiken, wenn sie auf Regelungen, Kollektive (z. B. Nationalstaaten), Konflikte (Umstrittenheit von Entscheidungen) und Verbindlichkeiten (zwangsbewehrter Sicherung im Rahmen staatlicher Gewaltsamkeit) Bezug nehmen. Politische Praktiken beteiligen in einem komplexen Interaktionsgefüge dabei immer mehrere AkteurInnen (Pritzlaff/Nullmeier 2009). Ein solches Verständnis von politischer Praxis kann als Ausgangspunkt für qualitative Sozialforschung genommen werden, wodurch – basierend auf ethnomethodologischen, interpretativen Einsichten – scheinbare Selbstverständlichkeiten politischer Prozesse problematisiert und analytisch zugänglich gemacht werden, die aus einem rationalistischen, institutionellen oder systemtheoretischen Zugang heraus oftmals ausgeblendet werden.8
6 Definition politischer Praxis: Verortung, Abgrenzung und interne Differenzierung Ohne die Variabilität und Performanz politischer Praktiken auf mikropolitischer Ebene in Abrede zu stellen (vgl. Nullmeier et al. 2003), kann deren adäquate Charakterisierung nicht ohne den Verweis auf ihre Einbettung in strukturierte, politische Prozesse und damit auch Staatlichkeit auskommen. Die theoretische Integration von Bourdieus Konzept des politischen Feldes
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(Bourdieu 2001a), in welchem politische Konstellationen um die Durchsetzung ihrer Programmatiken über staatlich-bürokratische Institutionen strategisch kämpfen, verhindert damit eine „Atomisierung“ einzelner politischer Praktiken, in welche z. B. ethnografische Analysen von Mikropolitiken Gefahr zu laufen drohen. Bourdieus Theoreme zur politischen Soziologie (1998, 2001a, 2001b) helfen, die zentrale Stellung staatlicher Institutionen innerhalb gesellschaftlicher Regierungsprozesse und die politischen Kämpfe darum hervorzuheben.
6.1 Verortung politischer Praktiken – politisches Feld und Staatlichkeit Bourdieu geht von einem realistischen Politikbegriff aus, der Politik an Macht- und Herrschaftsausübung und die darum stattfindenden Kämpfe koppelt, womit die staatlichen Institutionen und die politischen Bezüge darauf betont werden. In seiner historischen Genese habe der Staat nicht nur den legitimen Gebrauch physischer Gewalt innerhalb eines Territoriums über dessen Bevölkerung monopolisiert. Ebenso vereine er in seinen Apparaten symbolische Gewaltausübung, weil der Staat sich nicht nur in den objektivierten Strukturen und Mechanismen verkörpert, sondern auch die Denk- und Wahrnehmungsschemata produziert und durchsetzt (Bildungssystem), welche die AkteurInnen spontan auf ihre Welt und damit auch den Staat anwenden. Staatliche Institutionen sind in der Lage, ähnliche Erkenntnis- und Bewertungsstrukturen sowie Klassifizierungsprinzipien (Schichtung, Geschlecht, Ethnizität) durchzusetzen, womit der Staat an der (Re)Produktion der Instrumente zur Konstruktion sozialer Realität maßgeblichen Anteil hat. Das symbolische Kapital des Staates bestehe darin, dass er von den AkteurInnen wahrgenommen, anerkannt und respektiert wird. Darüber hinaus sind die staatlichen Institutionen historisches Ergebnis eines Prozesses der Konzentration verschiedener Kapitalsorten: juristisches, ökonomisches, symbolisches Kapital; Kapital physischer Gewalt; Konzentration eines symbolischen Anerkennungs- und Legitimitätskapitals. Der Staat stellt sich auf den Standpunkt des Ganzen, konzentriert die Information und vereinheitlicht einen kulturellen Markt (Bourdieu 1998). Diese Konstituierung des staatlichen Monopols ist dabei nicht zu trennen vom Entstehen eines „politischen Feldes“ (Bourdieu 2001a), auf dem um die Verfügungsmacht über die mit dem staatlichen Monopol verbundenen Vorteile und Ressourcen gerungen wird (Bourdieu 1998). Die politischen Kämpfe um die legitime Sicht und Vorstellung des sozialen Raumes zielen auf die Durchsetzung von Prinzipien der Sichtung und Ordnung ab, wobei politische Praxis versucht, diese Wahrnehmungs- bzw. Ordnungskriterien
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zu verändern oder zu konservieren. Der Staat ist dabei Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen um diese symbolische Macht (Bourdieu 2001b). Die Kämpfe der politischen AkteurInnen finden daher auf zweierlei Ebenen statt: Einerseits geht es um die erwähnte Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt mittels Durchsetzung von Sicht- wie Teilungsprinzipien, d. h. um Veränderung oder Behauptung der symbolischen Klassifizierungssysteme. Andererseits – und damit eng verknüpft – ringen die politischen AkteurInnen um die objektivierten Machtinstrumente (Staatsapparate, Institutionen), die diese Teilungen verkörpern, durchsetzen und legitimieren. Es geht um die Macht der öffentlichen Gewalten, der Regierungsmacht im engen Sinne (Bourdieu 2001a). Die Struktur und Eigentümlichkeit des politischen Feldes in dessen Koppelung an staatliche Institutionen helfen, die Differenz politischer gegenüber anderen sozialen Praktiken zu markieren, wobei die skizzierten Charakteristika einer ,Logik‘ sozialer Praxis (Abschnitt 4) sich in ein Verständnis von politischer Praxis integrieren lassen: 1) Politische AkteurInnen bzw. Akteurskonstellationen finden sich im agonalen, politischen Feld in steten Auseinandersetzungen über die Installierung bzw. hegemoniale Absicherung ihrer partikularen Interessen wie Vorstellungen wieder (vgl. Mouffe 2007). Ihre Praktiken sind daher strategischer Natur. Das politische Feld konstituiert sich als relativ autonome Instanz von Gesellschaft, die gekoppelt an staatliche Institutionen wie auch deren Funktionen ist und spezifische Arenen bzw. politische Subfelder ausformt. 2) Die Zentralisation spezifischer Kapitalsorten in den Händen staatlicher Institutionen und die staatliche Monopolisierung physischer wie symbolischer Gewaltsamkeit etablieren ein gesellschaftliches Herrschaftszentrum, dessen Regierung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse wesentlich über kollektiv bindende Regelungen vonstatten geht. Politische Praktiken sind daher innerhalb wie um dieses „Zentrum“ angeordnet. Die Analyse der politischen Praktiken der Formulierung, der Durch- wie Umsetzung von spezifischen Gesetzen ist deshalb prädestiniert zur Analyse jeweils aktueller politischer Machtkonstellationen. 3) Der stete Bezug des politischen Feldes auf Staatlichkeit bzw. auf die mit den staatlichen Institutionen und Apparaten einhergehenden materiellen wie symbolischen Ressourcen kann als weiteres Strukturmerkmal politischer Praktiken betrachtet werden. Die Durch- wie Umsetzung und/oder Verhinderung einzelner policies mittels staatlich-bürokratischer Prozesse bildet das Ziel politischer Praktiken. Politische Regierungsprozesse bearbeiten somit gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und legen den Rahmen möglicher sozialer Praktiken weitgehend fest.
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4) Als politische AkteurInnen können daher z. B. im Bereich der politischen Regierung biomedizinischer Technologien neben den traditionellen AkteurInnen (z. B. Parteien, Ministerien, Interessensvertretungen) auch Vereine, Kommissionen, „ExpertInnen“ aber auch Medien gelten, insofern sie auf den Inhalt wie auf die Art und Weise der Durchsetzung und des Zustandekommens von Regierungsweisen Einfluss haben. Diese politischen AkteurInnen von den Praxisarrangements her zu begreifen, bestreitet nun nicht deren zentrale Position z. B. in der Ausbildung eines relationalen Referenzrahmens innerhalb des politischen Feldes. Ein praxistheoretischer Zugang nimmt diese AkteurInnen jedoch nicht für gegeben, sondern versucht über seine Aufmerksamkeit für mikropolitische Prozesse deren (symbolische) Reproduktion wie Transformation über Praktiken in den Blick zu bekommen.
6.2 Sequenzielle Elemente politischer Regierungsprozesse – zur Definition politischer Praktiken Zur Abgrenzung politischer von unpolitischen Praktiken bedarf es zusätzlich zu einem theoretischen Begriff von sozialer Praxis einer Konzeption von Politik, welche deren Ort und Funktion innerhalb sowie gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen expliziert. Indem politische Praktiken in der Folge als sequenzielle Elemente von politischen Regierungsprozessen entwickelt werden, die im politischen Feld und über dessen Bezug auf die staatlichen Institutionen auch darin prozessieren, wird verhindert, dass jede soziale Praxis per se als politisch aufgefasst wird. Auch wenn jede soziale Praxis als Teil, Element und auch Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse in der Nachfolge von Foucaults weitem Machtbegriff bestimmt werden kann (vgl. Foucault 1983, 2005a), so wird Politik in diesem Beitrag doch nicht mit Macht identifiziert. Zwar kann alles Soziale, können alle sozialen Praktiken wie Verhältnisse, Gegenstände oder Ziele politischer Regierungsprozesse sein, doch zeichnet es gerade politische gegenüber anderen sozialen Praktiken aus, dass sie – als Elemente eben jener Regierungsprozesse – gesellschaftliche Verhältnisse bzw. kollektive Einheiten mittels staatlicher Institutionen regeln bzw. regieren: Als Teil von Gesellschaft besteht die Eigentümlichkeit von Politik gerade in der staatlich vermittelten Regierung eben dieser Gesellschaft.9 Soll politische Praxis nun als sequenzielles Element dieser politischen Regierungsprozesse gefasst werden, gilt es daher nicht nur jene Praktiken, die das politische Feld reproduzieren wie transformieren, als politisch zu defi-
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nieren, sondern auch jene Praktiken, welche die staatlichen Institutionen wie Apparate mitkonstituieren und damit für die Umsetzung und gesamtgesellschaftliche Installierung spezifischer politischer Interessen, Programmatiken bzw. policies verantwortlich sind. Diese beiden Ebenen politischer Praxis beschreiben sich selbst traditionell als klar voneinander geschieden, wobei der staatlich-bürokratischen Verwaltung meist das Attribut der Neutralität zugeschrieben wird, während es der parteiförmig organisierten ,Politik‘ überlassen bleibt, inhaltliche wie programmatische Impulse zu liefern. Obwohl die strukturellen Unterschiede beider Praxisebenen nicht zu vernachlässigen sind (vgl. Abschnitt 7), scheint trotzdem die Annahme einer wechselseitigen Durchdringung realistischer zu sein. Als zwei Ebenen politischer Regierungsprozesse sind beide aufeinander angewiesen. Eben diese Prozesse bilden somit die analytische Klammer, innerhalb derer beide Praxisebenen als von politischen Praktiken und Prozessen konstituiert aufgefasst werden. Während bei Bourdieu zwar der Bezug des politischen Feldes auf staatliche Institutionen zentral ist, beide Bereiche aber doch separat voneinander analysiert werden, fasst dieser Beitrag als politisch sowohl jene administrativ-bürokratischen Praktiken, die wesentlich staatliche Apparate konstituieren, als auch jene ,genuin‘ politischen Praktiken, die innerhalb des politischen Feldes in Auseinandersetzungen über das Regieren gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verstrickt sind. Ein weiter Regierungsbegriff verknüpft somit den Bereich der Umsetzung politischer Regierungsprogramme mit dem Bereich ihrer Konzeptionalisierung und Durchsetzung. Politische Praxis bildet darin jeweils die kleinste, raum-zeitlich abgrenzbare Sequenz dieser Regierungsprozesse. Sie tritt meist ,gebündelt‘ zu politischen Prozessen auf, die in sich strukturiert, weiträumiger sowie vielfach formalisierter sind.10
6.3 Differenzierung politischer Praktiken Die Formen wie Inhalte einer politischen Praxissequenz können nicht aus politischen Strukturen abgeleitet werden, weshalb jede politische Praxis eine performative Dimension hat: Praxis beinhaltet die Möglichkeit ihrer eigenen Rekonfiguration ebenso wie die Veränderung der sie ermöglichenden Bedingungen. Nichtsdestotrotz reproduzieren politische Praktiken in ritualisierter Weise weitgehend sich selbst sowie ihre Bedingungen (politische Strukturen, Akteurskonstellationen, Relationalität des politischen Feldes, ministeriale Abläufe und Zuständigkeiten, politische Sinn- und Praxiswelten) – ohne die Eventualität politischer Ereignisse völlig ausschließen zu
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können, die mit ebendiesen Bedingungen brechen. Soll diese Definition politischer Praxis für empirische Analysen gegenwärtiger politischer Regierungsweisen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse adaptiert werden, so bietet sich die Entwicklung einer mehrdimensionalen Matrix an, an Hand derer sich die Formen einzelner politischer Praktiken differenzieren wie einordnen lassen: 1) Reichweite: Politische Praktiken unterscheiden sich in ihrer personellen, räumlichen wie auch zeitlichen Reichweite. Sie involvieren eine verschiedene Anzahl von Individuen und arrangieren diese als politische AkteurInnen in einem Setting, das eine spezifische Zeit, ein spezifisches Tempo und eine unterschiedliche räumliche Ausdehnung für sich in Anspruch nimmt. 2) Öffentlichkeit: Politische Praktiken können entlang ihres Grades an Öffentlichkeit unterschieden werden. Ministerielle Praktiken finden z. B. unter Ausschluss von Öffentlichkeit statt, während sich Auseinandersetzungen im politischen Feld wiederum gerade über Öffentlichkeiten und die Mobilisierung ebendieser formieren und darstellen. 3) Materialität: Schließlich können politische Praktiken nach der Anwesenheit von Körpern und materiellen Artefakten aufgeschlüsselt werden. Welche Techniken, Artefakte, Körper und Architekturen sind relevant und welche Bedeutung haben diese für die Praktiken? 4) Formalisierungsgrad: Auch wenn politische Praktiken häufig informell sind, lassen sie sich doch nach dem Grad ihrer Formalisierung einteilen. Von manchen Praktiken existieren schriftlich festgehaltene Vorschriften der Vorgehensweise. Diese formalen Regeln und Normen dürfen nun nicht mit den Praktiken identifiziert werden. Vielmehr spielt eine Praxissequenz entlang ihres praktischen Sinns mit diesen Normen und Regeln und schreibt diese je nach Situation in sich ein. Indem das politische Feld an Staatlichkeit gekoppelt ist und sich staatliche Institutionen über gesetzliche Regelungen organisieren, können politische Praktiken ebenso danach unterschieden werden, in wie weit darin Bezüge auf Gesetze – z. B. als verfassungsgemäße Regelung ministerieller Abläufe oder als Ziel politischer Strategien (z. B. neues Gesetz) – präsent sind und welche Funktion diese Gesetze praktisch einnehmen. 5) Ritualisierung/Transformation/Ereignis: Politische Praktiken reproduzieren und/oder transformieren die sie ermöglichenden politischen Strukturen sowohl im politischen Feld als auch innerhalb staatlicher Institutionen und Apparate. Sie lassen sich daher auf einer Achse zwischen den Polen der Ritualisierung und der Transformation einordnen, während die Eigenschaft politischer Ereignisse darin besteht, dass diese über transformatorische Pro-
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zesse hinaus mit den politischen Strukturen brechen und damit Räume für neue Praktiken öffnen. 6) Akteurskonstellationen: Politische Praktiken und Prozesse arrangieren die darin involvierten AkteurInnen in ein reziprokes Verhältnis, worüber die AkteurInnen immer auch ihr Identitäts- wie Selbstverständnis ausformen. Entlang dieser Anordnung der relationalen AkteurInnenstruktur in den Praxisarrangements können politische Praktiken daher ebenso eingeteilt werden. 7) Agonalität: Das politische Feld wurde als Terrain von strategischen Konflikten darüber herausgestellt, wie gesellschaftliche Verhältnisse staatlich vermittelt regiert werden (sollen). Der Grad dieser hegemonialen Auseinandersetzungen und die Art und Weise, wie diese in der Praxis selbst anwesend sind, bilden eine weitere Achse für die analytische Differenzierung politischer Praktiken.
7 Politische Praktiken in Ministerium und Nationalrat: Empirische Analyse von Gesetzgebungsprozessen im biomedizinischen Feld Bevor im Folgenden in drei biomedizinischen Fallstudien auf politische Praktiken in Ministerium und Nationalrat eingegangen wird, soll zunächst ein zentrales Charakteristikum der Regelungsmaterie erläutert werden, das sie von anderen Politikfeldern in ihrer spezifischen politischen Sensibilität unterscheidet (vgl. Grießler 2010) Die zu politischen Maßnahmen im Bereich der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (HES) und Präimplantationsdiagnostik (PID) befragten PolitikerInnen waren sich einig, dass diese Themen heikel waren, weil sie „mit unserem gesamten Weltbild zusammen häng(en)“ und eine „große ethische Frage“ darstellen (2: 78–83). Sie seien „hochpolitisch“ und würden sich dadurch von alltäglichen politischen Entscheidungen unterscheiden (2: 158–161). Die Forschung an HES sei sensibel, weil sie mit „Werteeinstellung(en)“, dem Problem „Wann fängt das Leben wirklich an“, mit „religiösen Fragen“ (3: 22–28) zu tun habe. Diese Besonderheit der Diskussion um biomedizinische Themen wurde von einem Beamten auch kritisiert. Er ortete eine „Gefühlspolitik“ (4: 353), die damit argumentiere, dass in „einen Bereich des Menschen“ eingegriffen werde, „der eigentlich tabu sein sollte“. Gefordert würde dabei eine Begrenzung für Forschung, die jedoch unmöglich sei, da sie dem zentralen Mechanismus von Wissenschaft widerspräche, Neues zu erforschen (4: 352–367).
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Im Gegensatz zu den beiden anderen Fällen war die Diskussion um eine gesetzliche Regelung der Genanalyse am Menschen im Gentechnikgesetz (GTG) 1994 wenig kontrovers (7: 75–80; 317, 8: 57–66), womit sie zu jener großen Gruppe biomedizinischer Themen gehört, die in der österreichischen Öffentlichkeit kaum debattiert wurden (vgl. Grießler 2006).
7.1 Ministerium Innerhalb eines Ministeriums besteht eine Arbeitsteilung zwischen BeamtInnen und politischer Führung, die ersteren detaillierte Vorarbeiten, letzteren „politische Entscheidungen“ zuordnet. Dies ist durch unterschiedliche politische Kompetenzen und fachliche Qualifikationen begründet, denn MinisterInnen sind nicht in der Lage, die vorgelagerte Arbeit von BeamtInnen selbst zu leisten, da ihnen dazu „das Fachwissen (fehlt)“ (2: 279). Darüber hinaus haben sie „nicht Zeit genug, sich wirklich mit allen Positionen“ zu befassen (1: 224–226). Sie sehen es als ihre wichtige Aufgabe an, politisch zu entscheiden.
7.1.1 MinisterInnen 7.1.1.1 „Politisch entscheiden“ In den Fällen PID und HES zogen die MinisterInnen die Entscheidung über die politische Maßnahme wegen deren politischer Sensibilität an sich. Eine Ministerin bezeichnete dies als „politische Entscheidung“ (2: 16) oder „politische Verantwortung“ (ebd. 85–86), die BeamtInnen nicht überlassen werden könne (ebd. 23). Politische Entscheidung stellt sich als Befugnis zur subjektiven Bewertung und Entscheidung eines Problems dar, das mit dem demokratischen Amt der MinisterInnenschaft legitimiert ist. Die Frage um die Zulassung der PID war damit keine technische Frage im Sinne von „Wie schreibe ich es in das Gesetz rein?“, sondern „eine ethische Frage und (. . .) hoch politische Frage“, die der Ministerin „keiner abnehmen“ könne (ebd. 142–148). Die Praktik des politischen Entscheidens heißt nicht unbedingt, eine inhaltliche politische Maßnahme festzulegen, sondern sie kann auch bedeuten, eine Entscheidung auf „die lange Bank“ zu schieben (4: 619). Dies wird in Österreich insbesondere in heiklen Bereichen der Biomedizin häufig getan (1: 308–314, Grießler 2010).
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7.1.1.2 „Sich informieren“ Um entscheiden zu können, müssen MinisterInnen sich informieren (3: 21–22) und dazu verschiedene Quellen nutzen. Dabei wird zwischen inhaltlichem und strategischem Informieren unterschieden, wobei ersteres z. B. juristische, natur- und sozialwissenschaftliche sowie philosophische und theologische Inhalte umfassen kann, letzteres Durchsetzungsmöglichkeiten einer politischen Maßnahme innerhalb des politischen Feldes bzw. deren Auswirkungen in den Blick nimmt. Eine zentrale Informationsquelle sind BeamtInnen. Eine Ministerin erwähnte, dass es „immer einen ganz intensiven Austausch gegeben (mit dem Haus) hat“ (2: 181–182). Sie wurde bei wesentlichen Fragen, die einer „politischen Entscheidung bedurfte(n)“, informiert. Immer wieder gab es mit Sektionen Besprechungen über anstehende Legislativvorhaben (2: 14–20). Die Nutzung von BeamtInnen als Informationsquelle ist mit der Organisation des Ministeriums sowie der sich daraus ergebenden Möglichkeit fortschreitender Spezialisierung verbunden. Ein Ministerium ist nach Aufgabenbereichen gegliedert, die von SachbearbeiterInnen behandelt werden (2: 41–44). In ihrer jahrelangen Befassung mit derselben Thematik sammeln sie Erfahrung und Wissen und werden damit „mit der Materie am besten vertraut“. Sie versuchen Kontinuität zu erhalten, beobachten internationale Entwicklungen und achten darauf, dass diese berücksichtigt werden (7: 587–591). Dies gilt insbesondere für langgediente MitarbeiterInnen, die zum Gedächtnis eines Politikfeldes werden (2: 177–184). Die Information durch BeamtInnen ist für MinisterInnen unter Umständen aber problematisch, denn nicht immer würden diese berichten, was wichtig wäre, insbesondere wenn es sich um komplexe und umfangreiche Materien handle (3: 126–132). BeamtInnen kritisieren anderseits, dass PolitikerInnen ihre Berichte nicht immer ausreichend würdigen, weil sie „in Österreich auf den Punkt (sozialisiert sind): ,Die Endentscheidung treffen wir‘“ (4: 330–332). Ministeriumsexterne ExpertInnen sind weitere Informationsquellen, wobei zwischen institutionalisierter und nicht institutionalisierter Einbindung unterschieden werden kann. Ersteres stellen etwa Kommissionen wie die Österreichische Bioethikkommission dar. Das Wissenschaftsministerium wandte sich an diese Kommission mit der Anfrage um eine Stellungnahme zur Forschung an HES (3: 7–13). Daneben wurden in den Interviews auch nicht institutionalisierte Formen der Information durch ExpertInnen erwähnt, etwa zufällige Zusammentreffen am Rande gesellschaftlicher Ereignisse (3: 221–225).
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Eine weitere wichtige Informationsquelle sind Parteifreunde. Eine Ministerin berichtete, dass ein Ministerkollege ihrer Partei gegen eine politische Maßnahme eingestellt war und auch Kontakte zu NGOs herstellte. Die Einschätzung des Parteifreundes habe sie beeinflusst (2: 104–107). Für eine andere Ministerin war die Meinung ihres parlamentarischen Bereichssprechers ausschlaggebend (1: 223–231). Auch Betroffene können Informationen zur Entscheidungsfindung beitragen. Für eine Ministerin war die Konfrontation mit Betroffenen entscheidend. In einer „durchaus emotional geführt(en)“ Sitzung waren „nicht nur Vertreter, sondern (. . .) viele Menschen mit Behinderungen dabei (. . .) und es hat mich persönlich auch sehr berührt. (. . .) Es war ein (. . .) Eckstein meiner Entscheidungsfindung“ (2: 134–140). Eine Ministerin sprach eine andere Form des sich Informierens an, bei der es um strategische Fragen geht, d. h. um Umsetzungschancen einer politischen Maßnahme. Dabei geht es um Probleme wie: „Wie Mechanismen funktionieren, auf was Sie alles achten müssen, wer die Promoter eines Gesetzes sind, welche Motivation dahinter steckt, wer die natürlichen Feinde dieses Gesetzes sein müssen, weil sie in ihren Rechten oder in ihren Annehmlichkeiten oder in irgendeiner Form beschnitten werden. Wer die nicht natürlichen, aber eitlen Feinde eines Gesetzes sind, weil sie sich auf den Schlips getreten fühlen oder sonst was. Und dann müssen Sie überlegen, wie Sie da durchkommen und wie Sie einen Kompromiss aus all diesen Interessensgegensätzen zusammenbringen können, bei dem möglichst eine Gewinnsituation für alle besteht. Was Sie den Gegnern anbieten können“ (1: 139–146).
7.1.1.3 „Kämpfen“ Der Begriff der strategischen Information leitet in die Praxis der politischen Auseinandersetzung über. Diese bezieht sich auf die Agonalität des politischen Feldes, die in folgenden Formulierungen angesprochen wurde: „eine ganz heiße Diskussion“ (1: 44), „starkes Lobbying“ (ebd.), jemand sei „extrem gegen das in Position gegangen“ (1: 44–50) oder „Mordsaufregung in ganz Österreich“ (3: 69–76). Eine häufige Metapher ist Kampf (1: 17, 89, 222, 3: 159). Eine Ministerin zeichnet das Bild einer mutigen Kämpferin, die einen aussichtslosen Kampf ficht und für ein „Herzensthema“ (2: 220) „mit fliegenden Fahnen unter(geht)“ (ebd.: 114–220). Dazu stehen unterschiedlich starke Waffen zur Verfügung. Die stärkste ist „zuständig“ zu sein oder zumindest eine gemein-
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same Zuständigkeit zu haben (2: 45). Für die gesetzliche Regelung der PID waren zwei Ministerien zuständig, wobei das Gesundheitsministerium eine permissivere Position vertrat als das Justizministerium. Trotz formal gemeinsamer Zuständigkeit fühlte sich das Justizministerium zu wenig in die Gesetzgebung eingebunden, weshalb es einer Novellierung des GTG in diesem Punkt nicht zustimmte (2: 237–241). Die Möglichkeit eines Vetos besteht jedoch bei jedem Gesetz, denn im Ministerrat gilt Einstimmigkeit (Sickinger 2000). Eine Gesetzesvorlage wird daher „so lange auf Beamtenebene verhandelt mit den jeweiligen individuellen Rückkoppelungen zu den Ministern, bis es soweit klar ist, dass man im Ministerrat entweder ja oder nein sagt.“ (4: 51–56). Andere Ministerien nicht einzubeziehen kann ein Kommunikationsproblem aufgrund gesteigerten Zeitdrucks sein (9: 513–518), wird jedoch häufig auch als bewusste Strategie verwendet und interpretiert, um andere AkteurInnen zu überrumpeln (2: 59–74, Mock 1988, S. 142). Reichen Kompetenzen und Machtmittel nicht aus, ist es notwendig, sich zu verbünden, unter Umständen sogar mit politischen GegnerInnen. Beispiel dafür ist ein Gesetzesvorhaben einer Ministerin, das von ihrem Haus, der Partei und dem Koalitionspartner abgelehnt wurde. Um es durchzusetzen, versuchte sie die Öffentlichkeit über Massenmedien für ihr Anliegen zu mobilisieren sowie eine parteienübergreifende Allianz von Politikerinnen zu schaffen (2: 321–327). Eine schwierigere Strategie politische Maßnahmen durchzusetzen, ist der Versuch, politische GegnerInnen zu überzeugen. Dies fällt insbesondere dann schwer, wenn vollständige inhaltliche Übereinstimmung fehlt (1: 22–29).
7.1.2 BeamtInnen Der folgende Abschnitt ist der Frage gewidmet, welche politischen Praktiken BeamtInnen im Gesetzgebungsprozess anwenden.
7.1.2.1 Ein Gesetz machen Der „normale Prozess“ (8: 206) der Gesetzgebung ist im „federführenden“ (8: 25) Ministerium konzentriert. Federführung bezeichnet die zwischen Ministerien manchmal umkämpfte Eigentümerschaft über eine Gesetzesmaterie (1: 86–98), die sich im Zitat eines Abgeordneten verdeutlicht, ein Gesetz
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sei „in den Händen (. . .) des Gesundheitsministeriums“ (9: 22) gewesen. Das federführende Ministerium gibt den Prozess der Gesetzesentwicklung vor, steuert ihn von Anfang bis Ende. In der „übliche(n) Vorgangsweise“ (7: 281–294) lädt es andere, in ihrer Kompetenz betroffene Ministerien zu Verhandlungen ein. In weiterer Folge ist es bei komplexen Gesetzesmaterien üblich, „auch Fachleute“ (ebd.) einzubeziehen. Am Ende des Verhandlungsprozesses, im Vorbegutachtungsverfahren, geht der Gesetzesentwurf in Begutachtung. Dabei werden „offiziell alle Stellen, die eine Kompetenz, ein Interesse, ein Fachwissen dazu haben“ eingeladen zu dem vom Minister/der Ministerin abgesegneten Gesetzesentwurf noch einmal „Stellung (zu) nehmen“ (8: 503–505; vgl. Fischer 1972). Der Umfang der Begutachtung unterscheidet sich nach Gesetzesmaterie, es besteht jedoch ein fixer Kern an eingeladenen Institutionen wie Ministerien, Länder, Städtebund und Kirchen. Hinzu kommen auch WissenschaftlerInnen, die im entsprechenden „wissenschaftlichen Bereich arbeiten“ (ebd.: 509). Bei der Auswahl der eingeladenen Institutionen und Personen haben BeamtInnen gewissen Gestaltungsspielraum. Die eingetroffenen Stellungnahmen werden von BeamtInnen in den Entwurf eingearbeitet, wobei sie versuchen, „die einzelnen Themen oder Regelungen (. . .) zu bündeln, um zu schauen, in welche Richtung [es] geht“ (8: 499–504). Dabei wird in „das Gewünschte und das Machbare“ unterschieden (ebd.). Anschließend wird nochmals mit anderen Ministerien verhandelt, denn im Ministerrat muss Einstimmigkeit gegeben sein, damit ein Entwurf als Regierungsvorlage ins Parlament eingebracht werden kann. Dann „treffen sich die Minister oder auch eine Ebene drunter, die Sektionschefs, oder wer auch immer, mit oder ohne Legisten dabei, und versuchen noch einmal eine Einigung“ (ebd. 670–675). Der Umstand, dass es sich dabei um übliche Praxis handelt, zeigt sich darin, dass ein Beamter dies als „Teil (. . .) des Spiels“ (ebd.) bezeichnet. Nach dem Beschluss im Ministerrat wird der Entwurf als Regierungsvorlage ins Parlament eingebracht und dort im Normalfall wenig verändert (ebd. 197–209, Tálos/Kittel 2001, Pelinka 2008). Eine für den österreichischen Gesetzgebungsprozess unübliche Vorgangsweise bei der Entwicklung des GTG lag in der Absicht des Sektionschefs, den Prozess „sehr offen“ und „transparent“ zu gestalten und eine möglichst breite Gruppe Interessierter einzubinden. Entgegen der üblichen Praxis waren dies nicht nur „Fachleute, (. . .), Wissenschaftler, Professoren“, sondern auch VertreterInnen von Selbsthilfegruppen (7: 254–260). Die Verhandlungen zur Gesetzesentstehung sind manchmal langwierig und zeitintensiv, „Entscheidungen werden nicht (. . .) von einem Tag auf den anderen“, sondern in längeren Prozessen getroffen, „man gibt ein Steinchen
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auf das andere und das ist eine längere Entwicklung und am Schluss sagt man dann: ,Ja‘“ (ebd. 173–174). Durch die Dauer des Prozesses – die Entwicklung des GTG nahm „vier Jahre (. . .) mit Sitzungen ohne Ende“ in Anspruch (ebd. 220–222) –, die Vielzahl der Verhandlungsrunden und die Heterogenität der Interessen ist ein Gesetzesentwurf ständigen „Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen“ (ebd. 231) unterworfen. Es sind BeamtInnen, die diese Änderungen im Entwurf festhalten. Sie „justiere(n)“ den Gesetzestext „ständig“ nach, was von BeamtInnen angesichts der Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeit einzelner Regelungen hohe Konzentration, Erfahrung und Detailwissen erfordert. Im Gesetzgebungsprozess besteht eine Reihe von zum Teil parallelen Praxisarrangements. Verhandelt wird „in vielen Diskussionsrunden, (. . .) an allen möglichen Orten (. . .) auch außerhalb des Hauses“. Im Zentrum steht jedoch das federführende Ministerium, seine BeamtInnen ziehen die „Ergebnisse verschiedenster Foren“ zusammen (8: 288–291). Für BeamtInnen zeigt sich der Gesetzgebungsprozess als unwägbar und chaotisch, wobei Gesetzesmaterien sich im Grad an Unsicherheit unterscheiden. Die Gesetzesmaterie des GTG war besonders schwierig, denn sie war nicht nur neu, sondern auch „ständig in Wandlung, (. . .) sehr heterogen, (. . .) sehr umstritten“ (ebd. 138–140). Bei weniger umstrittenen Materien sei die Unsicherheit geringer (ebd. 522). Die Unwägbarkeit des Prozesses ist nicht nur im Thema begründet, sondern auch im in Österreich „üblich(en)“ weitgehend unstrukturierten Gesetzgebungsprozess (ebd. 513–533). Dieser stellt sich als „ein permanenter, nicht besonders strukturierter Annäherungsversuch“ (ebd. 503–504) an ein Ergebnis dar, der erst mit dem Ministerrats- bzw. Parlamentsbeschluss endet. Die österreichische Politik ist dabei – im Unterschied zu EU-Entscheidungsprozessen – von einer Freiheit des Ablaufs gekennzeichnet, „der selbst eine Politik (ist)“ (4: 181–184). Die inhaltliche Offenheit ergibt sich auch aus manchmal fehlenden exakten politischen Vorgaben. Regierungsprogramme enthielten häufig unklare Absichten, Details müssten erst im „nicht vorstrukturiert(en)“ Gesetzgebungsprozess gefunden werden (8: 148). Ausgehend von einer „große(n) und weit gefasste(n) Vorgabe“ sei es Aufgabe des federführenden Ministeriums, die „Interessen der Leute“ zu identifizieren und „fachliche oder politische“ Kräfte zu Verhandlungen einzuladen. Dieser Prozess bewege sich „langsam und mit vielen Fransen in allen Richtungen auf das Endziel“ hin (ebd.: 153), an dessen Endpunkt ein Entwurf stehe, der „im Parlament durchgehen könnte“. Dies ist in der Regel der Fall, allerdings gibt es auch Beispiele, in denen im Parlament noch deutliche Änderungen durchgeführt werden.
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7.1.3 Zum Verhältnis zwischen MinisterInnen und BeamtInnen Eine für ein Ministerium gebräuchliche Metapher ist die des Hauses (2: 14), das nicht das gesamte Ressort bezeichnet, sondern in einem Fall die in einem Wiener Innenstadtpalais beheimatete „Zentralstelle“. Das Haus sind die „Menschen, die in diesem Gebäude arbeiten“ (2: 350–351) und umfasst MinisterInnen, deren Kabinette und BeamtInnen. Die Beziehungen zwischen den Beschäftigten des Hauses drücken sich in einer ungeschriebenen „Hausphilosophie“ (2: 357) aus. Ein Aspekt der Hausphilosophie dieses Ministeriums besteht darin, „dass das Haus nicht ohne Kopf sein kann und dass das Haus nicht zulässt, dass der Kopf dumm dasteht“ (ebd.: 358–359). Die Hausphilosophie drückt damit aus, dass MinisterInnen das Haus führen sollen, d. h. „zuhören können“, „Entscheidungen treffen“ und eine Linie vorgeben müssen (ebd.: 366). BeamtInnen verhalten sich im Gegenzug in gewissem Ausmaß loyal. Dies ist nicht trivial, denn es gäbe auch Ministerien, die „den eigenen Chef ausrutschen lassen“ (ebd.: 360–361). Die Hausphilosophie bezeichnet eine Ambivalenz in den Beziehungen zwischen MinisterInnen und BeamtInnen, die von hierarchischer Führung bei gleichzeitiger Abhängigkeit von Fachwissen, Personal-, Zeitressourcen sowie von den Netzwerken von BeamtInnen gekennzeichnet ist (2: 16, 274–289). Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Einfluss von MinisterInnen und BeamtInnen auf politische Regierungsmaßnahmen. 7.1.3.1 Hierarchie und Eigeninitiative Eine Ministerin spricht unterschiedliche Modelle der Zusammenarbeit von MinisterInnen und BeamtInnen im Gesetzgebungsprozess an. Gesetzwerdung geschieht entweder „aufgrund eines Auftrages“ oder auf Basis einer Initiative von BeamtInnen (1: 118–122). Im ersten Fall handelt es sich um ein hierarchisches Verhältnis, in dem BeamtInnen den „politischen Auftrag“ (7: 206) erhalten, ein Gesetz auszuarbeiten. In die vorangehenden informellen, „wirklich politische(n) Gespräche“ sind SpitzenbeamtInnen eingebunden (ebd.: 206–213). Im zweiten Fall nimmt die BeamtInnenschaft eine aktivere Rolle ein. Sie informiert, wird „von sich aus tätig und macht Vorschläge, (. . .) wird (. . .) politikvorbereitend tätig“ (5: 317–323). BeamtInnen haben daher durchaus Möglichkeiten, Themen zu steuern und ihr Erfolg ist umso wahrscheinlicher, je mehr die vorgeschlagenen Themen PolitikerInnen Chancen zur politischen Profilierung bieten (2: 295–303). Mit der aktiven Rolle von BeamtInnen macht das hierarchische Verhältnis Metaphern von „Einheit“ (7: 562), „Zusammenwirken“ (5: 323), „Abstim-
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mung“ und „Wechselwirkung“ (7: 593) Platz. In diesem Bild müssen Vorschläge der BeamtInnen mit dem „Regierungsübereinkommen und den Zielen, die sich eine Regierung steckt“ übereinstimmen und es kann dann nicht mehr leicht unterschieden werden, ob ein Projekt „eher von der Beamtenschaft (. . .) oder von politischen Parteien getragen“ wird (5: 317–323). 7.1.3.2 Grenzen Dennoch bestehen scharfe Grenzen zwischen den Kompetenzen von PolitikerInnen und BeamtInnen. Eine Ministerin umschreibt dies anhand eines Sektionschefs, der „kein parteipolitischer (. . .), sondern durchaus ein politischer Mensch [ist], der aber weiß, wo seine Grenzen sind und (. . .) wo (. . .) das ,Entscheiden Müssen‘ des Politikers anfängt“ (289). Aus Sicht einer Beamtin ist es Aufgabe von PolitikerInnen, das politische Gesamtgefüge für Gesetze herzustellen und zu sichern. Dazu müssen „mehrere Einheiten und auch konkrete einzelne Personen in der Politik“ gewonnen werden. Die politische Führung muss einen „Grundkonsensus“ herstellen (7: 547–551), ist „für die politische Abfederung (. . .) zuständig“. Diese Rolle könnten BeamtInnen ihren MinisterInnen „nicht abnehmen“ (7: 577). In ihrer eigenen Darstellung sind BeamtInnen unpolitisch und machen keine eigene Politik, denn sie sind „das ausführende Organ eines Ministers“ (7: 594), mit anderen Worten, „es ist nicht der Beamte, der das Gesetz macht, sondern es ist schon die Politik“ (7: 610–611). Scheitern BeamtInnen darin, MinisterInnen von einem Vorhaben „zu überzeugen (. . .), dann haben [sie] sicher Pech gehabt“ (9: 575–578). BeamtInnen müssen für Gesetzesvorgaben die Zustimmung ihrer MinisterInnen bekommen, denn „wenn man nicht die Rückendeckung vom Minister hat, dann kann man diese Dinge nicht ausschicken“ (7: 562–568). 7.1.3.3 Spannungen In dieser – von BeamtInnen so dargestellten – hierarchischen Beziehung zwischen MinisterInnen und BeamtInnen bestehen latente Spannungen, die in den untersuchten Fällen unterschiedliche Gründe hatten.11 Zunächst bestanden im Fall der Forschung an HES Spannungen aufgrund inhaltlicher Unterschiede in der Einschätzung einer Gesetzesmaterie. Während die Ministerin eine restriktive Position vertrat und die Forschung an HES ablehnte, nahmen ihre BeamtInnen eine permissivere Haltung ein (vgl. Grießler 2010).
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Spannungen ergeben sich auch aufgrund der Einbindung in verschiedene Sinn- und Praxiswelten politischer Entscheidungsfindung sowie damit einhergehenden Orientierungen. Im Fall der Forschung an HES macht dies eine Ministerin an der Differenz von Konsens und Dissens fest. Sie meinte, dass ihre BeamtInnen in der EU „mehr auf Konsens aus [sind], die wollen ja irgendwo geliebt werden“ (3: 124–126, 143–146). Als Ministerin strebe sie zwar ebenfalls grundsätzlich Kompromisse an, dies ginge aber „nur bis zu einem gewissen Punkt“ und sie behalte sich vor, aufgrund ihrer Überzeugung gegen eine Vorlage zu stimmen (3: 62–69). Aus der Sicht eines Beamten stellte sich dies nicht als inhaltliche Frage oder Differenz von Konsens/Dissens dar, sondern vor allem als prozedurales Problem innerhalb eines langwierigen und hochkomplexen Entscheidungsprozesses. Im Gegensatz zur verfahrensmäßigen Freiheit des österreichischen politischen Entscheidungsprozesses sind Verhandlungsprozesse in EU-Gremien von verbindlichen Zeitplänen, Fristen und bindenden Vorentscheidungen geprägt. Im österreichischen Politikverständnis können PolitikerInnen Entscheidungen jedoch aufgrund der von ihnen so definierten „politischen Verantwortung“ jederzeit stoppen. In der EU verhandelnde BeamtInnen sehen sich bei späten oder sich plötzlich verändernden Vorgaben ihrer politischen Führung mit Irritation ihrer europäischen VerhandlungspartnerInnen konfrontiert, denn diese würden in Hinblick auf das bindende Verfahren einwenden: „Wir verstehen alles, aber hätten wir das nicht vor einem Jahr haben können?“ (4: 294–299). Diese Unterschiede können nicht nur innerhalb von EU-Gremien zu Spannungen führen, sondern auch zwischen MinisterInnen und den dort verhandelnden BeamtInnen. Eine weitere Ursache latenter oder offener Spannungen zwischen MinisterInnen und BeamtInnen kann in deren unterschiedlicher Parteizugehörigkeit liegen. Dies kommt etwa durch eine parteipolitische Besetzung einer langfristig eingesetzten BeamtInnenschaft und anschließendem Regierungswechsel zustande (1: 152–156). Während Loyalitätsprobleme für eine Ministerin in einem Ministerium aufgrund des dort herrschenden parteifreien „Standesbewusstseins“ (2: 387) kein Problem darstellten, versuchte eine andere Ministerin, die Loyalität ihrer BeamtInnen durch Anerkennung und gute Behandlung zu erreichen (1: 169–173).
7.1.3.4 Loyalität Was bedeutet es für BeamtInnen, die Gesetze vorbereiten oder Verhandlungen führen, wenn MinisterInnen ihre politische Verantwortung wahrneh-
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men? In den Fallbeispielen zeigten sich unterschiedliche Möglichkeiten. Im Fall der HES gelangte die Ministerin zu einer Einschätzung, die konträr war zu den von ihren Spitzenbeamten in zweijährigen Verhandlungen in den „Ausschüsse(n) (. . .) gefundenen gesamteuropäischen Lösungen“ (4: 25). Sich gegenüber der Ministerin loyal zu verhalten bedeutete für BeamtInnen, mit ihren europäischen KollegInnen eine neue Lösung auszuhandeln, die sie inhaltlich für falsch hielten (4: 114–116). Im Fall der PID bestanden keine Spannungen zwischen Ministerin und ihren BeamtInnen. Die Position des Beamten war sachlich. Neutral zeigte er der Ministerin verschiedene politische Optionen auf (2: 187–189).
7.2 Nationalrat Der folgende Abschnitt wendet sich der Tätigkeit von Nationalratsabgeordneten zu und schließt an ein Ergebnis des vorhergehenden Abschnitts an, dass der Gesetzgebungsprozess im vorparlamentarischen Raum konzentriert ist. Im Zentrum stehen die Fragen danach, welche Aufgaben der Nationalrat in diesem Praxisprozess wahrnimmt und wodurch es zumeist gelingt, Regierungsvorlagen unverändert durch das Parlament zu bringen. Das Faktum, dass das österreichische Parlament in der Gesetzgebung als Ort der Entscheidungsfindung nur eine eingeschränkte Rolle spielt (Fischer 1972, Mock 1988, Sickinger 2000, Tálos/Kittel 2001), wurde von den interviewten Abgeordneten bestätigt. Das GTG 1994 war allerdings eine Ausnahme, weil keine starke und bindende Ministerposition bestand und das Ministerium die Thematik auch aufgrund seiner Neuheit „locker und offen behandelt(e)“ (9: 224). Damit hatte das Parlament größeren Autonomiespielraum und das GTG war ein Gesetz, bei dem ein Abgeordneter das Gefühl hatte „durch persönlichen Einsatz etwas ändern zu können, was ja im Parlament (. . .) nicht so häufig war“ (9: 18–21). Auch im Parlament spielen BeamtInnen und MinisterInnen eine wichtige Rolle. Sie sind in den Fraktionssitzungen der jeweiligen Regierungspartei anwesend, in denen die Parteien ihre Positionen für die Ausschussarbeit festlegen (9: 277). Als Auskunftspersonen und ExpertInnen sind sie auch in parlamentarischen Ausschüssen anwesend und arbeiten Änderungen in den Gesetzestext ein. Diese können bis zum letzten Moment verhandelt und dann möglicherweise sehr schnell „in letzter Minute (. . .) oft wirklich (. . .) noch im Parlament“ (8: 302–303) eingearbeitet werden, was bei komplexen Themen zu Schwierigkeiten aufgrund von nur auf den ersten Blick guten „Schnell-Schnell-Lösung“ (8: 334) führen kann.
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Welche politischen Praktiken existieren in Ministerien und Mehrheitsfraktionen, um Gesetze unverändert durch den Nationalrat zu bringen bzw. bei Abgeordneten, um Änderungen durchzusetzen?
7.2.1 Praxis der Nicht-Praxis Der Nationalrat ist in vielen politischen Entscheidungen nicht involviert. Nur in einem unserer Fallbeispiele wurde der Nationalrat befasst. Die Entscheidung zur Förderung der Forschung an HES im RP 6 wurde von Wissenschaftsministerin und Bundeskanzler getroffen (2: 8–9, 6: 490–496) und die eingeschränkte Zulassung der PID wurde nach heftigen Protesten von NGOs und interministeriellen Verhandlungen aus der Regierungsvorlage gestrichen (1: 44–48).
7.2.2 Einzementieren Das GTG 1994 war zwischen Regierung und Opposition umstritten, aber auch innerhalb der Regierungsparteien gab es Widerstand. Dieser bezog sich nicht auf die Genanalyse am Menschen, sondern auf die landwirtschaftliche und industrielle Gentechnik (Grabner 2009). In diesen Bereichen war eine starke „Einzementierung“ (10: 786) der Regierungsvorlage gegeben, bei der sich die Wirtschafts- und Wissenschaftslobbys im vorparlamentarischen Raum stark durchgesetzt hatten (10: 412–416, Nationalrat 1994). Einzementierung wird erreicht, indem Regierungsmitglieder im Koalitionsausschuss getroffene Entscheidungen gegenüber ihren in der innerparteilichen Hierarchie untergeordneten Abgeordneten durchsetzen. So wurden Änderungsvorschläge eines Abgeordneten einer Regierungspartei trotz der Unterstützung durch Klub und Klubvorsitzenden vom Parteichef mit dem Hinweis auf den mit dem Koalitionspartner ausgehandelten Konsens abgelehnt (10: 155–165). Die Einzementierung von Entscheidungen schränkt den Entscheidungsspielraum des Parlaments stark ein. Dies illustriert die Aussage eines ehemaligen Parteiobmanns und späteren Abgeordneten, der das Parlament als „Muppetshow“ bezeichnete, das „am Gängelband anderer lauft“ (10: 418–419). Änderungen der Regierungsvorlage sind aus Sicht der Regierung – im engen Sinne – schwierig und arbeitsintensiv, denn sie bedeuten, dass ein bereits mit dem Koalitionspartner akkordierter Beschluss neu verhandelt werden müsste. Sie werden daher vermieden, um getroffene Übereinkünfte
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nicht aufs Spiel zu setzen und neue finden zu müssen (10: 240–241). Änderungen gelten überdies als „Gesichtsverlust“ der MinisterInnen (9: 285, 10: 662–663). Verhandlungen über Änderungen finden entweder auf parlamentarischer Ebene statt oder, wenn dies unmöglich ist, im Koordinierungsausschuss der Regierung. Eine wichtige Rolle bei Änderungen spielt die Tätigkeit von Ausschussvorsitzenden bzw. die „Atmosphäre“ (10: 785), die in Ausschüssen herrscht. Es gäbe unterschiedliche Traditionen, zum einen eine „aufgeschlossenere“ Vorsitzführung (9: 257–258), die Korrekturen offensichtlicher Fehler eines Gesetzesentwurfes zulässt, auch wenn die Anträge dazu von der Opposition stammen. Manche Vorsitzende hätten aber den „Ehrgeiz (. . .), Regierungsvorlagen möglichst rasch durchzupeitschen“ (9: 315–316). Diese Unterschiede hängen auch mit dem Parlamentsverständnis der Abgeordneten zusammen. So erinnert sich ein Abgeordneter an innerparteiliche Kritik „ich sei zu weich, wenn man der Opposition zu viel Möglichkeiten gibt. Ich hab das anders gesehen und bin auch, glaub ich, damit sowohl fürs Parlament wie für mich selber ganz gut gefahren“ (9: 316–320).
7.2.3 Aufpassen, Positionen besetzen und nutzen Die parlamentarische Arbeit an Gesetzesvorlagen geschieht in autonomen Ausschüssen (Sickinger 2000). Diese entwickeln mitunter zentrifugale Tendenzen, d. h. eine Gruppe von mit einem Politikfeld befassten Abgeordneten entwickelt aus ihrer Sicht positive politische Maßnahmen, die aus Perspektive anderer Abgeordneter „problematisch“ sind (9: 203; 207–211). Aufgabe des Klubpräsidiums sei es, solche zentrifugalen Kräfte auszugleichen und Sonderentwicklungen in Ausschüssen zu korrigieren. Dabei müsse eine heikle Balance zwischen Autonomie des Ausschusses und Gesamtperspektive beachtet werden (ebd.). Bei der Entwicklung des GTG sah ein Abgeordneter seine Aufgabe darin, „aufzupassen, dass da nicht Entwicklungen sind, die (. . .) sich negativ auswirken“. (9: 143–147). Aus seiner Sicht entwickelte die Enquetekommission im Fall des GTGs eine parteiübergreifende, extrem gentechnikkritische Eigendynamik. Er wollte dies korrigieren und eine für Wissenschaft und Wirtschaft positive Entscheidung erreichen (ebd. 162–166). Eine Möglichkeit, dies zu tun, war die Nominierung in den entsprechenden Ausschuss zu erreichen, um damit Einfluss nehmen zu können. Auch Abgeordnete müssen sich informieren. Zwischen Abgeordneten und BeamtInnen besteht jedoch ein auffallendes Ungleichgewicht hinsichtlich ih-
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res Fachwissens (10: 788). In vielen Fällen verfügt das Parlament nicht über den „Sachverstand“, der für die theoretisch vorgesehene Trennung von Regierung und gesetzgebender Körperschaft notwendig wäre (9: 239–241). Insbesondere für Abgeordnete der Oppositionsparteien ist es schwierig, notwendige Informationen zu bekommen, denn obwohl Abgeordnete über je eine/n parlamentarische/n MitarbeiterIn verfügen (4: 530–531), fehlt ihnen im Gegensatz zu den Regierungsfraktionen und den Regierungsmitgliedern der Zugriff auf die fachlichen Ressourcen der Ministerien (10: 1059–1051). Sie haben daher nicht nur aufgrund der Mehrheitsverhältnisse geringe Durchsetzungschancen gegenüber Mehrheitsfraktionen und Ministerialbürokratie (10: 784–789). Um sich zu informieren, nutzen Abgeordnete auch Gespräche „mit Fachleuten, mit Experten und Expertinnen“ (6: 136–139, Interview 9: 35–36) oder auch „Medien“. Daneben stehen ihnen auch Parteiapparate, SozialpartnerInnen, der wissenschaftliche Dienst des Parlaments und Klubsekretäre zur Verfügung. Auch im Nationalrat ist die Metapher des Kampfes wichtig (9: 49, 109, 10: 1173). Ein Abgeordneter sah sich in einem „Einmann-Kampf“ (9: 41), einem „Kampf auf mehreren Fronten“, auch innerhalb der eigenen Partei (ebd. 119). Er wollte das Thema GTG neu positionieren, es nicht nur als „Frauen-“, sondern als „Wissenschafts-“ und „Wirtschaftsthema“ (ebd. 110–111) diskutieren. Inwieweit es Abgeordneten gelingt, Änderungen von Gesetzesvorlagen zu erreichen, hängt auch von ihrem Ansehen und ihren Fachkenntnissen ab, d. h. je mehr „Reputation man im Parlament“ (9: 375) hat, desto leichter sind Änderungen durchzuführen. Kompetente Abgeordnete haben „mehr Gestaltungsmöglichkeiten als diejenigen, die das nicht haben“ (10: 847–849). Auch für Nationalratsabgeordnete ist es wichtig, sich zu verbünden, wenn sie Änderungen durchsetzen wollen. So versuchte eine Abgeordnete „Verbündete“ (6: 444) zu identifizieren, ein anderer nutzte die Bereichssprecherin seiner Partei als „starke Verbündete“ (9: 80).
7.2.4 Dissens artikulieren Welche Möglichkeiten haben Abgeordnete, ihre Ablehnung einer Regierungsvorlage auszudrücken? Von Abgeordneten wird „Fraktionsdisziplin“ (10: 733) erwartet, d. h. „dass der Parteilinie gefolgt wird“ (ebd. 881–882) und „wenn (es) nicht wirklich um das Eingemachte (. . .) eines Gewissens geht, folgen die Leute in der Regel der Partei“ (ebd. 886–888).
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Obwohl die Parteilinie im Ministerium entsteht (ebd. 975) und vom „zuständige(n) Minister der Partei“ durch getragen wird (ebd. 994), muss das Abstimmungsverhalten des Klubs festgelegt werden. Dies ist notwendig, da viele Abgeordnete in den jeweiligen Entscheidungsprozess nicht involviert sind und aufgrund ihrer fachlichen Spezialisierung über Gesetze abstimmen müssen, die sie nicht kennen (ebd. 539–548). Diese Festlegung geschieht formal in der Klubsitzung, die gegen Ende des beschriebenen „Kanalisierungsprozess(es)“ (ebd. 627) der Gesetzgebung steht (Sickinger 2000). In der Regel finden hier jedoch keine Entscheidungen statt, diese wurden bereits, wie dargestellt, im Vorfeld getroffen, denn im Klub sind Diskussionen aufgrund der großen Zahl von Abgeordneten, der Einzementierung von Regierungsvorlagen und der inhaltlichen Spezialisierung von Abgeordneten, die eine inhaltliche Einarbeitung in das jeweilige Thema notwendig machen würde, schwer zu führen (6: 105–115). Die Klubsitzung bietet Abgeordneten die Möglichkeit, abweichende Meinungen zu äußern. Wenn keine knappen Mehrheiten bestehen, wird akzeptiert, dass Abgeordnete die Abstimmung im Plenum verlassen, um ihren Dissens auszudrücken (10: 704–706). Es wird allerdings von Abgeordneten erwartet, dies in der Klubsitzung mitzuteilen. Eine weniger akzeptierte Möglichkeit, Dissens auszudrücken, ist es, gegen die Regierungsvorlage zu stimmen. Gänzlich gegen die Spielregeln ist es, einen Gegenantrag ins Plenum einzubringen. Verstöße gegen die Fraktionsdisziplin werden als Vertrauensbruch, mangelnde Solidarität und Profilierungssucht einzelner Abgeordneter gesehen und sanktioniert (10: 698–721). Die Fraktionsdisziplin wirkt allerdings weniger über Ausschlussdrohungen als über „psychologische Kanäle“ (ebd. 688). Gegen den Klubzwang zu agieren, sei daher emotional belastend und könne den Bruch mit der Partei darstellen, der auch das Ende der Abgeordnetenkarriere bedeuten könne.
8 Zusammenfassung Dieser Beitrag versucht anhand des Beispiels der Regierung biomedizinischer Technologien in Österreich zu zeigen, was MinisterInnen, BeamtInnen und ParlamentarierInnen im Rahmen politischer Prozesse in Ministerien und Parlament „tatsächlich tun“. Wir haben dazu eine Reihe politischer Praktiken identifiziert, die geübt werden, um Maßnahmen in einem agonalen politischen Feld durchzusetzen. In Ministerien besteht eine Arbeitsteilung zwischen MinisterInnen und BeamtInnen, die auf unterschiedliche Mandate, fachliche Qualifikationen
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sowie Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen zurückzuführen ist. Entsprechend einer in Österreich üblichen Freiheit des Ablaufs behalten sich MinisterInnen vor, über Gesetzesmaterien zu jedem Zeitpunkt politisch zu entscheiden, wobei das ob, wann und wie selbst Teil der politischen Praxis ist. Das Treffen politischer Regierungsmaßnahmen ist mit Praktiken des sich Informierens und Kämpfens verbunden. BeamtInnen sind für Detailarbeiten verantwortlich, z. B. zu verhandeln oder Gesetze zu formulieren. Sie treffen dabei häufig Vorentscheidungen, die von der politischen Führung zum Teil gebilligt werden müssen. Diese Arbeit der Ministerialbürokratie im Gesetzgebungsprozess ist ebenfalls mit einer Reihe von Praktiken wie etwa (er)halten eines Arbeitsmandats, Regulierung des Zugangs zum Entscheidungsprozess, Zeitmanagement, das Erreichen inhaltlicher Festlegungen und das Schreiben eines (Gesetzes)textes verbunden (Grießler/Biegelbauer 2009). MinisterInnen und BeamtInnen stehen zueinander in einem ambivalenten Verhältnis, das von formaler Hierarchie und wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet ist. MinisterInnen üben politische Führung aus und federn Gesetzesvorhaben politisch ab. BeamtInnen stellen fachliche Kompetenz zur Verfügung und verhalten sich gegenüber MinisterInnen in gewissem Ausmaß loyal. Allerdings können zwischen den beiden Gruppen aufgrund unterschiedlicher inhaltlicher Auffassungen, Entscheidungskulturen oder Parteizugehörigkeit Spannungen auftreten. Dass BeamtInnen ihre eigene „Politik“ verfolgen würden, wird von ihnen dementiert. Betont wird vielmehr das Zusammenwirken von politischer Führung und Verwaltung. Wie in vielen westlichen Demokratien (Cruz-Castro/Sanz-Menéndez 2004, S. 113 ff.) ist der Gesetzgebungsprozess in Österreich in der Exekutive konzentriert. Der Nationalrat ist nicht zentraler Ort der Entscheidungsfindung, aber alle Gesetze müssen ihn passieren (Mock 1988). Der Gesetzgebungsprozess ist im federführenden Ministerium konzentriert, das ihn von ersten informellen Gesprächen im Vorbegutachtungsverfahren, im Begutachtungsverfahren selbst bis hin zur parlamentarischen Beschlussfassung kontrolliert. Häufig sind VertreterInnen der Regierungsfraktionen in Verhandlungen im vorparlamentarischen Raum eingebunden, umgekehrt sind MinisterialbeamtInnen als ExpertInnen auch in parlamentarischen Ausschüssen anwesend und führen Änderungen an Gesetzestexten durch. Zentrales Ziel der jeweiligen Ministerien ist es, im vorparlamentarischen Raum getroffene Entscheidungen unbeschädigt durch das Parlament zu bringen. Einzementieren von Entscheidungen ist aus ihrer Sicht notwendig, um einen in komplexen Verhandlungen erreichten Konsens nicht wieder aufgeben und erneut verhandeln zu müssen. Dies geschieht durch Aktivie-
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rung innerparteilicher Hierarchien, entsprechende Ausschussführung und Fraktionsdisziplin. Politische Praktiken von Abgeordneten umfassen unter anderem sich informieren, Positionen besetzen und nutzen, kämpfen und sich verbünden. Allerdings sind ihre Mittel wesentlich schwächer als die der Ministerien. Abgeordnete können ihren Dissens artikulieren, indem sie gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen, wobei dazu unterschiedlich starke Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die unterschiedlich sanktioniert werden. In dieser Konstellation sind Abgeordnete – insbesondere der Opposition – gegenüber MinisterInnen und ihren BeamtInnen aufgrund geringerer Ressourcen sowie deren sachlicher und personeller Kontinuität im Nachteil. Politische Praktiken unterscheiden sich dabei hinsichtlich ihrer personellen, räumlichen und zeitlichen Reichweite – etwa die wichtige Unterscheidung in vorparlamentarischen und parlamentarischen Raum – sowie hinsichtlich ihrer Öffentlichkeit. Politische Praktiken des Gesetzgebungsprozesses laufen in Österreich zumeist elitär und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Eine öffentliche Debatte findet häufig erst in der Plenarsitzung des Nationalrats statt, zu einem Zeitpunkt, an dem Entscheidungen bereits lange getroffen worden sind. Die entscheidenden Praxisarrangements des Vorbegutachtungs-, und Begutachtungsverfahrens sowie zentrale informelle Verhandlungen sind ebenso wie parlamentarische Beratungen nicht öffentlich. Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich des Grads der Formalisierung, hier ist insbesondere auf Unterschiede in österreichischen und EU-Entscheidungsprozessen oder zwischen vorparlamentarischem und parlamentarischem Raum hinzuweisen. Darüber hinaus bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Zugangs unterschiedlicher AkteurInnen – insbesondere der Öffentlichkeit – zu politischen Praktiken. Der gesetzliche Regierungsprozess erweist sich in unseren Fallstudien als ergebnisoffen und hoch komplex. Bedingungen, die dazu beitragen, sind seine Dauer, die hohe Zahl beteiligter AkteurInnen und räumlicher Settings mit jeweils spezifischen Regeln und Tempi, Agonalität und große Interessenunterschiede, Änderungen der politischen Großwetterlage in die das Vorhaben eingepasst sein muss, Wechsel des politischen Führungspersonals, Unwägbarkeiten in parlamentarischen Prozessen und das Auftauchen neuer Themen, welche die Aufmerksamkeit für die Gesetzesmaterie auf sich ziehen. Darüber hinaus ist Biomedizin komplex, wissensabhängig und mit immer neuen Entwicklungen verbunden. Im Gesetzgebungsprozess agieren daher alle AkteurInnen unter großer Unsicherheit. Politische Praktiken dienen unter anderem dazu, Unsicherheit zu verringern und den Gesetzgebungsprozess in die gewünschte Richtung zu lenken.
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Dieser Beitrag beruht unter anderem auf Ergebnissen des Forschungsprojektes „Genetic Testing and Changing ,Images of Human Life‘ in the Clinical and Political Domains of Pre-Implantation Genetic Diagnosis and Prenatal Diagnosis“, das im Rahmen des GEN-AU Programms durchgeführt wurde. Wir danken der FFG und dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes und allen interviewten Personen für ihre Bereitschaft, uns in den Gesprächen Auskunft über ihre berufliche Praxis zu geben. Gesundheitspolitische bzw. wohlfahrtsstaatliche Erwägungen (vgl. Gottweis et al. 2004; Hofmarcher/Rack 2006) bleiben im Beitrag ebenso unberücksichtigt wie kontextuelle Aspekte der Biomedizin (Finanzierung, Technologiepolitik, institutionelle Settings) oder die öffentlichen Problematisierungen ihrer Anwendung. Das gewählte politische Feld unterscheidet sich aber auch von anderen Politikfeldern: So spielen die Sozialpartner eine geringere Rolle und die Regelungsmaterie ist stark von der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung abhängig. Ein Interviewpartner brachte den Begriff der Praxis von sich aus ins Gespräch und definierte ihn als „übliche Vorgänge“. Die Zahlen in Klammer bezeichnen die InterviewpartnerInnen und die Zeilen im Transkript. Trotz unserer Betonung eines weiten Politikbegriffs wird in diesem Beitrag die bedeutende Rolle nicht-staatlicher AkteurInnen weitgehend ausgeklammert. Dies geschieht keinesfalls, weil diese unwichtig wären. Im Gegenteil waren in unseren Fallstudien insbesondere NGOs wie die Katholische Kirche, Behindertenorganisationen sowie ÄrztInnen und NaturwissenschaftlerInnen – einzeln oder in Interessensorganisationen organisiert – extrem aktiv und durchsetzungsfähig (vgl. Grießler 2010, Grabner 2009). Dennoch werden in diesem Beitrag politische Praktiken staatlicher Institutionen untersucht, die zentral für die Um- wie Durchsetzung politischer Regierungsprozesse sind, weil sie das Zentrum von Staatlichkeit darstellen und entsprechende politische Praktiken zentral beeinflussen (vgl. Abschnitt 6.1). Die Interviews wurden von Frühjahr 2006 bis Sommer 2009 durchgeführt und dauerten zwischen einer halben und zwei Stunden. Sie wurden digital aufgezeichnet, vollständig transkribiert und unter Verwendung einer Software zur qualitativen Datenanalyse (Atlas.ti) themenanalytisch ausgewertet. In seiner Genealogie moderner Staatlichkeit zeichnet Foucault die Etablierung und Entwicklung dieser Regierungskalküle (z. B. Pastoralmacht, Staatsräson, Polizei, Merkantilismus, Liberalismus, Neoliberalismus) nach (Foucault 2006a, 2006b; vgl. Lemke 1997). Wagenaar z. B. betont die Kontextgebundenheit, den komplexen Routinecharakter und praktischen Sinn administrativer Praktiken sowie deren Einbettung in gemeinsame Wissensbestände und kreative Aktualisierungen im Zuge neuer Kontextbedingungen (Wagenaar 2004). Auf Basis eines praxistheoretischen Zuganges können z. B. die Tätigkeiten von BeamtInnen in Gesetzgebungsverfahren jenseits juristischer Termini zugänglich gemacht werden (Biegelbauer/Grießler 2009). Diese Regierung soll nun nicht identifiziert werden mit der Regierung als verfassungsgemäßem Exekutivorgan (Ministerkabinett und Ministerialbürokratie), wiewohl die Ministerien zentrale Machtpositionen in den politischen Regierungsweisen innehaben. Integriert wird in diese Konzeption politischer Regierungsprozesse der
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relationale Charakter des Foucault’schen Regierungsbegriffes (vgl. Abschnitt 3) dergestalt, dass diese Regierungsweisen nicht als einseitige Steuerung von oben zu verstehen sind, sondern als machtbasierte Führungsverhältnisse, welche die Praxiswahrscheinlichkeiten anderer AkteurInnen strukturieren, diesen aber den politischen Handlungsspielraum nicht völlig nehmen können: Die Stellung der Regierten und der Regierenden zueinander ist dynamisch, umkämpft und reversibel. Abgewandelt wird dieser breite Regierungsbegriff in einer anderen Hinsicht: Die Foucault’sche Analyse der Regierungsrationalitäten hat erhebliche subjektivierungstheoretische Implikationen, wobei diese Regierungsweisen die gesamte Gesellschaft durchziehen. In diesem Artikel bezieht sich Regierung hingegen wesentlich auf staatliche Institutionen und das politische Feld (s. o.) und deren strukturierende Regierungsprozesse gesellschaftlicher Praktiken. Beispiele für solche politischen Prozesse sind Begutachtungen von Gesetzen, Verhandlungen von Ministerien, TV-Konfrontationen, Plenardebatten, Ausschussverhandlungen, Wahlkämpfe, Demonstrationsabläufe, Aktenbearbeitung in Ministerien, Regierungsverhandlungen und Implementierung von Gesetzen. Das Haus ist auch von anderen Konfliktlinien gekennzeichnet, etwa „Kontroversen auf Beamtenebene“ um Kompetenzen (1: 116–118). Daneben können Spannungen zwischen BeamtInnen und KabinettsmitarbeiterInnen bestehen.
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Interviews Interview 1: Bundesministerin, August 2009, Wien Interview 2: Bundesministerin, Juli 2009, Wien Interview 3: Bundesministerin, Juni 2009, Wien Interview 4: Beamter, März 2006, Wien Interview 5: Beamter, März 2006, Wien Interview 6: Abgeordnete, April 2006, Wien Interview 7: Beamte, Februar 2007, Wien Interview 8: Beamte, Juli 2007, Wien Interview 9: Abgeordneter, September 2007, Wien Interview 10: Abgeordneter, September 2007, Graz
Bernhard Wieser Bernhard Wieser
Genetisches Testen: ELSA im Kontext medizinischer Anwendungen Zusammenfassung: Die Erforschung der genetischen Grundlagen des menschlichen Lebens wirft nicht nur wichtige Fragen für die Zukunft auf; ihre Resultate wurden bereits seit mehreren Jahrzehnten in die medizinische Praxis integriert. Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening sind Anwendungsfelder, die sich seit ihrer Einführung sehr dynamisch entwickelt haben. Technologische Innovationen haben in den letzten Jahren zu einer signifikanten Ausweitung genetischer Medizin geführt. In einem ersten Schritt werden diese Diffusionsprozesse in Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening nachgezeichnet, die sich oftmals jenseits öffentlicher Wahrnehmung und bewusster Auseinandersetzung vollzogen haben. In einem zweiten Schritt wird anhand der beiden Anwendungsfelder diskutiert, inwieweit Menschen ihre eigene Gesundheit und ihr eigenes Leben immer mehr als eine Folge genetischer Anlagen sehen (Lippman 1991). Vor dem Hintergrund eigener empirischer Arbeiten wird hier für eine differenzierte Sichtweise der Genetisierungsthese Lippmans plädiert, die im reproduktiven Kontext durchaus Erklärungskraft hat, doch weder verallgemeinert werden kann, noch soziale Aspekte genetischer Medizin adäquat erfasst. Schlagworte: Genetisches Testen · Diffusion · Technologische Innovation · Pränataldiagnostik · Neugeborenenscreening · Genetisierung
Genetic Testing: ELSA in the Context of Medical Applications Abstract: Researching the genetic basis of human life does not only provoke important questions for the future, the results of this research have been integrated into medical practice since many decades as well. Both prenatal testing and newborn screening have developed dynamically since their introduction in clinical practice. Technological innovations have led to a significant expansion of genetic medicine in recent years. In a first step I trace diffusion processes in prenatal testing and newborn screening which often took place beyond public perception and intentional deliberation. Drawing on both fields of application, I discuss in a second step to what extent people narrate their lives and especially stories about health and disease in the language of genetics E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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(Lippman 1991). Against the backdrop of my own empirical data, I argue for a differentiated interpretation of Lippman’s geneticization thesis which indeed offers explanatory power in the reproductive context, but neither can be generalized nor adequately captures the social dimension of genetic medicine. Keywords: Genetic Testing · Diffusion · Technological Innovation · Prenatal Testing · Newborn Screening · Geneticization
1 Einleitung Genomforschung wird vom Nimbus des Neuen begleitet. Bahnbrechende Erkenntnisse werden erwartet, und es wird viel davon gesprochen, dass unser Leben morgen ganz anders aussehen werde, hätten diese neuen Erkenntnisse erst einmal Einzug in die medizinische Praxis gefunden. Der vorliegende Beitrag stellt jedoch weniger die Frage nach dem, was da noch kommen mag, sondern versucht vielmehr die Aufmerksamkeit auf Entwicklungen zu lenken, die bereits eingetreten sind. Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening – um die es hier gehen soll – sind zwei Anwendungsfelder genetischer Diagnostik1, die bereits seit mehreren Jahrzehnten in den medizinischen Routinebetrieb integriert sind. Wie jedoch zu zeigen sein wird, können gerade in diesen beiden Bereichen signifikante, von technologischen Innovationen getragene Veränderungen festgestellt werden. Bezugspunkte des vorliegenden Beitrages sind zwei empirische Studien, die im Rahmen des österreichischen Genomforschungsprogrammes (GEN-AU) zu den beiden genannten medizinischen Anwendungsfeldern durchgeführt wurden und später noch genauer vorgestellt werden.2 Die Auseinandersetzung mit den ethischen, legistischen und sozialen Aspekten – bezeichnet mit dem Akronym ELSA – wird hier anhand ausgewählter Bereiche diskutiert. Die Veränderungen, von denen hier die Rede ist, sind zunächst quantitativer Natur. Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening sind Bereiche, die sich in den letzten Jahren nicht nur besonders dynamisch entwickelt haben, sondern in deren Kontext auch die weitaus größte Zahl an Tests zur Identifikation genetisch bedingter Krankheiten bzw. Behinderungen durchgeführt wird. In diesem Beitrag werden dementsprechend in einem ersten Schritt Entwicklungen in den genannten Bereichen genetischer Diagnostik dargestellt, und es wird erläutert, wie in diesem Bereich neue Technologien in der medizinischen Praxis implementiert wurden. So kann nachgezeichnet werden,
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wie sich die Diffusionsprozesse genetischer Medizin in Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening vollzogen haben. In einem zweiten Schritt wird die „Genetisierungsthese“ Abby Lippmans (Lippman 1991, 1994) aufgegriffen und der Frage nachgegangen, wie sich die Diffusion neuer Verfahren zur Diagnose genetischer Anomalien in qualitativer Hinsicht niedergeschlagen hat. Hierzu werden eigene empirische Erhebungen in den Bereichen Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening herangezogen, um so Perspektiven konkret betroffener Menschen in die Auseinandersetzung mit einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund wird hier für eine differenzierte Sichtweise der Lippman-These eingetreten. Auch wenn in spezifischen Bereichen durchaus von Genetisierung gesprochen werden kann, so soll mit dem vorliegenden Text auch verdeutlicht werden, dass zahlreiche empirische Belege gegen eine Verallgemeinerung der Genetisierungsthese sprechen.
2 Forschungszugang Fragt man nach den ethischen, rechtlichen und sozialen Auswirkungen genetischen Testens, so wird damit bereits eine Entscheidung über die Auseinandersetzung mit der modernen genetischen Medizin getroffen. Im Vordergrund steht, was in der medizinischen Praxis bereits hier und heute angewandt wird und nicht, was vorerst „nur“ Gegenstand der Forschung ist. Zweifellos ist es eine wichtige Aufgabe, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren und mögliche Auswirkungen prospektiv abzuschätzen (etwa im Sinne von Technikfolgenabschätzung; vgl. Grunwald 2007). Tatsächlich versucht ein beträchtlicher Teil der ELSA-Forschung, die Fragen nach den Auswirkungen der modernen genetischen Medizin bereits im Kontext der Genomforschung zu stellen. Man spricht von einem „upstream approach“ (vgl. Wilsdon & Willis 2004). Dennoch wird im vorliegenden Beitrag die medizinische Praxis ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Die Gründe dafür sollen hier einleitend kurz erläutert werden. Zunächst lassen sich methodologische Gründe für die gewählte Schwerpunktsetzung anführen. Die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen der modernen genetischen Medizin lassen sich im Kontext ihrer Anwendung empirisch untersuchen. Menschen mit konkreten Erfahrungen können beobachtet und interviewt werden. Dahingegen können mögliche Auswirkungen genetischer Forschungen, die noch nicht angewandt werden, im Wesentlichen nur mittels Zukunftsszenarien analysiert werden. In me-
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thodologischer Hinsicht resultiert aus diesem Umstand eine wichtige Konsequenz: Die Ergebnisse dieser Analysen haben hypothetischen Charakter. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit möglichen Zukunftsentwicklungen durchaus relevant ist, zumal gerade die Verhandlung dieser möglichen Zukunft Gegenstand realer politischer Aushandlungsprozesse ist. In diesem strategischen Prozess sind GenomforscherInnen selbst aktiv beteiligt, da sie erklären, welchen Nutzen die Erforschung des menschlichen Genoms hat. Doch ELSA-ForscherInnen sind nicht bloß neutrale BeobachterInnen oder außenstehende KommentatorInnen, sondern sie sind ebenfalls AkteurInnen in jenem Prozess, in dem die Gestaltung genetischer Medizin in Forschung und angewandter Praxis ausgehandelt wird (vgl. Berger 2008, Hope 1999, S. 220). Für eine empirische Untersuchung konkreter medizinischer Praxis spricht der Umstand, dass man nur schwer antizipieren kann, wie Menschen reagieren und empfinden, wenn sie tatsächlich mit genetischer Medizin konfrontiert werden – zum Beispiel im Zuge eines genetischen Tests. Mit diesem Problem haben auch Forschungsdesigns zu kämpfen, in denen Menschen befragt werden, ob sie sich vorstellen könnten, dieses oder jenes zu tun, wenn sie in einer bestimmten Situation wären. Es ist hinlänglich bekannt, dass mit solchen hypothetischen Fragen kaum vorhergesehen werden kann, wie Menschen eine Sache tatsächlich sehen, wenn sie konkrete Erfahrungen machen (vgl. Schnell, Hill & Esser 2005). Empirische Sozialforschung kann den Unterschied zwischen artikulierten Handlungsabsichten und tatsächlich vollzogenen Handlungen herausarbeiten (vgl. Borry, Schotsmans & Dierickx 2004: 45). Ein zweiter Grund, der für eine Auseinandersetzung mit der medizinischen Praxis spricht, ist der Folgende: Veränderungen in der Medizin vollziehen sich nicht nur über die Implementierung neuer Bereiche, die es zuvor noch nicht gab (etwa Ergebnisse aus Stammzellenforschung oder Synthetischer Biologie), sondern gerade auch im Routinebetrieb. Wie sich anhand der Beispiele Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening zeigen lässt, haben technologische Innovationen in etablierten Praxisfeldern zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Es gilt daher zu analysieren, wie neue Technologien medizinische Praxis auf radikale Weise re-organisieren und somit auch ethische und soziale Fragen auf neue Weise aufwerfen. Schließlich sollen noch bioethische Diskurse erwähnt werden, die ebenfalls dafür plädieren, empirische Untersuchungen in die Betrachtungen einzubeziehen. Unter dem Schlagwort „empirical ethics“ wird dazu angeregt, ethische Theoriebildung insbesondere dann auf empirische Arbeiten anderer Disziplinen zu beziehen, wenn es um die Umsetzung ethischer Ausein-
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andersetzung geht (Biernbacher 1999, S. 320). Der Bioethiker Søren Holm (Holm 2005, S. 13; Holm 2003, S. 8) sieht die Rolle der Sozialwissenschaften insbesondere in der Bereitstellung und Prüfung von Prämissen, andere in der Beschreibung und Prüfung moralischer Fragen und in der Evaluierung ethischer Entscheidungsprozesse (Borry, Schotsmans, & Dierickx 2004, S. 44). Doch wie mit sozialwissenschaftlichen Argumenten im bioethischen Diskurs konkret umzugehen ist, wird von PhilosophInnen durchaus unterschiedlich beurteilt. Bert Molewijk weist darauf hin, dass viele traditionelle PhilosophInnen betonen, es sei logisch unmöglich, normative Richtlinien aus empirischen Daten abzuleiten (Molewijk 2004, S. 87). SozialwissenschaftlerInnen wird mitunter der naturalistische Fehlschluss vorgeworfen, sie würden unzulässigerweise von dem, „was der Fall ist“, auf das schließen, „was sein soll“. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass aus diesem Text keine normativen Schlussfolgerungen abgeleitet werden sollen. Die Frage ethischer Grundprinzipien und darauf aufbauender Regulierungen wird hier nicht erörtert. Die sozialwissenschaftliche Betrachtung versucht vielmehr, die Konsequenzen jener Entwicklungen zu erheben, die sich in den Bereichen Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening vollzogen haben, ohne jedoch daraus Normen oder Vorgaben abzuleiten. Wenn in diesem Zusammenhang von ethischen Problemstellungen gesprochen wird, so wird dabei stets versucht, die Sichtweise konkreter Personen herauszuarbeiten, die im untersuchten Kontext involviert sind. Es geht dabei nicht darum, zu beurteilen, ob diese Sichtweisen in einem bioethischen Diskurs standhalten können. Für empirisch arbeitende SozialwissenschaftlerInnen sind Interviewaussagen in dieser Hinsicht nicht begründungspflichtig. Es geht vielmehr darum, die Sichtweisen von Personen kennenzulernen, unabhängig davon, wie man selbst zu dieser Sache steht oder ob man die Äußerungen der interviewten Personen für argumentierbar hält oder nicht. Dieser grundsätzliche Respekt vor der Perspektive der interviewten Personen hat nichts mit normativen Schlussfolgerungen zu tun, die über das beforschte Problemfeld gezogen werden können. Selbstverständlich müssen SozialwissenschaftlerInnen fragen, ob die Antworten, die sie in einem Interview erhalten, aus Gründen der sozialen Erwünschtheit gegeben werden. Welchen performativen Nutzen haben Interviewaussagen, welche strategischen Ziele werden damit verfolgt? Eine methodologische Reflexion ist unabdingbar. Darauf weisen nicht zuletzt auch jene BioethikerInnen hin, die in ihrer Argumentation auf empirische Arbeiten zurückgreifen (vgl. Holm 2003).
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In den nachfolgend vorgestellten empirischen Arbeiten wurde ein Forschungszugang gewählt, der die Auseinandersetzung mit aktuellen Veränderungen in der medizinischen Praxis in den Vordergrund stellt und sich so gegenüber Analysen abgrenzt, die sich auf hypothetische Zukunftsszenarien gründen. Zu diesem Zweck wird auf Entwicklungen in Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening eingegangen. Beide medizinischen Praxisfelder waren Gegenstand von mehrjährigen Projektarbeiten des Autors und seiner KollegInnen3, auf deren Ergebnisse hier in komprimierter Form Bezug genommen wird.
3 Verwendete Daten und Methoden Die Auseinandersetzung mit den behandelten medizinischen Praxisfeldern wurde durch verfügbare Forschungsarbeiten informiert. Sozialwissenschaftliche, philosophische und historische Literatur wurde ebenso berücksichtigt wie nationale und internationale medizinische Fachpublikationen. Es wurden statistische Daten verwendet, die von einzelnen medizinischen Einrichtungen zur Verfügung gestellt wurden, sowie offizielle Statistiken der Republik Österreich. Eine wesentliche Rolle kommt den durchgeführten Interviews zu. Insgesamt wurden 32 medizinische ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen genetischer Medizin interviewt. Weiters wurden Interviews mit 32 Frauen durchgeführt, die von ihren persönlichen Erfahrungen mit vorgeburtlichen Untersuchungen während ihrer Schwangerschaft berichteten sowie 23 Interviews mit Eltern von Kindern mit Cystischer Fibrose. Geographisch gesehen wurde das gesamte Bundesgebiet mit Ausnahme des Burgenlandes, Vorarlbergs und Salzburgs abgedeckt. Ein Schwerpunkt lag allerdings im Südosten des Landes. Alle Gespräche wurden als semistrukturierte Interviews geführt, mit Tonband aufgezeichnet und wortgetreu transkribiert. Zur qualitativen Auswertung der Interviews wurde die Software atlas.ti verwendet. Während zur Auswertung der ExpertInneninterviews diskursanalytische Methoden (Philips & Cynthia 2002) herangezogen wurden, orientierte sich die Analyse der Gespräche mit Schwangeren bzw. Eltern an interpretativen Verfahren nach Grounded Theory (Strauss & Corbin 1996).
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4 Entwicklungen 4.1 Pränataldiagnostik Die Pränataldiagnostik gehört zu den ersten Anwendungsbereichen genetischen Testens. 1956 gelang Joe-Hin Tijo und Albert Levan in Schweden die korrekte Bestimmung der Anzahl menschlicher Chromosomen mit 46, und 1959 erfolgte durch Jérôme Lejeune in Frankreich der Nachweis, dass Down-Syndrom auf eine Trisomie des 21. Chromosoms zurückzuführen ist. Ebenfalls zu dieser Zeit wurden in Großbritannien das Turner- und das Klinefelter-Syndrom mit Anomalien der Geschlechtschromosomen (X0 bzw. XXY) ursächlich in Verbindung gebracht (vgl. Kröner 1997, S. 35). Einige Jahre später konnten anhand der Entnahme fötaler Zellen aus dem Fruchtwasser (Amniozentese) genetische Anomalien bereits während der Schwangerschaft festgestellt werden. Der erste dokumentierte Fall der Abtreibung eines Fötus mit Down-Syndrom, welcher mithilfe einer Amniozentese diagnostiziert worden war, wird auf das Jahr 1968 datiert (Schwarz-Cowan 1994, S. 38). In Österreich wurde 1974 in Graz die erste Amniozentese durchgeführt und zytogenetisch ausgewertet. Innerhalb kurzer Zeit konnten pränataldiagnostische Untersuchungen etabliert werden (vgl. Rosenkranz/Zierler 1982).4 Wenig später wurden pränataldiagnostische Untersuchungen auch in Innsbruck angeboten. In Wien war die Situation zunächst ein wenig anders, da das Know-how für zytogenetische Untersuchungen am Institut für Histologie des Allgemeinen Krankenhauses erst aufgebaut werden musste, bevor auch dort pränataldiagnostische Untersuchungen angeboten werden konnten. Das Fach Humangenetik war in Wien Anfang der 1970er Jahre noch nicht institutionell verankert, wie das in Innsbruck bereits seit 1963 und in Graz seit 1969 der Fall war (Fonatsch et al. 2007, S. 250). In den folgenden Jahren nahm die Zahl pränataldiagnostischer Untersuchungen beständig zu und wurde insbesondere für Schwangere über 35 Jahre zu einer medizinischen Routine. Hintergrund dafür ist die sogenannte Altersindikation. Das Risiko für das Auftreten von Chromosomenanomalien steigt mit dem Gebäralter der Mutter (Snijders et al. 1999). Die Festlegung der Altersgrenze bei 35 Jahren ist im Prinzip willkürlich. Sie entspricht der Auffassung, dass bis zu diesem Alter die Risikowahrscheinlichkeit verhältnismäßig gering ist und aus medizinischer Sicht keine Veranlassung für eine pränataldiagnostische Untersuchung besteht (sofern keine anderen Risikofaktoren vorliegen). Bei der Definition der Altersgrenze werden nicht nur
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die ansteigende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von Chromosomenanomalien berücksichtigt, sondern auch die Kosten für eine einschlägige Untersuchung sowie das Risiko durch die Untersuchung selbst. Bei etwa 1% aller durchgeführten pränatalen Untersuchungen löst der Eingriff eine Fehlgeburt aus (de Graaf et al. 2002, S. 628). Das Eingriffsrisiko einer Chorionzottenbiopsie wird im Allgemeinen etwas höher bewertet als jenes einer Amniozentese (Stengel-Rutkowski 1997, S. 52–55).5 Bis Ende der 1990er Jahre galt die Altersindikation als Standardparadigma. Dies sollte sich durch die Einführung einer neuen Technologie jedoch dramatisch ändern. Einem britischen Forschungsteam am King’s College in London gelang es, einen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bestimmter chromosomaler Anomalien und der Ausbildung eines Ödems im Nacken des Fötus festzustellen (Nicolaides et al. 1992). Auf dieser Basis kann nun eine viel genauere Einschätzung des Risikos vorgenommen werden, dass eine schwangere Frau ein Kind mit einer chromosomalen Anomalie gebären wird, als dies auf Basis einer altersbezogenen Risikobewertung möglich ist. Werden zusätzlich zu dieser Messung der Nackenfalte unter Ultraschall (Nackenfaltentransparenzmessung) noch spezifische Werte des mütterlichen Blutes bestimmt, so kann die Vorhersagewahrscheinlichkeit noch viel genauer angegeben werden. Auf diese Weise lässt sich ein Großteil der Schwangerschaften mit Down-Syndrom und ähnlichen chromosomalen Anomalien erkennen. Der wesentliche Vorteil dieser Untersuchungen liegt darin, dass durch die Untersuchung selbst kein Risiko besteht, eine Fehlgeburt auszulösen. Die Abschätzung des Risikos auf das Vorliegen der genannten Chromosomenanomalien hat sich mittlerweile auf das gesamte Schwangerenkollektiv ausgeweitet. Die Nackenfaltentransparenzmessung wurde mit Anfang 2010 in das Untersuchungsprogramm des österreichischen Mutter-Kind-Passes aufgenommen (Ö1 Abendjournal vom 29. Dezember 2009). Die sogenannte Altersindikation gilt dementsprechend als überholt. Die Frage, ob eine Amniozentese oder eine Chorionzottenbiopsie durchgeführt werden soll oder nicht, muss nicht mehr allein anhand des Alters der Schwangeren entschieden werden. Man kann nun ganz genau sagen, ob das Risiko der jeweiligen Frau erhöht ist oder nicht. Ein Blick auf statistische Daten belegt die angesprochenen Entwicklungen, die sich bereits seit mehreren Jahren abzeichnen. Grundlage dafür sind Zahlen eines der humangenetischen Zentren Österreichs, die dem Autor in akkumulierter Form zur Verfügung gestellt wurden. Diese Daten belegen einen Rückgang invasiver pränataler Diagnostik seit 1995 bei einer gleichzeitigen Zunahme positiver Diagnosen. Dieser Umstand deutet klar darauf hin,
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dass die Zahl jener Frauen, deren „Risiko“ per Ultraschall (und Combined Test) abgeklärt wurde, deutlich zugenommen hat (eine ausführliche Darstellung dazu findet sich bei Wieser 2006). Dieser Schlussfolgerung schließen sich auch die vom Autor interviewten ExpertInnen an. Wenn also mehr Föten mittels Nackenfaltentransparenzmessung gescreent werden, wirft das die Frage auf, ob sich diese Tendenz auch in der Zahl durchgeführter Abtreibungen niederschlägt. Definitive Zahlen dazu sind schwer zu bekommen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass genau diese Angelegenheit in Österreich besonders stark tabuisiert ist. Über die Unwägbarkeiten empirischer Sozialforschung zum Thema Pränataldiagnostik hat Alexander Bogner ausführlich berichtet und darüber aus methodologischer Perspektive reflektiert (Bogner 2005). Doch auch die scheinbar objektive Sprache der Zahlen ist Gegenstand der Interpretation. Gelegentlich wird berichtet, wie „überraschend niedrig“ die Abtreibungsrate von Down Syndrom Föten sei (vgl. Standard 2007 vom 4. April). Gegen diese mediale Darstellung sprechen die Zahlen der Bundesanstalt Statistik Österreich (auch Statistik Austria oder kurz STAT). In einer Publikation aus dem Jahr 2006 wird angegeben, dass im Jahr 2003 genau elf Kinder mit Down Syndrom geboren wurden. Auch in den darauffolgenden Jahren 2004 und 2005 waren es nur elf Kinder (Statistik-Austria 2006, S. 69). Diese elf Down Syndrom Kinder können nun mit der Zahl jener Föten in Bezug gesetzt werden, die sich für eine Population von etwa 78.000 Geburten jährlich errechnen lässt.6 Grundlage dazu ist jene Datenbasis, die auch der Risikoabschätzung des Vorliegens von Down Syndrom per Nackenfaltentransparenzmessung zugrunde liegt (Snijders et al. 1999). Resultat dieser Abschätzung ist eine errechnete Abtreibungsrate von etwa 94% aller Down Syndrom Föten, die statistisch gesehen in Österreich zur Welt kommen müssten.7 Sicher, die hier angegebene Rate ist errechnet. Doch solange keine konkreten Zahlen zur Abtreibung nach positiver Pränataldiagnostik erhoben und öffentlich gemacht werden, steht zur Einschätzung der Sachlage keine bessere Basis zur Verfügung als die Angaben von Statistik Austria. Mit der Einführung der Nackenfaltentransparenzmessung hat sich mithin eine Ausweitung pränataldiagnostischer Untersuchungen auf das Gesamtkollektiv aller Schwangeren vollzogen. Mit der Einführung dieser neuen Untersuchungstechnologie haben sich jedoch noch weitere tiefgreifende Änderungen vollzogen. Sowohl medizinische ExpertInnen als auch untersuchte Frauen sprechen im Interview von einer Tendenz, wonach Schwangere vor dem ersten Screening mittels Ultraschall nicht mehr ausführlich über die Implikationen dieser Untersuchungen aufgeklärt werden und in
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diesem Sinn auch keine bewusste Entscheidung im Sinne eines „Informed Consent“ getroffen wird. Tatsächlich wird den untersuchten Frauen erst klar, worum es in letzter Konsequenz bei der Untersuchung gegangen ist, wenn sie mit einer erhöhten Risikowahrscheinlichkeit konfrontiert werden. Diese Tendenz ist insofern von Bedeutung, als die „informierte Entscheidung“ als ethisches Fundament der genetischen Medizin betrachtet wird (vgl. Wertz & Fletcher 2004). Aus genau diesem Grund werden die Entwicklungen im Fachbereich der Gynäkologie von HumangenetikerInnen sehr kritisch gesehen. Immer mehr Frauen treffen keine bewusste Entscheidung, bevor sie sich einer Untersuchung unterziehen. Vielmehr befinden sie sich bereits mitten im Geschehen, wenn eine Entscheidung plötzlich zur Debatte steht (Berger 2008). Die Letztentscheidung wird zwar immer noch von der betroffenen Frau getroffen, doch sind diese Entscheidungen nicht voraussetzungslos. Sie sind durch eine Reihe medizinischer Handlungen immer schon „vorinformiert“ (Wieser 2006). Auf diese Weise kommt es zu einer Verschiebung des ethischen Problems (der Entscheidung über Untersuchung und in weiterer Folge über eine allfällige Abtreibung) in den laufenden Untersuchungsprozess hinein und zugleich zu einer Verschiebung des ethischen Problems hin zu anderen medizinischen Einrichtungen (insbesondere zu humangenetischen Beratungsstellen). Die geschilderte Entwicklung zeichnet sich in Österreich seit 2002 ab und wird erst jetzt in ihrer Signifikanz und Tragweite deutlich (Wieser 2006). Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, warum es von großer Bedeutung ist, gerade auch jene Bereiche der genetischen Medizin auf ihre ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen zu untersuchen, die vermeintlich als längst etabliert und altbekannt gelten. Das dargestellte Problem ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil es die ethischen Grundwerte der genetischen Medizin betrifft (Entscheidungsautonomie).
4.2 Neugeborenenscreening Das zweite diskutierte Fallbeispiel betrifft Neugeborenenscreening. Auch hier lassen sich signifikante Veränderungen durch die Einführung einer neuen Technologie feststellen. Ähnlich wie die Pränataldiagnostik liegt die Einführung des Neugeborenenscreenings schon mehrere Jahrzehnte zurück. In Österreich wurde bereits 1966 mit der Pilotphase begonnen. Rasch wurde das routinemäßige Screening von Neugeborenen auf das Vorliegen von Phenylketonurie8
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(PKU) auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet und wurde so zum Standard in der österreichischen Neugeborenenmedizin. Im Laufe der Zeit wurden weitere fünf genetisch bedingte Stoffwechselkrankheiten in das Untersuchungsprogramm aufgenommen. Auf diese Krankheiten wird in Österreich seither de facto jedes Neugeborene routinemäßig getestet. Die Beteiligung am Screeningprogramm wird vom durchführenden Labor mit den Worten „annähernd die gesamte Neugeborenenpopulation“ angegeben (Eichler & Stöckler-Ipsiroglu 2001, S. 1316; vergleiche dazu auch Bodamer, Hoffmann, & Lindner 2007, S. 441). Im Jahr 2002 wurde durch die Einführung einer neuen Technologie, der sogenannten Tandemmassenspektrometrie (MS/MS), der Katalog der untersuchten Krankheiten von ursprünglich 6 auf 23 ausgeweitet (Stöckler-Ipsiroglu et al. o. J., S. 2). Somit wird mittlerweile in Österreich auf 20 genetisch bedingte Stoffwechselkrankheiten mittels MS/MS (Bodamer, Hoffmann & Lindner 2007, S. 442) sowie auf zusätzliche fünf mit klassischen Methoden getestet (Stöckler-Ipsiroglu et al. o. J., S. 13). An einer weiteren Ausweitung wird bereits geforscht. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie die Implementierung einer neuen Technologie medizinische Praxis tiefgreifend verändern kann. Die Gründe für die so rasche und so umfassende Diffusion der neuen Untersuchungstechnologie liegen in der Organisationsstruktur des Neugeborenenscreenings. Die Untersuchungen sind seit Jahrzehnten im Routinebetrieb der Geburtsmedizin etabliert. Die Auswertung wird zentral für ganz Österreich in einem Labor vorgenommen. Mit der Einführung der Tandemmassenspektrometrie in diesem Labor änderte sich somit das Untersuchungsprogramm im ganzen Land. Das Know-how für die neue Technologie musste aufgrund der zentralen Auswertung nur an einem Ort aufgebaut werden. Die Entnahme und der Versand der zu untersuchenden Proben – durch einen Stich in die Ferse werden dem Säugling wenige Tropfen Blut entnommen – erfuhren dabei keine wesentlichen Veränderungen, die eine aufwändige Umstellung erforderlich gemacht hätten. Diese organisatorischen Rahmenbedingungen lassen erkennen, unter welchen Umständen sich die Implementierung neuer Methoden zur Identifikation genetischer Krankheiten besonders rasch vollziehen kann. Zweifellos kann in der Möglichkeit, genetische Krankheiten frühzeitig zu erkennen, ein entscheidender Gewinn für die untersuchten Personen gesehen werden; nämlich dann, wenn auf diese Weise ein besserer Therapieerfolg erzielt werden kann. Tatsächlich liegt genau darin die Begründung für die Durchführung des Neugeborenenscreenings. In vielen Fällen steht der Gewinn durch eine frühere Diagnose außer Zweifel (andernfalls werden die jeweiligen Krankheiten mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung aufgrund
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der auffälligen Symptomatik klinisch diagnostiziert). In einigen Fällen liegen bislang jedoch noch keine klaren empirischen Belege vor, die diesen Vorteil belegen. Das Screening auf diese Krankheiten wird daher auch in medizinischen Fachkreisen ambivalent gesehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund unterscheiden sich die nationalen Screeningprogramme in Europa in ihrem Umfang beträchtlich voneinander (Bodamer, Hoffmann & Lindner 2007, Pollitt 2007). Das Neugeborenenscreening wird hier zur Diskussion gestellt, da mit diesem Beispiel deutlich gemacht werden kann, dass sich die Diffusion der genetischen Medizin gerade in Bereichen vollzieht, in denen von den untersuchten Personen kein Informed Consent eingeholt wird. Das Prinzip, das dem österreichischen Neugeborenenscreening zugrunde liegt, wird mit dem Begriff „Informed Dissent“ bezeichnet. Damit ist die Möglichkeit der Eltern gemeint, auf expliziten Wunsch das eigene Kind nicht untersuchen zu lassen. Allerdings ist die Aufklärung über die möglichen Konsequenzen einer nicht frühzeitig erkannten Stoffwechselkrankheit, die im Untersuchungsprogramm enthalten ist, für diese Eltern verpflichtend. Ein Verfahren, das vorsieht, Eltern nur dann aufzuklären, wenn sich diese gegen die vorgesehene Untersuchung am Neugeborenen aussprechen, bedeutet jedoch, dass der Großteil aller Eltern nicht über die Details des Neugeborenenscreenings und seine Bedeutung aufgeklärt wird (jedenfalls nicht in einem Sinn, wie es für eine informierte Entscheidung notwendig wäre). Die Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt werden kann, lautet, wie die beschriebene Vorgehensweise legitimiert werden kann. Die Antwort, die hierauf (von medizinischen ExpertInnen) in aller Regel gegeben wird, ist sinngemäß Folgende: Der therapeutische Nutzen durch eine frühzeitige Diagnose für das untersuchte Kind rechtfertigt die Untersuchung in einem Screening aller Neugeborenen. Im Wesentlichen geht diese Position auch mit den Richtlinien der WHO konform (vgl. Andermann et al. 2008). Ein weiteres breit anerkanntes Kriterium für die Durchführung von Screeninguntersuchungen sind deren geringe Kosten. Es ist evident, dass sich die Dauer der elterlichen Aufklärung auf die Kosten des entsprechenden Screeningprogrammes auswirkt. Hieraus resultiert ein Problem bei der praktischen Durchführung des Neugeborenenscreenings. Wie ausführlich können Eltern von jährlich etwa 78.000 Neugeborenen in Österreich beraten werden? Wie sehr kann dabei auf die einzelnen im Neugeborenenscreening enthaltenen Krankheiten eingegangen werden? Welches Personal soll zur Aufklärung eingesetzt werden? Aus gesundheitsökonomischer Perspektive spricht in dieser Hinsicht einiges für die Durchführung unter dem Prinzip des „Informed Dissent“. Das Problem der Elternaufklärung bleibt so aller-
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dings weiterhin virulent. Doch selbst in Ländern wie Großbritannien und Frankreich, wo vor der Abnahme des Fersenblutes die Zustimmung der Eltern eingeholt wird, haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass unter den gegebenen (zeitlichen) Rahmenbedingungen die Qualität des jeweiligen Consentverfahrens mangelhaft bleibt (Parsons, King & Bradley 2007; Vailly & Ensellem forthcoming).
5 Diffusion In den Bereichen der Pränataldiagnostik und des Neugeborenenscreenings lässt sich während der letzten Jahre eine besonders dynamische Entwicklung feststellen. Die Diagnose genetischer Krankheiten in anderen medizinischen Kontexten entwickelte sich im Vergleich dazu relativ moderat (Wieser, Freitag & Karner 2008). Zwar ist eine stetige Zunahme genetischer Tests festzustellen, doch ist die Zuwachsrate nicht mit dem sprunghaften Anstieg im Bereich der Pränataldiagnostik und des Neugeborenenscreenings vergleichbar, wo mittlerweile ein Großteil der Föten und nahezu jedes Neugeborene routinemäßig gescreent wird. Es ist auch als wesentlich zu erwähnen, dass in beiden Anwendungsfeldern nicht-genetische Methoden zur Identifizierung genetischer Anomalien eingesetzt werden. Diese Untersuchungen werden oftmals nicht als genetische Tests im eigentlichen Sinn verstanden, obwohl sie mit dem expliziten Ziel eingesetzt werden, Behinderungen und Krankheiten zu erkennen, die auf genetische Ursachen zurückzuführen sind. Vor diesem Hintergrund ist die zentrale Bedeutung von nicht-genetischen Untersuchungen hervorzuheben, die aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie als Rekrutierungsfunktion interpretiert werden kann (vgl. Callon 1986). Menschen suchen nur in sehr seltenen Fällen von sich aus eine humangenetische Beratungsstelle auf. In aller Regel werden sie dorthin von einem Arzt bzw. einer Ärztin überwiesen. Dieser Zuweisung liegt eine medizinische Untersuchung zugrunde, die Anlass zu einer weiterführenden genetischen Abklärung gibt. Gerade in dieser Hinsicht kommt Screeninguntersuchungen – wie sie im Bereich der Pränataldiagnostik und der Neugeborenenmedizin routinemäßig angewandt werden – eine essenzielle Bedeutung zu. Die bedeutende Zunahme von Untersuchungen, durch die Menschen in weiterer Folge für genetische Tests rekrutiert werden, ist nicht zuletzt auch deshalb relevant, da diese Untersuchungen in einer Weise durchgeführt werden, durch die dem untersuchten Individuum bzw. dessen Eltern nur unzureichend be-
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wusst wird, was eigentlich geschieht. Gerade in den Bereichen, in denen das Screening auf das Vorliegen genetischer Anomalien am stärksten zugenommen hat, werden die konkreten Untersuchungen nicht unter den Bedingungen des Informed Consent durchgeführt.9 Worum es in diesen Untersuchungen im Vorfeld zu genetischen Tests (im engeren Sinn) geht, wird den Eltern erst bewusst, wenn sie schon mitten im Geschehen sind (Berger 2008, Wieser 2006). Wurde mit der Frage nach der Diffusion genetischen Testens die quantitative Bedeutung der genannten Untersuchungen hervorgehoben, soll im nun Folgenden auf qualitative Veränderungen eingegangen werden. Die Frage, die damit diskutiert werden soll, lautet: Wie verändert sich durch die genetische Medizin die Art und Weise, wie Menschen Gesundheit und Krankheit erleben? Darüber hinaus kann allgemein gefragt werden, inwieweit sich Menschen vor dem Hintergrund des Wissens um die genetische Basis menschlichen Lebens in ihrer eigenen Existenz anders sehen und in diesem Bewusstsein auch anders handeln. Die These, dass Menschen ihre eigene Gesundheit zunehmend in genetischen Begriffen deuten, wurde in prominenter Form von Abby Lippman (1991, 1994) formuliert. Sie schreibt: „stories about health and disease are increasingly told in the language of genetics“ (Lippman 1991, S. 17) und schlägt für diese Entwicklung den Begriff „Geneticization“ [Genetisierung] vor. Lippman geht noch weiter und hält fest, dass Menschen nicht nur ihre Gesundheit, sondern ihr eigenes Leben insgesamt immer mehr als eine Folge genetischer Anlagen sehen. Sie konstatiert eine zunehmende Tendenz, „to claim that human genetics acts alone to make each the organism she or he is“ (Lippman 1991, S. 19).
6 Geneticization Lippmans Genetisierungsthese ist überaus beliebt und wird in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der genetischen Medizin sehr breit und mitunter auch kontroversiell rezipiert. Adam Hedgecoe (1998) hat darauf hingewiesen, dass sich für diese These nur wenig empirische Belege finden und sich zustimmende Argumente vorwiegend aus „makrotheoretischer Perspektive“ herleiten (vgl. Hedgecoe 1998, S. 241). Hier wird dieser Einwand zum Anlass genommen, die Frage aufzuwerfen, inwieweit Menschen ihre Gesundheitsprobleme und andere Lebensbereiche in genetischen Begriffen deuten. Es wird gezeigt, dass Menschen dies durchaus nicht
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immer tun. Die Erörterung dieser Frage wird auf eigenes empirisches Datenmaterial bezogen und anhand von Fallbeispielen diskutiert. Auf diese Weise wird versucht, zu einem differenzierteren Verständnis von Genetisierung beizutragen. Der Autor wendet sich somit gegen eine Generalisierung von Abby Lippmans Genetisierungsthese und versucht herauszuarbeiten, in welcher Hinsicht durchaus von Genetisierung gesprochen werden kann und in welchem Zusammenhang sich dies als nicht angebracht erweist.
6.1 Neugeborenenscreening Genetik betrifft Menschen nie nur als Einzelpersonen, sondern die Resultate eines genetischen Tests sind zugleich auch immer für andere Familienmitglieder der untersuchten Person relevant. Dieser Umstand erklärt sich schon allein aus der Möglichkeit heraus, dass genetische Anomalien an eigene Nachkommen weitergegeben werden können. Doch auch in einem anderen Sinn sind genetische Probleme immer für andere Menschen von Bedeutung. Sie betreffen auch die sozialen Beziehungen der Personen, in deren Familie ein genetisch bedingtes Gesundheitsproblem bekannt ist (vgl. Hallowell 1999). In einer empirischen Studie hat sich der Autor zusammen mit seinen KollegInnen damit auseinandergesetzt, wie Eltern, bei deren Kind im Rahmen des Neugeborenenscreenings Cystische Fibrose (CF) diagnostiziert wurde, mit dieser Situation umgehen. Hier zeigte sich, dass für die Eltern das dominierende Problem ist, wie sie die Versorgung ihrer Kinder möglichst gut gewährleisten können. Das zentrale Motiv ist es, die Lebenserwartung der Kinder durch fürsorgliche Pflege zu erhöhen. Dies umfasst die Einhaltung medizinischer Therapien, aber auch die umfassende Gestaltung des Alltags zum Wohle des Kindes. Zum einen geht es dabei um die Vermeidung von Infektionen, zum anderen um die Ermöglichung eines möglichst unbeschwerten und uneingeschränkten Aufwachsens des Kindes (soweit es die Krankheit eben erlaubt). Eine Mutter von vier Kindern, wovon zwei Söhne an CF erkrankt sind, schildert ihren Alltag im Umgang mit der Krankheit. Sie beschreibt, wie arbeitsintensiv und dominierend die Betreuung für sie ist. Allein der Aufwand, beim Kind für eine altersentsprechende Gewichtszunahme zu sorgen, ist beträchtlich. Von der Interviewpartnerin wird im nachfolgenden Interviewexzerpt aber auch angesprochen, wie sie versucht hat, die medizinische Versorgung ihrer Kinder mit allgemeiner Kinderbetreuung zu verbinden.
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„Also in Zeiten dieser schweren Schübe hat sich für mich persönlich alles um die Organisation der Erkrankung gedreht und nebenbei war der Alltag unterzubringen. Und das hat auch bedeutet – wir haben hier in [ORT] nicht so eine große Wohnung gehabt und die Kinder haben in einem Kinderzimmer in einem Stockbett geschlafen –, dass der in der Nacht – er war der Älteste und hat oben geschlafen – von oben Fontänen von Schleim heruntergebrochen hat. Dann hat man dieses zittrige Kind herunterhieven müssen, inhalieren, Boden aufwaschen. Also das war sehr arbeitsintensiv, sehr arbeitsintensiv; immer gut zureden beim Essen. Und was ich gemacht habe, also was sehr viel Frieden in die Familie gebracht hat: Ich habe die Zeit des Inhalierens untertags benutzt, um vorzulesen, und das war sehr begehrt. Da sind auch die anderen beiden dabei gesessen und . . . Also wir haben uns durch die Kinderliteratur durchgelesen. Ich habe also immer Kinderromane und später Jugendromane zuhause gehabt. Und das hat das sehr befriedet und entspannt, weil da haben sie immer schon gewartet und das war dann nicht eine Strafe, das Inhalieren, sondern da haben dann die Kleinen schon immer gesagt: ,Jetzt tu weiter, damit die Mama zu lesen beginnt.‘“ – Mutter von vier Kindern, zwei Söhne haben CF, einer ist bereits verstorben, der andere ist 29 Jahre alt.
Die narrativen Themen, die sich hier herausarbeiten lassen, sind nicht spezifisch für Eltern mit Kindern, die an einer genetisch verursachten Krankheit leiden, aber sie treten deutlicher hervor und sind sehr stark ausgeprägt. Der Unterschied zu „normalen“ Kindern liegt im Intensitätsgrad, in der Dominanz, welche das Motiv der elterlichen Fürsorge und Betreuung gewinnt. Insbesondere Mütter widmen sich vollständig der Aufgabe, für das kranke Kind da zu sein und richten alles andere daran aus. In der Analyse der Interviewdaten zeigte sich, dass es für die Eltern große Bedeutung hat, sich mit anderen Familien in ähnlicher Situation zu vergleichen. Durch den Vergleich lässt sich für die Eltern sichtbar machen, wie sehr es ihnen gelungen ist, durch die eigene Obsorge zum physischen Wohl des Kindes beizutragen. Wie schon angedeutet, haben Kinder mit Cystischer Fibrose oft Probleme mit der Gewichtszunahme. Demzufolge lässt sich schon mit bloßem Auge erkennen, wie das eigene Kind in dieser Hinsicht „versorgt“ ist. Auch andere medizinische Untersuchungen – wie insbesondere der Lungenfunktionstest – ermöglichen Vergleiche mit anderen. Wer von ärztlicher Seite bestätigt bekommt, dass die Lungenfunktion des eigenen Kindes überdurchschnittlich gut ist, erhält dadurch eine implizite Bestätigung des eigenen Betreuungserfolges. In einem Interview macht die Mutter eines 13 Jahre alten Jungen deutlich, wie wichtig für sie die ärztliche Rückmeldung ist. Gleichzeitig wird dieser eigene Erfolg als Gewinn für den Sohn rationalisiert.
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„Aber gut, hör zu: ,Wenn ich es nicht mache, dann stehst du nicht so gut da, wie du dastehst. Ich mache es ja schlussendlich für dich!‘ Ich mein’, ich freue mich, wenn sie [die betreuenden ÄrztInnen] sagen: ,Super Frau [Name], er ist wieder ganz bei den Besten.‘ Aber er profitiert, weil es für ihn Lebensjahre sind.“ – Mutter eines 13-jährigen Sohnes mit CF.
Solche Erfolgserlebnisse bei der Betreuung des erkrankten Kindes sind für die Eltern identitätsstiftend. Die Erfahrung, dem eigenen Kind durch eigene Leistung mehr Lebensjahre und eine bessere Lebensqualität zu schenken, ist durchaus ein Umstand, aus dem ein positives Selbstbild aufgebaut werden kann. Es ist zentral zu erkennen, dass sich Identität hier vorwiegend durch konkretes soziales Handeln ausbildet, das sich am anschaulichen Resultat dieser Handlungen „messen“ lässt. Genetik (als kognitive Referenz) spielt in diesem Zusammenhang nahezu gar keine Rolle. Erzählt und gedeutet werden diese Geschichten des eigenen Lebens jedenfalls in sozialen Begriffen und nicht in genetischen, wie das die Lippman-These nahelegen würde. Wo also finden sich Spuren der Genetisierung? Es lässt sich argumentieren, dass durch den medizinischen Diskurs über die genetischen Ursachen der Krankheit Cystische Fibrose in einem bestimmten Sinn eine implizite „Schuldzuschreibung“ stattfindet. Natürlich wird kein Arzt oder Ärztin den Eltern erklären, dass sie im moralischen Sinn schuld an der Krankheit ihres Kindes sind. Aus der sachlichen Erklärung der genetischen Bedingtheit ergibt sich jedoch ein Ursachenzusammenhang, aus dem sich implizit eine „Erbschuld“ im Sinne von Wirkungsmechanismen ableiten lässt. Doch in keinem der Interviews schilderten die Eltern, dass sie selbst unter Schuldgefühlen leiden, die sich auf diese Weise herleiten. Im Gegenteil, der Umstand, dass es sich um eine rezessive Erbkrankheit handelt, beinhaltet für betroffene Paare bis zu einem gewissen Grad sogar ein Entlastungsmoment, zumal die Genmutation von beiden Eltern weitergegeben werden muss, damit bei einem Kind die Krankheit auftritt. So lässt sich das Auftreten als schicksalshafter Zufall einordnen, für den man persönlich keine Verantwortung zu tragen hat, da man weder bewusst noch intendiert gehandelt hat, sondern sich völlig unvorbereitet in einer Situation wiederfindet, mit der man überhaupt nicht gerechnet hat und auch nicht rechnen konnte. Das folgende Interview mit der Mutter einer 16-jährigen Tochter zeigt diesen Umgang mit der Konstruktion von Schuld. „Also wir haben geredet mit meiner Familie, mit meiner Herkunftsfamilie, und weniger mit der Herkunftsfamilie von meinem Gatten, weil die der Meinung waren, ich bin schuld. Darum war ich ja so froh, dass wir beide schuld sind – unter Anführungszeichen. Also ich sehe das eigentlich überhaupt nicht als
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Schuld, aber es lässt sich so am besten schnell so sagen. Ich habe das nie als Schuld empfunden, das muss ich wirklich dazu sagen. Gott sei Dank, weil das kann das ganze System noch mal ordentlich belasten. Aber von der Herkunftsfamilie meines Mannes wurde das schon so gesehen.“ – Mutter einer 16-jährigen Tochter mit CF.
Aus dem Interviewexzerpt wird deutlich, dass eine Schuld, die sich aus Vererbung herleitet, als Zuschreibung von Familienangehörigen gesehen wird. Von einer solcherart konstruierten genetischen „Erbschuld“ versucht sich die zitierte Frau abzugrenzen. Der medizinische Diskurs über die Vererbung rezessiver Erbkrankheiten kann hier zwar entlastend wirken, doch mitunter verschließen sich Angehörige diesem Wissen und verharren in ihren Schuldzuweisungen, wie das im oben zitierten Interview angedeutet wird. Paare reagieren darauf vielfach mit einer Abgrenzung gegenüber der eigenen Herkunftsfamilie und ziehen sich in die eigene Partnerschaft zurück, in der sie frei(er) von solchen Schuldzuschreibungen leben können. Wenn sich auch eine gewisse Genetisierung in der Konstruktion von Schuld festhalten lässt, so ist dennoch anzumerken, dass dieser Aspekt in der Problemwahrnehmung der Eltern eine vergleichsweise nachgeordnete Rolle spielt. Schuldgefühle spielen für die Eltern von Kindern mit CF zwar durchaus eine große Rolle. Was für Eltern jedoch viel bedeutsamer ist als genetische Ursachenzusammenhänge, ist die Konstruktion von Schuld, die sich von intentionalem Handeln herleitet. Was als belastend empfunden wird, ist, in der fürsorglichen Betreuung des Kindes nicht den gewünschten Erfolg zu erzielen. Der Bereich, in dem sich am deutlichsten Belege für eine Genetisierung finden lassen, betrifft reproduktive Fragen. Für Eltern, bei deren Kind eine genetisch bedingte Krankheit diagnostiziert wurde, ist es unmöglich, das Wissen über das Wiederholungsrisiko zu ignorieren, d. h. dass dieselbe Krankheit bei weiteren Schwangerschaften neuerlich auftreten kann. Sind die genetischen Ursachenzusammenhänge den Eltern erst einmal erklärt worden, so können diese nicht mehr an einen Punkt zurückkehren, wo sie von ihrem „reproduktiven Risiko“ nichts wussten. Überlegungen hinsichtlich Familienplanung werden nach einer Diagnose immer auf das genetische Risiko bezogen. Eine Mutter von zwei Kindern, bei deren dreijährigem Sohn CF diagnostiziert wurde, schildert ihre Überlegungen bezüglich einer neuerlichen Schwangerschaft: „Aber nachdem das Risiko doch hoch ist, haben wir uns eigentlich dagegen entschieden [gegen eine weitere Schwangerschaft]. Und, ja, vor allem, es könnte gesund sein, dann würd’ eh alles passen. Aber wenn es wieder CF
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hat, dann fangen wir wieder von klein auf an. Dann haben wir wieder die gleichen Sorgen. Dann hab i zwei CF-Kinder im Haus, die si’ gegenseitig vielleicht sogar anstecken mit irgendwelchen Keimen. Dann sitzen sie immer zu zweit im Spital. Also mi hat das schon beeinflusst. Manchmal bin ich neidig g’wesen, wenn i g’hört hab: ,Jo, wir wollen bald a’mal a Drittes, wenn wir Haus fertig baut haben und so.‘ Da war i momentan a bissl neidisch, weil i mir dacht hab, das is’ das, was mir verwehrt bleibt. Aber i hab inzwischen gelernt, damit zu leben, dass es halt so is’.“ – Mutter von zwei Kindern, deren dreijähriger Sohn CF hat.
Das Risiko des Wiederauftretens von CF bei weiteren Schwangerschaften ist stets präsent. Diese Möglichkeit wird von der interviewten Frau in den Alltag übersetzt. Sie skizziert Auswirkungen, die ein weiteres Kind mit CF für ihre Familie haben könnte. Es ist allerdings keineswegs so, dass sich aus dem Wissen um ein spezifisches genetisches Risiko auch schon ableiten ließe, wie die Entscheidung betroffener Paare ausfällt. Wie sich anhand von Interviewdaten zeigen lässt, unterscheiden sich die Lösungen, welche die Eltern für sich selbst finden, sehr deutlich voneinander. Für manche kommt eine weitere Schwangerschaft nicht infrage, für andere durchaus. Manchen erscheint die Pränataldiagnostik ein sinnvolles Angebot, andere lehnen diese Untersuchungen kategorisch ab. Auch Adoption und die Annahme von Pflegekindern bieten Optionen, die für manche Paare infrage kommen, für andere hingegen nicht. Inhaltlich lässt sich keine Tendenz angeben, welcher dieser Wege für Eltern in der angesprochenen Situation adäquat erscheint. Doch eines haben alle Eltern gemeinsam: Sie wollen eine Lösung finden, die sie vor sich selbst auch als verantwortungsvolle Entscheidung vertreten können. Was sie konkret als vertretbare Lösung empfinden, unterscheidet sich allerdings beträchtlich. In der Familie zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Krankheit zu finden, ist für die Eltern ein zentrales Motiv. Genetik wirkt im Kontext von reproduktiven Entscheidungen gewissermaßen als Auslöser. Sie macht die bewusste Reflexion über das genetische Wiederholungsrisiko unumgänglich, sofern über Familienzuwachs nachgedacht wird. Ob die jeweilige Entscheidung jedoch als vertretbar erachtet wird oder nicht, wird vorwiegend in sozialen Begriffen artikuliert. Ist man in der Lage, für das kranke Kind in dem Maße zu sorgen, wie es notwendig ist? Wie wirken sich weitere Kinder (auch wenn sie gesund sind) auf das Familiengefüge aus? Wem entstehen welche Nachteile, und welche Konsequenzen sind für wen zu tragen? Wichtig ist es, hervorzuheben, dass diese Überlegungen nicht in genetischen Begriffen vorgenommen werden, wie es die Lippman-These nahelegt,
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sondern in sozialen. Doch ihre „Härte“, ihre Unumgänglichkeit und Unleugbarkeit resultiert aus dem Wissen über den genetischen Erbgang der jeweiligen Krankheit. Mit dieser Einschränkung (dass in sozialen Begriffen nachgedacht wird) lassen sich durchaus Belege für eine „Genetisierung“ reproduktiver Entscheidungen empirisch vorfinden. Doch muss stets hinzugefügt werden, dass reproduktive Überlegungen relativ klar abgegrenzt sind von dem, was den Alltag der Eltern von Kindern mit Cystischer Fibrose ausmacht: die tägliche Versorgung und Pflege des Kindes.
6.2 Pränataldiagnostik Durch das bisher Gesagte rückt die Reproduktionsmedizin in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Genetisierungsthese. Dies gilt für alle Paare, die durch den medizinischen Diskurs auf ein spezifisches genetisches Problem hingewiesen wurden. Die Pränataldiagnostik betrifft jedoch nicht nur Paare, für die ein solches genetisches Risiko bereits bekannt ist, sondern sie richtet sich zu einem beträchtlichen Teil auch auf Paare, bei welchen keine einschlägige Familiengeschichte bekannt ist. Quantitativ gesehen zielen pränataldiagnostische Untersuchungen in erster Linie auf die Identifikation chromosomaler Anomalien, insbesondere das Down-Syndrom. Mittels Nackenfaltentransparenzmessung kann die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen dieser Chromosomenanomalie ermittelt werden. Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass der Großteil aller schwangeren Frauen auf diese Weise untersucht wird. Auch hier lässt sich sagen: Ist eine erhöhte Risikowahrscheinlichkeit erst einmal durch eine medizinische Untersuchung erhoben worden, so lässt sich die Schwangerschaft nicht mehr ohne dieses Wissen wahrnehmen. Hier kann Abby Lippman recht gegeben werden: Bei weiteren Entscheidungen – ob aufgrund des erhöhten Risikos das mütterliche Blut untersucht, eine Amniozentese oder eine Chorionzottenbiopsie durchgeführt werden soll oder nicht – lässt sich die ärztliche Mitteilung nicht mehr wegdenken, dass das Risiko des Vorliegens von Down-Syndrom im eigenen Fall als „erhöht“ eingestuft wurde. Der folgende Interviewauszug macht deutlich, wie eine untersuchte Frau beginnt, die eigene Schwangerschaft aus einer Risikoperspektive wahrzunehmen. „Ich war dann jedenfalls innerhalb von zwei Wochen zweimal bei der Frau Doktor [Name], gemeinsam mit meinem Mann, der mich da auch nicht nur psychisch, sondern auch physisch unterstützt hat, und wir haben ein sehr inten-
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sives Beratungsgespräch gehabt und selber auch über das Internet und so weiter informiert und sind eigentlich dann zum Schluss gekommen, es ist die Nackentransparenz zwar erhöht und offensichtlich gibt es so einen Grenzwert, wenn der von 3 mm überschritten wird, dann erst sagen die meisten Frauenärzte, man sollte das vielleicht genauer anschauen. Und die Nackenfalte in der 12. bzw. in der 13. Woche war dann 2,7 mm, also knapp unterhalb.“ – Mutter eines Sohnes und neuerlich schwanger mit 33 Jahren.
Das zitierte Interview zeigt, dass es dieser Frau schwer fällt, mit einem Wahrscheinlichkeitsbefund zurechtzukommen, der keine eindeutige Einschätzung zulässt. Deutlich wird auch, dass diese Frau der Risikologik folgt, in die sie die vorgenommene Nackenfaltentransparenzmessung geführt hat, und ihre Entscheidung im Hinblick auf die ermittelte Wahrscheinlichkeit abwägt. Die Frage ist nun, ob auch bei jenen Schwangerschaften, bei denen kein erhöhtes Risiko festgestellt wurde, von einer Genetisierung (der Wahrnehmung) von Schwangerschaft gesprochen werden kann. Hier muss jedenfalls angeführt werden, dass schwangere Frauen einen starken Wunsch haben, die Schwangerschaft als eine „schöne und unbeschwerte Zeit“ zu erleben. Mit anderen Worten: Gerade nicht an mögliche genetische oder sonstige Probleme zu denken, war für viele der interviewten Frauen Programm. Viele äußerten die Befürchtung, es könnte dem Kind nicht gut tun, sich ständig Sorgen zu machen, und gaben an, dementsprechend um ein positives Erleben der Schwangerschaft bemüht zu sein (vgl. Wieser et al. 2006). Im nachfolgenden Interviewexzerpt wird das deutlich: „Man ist belastet, was auf die Entwicklung des Kindes aber nicht so sein sollte. Man sollte eigentlich gut drauf sein in der Schwangerschaft und sich nicht mit Ängsten rumplagen . . .“ – Mutter eines Sohnes, 34 Jahre bei Schwangerschaft.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird es immer wieder als erschütternd erlebt, wenn das Ideal der guten Befindlichkeit, das positive Erleben der eigenen Schwangerschaft nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, weil eine medizinische Untersuchung beharrlich klarmacht, dass es ein Problem gibt, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Es kommt zum sprichwörtlichen „Fall aus allen Wolken“. Umgekehrt kann man aber auch sagen, dass es für sehr viele der interviewten Frauen ein dezidiertes Ziel ist, die eigene Schwangerschaft nicht zu medikalisieren und folglich auch gerade nicht zu genetisieren. Immer wieder wurde von den interviewten Frauen angesprochen, wie sehr sie es schätzen, wenn ihre Schwangerschaft nicht nur mit einem diagnostischem Blick wahrgenommen wird, der beständig danach
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sucht, ob möglicherweise etwas nicht Ordnung ist. Eine Frau artikuliert im Interview den Wunsch, nicht bloß als Objekt medizinischer Untersuchungen wahrgenommen werden zu wollen: „. . . nur ich habe das Gefühl, dass die Mediziner unter Anführungszeichen einfach zu sehr an den Geräten hängen. Die Geräte geben denen irgendwo eine Sicherheit. Das ist nachvollziehbar, da haben sie die Dokumentation. Da sind sie abgesichert, so habe ich das Gefühl. Das ist wichtig, das alles zu dokumentieren, ist ja auch wahrscheinlich wichtig, aber ich . . . da geht so viel Energie und Zeit rein, kommt mir vor, dass nachher für das Wesentliche, für dieses Zwischenmenschliche zu wenig übrig bleibt, und dass sie auch dieses zusätzliche Wissen nicht haben. Das geht mir einfach ab.“ – Mutter von fünf Kindern, schwanger mit 39 Jahren mit dem jüngsten Kind.
Dieser Wunsch, Schwangerschaft nicht permanent zu medikalisieren und als schöne und unbeschwerte Zeit erleben zu können, ist immer mit einer gewissen Ambivalenz verbunden und mit einem gewissen Verdrängen möglicher gesundheitlicher Probleme. Kann vor diesem Hintergrund von Genetisierung gesprochen werden? Meine Antwort lautet: Ja, aber bei differenzierter Betrachtung nur mit den bereits genannten Einschränkungen.
7 Diskussion: Geneticization revisited Zweifellos ändert sich das Leben von Menschen, in deren Familie eine genetisch bedingte Krankheit bzw. Behinderung diagnostiziert wurde, in bedeutsamer Weise. Dennoch kann nur eingeschränkt von „Genetisierung“ im Sinne von Abby Lippman gesprochen werden. Die These, dass Menschen immer mehr in genetischen Begriffen über sich selbst und ihre eigene Gesundheit nachdenken, stimmt in zwei wesentlichen Punkten nicht. Der weitaus überwiegende Teil aller Eltern, deren Kinder im Neugeborenenscreening auf mehr als zwanzig genetische Krankheiten getestet werden, hat von diesem Vorgang überhaupt keine Kenntnis. Von einem Nachdenken in genetischen Begriffen kann bei den meisten Eltern daher nicht gesprochen werden, vor allem dann nicht, wenn der Befund – wie in aller Regel – negativ ist. Festzuhalten bleibt aber, dass es gerade dieser Bereich der Medizin ist, in dem sich die Diffusion diagnostischer Technologien zur Identifikation genetischer Krankheiten besonders rasch und besonders weitreichend vollzogen hat (Bodamer, Hoffmann & Lindner 2007; Pollitt 2007). Der Kernbereich der Genetisierung liegt nach wie vor im reproduktiven Kontext. Doch auch hier muss differenziert werden. Die Art und Weise, wie ein Ul-
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traschallscreening von den meisten Schwangeren wahrgenommen wird, ist am besten mit dem Wort Ambivalenz zu beschreiben. Zwar wissen die meisten schwangeren Frauen, dass durch die vorgenommene Untersuchung möglicherweise gesundheitliche Probleme erkannt werden können, doch versuchen sehr viele, erst gar nicht genauer über das nachzudenken, was gefunden werden könnte. Sie wollen sich dem erst stellen, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt (vgl. Scully, Porz & Rehmann-Sutter 2007, S. 211).10 Im folgenden Interviewexzerpt wird diese Haltung zum Ausdruck gebracht: „Ich habe dann viel mit Freundinnen geredet, die auch immer wieder schwanger geworden sind und zur Zeit viel schwanger sind – die immer wieder sagen, im Grund mag ich gar nicht daran denken, was dir passiert ist, weil es mir dann ganz anders wird, dann geht es mir ganz schlecht in der Schwangerschaft. Ich denke, das ist ein Schutzmechanismus, dass man sagt, ich wünsche mir ein gesundes Kind und ich hoffe auf ein gesundes Kind und setze mich nicht damit auseinander, was könnte alles sein. Das ist sehr belastend. Und ich habe es mit der [Name des Kindes] erlebt, wie belastend es ist, wenn man sich selbst fragt, was könnte alles sein. Das ständig im Hinterkopf zu haben.“ – Mutter von drei Kindern, schwanger mit 32 Jahren mit dem jüngsten Kind.
Auch von anderen interviewten Frauen wurde der starke Wunsch artikuliert, Schwangerschaft gerade nicht aus einer Problemperspektive wahrzunehmen und in genetischen Begriffen über sich selbst und sein werdendes Kind nachzudenken, sondern die eigene Schwangerschaft als eine besonders schöne Zeit erleben zu wollen (Wieser et al. 2006). Generell lässt sich jedoch sagen, dass sich schwangere Frauen immer mehr in einem ambivalenten Zustand befinden: Dem emotional geprägten Erleben der Lebensphase, in der sie sich aktuell befinden, und einer auf der kognitiven Ebene liegenden Ungewissheit, die sich aus dem Wissen speist, dass möglicherweise (genetisch bedingte) gesundheitliche Probleme auftreten könnten. Genetisches Wissen wird jedoch unausweichlich, sobald eine Diagnose gestellt wird oder das gegebene Untersuchungsergebnis zumindest eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer genetischen Krankheit (bzw. Behinderung) nahelegt. Nachdem dies den Betroffenen mitgeteilt wurde, lässt sich der genetische Zusammenhang nicht mehr aus dem Denken eliminieren. Die Genetisierung findet also durch konkretes medizinisches Handeln statt: durch das ärztliche Gespräch. In diesem Zusammenhang wird sichergestellt, dass den Betroffenen die Rolle genetischer Faktoren klargemacht wird und auch wie diese für weitere Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Selbst wenn dabei sehr viel Wert auf Entscheidungsautonomie gelegt und durch nicht-direktive Beratung versucht wird, Entscheidungen nicht
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zu präjudizieren, so bleibt dennoch festzuhalten, dass von Seiten der beratenden ÄrztInnen mit beträchtlichem Aufwand versucht wird, in den Prozess der Entscheidungsfindung jenes medizinische Wissen einfließen zu lassen, das der beratende Arzt oder die beratende Ärztin bereithält. Der Appell lautet gewissermaßen: Sie können sich entscheiden, wie Sie wollen, aber Sie müssen wissen, welche genetischen Zusammenhänge in Ihrer konkreten Situation gegeben sind. Die Norm ist hier ein Wissen-Müssen (vgl. Berger 2008). In diesem Sinn kann man durchaus von einer Genetisierung sprechen. Dennoch: Sie findet in spezifischen sozialen Situationen (dem Beratungsgespräch) statt und sie wird auf konkrete Probleme bezogen. Außerhalb dieser Kontexte ist es viel schwerer, in diesem Sinn von Genetisierung zu sprechen. Vor diesem Hintergrund lassen sich empirische Belege anführen, die gegen eine generalisierte Genetisierung sprechen. Die These Abby Lippmans, wonach Menschen ihr Leben immer mehr in genetischen Begriffen wahrnehmen, wird nicht der Lebensrealität jener gerecht, in deren Familie eine genetische Krankheit aufgetreten ist. Das Leben dieser Menschen wird in überwiegendem Maße durch den täglichen Umgang mit der Krankheit bestimmt. Es mag auf den ersten Blick überraschen, doch genetische Zusammenhänge spielen in diesem Kontext nur eine untergeordnete Rolle. Die Art und Weise, wie Menschen ihr eigenes Leben sehen und wie sie gesundheitliche Probleme in ihrer Familie wahrnehmen, bewegt sich in erster Linie in sozialen Begriffen, und zwar selbst dann, wenn bei ihrem Kind im Rahmen des Neugeborenenscreenings eine genetische Krankheit diagnostiziert wurde (vgl. Freitag forthcoming). Wie oben dargelegt wurde, geht es den interviewten Familien um Versorgung und Pflege sowie um den erkennbaren Erfolg dabei. Die Eltern thematisieren Auswirkungen auf familiäre Beziehungen und wie sie es schaffen, ihren Alltag neu zu organisieren. Sie sprachen weniger über die Ursachen der diagnostizierten Krankheit als über konkrete Handlungsmöglichkeiten im Umgang damit. Genetische Aspekte bleiben nahezu ausschließlich der Erörterung reproduktiver Fragen vorbehalten, doch selbst dort werden soziale Aspekte – insbesondere die Auswirkungen auf andere Familienangehörige – stärker thematisiert.
8 Schlussbetrachtungen Im Lichte der dargelegten Argumentation erscheint eine Generalisierung der Genetisierungsthese als undifferenziert und unangemessen. Es kommt vielmehr darauf an, durch empirische Befunde genauer herauszufinden, in welchen spezifischen Kontexten welche Probleme auftreten und in welcher
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Weise Menschen über ihre Situation nachdenken, wenn sie mit genetischer Medizin konfrontiert werden. Darüber hinaus ist es wesentlich, die Analyse nicht bloß auf der Ebene von Selbstreflexion zu betreiben. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur darum, zu fragen, in welchen Begriffen Menschen ihre eigene Situation zu verstehen versuchen. Zusätzlich ist es wichtig, danach zu fragen, wie sich die Beziehungen dieser Menschen konkret verändern, wenn sie mit genetischer Medizin konfrontiert werden. Die Auswirkungen der genetischen Medizin manifestieren sich nicht nur durch „die Gene im Kopf“, sondern es geht insbesondere auch um jene Implikationen, die sich gar nicht in genetischen, sondern in sozialen Begriffen beschreiben lassen. Aus diesem Grund wurde mit diesem Beitrag für empirische Analysen plädiert. Wilhelm Berger formuliert diesen Zugang als ein methodologisches Prinzip: Den Ausgangspunkt in der konkreten Situation und nicht in allgemeinen Prinzipien oder theoretischen Modellen zu wählen (vgl. Berger 2006). Wendet man den Blick auf die medizinische Praxis, so wird damit auch deutlich, dass sich ethische und soziale Implikationen nicht allein darin niederschlagen, dass Menschen zunehmend sich selbst, ihre Gesundheit und ihr Leben allgemein im Lichte der Genetik interpretieren. Es ist geradezu so, dass sich die Diffusion diagnostischer Technologien zur Identifikation genetisch bedingter Krankheiten bzw. Behinderungen jenseits öffentlicher Wahrnehmung und bewusster Auseinandersetzung vollzieht. Nicht-genetische Untersuchungen üben eine bedeutsame Rekrutierungsfunktion aus. Bei ihrer Durchführung wird nur selten Informed Consent eingeholt. Kommt es in weiterer Folge zu einer bewussten Entscheidung, für die auch ausführliche medizinische Informationen bereitgestellt werden, so befinden sich jene, die zu entscheiden haben, immer schon mitten in dem Prozess, dessen Verlauf sie entscheiden sollen. Das humangenetische Beratungsideal, wonach Entscheidungen getroffen werden sollen, bevor einschlägige medizinische Handlungen gesetzt werden, erweist sich aus dieser Perspektive oftmals als Illusion. Damit gewinnen Studien an Bedeutung, die den Blick auf die medizinische Praxis richten, in der sich konkrete Veränderungen beobachten lassen. Aus dieser Perspektive wird besser verständlich, warum gerade auch Bereiche Aufmerksamkeit verdienen, die mitunter bereits seit Längerem in den medizinischen Alltag integriert und Teil medizinischer Routine geworden sind.
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Genetische Diagnostik wird hier in einem erweiterten Sinn verstanden. Es geht um Untersuchungen, deren Ziel die Identifikation genetisch bedingter Krankheiten oder Behinderungen ist, und zwar unabhängig davon, welche Methode dabei eingesetzt wird. Die beiden angesprochenen Projekte sind „Prenatal Testing: Individual Decision or Distributed Action“ und „Genetic Testing: Diffusion – Frameworks of Application – Identity and Ethical Reflection“. Beide Forschungsprojekte wurden kooperativ von der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt und dem Interuniversitären Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur (IFZ) in Graz durchgeführt und von Wilhelm Berger koordiniert. Im Projekt zur Pränataldiagnostik bestand das Forschungsteam aus Sandra Karner, Martina Ukowitz, Michaela Jahrbacher, Wilma Mert, Wilhelm Berger und Bernhard Wieser. Im Projekt zum Neugeborenenscreening arbeiteten Sandra Karner, Daniela Freitag, Wilhelm Berger und Bernhard Wieser mit. „Durch die pränatale Diagnose genetisch bedingter Erkrankungen erfuhr die genetische Familienberatung eine erhebliche Erweiterung ihrer Möglichkeiten. An die Stelle unsicherer und für den Einzelfall nur beschränkt gültiger Risikoziffern tritt hier eine Diagnose mit hoher Treffsicherheit.“ (Rosenkranz & Zierler 1982: 213) Das Eingriffsrisiko variiert je nach Alter der Schwangeren, Krankengeschichte, nach Art des Eingriffs (Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie) und auch nach Können des Arztes bzw. der Ärztin. Dementsprechend findet sich in der Literatur eine gewisse Bandbreite beim angegebenen Eingriffsrisiko. Die genaue Zahl der Lebendgeborenen betrug im Jahr 2003 exakt 76.944, im Jahr 2004 waren es 78.968 und im Jahr 2005 wurden 78.190 lebend geboren (StatistikAustria 2006: 69). Selbst wenn man von einer Geburtenrate von Down Syndrom Föten ausgeht, wie sie im zuvor zitierten Zeitungsartikel angegeben wird (1: 900), würde das im dort angesprochenen Jahr (2006) auf eine Abtreibungsrate von etwa 57% hinauslaufen. Vor diesem Hintergrund wirkt die oben schon erwähnte mediale Darstellung doch ein wenig befremdlich. Phenylketonurie ist eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung, die unbehandelt zu schwerer Retardierung führt, durch eine spezielle Diät jedoch gut behandelt werden kann (vgl. Guthrie & Susi 1963; Dhondt 2007: 418). Abby Lippman hat bereits 1991 argumentiert, dass in den Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft eine erste Form pränataldiagnostischer Untersuchungen zu sehen ist, für die kein Informed Consent eingeholt wird (vgl. Lippmann 1991: 21). Scully, Porz & Rehmann-Sutter weisen darüber hinaus darauf hin, dass in dieser Haltung weniger Irrationalität zu sehen ist, sondern dass sie vielmehr eine Notwendigkeit dafür sein kann, die eigene moralische Handlungsfähigkeit zu erhalten (Scully, Porz & Rehmann-Sutter 2007: 217).
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Ö1 Abendjournal: Nachrichtensendung des Österreichischen Rundfunks, gesendet am 29. Dezember 2009 um 18:00 Uhr.
Erich Grießler, Anna Pichelstorfer
Erich Grießler, Anna Pichelstorfer
Die Diskussion der genetischen Beratung in der politischen, klinischen und juristischen Domäne Österreichs Zusammenfassung: Der Beitrag geht der Frage nach, wie genetische Beratung in der politischen, juristischen und klinischen Domäne in Österreich konzipiert wird. Er zeigt auf, dass in diesen unterschiedlichen Domänen divergierende Konzepte von Autonomie und Nondirektivität – zwei Leitkonzepte der bioethischen Debatte – existieren und diese Diskrepanz zu Spannungen zwischen den AkteurInnen dieser Domänen führen können. Die Konzeptionen von Selbstbestimmung und Mündigkeit in der politischen und juristischen Domäne lassen sich nur schwer mit den konkreten Bedingungen und Herausforderungen der klinischen Praxis in Einklang bringen. Insbesondere wird dies in der juristischen Domäne bei den Konzepten von Aufklärung/Beratung und Mündigkeit der PatientInnen deutlich, die diese aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Konsumentenschutz und dem Haftungsrecht gewinnt. Schlagworte: Konzeption genetischer Beratung · Autonomie · Österreich
The Austrian Discussion of Genetic Counseling in the Political, Juridical and Clinical Domain Abstract: This contribution explores the question, how genetic counseling is conceptualized in the political, juridical and clinical domain in Austria. Divergent concepts of autonomy and non-directiveness – two central guiding principles in the bioethical discussion – exist in these three domains simultaneously. This also leads to conflicts and tension between actors from different domains. The conception of autonomy which is developed and used in the political and juridical domain is hard to reconcile with the actual conditions, constraints and challenges of clinical practice. This is evident in the juridical domain, which develops its concepts of counseling and autonomy from the civil law code, consumerism and liability law. Keywords: Concepts of Genetic Counseling · Autonomy · Austria E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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1 Einleitung 1.1 Fragestellung Ziel der genetischen Beratung vor und nach einer prädiktiven genetischen Analyse am Menschen ist es, Ratsuchende „über ihr individuelles genetisches Risiko“ aufzuklären (Hildt 2006, S. 255) und damit zu deren „individuelle(n) Krankheitsvorsorge oder selbstverantwortliche(n) Familienplanung“ (ebd.) beizutragen. Eine Reihe von Gründen sind dafür ausschlaggebend, dass der genetischen Beratung sowohl in der einschlägigen Literatur (vgl. Kessler 1984, Chadwick 1993 und 1997, Waldschmidt 1996, Damm 2003, Regenbogen 2003, Sass 2003, Kollek/Lemke 2008, Hadolt/Lengauer 2009) als auch in internationalen Leitlinien (vgl. Hirschberg et al. 2009, S. 333 ff.) und in nationalen gesetzlichen Regulierungen – für Österreich im Gentechnikgesetz (GTG) 1994 (BGBl 1994) und Gentechnikbuch (BMGF 2002) – ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Genetische Beratung dient zum einen der Abgrenzung der zeitgenössischen Humangenetik von gänzlich diskreditierten, staatlich gelenkten eugenischen Zwangsprogrammen (z. B. in der Zeit des Nationalsozialismus). Zum anderen besteht bei genetisch bedingten Erkrankungen häufig eine beträchtliche Diskrepanz zwischen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten (Hadolt/Lengauer 2009, S. 23). Genetische Beratung soll Ratsuchende unterstützen, mit den Konsequenzen dieses Missverhältnisses umzugehen. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit genetischer Beratung mit dem Postulat eines genetischen Exzeptionalismus begründet, der genetischer Information eine Sonderrolle gegenüber anderen, in der Medizin gewonnenen Daten einräumt (für einen Überblick: Kollek/Lemke 2008, S. 53 ff.). Gründe für diesen – zuletzt kritisierten (ebd., S. 60) – Sonderstatus sind die Unveränderlichkeit genetischer Information, die je nach Krankheit unterschiedlich sichere Vorhersagbarkeit ihres tatsächlichen Auftretens sowie die Mitbetroffenheit blutsverwandter Angehöriger (z. B. Hadolt/Lengauer 2009, S. 30 ff.). In der bioethischen Diskussion der genetischen Beratung werden insbesondere die Konzepte Autonomie und Nondirektivität betont (vgl. z. B. Hadolt/Lengauer 2009, S. 37 ff.). Autonomie (autos = selbst, nomos = Regel) – ursprünglich ein politischer Begriff – der sich auf die Selbstverwaltung griechischer Stadtstaaten bezog, bedeutet, dass Personen dann autonom sind, „wenn ihre Entscheidungen und Handlungen ihre eigenen sind, wenn sie sich selbst bestimmen“ (Hildt 2006, S. 49).
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In einem nicht-direktiven Beratungskonzept genetischer Beratung übermittelt der Berater/die Beraterin „die relevanten Informationen und Hilfestellungen bei der Entscheidung über eine Testinanspruchnahme sowie im Umgang mit dem Analyseergebnis (. . .), ohne jedoch die Rat suchende Person bei der Entscheidungsfindung zu beeinflussen“ (Hildt 2006: S. 259 ff.). Diese baut auf der Annahme auf, dass „nicht der Berater die anstehenden Entscheidungen treffen sollte, sondern die jeweiligen Ratsuchenden selbst, da sie es sind, die am ehesten einschätzen können, welche Entscheidungen in Bezug auf eine Testinanspruchnahme und den Umgang mit den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für ihren weiteren Lebensverlauf die besten sind“ (ebd.). In diesem Beitrag soll die Frage beantwortet werden, wie genetische Beratung in Österreich diskutiert wird und welche Konsequenzen sich aus eventuell divergierenden Konzeptualisierungen von Autonomie und Nondirektivität in unterschiedlichen Domänen ergeben. Welche AkteurInnen sind in diese Diskussionen in welcher Form und in welchen Arenen einbezogen und welche Übereinstimmungen und Unterschiede lassen sich in verschiedenen gesellschaftlichen Domänen feststellen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus unterschiedlichen Konzeptualisierungen und wie wird damit umgegangen? Darüber hinaus stellen wir die Frage, welche Schlussfolgerungen sich daraus für die politische Regulierung der medizinischen Anwendung von Biotechnologie, der „roten Gentechnik“, in Österreich ableiten lassen.1 Bei der Behandlung dieser Fragen erscheinen uns neben einigen anderen Domänen insbesondere drei gesellschaftliche Bereiche zentral:2 • Klinische Domäne: In ihr treffen ÄrztInnen und Ratsuchende bzw. PatientInnen in unterschiedlichen Settings aufeinander und verwirklichen Autonomie und Nicht-Direktivtät in unterschiedlichem Ausmaß (vgl. z. B. Hadolt/ Lengauer 2009, Kovacs/Frewer 2009, Kreuz 2009, Steiner et al. 2009, Zoll 2009). • Politische Domäne: In ihr werden gesetzliche Vorgaben der genetischen Beratung entwickelt, welche die klinische Domäne regulieren (vgl. z. B. Knoppers/Isai 2004, Mayer et al. 2009). • Juristische Domäne: In ihr werden bei Rechtsstreitigkeiten bindende Festlegungen von Mündigkeit, Aufklärung und Beratung im Verhältnis von ÄrztInnen und PatientInnen definiert. Höchstrichterliche Entscheidungen sind nicht nur für Einzelfälle bindend, sie sind auch richtungsweisend für ähnlich gelagerte Fälle und können Anstöße für Gesetzesänderungen geben. Ein Vergleich der Konzeptualisierung genetischer Beratung in den drei gewählten Domänen muss die zeitliche Abfolge berücksichtigen, in der sich die Domänen tatsächlich mit genetischer Beratung auseinandergesetzt ha-
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ben. Für Österreich zeigt sich dabei eine deutliche zeitliche Diskrepanz: In der klinischen Domäne wurde genetische Beratung bereits praktiziert, lange bevor sie im GTG 1994 und später im Gentechnikbuch überhaupt gesetzlich geregelt wurde. Des weiteren wird genetische Beratung professionsintern kontinuierlich diskutiert. Im Gegensatz dazu beschäftigte sich die politische Domäne erst seit den späten 1980er Jahren mit der Genanalyse am Menschen. Gewählte PolitikerInnen befassten sich damit vor allem im Zuge der Verhandlungen um das GTG in den frühen 1990er Jahren. In dieser Periode war auch die Verwaltung, d. h. MinisterialbeamtInnen, federführend in der Gesetzesentwicklung tätig (Biegelbauer/Grießler 2009, Grießler 2010). Auch befassten sich BeamtInnen seitdem kontinuierlich mit diesem Bereich, etwa im Rahmen der Entwicklung des Gentechnikbuchs oder der Novellierungen des GTG. In der juristischen Domäne wurde Beratung von Ratsuchenden und PatientInnen im Kontext von Genetik erst relativ spät zum Thema und dies bisher lediglich im Kontext von Pränataldiagnostik. In den letzten Jahren ergingen einige umstrittene Urteile des Obersten Gerichtshofs zu „wrongful birth“ (OGH 2006), die auch Anlass dazu gaben, gesetzliche Änderungen zu diskutieren.3
1.2 Methoden Die Ungleichzeitigkeit der Diskussion genetischer Beratung in der klinischen, politischen und juristischen Domäne macht unterschiedliche empirische Zugänge notwendig. Wir greifen dazu auf Ergebnisse zweier Forschungsprojekte zurück, die wir im Rahmen des GEN-AU-Programmes des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung durchgeführt haben4 und die sich mit genetischer Beratung5 und „Bildern vom menschlichen Leben“ im Rahmen der Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik6 beschäftigten. In der politischen Domäne ist die Entstehung der entsprechenden Gesetze und Verordnungen nicht mehr direkt beobachtbar, sondern nur mehr aus Dokumenten rekonstruierbar. Daher führten wir eine Dokumentenanalyse zur Entstehung des Gentechnikgesetzes 1994 (BGBl 1994) im Bereich der Genanalyse am Menschen durch, wobei wir uns auf den Aspekt der Beratung konzentrierten. Darüber hinaus analysierten wir die in den Folgejahren erarbeitete Konkretisierung der gesetzlichen Vorgabe der genetischen Beratung im Gentechnikbuch (BMGF 2002) und die Novelle des GTG im Jahr 2005 (BGBl. 2005). Grundlage der Analyse waren publizierte und
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graue Literatur, öffentlich zugängliche Dokumente des Gesetzgebungsprozesses sowie Materialen des Johanna Dohnal-Archivs (JDA). Wie bereits erwähnt wird genetische Beratung in der klinischen Domäne seit langem kontinuierlich praktiziert und diskutiert. Um die Sichtweise von PraktikerInnen zu analysieren, haben wir zur Untersuchung dieser Domäne in den Jahren 2006 und 2007 vier Gruppendiskussionen organisiert, in denen insgesamt 40 ExpertInnen und StakeholderInnen7 die genetische Beratung anhand von Fallbeispielen umfassend analysierten und reflektierten (Grießler et al. 2009). Für die Auswertung in Hinblick auf unser Forschungsfragen wurden Zusammenfassungen der Ergebnisse und Flip-Charts, welche die ModeratorInnen der Dialoge während der Gespräche erstellten, themenanalytisch ausgewertet. Im Zentrum stand dabei die Fragestellung, wie die TeilnehmerInnen Selbstbestimmung und Nondirektivität diskutierten. Für die Untersuchung der juristischen Domäne wählten wir wiederum einen anderen Zugang und führten drei qualitative ExpertInneninterviews mit führenden VertreterInnen des Obersten Gerichtshofs (OGH), der österreichischen Rechtsanwaltskammer sowie der universitären Forschung im Bereich des Medizinrechts durch. Für die Interviews wurden fachlich kompetente und sachlich zuständige Personen in zentralen Positionen des österreichischen Justizsystems ausgewählt. Die leitfadenorientierten Interviews fanden im Jänner 2007 statt, dauerten zwischen einer und eineinhalb Stunden und befassten sich mit Beratung im Kontext genetischer Untersuchungen, insbesondere im Rahmen des damals kürzlich ergangenen OGH Urteils zu „wrongful birth“ (OGH 2006). Die Gespräche wurden digital aufgezeichnet, vollständig transkribiert und themenanalytisch in Hinblick auf unsere Fragestellung ausgewertet. Darüber hinaus beobachteten wir eine Fortbildungsveranstaltung, in der eine führende Repräsentantin des OGH die erwähnte Entscheidung mit MedizinerInnen diskutierte.8 Der Beitrag folgt im Aufbau der Unterteilung in die drei Domänen: Zunächst werden im Abschnitt, der der politischen Domäne gewidmet ist, wichtige gesetzliche Regelungen der genetischen Beratung dargestellt, deren Entwicklung von den frühen 1990er Jahren bis ins Jahr 2005 skizziert und die Diskussion in der politischen Domäne dargestellt. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse der Gruppendiskussionen von PraktikerInnen dargestellt. Im nächsten Abschnitt folgt die Analyse des Konzepts der Beratung in der Domäne der Judikatur. Der letzte Abschnitt ist dem Vergleich der Domänen und Schlussfolgerungen gewidmet.
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2 Die politische Domäne 2.1 GTG 1994 Die genetische Beratung wird bereits im Gentechnikgesetz 1994 (GTG) erwähnt, allerdings bleiben die für unsere Untersuchung zentralen Punkte im Gesetzestext oft nur implizit. So hält das GTG in seiner Fassung aus dem Jahr 1994 fest, dass „vor und nach der Genanalyse zur Feststellung einer Veranlagung für eine Erbkrankheit oder zur Feststellung eines Überträgerstatus (. . .) eine ausführliche Beratung der zu untersuchenden Person“ statt zu finden hat (§ 69 Abs. 1 GTG, Hervorhebung d. A.). Die Beratung beschränkt sich dabei nicht auf medizinische Fakten, sondern schließt auch andere Aspekte mit ein. Sie muss die „sachbezogene umfassende Erörterung aller Untersuchungsergebnisse und medizinischen Tatsachen sowie deren soziale und psychische Konsequenzen“ umfassen (Hervorhebung d. A.). Festgehalten wird auch die Wichtigkeit nicht-medizinischer Aspekte in der Beratung, indem das GTG postuliert, dass „auf die Zweckmäßigkeit einer zusätzlichen nichtmedizinischen Beratung durch einen Psychotherapeuten oder Sozialarbeiter hinzuweisen“ ist. Dazu muss der/die Beratende „konkrete Hinweise auf solche Beratungsmöglichkeiten“ schriftlich anbieten (§ 69 Abs. 2 GTG). Auch der Aspekt der Nondirektivität der genetischen Beratung spielt bereits im GTG 1994 eine Rolle. Allerdings taucht er nur im Kontext der pränatalen Genanalyse auf, in dem das GTG festhält, dass diese „keinesfalls direktiv erfolgen“ darf.
2.2 Gentechnikbuch 2002 Als Möglichkeit seiner flexiblen Konkretisierung sieht das GTG 1994 das sogenannte Gentechnikbuch vor. Die Redaktion des Gentechnikbuchs liegt in der Verantwortung der einmal jährlich zusammentretenden Gentechnikkommission, die auf Vorschlag ihres jeweiligen wissenschaftlichen Ausschusses entscheidet.9 Im Falle der Genanalyse am Menschen ist der „Wissenschaftliche Ausschuss zu Genanalyse und Gentherapie am Menschen“ (WAGG) zuständig.10 Von 1999 bis 2002 bestand eine vom WAGG bestellte, multidisziplinäre Arbeitsgruppe „Genetische Beratung“, die „Leitlinien für die genetische Beratung“ erarbeitete (vgl. BMGF 2002). Diese wurden im Jahr 2002 im WAGG mehrheitlich angenommen und bilden das „Zweite Kapitel des Gentechnikbuchs gemäß § 99 Abs. 2 GTG“ (Nationalrat 2005a, S. 6).
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Diese Leitlinien regeln den „Umfang und Inhalt einer genetischen Beratung vor und nach Durchführung einer Genanalyse, die Möglichkeit der Beiziehung eines Psychotherapeuten, das Recht auf Wissen bzw. NichtWissen des Untersuchten über die Ergebnisse der Untersuchung, den Datenschutz, die Verschwiegenheitspflicht der Beratenden sowie die erforderliche Qualifikation der Beratenden einschließlich der Verpflichtung zu regelmäßiger Fortbildung“ (ebd.). Entsprechend den Leitlinien ist es das Ziel der genetischen Beratung, „dem Ratsuchenden helfen, auf der Basis der erforderlichen Informationen zu autonomen und möglichst auch langfristig akzeptierbaren Entscheidungen zu gelangen“ (BMGF 2002: S. 1). Das Gentechnikbuch ist wesentlich detaillierter als das GTG. Während das Gesetz, wie bereits dargestellt, über Nondirektivität lediglich im Kontext der pränatalen Tests spricht, erweitern die Leitlinien diesen normativen Anspruch. Das Gentechnikbuch hält fest, dass „diese Beratung nicht direktiv durchgeführt werden (darf)“ (ebd.). Die Richtlinien legen detailliert die Themen fest, die in der Beratung vor dem genetischen Test angesprochen werden müssen. Diese umfassen (1) „Klärung der persönlichen Fragestellungen und des Beratungszieles“; (2) „Erhebung der persönlichen und familiären gesundheitlichen Geschichte (Stammbaum-Erhebung, Anamnese)“; (3) „Bewertung vorliegender ärztlicher Befunde bzw. Befundberichte, ausführliche Informationen über die in Frage stehende(n) Erkrankung(en) sowie über die vorhandenen oder fehlenden prophylaktischen/therapeutischen Möglichkeiten, aber auch über die Vorsorgemaßnahmen“; (4) „ausführliche Beratung über das Wesen, die Tragweite, die Aussagekraft und mögliche Fehlerquellen einer geplanten Untersuchung (Genanalyse) und über deren mögliche Bedeutung für Lebens- und Familienplanung“ (ebd.). Auch die Themen der Beratung nach der genetischen Analyse sind festgelegt. Sie muss eine sachbezogene umfassende Erörterung der Testergebnisse und der medizinischen Tatsachen sowie die möglichen medizinischen, sozialen und psychischen Konsequenzen beinhalten. Sie darf nicht direktiv sein. In Fällen einer Disposition für eine erbliche Krankheit mit schweren physischen, psychischen und sozialen Konsequenzen soll ein Psychotherapeut direkt in die Beratung eingebunden sein. Dies geschieht entweder auf persönlichen Wunsch des/der Beratenen oder auf Vorschlag des/der BeraterIn. In Fällen, in denen die Beratung durch eine/n PsychotherapeutIn oder eine/n SozialarbeiterIn ratsam ist, sollte der/die BeraterIn darauf schriftlich hinweisen. Auch kann auf Selbsthilfegruppen und andere Beratungseinrichtungen hingewiesen werden (ebd., S. 2).
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Die Richtlinien sehen vor, dass der/die Beratene grundsätzlich das Recht habe, alle Ergebnisse des genetischen Tests zu kennen, jedoch sollte er/sie auch auf sein/ihr Recht hingewiesen werden, spezifische Ergebnisse nicht wissen zu wollen. Diesem Wunsch muss der/die Beratende entsprechen, wenn er explizit ausgesprochen und dokumentiert wurde. Der Inhalt der Beratung muss in einem Brief in einer dem/der Beratenen verständlichen Form zusammengefasst werden. Dieser Brief ist für den/die Ratsuchende gedacht und mit dessen/deren Einverständnis auch für den/die veranlassende/n Arzt/Ärztin (ebd.).
2.3 Novelle des GTG 2005 Im Jahr 2005 wurde das GTG aufbauend auf den Ergebnissen einer ExpertInnengruppe im Gesundheitsministerium novelliert (Nationalrat 2005a, S. 6). In Hinblick auf genetisches Testen und Beratung umfasste die Reform eine Änderung der Definition von genetischen Tests, die Einführung unterschiedlicher Typen genetischer Tests und einige Änderungen bei der genetischen Beratung. Die Novelle des GTG konkretisierte die im Jahr 1994 nur kursorisch definierte genetische Beratung und nahm dazu die bereits erwähnten Leitlinien des zweiten Kapitels des Gentechnikbuchs auf: Vor der genetischen Analyse muss eine ausführliche Beratung der zu untersuchenden Person, deren vertretungsbefugter Erziehungsberechtigter oder des Sachwalters/der Sachwalterin erfolgen. Diese muss „das Wesen, die Tragweite und die Aussagekraft der Analyse“ umfassen und hat durch den „veranlassenden in Humangenetik/medizinischer Genetik ausgebildeten Facharzt bzw. den für das Indikationsgebiet zuständigen Facharzt“ zu erfolgen (§ 69 Abs. 3 GTG). Nach der genetischen Analyse muss die Beratung „die sachbezogene umfassende Erörterung aller Untersuchungsergebnisse und medizinischen Tatsachen sowie mögliche medizinische, soziale und psychische Konsequenzen umfassen. Dabei ist bei entsprechender Disposition für eine erbliche Erkrankung mit gravierenden physischen, psychischen und sozialen Auswirkungen auch auf die Zweckmäßigkeit einer zusätzlichen nichtmedizinischen Beratung durch einen Psychologen oder Psychotherapeuten oder durch einen Sozialarbeiter schriftlich hinzuweisen. Zusätzlich kann auf andere Beratungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen hingewiesen werden“ (§ 69 Abs. 4 GTG). Weder die Beratung vor, noch jene nach einer genetischen Analyse darf direktiv erfolgen. Der/die Ratsuchende ist bereits bei Beginn des Beratungsge-
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sprächs auf sein/ihr Recht, das Ergebnis der Analyse und die daraus ableitbaren Konsequenzen nicht zu erfahren, hinzuweisen. Dieses Recht auf NichtWissen besteht jederzeit, auch „nach erfolgter Einwilligung zur genetischen Analyse oder nach erfolgter Beratung“ (§ 69 Abs. 5 GTG). Ein Beratungsbrief beendet die Beratung. Er fasst die wesentlichen Inhalte des Beratungsgesprächs in allgemein verständlicher Weise zusammen (§ 69 Abs. 6 GTG). Zusammenfassend zeigt sich im Laufe einer Entwicklung von mehr als zehn Jahren eine zunehmende Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmungen. Die genetische Beratung war im GTG 1994 zwar vorgesehen, Inhalte und Vorgaben dazu waren aber kaum definiert. Die Konzepte Autonomie und Nondirektivität wurden in der Regelung angesprochen, blieben aber meist implizit. Nondirektivität wurde nur im Kontext des – aufgrund der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch politisch besonders heiklen – Bereichs der pränatalen Diagnostik erwähnt. Die Ausdifferenzierung der rechtlichen Vorgaben der genetischen Beratung aus dem GTG sowie eine Konkretisierung der Konzepte Autonomie, Nondirektivität und Recht auf Wissen und Nicht-Wissen wurden erst in den dem Gesetzesbeschluss folgenden zehn Jahren vorgenommen (im Gentechnikbuch sowie in der Novelle des GTG im Jahr 2005).
2.4 AkteurInnen und Arenen Im folgenden Abschnitt wenden wir uns der Frage zu, wie, wo und durch wen es in der politischen Domäne zur fortschreitenden Konkretisierung der genetischen Beratung gekommen ist. Dazu verwenden wir die Konzepte AkteurInnen und Arenen. Unter AkteurInnen verstehen wir vor allem VertreterInnen von Organisationen, aber auch Einzelpersonen, welche versuchen, in den Gesetzgebungsprozess einzugreifen. Innerhalb der Gruppe von AkteurInnen erscheint uns eine Differenzierung in PolitikerInnen, VerwaltungsbeamtInnen und AkteurInnen des Feldes sinnvoll: • Unter PolitikerInnen verstehen wir MinisterInnen und gewählte MandatarInnen, aber auch deren KabinettsmitarbeiterInnen. • Zur Verwaltung gehören BeamtInnen des federführenden Ministeriums sowie VertreterInnen anderer Ministerien und Verwaltungseinrichtungen. • Zu AkteurInnen des Feldes zählen wir VertreterInnen von Interessensorganisationen, Wirtschaft, Wissenschaft und NGOs sowie Einzelpersonen, die in die politische Domäne intervenieren. Unter Arenen verstehen wir physische, aber auch virtuelle „Orte“, in denen AkteurInnen im Gesetzgebungsprozess formell und informell interagieren11.
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Einzelne Arenen haben ihre eigenen Regeln und erzeugen eigene Temporalitäten (vgl. für das Begutachtungsverfahren Biegelbauer/Grießler 2009, für das Parlament z. B. Crewe 2005, Crewe/Müller 2006). Im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses können dieselben AkteurInnen in verschiedenen Arenen interagieren, wobei unterschiedliche Arenen unterschiedlich wirkungsmächtig sind (vgl. Grießler 2010) und von unterschiedlichen AkteurInnen dominiert werden. Beispiele für von PolitikerInnen dominierte Arenen sind z. B. Parteiorganisationen, Ministerrat sowie Parlament.12 Zu den in der Regel von der Verwaltung dominierten Arenen der Gesetzgebung gehören im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses etwa Vorbegutachtungs- und Begutachtungsverfahren (vgl. Biegelbauer/Grießler 2009). AkteurInnen des Feldes finden Zugang zu diesen Arenen z. B. durch parlamentarische und/oder ministerielle Hearings und Kommissionen, durch Begutachtungsverfahren, aber auch durch informelle Gespräche. Ihr Zugang wird von Politik und Verwaltung reguliert. Zwischen den AkteurInnen des Feldes bestehen beträchtliche Unterschiede im Zugang zum Gesetzgebungsprozess. So waren in die Gesetzeswerdung und Umsetzung des GTG AkteurInnen der Wirtschaft und medizinische ExpertInnen deutlich stärker integriert als etwa NGOs, die PatientInneninteressen vertreten (vgl. Grießler 2008). Wie fand nun die Auseinandersetzung der politischen Domäne mit genetischer Beratung und den Konzepten von Autonomie und Nondirektivität statt?
2.4.1 Arenen der PolitikerInnen In der politischen Domäne wurden genetische Beratung sowie die Konzepte Autonomie und Nondirektivität kaum diskutiert. Im Zentrum der Auseinandersetzung von PolitikerInnen standen vielmehr die Themen Freisetzung genetisch modifizierter Organismen („grüne Biotechnologie“) und die industrielle Nutzung von Biotechnologie (im Gesetz die sogenannte Arbeit in geschlossenen Systemen oder landläufig auch „graue Biotechnologie“ genannt). Obwohl auch Aspekte der Genanalyse am Menschen kontrovers diskutiert wurden, war diese Auseinandersetzung weitaus weniger heftig und fand auch deutlich weniger breiten (öffentlichen) Raum als dies bei der grünen und grauen Biotechnologie der Fall war (vgl. Grabner 1999, Seifert 2002). Die genetische Beratung an sich wurde in politischen Dokumenten fast nicht thematisiert und schon gar nicht problematisiert.
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In der Kontroverse politischer MandatarInnen um die Genanalyse am Menschen stand zunächst die Frage im Mittelpunkt, ob diese nicht gänzlich verboten werden solle. SPÖ-PolitikerInnen – insbesondere die von der Frauenministerin Johanna Dohnal geführte SPÖ-Frauenorganisation – nahmen Anfang der 1990er Jahre eine prononciert restriktive Haltung ein. Ein im SPÖ-Klub diskutierter Vorentwurf vom 1. 3. 1991 enthielt ein generelles Verbot von „Genomanalysen“ und deren Nutzung für Einstellungsuntersuchungen, Arbeits- und Versicherungsverträge. Die Nutzung für medizinische Indikationen wurde an das Verlangen der Patientin/des Patienten und an die medizinische Zweckmäßigkeit gebunden. Damit ist das Konzept der Autonomie implizit angesprochen. Der Aspekt der Beratung tauchte in der vorgeschlagenen Regelung jedoch nicht auf (JDA, N. N. 1991). Gleichlautend mit den Forderungen der Sozialistischen Frauen (Dohnal et al. o. J.) forderte der SPÖ-Klub in einer Pressekonferenz am 8.6.1990 sehr knapp und restriktiv das „Verbot jeder obligatorischen pränatalen Diagnostik, die mit Hilfe von gentechnischen Methoden durchgeführt wird“ sowie ein „Verbot jeder obligatorischen Untersuchung und Analysen des menschlichen Erbgutes“. Darüber hinaus seien „[g]entechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen (. . .) zu untersagen“ (JDA, Dohnal et al. o. J.). Ausführlicher befasste sich die „Parlamentarische Enquete Kommission Technologiefolgenabschätzung am Beispiel Gentechnologie“ im Jahr 1992 mit Fragen der genetischen Analyse am Menschen (Nationalrat 1992a, Grabner 1999). Sie empfahl bezüglich der genetischen Beratung unter anderem (Nationalrat 1992a, S. 12 ff.): • das Vorliegen einer medizinischen Indikation, • ein Abwehrrecht „wonach niemand zu Genanalyse und zu Handlungen auf Grundlage der Ergebnisse solcher Analyse und zur Weitergabe der Ergebnisse gezwungen werden kann“, • Bestrafung jeglicher Ausübung von Druck zur Durchführung einer Genanalyse oder zur Weitergabe und Verwendung von entsprechenden Daten, • die Freiheit des Einzelnen, zu entscheiden, „was er über sich wissen will“, das Beachten der „Auswirkungen des Wissens über eine möglicherweise belastete Zukunft auf den konkreten Menschen“, • die Ermöglichung einer begleitenden psychosozialen Beratung, • einen besonderen Datenschutz für persönliche genetische Daten, • ein Verbot der Verwendung von Gendiagnostik in Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht und Versicherungswesen, • ein Verbot der Speicherung „genetisch individuell zuordenbarer Informationen auf vernetzten Datenträgern“.
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Die Empfehlungen stellen das einzige öffentlich zugängliche politische Dokument dar, das detailliert auf Probleme der Genanalyse am Menschen eingeht, indem es etwa ein Abwehrrecht formuliert und das Dilemma von Recht auf Wissen und Recht auf Nicht- Wissen thematisiert. Diese Formulierungen fanden jedoch keinen Eingang in das GTG 1994. Nach der Annahme des Regierungsentwurfs im Ministerrat wurde die Regierungsvorlage des GTG (Nationalrat 1994a) im März 1994 dem Gesundheitsausschuss des Nationalrats zugewiesen. Dieser richtete noch am selben Tag einen Unterausschuss ein, der das Gesetz beraten sollte (Nationalrat 1994b). Auch diese beiden Ausschüsse befassten sich fast ausschließlich mit der grünen und grauen Biotechnologie. Nur ein Änderungsantrag bezog sich auf die Genanalyse am Menschen, dieser betraf allerdings eine rein sprachliche Änderung (ebd.). Dieses Muster der kursorischen Erörterungen von Fragen der medizinische Anwendung von Biotechnologie am Menschen fand auch in der Plenardebatte des Nationalrats seine Fortsetzung (Nationalrat 1994c, d). Das Thema wurde wenig und die damit verbundene genetische Beratung noch weniger zur Sprache gebracht. Geschah dies, so überwogen positive Erwartungen an die Genanalyse am Menschen (Nationalrat 1994c). Nur drei Abgeordnete der Oppositionsparteien setzten sich damit zum Teil kritisch auseinander (ebd.). Beratung war in der parlamentarischen Debatte nahezu kein Thema. Der Abgeordnete Günther Stummvoll führte „Verbesserung der Beratung der von Genanalysen Betroffenen“ an, präzisierte aber nicht, worin diese bestünde. Er stellte fest: „Wir haben im Bereich der Genanalysen auch eine genaue Regelung vorgesehen, wer die Genanalyse veranlassen darf, daß (sic!) keine Genanalyse ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen vorgenommen werden kann und ähnliches“ (ebd., S. 19396). Gesundheitsministerin Christa Krammer stellte in ihrem Beitrag fest, dass im Falle der Genanalyse „der Entwurf das Recht jedes Menschen auf psychologische Beratung vor[sieht]“ (ebd., S. 19397). Zusammenfassend setzten sich gewählte PolitikerInnen in den frühen 1990er Jahren – gemessen an den zugänglichen Dokumenten – mit Fragen genetischer Beratung kaum auseinander. Eine Ausnahme bildete die Enquete Kommission, die jedoch nur eingeschränkten Einfluss auf die Gesetzgebung hatte (vgl. Grießler 2010). 2.4.2 Arenen der Verwaltung Zentrale Arenen der Verwaltung im Gesetzgebungsprozess sind das Vorbegutachtungs- und das Begutachtungsverfahren (vgl. Fischer 1972). Daneben
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können BeamtInnen auch Einfluss auf politische Arenen haben, wenn sie als ExpertInnen in den parlamentarischen Raum geladen werden. Das Begutachtungsverfahren zum GTG 1994 war ungewöhnlich umfangreich und schloss neben Bundesministerien, Behörden, Landesregierungen, gesetzlichen Interessenvertretungen und der katholischen Kirche vor allem auch viele WissenschaftlerInnen und MedizinerInnen, aber auch gentechnikkritische NGOs ein. Insgesamt gingen mehr als 70 inhaltlich sehr heterogene, unterschiedlich umfangreiche und detaillierte Stellungnahmen ein. Für den relativ restriktiv gestalteten Ministerialentwurf sprachen sich das Ministerium für Frauenangelegenheiten im Bundeskanzleramt, das Familienministerium (BMUJF), zahlreiche NGOs und die katholische Kirche aus. Zum Teil sehr heftige Widerstände bestanden von Seiten des Wirtschaftsministeriums (BMwA), des Wissenschaftsministeriums (BMWF), des Landwirtschaftsministeriums (BMLF) und des Justizministeriums (BMJ), der Vereinigung Österreichischer Industrieller, der Bundeswirtschaftskammer, von FirmenvertreterInnen, wissenschaftlichen Einrichtungen und der Ärztekammer. Auch die Stellungnahmen im Begutachtungsverfahren konzentrierten sich auf grüne und graue Biotechnologie. Die Genanalyse am Menschen spielte eine extrem untergeordnete Rolle. Von den wenigen Stellungnahmen, die sich überhaupt damit befassten, wollte die Mehrzahl die genetische Analyse am Menschen in einem eigenen Gesetz regeln und kritisierte die vorgesehenen Einschränkungen der Nutzung. Diese Position wurde von WissenschaftlerInnen, MedizinerInnen und VertreterInnen der Wirtschaft eingenommen. Für strengere Richtlinien sprachen sich nur wenige Stellungnahmen aus (Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte 1993, Katholische Frauenbewegung 1993). Insgesamt thematisierten die Stellungnahmen den Aspekt der genetischen Beratung kaum. Positionen, die den restriktiven Entwurf kritisierten, monierten, dass das GTG nicht der richtige rechtliche Rahmen für die Regelung der genetischen Beratung sei (Österreichische Ärztekammer 1993, Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft 1993) und dass die Gentechnik nur eine von mehreren Analysemethoden darstellte, um relevante Daten für eine humangenetische Beratung zu erheben (Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft 1993, Medizinischen Fakultät der Universität Wien 1992). Diskutiert wurde auch, welche medizinischen Fachrichtungen humangenetische Beratung anbieten dürften (Österreichische Ärztekammer 1993, Institut für Medizinische Biologie und Humangenetik 1993), ob psychosoziale Beratung zwingend vorgeschrieben werden solle (ebd., Universitätsklinik für Innere Medizin 1993) und wer die Kosten dafür tragen solle (BMAS 1993, Medizinische Fakultät der Universität Wien 1992), sowie in welchen Fällen eine Einverständniserklärung zur geneti-
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schen Diagnose entfallen könne (Medizinische Fakultät der Universität Wien 1993, Österreichische Gesellschaft für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin 1993, Austrotransplant 1993). Die von MedizinerInnen durchgeführte genetische Beratung wurde in den wenigen Stellungnahmen, die diese ansprachen, als unproblematisch dargestellt und die Zweckmäßigkeit psychosozialer BeraterInnen zum Teil in Frage gestellt (Institut für Medizinische Biologie und Humangenetik 1993, Universitätsklinik für Innere Medizin 1993). Für psychosoziale Beratung sprachen sich die Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte (1993), die Homosexuelle Initiative Wien (1993) und die Katholische Frauenbewegung (1993) aus. Ergebnis der Analyse ist somit, dass PolitikerInnen die genetische Beratung kaum diskutierten. Die Gestaltung der rechtlichen Vorgaben für genetische Beratung war vielmehr Aufgabe der FachbeamtInnen in der Verwaltung. Sie leisteten diese Arbeit im Vorbegutachtungs- bzw. Begutachtungsverfahren, in denen auch AkteurInnen des Feldes die Möglichkeit hatten, Einwände am Gesetzesentwurf vorzubringen, die später in der Regierungsvorlage und den Erläuterungen zum GTG berücksichtigt wurden. Aber auch in diesen Stellungnahmen sind Hinweise auf genetische Beratung und ihre Ausgestaltung spärlich. ÄrztInnen beschreiben genetische Beratung darin als unproblematisch und primär innerhalb ihrer eigenen Kompetenz. Im Gegensatz zum Diskurs der PolitikerInnen und den Stellungnahmen der AkteurInnen des Feldes enthalten die von BeamtInnen verfassten Erläuterungen zum GTG 1994 Hinweise auf internationale Richtlinien sowie rechtliche Entwicklungen (Nationalrat 1994, S. 43) und schließen explizit an den internationalen bioethischen Diskurs an. Sie verweisen auf das deutsche Gentechnikgesetz, bei der Regelung sozialer und ethischer Probleme auf norwegische und holländische Gesetzesentwürfe, den englischen „Report of the Committee on the Ethics of Genetherapy (London 1992) und insbesondere auch auf die Vorschläge des Bioethik-Komitees des Europarats (CAHBI). Die genetische Beratung wurde erst ab dem Jahr 1995 spezifiziert (zunächst im Gentechnikbuch und später in der Novelle des GTG 2005), wobei auf die international gültigen Standards Nondirektivität, Autonomie und Recht auf Nicht-Wissen Bezug genommen wurde. Diese Differenzierung erfolgte in ministeriellen Arbeitsgruppen von ExpertInnen aus Medizin, Forschung, aber auch Psychotherapie, deren Ergebnisse von BeamtInnen des Gesundheitsministeriums in Leitlinien festgehalten wurden. Auch in diesem Fall wurde die genetische Beratung von gewählten PolitikerInnen weder im zuständigen Gesundheitsausschuss (Nationalrat 2005c) noch in der kurzen Plenardebatte in der Öffentlichkeit eingehender thematisiert oder kontrovers diskutiert (Nationalrat 2005d, S. 111–120).
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3 Klinische Domäne Unter klinischer Domäne verstehen wir Orte (Krankenanstalten, Ambulanzen und niedergelassene Arztpraxen), in denen genetische Analysen am Menschen in verschiedenen Settings (vgl. Hadolt/Lengauer 2009) statt finden. In dieser Domäne begegnen einander ÄrztInnen, Ratsuchende/PatientInnen und deren Angehörige, medizinisch technische AssistentInnen sowie gegebenenfalls unterschiedlich qualifizierte DolmetscherInnen. Zur Bedeutung von genetischer Beratung in der klinischen Domäne führten wir eine Reihe von Gruppendiskussionen mit Stakeholdern durch (vgl. weiter oben).
3.1 Selbstbestimmung Selbstbestimmung der Ratsuchenden stellte für die TeilnehmerInnen der Gruppendiskussionen das Leitkonzept der genetischen Beratung dar und wurde definiert als „eine Entscheidung (zu) treffen“, „mit der sie [die Ratsuchenden, Anm. d. A.] langfristig leben können“ (NSD II: 11).13 Damit betonten die TeilnehmerInnen zwei Gesichtspunkte, eine Entscheidung (1) durch den/die Ratsuchende, die (2) für sie/ihn selbst auf längere Perspektive lebbar sein soll. Als zentrales Element der Selbstbestimmung wurde das Recht der Ratsuchenden formuliert, „zu wissen oder nicht zu wissen“ (NSD I: 10). Dieses Recht besteht auch darin, dass „eine Diagnostik (z. B. aus eigenen ethischen Überzeugungen) (weder) erzwungen oder aufgedrängt werden (darf), noch darf der/die BeraterIn eine Diagnostik grundsätzlich ablehnen“ (NSD I: 10). Allerdings kann das Recht auf Nicht-Wissen auch zu Schwierigkeiten führen, insbesondere wenn – etwa im Rahmen der Familienanamnese – zur ursprünglichen Fragestellung der genetischen Beratung neue Problemstellungen auftauchen. In einem solchen Fall sollten BeraterInnen, so eine Meinung in einem Dialog, „in der Tendenz [. . .] nur zu den Risiken etwas sagen, zu denen die Beratenen eine Information tatsächlich wünschen“ (ebd.). Die Selbstbestimmung der Ratsuchenden findet auf Seite der Beratenden ihr Gegenstück im Prinzip der Nondirektivität.
3.2 Grenzen von Selbstbestimmung In der Praxis erweisen sich Selbstbestimmung und Nondirektivität jedoch als schwierig zu verwirklichen, sind doch deren Voraussetzungen bei Ratsuchenden unterschiedlich gegeben. Wie das Bild zeigt, das ein Berater von
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einer idealen Ratsuchenden zeichnete, sind dazu eine Fülle kognitiver und sozialer Fähigkeiten notwendig, über die nicht jeder/jede verfügt. Diese Ratsuchende zeigte aus Sicht des Beraters „Interesse an Klärung (Stellen konkreter Fragen), hohe intellektuelle Verständnisfähigkeiten, Kooperationsbereitschaft, aktive Mitarbeit (Internetrecherche), Sich-Einlassen auf medizinische Sichtweise“ (NSD IV: 4). Wegen dieser Vielzahl an Voraussetzungen ist das Konzept der Selbstbestimmung nur bei einer eingeschränkten Zahl an Ratsuchenden im vollen Ausmaß verwirklicht. Für BeraterInnen stellen sich Grenzen der Selbstbestimmung als Herausforderungen dar, mit denen sie umgehen müssen, oder als rechtliche Schranken, die nicht überschritten werden dürfen. Wir wollen diese Herausforderungen, wie sie in den Dialogen thematisiert wurden, kurz skizzieren. Eine absolute Grenze der Selbstbestimmung von Ratsuchenden sind – neben medizinisch-technischen Möglichkeiten – gesetzliche Schranken, die bestimmte genetische Tests verbieten. So gilt in Österreich etwa das Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Eine zentrale Herausforderung der Selbstbestimmung ist das „kognitive Verstehen“ (NSD IV: 26) sowie das „Bildungsniveau der zu Beratenden“ (NSD III: 10), im Sinne des Verständnisses genetischer Sachverhalte, der Bedeutung von Testergebnissen, deren möglichen Konsequenzen für die Gesundheit sowie der Folgen unterschiedlicher Entscheidungsoptionen. Damit eng verbunden sind auch Verständnisschwierigkeiten zwischen BeraterInnen und Ratsuchenden aufgrund der Verwendung medizinisch-genetischer Fachtermini oder missverständlicher Metaphern (NSD IV: 22). Deutlich gesteigert werden Verständnisschwierigkeiten, wenn Übersetzung notwendig ist. Dabei ist häufig unklar, welche Informationen überhaupt und in welcher Form weitergegeben werden. Besonders schwierig ist die Verständigung, „wenn die ,ÜbersetzerInnen‘ NichtmedizinerInnen sind“ (NSD IV: 21). Dann können BeraterInnen kaum überprüfen, „welche Informationen weitergegeben werden“ (ebd.). Auch die emotionale Ausnahmesituation des genetischen Tests stellt ein Hindernis für selbstbestimmte Entscheidungen dar, denn „das Überbringen schlechter Nachrichten kann bei den Ratsuchenden schockartige Reaktionen auslösen, sodass ihre Aufnahmefähigkeit stark beeinträchtigt ist“ (NSD IV: 24–25). Die Ratsuchenden können „in der Stresssituation einer negativen Diagnosemitteilung und des damit häufig verbundenen Entscheidungsdrucks die mündlich gegebenen Informationen manchmal wenig aufnehmen“ (NSD III: 39). Kulturelle Unterschiede zwischen Beratenden und Ratsuchenden (z. B. divergierende Vorstellungen von Familienhierarchien und damit verbunde-
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nen Entscheidungskompetenzen) stellen eine weitere Herausforderung an das Konzept der Selbstbestimmung dar. So argumentierten BeraterInnen, „der/die BeraterIn soll auf die kulturellen Besonderheiten der zu Beratenden eingehen“ (NSD II: 52). Allerdings wurde in den Diskussionen auch argumentiert, dass der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten in Hinblick auf die Gesetzeslage Grenzen gesetzt seien (NSD II: 50–54). Eine zentrale Herausforderung der Selbstbestimmung ist die ärztliche Fürsorgeorientierung (NSD I: 12–13). Dieses Problem wurde als besonders virulent angesehen, „wenn Selbstgefährdung des/der Ratsuchenden im Raum steht“ (NSD IV: 37). Selbstbestimmung ist also kein konkurrenzloses Paradigma, BeraterInnen müssen im Gegenteil „eine gute Balance zwischen Selbstbestimmung der ratsuchenden Person und ihrer eigenen Fürsorgeorientierung hinsichtlich der ratsuchenden Person“ (NSD III: 26) finden. Die ärztliche Fürsorgepflicht wird auch herausgefordert bei Betroffenheit Dritter (NSD III: 31, NSD IV: 38), etwa bei möglicher Gefährdung von Kindern und anderen Verwandten (NSD IV: 38). Auch in der Selbstbestimmung der BeraterInnen stoßen Selbstbestimmung und Nondirektivität an Grenzen. In den Dialogen wurde Nondirektivität als Leitkonzept eingefordert und im Hinblick auf das Einbringen eigener ethischer Überzeugungen festgehalten, dass die Berater „grundsätzlich [. . .] zurückhaltend mit dem Einbringen eigener ethischer Überzeugungen sein [sollten] und sich auf angemessene Information und beratende Begleitung des Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesses konzentrieren“ (NSD I: 20–32) sollten. Die TeilnehmerInnen räumten jedoch ein, dass dies schwierig sei, „wenn grundsätzliche, tief verankerte ethische Überzeugungen (und ärztliches Selbstverständnis) betroffen sind“ (ebd.). Ebenso wie das Konzept der Selbstbestimmung durch Grenzen herausgefordert wird, stellt auch das Konzept der Nondirektivität der Beratung ein Ideal dar, das in der Realität aus den eben genannten Gründen nur schwer verwirklichbar ist. So stellten TeilnehmerInnen fest: „Es gibt keine Beratung, die nicht beeinflusst. Nondirektive Beratung heißt also nicht, dass nicht beeinflusst wird“ (NSD III: 29).
3.3 Ermöglichung von Selbstbestimmung In den Dialogen zeigte sich, dass von Seiten der BeraterInnen ein aktives Moment zur Verwirklichung von Selbstbestimmung und Nondirektivität nötig ist. Dieses wurde in einem Dialog so beschrieben: „Der/die BeraterIn (schafft) die Voraussetzung bzw. (ebnet) die Wege für die eigene Entschei-
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dung der zu Beratenden“ (NSD II: 23). Der Beratende unterstützt aktiv und ermöglicht eine selbstbestimmte Entscheidung in der genetischen Beratung, er/sie „sollte das Selbstbestimmungsrecht der zu Beratenden intakt halten bzw. ermöglichen“ (NSD II: 11) oder „darauf hin(wirken), dass die Ratsuchenden ihre Entscheidung bewusst (bzw. so bewusst, wie es möglich erscheint) fällen“ (NSD III: 32). In dieser Formulierung wird deutlich, dass Selbstbestimmung nicht vorausgesetzt werden kann, sondern BeraterInnen sie häufig aktiv fördern müssen. Die Dialoge zeigten eine Reihe von Haltungen und Verhaltensweisen, mit deren Hilfe BeraterInnen non-direktive Beratung und selbstbestimmte Entscheidung ermöglichen können. Eine Praktik, die dies leisten soll, ist Zuhören. „Der Beratende (hört) hin [. . .] – und zwar gerade auf scheinbare Nebensächlichkeiten“ (NSD III: 22). Zuzuhören erstreckt sich über das Gesprochene hinaus, denn Beratende sollten „in der Lage sein, die Wirkungen unbewusster Körpersprache und Schwingungen wahrzunehmen und dies auch entsprechend im Handeln berücksichtigen“ (NSD III: 13). An die Sprache der Beratung werden dabei besondere Anforderungen gestellt. Sie soll dermaßen sein, dass „die ratsuchenden Personen möglichst gut in die Lage versetzt werden, die Informationen aufzunehmen. Außerdem achtet die beratende Person besonders darauf, die ratsuchenden Personen möglichst wenig durch tendenzielle Äußerungen in Erwartungshaltungen zu bringen (z. B. Hoffnungen zu wecken, Schaden zu befürchten usw.)“ (NSD III: 46). Kurz: Die BeraterInnen sollen „die Sprache der Ratsuchenden“ sprechen (NSD III: 54). Eine zentrale Haltung in der Beratung ist Empathie. Eine gelungene Verständigung, so eine Formulierung in den Dialogen, bedeutet, „dass der/die Beratende Empathie (Einfühlungsvermögen) zeigt und der/die Ratsuchende diese empfindet und zeigt“ (NSD IV: 34). „Neben dem kognitiven Verstehen [in der Beratung] geht es auch darum, für sie/ihn da zu sein, also dem/der Ratsuchenden ein gewisses Gefühl des Nicht-alleine-gelassen-Seins zu geben“ (NSD IV: 26). Damit sollten sich die BeraterInnen „so [einfühlsam] in der Beratung äußern, dass die zu Beratenden in die Lage versetzt werden, die Information zu tragen und zu verarbeiten“ (NSD II: 58). Die BeraterInnen beachten, dass die „genetische Erkrankung für die Ratsuchenden einen belastenden Faktor darstellen kann“ (NSD III: 41). Mit Empathie ist auch der Versuch verbunden, „eine vertrauensvolle Basis mit dem Ratsuchenden zu bilden“ (NSD III: 25). BeraterInnen sollen Ratsuchenden auch etwaige Schuldgefühle nehmen, indem sie deutlich machen, dass die ratsuchende Person „keine Schuld für die genetische Erkrankung trägt“ (NSD III: 43).
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Allerdings war Empathie nicht unumstritten, liegen hier doch Parteinahme und professionelle Abstinenz in Widerspruch. Eine Meinung dazu lautete: „Trotz der Vorgabe non-direktiver Beratung realisiert der/die BeraterIn ein psychologisches und empathisches Verständnis zur Situation des Ratsuchenden“ (NSD III: 24). Anderseits wurde auch festgehalten: „Die beratende Person hält professionelle Distanz, macht die Probleme der Ratsuchenden nicht zu ihren eigenen Problemen.“ (NSD III: 52) Damit Ratsuchende ihre Selbstbestimmung verwirklichen können, muss Wissen vermittelt werden. Fraglich ist jedoch, in welcher Form und in welcher Klarheit dies geschehen muss. Unbestritten war die Notwendigkeit, „Sachverhalte klar und neutral darzustellen und die sich daraus ableitenden Optionen gemeinsam mit den Beratenen herauszuarbeiten. Die Risiken müssen möglichst konkret benannt und dargestellt werden“ (NSD I: 8). „Klar und deutlich“ gegeben werden sollen auch „die zur Verfügung stehenden Informationen entsprechend ihrer Evidenzqualität (z. B. Grad der möglichen Vorhersagegenauigkeit, die durch eine Stammbaumanalyse, einen Gentest usw. etwa hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Zeitpunkts des Ausbruchs einer Krankheit sowie ihres Schweregrads erreicht werden kann)“ (NSD II: 29). Abseits davon sollte aber auch die Beschränkung von Fakten mitgeteilt werden. Daher war eine wichtige Forderung, „dass BeraterInnen niemals den Eindruck erwecken, dass es eine absolut sichere Vorhersage geben kann“ (NSD III: 30). Vielmehr sollen sie deutlich darauf hinweisen, dass dies nicht der Fall sein kann. Weitere Punkte, Selbstbestimmung und insbesondere Nondirektivität zu verwirklichen, sind Offenheit und Flexibilität hinsichtlich Beratungssituation und Entscheidung (NSD III: 23). BeraterInnen sollten nicht zu Beginn der Beratung „davon ausgehen, dass er/sie schon weiß, was die richtige Entscheidung ist. Die Entscheidungsfindung ist vielmehr ein Prozess, bei dem der/die BeraterIn die zu Beratenden unterstützend begleitet“ (NSD II: 13). Das schließt ein, dass BeraterInnen Denkanstöße geben, „was die zu Beratenden noch in ihren Überlegungen bei der Findung ihrer Entscheidung einbeziehen könnten“ (NSD II: 33). Darüber hinaus sollen BeraterInnen „auf Alternativen zu den bei den zu Beratenden vorliegenden Entscheidungsund Handlungsvorstellungen hinweisen, ohne sie zu empfehlen oder nahe zu legen“ (NSD II: 31). Mit anderen Worten: „Die beratende Person formuliert ,Angebote‘, nicht Aufforderungen, Vorschläge, Bitten“ (NSD III: 27). Zusammenfassend teilten die TeilnehmerInnen an den Dialogen die zentralen Konzepte von Autonomie und Nondirektivität. Die Praxis der genetischen Beratung, die in den Gruppendiskussionen zutage getreten ist, ist jedoch ambivalent und problematisch (vgl. Hildt 2006). Die Verwirklichung
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von Autonomie und Nondirektivität stößt häufig an Grenzen und Herausforderungen. BeraterInnen müssen nicht nur Informationen übergeben und sich ansonsten zurückhalten, vielmehr schaffen BeraterInnen und Ratsuchende gemeinsam Autonomie und Nondirektivität, wobei von beiden Seiten bestimmte Fähigkeiten und Haltungen erforderlich sind.
4 Juristische Domäne Die genetische Beratung selbst war bis dato nicht Gegenstand von Entscheidungen österreichischer Gerichte. Im Jahr 2006 erging jedoch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH), die für Aufklärung und Beratung von Bedeutung ist (OGH 2006, 5 Ob 165/05h). In einem Fall von „wrongful birth“ machten die Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom aufgrund der „unterlassenen vollständigen Aufklärung“ des beklagten Facharztes für Gynäkologie und Geburtshilfe volle Unterhaltszahlungen für ihr Kind geltend. Der Oberste Gerichtshof erkannte in seiner Entscheidung, dass der Beklagte den KlägerInnen aufgrund einer Verletzung der Aufklärungspflicht gegenüber der Mutter den vollen Unterhalt des behinderten Kindes würde leisten müssen (bei einer möglicherweise gegebenen Mitschuld der Mutter verkürzt um eine entsprechende Summe). Der Fall wurde in Zeitungen (Hollaender 2006, Negwer 2006, Pröll/Weiser 2006, Pröll/Salomon 2006) und online Medien (dieStandard 2006a, b, salzburg.orf 2006) heftig diskutiert und zog scharfe Kritik der Ärzte- und Rechtsanwaltskammer (Die Wiener Rechtsanwälte 2006) nach sich.
4.1 Beratung und Aufklärung In der Literatur finden sich Versuche, die Begriffe Aufklärung und Beratung im Kontext der genetischen Beratung zu differenzieren (vgl. Hadolt/Lengauer 2009, S. 34 ff., Damm 2006,S. 12). Im Gegensatz dazu wurde in den Interviews mit österreichischen JuristInnen deutlich, dass die beiden Begriffe weitgehend synonym verwendet werden. Nur ein befragter Jurist sprach die Möglichkeit einer Unterscheidung der Termini an und sah den spezifischen Beratungsbegriff darin, dass der Inhalt des Gesprächs „mehr [ist] als Sachinformation“ (Interview 1: 49).14 Im Gesetz bestünde jedoch kein Unterschied zwischen Aufklärung und Beratung, beide Begriffe würden „offenkundig [. . .] synonym“ verwendet (Interview 1: 45). Selbst im
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GTG, das als einziges Gesetz die Inhalte von Aufklärung und Beratung festlegt, fänden sich beide Begriffe und würden synonym verwendet. Fragen, die sich JuristInnen in Zusammenhang mit Aufklärung und Beratung stellen, richten sich an Art und Ausmaß der Beratung: Wie muss Beratung oder Aufklärung aussehen? Was ist ihr Inhalt? Vor diesem Hintergrund geht es in der Diskussion zu Beratung und Aufklärung zwischen JuristInnen und MedizinerInnen vor allem um Haftungen und deren Ausschluss.
4.2 Ableitung von Aufklärung und Beratung Ziel von Aufklärung und Beratung ist es, eine Wissensasymmetrie zwischen ExpertInnen und Laien auszugleichen. Sie sollen, so eine Richterin, dem Patienten/der Patientin „die Mittel in die Hand geben, die Information geben, die ihn, sie in die Lage versetzt, (. . .) zu entscheiden“ (Interview 3: 270). Zweck der Aufklärung sei es daher immer, dem Patienten/der Patientin zu ermöglichen eine „selbstbestimmte Einwilligung“ zu geben (Interview 4: 57). Für die selbstbestimmte Entscheidung zentral ist die Unterstellung der Mündigkeit der Rechtsunterworfenen, ein Konzept, das, von den Ideen der Aufklärung ausgehend, sich in unterschiedlichen Rechtsbereichen entwickelt hat. Mündig zu sein bedeute, so ein Gesprächspartner, das Recht zu haben, „alles zu erfahren“ (Interview 2: 402) solange man bei „gesundem Verstand“ ist (Interview 2: 408) und auf Basis dieser Informationen „eine überlegte, informierte Entscheidung zu treffen“ (Interview 3: 252). Dieses Prinzip wird auch auf das Arzt-PatientInnen-Verhältnis angewendet, da den PatientInnen „zugetraut“ wird, Entscheidungen über „die eigene Gesundheit und die eigenen Verhältnisse“ zu treffen und „diese Entwicklung führt dazu, dass es Aufklärung geben muss“ (Interview 3: 268 f.). Dieses Konzept von Mündigkeit des/der PatientIn wird auch in der Kritik der Wiener Rechtsanwaltskammer an dem genannten OGH-Urteil betont: „Von der Mündigkeit einer Schwangeren oder eines Patienten zu sprechen, ist in der heutigen Zeit durchaus angebracht, zumal der Gesetzgeber selbst in dem Patientenverfügungsgesetz zum Ausdruck gebracht hat, dass ein vernünftiger Erwachsener – bei entsprechender Aufklärung – auch medizinisch relevante Entscheidungen über Leben und Tod treffen darf. (. . .) Eine mündige Schwangere muss dank des Reflexionsvermögens des Menschen in der Lage sein, Entscheidungen selbst zu treffen“ (Die Wiener Rechtsanwälte 2006, 4). Der Begriff der Aufklärung und Beratung wird nicht aus dem spezifischen Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn, sondern aus unterschied-
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lichsten juristischen Bereichen, wie z. B. Konsumentenschutz und Wettbewerbsrecht gewonnen. In den vielen vom Konsumentenschutzgesetz geregelten Bereichen ginge es darum, „den Einzelnen, die Einzelne auf(zu)klären, damit sie in die Lage versetzt werden“, eine Entscheidung zu treffen (Interview 3: 248–251). Als Beispiel verwendet eine Interviewpartnerin einen Vertrag aus dem Baugewerbe: „Wenn sie einen Bauunternehmer beauftragen, ihr Haus umzubauen, und der kommt drauf, da ist irgend etwas schief, da muss er etwas anders machen, hat er auch eine Aufklärungspflicht für das Werk“ (Interview 1: 90–92). Die Begriffe Beratung und Aufklärung sind somit „neutral“ und können „in verschiedenstem Kontext“ verwendet werden (Interview 1: 93). Die Grundlagen der medizinischen Aufklärung werden aus dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) abgeleitet. Demnach basiert jede medizinische Behandlung auf einem Behandlungsvertrag. Vor der Einwilligung in diesen Vertrag muss der Arzt/die Ärztin den Patienten/die Patientin aufklären. Diese Aufklärungspflichten können vorvertragliche Pflichten oder Nebenpflichten des Behandlungsvertrages sein, sie können aber im Falle einer Diagnosestellung – etwa bei der Pränataldiagnostik – auch zur Hauptpflicht werden (Interview 4: 103). Besonderheiten der Aufklärung für den Medizinbereich werden im ABGB laut den interviewten ExpertInnen nicht angesprochen. Erst in „Spezialgesetzen“ wurde Aufklärung als Begriff aufgenommen (Interview 1: 126). Das GTG stelle dabei eine Ausnahme dar, da in ihm festgehalten sei, worüber aufzuklären sei und dass die Aufklärung über den rein medizinischen Bereich hinausgehen und auch psychosoziale Auswirkungen berücksichtigen müsse. Aus diesem Fehlen konkreter Formulierungen entwickelte sich mit der Zeit „eine richterliche Auslegung von Rechtsgrundlagen, die nicht so eindeutig sind“ (Interview 1: 347–349) und der OGH kam zu dem Schluss, dass PatientInnen „in die Lage versetzt werden [müssen], eine überlegte, informierte Entscheidung zu treffen“ (Interview 3: 251). Ein Interviewpartner kommt zu dem Schluss, dass „das große Geheimnis“ der Aufklärung sei, dass es über weite Strecken „Richterrecht“15 wäre (Interview 1: 116). Im Strafgesetzbuch komme der Begriff nicht vor, aber es habe sich eine Judikatur entwickelt, die Aufklärung im medizinischen Kontext als „notwendige Funktionsvoraussetzung der Einwilligung“ in eine Heilbehandlung voraussetzte (Interview 1: 121). Diese Rechtssprechungsakte dienen auch als Grundlage für jüngere Spezialgesetze. Obwohl der Begriff Aufklärung im Unterschied zu anderen medizinischen Bereichen nur im GTG genau definiert wurde, weisen zwei Interviewpartner darauf hin, dass ärztliche Aufklärung gemäß Judikatur „schärfer“
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sein müsse als Beratungsgespräche in anderen Kontexten (Interview 1: 327). Aus juristischer Sicht bedeute ärztliche Aufklärung immer einen Dialog der beteiligten Personen. Es reiche nicht aus, dem Patienten/der Patientin die Information bloß schriftlich vorzulegen. Wenn der Arzt/die Ärztin allerdings nicht mit dem Patienten/der Patientin spreche, gelte das als „Aufklärungsmangel, weil kein Gespräch stattgefunden hat“ (Interview 1: 331).
4.3 Selbstbestimmungsrecht und Mündigkeit Wie bereits erwähnt, spielt das Selbstbestimmungsrecht für alle interviewten JuristInnen eine entscheidende Rolle. Es wird von der Mündigkeit aller Rechtsunterworfenen abgeleitet. Um es ausüben zu können, ist Aufklärung und Beratung notwendig. MedizinerInnen haben daher eine „Aufklärungspflicht“ (Interview 3: 328). Mündig zu sein hängt aber auf der PatientInnen-Seite mit der Pflicht zusammen, selbstständig eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, wenn man/frau über die entsprechenden Informationen verfügt. Daraus leitet eine InterviewpartnerIn ab, dass PatientInnen eine „Mitwirkungspflicht“ (Interview 3: 484) trifft: Sie müssen nachfragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Aus der juristischen Auffassung, dass PatientInnen eine Mitverantwortung tragen und bestimmte Handlungen setzen „müssen“, wenn MedizinerInnen ihnen sagen, dass dies „wichtig wäre“ (Interview 4: Z535), ergibt sich eine Grenze der Selbstbestimmung. Die Umsetzbarkeit dieser „Mitwirkungspflicht“ im klinischen Alltag wird von den befragten JuristInnen unterschiedlich gesehen. Eine befragte Juristin sieht sie in der medizinischen Praxis als unproblematisch: „Also, er [der Arzt] muss sagen, warum muss er’s [der Patient] machen, was musst du machen und warum musst du’s machen und was ist, wenn du’s nicht machst. Also, einfach so gefasst“ (Interview 4: 292). Wenn sich in der Umsetzung Schwierigkeiten ergeben, dann müssen MedizinerInnen die Kommunikation dahingehend ändern. Es sei nicht plausibel zu machen, „dass die Abläufe in einem Krankenhaus eine solche Kommunikation nicht erlauben“ (Interview 3: 478). Ein anderer Jurist sieht die Umsetzbarkeit von Mitwirkung im klinischen Alltag jedoch kritischer. Demnach könnten Routinen bzw. die Praxis in der Klinik der Selbstbestimmung entgegenstehen, wenn zum Beispiel ein ausführliches Beratungsgespräch in den Klinikalltag integriert werden müsse, für das normalerweise keine Zeit sei. Aufgrund zunehmender Migration komme es immer häufiger zu Gesprächen, in denen Arzt/Ärztin und Patient/
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Patientin nicht die gleiche Muttersprache hätten. Das könne das Verstehen von Informationen, die zur Entscheidungsfindung notwendig seien, beeinträchtigen. „Es bricht jetzt schon schön alles unter der Last der Administration. Sollen wir dann . . . sollen wir jeweils aus allen denkbaren . . . Europa wird immer größer . . . sollen wir jetzt einen bulgarischen, einen rumänischen, einen ukrainischen Dolmetscher bereithalten für sie? Inzwischen müssten wir eigentlich schon mit der Operation anfangen“ (Interview 2: 448 f.).
4.4 Nondirektivität Das in der Literatur immer wieder besprochene Konzept der Nondirektivität wurde von keinem der interviewten JuristInnen angesprochen. Im Gegenteil, eine Interviewpartnerin kam zu dem Schluss, dass es für MedizinerInnen aufgrund möglicher Haftungsansprüche notwendig sei, dass diese sagen müssen, „dass der Patient natürlich die Untersuchungen machen lassen muss“ (Interview 4: 282).16 Eine Interviewpartnerin war der Auffassung, dass der Begriff der Aufklärung noch nicht vollständig geklärt ist, sondern in der bisherigen Entwicklung zwischen zwei „Extremen“ schwanke: Auf der einen Seite gab es zunächst gar keine Aufklärung, auf der anderen Seite „muss alles gesagt werden, möglichst drastisch, um den Patienten dazu zu bringen, dass er das tut oder unterlässt, was für ihn schlecht oder gut ist“ (Interview 3: 272 f.). MedizinerInnen müssen trotz ihrer Aufklärungspflicht in erster Linie auf das Wohl der PatientInnen achten. Hier entstehe allerdings ein „Spannungsverhältnis“ (Interview 3: 43), das zu einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts führen könnte. „Es ist also das Wohl des Patienten das, was an erster Stelle zu stehen hat. Das Selbstbestimmungsrecht ist in zweiter Linie maßgebend“ (Interview 4: 64–69). Es gehe nicht um „Aufklärung um jeden Preis“ (Interview 3: 49) und „es ist ja gemeint worden, dass das Verhältnis zwischen Arzt und Patient dadurch ganz extrem belastet wäre“ (Interview 3: 51). MedizinerInnen sollen einen Mittelweg zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der PatientInnen und der Menge an Informationen finden, die PatientInnen verarbeiten und verkraften können. Auch in anderen Rechtsbereichen ist es so, dass der/die Berater/ in entscheiden müsse, wie viele Informationen der Kunde/die Kundin braucht um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Besonderheit einer medizinischen Aufklärung oder Beratung wird in diesem Fall nicht gesehen. „Der Sinn oder das ideale Bild ist ja nicht der umfassendst aufgeklärte Pa-
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tient oder die umfassendst aufgeklärte Patientin. [. . .] Sondern maßgebend ist, ob es für die Patienten, die Patientin, in der konkreten Situation, gut ist, das zu wissen oder vielleicht auch nicht zu wissen“ (Interview 4: 91 f.).
5 Schlussfolgerungen Ein Vergleich der drei Domänen zeigt die Ungleichzeitigkeit ihrer Beschäftigung mit der Beratung, deutliche Unterschiede in der Intensität der Befassung mit der Thematik sowie in der Konzeption von Leitkonzepten. Nur wenige gewählte PolitikerInnen setzten sich in den frühen 1990er Jahren und danach mit Fragen der genetischen Beratung auseinander. Eine Ausnahme bildete die parlamentarische Enquetekommission zu Technikfolgenabschätzung am Beispiel der Gentechnologie. Als parlamentarisches Unikum, das keinen Platz im Gefüge der österreichischen Realverfassung fand, hatte die Kommission jedoch nur beschränkten Einfluss auf die für die Gesetzgebung maßgeblichen Arenen (Grabner 1999, Grießler 2008). VertreterInnen der klinischen Domäne äußerten sich im Begutachtungsverfahren zum GTG 1994 nur wenig zur genetischen Beratung. Die wenigen Stellungnahmen, die dies taten, beschränkten sich darauf, die Zuständigkeit von ÄrztInnen für die genetische Beratung gegenüber psycho-sozialen BeraterInnen zu verteidigen. Im Gegensatz zu gewählten PolitikerInnen zeigte sich die Verwaltung weitaus informierter und aktiver. Auch fand innerhalb der Verwaltung seit 1994 ein kontinuierlicher Lernprozess im Bereich der genetischen Beratung statt. Während das GTG 1994 die genetische Beratung lediglich festschrieb und wenig definierte, kooperierten seit 1995 Verwaltung und ExpertInnen in verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen, um die Vorgaben der genetischen Beratung zu konkretisieren. Dabei wurden auch international gängige Leitkonzepte berücksichtigt. In der österreichischen Judikatur wurden bis dato keine Streitfälle zu genetischer Beratung ausjudiziert. Aufklärung und Beratung im Bereich der Genanalyse wurden bislang unter dem Aspekt von Haftungsfragen in der Pränataldiagnostik behandelt, eine Diskussion, die in Österreich relativ spät einsetzte. PolitikerInnen thematisierten das Konzept von Autonomie in den von uns analysierten Dokumenten implizit und sehr allgemein unter dem Titel eines Verbots von obligatorischen Untersuchungen und der Betonung von Freiwilligkeit. Die Erläuterungen des GTG 1994 postulieren das allgemeine
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Konzept einer „mündigen Person“, bei der „davon auszugehen (ist), daß (sic!) sie sich über die Bedeutung der ärztlichen Erklärungen und der von ihnen zu gebenden Zustimmung im klaren“ ist (Nationalrat 1994a, S. 63). Dieses Konzept von Autonomie bleibt in den analysierten Dokumenten der politischen Domäne unproblematisch und wird nicht auf seine Realitätstauglichkeit hin überprüft. Auch die juristische Domäne bezieht sich auf ein unproblematisches und normatives Konzept von Mündigkeit und greift zur Klärung der Aufklärungspflichten auf das Haftungsrecht, den Konsumentenschutz und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch zurück. Auf Besonderheiten des Arzt/ÄrztinPatientInnen-Verhältnisses wird dabei wenig eingegangen. Ganz anders zeigt sich die Reflexion der klinischen Praxis von humangenetischen BeraterInnen. Autonomie und Mündigkeit werden zwar als anzustrebendes bioethisches Ideal formuliert, von deren Verwirklichung kann in der Praxis jedoch nicht ausgegangen werden. Vielmehr müssen sie in einer für beide Seiten herausfordernden Situation von BeraterInnen und Ratsuchenden gemeinsam ermöglicht werden. Dies erfordert sowohl von BeraterInnen als auch PatientInnen spezifische Haltungen und Fertigkeiten. Nondirektivität wurde weder von JuristInnen noch PolitikerInnen thematisiert, wurde aber in der Verwaltung in der Zusammenarbeit mit ExpertInnen und unter Berücksichtigung entsprechender internationaler Diskussionen im Gentechnikbuch als Leitlinie konkretisiert/festgeschrieben. Auch genetische BeraterInnen teilen dieses Konzept, können dieses allerdings nicht als gegeben annehmen, sondern müssen gemeinsam mit PatientInnen Nondirektivität herstellen. Die erwähnten Unterschiede in der Konzeption von Nondirektivität, Aufklärung und Autonomie zwischen der politischen und juristischen Domäne auf der einen und der klinischen Domäne auf der anderen Seite sind jedoch nicht ohne praktische Konsequenzen, denn im Bereich der genetischen Analyse am Menschen, insbesondere in der pränatalen Diagnostik, können Konflikte zwischen PatientInnen und ÄrztInnen auftreten, die in Haftungsfragen ihren Ausdruck finden. Die angesprochenen, konzeptuellen Unterschiede von Autonomie, Mündigkeit und Nondirektivität spielen bei der Entscheidung dieser Konflikte eine entscheidende Rolle. Diesbezügliche oberstgerichtliche Entscheidungen haben zu Spannungen zwischen ÄrztInnen und JuristInnen geführt, die auch in der von uns beobachteten Publikumsdiskussion von Prä- und PerinatalmedizinerInnen mit einer Juristin deutlich spürbar waren: Die durch Politik, Bioethik und Vertragsrecht gestützten Konzepte von Autonomie/Selbstbestimmung und Nondirektivität dürften – insbesondere
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in der Pränataldiagnostik – zu einer tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses von Arzt/Ärztin und PatientInnen führen. Einerseits zeigen die Gruppendiskussionen, dass ÄrztInnen versuchen, den Ansprüchen an Autonomie und Nondirektivität durch spezifische Praktiken und Haltungen gerecht zu werden. Anderseits versuchen sie, sich gegen die juristischen Konsequenzen ihrer rechtlich vorgegebenen Aufklärungspflicht – d. i. eine aus ihrer Sicht überzogene Haftungspflicht – abzusichern. Dies dürfte dazu führen, dass sie ihren PatientInnen routinemäßig und dringlich Untersuchungen anbieten, mögliche Auffälligkeiten expliziter formulieren und häufiger zur Abklärung von Auffälligkeiten in Spezialambulanzen überweisen. Darüber hinaus werden vermehrt Versicherungen gegen Haftungsansprüche von PatientInnen abgeschlossen. PatientInnen hingegen müssen ihr Recht auf Nicht-Wissen explizit erklären und dokumentieren und mit Unsicherheiten und Entscheidungszwängen leben. Beide üben damit wechselseitig Druck aufeinander aus, zu informieren bzw. zu wissen, Entscheidungen zu treffen und mit diesen zu leben, mit anderen Worten als selbstverantwortliches und autonomes Individuum zu agieren. Diese neue Beziehung ist in starkem Gegensatz zu dem in Österreich häufig üblichen paternalistischen Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn. Es stellt sich aber auch die Frage, inwiefern abseits individueller Lösungsstrategien politische Lösungen für den beschriebenen Problemkomplex gefunden werden können. Die Analyse der drei Domänen zeigte, dass derzeit in Österreich keine Arena besteht, in der genetische Beratung breit diskutiert wird bzw. die Konzepte von Nondirektivität und Autonomie auf ihre Realitätsgerechtigkeit hin überprüft werden können: • Die Arenen der Politik befassen sich nicht mit dem Thema und würden – so sie das Thema aufgriffen – der Öffentlichkeit bis zur Plenardebatte im Parlament keinen Zugang bieten. Initiativen wie die BürgerInnenkonferenz „Genetische Daten – woher, wohin, wozu?“ aus dem Jahr 2003, die sich mit dem Problem der Genanalyse am Menschen befasst haben, blieben bis dato u. a. aufgrund ihrer fehlenden Öffentlichkeit und politischen Anbindung ohne politische Konsequenzen (vgl. Bogner 2004). • Die Arenen Vorbegutachtungs- und Begutachtungsverfahren sowie die Arbeit der beratenden Kommissionen sind nicht öffentlich. Was während der Entstehung des GTG allerdings gelang, war, zumindest in den interministeriellen Kommissionen, eine Art „Halböffentlichkeit“ (Grießler 2008, S. 93, Satzinger 1995) zu schaffen. Aber auch die entscheidende Konkretisierung der genetischen Beratung im Gentechnikbuch erfolgte in einem Zwischenspiel von ExpertInnen und BeamtInnen, das der Öffentlichkeit entzogen war.
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• Als äußerst privates Verhältnis ist das Arzt/Ärztin-PatientInnenverhältnis durch das Arztgeheimnis geschützt. Erwartungen daran und Erfahrungen darüber werden öffentlich wenig diskutiert. Dazu dürfte auch beitragen, dass genetische Tests von PatientInnen nicht gänzlich anders als andere medizinische Untersuchungen wahrgenommen werden (Kollek/Lemke 2008, S. 64 ff.). Zusammenfassend zeigt sich, dass die Konzeptionen von Selbstbestimmung und Mündigkeit in der politischen und juristischen Domäne sich nur schwer mit den konkreten Bedingungen und Herausforderungen der klinischen Praxis in Einklang bringen lassen. Insbesondere wird dies in der juristischen Domäne bei den Konzepten von Aufklärung/Beratung und Mündigkeit der PatientInnen deutlich, die diese aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Konsumentenschutz und dem Haftungsrecht gewinnt. Bedeutsam werden solche Unterschiede insbesondere in Prozessen, in denen PatientInnen Haftungsansprüche gegenüber ÄrztInnen geltend machen. Welche realistischen Anforderungen und Erwartungen an Beratung und Aufklärung im Alltag von Spitalsambulanzen und Arztpraxen gelegt werden können, würde allerdings eine öffentliche politische Diskussion erfordern. Dazu existiert derzeit in Österreich jedoch keine Arena, da – wie gezeigt wurde – PolitikerInnen sich mit dieser Thematik kaum auseinandersetzen und die bestehenden Aushandlungsarenen der politischen Domäne bestenfalls halböffentlich bleiben. Anmerkungen 1 2
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Ziel dieses Beitrags ist es also nicht, die Konzepte Autonomie und Nondirektivität innerhalb des bioethischen Diskurses zu diskutieren. Eine weitere wichtige Domäne wäre die Forschung. Die Perspektive von ForscherInnen ist in diesem Beitrag insofern berücksichtigt, als ForscherInnen innerhalb der politischen Domäne sowohl in die Entwicklung des Gentechnikgesetzes (GTG) als auch des Gentechnikbuches und der Novelle des GTG eingebunden waren. Die Domäne der Medien haben wir ausgespart, weil sie nur wenig zur Debatte der genetischen Beratung in Österreich beigetragen hat. Es ist auch nicht Ziel dieses Beitrages, die österreichische Rechtssprechung in sogenannten „Kind als Schaden“-Fällen im internationalen juristischen oder bioethischen Kontext zu diskutieren. Das Urteil bietet vielmehr einen der wenigen Anlassfälle, in deren Kontext in Österreich Aspekte der Beratung in der Genetik in der juristischen Domäne diskutiert werden. Ein Beispiel für eine solche Diskussion ist die „interdisziplinäre Diskussion zum Thema ,Wrongful Birth‘“, die im März 2010 im Bundesministerium für Justiz stattfand. Zu ihr waren „Experten aus Wissenschaft, Praxis und Justiz sowie Vertreter der beteiligten Interessenskreise“ eingeladen, um über Konsequenzen der aktuellen Rechtssprechung des OGH in diesem Bereich zu beraten. (BMJ 2010).
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Wir danken dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und der FFG für die finanzielle Unterstützung, die unsere Forschung ermöglicht hat. Weiters danken wir allen GesprächspartnerInnen für Ihre Bereitschaft zu Interviews und dem Johanna Dohnal Archiv für den Zugang zu Materialien. Für weitere Informationen zum Projekt siehe www.ihs.ac.at/steps/gendialog/ (Abruf: 6. Oktober 2009). Für weitere Informationen zum Projekt siehe www.ihs.ac.at/steps/humanlife/ (Abruf: 6. Oktober 2009). 28 der TeilnehmerInnen waren MedizinerInnen, sechs PatientInnen oder PatientInnenvertreterInnen, und vier Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen und Vereinen. Eine Person arbeitete jeweils in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitssektor. Wissenschaftliche Sitzung der Österreichischen Gesellschaft für Prä- und Perinatale Medizin, 10. März 2007, www.perinatal.at/sites/va_070310.html [6. Oktober 2009]. Die Gentechnikkommission setzt sich unter Vorsitz eines Beamten/einer Beamtin des Gesundheitsministeriums aus VertreterInnen unterschiedlicher Ministerien, der Sozialpartner, VertreterInnen der wissenschaftlichen Ausschüsse der Gentechnikkommission, von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nominierten WissenschafterInnen (Mikrobiologie, Zellbiologie, Virologie, Molekularbiologie, Hygiene, Ökologie, Sicherheitstechnik, Soziologie), je ein/e Sachverständige/r für Molekularbiologie über Vorschlag der Wirtschaftskammer und des Gewerkschaftsbunds; je ein/e VertreterIn der wissenschaftlichen Philosophie, der Theologie, ein/e Arzt/Ärztin, eine mit Umweltproblemen vertraute Person sowie ein/e VertreterIn der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation zusammen (BMGF 2009). Unter Vorsitz eines/einer VertreterIn des Gesundheitsministeriums setzt sich der Ausschuss aus ExpertInnen der Molekularen Pathologie, Gynäkologie, VertreterInnen des Obersten Sanitätsrats und der Theologie zusammen. Ein Beispiel für eine virtuelle Arena ist das in Österreich im Rahmen der Gesetzesentwicklung übliche Begutachtungsverfahren (vgl. weiter unten). In allen Arenen lassen sich jedoch weitere Binnendifferenzierungen feststellen. Für das Parlament etwa Klubs, Aus- und Unterausschüsse sowie Plenarsitzungen. Die folgenden Zitate stammen aus den Zusammenfassungen der Dialoge, welche die ModeratorInnen während der Dialoge erstellt und an die TeilnehmerInnen verteilt haben. Die römische Ziffer bezeichnet den jeweiligen Dialog, die Ziffer nach dem Doppelpunkt die Zeilennummer in der Zusammenfassung. Bei eckigen Klammern handelt es sich um Anmerkungen bzw. Auslassungen der Autoren, was zur besseren Lesbarkeit im Folgenden nicht extra vermerkt wird. Die Zahl hinter dem Doppelpunkt gibt die Zeile an, in der das Zitat im jeweiligen Interview zu finden ist. Der Interviewpartner nimmt den von ihm verwendeten Begriff im weiteren jedoch wieder zurück. In Österreich gäbe es zwar eigentlich kein Gewohnheitsrecht wie im angelsächsischen Raum, „de facto haben wir das aber natürlich auch“. Gemeint ist damit eine „Judikaturkette, wo vergleichbare Fälle über die Jahrzehnte ähnlich entschieden werden“ (GB 1: 158). Im Kontext des Interviews geht es um eine allgemeine medizinische Untersuchung und nicht um eine Genanalyse am Menschen.
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Erich Grießler, Anna Pichelstorfer
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Ingrid Metzler Ingrid Metzler
Über „Moralapostel“ und „smooth operators“: Die Praxis der Bioethik im Feld eines österreichischen Biobankenprojekts Zusammenfassung: Biobanken und Bioethik bilden heute ein fest aneinander gekoppeltes Paar. Der Artikel versucht, diese Verknüpfung „aufzumachen“ und zu verstehen, wie die Bioethik in das Feld der Biobanken kam und was sie dort „tut“. Die Frage wird auf der Basis einer Feldstudie an der Biobank der Medizinischen Universität Graz bearbeitet. Dabei wird gezeigt, dass durch den Aufbau der Biobank ein internes, von informellen Normen regiertes Austauschregime durch ein neues ersetzt wurde. Die Bioethik stellte in diesem Kontext ein Repertoire an Sagbarem dar, das es den Betroffenen erlaubte, Widerstand gegen diese Veränderungen zu leisten. Gleichzeitig ermöglichte die Institutionalisierung bioethischer Praktiken jedoch auch, die Biobank aufzubauen. Unterschiedliche Akteure mobilisierten bioethische Argumente und Praktiken somit aus teils widersprüchlichen Gründen, was insgesamt zur Folge hatte, dass bioethische Normen und Praktiken immer stärker im Alltag der Biobank verankert wurden. Schlagworte: Biobanken · Bioethik · Koproduktion · Pathologie · Körpersubstanzen
On “Moralizers” and “Smooth Operators”: The Practice of Bioethics in the Field of an Austrian Biobank Abstract: Biobanks and bioethics are closely tied to one another. This article seeks to unpack this connection and to understand how biobanks and bioethics became linked, using empirical material collected at the biobank of the Medical University in Graz. The article describes the transformations of the exchange regime that was engendered by the building of the Graz biobank as constitutive for the emergence of bioethical scripts and practices. It argues that bioethics provided a set of scripts that allowed pathologists opposing these transformations to articulate their unease. At the same time, however, the institutionalization of bioethical practices smoothed the building of the Graz biobank. Actors mobilized bioethical arguments and practices for different and inE. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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deed contrasting reasons. However, the common consequence of these mobilizations was that bioethical norms and practices became more important in the daily actions of pathologists. Keywords: Biobanks · Bioethics · Co-production · Pathology · Tissue Samples
1 Einleitung1 Wenn heute auf wissenschaftlichen Tagungen über „Biobanken“ referiert wird oder wenn diese Themen wissenschaftlicher Fachpublikationen sind, ist dies häufig von einer Erörterung der bioethischen Standards begleitet, die von Biobanken gewährleistet werden oder gewährleistet werden sollten. Ohne Übertreibung kann wohl festgehalten werden, dass Biobanken und Bioethik heute ein fest aneinander gekoppeltes Paar bilden. Dieses Paar möchte ich in diesem Artikel nicht weiter miteinander verknüpfen. Vielmehr möchte ich versuchen, diese Verknüpfung „aufzumachen“ und zu verstehen, wie die Bioethik ins Feld der Biobanken kommt und was sie dort „tut“. Biobanken sind Sammlungen menschlicher Körpersubstanzen, wie Blut oder Gewebeproben, und damit in Verbindung stehender Daten, wie Diagnose- oder darüber hinausgehender Life-Style-Daten kranker PatientInnen und/oder gesunder BürgerInnen (Kaiser 2002; Cambon-Thomsen 2003; Tutton und Corrigan 2004; Gottweis und Petersen 2008a). Des weiteren bestehen Biobanken aus Analyseplattformen, die menschliche Körpersubstanzen in Daten übersetzen, aus großen Rechnern, die die Fülle von Daten speichern, miteinander verbinden oder unerwünschte Verbindungen verhindern (Asslaber et al. 2007), aus formellen und informellen Normen, die unter anderem den Zugriff auf diese Sammlungen verwalten, und aus einer dichten „Ökonomie der Hoffnung“ (Rose und Novas 2005),2 die die in der Gegenwart entstehenden Sammlungen mit hoffnungsvollen Visionen von zukünftig revitalisierten Forschungslandschaften, entlasteten Gesundheitsetats und gesunden Bevölkerungen verbinden. Biobanken werden nach Größe, Organisation und der Art der gesammelten Proben und Daten unterschieden. „Populationsbiobanken“, die durch die Sammlung von Blutproben von teils (noch) gesunden BürgerInnen, umfassenden Informationen über deren Lebensführung und häufig großen Öffentlichkeitskampagnen gekennzeichnet sind (Tutton et al. 2004; Petersen 2005; Gottweis und Petersen 2008a), werden „krankheitsspezifische“ Biobanken gegenübergestellt, die häufig auf der Grundlage bereits bestehender Sammlungen aufgebaut werden, im Kontext etablierter klinischer Praktiken entstehen und in der Re-
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gel geringere öffentliche Aufmerksamkeit erhalten als ihre populationsbasierten Gegenstücke (vgl. z. B. Sleeboom-Faulkner 2009). Das gemeinsame Band, das diese heterogene Landschaft von Biobanken zusammenhält, ist die große „post-genomische Erzählung“. Diese verspricht, die molekulare Komplexität menschlichen Lebens mit Hilfe statistischer Verfahren zu entschlüsseln und damit die Grundlagen für eine Zukunft der „personalisierten Medizin“ zu schaffen, in der Krankheiten in einem frühen Stadium erkannt und durch „maßgeschneiderte“ Therapien effizienter behandelt werden können (Hedgecoe 2004; Wellcome Trust 2005; Egger 2008; Mitchell und Waldby 2009). Biobanken bilden die materielle Infrastruktur dieser Erzählung. Ein Referent auf einem Biobanken-Symposium setzte Biobanken etwa metaphorisch mit „Eisbrechern“ gleich, die das Eis „für eine neue Form der Forschung in der Zukunft“ brechen (Feldnotizen, Juli 2009). Ein weiterer Experte verglich in einem Gespräch mit mir Biobanken mit „Plattformen“, auf denen die zukünftige Forschung errichtet werden wird (Interview E). In der Gegenwart wird also gesammelt, um die Forschung der Zukunft zu ermöglichen. Dieses Vorgehen erscheint umso dringlicher, als argumentiert wird, dass die für post-genomische Forschungsstrategien notwendige hohe Anzahl von Proben und Daten mit kleinen, ad-hoc entstehenden Sammlungen nicht mehr bewältigbar sei (Waltz 2007; Burton et al. 2009). Die Bioethik, deren Entstehen Biobanken zeitlich voranging, ist ein fester Bestandteil der Biobankenlandschaft. In einer Vielzahl von Publikationen wird über die ethischen Standards debattiert, die von Biobanken zu gewährleisten sind. Dabei treten spezifische Themen gehäuft auf. Über die Notwendigkeit von „Informed Consent“ und dessen Grenzen im Kontext von Biobanken wird am intensivsten diskutiert (Annas 2000; Chadwick und Berg 2001; Cambon-Thomsen 2004; van Veen 2006; Lunshof et al. 2008; Hofmann 2009). Aber auch „Datenschutz“, die Fragen von „Intellectual Property Rights“, von „Eigentum“ und „Besitzansprüchen“ sind kontroversiell diskutierte Themen (Joly et al. 2005; Joly und Knoppers 2006; Helgesson et al. 2007; Prainsack und Gurwitz 2007). Dabei sind diese Debatten Biobanken nicht äußerlich; vielmehr fließen sie in Form bioethischer Standards und Praktiken in die Architektur von Biobanken ein und bilden damit einen internen Bestandteil jedes Biobankenprojekts (Salter und Jones 2005; Mayrhofer und Prainsack 2009). Diese Verbindung zwischen Biobanken und Bioethik ist so wirkungsmächtig, dass sie auch die – freilich eher spärlichen – öffentlichen Debatten um Biobanken dominiert (Gottweis und Petersen 2008b). Aber warum eigentlich? Wie kommt die Bioethik „in“ die Biobank? Wer bringt sie dort hin? Was „tut“ sie dort und was macht diese Verbindung
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so erfolgreich? Das sind die Fragestellungen, die ich in diesem Artikel zu beantworten versuche. Dabei argumentiere ich, dass die Wirkungsmächtigkeit der Bioethik im Feld der Biobanken im Umstand begründet ist, dass es „die Bioethik“ nicht gibt. Vielmehr fasst dieser Begriff eine Vielzahl von standardisierten Argumentationen oder Skripten und institutionalisierten Praktiken zusammen, die taktisch polyvalent sind. So ist es möglich, mit Hilfe spezifischer bioethischer Skripten gegen Biobanken zu argumentieren und damit gegen diese Widerstand zu leisten und gleichzeitig bioethische Praktiken zu mobilisieren, um diesen Widerstand zu verwalten und den Aufbau von Biobanken zu ermöglichen. Genau diese Heterogenität der Skripten und Praktiken, die unter der gemeinsamen Etikette der Bioethik zusammengehalten werden, und die Vielfältigkeit der Ziele, denen diese Mittel verschrieben werden können, scheinen ein Teil des Erfolgsgeheimnisses „der“ Bioethik im Feld der Biobanken zu sein. Diese Interpretation stütze ich auf eine Analyse von Daten, die ich im Rahmen einer Feldstudie an einer österreichischen Biobank sammeln konnte. Dabei habe ich im Anschluss an den „Grounded Theory Approach“ versucht, Konzepte und Theorien auf Basis empirischer Daten heranzuziehen und zu erzeugen (Glaser und Strauss 1967).3 Das Feld meiner Forschung bildete die interdisziplinäre Biobank der Medizinischen Universität (MedUni) Graz, die mit insgesamt rund 3,1 Millionen Gewebeproben in der Form von „Paraffinblöcken“ und 120.000 tiefgefrorenen Gewebeproben zu den größten Biobanken Europas zählt (European Biotechnology 2009). Entstanden ist diese Biobank zunächst in den 1990er Jahren durch Aufbauarbeiten am Institut für Pathologie und später durch die Integration bestehender Sammlungen einzelner Institute in eine übergeordnete, interdisziplinäre Biobank. Heute ist diese Biobank nicht nur eine der größten Europas; sie ist selbst zu einem wichtigen „Player“ der europäischen Biobankenszene geworden. Gemeinsam mit einem finnischen Partner koordiniert die MedUni Graz ein großes europäisches Projekt (das sogenannte BBMRI Projekt4), in dessen Rahmen versucht wird, die bestehenden Biobanken Europas zu vernetzen und ihre Praktiken zu harmonisieren, um eine große europäische Forschungsinfrastruktur aufzubauen (Beishon 2008; Viertler und Zatloukal 2008; Lauss 2009). Der Schwerpunkt meiner Analyse liegt jedoch nicht auf der Gegenwart dieser Biobank, sondern auf deren Geschichte und Entstehungsprozess am Institut für Pathologie und fokussiert damit auf eine Zeit, in der diese Biobank noch „in the making“ (Latour 1987) war und die Hoffnungen und Erwartungen, die mit ihrem Aufbau verbunden wurden, noch umstrittener und damit für das sozialwissenschaftliche Auge sichtbarer waren, als das heute der Fall ist, in einer Zeit also, in der die Biobank „gemacht“ ist
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und breite Unterstützung genießt. Diesem Entstehungsprozess, der durch einen Wandel der Bedeutung der am Institut für Pathologie archivierten Gewebeproben im Kontext des Aufstiegs der Genetik begann und später zu Veränderungen der Praktiken des Mikrokosmos der Pathologie führte, räume ich einen wesentlichen Teil dieses Artikels ein. Er bildet den Hintergrund, dessen Kenntnis notwendig ist, um die vielfältigen Rollen, die die Bioethik in diesem Prozess hatte, zu verstehen. Freilich sind die Erkenntnisse, die ich in dieser Feldstudie gewinnen konnte, dadurch begrenzt, dass es sich um eine Feldstudie in einem spezifischen Kontext handelt. Rückschlüsse auf die Bioethik im Allgemeinen lassen sich daraus nur begrenzt ziehen. Bioethik existiert nur im Plural, weshalb es eigentlich angebrachter wäre von Bioethiken zu sprechen. Sie umfasst eine große Bandbreite von Schulen und operiert auf unterschiedlichen Bühnen. Zunächst im US-amerikanischen klinischen Kontext als Medizinethik entstanden, fand bioethisches Wissen bald seinen Weg von der Klinik zum Labor und begann damit auch in der Forschung Eingang zu finden. Gleichzeitig wurde die Bioethik akademisch in Form von Lehrstühlen, Zeitschriften und Tagungen und als politikberatendes Wissen auf nationaler und internationaler Ebene institutionalisiert (Rothman 1991; Evans 2002; Jasanoff 2005; Salter und Salter 2007; Braun et al. 2008; Herrmann 2009). Ähnlich wie „die“ Wissenschaft durch unterschiedliche Charakteristika gekennzeichnet ist, je nachdem ob sie als „reine“ Wissenschaft im akademischen Umfeld oder als „regulierende“ Wissenschaft auf der politischen Bühne tätig ist (Jasanoff 1990), lässt sich auch erwarten, dass die Bioethik in unterschiedlichen Räumen verschieden operiert und somit mehr als nur ein Gesicht hat. Dennoch fügt sich die Geschichte, die ich im Folgenden erzählen werde, in das Bild ein, das einige SozialwissenschafterInnen über das Verhältnis der Bioethik zu Biobanken zeichnen. Dieses werde ich im folgenden Abschnitt kurz skizzieren bevor ich daran anschließend beginne, meine Geschichte zu erzählen.
2 Ein sozialwissenschaftlicher Blick auf das Verhältnis von Biobanken und Bioethik In Gesprächen mit österreichischen LebenswissenschafterInnen wird man als SozialwissenschaftlerIn zuweilen mit dem Vorwurf konfrontiert, dass bioethische Praktiken, die in den letzten Jahren in den Mikrokosmos der Forschungsarbeit im Labor eingezogen sind, und bioethische Diskussionen,
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die öffentliche Diskussionen an der Schnittstelle zwischen Forschung und Gesellschaft dominieren, das Leben von LebenswissenschafterInnen wenn nicht erschwert, dann zumindest um einiges komplizierter gestaltet haben. Diesem Bild der Bioethik als „Hürde“- oder salopp verkürzt als maschinenstürmender „Moralapostel“ – steht die Verortung der Bioethik in einigen sozialwissenschaftlichen Arbeiten jedoch diametral gegenüber. In diesen scheint die Bioethik dem Schaffen von LebenswissenschafterInnen weder hinderlich noch äußerlich zu sein; bioethische Normen und Praktiken werden vielmehr als integraler Bestandteil eines „biotechnologischen Komplexes“ bewertet, die dessen Aufstieg erst ermöglichen (Salter und Salter 2007; Rose 2006; Rose 2008; Nowotny und Testa 2009). An dieses Bild der Bioethik als integralem Bestandteil von Biomedizin und Biotechnologie, der diese nicht verhindert, sondern – wiederum salopp verkürzt – als „smooth operator“, also als Aktant, der Feinarbeit bei der Beseitigung von Betriebsstörungen leistet, überhaupt ermöglicht, schließen auch vorliegende Arbeiten über Bioethik und Biobanken an. So argumentieren Brian Salter und Mavis Jones (2005) etwa, dass bioethische Expertisen im Kontext von großen Populationsbiobanken herangezogen wurden, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in Biobanken zu gewährleisten. Dabei klassifizieren Salter und Jones die Bioethik als eine neue Form technokratischer Politikberatung und grenzen diese zugleich von etablierten Formen ab, indem sie argumentieren, dass ihre Legitimation nicht nur auf ihrem Expertenwissen beruht, sondern auch darin begründet ist, dass bioethische Expertisen als „Vehikel für die Repräsentation der Interessen von BürgerInnen“ (ebd., S. 727) betrachtet werden. Im Kontext von Biobanken, schlussfolgern Salter und Jones, erweist sich die Bioethik somit als „politisch nützlich“ (ebd., 715). Dass die Bioethik Teil eines „komplexen politischen Spiels“ ist, argumentiert auch Klaus Hoeyer (2008), der in seiner kritischen Metaanalyse publizierter Artikel über Biobanken zunächst feststellt, dass menschliche Körpersubstanzen schon seit langer Zeit gesammelt wurden, diese Sammlungen aber erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts als bioethisches Problem wahrgenommen werden. Nach Hoeyers Analysen ist diese neue bioethische Problematisierung alter Sammlungen die Folge davon, dass in den 1990er Jahren Körpersubstanzen durch drei Faktoren „personifiziert“ wurden: Erstens wurden DNA-enthaltende Körpersubstanzen zu Repräsentanten der „Essenz“ von Personen (ebd., S. 432), zweitens wurden sie im Kontext des Diskurses von Patientenrechten personifiziert, und drittens warf eine zunehmende Kommodifizierung die Frage auf, ob menschliche Körpersubstanzen als austauschbare Waren oder als Personen zu klassifizieren seien (ebd., S. 434). „Die steigende Einbindung von kommerziellen In-
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teressen“, schreibt Hoeyer, „trug zum ethischen Unbehagen bei“ (ebd., S. 434). Diese drei Faktoren traten je nach Kontext in unterschiedlichen Kombinationen auf. In der Regel bestand die Lösung für neu entstehende Fragestellungen jedoch in der Institutionalisierung einer bioethischen Praktik – dem Einholen des „Informed Consent“ der SpenderInnen biologischer Körpersubstanzen. Michaela Mayrhofer und Barbara Prainsack (2009) gehen in ihrer Studie zu internationalen Biobank-Netzwerken schließlich der Frage nach, wie ethische Standards im Verlauf der Vernetzung von Biobanken entstehen. Sie argumentieren, dass diese in einem komplexen Prozess des „Selbst-Regierens“ entstehen und im Prozess der Harmonisierung und Standardisierung mit wissenschaftlichen Praktiken koproduziert werden. Die Geschichte, die ich im Folgenden erzählen werde, fügt sich in dieses Bild ein, versucht es gleichzeitig jedoch auch komplexer zu machen. Auch im Fall der Grazer Biobank führte die Beteiligung kommerzieller Interessen, wie sie von Hoeyer skizziert werden, zu einem „Unbehagen“, in dessen Kontext bioethische Argumente und Praktiken an Bedeutung gewannen. Diese erlaubten jedoch nicht nur, Probleme zu lösen und die Biobank zu legitimieren. Sie bildeten auch ein Repertoire an Sagbarem, das es den GegnerInnen der Biobank erlaubte, Fragen zu formulieren und legitimen Widerstand zu leisten. Wie ich im Folgenden zeigen werde, war ein Grund für den internen Aufstieg „der“ Bioethik im Fall der Grazer Biobank, dass sie weder als „Moralapostel“ noch als „smooth operator“ operierte, sondern als beides zugleich.
3 Vom „Archiv“ . . . Die stummen „Protagonisten“ dieser Geschichte sind etwa drei Millionen ungefähr einen Kubikzentimeter kleine „Gewebeblöcke“, die seit 1983 im Archiv des Instituts für Pathologie in Graz gesammelt wurden. Die Bedeutung dieser Gewebeblöcke, die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, die Praktiken, mit denen sie gesammelt wurden, die Akteure, die sich um sie versammelten, und das Austauschregime, in das diese eingebettet waren, sollte sich im Laufe dieser Geschichte ändern. Zunächst wurden sie aus diagnostischen Gründen produziert und aus rechtlichen Gründen aufbewahrt. Als „diagnostische Objekte“, die im Rahmen der pathologischen Routinediagnose „gemacht“ wurden, wurden sie als Teil der Patientenakten betrachtet (Interview H). Darüber hinaus waren sie auch für die Konstituierung der Disziplin „Pathologie“ zentral, denn dieses von Körpern losgelöste menschliche Gewebe war das Material, das es
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der Pathologie erlaubte, Wissen über Krankheit und Gesundheit, über Tod und Leben, zu generieren. So haben PathologInnen seit dem Entstehen ihrer Disziplin im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert Körper und Körperteile seziert und autopsiert, also „in Augenschein genommen“, um toten Körpern das Geheimnis ihres Sterbens zu entlocken (Bankl und Radaskiewicz 1993; Streckeisen 2001; Foucault 2002 [1963]; Gottweis et al. 2004; Timmermans 2006). Auch heute noch, am Beginn des 21. Jahrhunderts, sezieren PathologInnen Leichen. Autopsien bilden jedoch nur mehr einen kleinen Teil der pathologischen Praktiken, die im 20. Jahrhundert immer stärker in die Klinik und damit in den Bereich des Lebens eingedrungen sind (Holzner 1997). Neben Autopsien umfasst ihr Aufgabengebiet heute auch die histologische Diagnostik von Gewebeproben und die zytologische Untersuchung von Flüssigkeiten, die toten, vor allem aber lebenden PatientInnen in Biopsien oder Operationen entnommen werden.5 So endet in vielen Fällen menschliches Gewebe, das ChirurgInnen PatientInnen entnehmen, noch während der Operation zunächst in den „Schnellschnitträumen“ der pathologischen Abteilungen, in denen der/die diensthabende Pathologe/in einen „Schnellschnitt“ durchführt. Dabei untersucht er/sie das Gewebe zunächst mit freiem Auge und entnimmt in der Folge ein oder auch mehrere Gewebestücke, die in einer gelartigen Substanz aufgefroren werden, damit die Gewebestücke dünn aufgeschnitten werden können. Anschließend werden diese Schnitte gefärbt und befundet. Häufig handelt es sich bei diesem Gewebe um Tumore. Rasche pathologische Diagnosen helfen ChirurgInnen dabei zu beurteilen, ob Tumore auch vollständig entfernt wurden (Interview H). Aber nicht alle pathologischen Diagnosen erfolgen unter solchem Zeitdruck. In vielen Fällen wird entnommenes Gewebe erst nach einer Operation in die Pathologie geschickt, da das Ergebnis der Histologie nicht mit unmittelbaren operativen Maßnahmen in Verbindung gesetzt wird. Solches Gewebe wird zunächst mit Formalin fixiert. Anschließend wird von einem/r Pathologen/in eine Auswahl von Abschnitten getroffen, die weiter untersucht werden. Diese werden vom Formalin befreit und in Paraffin, einem Wachs, eingebettet. Dieser „Paraffinblock“ wird dünn geschnitten, der Schnitt wird auf einen Organträger gebracht, gefärbt und abschließend von einem/r Pathologen/in befundet (Bankl 2003; Streckeisen 2001, S. 268–269; Sedivy 2008).6 Bei jedem histologischen Diagnoseverfahren produzieren PathologInnen somit Paraffinblöcke, die aus menschlichen Körpern entferntes Gewebe in „diagnostische Objekte“ verwandeln. Da diese „diagnostischen Objekte“ nicht mehr Prozessen der Dekomposition unterworfen sind, ist es auch möglich, sie zu archivieren (Streckeisen 2001, S. 267). In der Pathologie in
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Graz wurden sie zusammen mit den zugehörigen Schnitten im „Archiv“, einem großen Raum im Untergeschoß, in Kästen mit tiefen Laden gesammelt. Die Laden waren mit Nummern versehen, die die Zuordnung von Schnitten und Blöcken ermöglichen sollten. Ein Inventar dieses Archivs oder eine Dokumentation über Entnahmen gab es allerdings nicht. Ein Auffinden der Proben war daher nicht immer leicht. Rückblickend und aus der Perspektive der Gegenwart betrachtet, macht diese Periode einen homogenen Eindruck, war sie doch neben der begrenzten Sorge um den Bestand des Archivs auch von der Abwesenheit einer Debatte geprägt, die für uns heute so selbstverständlich erscheint. Zu keiner Zeit gab es eine Diskussion darüber, wie man etwa die Rechte der PatientInnen, deren Körpern das Gewebe entnommen wurde, schützen sollte. Das heißt nicht, dass die Rechte von PatientInnen missachtet wurden; vielmehr erschien es weder sag- noch denkbar, dass das der Fall sein könnte, oder dass Praktiken institutionalisiert werden müssten, um einen Missbrauch zu verhindern. Dabei lag das im Archiv befindliche Gewebe nicht einfach brach. Es war in ein informelles Austauschregime eingebettet, das über nicht kodifizierte Zugangsregeln gesteuert wurde. Das Gewebe wurde für die Diagnostik, die Lehre und manchmal auch für die pathologische Forschung verwendet. Der Zugang zu den Gewebeproben wurde durch den Vorstand des Instituts für Pathologie geregelt. Als ethisch-rechtlicher Rahmen galt die ärztliche Schweigepflicht. Alle PathologInnen verfügten über einen Schlüssel zur Tür des Archivs. Sie konnten daher jederzeit Gewebe hinzufügen, aber auch Gewebe entnehmen. Im Vergleich mit den komplexen Zugangsregelungen der Gegenwart bezeichnete ein Pathologe dieses Archiv daher retrospektiv als „Selbstbedienungsladen“ (Feldnotizen, Mai 2007). Wie ich im Folgenden zeigen werde, sollten sich mit der Transformation des Archivs in einen Bestandteil einer Biobank die Bedeutung der Gewebeproben, die Akteure, die sich um dieses Gewebe-Material versammelten, das Austauschregime, in das dieses Material eingebettet war, und der Zugang zu diesem Austauschregime verändern. Diesen Veränderungen ist gemeinsam, dass sie die Quellen späterer Konflikte darstellten, die den „Nährboden“ für den Aufstieg der Bioethik bildeten.
4 . . . zum Aufbau der Biobank Ab 1993 kam es auf dem Institut für Pathologie in Graz zu mehreren Veränderungen: Gewebe, das bisher nach Abschluss des Diagnoseverfahrens verworfen wurde, weil es für pathologische Diagnosen wertlos war, wurde
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nicht mehr entsorgt. Vielmehr wurde damit begonnen, diese „Abfall- oder Nebenprodukt[e] der Routine“ (Interview B) für die Forschung zu sammeln. Dieses Restmaterial wurde nicht mit den in der Pathologie üblichen Praktiken fixiert und archiviert, sondern in flüssigem Stickstoff tiefgefroren. Im Untergeschoss der Pathologie wurden dafür Stickstofftanks aufgestellt. Des Weiteren begleitete ein/e Mitarbeiter/in die diensthabenden PathologInnen in den Schnellschnittraum, um das verworfene Restmaterial für die entstehende Gewebebank zu sammeln. Die Entscheidung, ob Restmaterial für die Stickstofftanks vorhanden war, lag dabei bei den diensthabenden PathologInnen. Sie bestimmten, wie viel Gewebe für die Diagnose notwendig war – „es muss[te] ja immer genug für die Diagnostik und den Patienten vorhanden sein“, erklärte mir eine Mitarbeiterin (Interview F). Das für das Archiv bestimmte Gewebe wurde auch mit Daten „angereichert“.7 Darüber hinaus wurden die Paraffinblöcke nicht mehr, wie in der Vergangenheit üblich, nach dem Verstreichen der Aufbewahrungspflicht verworfen, sondern weiter konserviert. Damit begann die Biobank ab dem Jahr 1993 zunächst als Gewebebank, also als Sammlung von Gewebeproben und Daten, Form anzunehmen. Freilich verwendete damals niemand diese Bezeichnung, die erst an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert geläufig wurde. Über „Gene“ wurde damals allerdings bereits intensiv gesprochen. Im vorliegenden Fall bildete insbesondere die „Molekularisierung von Krebs“ einen wichtigen, über die Grenzen dieser Geschichte hinausgehenden Kontext, der die Verschiebung der Bedeutung des im Archiv gesammelten Gewebes, der Erwartungen, die in dieses investiert wurden, und eine neue Ansammlung von Akteuren um diese Gewebeproben ermöglichte. Seit den 1980er Jahren waren sogenannte Onkogene (oncogenes) in den Mittelpunkt des Interesses der Krebsforschung getreten. Diese durch Mutation entstehenden „Krebsgene“ wurden als die zentralen Kräfte des Wachstums von Tumoren gesehen (Fujimura 1996; Morange 1997). Umgekehrt wurden sie aber auch zu interessanten „Targets“ bei der Medikamentenentwicklung. Denn mit der Identifikation von Genen als Motoren des Tumorwachstums war die Suche nach Stoffen, die die Aktivität eben dieser Gene unterbinden sollten, der logisch nächste Schritt. Die Firma Novartis hatte in den 1990er Jahren begonnen, ein solches Medikament („Cleavec“) zu entwickeln. In der Erinnerung eines Interviewpartners bestand darin „ein auslösendes Moment“ dafür, dass sich sein Arbeitgeber, der Pharmakonzern Böhringer-Ingelheim, für eine Kooperation mit dem Institut für Pathologie zu interessieren begann. Eine Investition von Böhringer-Ingelheim – jährlich wurde ein bestimmter Betrag zur Verfügung gestellt, um die Stickstofftanks, ei-
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nen Computer und die Arbeitszeit eines/r Mitarbeiters/in zu finanzieren – ermöglichte erste Aufbauarbeiten der späteren Biobank. Mit dieser Zusammenarbeit verbanden beide Seiten die Hoffnung, ihre jeweiligen Felder, nämlich jenes der Medikamentenentwicklung und jenes der klinischen Diagnostik, einander näher zu bringen. PathologInnen sahen darin die Möglichkeit, ihre eigene Arbeit an die Forschung anzuschließen, und damit zu einem Player im Feld der in dieser Zeit rasch an Bedeutung gewinnenden Genetik zu werden. Der Umstand, dass die Pathologie zwar keinen Zugriff auf PatientInnen selbst hatte, jedoch die Gewebeproben kontrollierte, war im damaligen Kontext eine Chance für diese Disziplin „von der Peripherie eigentlich zum Zentrum der Grundlagenforschung zu kommen oder einer der wichtigsten Partner zu werden.“ (Interview A). Der hohe diagnostische Aufwand, der bisher als Hindernis dafür gesehen wurde, selbst in der Forschung aktiv zu sein, wurde nun zur Ressource. Entscheidungsträger des Pharmakonzerns sahen in einer Kooperation mit der Pathologie umgekehrt die Chance, mit ihrer Forschung näher an die Klinik zu kommen. Zwar konnten Studien an den Gewebeproben des Instituts für Pathologie klinische Studien nicht ersetzen, sie ermöglichten jedoch, die Häufigkeit des Vorliegens bestimmter „Targets“ in der Bevölkerung zu überprüfen und das Risiko möglicher Fehlinvestitionen und damit potenzieller zukünftiger Verluste bereits in der Gegenwart zu minimieren. Im Kontext der „Molekularisierung von Krebs“ wurden die „diagnostischen Objekte“ und das verworfene Gewebe der Pathologie also zu „boundary objects“ (Bowker und Star 2000), die nun über die disziplinären und akademischen Grenzen der Pathologie hinweg „zirkuliert“ wurden, und die damit die vormals getrennten Mikrokosmen der Pathologie und der Pharmaforschung miteinander in Verbindung setzten und gleichzeitig die Grenzen zwischen beiden brüchig machten. Nach acht Jahren stetiger Aufbauarbeiten kam es zu weiteren Veränderungen. Zunächst gründeten 2001 zwei Mitarbeiter der Pathologie, ein Jurist und ein Pharmaexperte, ein eigenes Unternehmen, die Firma „Oridis Biomed“. Durch die Gründung dieses „Spin-Offs“ verdreifachten sich die finanziellen Ressourcen, die der Pathologie für den Aufbau der Gewebebank zur Verfügung standen. Statt einem/r Beschäftigten konnten nun drei MitarbeiterInnen finanziert werden. Der Preis, den das Institut im Gegenzug bezahlte, war ein uneingeschränkter Zugang zu den damals fast drei Millionen Gewebeproben und ein exklusives kommerzielles Verwertungsrecht für das Unternehmen. Freilich verkaufte Oridis das Gewebe nicht. In den Worten eines beteiligten Akteurs kam es zu „einer Veredelung des Gewebes und nicht zu einer Weitergabe des Gewebes“ (Interview C). Die Firma verarbei-
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tete Teile des Gewebe-Materials zu einem „cleveren Forschungsmotor“ (Richter 2006), nämlich einer vollautomatisierten Gewebearraytechnologie, die molekulare zelluläre Prozesse in hunderten von Stanzen, also sehr kleinen Ausschnitten der Gewebeproben, mit Hochdurchlaufverfahren gleichzeitig analysierte. Diese Technologie sollte Pharmaunternehmen dabei helfen, mögliche therapeutische Targets bereits in einem frühen Stadium zu validieren, um die zeit- und kapitalintensive Pharmaforschung insgesamt effizienter zu gestalten. Sie wurde als ein „clinical trial on a chip“ (Interview I) vermarktet. Nach diesen ersten Jahren, in denen sich vorwiegend „private“ Akteure um das Gewebe der Grazer Pathologie versammelten, begannen ab 2003 auch öffentliche Geldgeber Erwartungen und Ressourcen in die gesammelten Gewebeproben zu investieren. Damit gleicht die Geschichte der Grazer Biobank den Entstehungsprozessen von Biobanken außerhalb Österreichs. Wie Georg Lauss (Lauss 2009) in einer Studie zeigt, entstanden viele Biobanken zunächst mit Hilfe privater Geldgeber, wie etablierter Pharmakonzerne. Für diese war der Zugang zu Gewebe-Sammlungen als „Quasi-Bevölkerungen“ eine wertvolle Ressource, der für sie selbst auf Grund ihrer Distanz zur klinischen Praxis nur schwer organisierbar war (Lewis 2004). Erst später, an der Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert, im Kontext des Aufstiegs der Post-Genomik und des damit verbundenen Diskurses über wissensbasierte (Bio-)Ökonomie, betrachteten Akteure der öffentlichen Hand Biobanken zunehmend als „Infrastrukturen“, die nicht nur den jeweiligen Forschungslandschaften, sondern auch den Ökonomien als „Sprungbrett“ in das Zeitalter einer wissensbasierte (Bio-)Ökonomie dienen könnten, und sie begannen, Mittel für den Aufbau dieser Infrastruktur zur Verfügung zu stellen (Lauss 2009; Mitchell und Waldby 2009). Große teils öffentlich geförderte „Populationsbiobankenprojekte“, wie etwa „UK Biobank“, begannen nun zu entstehen (Kaiser 2002; Gottweis und Petersen 2008a). Für die Gewebebank in Graz waren diese „Populationsbiobanken“ und insbesondere die „Rede“, die diese von sich machten, insofern von Relevanz, als mit deren Aufstieg auch (vermeintlich) kleineren, bereits vorhandenen Sammlungen neue Bedeutung zugeschrieben wurde (Hirtzlin et al. 2003). Mit den Worten eines beteiligten Akteurs wurde nun auch von öffentlichen Geldgebern „die Relevanz dieser Biobanken erkannt“ (Interview A). Ab 2003 stand der Grazer Gewebebank mit dem österreichischen Genomforschungsprogramm GEN-AU öffentliches Geld zur Verfügung, das es erlaubte, die Aufbauarbeiten zu intensivieren. Am Klinikum wurden Kooperationen mit der chirurgischen Abteilung begonnen, die den Zugang zu Gewebe erleichtern sollten. Ein Team war rund um die Uhr in Bereitschaft, um
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jederzeit Material tieffrieren zu können. Auch mit anderen Abteilungen wurde kooperiert, um neben Gewebeproben auch Serumproben und klinische Daten in die Sammlung aufnehmen zu können. Die handgeschriebenen Diagnosen der Pathologie wurden eingescannt und die verbalisierten Befunde in numerische Codes übersetzt. Auch „Informed Consent“ wurde nun für das tiefgefrorene Restgewebe eingeholt. MitarbeiterInnen der Gewebebank klärten nach erfolgten chirurgischen Eingriffen PatientInnen über die Gewebebank auf und holten ihre Einwilligung dafür ein, dass ihr Gewebe aufbewahrt, der Forschung zur Verfügung gestellt und mit klinischen Daten angereichert werden durfte. In knapp mehr als einem Jahrzehnt wurden die „diagnostischen Objekte“ des Archivs der Grazer Pathologie und in der Vergangenheit verworfenes Gewebe somit zu Dingen, die über disziplinäre und akademische Grenzen hinweg zirkuliert wurden und die ein stetig wachsendes Netzwerk an Akteuren versammeln konnten. Während sie zunächst als „boundary objects“ eine Zusammenarbeit zwischen der Grazer Pathologie und dem Pharmakonzern Böhringer-Ingelheim ermöglichten, wurden sie später zu Dingen, in die auch öffentliche Akteure Erwartungen und Geld investierten. Aber während das Netzwerk von Akteuren, die Erwartungen und finanzielle Mittel in die Gewebeproben investierten, wuchs und sich die Grenzen zwischen „reiner“ pathologischer Forschung und „Industrieforschung“ zu verschieben begannen, wurde dieses Netzwerk intern brüchig und das Gewebe zum Politikum. Wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde, kamen in diesem Kontext bioethische Argumente und Praktiken ins Spiel.
5 Über „Moralapostel“, „smooth operators“ und das Eigenleben bioethischer Praktiken In sozialwissenschaftlichen Arbeiten wird häufig argumentiert, dass biologische Materialien, die früher als „waste“ oder „Abfallprodukte“ klassifiziert und verworfen wurden, nun von der Biomedizin als wertvolle Ressourcen reklassifiziert und verwendet werden (Morgan 2002; Waldby und Mitchell 2006; Hoeyer et al. 2009). Auch über die Entwicklung der Biobank in Graz gibt es eine solche Erzählung. Eine Journalistin zitierte einen der Gründer der Biobank etwa wie folgt: „,Eines Tages standen vor dem Institut Container auf dem Weg zur Verbrennung – voll bis oben hin mit Gewebeproben‘(. . .). Aus dem Bauch heraus und mit dem molekular-biologischen Wissen, das er in den Jahren zuvor am Wiener In-
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stitut für Molekulare Pathologie (IMP) gewonnen hatte, stoppte er die unwiderrufliche Vernichtung der Präparate und begann, zunächst in Gedanken, eine europäische Gewebebank aufzubauen.“ (Grabar 2007, S. 13)
Dieser „Gründungsmythos“ ist eine gute journalistische Anekdote. Für ein Verständnis der Hindernisse, die bei der Umsetzung dieses Plans entstanden, ist er aber hinderlich. Denn er verdeckt den Blick auf jene Praktiken, die dem Aufbau der Biobank zeitlich vorangingen und die durch die Biobank verändert wurden. So hat sich zwar die Bedeutung, die dem Gewebe der Pathologie zugeschrieben wurde, in den letzten Jahren verschoben und die Netzwerke, in die das Gewebe eingebettet war, wurden verändert: Aus „diagnostischen Objekten“, die auch der pathologischen Forschung dienten, wurden zunächst „boundary objects“, die über disziplinäre und akademische Grenzen hinweg zirkuliert wurden, und schließlich „Dinge“, in die auch Akteure der öffentlichen Hand Erwartungen und Ressourcen investierten. Auch die Häufigkeit, mit der das Gewebe-Material für Forschungszwecke verwendet wurde, ist um ein Vielfaches gestiegen. Brachliegender „Abfall“ war das Gewebe jedoch auch vor diesen Veränderungen nicht. Zunächst steckt viel Arbeit und praktisches Wissen in der Herstellung der Gewebeblöcke. Jede Diagnose ist das Produkt häufig langer Aushandlungsprozesse, in denen PathologInnen im Austausch mit behandelnden ÄrztInnen stehen, und mit den erstellten Diagnosen Verantwortung für Eingriffe in das Leben von PatientInnen übernehmen. Gewebeproben und Diagnosedaten sind somit nicht einfach vorhanden, sondern werden in Arbeitsprozessen von PathologInnen gemacht und produziert. Zudem haben PathologInnen seit dem Entstehen ihrer Disziplin mit diesem „Abfallprodukt“ gearbeitet und geforscht. Für ein Verständnis der Konflikte, die im Kontext des Aufbaus der Grazer Biobank entstanden, ist es also zunächst wichtig festzuhalten, dass der Aufbau der Biobank nicht dazu führte, dass bis zu diesem Zeitpunkt brachliegende Gewebeproben nunmehr für die Forschung verwendet wurden; neu war nicht, dass mit diesem Material geforscht wurde, sondern wer diese Forschung betrieb, wie diese Forschung organisiert wurde und welchen Zwecken diese Forschung diente. Insbesondere das Austauschregime, in das das Gewebe eingebettet war, wurde durch den Aufbau der Biobank verändert. Ein Austauschsystem, in dem die Gewebeproben primär innerhalb der disziplinären Grenzen der Pathologie verwendet wurden und das von informellen Normen, Hierarchien und routinisierten Praktiken regiert wurde, wurde durch ein neues ersetzt. In diesem wurden die Gewebeproben und Diagnosedaten zunächst der Kontrolle der einzelnen PathologInnen, die diese produziert hatten und die für
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diese verantwortlich waren, entzogen und anschließend über diziplinäre und akademische Grenzen hinaus zirkuliert. Damit brachen die Fragen des Zugangs zu diesem nunmehr „kollektivierten“ Gewebe und der Entscheidung über diesen Zugang, die vormals durch informelle Normen und routinisierte Praktiken geregelt waren, neu auf. Dabei erregte vor allem die Integration von Oridis, einer außerakademischen Firma an der zwei Pathologen, aber nicht alle PathologInnen beteiligt waren, in das neu entstehende Austauschregime Widerstand und löste einen widersprüchlichen Prozess aus. Einerseits wäre der Aufbau der Biobank ohne Beteiligung des privaten Unternehmens wohl nicht in dieser Form möglich gewesen. Ein Akteur erklärte mir etwa: „[V]or zehn, fünfzehn Jahren hatte man nicht den Durchblick, was weiter passieren könnte, und für damals war es ein super Know How, dass irgendeine Firma für so einen damaligen Schwachsinn zahlt, (. . .), weil damals war noch kein Bewusstsein dafür vorhanden, wie viel das wert ist.“ (Interview E)
Gleichzeitig stellte die Beteiligung des Unternehmens jedoch auch ein Hindernis für die erfolgreiche Mobilisierung der PathologInnen dar, die selbst nicht an der Firma oder der Biobank beteiligt waren, deren Arbeit und praktisches Wissen aber in Form von Gewebeproben und diagnostischen Daten in die Biobank einfließen sollten. In den Worten eines Beobachters erregte dieser Umstand „sehr, sehr viele, teils gerechtfertigte, teils nicht gerechtfertigte Emotionen“ (Interview D). Diese „Emotionen“ wurden manchmal nicht in Worten, sondern in stillschweigenden, aber dennoch vielsagenden Handlungen ausgedrückt. Im Schnellschnittraum wurde etwa mehr Gewebe für die Diagnose benötigt und der Biobank weniger Gewebe zur Verfügung gestellt (Feldnotizen, Mai 2007). Wurde der Widerstand gegen den Aufbau der Biobank verbalisiert, dann erfolgte dies häufig in ethischen Termini – in internen Diskussionen, aber auch in Gesprächen mit mir. In einem informellen Gespräch erklärte mir etwa ein Pathologe, dass die Biobank problematisch sei. Auf meine Nachfrage nach den Ursachen für seine Einschätzung, meinte er, dass sie aus ethischen Gründen nicht vertretbar wäre und verwies mich – ohne die Thematik weiter zu vertiefen – auf „Eingaben bei der Ethikkommission“ (Feldnotizen, Mai 2007). Eine weitere Pathologin erklärte mir, die Biobank in Graz sei bedenklich, weil für die alten Proben, also die Paraffinblöcke, die im Rahmen der diagnostischen Routine hergestellt worden waren, kein „Informed Consent“ vorhanden wäre (Feldnotizen, April 2008). Eine Mitarbeiterin der Pathologie meinte schließlich: „Richtige Pathologen erstellen Befunde und Diagnosen. Falsche Pathologen verkaufen die Proben an eine Firma.“ (Feldnotizen, Mai 2007).
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Freilich mögen die Beweggründe, die einige PathologInnen dazu veranlassten, Widerstand gegen den Aufbau der Biobank zu leisten, vielfältiger Natur gewesen sein. So könnten einige davon irritiert gewesen sein, dass sie selbst nicht an Gewinnen von „Oridis“ beteiligt waren, ihre Arbeit aber indirekt dieser Firma zu Gute kam, oder sie könnten schlicht die Vermischung ihrer Lebenswelt mit kommerziellen Interessen abgelehnt haben. Andere könnten von den Auswirkungen der Biobank auf ihre eigenen Praktiken irritiert worden sein, etwa vom Umstand, dass die alten Normen, die ihnen den Zugriff auf das von ihnen selbst hergestellte Gewebe ermöglichten, nun ins Wanken gekommen waren, und sie damit „enteignet“ worden waren. Weitere könnten die wissenschaftliche Sinnhaftigkeit dieses Biobankenprojekts in Zweifel geführt haben oder Skepsis gehegt haben, dass ein solches Projekt PatientInnen letztlich tatsächlich zu Gute kommen würde. Solche Überlegungen über mögliche „tiefer liegende“ Gründe des Widerstands einiger PathologInnen gegen den Aufbau der Biobank gehören jedoch in den Bereich der Spekulation. Denn entscheidend ist, dass die PathologInnen nicht über ihre eigenen subjektiven Beweggründe sprachen, sondern vielmehr – vermeintlich objektive – bioethische Argumente gegen den Aufbau dieser Biobank ins Feld führten. Im vorliegenden Fall kam die Bioethik als „Moralapostel“ also nicht über VertreterInnen der Öffentlichkeit, über besorgte JournalistInnen oder alarmierte BioethikerInnen ins Feld der Biobank; vielmehr wurde sie von PathologInnen selbst im Zuge eines internen Konflikts ins Spiel gebracht. Die Bioethik stellte ihnen in Form von standardisierten Argumenten und Skripten ein Repertoire an Sagbarem zur Verfügung, das es ihnen ermöglichte, ihr Unbehagen zu artikulieren und Widerstand gegen den Aufbau der Biobank und die damit verbundenen Veränderungen zu leisten. Die „Sprache der Ethik“ (Braun et al. 2008) verlieh diesen PathologInnen also eine Stimme. Dabei waren die Skripten dieser Sprache nicht von ihnen selbst verfasst worden; ihre Verfügbarkeit gab den widerständigen PathologInnen jedoch die Möglichkeit, nicht nur zu sprechen, sondern auch auf eine legitime Art und Weise zu sprechen. Durch die Mobilisierung bioethischer Skripten, wie etwa dem Recht von PatientInnen, Zustimmung zu einem Forschungsvorhaben zu geben oder eben jenes zu verweigern, gingen PathologInnen mit den Rechten von PatientInnen und den Sorgen der Öffentlichkeit dabei eine Allianz ein, die zugleich fiktiv und real war. Sie war fiktiv, weil weder PatientInnen noch VertreterInnen der Öffentlichkeit für sich selbst sprachen. Und sie war real, weil sie es den PathologInnen ermöglichte, durch diese Allianz zu sprechen und Widerstand gegen den Aufbau der Biobank zu leisten, indem sie im Namen der Rechte von PatientInnen und der Sorgen der Öffentlichkeit sprachen.
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Die Ermöglichung von legitimen Widerstandsstrategien gegen den Aufbau der Biobank ist allerdings nur ein Teil der Geschichte des Aufstiegs der Bioethik in der Grazer Biobank. Die „Sprache der Ethik“ (Braun et al. 2008) war nicht auf eine Akteursgruppe beschränkt. Sie erlaubte es nicht nur, Widerstand gegen die Veränderungen im Mikrokosmos der Pathologie zu leisten, sondern stellte gleichzeitig auch Praktiken zur Verfügung, deren Institutionalisierung es erlaubte, diesen Widerstand zu verwalten und zu regieren, und damit den Aufbau des neu entstehenden Austauschregimes insgesamt zu ermöglichen. So wurde der Aufbau der Grazer Gewebebank von der Etablierung bioethischer Praktiken begleitet. Noch vor der Gründung des Unternehmens Oridis wurde ein umfangreiches Rechtsgutachten eingeholt, um sicher zu gehen, dass die Firma und deren Geschäftsmodell im Rahmen der österreichischen Gesetze operieren würde können. Einzelne Projekte, bei denen die Proben der Gewebebank verwendet wurden, wurden ab den späten 1990er Jahren der Ethikkommission der späteren MedUni vorgelegt, die diese nach den geltenden ethischen Standards überprüfte (Interview J). In diesem Zusammenhang erklärte mir ein Pathologe: Die „Ethikkommission ist ein Partner“, und zwar eben „weil sie unabhängig“ ist. „Damit sichert sie uns ab“ (Feldnotizen, Mai 2007). Ab 2005 wurde für tiefgefrorene Restproben, die neu gesammelt wurden, Informed Consent eingeholt. Auch das Thema Datenschutz wurde angegangen: In Zusammenarbeit mit Informatikern wurden Programme erstellt, die den Schutz der Daten von PatientInnen gewährleisten sollten, und ein ELSA-Team wurde in die Aufbauarbeiten der Biobank integriert. Das neu entstandene Austauschregime, das nun den Austausch der Gewebeproben lenkte, wurde durch den Aufbau der Gewebebank somit in ein Gefüge bioethischer Normen und Praktiken eingebettet. Damit konnten Praktiken nicht nur nach außen hin legitimiert werden; vielmehr konnten auch die Angriffsflächen für interne Kontroversen minimiert werden. Die bedrohliche fiktive Allianz, die die GegnerInnen der Biobank mit den PatientInnen und deren Rechten und der Öffentlichkeit und deren Sorgen schmiedeten, wurde auf diese Weise geschwächt, noch bevor sie tatsächlich operativ werden konnte. Ihr wurde dadurch die Grundlage entzogen. Insgesamt mobilisierten Akteure bioethische Argumente und Praktiken somit für gegensätzliche Zwecke. Allen ermöglichten diese Argumente und Praktiken eine Fortsetzung der Politik mit anderen – nämlich bioethischen – Mitteln in einem internen Konflikt. Während sie es den GegnerInnen erlaubte, sie als „Moralapostel“ zu funktionalisieren und damit legitimen Widerstand gegen den Aufbau der Biobank zu leisten, erlaubte sie es den Fürspre-
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chern, diesen Widerstand zu verwalten und damit den Aufbau dieser Biobank zu ermöglichen. Bioethische Skripten und Praktiken dienten dabei sowohl als „Moralapostel“ als auch als „smooth operator“, sie eröffneten die Möglichkeit, Unbehagen zu äußern, und ermöglichten gleichzeitig, der Artikulierung dieses Unbehagens die Grundlage zu entziehen. Der gemeinsame Effekt dieser vielfältigen Mobilisierung und Funktionalisierung war jedoch, dass bioethische Praktiken zunehmend in den Alltag der Biobank verankert wurden. Waren bioethische Normen und Praktiken von einigen PathologInnen als „Moralapostel“ mobilisiert worden, um gegen den Aufbau der Biobank Widerstand zu leisten, und von anderen als „smooth operator“ institutionalisiert worden, um die Angriffsfläche für diese Widerstandsstrategien zu minimieren, so entwickelten diese bioethischen Normen und Praktiken, einmal ins Feld der Biobank gelangt, ein Eigenleben. Sie wurden nun zu einem Teil jener Normen und Praktiken, die den Zugriff auf die Gewebeproben der Pathologie regulierten, der dadurch „verbürokratisiert“ wurde (Feldnotizen, Mai 2009). Ein Zugriff auf die selbst hergestellten Gewebeproben bedurfte nun einer Genehmigung der Ethikkommission, was aus der Sicht der PathologInnen vor allem das Schreiben von Anträgen und von gut begründeten Projektvorhaben bedeutete. Damit erzeugten die bioethischen Praktiken Rückwirkungen auf den Mikrokosmos der Pathologie, denn sie galten nach ihrer Einführung für jegliche Forschung, die mit dem Gewebe der Pathologie durchgeführt wurde. Daher erklärten mir einige meiner Interviewpartner, dass die Biobank nicht wegen mangelnder bioethischer Standards, sondern gerade wegen des Übermaßes an Vorgaben umstritten wurde. So schilderte mir etwa ein externer Beobachter: „[I]ch kann mir vorstellen, dass hier die Probleme dort aufgetreten sind, wo irgendjemand gesagt hat, ein Professor oder ein Mitarbeiter dort, ich brauche zwanzig Schnitte oder so, kannst du mir die geben, und das ist an und für sich etwas, das relativ gut geht, aber bis zu dem Punkt relativ, würde ich sagen, ohne Ethisches Komitee, usw. abgelaufen ist. Also dass das jetzt alles einen offiziellen Weg gehen muss, war manchen nicht ganz recht.“ (Interview C)
Auf meine Nachfrage erläuterte der Beobachter weiter, dass offizielle Wege „aus ethischen Gründen“ wichtig wären: „[S]ie wollen sicher stellen, dass dieses Material, erstens mit einem Sicherheitscode gegenüber dem Patienten, also dass keine Patientendaten, [die] mit dem Material korrelierbar sind, weitergegeben werden, das ist ein wichtiger Punkt, und der zweite wichtige Punkt ist, dass die Arbeiten, die dort gemacht werden, auch so sind, also dass ein Projekt vorgestellt werden muss, und nicht dass das
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halt irgendwo verwendet wird, und weg ist es, das sind ja kostbare Proben, dass hier das ganze dokumentiert wird und mit Protokollen unterlegt ist, wofür, dass die Studien auch statistisch stimmen müssen, sie haben nichts davon, wenn sie irgendwo zehn Proben einsetzen und keine Antworten bekommen, dann sind die Proben futsch.“ (Interview C)
Durch den Aufbau der Biobank änderten sich somit die Art der Forschung, die mit den Gewebeproben der Pathologie gemacht werden konnte, und die Normen, die den Zugang zu diesem Gewebe kontrollierten. An die Stelle von informellen Normen, wie etwa internen Hierarchien, traten nun wissenschaftliche Kriterien, wie die statistische Haltbarkeit von Projekten, und ethische Praktiken, wie positive Voten der Ethikkommission. Die Integration von bioethischen Normen und Praktiken wurde damit zu einem Teil dessen, was das neue Austauschregime von seinem Vorgänger unterscheidet. Die Bioethik als ein Bündel von Skripten für ein normatives Verständnis davon, wie die Arbeit der PathologInnen beschaffen sein soll, und die Biobank als organisatorische Infrastruktur dieses Mikrokosmos, wurden somit gleichzeitig produziert (Jasanoff 2004; Mayrhofer und Prainsack 2009). Vor einer abschließenden Zusammenfassung möchte ich noch einen kurzen Ausblick auf die Gegenwart geben und skizzieren, wie die Geschichte der Grazer Biobank weiter verlief und wie der Konflikt um die Kontrolle der Proben und Daten letztlich gelöst wurde.
6 Ein Blick auf die Gegenwart Die Biobank, deren Geschichte und Aufbau ich in diesem Artikel dargestellt habe, existiert in dieser Form nicht mehr. Heute ist sie Teil einer interdisziplinären Biobank der MedUni Graz, und damit Beispiel einer „self-elimination-by-success“-Geschichte. Denn die Vision, eine Biobank aufzubauen, die auf Institutsebene ihren Anfang nahm, wurde von der Führungsebene der MedUni aufgegriffen und verändert. Erhofften sich Pathologen am Beginn dieser Geschichte, mit Hilfe von Gewebeproben zu einem Player in der Genetik zu werden, so erhoffen sich heute VertreterInnen der MedUni durch die Biobank eine „Infrastruktur“ zu bauen, „die eine Möglichkeit gibt, große und gute Studien zu betreiben“, und „zu fruchtbringender Kooperation mit der Industrie zu kommen“ (Interview D), und es damit der MedUni erlaubt, sich in der Forschungslandschaft des 21. Jahrhunderts zu verankern. Für den Aufbau dieser interdisziplinären Biobank wurden bereits vorhandene Einzelteile, wie die Gewebebank der Pathologie, aber auch andere am
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Klinikum bestehende Sammlungen integriert. Praktiken, die zuvor meist informell geregelt waren, wurden formell geregelt: Verantwortungen wurden definiert, und Arbeitsvorgänge in „Standard Operating Procedures“ verschriftlicht. Auch die Bioethik ist fest in die Architektur dieser Biobank verankert. Für alle neu gesammelten Proben wurde die Zustimmung der PatientInnen eingeholt. Für alle vor 2005 eingeholten Proben, für die kein „Informed Consent“ vorliegt, wurde eine Regelung getroffen, die die Zustimmung der Ethikkommission der MedUni vorsieht. Insgesamt wacht eine Summe von Policies über „Datensicherheit“ und den „Schutz der Privatsphäre von PatientInnen“.8 Gleichzeitig wurde durch die Gründung der interdisziplinären Biobank der MedUni Graz und die Integration der Gewebebank der Pathologie in diese übergeordnete Struktur auch der Konflikt um die Kontrolle des Gewebes und der Daten der Pathologie gelöst. Die Grenzen zwischen „öffentlich“ und „privat“ und zwischen „akademischer“ Forschung und „Industrieforschung“, die brüchig geworden waren, wurden neu gezogen. Heute ist die Biobank der MedUni eine öffentliche Biobank, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, und die den MitarbeiterInnen der MedUni und externen PartnerInnen zur Verfügung steht. Die Zusammenarbeit mit der Firma Oridis wurde von der MedUni in „zähen Verhandlungen“ (Interview I) neu definiert und vertraglich festgelegt. Die Firma hat kein Exklusivitätsrecht mehr und ist einer von mehreren industriellen Partnern. Umgekehrt hat sie aber auch die Möglichkeit, Zugang zu Proben und Daten zu bekommen, die nicht in der Sammlung der Pathologie beinhaltet waren, vorausgesetzt freilich, das neu gegründete „Approval Commitee“ stimmt zu. Denn über den Zugang zu den Proben und Daten, und damit auch über das Gewebe der Pathologie, entscheiden nunmehr zwei Gremien: Das „Approval Committee“ prüft die wissenschaftliche Exzellenz vorgelegter Studien. Nach einem positiven Votum dieses Gremiums evaluiert die Ethikkommission der MedUni, ob die zu erfüllenden ethischen und rechtlichen Standards zur Gänze eingehalten werden. Die umstrittene Frage der Kontrolle über Gewebe und Diagnosen wurde damit endgültig gelöst: Gewebeproben und Datenmaterial stehen allen MitarbeiterInnen der MedUni und auch externen Partnern unter der Voraussetzung zur Verfügung, dass die vorgeschlagenen Projekte wissenschaftlichen und ethischen Standards entsprechen. Das Schloss zur Tür des Archivs der Pathologie, zu dem am Beginn dieser Geschichte noch alle PathologInnen Schlüssel hatten, wurde ausgetauscht. Keine informellen Regeln, sondern Kriterien der Wissenschaftlichkeit und Ethik entscheiden heute darüber, für wen sich diese Tür öffnet.
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7 Schlussfolgerungen In diesem Artikel bin ich von der Feststellung ausgegangen, dass Bioethik und Biobanken gegenwärtig ein fest aneinander gekoppeltes Paar bilden. Anstatt dieses Paar weiter miteinander zu verweben, habe ich versucht, diese Verknüpfung „aufzumachen“ und zu verstehen, wie diese Verbindung entstanden ist. Dabei bin ich empirisch vorgegangen und habe meine Fragestellung auf Basis einer Analyse von Daten, die ich im Rahmen einer Feldstudie an der Biobank der MedUni Graz gewinnen konnte, bearbeitet. Ich habe zunächst argumentiert, dass eine Verschiebung der Bedeutung der Gewebeproben, die im Rahmen von pathologischen Routinediagnosen produziert wurden, dazu führte, dass sich neue Akteure um diese Gewebeproben versammelten und Erwartungen und Ressourcen in dieses Gewebe investierten. Damit begann ab 1993 die Biobank – in einem ersten Schritt als Gewebebank – zu entstehen. Während die Erwartungen der beteiligten Akteure zukunftsorientiert waren, hatte der Aufbau der Gewebebank jedoch Folgen in der Gegenwart des Mikrokosmos der Pathologie. Insbesondere das Austauschregime, in das die Gewebe-Sammlung eingebettet war, wurde verändert. Gegen diese Transformation regte sich interner Widerstand, der häufig durch eine bioethische Sprache artikuliert wurde. Daher habe ich argumentiert, dass bioethische Skripten im Fall der Grazer Biobank ein Repertoire an Sagbarem konstituierten, das es erlaubte, legitimen Widerstand gegen diese Veränderungen zu leisten. Gleichzeitig machten es bioethische Praktiken jedoch auch möglich, diesen Widerstand zu regieren und das neue Austauschregime aufzubauen. Damit war ein Teil des Erfolgs der Bioethik im Feld der Grazer Biobank – so meine Schlussfolgerung aus dieser Feldstudie – darin begründet, dass diese „taktisch polyvalent“ ist, da ihre Skripten und Praktiken vielfältigen Zielen verschrieben werden können und sie zugleich als „Moralapostel“ und als „smooth operator“ funktionalisiert werden kann. Anders formuliert, funktionierte die Bioethik in Graz nicht trotz sondern gerade wegen ihrer Widersprüchlichkeit. Damit war das „Brüchig-Werden“ der Grenzen zwischen „reiner“ akademischer Forschung und industrieller Forschung in Graz ein Phänomen, das den Aufstieg von bioethischen Standards und Praktiken ermöglichte. Dieses „Brüchig-Werden“ war jedoch kein linearer Prozess, sondern war vielmehr umstritten, und führte letztlich dazu, dass die Grenzen zwischen akademischer Forschung und industrieller Forschung mit dem Aufbau der interdisziplinären Biobank der MedUni neu gezogen wurde. Paradoxerweise erscheint damit in dieser Studie die oftmals unter anderem mit bioethischen
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Argumenten kritisierte „Kommerzialisierung der Forschung“ weder ein Hindernis für bioethische Argumente und Praktiken noch ein zu bekämpfendes Äußeres zu sein. Vielmehr scheint die Verschiebung von Grenzen in der Welt der Forchung eine Voraussetzung für den Stellenwert bioethischer Argumentation und für die Institutionalisierung bioethischer Praktiken zu sein. Denn das Brüchig-Werden der Grenzen zwischen akademischer Forschung und Industrieforschung bildete den „Nährboden“ für eine Mobilisierung bioethischer Skripten durch PathologInnen und damit für eine Verbreitung der „Sprache der Ethik“ (Braun et al. 2008). Gleichzeitig ermöglichte die Institutionalisierung bioethischer Praktiken jedoch auch die Verschiebung der Grenzen zwischen akademischer Forschung und Industrie. Bioethische Standards und Praktiken und die Verschiebung der Grenzen zwischen akademischer und industrieller Forschung bedingten einander also wechselseitig, in dem das eine das andere ermöglichte (Jasanoff 2004). Insgesamt erscheint es somit als zu einfach, bioethisches Wissen als legitimierende Instanz eines „biotechnologischen Komplexes“ zu begreifen. Ebenso stellt die Behauptung der Existenz eines solchen Komplexes eine Verkürzung dar. Biotechnologie und Bioethik scheinen vielmehr auf komplexe Weise verzahnt zu sein, wobei die konkrete Ausformung von Fall zu Fall verschieden, immer aber umstritten und kontroversiell erscheint. Außer Streit scheint jedoch der Umstand zu stehen, dass beide einander bedingen und bioethisches Wissen ein integraler Bestandteil der vielfältigen Transformationen der Lebenswissenschaften der Gegenwart ist. Nicht zuletzt die Existenz dieser Studie, die im Kontext eines lebenswissenschaftlichen Subprojekts entstanden ist, ist ein Indiz dafür. Anmerkungen 1
Die Konzeption dieses Artikels und die ihm zugrundeliegende Feldforschung wurden durch die finanzielle Unterstützung im Rahmen des österreichischen Genomforschungsprogramms „GEN-AU“ des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ermöglicht. Sie war Teil des von GEN-AU geförderten „GATiB-Genome Austria Tissue Bank“ Projekts. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinen KollegInnen der Forschungsplattform Life-Science-Governance an der Universität Wien für das inspirierende Umfeld. Mein besonderer Dank gilt hier Georg Lauss, der mir durch stundenlange Diskussionen dabei geholfen hat, meine Gedanken über Biobanken zu schärfen, sowie Herbert Gottweis und Christian Haddad für ihre Kommentare zu früheren Fassungen dieses Artikels. Des Weiteren möchte ich mich bei allen Projektpartnern und -partnerinnen für die spannenden Workshops und den produktiven Gedankenaustausch bedanken. Insbesondere Diskussionen mit Ingrid Schneider waren sehr hilfreich. Chris Dematté hat mich bei der Transkription der Interviews unterstützt. Mein Dank gilt auch Erich Grießler für sein sorgfältiges Redigieren dieses Artikels, sei-
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ne hilfreichen Anmerkungen und für die Nachsicht mit meinem schlechten Zeitmanagement und den beiden anonymen Gutachtern oder Gutachterinnen, deren pointierte Kritik und präzise Fragen mir sehr geholfen haben. Last but not least, möchte ich mich bei meinen InterviewpartnerInnen für die Zeit bedanken, die sie sich für Gespräche mit mir nahmen, und für ihr Feedback zu den Ergebnissen meiner Arbeit. Auch wenn ich mich bemüht habe, diese zu vermeiden, gehen sämtliche Fehler und Unstimmigkeiten dieses Beitrags auf mich zurück. Dieses Zitat wurde ebenso wie alle anderen im Original englischsprachigen Zitate von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt. Auf Basis einer Analyse von narrativen Interviews, teilnehmenden Beobachtungen, informellen Gesprächen und Dokumenten versuchte ich, Antworten auf meine Forschungsfragen zu finden. Alle Interviews wurden zwischen Mai 2007 und Juni 2009 in Graz, Wien und Innsbruck geführt. Die Interviewdaten habe ich anonymisiert. Um eine Identifikation meiner InterviewpartnerInnen zu erschweren, habe ich stellenweise auch das Geschlecht meiner GesprächspartnerInnen verändert und zitierte Interviewpassagen vorsichtig redigiert. Das Akronym BBMRI steht für „Biobanking and Biomolecular Resources Research Infrastructure“. An der Pathologie in Graz stehen internen Aufzeichnungen zufolge jährlich etwa 700 Autopsien und 800 Totenbeschauungen ganzen 130.000 histologischen Befunden gegenüber. Umgekehrt kam in Großbritannien eine Studie zum Ergebnis, dass 70% aller klinischen Entscheidungen pathologische Diagnosen beinhalten (Sebire und Dixon-Woods 2007). Von der Histologie wird die Zytologie unterschieden, bei der Diagnosen über Erkrankungen anhand der Befundung einzelner Zellen erfolgt. Diese werden entweder durch Punktationen oder Aspirationen mit einer Spritze oder durch Abstriche gewonnen, in der Folge zentrifugiert, auf einen Glaskörper aufgebracht und gefärbt. Produkte solcher zytologischen Praktiken sind allerdings nicht Gegenstand dieses Berichts. Die „Ischemizeit“- das ist die Dauer zwischen der Gewebeentnahme und dessen Weiterverarbeitung –, die Lokalisation und Art des Gewebes, die Diagnose sowie Patientendaten wie eine Codierung von Name, Alter, und Geschlecht wurden auf Papier notiert und anschließend in eine Datenbank eingegeben. Siehe dazu die Homepage der Biobank der MedUni unter der folgenden URL: http:// www.meduni-graz.at/cms/cms.php?search=biobank&pageName=4962.
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Christina Lammer Christina Lammer
Empathografie Zusammenfassung: Grundlagen: Die operative Entfernung der weiblichen Brust und onkologische Behandlungen verletzen das Körper- und Selbstbild von Frauen sowie ihre Gefühle. Mein Essay basiert auf einer ethnografischen Beobachtungsstudie, die ich zwischen 2005 und 2009 in der Klinikabteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie an der Medizinischen Universität Wien (MUW), geleitet von Manfred Frey, mit Brustkrebspatientinnen durchgeführt habe. Die Frauen schildern ihre Erfahrungen. Argumente für und gegen eine Brustrekonstruktion erlauben Rückschlüsse auf Kommunikationsprozesse sowie den Fluss von Informationen in den unterschiedlichen involvierten medizinischen Fachdisziplinen. Methodik: Im Rahmen des Projekts wurden Instrumente der narrativen Medizin, der visuellen Ethnografie, der Medizinsoziologie sowie der Kommunikationswissenschaften miteinander kombiniert. Gearbeitet wurde mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und mit offenen Interviews. Exemplarische Situationen wurden mit Hilfe einer Videokamera festgehalten. Diskussion: Genetische Tests waren besonders für die Töchter der Frauen relevant, die darüber nachdenken, ob sie sich testen lassen und welche Konsequenzen die Resultate für ihren Alltag mit sich bringen. Schlagworte: Körperbilder · Brustkrebs · Chirurgische Rekonstruktion · Risiko
Empathography Abstract: Background: Breast cancer, mastectomy and treatment in oncology injure body and self. This essay is based on an ethnographic study that was realized between 2005 and 2009 at the Clinical Unit of Plastic and Reconstructive Surgery at Medical University Vienna (MUV) in collaboration with Manfred Frey, head of department and his team. Women talk about their experiences with illness. Their stories and arguments offer knowledge about communication processes and the flow of information in the different involved medical disciplines. Methods: The crucial aim of this ethnographic long-term project was the exploration of emotional, social, cultural and gender specific aspects, which determine the life quality of breast reconstruction patients in their social environments. I combined narrative medicine approaches with medical sociology, visual ethnography and communication sciences and used methods of participating observation and open interviews. Exemplary situations were capE. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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tured with a video camera. Discussion: Genetic testing was particularly relevant for women whose daughters resonate on whether they like to get a test and what consequences the results would cause in their everyday life. Keywords: Body Images · Breast Cancer · Surgical Reconstruction · Risk
1 Mit dem Risiko leben, brustkrebskrank zu werden In meinem Beitrag gehe ich von einer ethnografischen Studie über die Körperbilder von zwölf Brustkrebspatientinnen aus, die sich nach Brustentfernung für einen chirurgischen Wiederaufbau entschieden. Am Beispiel der erwachsenen Tochter einer der Frauen, mit denen ich über einen Zeitraum von fünf Jahren arbeitete und die mir erlaubten, sie während ihrer Behandlungen in die unterschiedlichen Klinikbereiche zu begleiten, werde ich zeigen, welche Gefühle und Ängste das Risiko mit sich bringt, möglicherweise wie die eigene Mutter, Großmutter und Urgroßmutter an Brustkrebs zu erkranken.1
2 Prolog Wie der Titel meines Essays nahe legt, thematisiere ich in den folgenden Ausführungen drei inhaltliche Aspekte, die in der Wortschöpfung Empathografie bereits angelegt sind: 1. weibliche Identität und ihre Verunsicherungen, 2. Empfindung und Pathos im gesellschaftlichen Miteinander sowie 3. Aufzeichnungen und Darstellungen von Körperlichkeit. Mit der Herstellung von Empathografien in der Form von Foto- und Videoarbeiten, die weniger durch gängige sozialwissenschaftliche Analyseverfahren geprägt sind, sondern sich vielmehr an einem künstlerischen Vorgehen orientieren, werden Stück für Stück Sprachen der Gefühle und Erfahrungen freigelegt und reflektiert. In Anlehnung an die Körperbildforschung The Image and Appearance of the Human Body (1950) des Neurologen und Psychiaters Paul Schilder untersuche ich den Wandel des Körperbildes von Patientinnen und ihre Selbstdarstellung. Bezüge zur Narrativen Medizin sowie zu den Disability Studies werden deutlich gemacht (Charon/Montello 2002; Frank 1997; Garland Thomson 1997; Grimley Mason 2004; Kleinman 1997; Mattingly 2002). Eine weitere Inspirationsquelle stellt der fotothera-
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peutische Ansatz der Künstlerin Jo Spence dar, die an Krebs litt und ihre Eindrücke als Kranke mit dem Medium der Fotografie festhielt. Sie setzte sich buchstäblich selbst ins Bild und zeigte sich von ihrer verwundbarsten Seite: „How do we invent our lives out of a limited range of possibilities, and how are our lives invented for us by those in power“ (1988: 94). Mit ihren fototherapeutischen Interventionen hinterfragte Jo Spence ihre eigene Geschichte und verwob diese mit den Autoritäts- und Machtgefügen, mit denen sie sich in der Medizin und darüber hinaus konfrontiert sah. Eine Übersetzung komplexer gesellschaftlicher Beziehungen wird durch diese Art der Verwendung des Fotoapparats und der produzierten Bilder zum Ausdruck gebracht. Die Künstlerin schuf Autopathografien, Selbstporträts, in denen sich ihre Emotionen widerspiegeln. Zudem erzeugte sie bei den BetrachterInnen die Möglichkeit, sich in ihre Situation einzufühlen. Ich gehe von der These aus, dass Körperlichkeit sich stets in einem Beziehungsgeflecht herstellt. Bezogen auf das ÄrztInnen-PatientInnen-Verhältnis, in dem Bilder vom Körper und ihre Machart eine zentrale Rolle spielen, lässt sich meine Untersuchung schwerlich auf verbale Kommunikationsprozesse beschränken. Der Wandel des Körperbildes wird vielmehr durch Ausdruckspotentiale – Körpersprache, Gestik und Mimik – in seinen reichhaltigen Facetten beleuchtet. Die Beobachtung der vielfältigen Ausprägungen menschlicher Subjektivität widersteht weitgehend den wissenschaftlichen Klassifikationen und Einteilungskriterien. Künstlerische Ansätze hingegen verfügen über das nötige Instrumentarium, um subjektive Verhaltensweisen auszudrücken. Entsprechend schlage ich vor, wissenschaftliche Methoden mit in den bildenden Künsten angewandten Praktiken zu verbinden. Methodisch konfrontiere ich eine durch die visuelle Kultur der Medizin geprägte Ausdrucksweise mit der Selbstdarstellung einer jungen Frau, der ihre ÄrztInnen vorschlagen, sich vorbeugend beide Brüste entfernen zu lassen. Vor laufender Videokamera erzählt sie mir ihre Geschichte. Paul Schilder spricht in seiner Studie von einer Soziologie des Körperbildes (1950: 213–282). Demnach werden Bilder vom eigenen Körper durch die Blicke anderer generiert. Im verwendeten Forschungsansatz stehen die Erfahrungen und Erzählungen von Patientinnen im Mittelpunkt. Wie empfinden sie sich selbst und wie drücken sie ihre Körperlichkeit aus? Für die Studie CORPOrealities (Lammer 2010) entwickelten bildende Künstlerinnen, Kuratorinnen (bildende Kunst und Tanz), Historikerinnen und ich als Feldforscherin im Krankenhaus Methoden, um zwischenmenschliche Beziehungen in ihren mannigfaltigen Ausdrucksweisen zu untersuchen.
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3 Audiovisuelle Methoden Die Forschungen gehen weit über die verbale Kommunikation hinaus. Das Schreiben dieses Textes empfinde ich als Paradox, da die Hypothesen und Ergebnisse meiner Studien sich nur bedingt schriftlich festhalten lassen. Permanent überschreite ich die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, verbleibe in einem Raum dazwischen, in dem meine eigene Empfindsamkeit und Verletzlichkeit als körperlicher Prozess mitschwingt und sich verändert. Ich arbeite mit audiovisuellen Medien, mit Zeichnungen und mit der Interpretation der Stimme, um sensorische und physische Aspekte der Artikulation von Emotionalität zur Darstellung zu bringen (Pink 2009). Die Betrachtung von Video- und Tonaufnahmen mit PatientInnen und KlinikerInnen löst Gefühle aus und trägt zu einer Sensibilisierung bei. Einfühlung entsteht durch die Rezeption des audiovisuellen Materials, das den KlinikerInnen und PatientInnen zur freien Verfügung steht (Bate/Robert 2007; Iedema 2007; Lammer in: Forsyth/Carroll/Reitano 2009: 264–275). Ausgewählte Arbeiten werden zudem im künstlerischen Kontext verbreitet. Der Filmemacher und Anthropologe David MacDougall spricht in The Corporeal Image (2006) davon, dass beim Betrachten bewegter Bilder subjektive Eindrücke und körperliche Erfahrungen geteilt werden können. Der künstlerische Zugang, den ich in den folgenden Ausführungen vorschlage, bringt ungewohnte Erkenntnisformen hervor. Die Qualität dieses leiblichen Wissens lebt von der einzigartigen Individualität und Empfindungsfähigkeit der Personen, die ihre Wahrnehmungen und Emotionen mit mir teilen. Einen ähnlichen Ansatz schlagen der Soziologe Richard Chalfen und der Arzt und Filmemacher Michael Rich vor, die chronisch Kranke bitten, ihr Leben und ihren Alltag mit einer Videokamera zu dokumentieren (2007: 53–70). Die gewonnenen Forschungsmaterialien werden in den jeweiligen Bereichen im Krankenhaus gezeigt und diskutiert. Die Videos werden ÄrztInnen präsentiert, die von den PatientInnen erfahren können, was es heißt, mit bestimmten Krankheiten zu leben.
3.1 Von Patientinnen lernen In Bringing User Experience to Healthcare Improvement (2007: 93) zitieren Paul Bate und Glenn Robert die Verwendung von Videomethoden im von James Espinosa am US Atlantic Health System eingerichteten ,storytelling laboratory‘. „One approach involved videotaping patients telling their stories of ,what went well and what didn’t go so well‘, ,what felt safe and what did
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not feel safe‘ or ,what satisfied and delighted and what did not‘, subsequently replaying these stories at hospital quality meetings or back in the departments that had given the treatment“. Bate und Robert kombinieren den Lernprozess, der durch diese Methodik eingeleitet wird, mit einer Theatermetapher. „More important than the actual technology was the learning process they put around it, which drew on the Brechtian notions of the ,Theatre for Instruction‘, in which participants could be enabled by the video to disengage (,alienate‘/Verfremdung) themselves from their ,obvious‘ everyday ways of looking at the world, and to be more reflective, thoughtful and critical of their taken-for-granted world – the notion of learning and developing critical consciousness by observing oneself acting“ (ebd. 93–94). Die Videointerviews mit Monika, der ersten Brustkrebspatientin, die ich während ihrer Behandlung in der Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie an der Medizinischen Universität Wien (MUW) sowie in anderen Klinikbereichen begleitete, und ihrer Tochter Angelika, insgesamt etwa fünf Stunden Material, werden exemplarisch verwendet, um zu zeigen, wie Patientinnen sich selbst ins Bild setzen und darstellen.
3.2 Im Bilde sein Frauen agieren vor laufender Kamera. Ihre Körperlichkeit und wie sie sich selbst zeigen, bilden einen wesentlichen Teil ihrer Geschichten. Die Perspektive wird auf das individuelle Ausdrucksverhalten gelenkt und darauf, wer die Autorität über den eigenen Körper hat und in welchen Situationen diese aufgegeben wird.2 Auszüge der Interviews werden in meinem Text ausführlich wiedergegeben, um die Empfindungen der beiden Frauen besser nachfühlen zu können. Fragen des Performativen werden hierfür methodisch und theoretisch berücksichtigt. Monika schlug selbst vor, mit dem Medium Video zu arbeiten, da sie wollte, dass ich Teile unseres Gesprächs in der Zusammenarbeit mit MedizinerInnen und in der Lehre an der MUW präsentiere. Als Ethnografin werde ich damit zur Vermittlerin zwischen Klinikpersonal, MedizinstudentInnen und Kranken. In den Videoclips stellt sich eine verletzliche Frau vor. Selbstbewusst erzählt sie über ihre Erfahrungen mit der Brustkrebserkrankung und darüber, wie sie ihre Behandlung empfindet. Sie artikuliert ihre Bedürfnisse und Erwartungen gegenüber ihren ÄrztInnen. Den KlinikerInnen und Studierenden, denen ich die Aufnahmen mit Monika und Angelika3 präsentierte, ermöglichte diese Form der Vermittlung von Forschungsmaterialien, dass sie sich und ihr Tun mit den Augen der beiden Patientinnen betrachteten.
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4 Weibliche Identität und ihre Verunsicherungen Wem gehört die Erzählung? Eine wissenschaftliche Analyse oder Interpretation in Textform über die Originalnarrative der GesprächspartnerInnen zu legen, bedeutet zwangsläufig, diese bis zu einem gewissen Grad zu verfremden. Wer ist Autor oder Autorin? Ich versuche eine Gratwanderung. Manches bleibt uninterpretiert, um den Betroffenen nicht zu nahe zu treten und aus dem einfachen Grund, weil ich selbst mich in einer anderen Lage befinde und nicht in die Haut einer Brustkrebspatientin oder ihrer Tochter schlüpfen kann. Diese respektvolle Distanz ist einzuhalten und gehört zum sensiblen Umgang mit anderen. Meine Arbeit mit Zitaten und die Art, in der ich diese mit meinen eigenen Worten kombiniere, erzeugt etwas Neues. Patientinnen stellen aus ihren subjektiven Blickwinkeln dar, wie sie therapeutische und diagnostische Interventionen und Beratungen im Krankenhaus oder in der Arztpraxis wahrnehmen und wie sich diese Interaktionen auf ihren Alltag auswirken. Mit eigenen Worten, Stimmlagen und Gesten vermitteln sie ihr Erfahrungswissen. Ich bin zwar die Autorin des Essays, lege jedoch den Schwerpunkt meines Schreibens darauf, dem individuellen Ausdruck derer, die mir erlauben, sie in kritischen Lebensphasen zu begleiten, möglichst nahe zu kommen. Den Frauen (Patientinnen) Stimme zu verleihen und Gehör zu verschaffen.
4.1 Mutter und Tochter Angelika ist eine knapp über 20jährige Flugbegleiterin. Ich lernte sie am Krankenbett ihrer Mutter Monika kennen. Monika hatte am Tag davor ihre Brustoperation. Ein multizentrisches Mammakarzinom machte eine komplette Entfernung der rechten Brust nötig. Sie entschied sich für einen sofortigen Wiederaufbau mit Eigengewebe. Dafür wurde ein „Lappen“ von ihrem Bauch mikrochirurgisch an die betroffene Stelle verpflanzt. „Ein Lappen, wie das klingt,“ scherzte Monika mit ihrer Tochter. Beide Frauen waren merklich erleichtert, dass der mehrere Stunden dauernde Eingriff vorüber war. Tags darauf erzählte mir Monika in unserem ersten biografischen Interview (Oktober 2005), das ich digital aufzeichnen durfte, dass sie mit Angelika gemeinsam beim Radiologen war. Monika: „Meine Tochter kam am Sonntag und wir setzten uns wie Freundinnen zusammen. Plötzlich sagt sie: ,Du Mama, ich muss Dir was sagen.‘ Sie spürt wieder Knoten in der Brust. Ich schau sie fassungslos an und frage sie, wie lang das
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schon her ist. Drei Monate. Bitte . . . es geht nur ums Aussprechen. Ich hab ihr keine Vorwürfe gemacht. ,Wir werden sofort einen Termin ausmachen und gehen gemeinsam hin. Ich lass mich dann auch gleich untersuchen‘. Meine Mutter war immer sehr dahinter, dass wir in der weiblichen Linie, ihre Töchter und Enkeltöchter, uns untersuchen lassen, weil sie eben auch Brustkrebs operiert worden ist. Ihre Mutter auch, aber sie ist leider Gottes daran gestorben, weil es damals diese medizinischen Errungenschaften halt noch nicht so gegeben hat“.
Rückblickend erzählte Monika über die Situation mit einer ihrer zwei Töchter, die in der Brust Knoten spürte und ihr erst Monate später davon etwas sagte. Sie assoziierte dieses Ereignis unmittelbar mit ihrer Familiengeschichte und erinnerte sich daran, dass auch ihre Mutter, die selbst an Brustkrebs erkrankt war, stets darauf achtete, die Töchter und Enkeltöchter zur Untersuchung zu schicken. Innerhalb der weiblichen Linie ihrer Familie gehörte die Krankheit und vorbeugend etwas dagegen zu tun, zum körperlichen Bewusstsein und Umgang der Frauen miteinander. Angelika: „Dann waren wir dort. Das war ein ziemlich komisches Gefühl. Damals war ich ja noch nicht einmal 18 und sich vor einem Mann freimachen, das war schon die größte Überwindung an sich.“ Christina: „Beim Radiologen? Nicht zuerst beim Gynäkologen oder bei der Gynäkologin?“ Angelika: „Nein, Radiologe. Gleich volle Pulle. Ja, das war halt das Schlimmste an der ganzen Geschichte damals.“
4.2 Geschichten über die Scham Kurz vor ihrem 18. Geburtstag wurden Angelika zum ersten Mal gutartige Knoten, sogenannte Fibroadenome, operativ dem Brustgewebe entnommen. In einem Interview im Frühsommer 2006 noch im Spital und nach ihrer zweiten Brustoperation fragte ich sie erstmals nach ihren Gefühlen und Eindrücken. Die Untersuchung beim Radiologen empfand sie als extrem unangenehm und peinlich. Christina: „Das war Dir so unangenehm oder peinlich?“
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Angelika: „Ja, extrem unangenehm. Ich hab zu ignorieren versucht, dass ich oben ohne vor dem sitze. Vor allem, weil es doch ein älterer Mann war. Ich hab ja nicht gewusst, was das jetzt für einen Sinn hat. Was der macht und sagt, hatte überhaupt keine Bedeutung für mich. Ich hab das nur hingenommen . . . und Fibroadenom und gut. Ja, das machen wir schon und irgendwie hab ich das dann von jemandem auf Deutsch übersetzt gebraucht. Ich glaub, das hat dann sogar mein Vater gemacht. . . . Ich hab halt jetzt für mich die Definition. Fibroadenom ist ein gutartiger Tumor. Ist ein Tumor, aber gutartig.“
Sie sprach über ihr Körperbewusstsein und wie dieses sich durch ihren ersten Freund veränderte. Ihre Selbstwahrnehmung und wie sie sich in ihrer Weiblichkeit darstellt, mit ihrer klinischen Krankengeschichte zu vergleichen, mit ihrem Werden und Sein als Patientin, eröffnet ein komplexes Spannungsfeld, das ich in der Folge versuche zu skizzieren. Ihre mögliche genetische Disposition – durch Blutsverwandtschaft, wenngleich Brustkrebs selten genetisch vererbt wird – und wie sich diese kontinuierlich mit ihren Erfahrungen als Frau und mit ihrer Geschichte verwebt, wie sich das Risiko in ihren Alltag und ihr Leben einschreibt, wird von ihr selbst und von ihrer Mutter eindrucksvoll und berührend wiedergegeben.
4.3 Vom Risikobewusstsein Durch die Erfahrungen, die sie in der Institution einer Klinik macht, wird die Identität der Zwanzigjährigen nicht nur verändert, sondern vielmehr verunsichert. Ihre Lebensplanung oder ihre Vorstellungen, wie sie leben möchte und sich ihre Zukunft wünscht, werden nachhaltig von den ÄrztInnen beeinflusst, die sie beraten und behandeln. Angelika: „Sobald [das Wort] Tumor gefallen ist, hab ich mir gedacht, ,hoppla, was ist denn das?‘ Dann hat auch bei meiner Mutter die Reaktion ziemlich eingesetzt. Weil sie eben . . . mit der Omageschichte, Krebs und so. Sie hat Tumor aufgeschnappt und war fertiger als ich. Ich muss zugeben, als der Radiologe damals gemeint hat, ,ja, das geben wir raus, Krankenhausaufenthalt‘, war ich gar nicht so entsetzt. Hab mir gedacht, ,na ja, Krankenhaus, schön. Da wird man von allen bemitleidet, herrlich‘. Ich war noch nie so richtig lange im Krankenhaus. Eigentlich noch gar nie.“
Angelika beginnt in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch medizinische Begriffe zu übernehmen. In ihren Aussagen spiegelt sich zudem Krebsangst wider und wie sich diese als integrativer Bestandteil in den Beziehungen zwi-
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schen den Generationen festsetzt. Das Wort Tumor löst bei ihrer Mutter Gefühle der Angst um ihr Kind aus. Diese Emotionen sind in Monikas Biografie angelegt, in ihrem Körper- und Erfahrungswissen, und darin, wie sich ihre Mama damals um sie sorgte. Die Körperhistorikerin Barbara Duden argumentiert, „Krebsangst ist keine Naturerscheinung. . . . Ich bin gezeichnet, denn ich weiß, dass meine Vorfahren ohne Krebsrisiko gelebt haben“ (2002: 167). Sie spricht von einer Welt des Risikos, in welche Frauen gegenwärtig versetzt werden. Eine Umgebung, in der frau sich als Punkt auf einer statistischen Kurve oder als Prozentsatz angstvoll in die Zukunft projiziert.
4.4 Meine Krebsangst „Die Anwendung von Statistik entrückt der eigenen Wirklichkeit, macht sie buchstäblich un-fassbar, un-sinnlich, un-sinnig. Sie ist mir aber körperlich umso unsinniger geworden, je besser ich verstanden habe, wozu sie im Alltag dient. Statistik dient der Entkörperung“ (Duden 2002: 170). Die Diskrepanz zwischen einem medizinisch wissenschaftlichen Wissen und den eigenen Erfahrungen habe ich kürzlich am eigenen Leib verspürt. Starke Bauch- und Rückenschmerzen sowie ein Fieberschub führten dazu, dass ein befreundeter Gastroenterologe (Internist), Primarius in einem Wiener Spital, mich stationär für mehrere Tage aufnahm, um etliche Tests und endoskopische Untersuchungen an mir durchzuführen. Herauszufinden, was mir tatsächlich fehlt, ging mit einer Magenspiegelung einher, die ein Zwölffingerdarm- und multiple Magengeschwüre ans Tageslicht beförderte. Gewebeproben wurden entnommen und der histologische Befund ergab zudem chronische Entzündungen der Speiseröhre, des Zwölffingerdarms und eine chronische Gastritis. Schädliche Bakterien in der Magenschleimhaut, die Geschwüre hervorrufen, wurden überraschenderweise erst in der Histologie in geringem Ausmaß festgestellt und nicht bereits, wie üblich, bei der Spiegelung. Mein Internist ordnete die Entnahme von Harn aus der Blase mittels Einwegkatheter sowie Ultraschalluntersuchungen an. Die Ergebnisse waren wenig aussagekräftig. Zahlreiche Infusionen von Schmerzmitteln blieben ohne wesentliche Wirkung. Ich wurde schließlich aus der Obhut des Krankenhauses entlassen. Während eines Telefonats bat mich mein Internist einen weiteren Bluttest im Allgemeinen Krankenhaus Wien (AKH) machen zu lassen. Er wolle überprüfen, ob eine Substanz in meinem Serum im Übermaß nachzuweisen sei. Ich erkundigte mich, wonach er konkret suche. Der Arzt erklärte mir, er wolle herausfinden, ob hormonell zu viel Magensäure in meinem Verdauungstrakt produziert werde, da dies eine andere Therapie nach sich ziehen würde.
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4.5 Patientin sein Mit dieser Antwort gab ich mich zufrieden. Da meine Hausärztin sowie ein befreundeter Neurologe, der mir im AKH Blut abnahm, unabhängig voneinander rätselten, was damit untersucht werde, wurde ich hellhörig und recherchierte im Internet. Was ich dabei fand, stimmte mich ängstlich. Eine seltene Tumorerkrankung. Ich fragte via Email beim Internisten nach und er bestätigte, dass dieses Syndrom eine Ursache für die Magengeschwüre sein könnte und er das auf jeden Fall ausschließen möchte. Er sagte mir im Vorfeld nichts, um mich nicht unnötig zu beunruhigen. Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe (Oktober 2009), erwarte ich noch die Resultate aus dem Labor. Mit gemischten Gefühlen und verunsichert. Gleichzeitig mit Zuversicht, weil ich weiß, dass ich in besten Händen bin. Die eigene Betroffenheit als Patientin, die mit den medizinischen Autoritäten umzugehen hat, an dieser Stelle einzuführen, mich und meine Gefühle – als Zeugin oder teilnehmende Beobachterin einer exemplarischen Situation zwischen einer Kranken und ihren ÄrztInnen – exemplarisch beim Schreiben durchklingen zu lassen, weckt kritische Fragen und „dunkle Angst“ (Duden 2002: 169). Mein Vertrauen in die eigene Körperlichkeit wurde in den vergangenen Tagen zutiefst erschüttert. Was bedeutet Selbstbestimmung in medizinischen Institutionen vor diesem Hintergrund? Kann ich als Patientin, ob beim Gastroenterologen, bei der Chirurgin, beim Neurologen oder gar bei der Onkologin, wenn ich mich zwangsläufig als Wahrscheinlichkeit in einer statistischen Klasse verorte, autonom entscheiden und handeln? Ich als Krebsrisiko?
4.6 Dunkle Angst Wie sich in den Gesprächen mit Monika und Angelika herausstellt, potenziert sich das Risikobewusstsein, mit dem Mutter und Tochter mittlerweile zu leben gelernt haben, geradezu unumgänglich im Kontakt mit ÄrztInnen. „Information zum Krebs hat ein eigentümliches Potential, Angst zu machen. Dunkle Angst, nicht vernünftige Furcht. Warum? Sicherlich auch deshalb, weil Geschwüre eine Form des visualisierbaren Greuels suggerieren, das »dich« packt“ (Duden 2002: 169). Und nicht mehr loslässt. Krebsangst. Seit der Entdeckung des ersten Knotens in ihrer Brust ist Angelika mit ihrem Krebsrisiko beschäftigt. Angelika: „Ich hab irgendwann beim Duschen einen Knoten in der Brust entdeckt. Die Brustkrebsgeschichte war ziemlich aktuell und man liest immer wieder Kno-
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ten in der Brust, ja? Dann tastet man sich halt einmal ab. Hab mir gedacht, hoppla, was ist das? Und ja, ich hab dann ein bisschen gewartet, bis ich’s der Mama gesagt hab. Einfach, weil ich mir selber nicht sicher war. Hab mir gedacht, das geht vielleicht weg. Ein bisschen aus Angst . . . so, mein Gott, wenn ich’s ignoriere, geht’s schon wieder weg. Dann hab ich’s [meiner Mutter] einmal gesagt. Sie hat das dazu veranlasst, ziemlich schnell zum Ultraschall zu gehen. Sie wusste damals ja schon, wie das mit ihrer Mutter war. Sie hat mir das aber nicht gesagt, weil es keinen Anlass dazu gab. Also hab ich bis dahin nicht gewusst, dass meine Oma das auch hatte. Sie hat dann durchblicken lassen, bei ihr ist da auch irgendwas und hin und her, hat sich aber nicht wirklich verdeutlicht“.
Die Frage drängt sich auf, welches Wissen in der Radiologie, in anderen medizinischen Disziplinen und nicht zuletzt in der genetischen Beratung zur Sprache kommt. Inwieweit hat dieses Wissen etwas mit dem physischen und seelischen Erleben einer (gesunden oder wahrscheinlich bereits oder bald kranken) Person zu tun? Wie lässt sich eine Struktur auf einem Ultraschallbild oder ein verdichteter Bereich auf einer Mammografieaufnahme auf das eigene subjektive Befinden beziehen? Mit der Zeit lernen die Patientinnen, sich selbst als diagnostizierbaren Körper wahrzunehmen. Mich eingeschlossen. Statistische Daten, Wahrscheinlichkeiten, Punkte auf Grafiken und Kurven, Verschattungen auf Röntgen- oder Computertomografiebildern sagen zwar nichts über das eigene Empfinden aus, stellen jedoch emotional eine subtile Bedrohung dar, die sich auf die eigene zukünftige Existenz und die Gefahr richtet, krebskrank zu werden. Die abstrakten und technisch hergestellten Berechnungen und Daten legen Zeugnis über Risiken ab, die in uns schwelen. Sich als Mikroverkalkung auf einer Mammografieaufnahme zu sehen oder als Laborwert einzustufen, zersetzt die Wahrnehmung von sich selbst und führt zunehmend zu einer Auflösung des eigenen Körperbildes.
4.7 (M)Ein diagnostizierbarer Körper Krankheit wird zu etwas Zugeschriebenem und zu einer Beurteilung durch wissenschaftliche ExpertInnen. „Am 5. November 1766 erließ die Kaiserin Maria Theresia ein Edikt, das vom Hofmedicus verlangte, Delinquenten die körperliche Tauglichkeit für die Folter zu attestieren, um gesunde, d. h. ,korrekte‘ Aussagen zu erhalten; es war eines der ersten Gesetze, die die Pflicht des Arztes begründeten, Gutachten abzugeben“ (Illich [1975] 2007: 55–56). Im ärztlichen Gespräch und Handeln schwingt jene Urteilskraft mit, von welcher der Medizinhistoriker Ivan Illich ausgeht. Sie stellt einen integrati-
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ven Bestandteil der (westlichen) gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Erkenntniskultur dar. „Ist eine Gesellschaft einmal so organisiert, dass die Medizin Leute zu Patienten erklären kann, weil sie ungeboren oder Neugeborene sind, weil sie sich in der Menopause oder irgendeinem anderen ,gefährlichen Alter‘ befinden, dann verliert die Bevölkerung unweigerlich einen Teil ihrer Autonomie an ihre Heiler“ (ebd.: 56). Erst die Einbeziehung historischer Quellen ermöglicht mir, besser zu verstehen, was in der klinischen Praxis vor sich geht und wie sich diese Gegebenheiten zwischenmenschlich auswirken. Dieser Verlust von Autonomie wird in der Kommunikation zwischen PatientInnen und ÄrztInnen spürbar. Gerade Angelika verdeutlicht in ihren Argumenten, dass sie permanent darum ringt, selbst über sich und ihren Körper – ihr Frausein und ihre Sexualität – zu bestimmen. Der medizinische Blick (Foucault 1988), den sie auf sich gerichtet spürt und der buchstäblich über ihr Dasein urteilt, verunsichert sie und drängt sie zu Entscheidungen, durch die sie sich selbst unentwegt als Frau, Partnerin, Liebhaberin und zukünftige Mutter in Frage stellt. Darauf haben ÄrztInnen keine Antworten.
4.8 Stille Welt Der Arzt und Rechtsprofessor Jay Katz bezeichnet die Beziehungen zwischen Klinikpersonal und Kranken als „Silent World“ (2002). Ein ausführliches Kapitel seiner Studie mit gleichem Titel widmet er den Unsicherheiten auf medizinischer Seite. Exemplarisch führt er die Auseinandersetzung mit einem Chirurgen an, der sich (theoretisch) dazu bekennt, sich bezüglich Brustkrebstherapie auf unsicherem Terrain zu bewegen, allerdings im Umgang mit seinen Patientinnen Therapievorschläge und Entscheidungen mit Sicherheit vorbringt und seine Unsicherheit – in diesem medizinischen Fachgebiet gibt es keinen sicheren Behandlungsweg – gegenüber den krebskranken Frauen ausblendet. „In fact, my surgeon-friend and I were able to talk comfortably and intelligibly about certainty and uncertainty. He only disregarded uncertainty when he was speaking about or to the patient. The actual or intrapsychic presence of the patient might have made him shift from one mode of thought to the other. In the presence of his patient his awareness of uncertainty became compromised, which precluded contemplation of the idea of acknowledging uncertainty to her. Thus the problem posed by uncertainty of knowledge for mutual decision making is how to keep the existence of uncertainty clearly in mind and not replace it by certainty whenever one moves from theoretical to practical consid-
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erations. Put another way, the problem is not uncertainty of medical knowledge but the capacity to remain aware of, and the willingness to acknowledge, uncertainty.“ (Katz 2002: 170 ff.)
Diese Darstellung deckt sich durchaus mit Beobachtungen, die ich während meiner Feldforschungen an der MUW in den vergangenen Jahren gemacht habe, als ich Brustkrebspatientinnen wie Monika zu ihren Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus begleitete. Eine Onkologin sagte mir während eines Workshops der interdisziplinären TumorBoard-Gruppe, in der regelmäßig die Fallgeschichten von Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind, diskutiert werden, um gemeinsam Empfehlungen für die weitere Behandlung zu entwickeln:4 „Es gibt keine onkologische Sicherheit.“ ÄrztInnen verzichten in den Gesprächen mit PatientInnen, die an klinischen Studien teilnehmen und Medikamente testen, die von Pharmakonzernen finanziert werden, vielfach darauf, Unsicherheiten zum Ausdruck zu bringen.5 Wenngleich in der Praxis und in Rücksprache mit dem Klinikpersonal und mit PatientInnen, die an klinischen Studien teilnehmen, offensichtlich wird, dass nicht mit Sicherheit beurteilt werden kann, ob und wie das jeweilige Präparat wirkt oder welche Therapie eine Veränderung des gesundheitlichen Zustands mit sich bringt. Personen reagieren unterschiedlich auf die jeweilige Behandlung.
5 Empfindung und Pathos im gesellschaftlichen Miteinander Einander zu verstehen, basiert keineswegs ausschließlich auf einem verbalen Austausch zwischen Menschen, sondern auch auf nonverbalen Phänomenen. Eine wesentliche Grundvoraussetzung für ein gegenseitiges zwischenmenschliches Verständnis ist die eigene gelebte Erfahrung. „The man in the natural attitude, then, understands the world by interpreting his own lived experiences of it, whether these experiences be of inanimate things, of animals, or of his fellow human beings“ (Schütz [1932] 1997: 108). In den ethnografischen Studien mit Brustkrebspatientinnen, die ich durchführte, wurde deutlich, dass Körperlichkeit im Miteinander entsteht – in der Familie, im Beruf, in der Partnerschaft und in der sozialen Umgebung generell. Körper sind nicht isoliert von einander zu betrachten, sondern in Beziehung zu anderen. Das eigene physische und emotionale Befinden wird kontinuierlich im gesellschaftlichen Umfeld ausagiert und neu verhandelt.
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5.1 Im Ausnahmezustand PatientInnen befinden sich in der Klinik in einem Ausnahmezustand, aus dem vertrauten Alltag herausgerissen, in der „Medizinermaschinerie“ – Monikas Bezeichnung der Szenarien in den unterschiedlichen Bereichen im Krankenhaus. Sie überlassen zum Gutteil ihre Autonomie Onkologen, Chirurgen, Radiologinnen, Strahlenmedizinerinnen und begeben sich vorübergehend in die Hände des medizinischen Personals. Monika formulierte mir gegenüber wiederholt, wie sie die Kommunikation mit ihren ÄrztInnen und mit dem Pflegepersonal als Abhängigkeitsverhältnis erlebte und wahrnahm. Sie brachte ihre Hilflosigkeit zum Ausdruck, die im Kontakt mit der Medizin mitschwingt. Monika: „Die Kommunikation, was ich mir wirklich wünschen würde, wäre, dass mit der Diagnose Brustkrebs automatisch ein Szenario in Gang gesetzt wird, in dem Onkologen, Chirurgen, später vielleicht Radiologen, sich zusammensetzen und das, was für einen persönlich wichtig und richtig erscheint . . . Man wünscht sich so etwas wie einen runden Tisch, an dem sich alle zusammenfinden, der Fall Brustkrebs, multizentrisches Mammakarzinom von der Frau Sowieso, besprochen wird und eine Diskussion darüber stattfindet, was für sie am besten ist. Die Patientin wird mit einer Art Befund oder Schreiben darüber aufgeklärt, ohne Medizinerlatein, wenn’s geht, und bekommt das oder das als Therapie empfohlen. Zuerst eben die Operation, dann, je nachdem, was bei den Befunden herauskommt, ein weiterer runder Tisch. . . . Muss nicht im eigenen Krankenhaus bleiben. Es kann durchaus eine Kommunikation mit anderen Krankenhäusern geführt werden. Das wäre schön. Vor allem, dass man sich nicht immer ängstigen muss, sobald man sich eine andere Meinung holt. Da hat man das Gefühl, man geht fremd. Man holt sich die Sicherheit und ein inneres Gleichgewicht. Man ist so was von unschlüssig, was man tun soll und versucht sich zu helfen, indem man einfach zu Ärzten geht und sich ihre Meinungen anhört. Wenn ich diese [Meinungen] wieder mitnehmen und zur Diskussion stellen würde, würden sich die Ärzte irgendwie beleidigt fühlen, weil man ihnen nicht glaubt, was sie gemacht oder gesagt haben. Das ist traurig, weil man sich als Patientin sowieso in dieser Medizinermaschinerie befindet, in der man sich ja überhaupt nicht auskennt. Ich bin kein Arzt und möglicherweise hilft mir das auch dabei, die Dinge jetzt nicht allzu schlimm zu sehen, weil ich nicht verstehe, was die da schreiben. Es ist so ein tiefes Loch, in das man da im Moment fällt. Man weiß nicht, was man tun soll.“6
Die knapp über 40jährige Frau schilderte in einem Videointerview im Jänner 2006, wie sie sich während der medizinischen Behandlungen fühlte,
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und machte Verbesserungsvorschläge. Zu der Zeit hatte sie gerade ihre Chemotherapie. Mit einer Perücke saß sie vor mir und gab mir Anweisungen, wie ich sie zeigen durfte. In klinikinternen Workshops diskutierten ihre ÄrztInnen über die Videoaufnahmen. Ihr Brustchirurg, der eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe leitet, in der sich KlinikerInnen unterschiedlicher Bereiche mit Brustkrebspatientinnen beschäftigen, griff Monikas Aussagen in seinem Team auf und zitierte die Frau. Die Vorschläge der Patientin wurden wahrgenommen und beeinflussten die Fächer übergreifende Zusammenarbeit. Ursprünglich hatte ich – aus ethischen Gründen – nicht vor, Patientinnen mit Hilfe einer Videokamera zu interviewen. Ich wollte vermeiden, sie ins Bild zu setzen und in eine passive Position zu bringen. In der multimedialen Vermittlung ethnografischer Forschungsmaterialien in der Form von Fortbildungsveranstaltungen an der Universitätsklinik zeigte sich jedoch, dass indirekt durch audiovisuelle Medien ein Austausch zwischen MedizinerInnen und Patientinnen entstand, in dem die Kranken, ihre Erfahrungen und ihr Wissen respektiert wurden.
5.2 „Staging“ und Evaluierung Medizinhistorisch hat die Inszenierung von Kranken eine lange Tradition. Dennoch sind ästhetische Faktoren oder Momente der (Selbst-)Darstellung und des Ausdrucks in meiner weiteren Argumentation wichtig. Zwei historische Strömungen in der Medizin sind diesbezüglich unbedingt zu erwähnen: Die Bühne der Hysterie im 19. Jahrhundert und die Zerlegung des menschlichen Körpers im Anatomietheater der Renaissance. Darstellungen von Hysterikerinnen sind eng mit dem Neurologen Jean-Martin Charcot verbunden. „Charcot was a dramatist and stage director par excellence. His carefully directed clinical demonstrations, . . . were attended not only by doctors but also by artists and intellectuals from throughout Europe“ (Wenegrat 2001: 3). Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman fragt in seiner in vielfacher Hinsicht aufschlussreichen bildwissenschaftlichen Studie Erfindung der Hysterie (1982): „Wie ist ein Körper für einen anderen zum experimentellen Objekt geworden, zum experimentierbaren, weil fürs Bildermachen gemachten Objekt? Und warum wird er an diesem Punkt eingewilligt haben“ (1997: 198–199)? Der Status des diagnostizierbaren Körpers, der medizinisch beurteilt werden kann, gilt entsprechend als inszeniert. Im klinischen Wortgebrauch werden PatientInnen „gestaged“ oder durch diagnostische Techniken und Tests evaluiert. Metaphern des Theaters werden verwendet. Eine medizinwissenschaftlich definierte Körperlichkeit – der er-
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laubte Blick in die leiblichen Tiefen – wurde im anatomischen Theater der Moderne geprägt. In The Body Emblazoned (1996) analysiert der Kulturhistoriker Jonathan Sawday die Entwicklung der modernen Chirurgie. „Modern surgeons or physicians are careful to shield, wherever possible, any possible sight of our own interiors when we become ,patients‘. Indeed, the very word ,patient‘ hints at the taboo connected with the body interior“ (1995: 12). Diagnosen und Evaluierungen – im Sinne einer technischen Inszenierung der Organe und des Gewebes – deuten auf Bereiche unter der Haut. Das Körperinnere blieb dem medizinischen Blick lange Zeit unzugänglich. Mit technischer Hilfe bemächtigte sich die Medizin den früheren Tabuzonen des menschlichen Daseins. In den Worten Angelikas schwingen andere Assoziationen mit, wenn sie über das Innere ihres Körpers spricht.
5.3 Ein Gespür für das Ungewisse Die ertasteten Knoten in ihren Brüsten sind für sie alarmierende Zeichen. Das Aufspüren von Strukturen in ihrem Brustgewebe, die früher nicht da waren, löst eine Kette von Ereignissen aus, die bis zur genetischen Beratung reicht und eng mit der dunklen Angst vor dem Brustkrebs zusammenhängt. Angelika: „Beim ersten Mal war es ein Knoten. Beim zweiten Mal waren es drei Knoten und jetzt sind es noch mehr Knoten. Ich weiß jetzt gar nicht mehr, wie viele es sind. . . . Ich spür einen relativ, relativ gut, sag ich jetzt einmal nicht, aber es zwickt halt manchmal. . . . Die anderen eigentlich nicht. Der sagt mir halt immer wieder, hallo, ich bin noch da, vergiss mich nicht und ich hab viele Freunde mitgebracht. . . . Im Juni war die Operation und im September war ich bei dieser Genberatung. Die hab ich dann abgelehnt. Ich wollte die Untersuchung nicht machen.“
Zwischen dem letzten Gespräch am Krankenbett und dem Videointerview im Frühsommer 2007 war beinahe ein Jahr vergangen. Angelika und ich führten das Gespräch bei mir zu Hause. In der Zwischenzeit hat sich zwischen ihr, ihrer Mutter und mir ein freundschaftlich vertrautes Verhältnis entwickelt. Auf meine Frage, warum sie sich gegen die genetische Beratung entschied, antwortete sie mir: „Es ist komisch. Als ich hingegangen bin, wollte ich sie [die Beratung] eigentlich sicher machen. Da bin ich nur hingegangen, um dort Blut abzunehmen und das in die Untersuchung zu schicken. Die Mama hat mir komplett davon
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abgeraten. Nein, das will sie nicht. Ich will nicht, dass du es willst. Und ich will’s aber, also ist mir das wurscht [egal; Anm. Autorin], was du sagst. Und dort, während dieser Untersuchung, ist rausgekommen, dass die Chance besteht, es [das Gen] nicht zu haben. Ich war fix davon überzeugt, meine Uroma, meine Oma, meine Mama, also ich auch. Und dort hat es dann geheißen. Ja, es besteht eine fünfzig zu fünfzig Chance, dass die guten Gene von meinem Vater dieses Gen ausgeschaltet haben. Sie können das jetzt feststellen. Dauert zwei Jahre und ich komm dann in das spezielle Brustuntersuchungsprogramm – Vorsorgeuntersuchungen und Blah Blah. Während des Gesprächs bin ich draufgekommen, ich will das eigentlich gar nicht. Ich will nicht so ein lebendiges Untersuchungsobjekt sein, das alle zwei Wochen zu einer Untersuchung rennt und das in den Mittelpunkt des Lebens stellt.“
In den Gesprächen mit Angelika wird deutlich, dass ästhetische Aspekte und wie sie sich und ihren Körper öffentlich präsentiert, durchaus wesentlich für sie sind und ihre Entscheidungen davon mitbestimmt werden.
5.4 Rollen im Alltag Von der Selbstdarstellung im Alltag handelt auch die Untersuchung von Erving Goffman Wir alle spielen Theater (1959, 2001). Meine Forschungsarbeit7 wird von diesem Ansatz inspiriert. Die Rollen, in die Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen schlüpfen, werden herausgearbeitet. Angelika erzählte über sich selbst in ihrem Beruf, mit ihrem ersten Freund, mit ihrer Mutter, in ihrer Familie und als Patientin. Als sie als Flugbegleiterin zu arbeiten begann, wandelte sich, nach eigenen Aussagen,8 ihr Selbstbewusstsein. Durch die regelmäßige Verwendung von Makeup bei der Arbeit wurde ihr bewusst, wie sie – mit oder ohne Schminke – auf andere wirkt. Angelika: „Als Flugbegleiterin wird irrsinnig viel Augenmerk auf das Aussehen gelegt. Bevor ich Flugbegleiterin war, hab ich mich eigentlich nie richtig geschminkt. . . . Jetzt kann ich schon abwägen, okay, ich bin auch schön, wenn ich nicht geschminkt bin.“
Seit sie einen Freund hat und in einer festen Beziehung mit ihm lebt, änderte sich das Körperbewusstsein für die junge Frau. Andere Körperbereiche wurden wesentlicher für sie, besonders jene, die sie ihrem Partner zeigt und die vorher nie jemand sah, außer sie selbst.
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Angelika: „Irgendwie sind die Bereiche zwischen Hals und Knie für mich wichtiger geworden. Das Augenmerk ist auf diese Bereiche gefallen. Man nimmt sie – eben die Brust und den Bauch und vielleicht auch die Oberschenkel – ganz anders wahr.“
Ihrem Partner enthielt sie den Knoten, die erste Brustoperation und die Narbe, die sie davon hatte, keineswegs vor. Die Betrachtung der Videoaufnahmen mit Monika und Angelika und das Lesen der Interviewprotokolle lenkten meine Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung durch Berührung.
5.5 Vom Be-Greifen Der taktile Spürsinn wird angesprochen. Empfindungen werden geweckt, die weit über das visuelle Erscheinungsbild hinausgehen. Angelika: „Als ich ihm gesagt hab, dass ich da noch einen Knoten hab, wollte er natürlich wissen, wie ich mich damit fühle und wie es mir geht. Ich hab ihn dann auch spüren lassen, wo der jetzt ist und so. Dass er einen Bezug dazu bekommt. Er hat das eigentlich super aufgenommen. Auch wie die Mama im Krankenhaus war. Er war total lieb und hat mich immer gefragt, wie ich mich fühle oder ob ich über irgendwas reden will. Er war einfach da.“ Christina: „Wie hast Du Dich denn gefühlt?“ Angelika: „Nicht anders. Ich war vielleicht zuerst ein bisserl auf die Mama angefressen. Sie hat schon vor einem Jahr gesagt, „da ist irgendwas“ und sie spürt was, aber sie ist nicht hingegangen.“ Christina: „Ihr seid gemeinsam gegangen? Du hast ihr erzählt, ich weiß das nur von den Gesprächen mit ihr, dass Du wieder einen Knoten spürst.“ Angelika: „Genau. Darauf sie, „ja, geh sofort zum Radiologen.“ Und ich hab gesagt, „ich geh nur, wenn Du auch gehst.“ Dann ist sie mitgegangen. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem wir dort waren. Ich glaub, es war Anfang September irgendwann. Ich war zuerst dran. Dadurch, dass ich das schon kannte, hab ich mir nichts dabei gedacht. . . . Wird schon nichts sein und es war ja nichts.“
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Mutter und Tochter überredeten einander und suchten gemeinsam einen Radiologen auf. Mit der Krebsangst ist verbunden, dass die Frauen innerhalb der Familie aufeinander achten und aufmerksam dafür sind, rechtzeitig medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Selbst wenn sich die beiden Frauen manchmal nicht über den richtigen Zeitpunkt einig sind, wann welcher Schritt zu tun ist, und daraus teilweise Konflikte entstehen, kontrollieren sie einander in dieser Hinsicht gegenseitig. Christina: „Wie lange hast Du gewartet, bis Du mit ihr darüber geredet hast?“ Angelika: „Sehr lange. Ich glaub, ich hab schon im Mai den Knoten gespürt.“ Christina: „Warum hast Du so lange gewartet?“ Angelika: „Ich hab mir gedacht, ich will nicht schon wieder ins Krankenhaus. Ich hab das gekannt und es war okay, aber irgendwie war ich nicht wirklich scharf darauf, noch einmal zu gehen. Vor allem auch wegen der AUA. Im Mai bin ich gerade ein paar Monate geflogen. Ich wollt nicht schon wieder aussetzen. Hat mir Spaß gemacht. Ich wollt das nicht so schnell wieder an den Nagel hängen. Deswegen hab ich’s ein bisschen ignoriert. Nur irgendwie hab ich angefangen, es zu spüren. Es hat manchmal gezwickt. Wahrscheinlich durch den Druck oder durch die Arbeit an sich und deshalb hab ich gedacht, ich kann das meiner Mutter nicht verschweigen. Wenigstens meiner Mutter muss ich es einmal sagen. Vielleicht hat mir auch ein bisschen dieser Druck gefehlt. Von mir selbst aus wäre ich sicher nie zum Radiologen gegangen.“
Autonomie entfaltet sich im individuell Leiblichen und darin, wie Menschen sich und andere in der Welt erfahren.
6 Aufzeichnungen und Darstellungen von Körperlichkeit In der Phänomenologie wird ein Unterschied zwischen Leib und Körper gemacht, der in meine Gegenüberstellung von persönlichen Erzählungen von Kranken und von Arztbriefen, Diagnosen und medizinischen Testergebnissen einfließt (Ots 2003). „What is the difference then in speaking of Leib rather than of ,body‘? The (untranslated) term Leib opens up a hidden dimension
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of the body, that of the body as individual. It invites us to keep an awareness of life in which perceptions, feelings, emotions and the evolving thoughts and considerations are all intimately grounded; it is through my Leib that I am inserted into this world; I am Leib-in-the-world“ (ebd.: 117). Gefühle werden leiblich erlebt. Leiblichkeit lässt sich mit Hilfe eines narrativen Ansatzes, mit der Verwendung von audiovisuellen Medien oder durch künstlerische Methoden in ihrer subjektiven und sensorischen Bandbreite darstellen. Die Politikwissenschafterin Zillah Eisenstein schreibt in Manmade Breast Cancers (2001): „Given how rare hereditary breast cancer is, it is amazing how many people believe the genetic narrative. Much of the power of this narrative derives from the individualistic biostatic viewing of the body“ (118). Eisenstein erkrankte selbst an Brustkrebs. Sie erzählt ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie. Statistisch steigen die Chancen, Tumore in der Brust zu entwickeln, wenn die Mutter auch an der Erkrankung litt, auf bis zu 80 Prozent. Sind auch eigene Schwestern von einer Krebserkrankung betroffen, steigt das Risiko sogar auf bis zu 130 Prozent an.9 „But, once again, this is not just simply about genes“ (ebd.). Vielmehr seien Umwelteinflüsse oder psychischer Stress dafür verantwortlich, dass Krebserkrankungen in der Brust entstehen. Für Patientinnen, die häufig nicht mit solchen Daten und Fakten vertraut sind, spielen die Erfahrungen anderer Frauen, die in ähnlichen Situationen sind, oder die mediale Aufbereitung dieser Themen eine zentrale Rolle. Sie suchen förmlich nach Figuren, mit denen sie sich identifizieren können. Das erleichtert eigene Entscheidungen.
6.1 Genetische Beratung Angelika entschied sich gegen die Genanalyse. Ihr Umgang mit sich selbst unterscheidet sich maßgeblich von der Einstellung einer anderen Tochter einer Brustkrebspatientin, mit der ich gearbeitet habe. Angelika: „Verdrängung, wahrscheinlich das Dämlichste, was man machen kann, aber momentan geht es mir so besser. . . . Ich will das nicht, die ganze Zeit . . . immer nur an meine Brust zu denken, an meine Knoten und an alles. Ich hab mich dafür entschieden, zur Untersuchung zu gehen. . . . Halbjährlich, vierteljährlich, was auch immer und das immer wieder zu kontrollieren – und vielleicht Knoten entfernen zu lassen“.10
Beim Videointerview in meiner Wohnung erzählte ich Angelika von Nora, die wenige Jahre älter als sie ist und unbedingt eine Genuntersuchung ma-
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chen wollte. Sollte sich bei diesem Test herausstellen, dass sie in die Risikogruppe fällt, selbst an Brustkrebs zu erkranken, würde sie sich vorbeugend beide Brüste amputieren und in der plastischen Chirurgie rekonstruieren lassen. Da sie, durch die Erkrankung ihrer Mutter, die sich für eine chirurgische Rekonstruktion nach Brustentfernung entschieden hatte, hervorragende wiederherstellende Chirurgen und Chirurginnen kennenlernte, sei das gar kein Problem. Dann hätte sie „eine Ruhe“. Angelika: „Ich hab einen Zeitungsartikel gelesen, vielleicht war das eh die junge Frau, da ist gestanden, „eine Zwanzigjährige lässt sich beide Brüste amputieren, wegen des Verdachts auf Brustkrebs.“ Nach diesem Zeitungsartikel . . . hab ich mir schon überlegt, ja, eigentlich könnte ich das auch. So lange ich es noch nicht hab und es sich nicht im Körper verbreitet. Das wäre eigentlich einfach, oder? Dann hätte ich eine Ruh. . . . Aber ich denk mir dann, so kämpferisch ich dem Brustkrebs auch entgegensehe, es sind immerhin noch meine Brüste. Es sind meine Drüsen da drinnen und alles. Wenn ich jetzt zwei Falsche hätte, wäre das Gefühl auch gar nicht mehr da. . . . Ich will Kinder haben und sie stillen, so wie andere Frauen. Bevor mir nicht jemand sagt, ich muss das machen, sonst sterbe ich, würde ich das nicht machen. Es gab ja diese eine Folge. Kennst Du Grey’s Anatomy?“ Christina: „Ja.“ Angelika: „In dieser einen Folge ist die Freundin von der Chirurgin hergekommen und meinte, bei ihr wurde dieses Gen festgestellt. Ihre Mutter ist an Brustkrebs gestorben und sie will sich jetzt die Gebärmutter und beide Brüste entfernen lassen. Die ganze Folge war sehr radikal und ich bin heulend daneben gesessen und hab mir gedacht, oh Gott, ja. Sie hat das durchgezogen und ja, ich hab mir gedacht, na sollte ich das auch so machen? Ich weiß nicht. Die war Mitte 30 oder so und ich bin Anfang 20. Also ich glaub, dass ich das doch nicht machen werde.“ Christina: „Wie alt bist Du jetzt genau?“ Angelika: „Ich werde im November zweiundzwanzig. Ich will meine Brüste noch ein bisschen behalten. Auch wenn’s blöd ist, aber das Risiko geh ich ein. Da nehme ich auch die Chemotherapie in Kauf oder was sonst noch kommt. . . . Von vornherein zu sagen, ja, weg damit, weg, weg, weg, das ist nicht so meines.“
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Wenige Monate nach diesem Gespräch begleitete ich Monika und Angelika zu ihrem Operateur in der plastischen Chirurgie. Monika hatte sich entschlossen, eine weitere Korrekturoperation durchführen zu lassen und Angelika wollte zum dritten Mal chirurgisch Knoten entfernen. Die Operationen wurden besprochen und Termine wurden vereinbart. Mutter und Tochter sollten am gleichen Tag operiert werden.
6.2 Vorbeugende Brustentfernung Angelika wollte, dass wir uns umdrehten, als sie sich oben freimachen musste, um vom Chirurgen untersucht zu werden. Nach wenigen Minuten überlegte sie es sich anders und wir durften uns ihr und dem Arzt doch zuwenden. Ich empfand ihre emotionale Reaktion, und dass sie uns etwas später in die Interaktion mit dem Chirurgen einband, als gewisses Schutzbedürfnis, das sie auf ihre Art zum Ausdruck brachte. Die junge Frau saß auf der Behandlungsliege. Der plastische Chirurg stand vor ihr, redete in ruhigem Ton und tastete ihre Brüste ab. Es handelte sich bereits um den dritten Eingriff, um Knoten zu entfernen. Der erfahrene Operateur und Abteilungsleiter wurde hellhörig. Er erfragte die Familienanamnese. In seinem Gesicht war Besorgnis abzulesen und er schlug beiden Frauen vor, eine vorbeugende Entfernung des Drüsengewebes in den Brüsten und einen sofortigen Wiederaufbau mit Implantaten in Erwägung zu ziehen. Angelika hatte viele Fragen und er erklärte ihr alles in Ruhe. Sie wirkte in der Situation wenig überrascht, ließ mich danach jedoch – Monika musste kurz weg und wir trafen uns in meinem Büro – spüren, dass sie ihre Mutter nicht beunruhigen wollte. Mit Tränen in den Augen fiel sie in meine Arme. Sie fühlte sich hilflos und wusste nicht, wie sie sich entscheiden und was sie tun sollte. Sie hatte drei Möglichkeiten vorgeschlagen bekommen: Zu warten und die Knoten herauszunehmen; falls sich während der Intervention herausstellt, dass sich bösartiges Tumorgewebe im Areal der Geschwülste befindet, eine totale Brustentfernung und einen Wiederaufbau zu machen; oder von vornherein die radikale Operation und eine Sofortrekonstruktion. Ihre Entscheidung fiel einige Tage später auf die erste Variante und diese wurde wenige Wochen danach wie geplant durchgeführt und verlief ohne Komplikationen. Barbara Duden spricht „vom Krebs als Zeit-Zeichen“ (2002: 180). Die Onkologie beeinträchtigt die Selbstwahrnehmung der Frau und führt zu einem „Verlust der weiblichen Eigenzeit“ (ebd.). In der Auseinandersetzung mit Angelika wurde mir diese Veränderung im Empfinden von Zeitlichkeit und im eigenen weiblichen Rhythmus bewusst. Die etwas über Zwanzigjäh-
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rige lebt im Bewusstsein, selbst an Krebs zu erkranken und jeder neuerlich entstehende Knoten nährt ihr Selbstverständnis und ihre Gefühle diesbezüglich. „Die Mobilisierung von Frauen im Rahmen der Krebsvorsorge bindet das Erleben des eigenen Körpers an eine Art des Noch-Nicht, die in krassem Gegensatz steht zur weiblichen Temporalität, wie diese mir aus der Geschichte bekannt ist“ (ebd.). Ich begegne den Erzählungen und Gegebenheiten von Angelika und Monika mit der Entwicklung von subjektiven und selbstbezüglichen Forschungsansätzen. Diese und ähnliche Geschichten berühren mich in meinem Frausein und darin, wie ich meinen Körper empfinde und wahrnehme. Seit ich mit Brustkrebspatientinnen, ihren Familien, Partnern, FreundInnen und ÄrztInnen arbeite und mit den biomedizinischen Diskursen und genetischen Narrativen kontinuierlich im eigenen Alltag konfrontiert bin, sehe ich mich selbst mit anderen Augen. Ich werde empfindlich – für ein weibliches Tempo, auf das mich die Frauen im Laufe unserer Zusammenarbeit aufmerksam machten.
7 Epilog Ähnlich den beschriebenen und interpretierten Erfahrungen, lernte ich mich selbst als diagnostizierbar wahrzunehmen und entwickelte ein Risikobewusstsein. Die Erzählungen der Frauen – das Aufeinanderprallen ihrer subjektiv empfundenen Lebenswelt mit dem klinischen Blick, der sie beurteilt – zeugen von einer Leiblichkeit, die mit einer sich wandelnden Bedeutung des diagnostizierbaren Körpers zunehmend verschwindet und in der Klinik buchstäblich anästhetisiert wird. Oder im Wortlaut Ivan Illichs: „Wenn mich jemand danach fragte, was heutzutage die wichtigste religiös zelebrierte Ideologie sei, würde ich sagen: das Risikobewusstsein – taste deine Brust ab oder die Stelle zwischen deinen Beinen, damit du früh genug zum Arzt gehen und herausfinden kannst, ob du ein Krebsrisiko bist“ (2006: 235). Ich habe in meinem Beitrag gezeigt, wie sich die Krebsangst im Alltag, in die Gefühle und in die Selbstdarstellung der Frauen einschreibt und wie ich sie, wenngleich mit einer anderen Erkrankung befasst, gerade selbst erlebe. Durch Medien vermittelt, „entstand der Eindruck, Brustkrebs sei grundsätzlich eine Erbkrankheit. . . . Über 95 Prozent der an Brustkrebs erkrankten Frauen haben eine nicht vererbbare Form der Erkrankung“ (Bauer 2007: 125). In Anlehnung an Barbara Duden und Ivan Illich, aber stärker noch an die Erfahrungsberichte von Angelika und Monika, habe ich von einer Entkörperung gesprochen, die von diesem Risiko ausgeht und sich im Kontakt
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mit dem Klinikpersonal noch steigert. Befunde meiner Fallstudien – Ausschnitte der Videointerviews mit Mutter und Tochter – zeigte ich im Februar 2008 im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung ÄrztInnen, die in unterschiedlichen Disziplinen an der MUW beschäftigt sind und Brustkrebspatientinnen behandeln. Wenngleich ihre Reaktionen durchaus kontrovers ausfielen, entstand unmittelbar eine Diskussion. Die autobiografischen Geschichten lösten Gefühle aus. Überlegungen wurden gemeinsam angestellt, „was in der Kommunikation mit der jungen Frau massiv falsch gelaufen ist. Was sie tut, ist suizidal“, argumentierte ein Chirurg. Eine Study Nurse zeigte hingegen Verständnis für Angelikas Haltung und dachte laut darüber nach, was sie tun würde, wenn ihr ein Arzt vorschlägt, ihr vorbeugend beide Brüste zu amputieren. Eine Onkologin hinterfragte, was onkologische Sicherheit bedeutet, und sprach offen darüber, dass eine solche aus ihrer Sicht nicht denkbar sei. Eine Pathologin reflektierte ihre eigene Befundsprache und darüber, wie sie histologische Ergebnisse formuliert, damit ihre KollegInnen sie eindeutig verstehen: „Ich kann das hinschreiben [damit Kollegen und Kolleginnen aus anderen Fächern eindeutig beurteilen können, was zu tun ist; Anm. C. L.].“ Empathografien, eine Methode, mit deren Hilfe die Körpersprache ebenso zeigbar wird, wie etwa das verbal Ausgesprochene, bringen subjektive Haltungen der in die medizinischen Behandlungsprozesse Involvierten zur Darstellung. Medizinstudierende reagierten äußerst positiv auf die Videos mit Patientinnen. Monika nahm an einer der von mir geleiteten Lehrveranstaltungseinheiten teil und beantwortete Fragen, die StudentInnen an sie richteten. Die Arbeit mit audiovisuellen Medien eröffnete an der Klinik eine Auseinandersetzung, in der die Perspektiven von Kranken im Mittelpunkt stehen. Ein selbstreflexiver Ansatz wurde angewendet. Die Autonomie über den menschlichen Körper und ihre vielfältigen Artikulationsweisen werden zur gestaltbaren Materie.
Ich bedanke mich bei Angelika und Monika für ihre Mitarbeit und bei Professor Manfred Frey, Leiter der Klinikabteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, Medizinische Universität Wien (MUW), für die konstruktive Kooperation. Das Projekt wurde vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) sowie vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert.
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Die Forschungsarbeiten, die ich im Krankenhaus durchführte, wurden von der Ethikkommission an der MUW begutachtet und haben das Votum der ExpertInnen dieses Gremiums. Die Nachnamen der Patientinnen bleiben anonym, um ihre Privatsphäre zu schützen. Ausschnitte der Videoaufnahmen stehen im Internet einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung: http://www.corporealities.org. Bislang habe ich ausschließlich in der Zusammenarbeit mit Monika und Angelika eine Videokamera verwendet. Ansonsten wurden vorrangig ÄrztInnen mit Hilfe der Kamera befragt. Ich nehme als Soziologin an den Visiten teil und werde regelmäßig eingeladen, Ergebnisse meiner Studie zu präsentieren. Der Workshop fand im Februar 2008 statt. Meine Teilnahme als Beobachterin an den Beratungsgesprächen zwischen der Ärztin und ihren Patientinnen verändert die Gesprächssituation bis zu einem gewissen Grad. Die Frauen erzählen mir, dass die Onkologin „ganz anders“ und „viel netter“ ist, wenn ich dabei bin. Dennoch werden Unsicherheiten und das Bewusstsein der Medizinerin darüber im Kontakt mit den Erkrankten nicht thematisiert. Finden Sie ausgewählte Passagen der Videointerviews und der Stimmen von Patientinnen unter: http://www.corporealities.org. Ich kann das Gesamtprojekt in meinem Essay nur anhand der exemplarischen Krankengeschichten von Monika und Angelika vorstellen. Gentechnologie oder genetische Beratungen spielen in meiner ethnografischen Forschung inhaltlich eine Nebenrolle, wenngleich diese Themen in den Interviews mit Betroffenen hin und wieder angesprochen werden. Das Interview fand 2006 im Krankenhaus statt. Die Zahlen beziehen sich auf die USA. Videointerview 2007.
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Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren Alexander Bogner, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Habilitationsschrift „Ethisierung in Technikkonflikten“ (2010 im Nomos-Verlag) untersucht er die Implikationen des Ethik-Booms für Technology Governance. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Technikforschung, Soziologie der Ethik und Methoden empirischer Sozialforschung. Adresse: ÖAW, Institut für Technikfolgenabschätzung, Strohgasse 45/5, A-1030 Wien, E-Mail:
[email protected] Ulrike Felt ist Professorin am Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien. Adresse: Institut für Wissenschaftsforschung Universität Wien, Sensengasse 8/10, A-1090 Wien, E-Mail:
[email protected] Maximilian Fochler ist Post Doc am Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien. Adresse: Institut für Wissenschaftsforschung Universität Wien, Sensengasse 8/10, A-1090 Wien, E-Mail:
[email protected] Erich Grießler, Dr., Studium von Soziologie und Geschichte an den Universitäten Wien und Maastricht, Senior Researcher an der Abteilung für Soziologie des Instituts für Höhere Studien in Wien, Lektor an der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit 2007 Sprecher der Sektion Techniksoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Forschung im Bereich von Technik- und Wissenschafts- sowie politischer Soziologie mit Schwerpunkten auf der Entwicklung und Regulation der medizinischen Anwendungen von Biotechnologie sowie Versuchen der Bevölkerungsbeteiligung in diesen Bereichen. Adresse: Institut für Höhere Studien, Stumpergasse 56, A-1060 Wien, E-Mail:
[email protected]
E. Grießler, H. Rohracher, Genomforschung - Politik – Gesellschaft, DOI: 978-3-531-92647-6 , © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Autorinnen und Autoren
Karen Kastenhofer, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie untersucht derzeit die epistemische Kultur und Governance der Systembiologie im transnationalen Projekt „Towards a Holistic Conception of Life?“ (Foerderschiene ELSA-GEN/FFG). Ihre Forschungsschwerpunkte sind epistemische Kulturen in den Lebenswissenschaften und Governance von Technowissenschaften. Adresse: ÖAW, Institut für Technikfolgenabschätzung, Strohgasse 45/5, A-1030 Wien, E-Mail:
[email protected] Oliver Kemper, Ph.D., Studium der Biologie und Molekularbiologie, Abschluss (Ph.D.) 1994 am Weizmann Institute of Science, Israel. Bis 1997 Forscher am Weizmann Institute of Science. 1997- 2000 als „Technical Director Europe“ in der Patentanwaltskanzlei Luzzatto & Luzzatto, Israel, tätig. 2001–2002 Leitung des zentralen Lizenzbüros der Bayrischen Universitäten (Bayern Patent), 2002–2004 Leitung der Patent- and Lizenzagentur (PLA) des deutschen Humangenomprojekts. Seit 2005 Leitung des österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU. Adresse: Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH, Sensengasse 1, A-1090 Wien, E-Mail:
[email protected] Christina Lammer lebt und arbeitet als frei schaffende Soziologin, Kommunikations- und Kulturwissenschafterin in Wien. Sie beschäftigt sich mit der Wahrnehmung des menschlichen Körpers in der Medizin, in der bildenden Kunst und im Film. Gegenwärtig realisiert sie an der Medizinischen Universität Wien (MUW) ein Forschungsprojekt über Materialitäten im Operationstheater, finanziert vom Wiener Wissenschafts-, Technologie- und Forschungsfonds (WWTF) und der Stadt Wien: SURGICAL WRAPPINGS (2009–2014). Zudem führt sie von 2010 bis 2014 eine vom Forschungsförderungsfonds (FWF) geförderte Studie mit gesichtsgelähmten PatientInnen durch, die in der plastischen Chirurgie behandelt werden: FEATURES – WIENER GESICHTSPROJEKT. Zuletzt erschienen: CORPOrealities (Hg.). Wien, Löcker Verlag, 2010. E-Mail:
[email protected], www.corporealities.org Daniel Lehner, Mag. Bakk., Junior Researcher am Institut für Höhere Studien. Adresse: Institut für Höhere Studien, Stumpergasse 56, A-1060 Wien, E-Mail:
[email protected]
Autorinnen und Autoren
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Ingrid Metzler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsplattform Life-Science-Governance der Universität Wien und Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der gleichnamigen Universität. Ihre Arbeit fokussiert auf Objekte, die an der Schnittstelle zwischen Bio-Medizin, Gesellschaft, und Politik entstehen. Zur Zeit arbeitet sie in einem vom österreichischen Genomforschungsprogramm GEN-AU geförderten Projekt zu Biomarkern („Biomarker: Towards the governance of an emerging medical technology“). Adresse: Institut für Politikwissenschaft, Universitätsstraße 7/2, A-1010 Wien, E-Mail:
[email protected] Anna Pichelstorfer, Bakk., ist Junior Researcher am Institut für Höhere Studien Wien, Forschungsinteressen im Bereich der Techniksoziologie und der Medizin- und Gesundheitssoziologie. Adresse: Institut für Höhere Studien, Stumpergasse 56, A-1060 Wien, E-Mail:
[email protected] Harald Rohracher ist ao. Universitätsprofessor am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Gründungsmitglied und von 1999–2007 Leiter des IFZ in Graz, 2009–2010 Joseph A. Schumpeter Fellow an der Harvard University, USA; seit 2007 Sprecher der Sektion Techniksoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Adresse: IFZ – Interuniversitäres Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur, Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Standort Graz, Schlögelgasse 2, A- 8010 Graz, E-Mail:
[email protected] Michael Strassnig ist Post Doc am Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien. Adresse: Institut für Wissenschaftsforschung Universität Wien, Sensengasse 8/10, A-1090 Wien, E-Mail:
[email protected] Helge Torgersen, Dr., studierte Biologie an der Univ. Salzburg. Zunächst Universitätsassistent an den Instituten für Molekularbiologie und Biochemie der Universität Wien ist er seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Hauptarbeitsgebiete sind Biotechnologiepolitik, Risikoabschätzung und öffentliche Wahrnehmung von Biotechnologie, Wissenschaftsstudien und partizipative Technikfolgenabschätzung. Jüngste Arbeiten beschäftigten sich mit Nanotechnologie, System- und Synthetischer Biologie. Adresse: ÖAW, Institut für Technikfolgenabschätzung, Strohgasse 45/5, A-1030 Wien, E-Mail:
[email protected]
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Autorinnen und Autoren
Bernhard Wieser, Dr., studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit 1999 arbeitet er als Technik- und Wissenschaftsforscher am Interuniversitären Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur (IFZ) mit internationaler Erfahrung aus Forschungsaufenthalten in Dänemark, USA, Großbritannien und den Niederlanden. Bernhard Wieser ist Lehrbeauftragter an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt und der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungstätigkeit konzentriert sich auf ethische, legale und soziale Aspekte der Genomforschung und ihrer Anwendung insbesondere im Bereich der genetischen Diagnostik. Adresse: IFZ – Interuniversitäres Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur, Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Standort Graz, Schlögelgasse 2, A- 8010 Graz, E-Mail:
[email protected]