PARKER klopft dem „Hacker“ auf die
Finger
Curd H. Wendt »Warum haben Sie überall Fernseher aufgestellt?« wollte Aga...
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PARKER klopft dem „Hacker“ auf die
Finger
Curd H. Wendt »Warum haben Sie überall Fernseher aufgestellt?« wollte Agat ha Simpson wissen. »Darunter leidet doch die Arbeit.« »Das sind Bildschirm-Arbeitsplätze, die an unseren neuen Groß rechner angeschlossen sind, Mylady«, erläuterte Marc Maple, Ge schäftsführer des Elektronik-Unternehmens Henderson Ltd. »Ich dachte schon, bei Ihnen dürfte man während der Dienst zeit Kriminalfilme sehen«, erwiderte die ältere Dame. »Nein, nein«, lachte Maple. »Das wäre ja noch schöner, Mylady.« »Elekt ronische Datenverarbeitung dürfte für Ihr Unternehmen von zent raler Bedeutung sein, Mister Maple«, bemerkte Parker, der seine Herrin beim Rundgang durch die Firma begleitete. »Stimmt, Mister Parker«, bestätigte der Chef. »Der neue Rech ner ist auch unglaublich vielseitig. Aber Krimis auf die Schirme zaubern – das kann er nicht.« Minuten später mußte Maple allerdings einsehen, daß er die Möglichkeiten des neuen Computers total unterschätzt hatte. Die Hauptpersonen: Marc Maple nimmt bei einer resoluten Lehrmeisterin Nachhilfe in geschäftlicher Verhandlungstaktik. Ray Stout wird erwartungsgemäß bei der Inspektion eines Pa pierkorbes fündig. Ernie Fleetwood wartet Großcomputer und schneidet sich nicht gern ins eigene Fleisch. Fred Greystoke wird im hauseigenen Schwimmbad von Panik befallen. Al Hynes stolpert beim Verlassen der U-Bahn und läßt sich von Parker ärztlich versorgen. John Seagle weckt mütterliche Gefühle in einer älteren Dame und springt von der schiefen Bahn. Lady Agatha zeigt sich bibelfest und am Ende sogar freigebig.
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Butler Parker bringt seinem hochbeinigen Monstrum das Trep pensteigen bei und zieht zur rechten Zeit den Stecker aus der Dose. Agatha Simpson, die sich von dem smarten Geschäftsführer alle Abteilungen des expandierenden Unternehmens zeigen ließ, war eine majestätische Erscheinung. Die resolute Dame, die das Glück dieser Erde nicht auf dem sprichwörtlichen Rücken der Pferde, sondern bei turbulenten Verbrecherjagden suchte und fand, war wohlhabend und konnte sich praktisch jeden Wunsch erfüllen. Ebenso bekannt wie ihr Reichtum war jedoch die ausgeprägte Sparsamkeit der älteren Dame. Lady Agatha ließ keine Gelegen heit aus, den ererbten und erworbenen Besitz weiter zu mehren. So war es zu dem Besuch in dem aufstrebenden Londoner Un ternehmen Henderson Ltd. gekommen. Den entscheidenden Tip hatte Mylady von ihrem Vermögensverwalter, dem Anwalt Mike Rander, erhalten. Aus verläßlicher Quelle hatte Rander erfahren, daß die florie rende Firma dringend finanzstarke Teilhaber suchte. Die schmale Eigenkapitaldecke des Familienunternehmens reichte nicht mehr aus, um die zahlreichen Neuentwicklungen elektronischer Bauteile in der notwendigen Stückzahl zu produzie ren und auf den Markt zu bringen. »Ich denke, ich werde mich für eine Beteiligung an Ihrem Un ternehmen entscheiden, Mister Gable«, ließ Lady Simpson verlau ten, als man nach der Besichtigung im Büro des Geschäftsführers Platz genommen hatte. »Verzeihung, Mylady«, unterbrach der schätzungsweise vierzig jährige Marc Maple und rückte schmunzelnd seine modische Hornbrille zurecht. »Ich finde es zwar schmeichelhaft, mit einem Filmstar wie Clark Gable verwechselt zu werden, aber mein Name lautet Maple, Marc Maple.« »Nichts anderes habe ich gesagt, junger Mann«, gab die passio nierte Amateurdetektivin pikiert zurück. »Sie müssen sich verhört haben. Mein Namensgedächtnis ist unbestechlich, wie auch Mister Parker Ihnen bestätigen wird.« Josuah Parker, der nur selten von der Seite seiner Herrin wich, war das Urbild eines hochherrschaftlichen Butlers. Das betraf nicht nur sein äußeres Erscheinungsbild mit Melone, Schirm und
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konservativ geschnittenem Zweireiher, sondern ebenso seine ma kellosen Umgangsformen. »Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Mylady zu widersprechen«, versicherte der Butler und verneigte sich höf lich. »Als ich die vielen Fernseher sah, kamen mir zwar ernste Be denken, weil ich an der Arbeitsmoral Ihrer Belegschaft zweifeln mußte, Mister Gable«, fuhr Mylady fort. »Aber Ihre Erklärungen haben mich überzeugt.« »Das freut mich außerordentlich, Mylady«, versicherte Maple. »Über die Bildschirme können wirklich nur unsere geschäftlichen und personellen Daten eingegeben, abgerufen und bearbeitet werden.« »Die Bemerkung hinsichtlich der Krimis war natürlich nur ein Scherz, Mister Gable«, spielte Agatha Simpson das etwas peinli che Mißverständnis herunter. »Hab’ ich mir schon gedacht, Mylady«, erwiderte Maple und ließ ein höfliches Lachen hören, das ihm aber umgehend im Hals ste ckenblieb. Der unüberhörbare Tumult, der nebenan im Großraumbüro los gebrochen war, ließ den Geschäftsführer wie elektrisiert aufsprin gen. »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, bat er und steuerte mit raschen Schritten zur Tür. »Das… das ist doch nicht möglich«, stammelte Maple gleich darauf und blieb wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Sein sportlich gebräunter Teint hatte eine Farbe angenommen, die an die Kreidefelsen von Dover erinnerte. Mit zitternden Händen klammerte er sich am Türrahmen fest. * Was gleichzeitig über sämtliche Bildschirme im Großraumbüro flimmerte, war kein Kriminalfilm. Mit der Bearbeitung geschäftli cher Daten hatte es erst recht nichts zu tun. Die hektischen Piep töne, die die Geräte im Chor produzierten, wirkten ausgesprochen alarmierend. Die rhythmisch aufblinkende Schrift aus grünen Leuchtbuchsta ben war auch aus der Entfernung mühelos zu entziffern:
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»ACHTUNG! ACHTUNG! Räumen Sie sofort das Büro! EXPLOSIONSGEFAHR!« Die Angestellten, die an den Bildschirmgeräten gearbeitet hat ten, schienen unschlüssig, ob sie die Warnung für bare Münze halten sollten oder für einen makabren Scherz. Vorsichtshalber hatten sie jedoch ihre Arbeitsplätze verlassen und strebten dem Ausgang zu. »Das geht entschieden zu weit«, stieß Maple wütend hervor. Er hatte seinen Schock schnell überwunden und bemühte sich ver geblich, den ungeordneten Rückzug seiner Mitarbeiter zu stoppen. »Wenn ich den erwische, der sich diesen üblen Scherz erlaubt hat!« schwor er mit Zornesröte im Gesicht. »Der fliegt auf der Stelle raus.« »Sie vermuten einen degoutanten Scherz als Hintergrund dieser Systemstörung, Mister Maple?« vergewisserte sich Parker. »Was denn sonst, Mister Parker?« gab der Geschäftsführer ver dutzt zurück. »Meinen Sie etwa, hier wäre wirklich eine Bombe installiert?« »Möglicherweise wäre auch eine dritte Möglichkeit in Betracht zu beziehen, Mister Maple«, gab der Butler zu bedenken. »Darauf wollte ich Sie auch gerade hinweisen, junger Mann«, schaltete Mylady sich umgehend ein. »Und die wäre?« fragte Maple. »Es könnte sich um eine Art Machtdemonstration handeln«, antwortete Parker. »Irgend jemand möchte Ihnen zeigen, daß er Ihren Großrechner willkürlich beeinflussen kann, Mister Maple.« »Um mich zu erpressen?« tippte der Geschäftsführer sofort rich tig. »Eine Möglichkeit, die man keinesfalls von vornherein aus schließen sollte, Mister Maple.« Der Firmenchef schien angestrengt nachzudenken, aber gleich darauf schüttelte er entschieden den Kopf. »Kann ich mir aber unmöglich vorstellen, Mister Parker«, sagte er. »Es müßte ja jemand von unseren Leuten sein.« »Geht man möglicherweise richtig in der Annahme, daß der Computer von einer externen Servicefirma gewartet wird, Mister Maple?« erkundigte sich der Butler. »Stimmt«, nickte sein Gegenüber. »Aber die Leute von der War tungsfirma wollte ich sowieso gerade suchen gehen. Sie sind nämlich zufällig heute im Haus.«
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In diesem Augenblick wurde Parker auf einen etwa dreißigjähri gen Mann in orangefarbenem Kittel aufmerksam, der sich gegen den Strom der ausziehenden Angestellten in das Büro drängte. »Mister Fleetwood!« rief Maple und winkte dem Kittelträger zu. »Können Sie nicht feststellen, von welchem Terminal dieser ge schmacklose Scherz ausgegangen ist?« wollte der Geschäftsfüh rer wissen, nachdem Fleetwood herangekommen war. »Von keinem, Mister Maple«, teilte der Techniker lakonisch mit und machte ein ratloses Gesicht. »Solche Eingriffe ins Programm sind von keinem Terminal aus möglich. Daß auch hier alle Geräte betroffen sind, ist der eindeutige Beweis.« »Dennoch haben Sie gezielte Störungen der fraglichen Art nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sofern man Sie richtig verstanden hat, Mister Fleetwood«, hakte der Butler nach. »Möglich wäre solch ein Scherz nur durch direkten Zugriff zum zentralen Programm«, antwortete Fleetwood. »Meine Leute und ich könnten so was machen, wenn wir wollten. Aber wir waren’s nicht. Ehrenwort!« »Was man keineswegs unterstellen wollte, Mister Fleetwood.« »Würde mir ja auch ins eigene Fleisch schneiden«, setzte der Mann im orangefarbenen Kittel hinzu. »Mit solchen Scherzen bringt man keinen Kunden zum Lachen.« »Sollte man gegebenenfalls in Betracht ziehen, daß der Eingriff in das Programm des Rechners auch von außen gekommen sein könnte?« fragte Parker weiter. »Prinzipiell ist das nicht ausgeschlossen, Mister Parker«, meinte der Techniker. »Aber ausgesprochen unwahrscheinlich.« »Darf man unter Umständen erfahren, worauf sich Ihre Annah me stützt, Mister Fleetwood?« »Das System ist zwar von außen erreichbar, weil wir über das Telefonnetz mit den verschiedensten Datenbanken in Verbindung stehen, aber unbefugtes Eindringen wird durch einen Code ver hindert. Und den soll erst mal einer knacken«, sagte Fleetwood. »Man darf vermutlich unterstellen, daß Sie bereits von den so genannten ›Hackern‹ gehört oder gelesen haben, Mister Fleet wood?« blieb der Butler hartnäckig am Ball. »Was verstehe ich unter Packern, Mister Parker?« erkundigte sich Lady Simpson. »Bei den sogenannten ›Hackern‹, die Mylady fraglos zu meinen belieben, handelt es sich um computerbegeisterte Jugendliche,
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die durch geradezu alarmierende Eingriffe in Großrechenanlagen von sich reden machten«, gab Parker Auskunft. »In allen be kanntgewordenen Fällen waren die Computer durch angeblich sichere Codes geschützt.« »Richtig, Mister Parker«, nickte Fleetwood. »Sie müssen das Opfer von Hackern geworden sein, Mister Maple. Eine andere Er klärung gibt es nicht.« »Sie müssen doch aber irgend etwas gegen diesen verdammten Unsinn unternehmen können, Mister Fleetwood«, entgegnete der Geschäftsführer ärgerlich. »Wozu sind Sie denn Techniker?« »Das Gemeine an der Störung ist, daß auch die Reservepro gramme blockiert sind«, teilte der Mann im Kittel mit. »Dadurch können wir nicht mal umschalten.« »Das heißt, daß ich meine Leute nach Hause schicken kann, bis die Störung behoben ist?« wollte Maple wissen. »Wir müssen uns vollständig vom Datennetz abhängen und dann versuchen, den Fehler zu finden«, antwortete Fleetwood deprimiert. »Aber wann das sein wird, kann ich Ihnen beim bes ten Willen nicht versprechen, Mister Maple.« »Und wer ersetzt mir den Schaden?« fauchte der Geschäftsfüh rer wütend. »Jede Stunde kostet die Henderson Ltd. Tausende.« »Dagegen sind Sie doch hoffentlich versichert, Mister Gable«, schaltete Agatha Simpson sich ein. »Dummerweise nicht, Mylady«, gestand der Firmenchef. »Dann bleibt Ihnen nur eins, Mister Maple«,wußte Fleetwood. »Die Hacker finden und haftbar machen.« »Also ein Fall für die Polizei«, stellte Maple fest. »Unsinn, junger Mann«, fuhr die passionierte Detektivin ener gisch dazwischen. »Wie bitte?« Marc Maple wirkte leicht konsterniert. »Sie wollen doch nicht etwa die Polizei auf die Spur der Packer setzen, Mister Gable?« fragte Mylady in geradezu entrüstetem Ton. »Warum nicht, Mylady?« »Die hat doch genug mit dem Verkehr zu tun«, behauptete Lady Agatha. »Wo Fingerspitzengefühl und Fachkenntnisse gefragt sind, kommt nur eine Kriminalistin in Frage.« »Etwa Sie, Mylady?« fragte Maple entgeistert. Natürlich hatte die ältere Dame den Rundgang durch die Firma dazu benutzt, ausgiebig im goldenen Buch ihrer Erfolge zu blättern.
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»In der Tat, junger Mann«, antwortete Agatha Simpson und ü bersah großzügig Maples fassungslosen Gesichtsausdruck. »Sie dürfen sich glücklich schätzen, daß ich trotz meiner zahlreichen Verpflichtungen bereit bin, mich Ihrer Probleme anzunehmen.« »Das ehrt mich natürlich ungemein, Mylady«, sagte der Ge schäftsführer und lächelte verlegen. »Aber…« Er unterbrach sich, weil Fleetwood in diesem Moment fasziniert auf eins der Bildschirmgeräte starrte und vor Verblüffung zu stot tern anfing. »Da… da… das Programm!« stieß er atemlos hervor. »Alles wie der da!« Von einer Sekunde zur anderen war der Spuk von den Bild schirmen verschwunden. Überall flimmerten wieder die Informati onen auf, die man vor dem Zwischenfall abgerufen hatte. »Da sind Sie ja noch mal glimpflich davongekommen, Mister Maple«, bemerkte Fleetwood und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und wer garantiert mir, daß sich solche Vorfälle nicht wieder holen?« gab der Firmenchef in besorgtem Ton zurück. »Ihr Argwohn dürfte als durchaus berechtigt gelten, Mister Maple«, pflichtete Parker ihm bei. »Mister Maple, Mister Maple!« war in diesem Augenblick eine aufgeregte Frauenstimme draußen auf dem Gang zu hören. Es handelte sich um die Sekretärin des Firmenchefs. »Sie werden dringend am Telefon verlangt, Mister Maple«, teilte die üppige Mittdreißigerin mit. »Der Herr ruft wegen der Störung im EDV-System an.« * Wie ein geölter Blitz war der Geschäftsführer verschwunden. Marc Maple hatte es derart eilig, an den Apparat zu kommen, daß Mylady ihm nur mit Mühe folgen konnte. Da der Anrufer sich ausgesprochen kurz faßte, bekamen Parker und Agatha Simpson nur noch die Schlußphase mit, als sie das Büro betraten. Maple stand wie versteinert hinter dem Schreibtisch. Seine Au gen schienen ins Leere zu blicken, während er der Stimme aus dem Hörer lauschte.
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»Ja«, sagte er mit leicht bebender Stimme. »Ja, ich habe alles verstanden.« »Aber…« wollte er noch eine Frage stellen, doch der Unbekann te hatte schon eingehängt. »Hallo!« schrie Maple in die Sprechmuschel. »Hallo!« Langsam ließ er den Hörer sinken und nahm erst jetzt wahr, daß er nicht allein im Zimmer stand. »Sie hatten recht, Mister Parker«, murmelte der Firmenchef. »Die Henderson Ltd. wird erpreßt, und die Störung von eben war nur eine Art Warnschuß.« »Das habe ich Ihnen ja sofort prophezeit, Mister Gable«, schob Lady Agatha sich unüberhörbar in den Vordergrund. »Daran se hen Sie, daß mein kriminalistischer Spürsinn unfehlbar ist.« »Darf man möglicherweise erfahren, welche Forderungen der oder die Erpresser präsentiert haben, Mister Maple?« erkundigte sich Parker. »Fünfzigtausend Pfund«, teilte sein Gegenüber mit. »Das treibt uns nicht gerade in den Ruin. Aber bescheiden kann man die Schurken auch nicht nennen.« »Überdies sollte man aus Erfahrung mit weiteren Forderungen rechnen, sobald Sie mal die Bereitschaft zum Zahlen gezeigt ha ben, Mister Maple«, gab der Butler zu bedenken. »Keinen Penny werden diese kriminellen Subjekte bekommen, junger Mann«, grollte die ältere Dame. »Dafür sorge ich, so wahr ich Agatha Simpson heiße.« »Kann und muß man vermuten, daß die Erpresser bereits mit geteilt haben, wie sie sich die Übergabe des Geldes vorstellen, Mister Maple?« kam Parker wieder auf das Telefonat zurück. »Am besten hören Sie es sich selbst an«, schlug der Geschäfts führer vor. »Zum Glück habe ich das Gespräch von Anfang an auf Band mitgeschnitten.« »Eine Maßnahme, deren Wert man keinesfalls unterschätzen sollte, Mister Maple«, ließ der Butler sich vernehmen. »Ich hoffe auch, daß die Polizei mit dem Band etwas anfangen kann, Mister Parker«, nickte der Firmenchef. »Sagten Sie ›Polizei‹ oder habe ich mich verhört, junger Mann?« Der gereizte Unterton in Myladys Stimme war überdeut lich. »Wieso, Mylady?« Mark Maple wirkte irritiert.
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»Vor fünf Minuten habe ich mich entgegenkommenderweise be reit erklärt, in diesem Fall die Ermittlungen zu übernehmen, Mis ter Gable«, setzte die resolute Lady ihn ins Bild. »Da können Sie jetzt nicht einfach die Polizei rufen.« »Moment mal! Mylady. In solch einem Fall muß ich einfach die Polizei einschalten«, warb Maple um Verständnis. »Immerhin bin ich nur angestellter Geschäftsführer und schulde den Besitzern Rechenschaft.« »Die Besitzer werden mit Sicherheit Rechenschaft von Ihnen verlangen, wenn sie erfahren, daß ich meine geplante Beteiligung zurückgezogen habe, Mister Gable«, mutmaßte Agatha Simpson und lächelte ihren Gesprächspartner mit entwaffnender Freund lichkeit an. »Also mein Angebot, junger Mann: Sie lassen die Poli zei aus dem Spiel, und ich halte an der geplanten Beteiligung fest. Spätestens morgen sitzt die Gangsterbande hinter Schloß und Riegel.« »Ich will ja nicht an Ihren Fähigkeiten zweifeln, Mylady«, wand te der Geschäftsführer vorsichtig ein. »Aber was ist, wenn Sie die Schurken nicht kriegen?« »Dann können Sie immer noch die Polizei einschalten, Mister Gable«, gestattete Mylady großzügig. »Aber dazu wird es nicht kommen.« Maple dachte ein paar Sekunden angestrengt nach. »Okay, bis morgen abend haben Sie Zeit, die verdammten Ha cker zu entlarven, Mylady«, willigte er zögernd ein. »Weiter kann ich Ihnen beim besten Willen nicht entgegenkommen.« »Wie auch immer«, zeigte sich Lady Simpson einigermaßen ver söhnt. »Ich werde sofort mit den Ermittlungen beginnen, um kei ne Zeit zu verlieren, Mister Parker.« »Ein Entschluß, den man nur vorbehaltlos begrüßen kann, My lady«, ließ der Butler sich vernehmen. »Darf man im übrigen die Frage anschließen, wie Mylady im einzelnen vorzugehen geden ken?« »Ich habe natürlich schon meine konkreten Vorstellungen. Doch davon später, Mister Parker«, gab die ältere Dame ausweichend zur Antwort. »Zunächst werde ich meinem taktischen Konzept den letzten Schliff geben.« »Geht man möglicherweise recht in der Annahme, daß Mylady das Band mit der Stimme des Erpressers zu hören wünschen?«
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machte der Butler seine Herrin auf das Nächstliegende aufmerk sam. »Darum wollte ich ohnehin gerade bitten, Mister Parker«, versi cherte die Detektivin umgehend. »Vielleicht erkenne ich den Lümmel auch gleich an der Stimme.« »Eine Möglichkeit, die man nicht unbedingt ausschließen sollte, Mylady«, antwortete Parker. * So einfach machte es der Erpresser seinen Widersachern aller dings nicht. Weder Josuah Parker noch Agatha Simpson hatten die Stimme jemals gehört. Hinzu kam, daß der Anrufer beim Sprechen offenbar eine Tasse oder ähnliches vor den Mund gehal ten hatte, um einer möglichen Identifizierung vorzubeugen. »Hören Sie gut zu«, war die Stimme des Unbekannten zu hören, nachdem Marc Maple das Band zurückgespult und den Wiederga beknopf betätigt hatte. »Das mit der Explosionsgefahr war natür lich nur ein kleiner Scherz.« »Über solche Scherze kann ich beim besten Willen nicht la chen«, lautete Maples Antwort, die ebenfalls aufgezeichnet war. »Wer sind Sie denn überhaupt?« »Mein Name tut nichts zur Sache, Mister Maple«, schob der An rufer die Frage beiseite. »Jedenfalls kostet es mich ein müdes Lächeln und einen Knopfdruck, sämtliche Programme und Reser veprogramme Ihrer EDV-Anlage in ein hoffnungsloses Chaos zu verwandeln.« »Und was haben Sie davon?« fragte der Geschäftsführer. »Neue Software ist sehr teuer – abgesehen vom Arbeitsausfall, den ein Zusammenbruch des Systems nach sich ziehen würde, Mister Maple«, entgegnete der Unbekannte. »Diese Unannehm lichkeiten zu vermeiden, sollte Ihnen schon ein paar Pfund wert sein.« »Und was verstehen Sie unter ein paar Pfund?« wollte Marc Maple mißtrauisch wissen. »Fünfzigtausend.« »Fünfzigtausend?« wiederholte der Firmenchef. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
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»Fünfzigtausend sind ein Pappenstiel gegen die Kosten, die Sie sich zwangsläufig bei uneinsichtigem Verhalten einhandeln wür den«, gab der Erpresser unbeeindruckt zurück. »Sie werden das Geld in kleinen Scheinen heute abend persönlich in einem Leder koffer zur Victoria Station bringen und in eins der Gepäckfächer am Nordausgang einschließen.« Man merkte, daß Maple unterbrechen wollte, doch der Anrufer ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Kommen Sie pünktlich um elf und lassen Sie den Schlüssel un auffällig in den Papierkorb unter der großen Marlboro-Reklame fallen«, verlangte der Gangster. »Haben Sie übrigens die Polizei schon angerufen, Mister Maple?« »Noch… noch nicht«, gestand der Geschäftsführer. »Dann lassen Sie auch weiterhin die Finger davon, wenn Sie mich nicht von meiner unangenehmen Seite kennenlernen wol len«, riet der Unbekannte. »Alles verstanden?« »Ja«, bestätigte Maple. »Ja, ich habe alles verstanden.« Im nächsten Moment knackte es in der Leitung. Der Erpresser hatte den Hörer aufgelegt. Maples »Aber…« erreichte den Anrufer nicht mehr. Seufzend schaltete der Firmenchef das Tonbandgerät ab und sah das skurrile Paar erwartungsvoll an. »Kein Problem für eine Kriminalistin, Mister Gable«, zeigte Lady Agatha ihre gewohnte Zuversicht. »Den entscheidenden Fehler hat der Lümmel schon gemacht.« »Darf man höflich um Auskunft bitten, wie Mylady diese Äuße rung verstanden wissen möchten?« schaltete Parker sich ein. »Natürlich werde ich heute abend in Waterloo Station warten«, tat die Detektivin mit siegesgewissem Lächeln kund. »Sollte man vermuten, daß Mylady Victoria Station meinen?« unterbrach der Butler. »Wie auch immer«, überging Agatha Simpson souverän den kleinen Unterschied. »Jedenfalls werde ich zur Stelle sein und das gewissenlose Subjekt überwältigen.« »Eine Ankündigung, die Myladys Elan und Entschlossenheit in eindrucksvoller Weise unterstreicht«, erwiderte Parker in seiner höflichen Art. »Dennoch dürfen Mylady damit rechnen, daß der Erpresser gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen wird, falls der Hinweis erlaubt ist.«
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»Wem sagen Sie das, Mister Parker!« Agatha Simpson schien eingeschnappt. »Selbstverständlich rechne ich mit Sicherheits vorkehrungen. Aber meiner Taktik ist kein Gangster gewachsen.« »Was man keinesfalls bezweifeln möchte, Mylady.« »Und ich soll wirklich einen Koffer mit fünfzigtausend Pfund in einem Schließfach in Victoria Station deponieren?« vergewisserte Maple sich. »Ein Koffer, der lediglich den Eindruck erweckt, als könnte er soviel Pfund in kleinen Scheinen enthalten, würde denselben Zweck erfüllen, falls man nicht sehr irrt, Mister Maple«, sagte der Butler. »Ansonsten sollten Sie den Anweisungen des unbekannten Anrufers strikt folgen, um keinen Argwohn zu erregen. Mylady und meine Wenigkeit werden in der Nähe sein, wenn Sie gegen elf Uhr den Bahnhof betreten.« »Und wenn die Gangster merken, daß kein Geld im Koffer ist?« fragte der Geschäftsführer mit besorgter Miene. »Dann ist es für die Lümmel ohnehin zu spät, junger Mann«, zerstreute Lady Simpson seine Bedenken. »Dann ist die Schlinge schon zugezogen.« »Wenn das nur gutgeht«, meinte Maple zweifelnd, während sei ne Besucher sich erhoben. »Sofern Sie keinen Fehler machen, junger Mann, kann über haupt nichts schiefgehen«, mußte er sich von Agatha Simpson belehren lassen. »Auf Mister Parker werde ich schon aufpassen.« * »Aber, Mister Parker!« rief Lady Agatha in gespieltem Entset zen, als der Butler sie an den Teetisch geleitete, den er in der weitläufigen Wohnhalle in Shepherd’s Market gedeckt hatte. »Ich wollte eigentlich strenge Diät halten… Nun ja, ein Häppchen sollte ich probieren«, entschied die ältere Dame nach demonstrativem Zögern. »Dies kann bestimmt nicht schaden.« Während der Butler Tee einschenkte und anschließend in seiner unvergleichlichen Art einen halben Schritt zurücktrat, probierte Mylady mit wachsendem Wohlbehagen das Blätterteiggebäck: Gleich danach kam der Früchtekuchen und schließlich – als Krö nung – die Nougattorte an die Reihe.
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Die Kostprobe schien zur Zufriedenheit ausgefallen zu sein. Je denfalls ging Agatha Simpson ohne überflüssiges Zaudern das Angebot gleich noch mal durch. »Mit strenger Diät fange ich morgen an«, meinte die Hausher rin, derweil Parker nachlegte. »Eine Feststellung, der man durchaus nicht widersprechen möchte, Mylady«, sagte der Butler und entkorkte die Sherryfla sche. »Immer diese Störungen!« grollte die ältere Dame, als im sel ben Moment die Haustürglocke schrillte. Parker setzte die Flasche ab und begab sich gemessenen Schrit tes in Richtung Diele. »Ich bin für niemand zu sprechen, Mister Parker«, rief Agatha Simpson hinterher. »Man erlaubt sich, einen möglichst angenehmen Nachmittag zu wünschen, Miß Porter und Mister Rander«, sagte der Butler gleich darauf und verneigte sich. Unter dem spitzgiebligen Vordach der Haustür standen Anwalt Mike Rander und seine ständige Begleiterin, die rund zehn Jahre jüngere Kathy Porter. Rander hatte mit Parker schon vor Jahren in den Staaten zu sammengearbeitet. Gemeinsam hatten die beiden Männer eine Reihe aufsehenerregender Kriminalfälle gelöst, bis der Butler an die Themse zurückgekehrt und in Lady Simpsons Dienste getre ten war. Wenig später war der sportliche Anwalt, dessen männliche Er scheinung an einen beliebten James-Bond-Darsteller erinnerte, gefolgt und hatte an der nahegelegenen Curzon Street eine Kanz lei eröffnet. Den überwiegenden Teil seiner Arbeitskraft verwand te Rander jedoch darauf, Myladys Vermögen zu verwalten. Im Hause Simpson, wo Parker ihn eingeführt hatte, war der Anwalt zum erstenmal der attraktiven Kathy Porter begegnet, die für die ältere Dame als Gesellschafterin und Sekretärin tätig war. Betonte Wangenknochen und leicht mandelförmig geschnittene Augen verliehen ihrem Gesicht einen exotischen Reiz. Die dunklen Haare schimmerten kastanienfarben. Man sah der zierlichen Per son nicht an, daß sie schon bei etlichen Verbrecherjagden hand fest mitgewirkt und manchen Schwergewichtler auf die Bretter geschickt hatte.
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Dabei kam ihr zugute, daß sie jahrelang mit Hingabe die Tech niken fernöstlicher Selbstverteidigung studiert hatte. »Darf man reinkommen, Parker?« erkundigte sich der Anwalt. »Oder ist Mylady beschäftigt?« »Mylady legte Wert auf die Fest stellung, daß Mylady derzeit für niemanden zu sprechen ist«, teil te Parker wahrheitsgemäß mit. »Sie dürften in dieser Hinsicht jedoch die Ausnahme darstellen, falls man nicht sehr irrt.« In der Tat waren Mike Rander und Kathy Porter im Hause Simp son stets willkommen – im Gegensatz zu manch anderen Besu chern. Lady Agatha betrachtete beide als ihre »Kinder« und hätte das Paar am liebsten vor dem Traualtar gesehen. Die beiden schienen jedoch von zeitgemäßer Partnerschaft eine andere Vor stellung zu haben und taten ihr den Gefallen nicht. »Schön, daß ihr kommt, aber schade, daß ihr nicht vorher an gerufen habt«, empfing Agatha Simpson die Besucher. »Wieso, Mylady?« wollte die hübsche Kathy wissen und nahm neben der Hausherrin Platz. »Mister Parker hätte dann etwas reichlicher eingekauft«, erwi derte die Detektivin. »Als alleinstehende Dame muß man mit dem Penny rechnen und würde sich Vorwürfe machen, wenn etwas schlecht wird.« »So schnell kommen Sie schon nicht an den Bettelstab, Myla dy«, meinte Rander, der es eigentlich wissen mußte. »Aber wir haben gerade etwas gegessen. Eine Tasse Tee würde schon ge nügen.« »Mister Parker wird sofort einschenken«, atmete Mylady hörbar auf und wandte sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung zu. »Haben Sie schon von dem entführten Jungen gehört oder gele sen, Mylady?« knüpfte Kathy Porter eine Unterhaltung an. »Es stand heute morgen in allen Zeitungen.« »Natürlich, Kindchen«, nickte die passionierte Detektivin und schob ein Stück Nougattorte nach. »Ich bin über alles informiert, was sich in meinem Einsatzgebiet tut. Dazu brauche ich keine Zeitungen zu lesen.« »Meiner Wenigkeit ist durchaus unbekannt, welchen Fall Miß Porter meinen«, schaltete Parker sich ein. »Darf man möglicher weise auf erklärende Worte hoffen?« »Der Junge ist schon seit Tagen verschwunden, Mister Parker«, teilte Myladys Gesellschafterin mit. »Er wurde auf offener Straße
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entführt, nachdem er sich mit Freunden in einem sogenannten Hackerclub getroffen hatte.« »Eine Mitteilung, die auf Myladys uneingeschränktes Interesse stoßen dürfte, falls man sich nicht gründlich täuscht«, merkte der Butler an. »Sie ermitteln also in der Sache, Mylady?« vergewisserte sich der Anwalt. »Indirekt schon, mein Junge«, gab Agatha Simpson auswei chend zur Antwort. »In der Zeitung stand, daß die Polizei noch keine heiße Spur hat«, berichtete die junge Dame weiter. »Das wundert mich keineswegs, Kindchen«, warf Mylady mit fröhlicher Miene ein. »Das Rätselhafte an dem Fall ist, daß sich bisher kein Erpresser gemeldet hat«, fuhr die attraktive Kathy fort. »Obwohl der Junge zweifelsfrei gekidnappt wurde, liegt auch nach vier Tagen noch keine Lösegeldforderung vor.« »Bei den Eltern ist auch absolut nichts zu holen, Kathy«, gab Rander zu bedenken. »Jedenfalls habe ich es so gelesen.« »Dennoch sollte man keinesfalls ausschließen, daß die Verbre cher aus der Entführung des erwähnten Jungen Kapital zu schla gen versuchen«, schickte Parker voraus. »Unter Umständen wäre sogar an einen direkten Zusammenhang mit Myladys derzeitigen Ermittlungen zu denken.« »Auf diesen Zusammenhang wollte ich ja gerade hinweisen«, schob Lady Agatha sich mühelos in den Mittelpunkt. »Mister Par ker wird meine Überlegungen präzisieren. Dann kann ich gleich überprüfen, ob er auch alles richtig verstanden hat.« * »Und Sie sind wirklich sicher, daß Sie die Burschen bis morgen abend schnappen können, Mylady?« fragte Mike Rander, nach dem Parker die Vorkommnisse bei der Henderson Ltd. geschildert und auch das Band mit der Stimme des Erpressers vorgespielt hatte. »Habe ich schon mal etwas versprochen, das ich nicht gehalten habe, mein Junge?« gab die Hausherrin zurück und sah den An walt herausfordernd an.
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»Wenn es Ihnen nicht gelingt, noch heute abend bei der Geld übergabe zuzuschlagen, dürfte es aber schwer werden, Mylady«, prophezeite Rander. »Falls die feigen Lümmel sich meinem Zugriff entziehen, indem sie gar nicht erst am Treffpunkt auftauchen, habe ich natürlich andere Mittel und Wege parat, mein lieber Junge«, zeigte Agatha Simpson ihre unerschütterliche Zuversicht. »Vielleicht führt auch das Tonband weiter, Mylady«, warf Kathy Porter ein. »Man könnte es dem ehrenwerten Mister Pickett vorspielen«, griff der Anwalt den Gedanken auf. »Bei seinen Kenntnissen der Londoner Szene würde es mich nicht wundern, wenn er die Stimme kennt.« »Eine Anregung, die es zweifellos verdient, aufgegriffen zu wer den, Sir«, merkte der Butler an. »Diese Idee hatte ich selbstverständlich auch schon«, behaup tete die Detektivin postwendend. »Am besten rufen Sie Mister Pickett noch heute nachmittag an.« »Meine Wenigkeit war so frei, das Erforderliche bereits zu ver anlassen, Mylady«, teilte Parker mit und schenkte seiner Herrin einen Sherry ein. Lady Simpson triumphierte: »Ich habe für alle Eventualitäten vorgesorgt. Meine Taktik besteht darin, daß ich den Gegner von allen Seiten umzingele.« »Im übrigen dürfen Mylady noch auf einem dritten Weg versu chen, der Erpresser habhaft zu werden«, ließ der Butler sich ver nehmen. »Richtig, Mister Parker«, lobte Agatha Simpson, nachdem sie eine kurze Irritation geschickt überspielt hatte. »Erläutern Sie bitte, was ich unter diesem dritten Weg verstehe.« »Mylady dürften es als Aufgabe ansehen, den Verbleib des ent führten Jungen aufzuklären, falls man sich nicht gründlich täuscht«, kam Parker dem Verlangen nach. »Was für ein Junge denn, Mister Parker?« wollte Agatha Simp son wissen. »Mister Parker meint den vierzehnjährigen John Seagle, der ei nem sogenannten Hackerclub in Hackney angehörte, Mylady«, half Kathy Porter dem störrischen Gedächtnis der passionierten Detektivin nach.
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»Ja, ja, der arme kleine Ron Beagle«, nickte die ältere Dame. »Natürlich werde ich den Jungen unverzüglich aus den Händen seiner Entführer befreien, Kindchen. Aber ich kann mich eben nicht zweiteilen. Im Moment geht die Jagd auf die Computer gangster vor.« »Mylady dürften unter Umständen einen Zusammenhang zwi schen beiden Fällen vermuten, falls der Hinweis genehm ist«, griff der Butler erläuternd ein. »Vielleicht sind es dieselben Gangster, die den vierzehnjährigen John entführt haben und nun mit seiner Hilfe die Henderson Ltd. erpressen«, schaltete sich auch Mike Rander in das Gespräch ein. »Man sagt diesen jugendlichen ›Hackern‹ ja die erstaunlichsten Fähigkeiten nach. Die stecken jeden erwachsenen EDVSpezialisten glatt in die Tasche.« »Computerfans in schulpflichtigem Alter haben sogar schon den Zentralcomputer des amerikanischen Verteidigungsministeriums angezapft«, steuerte Kathy Porter eine weitere Information bei, die sie kürzlich der Zeitung entnommen hatte. »Da erzählt ihr mir nichts Neues«, äußerte Agatha Simpson. »Diesen Zusammenhang habe ich von Anfang an durchschaut. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich jedoch entschieden, den entscheidenden Schlag gegen die kriminellen Subjekte bei der Geldübergabe im Bahnhof zu führen.« »Ein Entschluß, der keineswegs zu kritisieren sein dürfte, Myla dy«, merkte Parker an. »Und in der Zwischenzeit werde ich mich durch Meditation auf diesen Einsatz vorbereiten«, teilte die Detektivin mit. »Dann könnten wir uns doch um den entführten Jungen küm mern, Mylady«, schlug Mike Rander vor. »Kathy und ich könnten mit Johns Eltern und seinen Clubkameraden sprechen. Vielleicht erfahren wir etwas, das noch nicht in der Zeitung steht.« »Ihr freundliches Angebot kommt einer entsprechenden Bitte meiner bescheidenen Wenigkeit zuvor, Sir«, sagte der Butler und deutete eine Verbeugung an. »Dann brechen wir am besten gleich auf«, meinte der Anwalt, und seine Begleiterin nickte zustimmend. »Bevor Sie heute abend zum Victoria-Bahnhof fahren, geben wir noch einen telefonischen Zwischenbericht durch.«
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Wenig später verließen Kathy Porter und Mike Rander das Haus. Agatha Simpson zog sich ins Obergeschoß zurück, wo ihre priva ten Gemächer lagen. Josuah Parker räumte mit geläufigen Handgriffen den Teetisch ab und trug das Silbertablett mit dem Geschirr ins Souterrain. Er hatte die dort untergebrachte Wirtschaftsküche noch nicht er reicht, als ein beängstigendes Geräusch an sein Ohr drang. Es hörte sich an, als wollte jemand die massiven Eichenbalken der altehrwürdigen Fachwerkkonstruktion zu Brennholz zersägen. Der Butler allerdings kannte dieses Geräusch und war deshalb nicht im mindesten beunruhigt. Offenbar hatte sich seine Herrin beim Meditieren tief in ihr inneres Selbst versenkt und war unver sehens in Morpheus’ Reich hinübergeglitten. * Josuah Parker, der gerade seiner Herrin einen Kreislaufbe schleuniger eingeschenkt hatte, verneigte sich höflich und steuer te in würdevoller Haltung die Diele an, wo das Telefon schrillte. »Hier bei Lady Simpson«, meldete er sich. »Hallo, Parker«, war Randers Stimme am anderen Ende zu hö ren. »Irgend etwas Neues hat sich bei Ihnen nicht ergeben?« »Sie sagen es, Sir«, bestätigte der Butler. »Die Tatsache, daß der ehrenwerte Mister Pickett inzwischen das Band abgehört, die Stimme des Erpressers aber nicht erkannt hat, dürfte mitnichten als erwähnenswerte Neuigkeit gelten.« »Schade«, meinte der Anwalt. »Wir sind auch nicht sehr weit gekommen. Aber ein paar Hintergrundinformationen werden Sie vielleicht doch interessieren.« »Meine Wenigkeit sieht Ihren Mitteilungen in gespannter Erwar tung entgegen, Sir.« »Der Besuch bei Johns Eltern war ziemlich deprimierend«, be gann Rander seinen Bericht. »Beide sind vermutlich Alkoholiker und scheinen sich nicht sehr intensiv um ihr einziges Kind zu kümmern.« »Ein Umstand, den man mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedau erns zur Kenntnis nimmt, Sir.« »Immerhin war Mister Seagle in der Lage mitzuteilen, daß noch immer keine Lösegeldforderung ergangen ist«, fuhr der Anrufer
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fort. »Ansonsten bestätigte sich der Eindruck, den wir von Johns Elternhaus gewannen, in den Gesprächen, die Kathy und ich an schließend mit mehreren Clubkameraden des Jungen führten.« »Darf man möglicherweise hoffen, daß die Mitglieder des soge nannten Hackerclubs über die computertechnischen Fähigkeiten ihres entführten Freundes Auskunft geben konnten, Sir?« »John Seagle ist mit seinen vierzehn Jahren eindeutig der Star der Gruppe«, teilte Rander mit. »Per Telefon in einen fremden Computer einzudringen, ist für ihn kein Problem, hieß es überein stimmend. Einer der Jungen zeigte mir sogar einen Zeitungsaus schnitt, in dem John als junges Computergenie groß herausge stellt wurde.« »Man sollte nicht ausschließen, daß es diese Veröffentlichung war, die die Gangster auf den erwähnten Jungen aufmerksam machte, Sir«, merkte der Butler an. »Klingt plausibel, Parker«, erwiderte der Anwalt. »Darf man gegebenenfalls hoffen, daß Sie noch weitere Infor mationen zu übermitteln haben, Sir?« »Brauchbare Hinweise auf die Entführer gab es nicht, obwohl einer der Jungen Augenzeuge des Verbrechens wurde«, antworte te Rander. »Die Kidnapper waren maskiert, das Autokennzeichen, das Johns Clubkameraden notierten, gefälscht.« »Umstände, die auf eine professionelle Planung des Verbre chens hindeuten dürften, Sir.« »Anfänger waren das bestimmt nicht, Parker«, pflichtete der Anwalt ihm bei. »Erstaunlich, daß John Seagle trotz fehlender Förderung dieses außergewöhnliche Talent entwickeln konnte«, kam Rander nach kurzem Nachdenken noch mal auf die häusliche Situation des ent führten Jungen zurück. »Allerdings war er sehr unzufrieden und hat sich im Club häufig über seine Eltern beklagt.« »Ein Verhalten, das als durchaus verständlich gelten dürfte, ob wohl es eindeutig die Gebote der Diskretion verletzt, Sir.« »Offenbar setzen Johns Eltern ihr bescheidenes Einkommen derart lückenlos in Alkohol um, daß nicht mal Geld blieb, den Jungen ordentlich zu kleiden«, berichtete der Anwalt. »Von einem Fahrrad, einem Kassettenrecorder oder gar einem eigenen Com puter konnte das kleine Genie nur träumen. Dafür gab es Prügel um so reichlicher.«
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»Vermutet man unter Umständen richtig, daß Sie abschließend noch mit einer Personenbeschreibung des Jungen dienen können, Sir?« fragte Parker. »John ist etwa einsfünfundfünfzig, also klein für sein Alter«, teil te Rander mit. »Er ist schmächtig gebaut, hat kurzgeschnittene, rote Haare und trägt eine Nickelbrille mit starken Gläsern. Meis tens läuft er in Blue Jeans und bunten Baumwollhemden herum.« »Man dankt, auch in Myladys Namen, für die freundliche Mitar beit, Sir«, sagte der Butler und wollte das Gespräch schon been den, doch der Anwalt hatte noch etwas auf dem Herzen. »Meinen Sie denn, Parker, daß Sie und Mylady allein zurecht kommen?« wollte er wissen. »Eine Frage, die man grundsätzlich bejahen möchte, Sir«, gab Parker zur Antwort. »Andererseits dürfte Mylady gegen Ihre und Miß Porters Anwesenheit wohl kaum Einwände erheben, falls der Hinweis genehm ist.« »Das war natürlich die Richtung, in die meine Frage zielte, Par ker«, gestand der Anwalt unumwunden. »Kathy und ich hätten große Lust auf eine kleine Abwechslung.« »Wogegen auch meine Wenigkeit nichts einzuwenden hätte, Sir«, erwiderte der Butler und sprach mit Rander noch einige De tails ab, ehe er in die Wohnhalle zurückkehrte. »Das ist mir doch alles längst bekannt, Mister Parker«, kom mentierte Lady Agatha, nachdem der Butler in knappen Sätzen den Inhalt des Telefonats wiedergegeben hatte. »Mühselige Kleinarbeit bringt eben selten etwas ein.« »Eine Feststellung, der man nicht unbedingt widersprechen möchte, Mylady.« »Ich setze mich lieber Auge in Auge mit dem Gegner auseinan der, Mister Parker.« »Was meiner Wenigkeit durchaus bekannt ist, Mylady.« »Ab und zu brauche ich einfach ein bißchen Bewegung.« »Körperliche Betätigung dürfte zu den unentbehrlichen Grund lagen einer gesunden Lebensweise zählen, falls die Anmerkung erlaubt ist.« »Stimmt, Mister Parker«, nickte die Detektivin und erhob sich ächzend aus dem Sessel. »Ist der Wagen startklar?« »Selbstredend, Mylady«, sagte Parker mit einer höflichen Ver beugung und geleitete seine Herrin zum Ausgang.
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*
Entnervend langsam rückten die Zeiger der großen Wanduhr in Victoria Station auf 23 Uhr zu. Agatha Simpson und der Butler hielten sich schon seit zehn Minuten in Sichtweite der Schließ fachanlage auf. Gegenüber, gleich neben der großen Marlboro-Reklame, plau derten Mike Rander und Kathy Porter miteinander. Sie waren ein paar Augenblicke später eingetroffen und hatten die Bahnhofshal le von der entgegengesetzten Seite betreten. Mylady hatte es sich nur mit Mühe versagen können, den bei den zuzuwinken. Jetzt nutzte sie die Wartezeit, um die Leistungs fähigkeit eines Hot-Dog-Standes zu testen, während Parker nach Marc Maple Ausschau hielt, der jeden Moment eintreffen mußte. Die resolute Lady schaffte noch ein weiteres Würstchen, bis der Butler registrierte, wie Mike Rander seiner Begleiterin eine Ziga rette anbot. Das war das vereinbarte Zeichen. Rander hatte den Geschäftsführer der Henderson Ltd. als erster entdeckt. Gleich darauf sah auch Parker die schlanke Gestalt im Trench coat näher kommen und machte Mylady diskret aufmerksam. Maple schien nervös. Zweimal wäre er fast mit Passanten zu sammengeprallt, weil er sich immer wieder nach vermeintlichen Verfolgern umsah. Den schwarzen Aktenkoffer hatte er unter den Arm geklemmt. Auf seinem Weg zu den Schließfächern kam der Firmenchef dicht an Lady Agatha und dem Butler vorbei. Obwohl Maple ein gehende Instruktionen erhalten hatte, fürchtete Parker, der unter sichtlichem Streß stehende Geschäftsführer könnte aus Versehen seine Verbündeten verraten. Daß er von den Erpressern lückenlos beschattet wurde, stand außer Frage. Aber Marc Maple war viel zu verwirrt. Er schritt vorbei, ohne das skurrile Paar am Hot-Dog-Stand zu bemerken. Ein freies Schließfach hatte der Firmenchef schnell gefunden. Rasch sah er sich nach allen Seiten um, ehe er die Tür öffnete und den Koffer hineinschob, in dem die Gangster fünfzigtausend Pfund in kleinen Scheinen vermuten mußten. Bevor Maple den Schlüssel umdrehte und abzog, tupfte er sich mit einem weißen Tuch die Schweißperlen von der Stirn und at mete tief durch. Anschließend trat er den Rückzug an.
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Aus wenigen Schritten Entfernung sahen Mike Rander und Kathy Porter, wie der Mann im Trenchcoat den Schließfachschlüssel in den angegebenen Papierkorb fallen ließ. Im Weggehen blickte er sich verstohlen um und hätte dabei fast die attraktive Kathy Por ter angerempelt. Da ihm die junge Dame aber ebenso wenig bekannt war wie ihr sportlich wirkender Begleiter, entschuldigte er sich nur kurz und setzte hastig seinen Weg in Richtung Ausgang fort. Minuten vergingen, bis der Butler auf einen Mann in Straßen kehrer-Montur aufmerksam wurde. Der untersetzte Mittvierziger schob einen zweirädrigen Karren vor sich her. Hie und da hob er mit einem langen Greifwerkzeug Plastiktüten und Getränkedosen vom Boden auf. Seine Hauptaufgabe schien jedoch darin zu bestehen, die allenthalben angebrachten Papier körbe zu leeren. Bei dieser Tätigkeit kam er auch dem Papierkorb immer näher, in den Marc Maple weisungsgemäß den Schließ fachschlüssel geworfen hatte. Mit routiniertem Griff hängte der Mann den blechernen Abfall behälter aus. In diesem Fall schüttete er den Inhalt jedoch nicht gleich in den kübelartigen Aufbau seines Karrens, sondern faßte vorher blitzschnell in den Papierkorb. Ein kleiner, blinkender Gegenstand verschwand in der Jackenta sche des Straßenkehrers. Anschließend leerte er den grell lackier ten Kasten, hängte ihn wieder an den angestammten Platz und setzte seinen Weg fort. Parker und Rander verständigten sich durch Blickkontakt. Lang sam setzten sich der Anwalt und seine Begleiterin in Bewegung. Vorsichtig folgten sie dem Mann mit dem Karren, der nun quer durch die Bahnhofshalle zockelte und die restlichen Papierkörbe unbeachtet ließ. Auch Lady Simpson und der Butler nahmen im lebhaften Ge dränge der Reisenden die Spur des Mannes auf, der kurz vor ei ner Anschlagtafel stehenblieb und dann die Gepäckausgabe an steuerte. Vor dem hellerleuchteten Schalter nahm eine Gruppe eifrig dis kutierender Japaner gerade ihre Koffer in Empfang. Keiner von ihnen beachtete den Straßenkehrer. Nur der breitschultrige Mitt vierziger im grauen Wettermantel, der links von der Gepäckaus gabe stand, sah ihm entgegen.
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Seinen braunen Filzhut hatte der Unbekannte tief in die Stirn gezogen. Die Hände waren in den ausgebeulten Manteltaschen vergraben. * Der Straßenkehrer war bis auf drei Schritte an den Unbekann ten im Wettermantel herangekommen. Im selben Moment, in dem er in seine Jackentasche griff, zog der Breitschultrige die rechte Hand heraus. Im Vorbeigehen nickten sich die Männer fast unmerklich zu. Daß der Schlüssel dabei den Besitzer wechselte, ahnte Parker nur. Einwandfrei auszumachen war es nicht. Wieder tauschten der Butler und der Anwalt Blicke der Verstän digung. Mike Rander und Kathy Porter blieben auf der Spur des Straßenkehrers. Agatha Simpson und Josuah Parker behielten den Mann mit dem braunen Filzhut im Auge. Eilig schien es der Unbekannte nicht zu haben. Gemächlich zog er eine Zeitung aus der Tasche und faltete sie auseinander. Dem Butler entging jedoch nicht, daß die Aufmerksamkeit des Mannes überwiegend seiner Umgebung galt. Der Inhalt des Blattes schien ihn weit weniger zu interessieren. Es dauerte vier Minuten, die Lady Agathas Geduld auf eine harte Probe stellten, bis der Breitschultrige die Zeitung wieder weg steckte und sich in Bewegung setzte. In weitem Bogen schlenderte er durch die geräumige Bahnhofs halle und studierte Fahrpläne und Geschäftsauslagen, ehe er sich dem langen Block der Schließfächer am Nordausgang näherte. »Sobald der Lümmel den Schlüssel ins Schloß steckt, stelle ich ihn auf frischer Tat, Mister Parker«, teilte die Detektivin mit. Der perlenbestickte Pompadour am Handgelenk der resoluten Dame wippte schon unternehmungslustig. Der lederne Beutel enthielt Myladys sogenannten Glücksbringer, ein veritables Hufei sen, das von einem stämmigen Brauereigaul stammte. Diesen Glücksbringer, der aus humanitären Gründen in eine dünne Lage Schaumstoff gewickelt war, wußte sie ebenso überraschend wie zielsicher einzusetzen.
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»Eine Festnahme an diesem Ort dürfte beträchtliches Aufsehen erregen, falls der Hinweis erlaubt ist, Mylady«, gab Parker mit gedämpfter Stimme zu bedenken. »Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen«, entgegnete die passionierte Detektivin. »Überlegen Sie sich schon mal, wie Sie den Schurken unbemerkt hier rausschaffen, sobald ich ihn über wältigt habe, Mister Parker.« »Eine Aufgabe, der man sich selbstverständlich stellen wird, so fern Mylady darauf bestehen«, antwortete der Butler. »Anderer seits dürften Mylady auch erwägen, die Festnahme für kurze Zeit aufzuschieben.« »Was verspreche ich mir davon, Mister Parker?« wollte die älte re Dame wissen. »Bei dem Herrn im grauen Wettermantel dürfte es sich um ei nen untergeordneten Befehlsempfänger handeln, Mylady.« »Als ob ich das nicht wüßte, Mister Parker!« »Ein Umstand, der meiner Wenigkeit durchaus bewußt ist«, er widerte Parker höflich. »Um so eher dürften Mylady daran inte ressiert sein, den Drahtziehern des Verbrechens das Handwerk zu legen.« »Selbstverständlich, Mister Parker. Trotzdem kann ich den Lümmel mit den fünfzigtausend Pfund nicht einfach entwischen lassen.« »Was man auch keinesfalls anregen wollte, Mylady. Im übrigen ist unter Umständen der Hinweis genehm, daß Mister Maples Kof fer statt der geforderten fünfzigtausend Pfund nur wertloses Pa pier enthält.« Die Detektivin schien irritiert. »Natürlich ist mein taktisches Konzept flexibel gestaltet und sieht auch andere Möglichkeiten als die sofortige Festnahme vor, Mister Parker«, zeigte Lady Agatha Bereitschaft zum Einlenken. »Raten Sie mal, an welche Variante ich gerade denke.« »Mylady dürften sich für eine Beschattung des Unbekannten entschieden haben, falls man sich nicht gründlich täuscht«, fing Parker den Ball auf, den seine Herrin ihm zugespielt hatte. »Dar an dürften Mylady die Hoffnung knüpfen, näher an die Auftragge ber herangeführt zu werden.« »Gut aufgepaßt, Mister Parker«, lobte die ältere Dame. »Meine Versuche, Ihnen etwas beizubringen, waren also doch nicht um sonst.«
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»Man dankt für dieses Lob und wird sich in Zukunft verstärkt bemühen, Myladys strahlendem Vorbild nachzueifern«, versicher te der Butler in seiner unerschütterlichen Höflichkeit. Während des Gesprächs mit seiner Herrin hatte Parker den Un bekannten im grauen Wettermantel keine Sekunde aus den Au gen gelassen. Gerade hatte der Mann die Gepäckschließfächer erreicht und zog den kleinen Schlüssel aus der Tasche. * Kurz vor dem Ziel blieb der Breitschultrige noch mal stehen und ließ unauffällig seine Blicke schweifen. Momentan schien es nichts zu geben, das ihn beunruhigte. Bevor er sich endgültig dem Schließfach mit Marc Maples Aktenkoffer zuwandte, zog der Mann jedoch eine dunkle Sonnenbrille heraus und setzte sie rasch auf. »Jetzt!« Mylady bebte förmlich vor Tatendrang, als der Unbe kannte endlich die Schlüssel ins Schloß schob. Der wohlgefüllte Pompadour am Arm der älteren Dame zappelte, als wollte er sich selbständig machen. Lässig zog der Gangster den schwarzen Aktenkoffer aus dem Fach, ließ die Tür offenstehen und machte auf dem Absatz kehrt. So gemächlich er bisher agiert hatte, so zielstrebig zeigte er sich jetzt. Mit weit ausgreifenden Schritten durchquerte der Mann zügig die Bahnhofshalle. Agatha Simpson, die ihre wogende Fülle an Parkers Seite durch die immer noch dichten Pulks der Reisenden bugsierte, hatte eindeutig Mühe, dem Mann mit der dunklen Brille zu folgen. »Das grenzt ja schon an Leistungssport, Mister Parker«, be schwerte sie sich schnaufend, hielt aber tapfer durch. Inzwischen war klar, daß der Geldbote des unbekannten Erpres sers nicht die Absicht hatte, einen der Ausgänge zur Straße zu benutzen. Auf kürzestem Weg steuerte er die Rolltreppen an, die zu den verschiedenen Bahnsteigen der Untergrundbahn führten. An der Haltestelle der »Circle Line« warteten nur wenige Fahr gäste, die in östlicher Richtung fahren wollten. Unbeachtet schlenderte der Gangster mit dem Aktenkoffer am Bahnsteigrand entlang.«
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»Der nächste Zug dürfte in wenigen Sekunden einlaufen, Myla dy«, meldete Parker, als das skurrile Paar wenig später mit der Rolltreppe unten eintraf. Das Dröhnen der nahenden Bahn war schon deutlich zu ver nehmen. Ein böiger Wind schoß aus dem schwarzen Tunnelloch. Gleich darauf tauchten die Lichter des Triebwagens in der Röhre auf. Mit kreischenden Bremsen kam der U-Bahn-Zug zum Stehen. Kaum hatten sich die automatischen Türen geöffnet, war der Breitschultrige auch schon im ersten Wagen. Drei Türen weiter assistierte der Butler Mylady diskret beim Einsteigen. Das Unterfangen erwies sich als nicht ganz unproble matisch, gelang dann aber doch. Allerdings in letzter Sekunde. Die hydraulisch gesteuerten Schiebetüren hatten sich schon wieder in Bewegung gesetzt, als Parker mit letzter Kraftanstrengung seine Herrin ins Abteil hievte. Augenblicke später waren die Türen geschlossen und der Zug setzte sich in Bewegung. »Das ist ja der Gipfel der Unverschämtheit«, grollte die resolute Lady unvermittelt, während draußen die letzten Lichter des Bahn steigs vorbeiflogen. »Ich werde mich persönlich beim Verkehrs minister beschweren.« Verbissen zerrte Mylady an den ledernen Tragriemen ihres Pompadours, aber alle Anstrengung half nichts: Der Beutel war in der Eile draußen geblieben und schaukelte im Fahrtwind. Ihn zwi schen den dicht schließenden Gummilippen der Türen nach innen zu ziehen, erwies sich als unmöglich. »Bedauerlicherweise werden Mylady sich gedulden müssen, bis an der nächsten Station die Türen wieder geöffnet werden«, teilte Parker mit. Seine Stimme klang fast teilnahmslos. In dem glat ten, alterslos wirkenden Gesicht unter dem schwarzen Bowler regte sich keine Miene. »Und wenn sich der Lümmel mit dem Geldkoffer inzwischen ir gendwo versteckt?« reagierte Agatha Simpson mürrisch. »Falls Mylady keine Einwände erheben, würde meine Wenigkeit sich unverzüglich in den benachbarten Waggon begeben, um den fraglichen Herrn diskret zu observieren«, schlug der Butler vor. »Eine andere Möglichkeit gibt es ja nicht«, räumte die ältere Dame widerstrebend ein. Ehe sie den Verlust ihres Glücksbringers in Kauf nahm, hätte sie schon eher den Gangster laufen lassen.
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Gemessenen Schrittes begab Parker sich durch den Verbin dungsgang in den nächsten Wagen und hielt nach dem Mann mit der dunklen Brille Ausschau. Doch zunächst war die Suche ver geblich. Zwei Waggons weiter entdeckte der Butler schließlich den dun kelbraunen Filzhut. Sein Träger hatte sich bisher nicht die Zeit zum Hinsetzen genommen. Er war während der wenigen Fahrmi nuten weitergegangen und stand wieder dicht an einer Tür. Der Waggon war fast leer. Deshalb wurde der Mann mit dem Koffer zwangsläufig aufmerksam, als der schwarzgewandte Butler sich in würdevoller Haltung näherte. Er schöpfte jedoch keinen Verdacht und wandte den Blick gleich wieder nach draußen. Hinter den Türscheiben tauchten jetzt die Lichter und Reklame tafeln der Station »St. James Park« auf. Bremsen quietschten. Ein Ruck ging durch die Reihe der Waggons. Der Zug stand. Allem Anschein nach hatte der Unbekannte die Absicht, hier auszusteigen, um seinen Weg mit anderen Verkehrsmitteln fort zusetzen. Parker mußte sich entscheiden. Gern wäre der Butler dem Gangster unauffällig gefolgt, doch, dazu hätte er seine Her rin in der Untergrundbahn zurücklassen müssen, und das kam für ihn nicht in Frage. Also mußte der Breitschultrige überredet wer den, auf Mylady zu warten. * Als der Mann im grauen Wettermantel auf den Bahnsteig trat, war Parker bereits dicht hinter ihm. Im Gehen hatte er den altvä terlich gebundenen Universal-Regenschirm mit einer ruckartigen Bewegung vom angewinkelten Unterarm senkrecht in die Höhe steigen lassen. Die bleigefüllte Spitze in der schwarzbehandschuhten Rechten, ließ der Butler den gebogenen Bambusgriff dicht über dem Boden gleiten. Der Geldbote stieß ein überraschtes Grunzen aus, als der Griff des Regendachs sich unversehens um seine Knöchel ringelte und ihm buchstäblich die Beine unter dem Leib wegriß. Zwangsläufig kam der Mann aus dem Tritt und verlor das Gleichgewicht. Da der aufrechte Gang ihm schier unüberwindliche Schwierig keiten bereitete, gab der Kofferträger spontan seiner Neigung
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nach und entschied sich für einen Gleitflug. In blindem Eifer un terschätzte er jedoch den störenden Einfluß der Schwerkraft be trächtlich und setzte etwas unsanft auf der Betonpiste auf. Die Landung nach kurzem Schwebezustand beanspruchte die volle Aufmerksamkeit des unerfahrenen Fliegers. Deshalb entle digte er sich unverzüglich des hinderlichen Koffers. Ein kurzläufi ger Revolver, der in seiner Schulterhalfter gesteckt hatte, und die dunkle Brille flogen hinterher. Obwohl kurz vor Mitternacht nur noch wenige Londoner unter wegs waren, bildete sich rasch ein Kreis von Neugierigen um den stämmigen Bruchpiloten, der sich nach den Strapazen des Fluges erst mal eine Verschnaufpause gönnen wollte. Parker schaffte es allerdings, die Waffe des Unbekannten in ei ner Tasche seines schwarzen Covercoats verschwinden zu lassen, bevor jemand aufmerksam wurde. Schon erschollen Rufe nach einem Arzt und drangen auch an das Ohr der passionierten Detektivin, die zwei Waggons weiter in der offenen Tür stand und ihren unversehrt geretteten Pompa dour streichelte. Agatha Simpson erfaßte die Situation mit einem Blick und… stieg aus, bevor die Schiebetüren sich wieder schlos sen und der U-Bahn-Zug anrollte. »Platz da!« verlangte Lady Agatha und drängelte sich in die Mit te des Kreises. Die Proteste der Umstehenden beeindruckten sie nicht im geringsten. »Ich bin Ärztin und werde mich um den „Verletzten" kümmern«, behauptete die ältere Dame, ohne mit der Wimper zu zucken. »Mister Parker ist mein Assistent und wird mir nötigenfalls zur Hand gehen.« Der überwiegende Teil der Neugierigen gab sich mit dieser Er klärung zufrieden und kam der forschen Aufforderung zum Wei tergehen unverzüglich nach. Einige wenige blieben stehen und schienen fest entschlossen, sich das ärztliche Wirken auf dem nächtlichen Bahnsteig nicht entgehen zu lassen. »Geben Sie dem Mann etwas, damit er erst mal auf die Beine kommt, Mister Parker«, ordnete die selbsternannte Unfallärztin an. »Bis zu meiner Praxis ist es nicht weit. Dort werde ich ihn gründlich untersuchen und weiterbehandeln.« »Wie Mylady zu wünschen belieben«, erwiderte der Butler, beugte sich zu dem verhalten stöhnenden Unbekannten hinunter und drehte ihn behutsam auf den Rücken. Parker registrierte, daß
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der Patient die kurze Benommenheit schon überwunden hatte und auf dem Weg war, in die schmerzhafte Realität zurückzukehren. Deshalb ließ der Butler das Fläschchen mit dem Riechsalz stecken und holte dafür eine kleine Sprühdose aus einer der vielen Ta schen seines schwarzen Covercoats. Der kleine Aluminiumzylinder enthielt ein Betäubungsmittel pflanzlicher Herkunft, das rasch und zuverlässig wirkte, ohne schädliche Nebenwirkungen zu zeigen. Nur für Sekundenbruchtei le hielt Parker dem erwachenden Gangster die Spraydose unter die Nase und ließ ihn an dem feinen Nebel schnuppern. Dadurch entfaltete das Mittel keine betäubende, sondern ledig lich eine beruhigende Wirkung. Mit Bedacht hatte der Butler die Dosis so bemessen, daß der Gangster mit seiner Hilfe wieder auf die Beine kam, aber keinerlei Neigung zu aggressiven Reaktionen zeigte. Nach diesem offensichtlichen Erfolg der Erstbehandlung am Un fallort zerstreuten sich auch die letzten Neugierigen. »Möglicherweise darf man sich erlauben, Ihnen eine helfende Hand anzubieten, Sir«, sagte Parker in seiner stets höflichen Art und faßte den Mann, dessen Knie immer wieder einzuknicken drohten, links unter. Agatha Simpson nahm den erschöpft wir kenden Patienten von rechts in die Zange. So ging man über die Rolltreppen hinauf zum Ausgang. * »Jetzt kommt es nur noch darauf an, daß ich den Schurken so lange verhöre, bis er seinen Auftraggeber preisgibt«, bemerkte die passionierte Detektivin selbstzufrieden, als man das Kopfende der Rolltreppe erreicht hatte. »Darf man vermuten, daß Mylady die Möglichkeiten zu nutzen beabsichtigen, die die Gastzimmer in Shepherd’s Market bieten?« vergewisserte sich der Butler. »Natürlich, Mister Parker«, nickte die energische Lady. »Hof fentlich haben Sie einen akzeptablen Vorschlag, wie ich diesen Waschlappen von Gangster dorthin bekomme. Ich kann den Lümmel doch nicht durch die halbe Stadt schleppen.«
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»Mylady dürften sich einer öffentlichen Kraftdroschke bedienen, falls man nicht sehr irrt«, machte Parker auf die naheliegende Möglichkeit aufmerksam, ein Taxi zu nehmen. »Das wollte ich in der Tat soeben, Mister Parker«, griff Agatha Simpson den Vorschlag auf und beabsichtigte, auf die Straße zu stürmen, wo mehrere Taxis warteten. Doch dem Butler gelang es, seine Herrin noch einen Moment zurückzuhalten. Wenn der Geldbote von Anfang an vorgehabt hatte, die U-Bahn schon nach einer Station wieder zu verlassen, mußte man damit rechnen, daß er hier von Komplicen erwartet wurde. Und die wür den vermutlich alles daransetzen, den Breitschultrigen aus der Hand des skurrilen Paares zu befreien. Außer drei Taxis standen noch mehrere Privatwagen in unmit telbarer Nähe des U-Bahn-Ausgangs, wie der Butler bei einem prüfenden Blick nach draußen feststellte. Passanten waren nicht auf der Straße, aber falls der Mann im grauen Wettermantel wirk lich hier erwartet wurde, würden die Männer vermutlich sowieso in einem der Autos sitzen, wo sie wegen der Dunkelheit nicht auszumachen waren. Bis zum nächsten Taxi waren es nur wenige Schritte. Das Risi ko, auf diesem kurzen Weg belästigt zu werden, erschien Parker gering, zumal mit spontanem Schußwaffengebrauch kaum zu rechnen war. Auf ein Zeichen setzte sich das Trio wieder in Bewegung. Se kunden später war das Fahrzeug erreicht. Mit einer Verbeugung riß der Butler den Wagenschlag auf und ließ zunächst die ältere Dame, dann den immer noch benommen wirkenden Gangster einsteigen. In diesem Augenblick flogen gleichzeitig die Türen einer zwanzig Schritt entfernt stehenden Limousine amerikanischer Bauart auf. Zwei durchtrainiert wirkende junge Männer glitten heraus und kamen mit ausgesprochen hastigen Schritten näher. »Victoria Station«, wies Parker den Taxifahrer an, zwängte sich noch als dritter in den Fond und zog die Tür zu. Durchs Rückfenster der anfahrenden Droschke registrierte der Butler, wie die athletisch gebauten Jünglinge auf dem Absatz kehrtmachten und im Laufschritt zu ihrem dunkelblauen Chrysler zurückkehrten. Gleich darauf flammten die Lichter des Wagens auf und kamen zügig näher. Schon nach wenigen hundert Metern Fahrt lag der Straßenkreuzer dichtauf.
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»Wieso denn Victoria Station, Mister Parker?« wunderte sich La dy Simpson. »Ich wollte den Lümmel doch nach Shepherd’s Mar ket bringen.« »Meine Wenigkeit war der Ansicht, Mylady würden in Victoria Station in Myladys Privatwagen umsteigen, der dort bereitstehen dürfte«, erwiderte der Butler. »Eine vernünftige Idee«, nickte die Detektivin. »Das hält die Taxikosten im Rahmen.« Josuah Parker hatte allerdings weniger an die Taxikosten ge dacht, als er sich entschied, zum hochbeinigen Monstrum zurück zukehren, das in der Nähe des Bahnhofs parkte. Aber wenn es sich vermeiden ließ, wollte er den Komplicen des Geldboten nicht den Weg zu Lady Agathas altehrwürdigem Fachwerkhaus weisen. Die Verfolger unterwegs abzuhängen, wäre ohnehin kaum mög lich gewesen. Der Taxifahrer war ein älterer, besonnen wirkender Mann, dem bestimmt nicht der Sinn nach derartigen Abenteuern stand. Außerdem war das Taxi dem Chrysler an PS unterlegen, so daß – abgesehen von guten Worten – auch Geld nicht viel gehol fen hätte. Wenn es darum ging, Verfolgern ihre Aufgabe so schwer wie möglich zu machen, bot Parkers altertümlich wirkendes Gefährt entschieden die besseren Möglichkeiten. Kritischer Punkt war nur das Umsteigen vom Taxi in die »Trick kiste auf Rädern«, wie Parkers Vehikel ehrfürchtig genannt wur de. Aber in der auch um Mitternacht noch belebten Umgebung des Bahnhofs würden es die Gangster wohl nicht wagen, Schuß waffen einzusetzen, die sie mit Sicherheit bei sich trugen. Geschickt dirigierte der Butler das Taxi so neben sein hochbei niges Monstrum, daß der Aufbau des Mietwagens als Schutz dien te. Prompt wollten die Komplicen des Breitschultrigen ihre schwere Limousine hinter dem Taxi zum Stehen bringen. Ein wütendes Hupkonzert nachfolgender Autofahrer sorgte jedoch, dafür, daß sie von diesem Vorhaben Abstand nahmen. Fluchend fuhren die Gangster weiter und hielten verzweifelt nach einer Parklücke Ausschau. Ehe die Männer den Platz gefun den hatten, wo sie ihren Straßenkreuzer abstellen konnten, waren Lady Simpson und der Patient schon in den Fond des hochbeini gen Monstrums hinübergewechselt. Gewissenhaft entlohnte Par ker den Fahrer und begab sich anschließend ans Steuer.
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Wieder mußten die durchtrainiert wirkenden Chrysler-Fahrer auf dem Absatz kehrtmachen, nachdem sie ihr Fahrzeug gerade ver lassen hatten. In wilder Hast spurteten sie zum Wagen zurück, während Parker sich in den Verkehr einfädelte. »Auf Draht sind die Gangster nicht gerade, Mister Parker«, be merkte Lady Simpson wenige Sekunden später. Mißmutig tönte ihre Stimme aus der Sprechanlage, die den schußsicher verglas ten Fond mit dem Fahrerplatz verband. »Darf man gegebenenfalls um Auskunft bitten, was Mylady zu dieser Feststellung veranlaßt?« fragte der Butler. »Der Bande müßte doch längst aufgefallen sein, daß ich ihren Geldboten abgefangen habe. Warum werde ich dann nicht we nigstens verfolgt?« beklagte sich Mylady. »Möglicherweise ist es gestattet, Mylady auf einen zwar gering fügigen, aber keineswegs belanglosen Irrtum hinzuweisen«, ließ Parker sich mit unbewegter Miene vernehmen. Dabei registrierte er im Rückspiegel, wie der Chrysler aus der Parklücke ausscherte und rasch Fahrt aufnahm. »Wollen Sie damit etwa andeuten, daß ich doch verfolgt werde, Mister Parker?« erkundigte sich die resolute Dame hoffnungsvoll. »Nichts anderes gedachte meine bescheidene Wenigkeit mitzu teilen, Mylady.« »Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht«, tat die passio nierte Detektivin lächelnd kund. »Der hellbraune Mercedes mit den vier Männern kam mir natürlich sofort verdächtig vor.« »Meine Wenigkeit hatte eher einen mit zwei Männern besetzten Chrysler von dunkelblauer Farbe im Auge, falls der Hinweis er laubt ist, Mylady.« »Den meinte ich natürlich auch, Mister Parker«, behauptete A gatha Simpson postwendend. »Heutzutage gleichen sich die Auto typen ja wie ein Ei dem anderen.« »Eine Feststellung, der man keineswegs widersprechen möch te«, entgegnete Parker in seiner höflichen Art. »Darf man bei die ser Gelegenheit unter Umständen die Frage anschließen, wie My lady mit den Herren im Chrysler zu verfahren gedenken?« »Einen Denkzettel haben die Lümmel auf jeden Fall verdient, Mister Parker«, entschied die Detektivin. »Ich hoffe, Sie lassen sich etwas Hübsches einfallen.« »Am notwendigen Bemühen wird man es keinesfalls fehlen las sen, Mylady.«
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»Aber das ist noch nicht alles, Mister Parker«, fuhr die ältere Dame fort. »Anschließend werde ich mir die Subjekte noch per sönlich vorknöpfen.« »Mylady geruhen, an eine Vernehmung der Herren zu denken?« vergewisserte sich der Butler. »Warum nicht?« gab Agatha Simpson mit spitzbübischem Lä cheln zurück. »Falls der schlappe Geldbote die Vernehmung nicht durchstehen sollte, habe ich immer noch zwei Reservisten, mit denen ich weitermachen kann.« »Wie Mylady zu wünschen geruhen«, antwortete Parker. Viel leicht War es wirklich keine schlechte Idee, auch die Komplicen des Breitschultrigen in den Genuß von Myladys Gastfreundschaft kommen zu lassen. Daß sich ein Delinquent durch Vernehmungs unfähigkeit der Befragung entzog, kam bei Lady Simpsons eigen willigen Verhörmethoden nicht gerade selten vor. * Die Gangster glaubten, mit Parkers schwerfällig wirkenden Ve hikel leichtes Spiel zu haben. Äußerlich wirkte der schwarze Kas ten wie ein hochbetagtes Londoner Taxi. In der Tat hatte der Wa gen während seiner Dienstjahre zahllose Fahrgäste brav durch die Themse-Metropole geschaukelt. Das war aber nur die halbe Wahrheit. Seit der Butler das Fahrzeug erworben und nach seinen Vorstel lungen umgebaut hatte, verfügte das altertümliche Gefährt über ein hochbeiniges Spezialfahrwerk und ein bulliges Zusatztrieb werk unter der eckigen Haube. Schußsichere Panzerung machte den Aufbau zu einer nahezu uneinnehmbaren Festung. Parker hatte den Wagen mit einer Reihe von Abwehrvorrichtun gen ausgerüstet, die auch den hartnäckigsten Verfolger zur Ver zweiflung trieben. Kipphebel am Armaturenbrett dienten dazu, diese Überraschungseffekte auszulösen. Um die technischen Möglichkeiten seines hochbeinigen Monst rums voll ausspielen zu können, mußte der Butler die Verfolger zunächst in ein weniger belebtes Stadtviertel locken. Dieses Vor haben erwies sich als völlig problemlos, weil die Insassen des Chryslers mittlerweile derart in Wut geraten waren, daß sie die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließen.
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Mit teilnahmslos wirkender Miene aber ständig wachen Sinnen spielte Josuah Parker das gehetzte Wild, um den Jagdtrieb der Männer anzustacheln. Mal ließ er den Chrysler dicht aufschließen, dann wieder erlaubte er dem vielpferdigen Renntriebwerk, seine Muskeln spielen zu lassen. Die Gangster glaubten, ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als der Butler zum erstenmal die Spurtstärke des schwarzen Kastens demonstrierte. Ein Beben lief durch die stahlgepanzerte Karosse rie, während die Zusatzmaschine dumpf aufröhrte und den Wa gen regelrecht nach vorn katapultierte. Wie ein Besessener stemmte sich der Chrysler-Lenker ins Gas pedal und holte aus der Maschine heraus, was drinsteckte. Das half ihm jedoch ebenso wenig wie die wütenden Anfeuerungsrufe des Beifahrers. Der Abstand zwischen den Fahrzeugen verkürzte sich erst, als Parker Gas wegnahm, damit die Verfolger ihn nicht ganz aus den Augen verloren. Sofort schöpften die Gangster neue Hoffnung, aber ihrem verzweifelten Bemühen, das eckige Gefährt zu über holen, um es anschließend zu stoppen, blieb der Erfolg versagt. Der Streß, unter dem der Chrysler-Fahrer ohnehin stand, ver stärkte sich erheblich, als der Butler an der nächsten Kreuzung seinen Wagen scharf bremste und unvermittelt nach rechts ab bog. Durch hektisches Kurbeln am Lenkrad versuchte der Mann, den Richtungswechsel nachzuvollziehen. Doch dem optimal abge stimmten Spezialfahrwerk des hochbeinigen Monstrums hatte der dunkelblaue Straßenkreuzer nichts gleichwertiges entgegenzuset zen. Die Folge war, daß das Abbiegemanöver nicht ganz reibungslos verlief. Mitten auf der Kreuzung brach der schwere Wagen aus und schlitterte seitwärts über das Pflaster. Trotzig verweigerte das Fahrzeug seinem schwitzenden Lenker den Gehorsam, holperte rumpelnd über eine Verkehrsinsel und ließ sich erst durch den stählernen Mast einer Ampel stoppen. Daß dabei der linke Scheinwerfer und diverse Chromteile Scha den nahmen, schien die Insassen nicht weiter zu stören. Fluchend rangierte der Fahrer die lädierte Limousine wieder auf die Fahr bahn zurück und nahm erneut die Spur des hochbeinigen Monst rums auf.
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Josuah Parker war es durchaus recht, daß die Verfolger sich nicht so schnell entmutigen ließen. Gerade hatte man ein stilles Stadtviertel erreicht, in dessen schmalen Straßen er sich ebenso lückenlos auskannte wie in den unergründlichen Taschen seines schwarzen Covercoats. Die nächtlich verlassene Gasse zwischen leerstehenden Fabrikgebäuden, in der er die Gangster stellen wollte, war nicht mehr weit. Bisher war die Aktion planmäßig verlaufen, doch plötzlich regist rierte der Butler im Rückspiegel hinter dem Chrysler ein zweites Scheinwerferpaar. Der Wagen mußte unbeleuchtet am Rand der Kreuzung gestan den haben. Daß es sich um Komplicen der Gangster handelte, war ausgesprochen unwahrscheinlich. Was Parker bereits ahnte, wurde Sekunden später Gewißheit, als eine Polizeisirene jaulte: In dem Wagen, der nun die Verfolger verfolgte, saßen Bobbies, die an der Kreuzung auf Verkehrssün der gelauert hatten. »Was ist das für ein gräßlicher Lärm, Mister Parker?« beschwer te sich Lady Simpson. »Das klingt ja fast wie eine Polizeisirene.« »Mylady haben – wie es im Volksmund trefflich heißt – den Na gel auf den Kopf getroffen«, bestätigte der Butler. »Ein unglückli cher Zufall, wenn man es mal so nennen darf.« »Und wen verfolgen die Schnüffelnasen, Mister Parker?« wollte die Detektivin wissen. »Meine Verfolger oder etwa mich?« »Das vorrangige Interesse der Polizei dürfte fraglos den Herren im dunkelblauen Chrysler gelten, Mylady«, teilte der Butler mit. »Das kommt mir aber ausgesprochen ungelegen, Mister Par ker.« »Noch ungelegener dürfte es Myladys Verfolgern erscheinen, falls die Anmerkung erlaubt ist.« »Den Lümmeln geschieht es aber recht, Mister Parker«, entgeg nete die ältere Dame mitleidslos. »Darf man auf Auskunft hoffen, wie Mylady auf die veränderten Umstände zu reagieren gedenken?« fragte der Butler, ohne den Blick vom Rückspiegel zu nehmen. »Schlagen Sie mir etwas Hübsches vor, Mister Parker«, ermun terte Agatha Simpson ihn. »Kann und muß man davon ausgehen, daß Mylady an der Ab sicht festhalten, die Chrysler-Insassen nach Shepherd’s Market zu bringen?«
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»Warum denn nicht, Mister Parker?« »Gegen ein solches Verfahren dürfte die Polizei lebhaften Ein spruch erheben, sofern man sich nicht gründlich täuscht, Myla dy.« »Die ganze Unterwelt zittert vor mir, Mister Parker. Und da glauben Sie, ich könnte es nicht mit ein paar Polizisten aufneh men?« »Nicht im Traum würde es meiner Wenigkeit einfallen, an Myla dys kämpferischer Überlegenheit zu zweifeln«, erwiderte Parker mit der undurchdringlichen Miene eines professionellen Pokerspie lers. »Dennoch gestattet man sich unter Umständen den Hinweis auf gewisse rechtliche Konsequenzen.« »Na und?« reagierte die passionierte Detektivin trotzig. »Mylady dürften mit unabweisbaren SchadensersatzForderungen zu rechnen haben.« Parker hatte den empfindsamen Nerv seiner Herrin getroffen. »Dann werde ich eben aus dem verschlafenen Geldboten alles herausholen, was ich wissen will«, lenkte Lady Agatha ein. Dabei streifte sie den Gangster, der unbekümmert an ihrer Seite schlummerte, mit verächtlichem Blick. »Ein Entschluß, der für Myladys taktische Flexibilität spricht«, merkte der Butler höflich an. »Aber ihren Denkzettel sollen die zudringlichen Flegel dennoch von mir erhalten«, machte die resolute Lady klar. »Die Polizei ist da meistens zu zimperlich.« »Eine Feststellung, der man nicht unbedingt widersprechen möchte, Mylady«, erwiderte Parker und zog sein hochbeiniges Gefährt auf wimmernden Pneus um die Straßenecke. Diesmal hatte der Chrysler-Fahrer weniger Mühe zu folgen, ob wohl die Doppelrolle als Flüchtling und Verfolger ihn die letzten Nerven kostete. Wenig später tauchte auch der Polizeiwagen, dessen Fahrer tapfer mithielt, wieder im Rückspiegel auf. Noch eine Ecke war zu nehmen, dann hatte man die Mausefalle erreicht, in der Parker den Polizisten eine leichte Beute servieren wollte. *
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»Ihr Fahrstil ist ein Skandal, Mister Parker!« Lady Simpson war wütend, als der Butler in rasantem Tempo in die schmale Gasse zwischen den hohen Fabrikmauern einbog. Unaufhaltsam folgte ihre wogende Körperfülle der Zentrifugalkraft und begrub den leise schnarchenden Gangster unter sich. »Man bittet um Nachsicht, Mylady«, sagte Parker und bremste sein hochbeiniges Gefährt. Das entnervende Geheul der Polizeisirene im Rücken, schien der Chrysler-Fahrer unschlüssig, ob er die Verfolgung fortsetzen oder einfach sein Heil in der Flucht suchen sollte. Hätte er das Schild »Sackgasse« an der Hausecke bemerkt, hätte der Mann seinen Entschluß möglicherweise noch geändert. Doch als er in diesem Moment auch aus der Gegenrichtung ein Scheinwerferpaar auf sich zukommen sah und das Gejaul einer zweiten Sirene an sein Ohr drang, wählte der Gangster, was er für das kleinere Übel hielt. Um nicht zwischen zwei Streifenwagen eingekeilt zu werden, riß der Chrysler-Fahrer das Lenkrad herum und folgte den roten Schlußlichtern des hochbeinigen Monstrums. Das Sackgassenschild hatte man nicht ohne Grund an der Ein mündung angebracht. Zwar lief die gepflasterte Gasse schnurge rade zwischen den verlassenen Fabrikhöfen hindurch und führte nach schätzungsweise dreihundert Metern auf eine Parallelstraße, aber auf halber Strecke war die holprige Fahrbahn durch ein paar breite Steinstufen unterbrochen, die für jedes normale Auto ein unüberwindliches Hindernis darstellten. »Man sieht sich genötigt, erneut um Nachsicht zu bitten, Myla dy«, teilte Parker über die Sprechanlage mit, die die Panzerglas scheibe zwischen Fahrerplatz und Fond überbrückte. Anschließend bremste er sein altertümliches Gefährt und ließ es so sanft wie möglich die Stufen hinabhüpfen. Kreischend wie ein Teenager auf der Achterbahn stemmte Agat ha Simpson sich gegen die Trennscheibe, als sich Parkers Gefährt beängstigend nach vorn neigte und sie vom Sitz zu rutschen drohte. Doch das hochbeinige Monstrum absolvierte diese nicht alltägliche Prüfung mit Bravour. Sekunden später hatte der Wagen wieder ebene Fahrbahn unter den Rädern und rollte gemächlich weiter. Dem völlig entnervten Lenker des Straßenkreuzers lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ihm schlagartig bewußt wurde, worauf
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er sich da eingelassen hatte. Instinktiv trat der Mann auf die Bremse, um sein nicht gerade geländetaugliches Fahrzeug vor der Treppe zum Stehen zu bringen. Zu seinem Leidwesen entpuppte sich das Kopfsteinpflaster dabei jedoch als Rutschbahn. Unaufhaltsam glitt der dunkelblaue Chrys ler auf blockierenden Rädern der Treppe entgegen. Möglicherweise hätte der Bremsweg sogar noch gereicht, aber in diesem Augenblick tauchte der erste Polizeiwagen in der Gasse auf. Für die überstrapazierten Nerven des Gangsters war das ent schieden zu viel. In einer Art Kurzschlußreaktion nahm er den Fuß von der Brem se und gab statt dessen Gas. Damit trat der Mann jedoch nur den Beweis an, daß die schwere Limousine nicht über die nötige Bo denfreiheit verfügte. Das mißhandelte Bodenblech produzierte ein gräßliches Krei schen, als der Wagen auf dem oberen Treppenabsatz ziemlich abrupt zum Stehen kam. Gleichzeitig ließ Parker sein schwarzes Vehikel ausrollen, um der passionierten Detektivin einen ungestörten Blick durchs Rückfens ter zu ermöglichen. Dem ohnehin schon lädierten Straßenkreuzer war der Treppen test nicht besonders gut bekommen. Wenn Mylady schadenfroh bemerkte, der Wagen mache einen regelrecht geknickten Ein druck, so war das durchaus wörtlich zu verstehen. Dem grauen Granit der obersten Stufe war das Fahrgestell der dunkelblauen Limousine nicht gewachsen gewesen. Der schwere Wagen lag manövrierunfähig mit dem Bodenblech auf der Kante und ließ traurig die chromverzierte Schnauze hängen, die noch die häßlichen Spuren des ungestümen Kontakts mit der Ver kehrsampel trug. Die Chrysler-Insassen schien nach dieser Bruchlandung der Ta tendrang endgültig verlassen zu haben. Die Türen des Straßen kreuzers blieben geschlossen. Im Rückspiegel registrierte der Butler noch, wie vier Polizisten den Wagen umstellten und an den Griffen der offensichtlich ver klemmten Türen rüttelten. Myladys Anweisung war ausgeführt. Die Verfolger hatten ihren Denkzettel erhalten. Gemächlich ließ Parker sein schwarzes Vehikel anrollen und schlug an der nächsten Kreuzung die Richtung nach Shepherd’s Market ein.
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* Das Viertel stellte inmitten des hektischen Großstadtgetriebes eine Oase der Ruhe dar. Nicht mal störende Nachbarn gab es. Sie hatten nach und nach das sprichwörtliche Weite gesucht, weil das Steckenpferd der resoluten Lady über ihre Nervenkräfte ging. So hatte Agatha Simpson die Anwesen günstig erworben, um sie leer stehen zu lassen. Deshalb war es ungewöhnlich, daß am Straßenrand vor Lady Simpsons Fachwerkhaus ein Auto parkte. Allerdings war es kein fremder Wagen. Schon von weitem erkannte Parker, daß es sich um Mike Randers dunkelblauen Austin handelte. Der Anwalt und seine attraktive Begleiterin hatten im Wagen gewartet. Jetzt kamen sie Arm in Arm die Einfahrt herauf, wäh rend Josuah Parker sein hochbeiniges Monstrum auf dem Vorplatz ausrollen ließ. »Wenigstens haben Sie einen Fahrgast mitgebracht, Parker«, begrüßte Rander den Butler. »Sollte man aus dieser Äußerung schließen, daß Ihnen ein sol cher Erfolg trotz entsprechenden Bemühens nicht beschieden war, Sir?« fragte Parker, derweil er Mylady den Wagenschlag auf hielt und diskrete Hilfe beim Aussteigen leistete. »Wir haben den falschen Straßenkehrer über eine Stunde be schattet, aber dann ist der Bursche uns doch entwischt, Parker«, gestand der Anwalt mit verlegener Miene. »Da fehlt eben meine Erfahrung«, schaltete Lady Agatha sich ein. »Aber wenigstens ist euch nichts zugestoßen, wie ich sehe.« »Wir haben doch einen Schutzengel, Mylady«, meinte die hüb sche Kathy lächelnd und beugte sich anschließend in den Fond des hochbeinigen Monstrums, wo der gekidnappte Geldbote seine offensichtlich süßen Träume genoß. »Der macht aber einen ganz schön übermüdeten Eindruck«, kommentierte die junge Dame. »Dafür habe ich gesorgt, Kindchen«, warf Agatha Simpson sich in die ohnehin ansehnliche Brust. »Unterwegs wollte der dreiste Lümmel tätlich werden, aber ich habe ihn natürlich sofort in die Schranken gewiesen. Seitdem hat er keinen Laut mehr von sich gegeben.«
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»In der Tat zeigte der Herr Manieren, die man nur als bekla genswert bezeichnen kann«, pflichtete Parker seiner Herrin bei. »Sofortiges Einschreiten erwies sich als unumgänglich.« Ansonsten hatte der Butler den kleinen Zwischenfall, der sich zehn Minuten zuvor während der Fahrt ereignet hatte, anders in Erinnerung. Vermutlich war der breitschultrige Gangster bei der Fahrt über die Treppe aus seinem ohnehin oberflächlichen Schlummer geris sen worden, hatte sich aber weiterhin schlafend gestellt. Parker, der über den Rückspiegel auch den Fond des Wagens im Blickfeld hatte, war auf der Hut gewesen. Mit unbeteiligt wirkender Miene hatte er registriert, wie der Mann im grauen Wettermantel verstohlen die Augen öffnete und darauf lauerte, im geeigneten Moment einen Überraschungsan griff auf seine gewichtige Sitznachbarin zu starten. Parkers schwarzbehandschuhte Rechte war zum Armaturenbrett geschwenkt und hatte einen der zahlreichen Kipphebel umgelegt. Der sinnreiche Mechanismus, den er damit in Gang setzte, ließ eine feine Hohlnadel aus dem Sitzpolster gleiten, die sich beherzt in den verlängerten Rücken des Gangsters bohrte und eine kräfti ge Dosis eines rasch wirkenden Betäubungsmittels in seine Blut bahn pumpte. Mit einem Schmerzenslaut, den Lady Agatha prompt als Kampf schrei mißdeutete, fuhr der Mann wie eine Rakete aus dem Sitz. Dabei federte er etwas unsanft mit der Schädeldecke von der Wagendecke und sackte wieder zurück. Gleich darauf erwischte Agatha Simpsons Glücksbringer ihn. Der Breitschultrige zuckte nur leicht zusammen und kuschelte sich noch behaglicher in die luxuriösen Polster. Was Mylady unbesehen dem vehementen Einsatz ihres gelieb ten Glücksbringers zuschrieb, hatte schon vorher das Betäu bungsmittel aus der Hohlnadel bewirkt. »Darf man um Auskunft bitten, wann Mylady die geplante Ver nehmung vorzunehmen gedenken?« fragte Parker, während er die Haustür aufschloß. »Prinzipiell unverzüglich, Mister Parker«, teilte die ältere Dame mit. »Aber zunächst möchte ich meinem sensiblen Kreislauf ein wenig Pflege angedeihen lassen. Und den Kindern würde be stimmt eine Tasse Tee guttun.« »Wie Mylady wünschen«, erwiderte der Butler.
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Während Agatha Simpson, Kathy Porter und Mike Rander in die verschwenderisch ausgestattete Wohnhalle schritten, holte Parker den leise schnarchenden Gangster nach. Für Besucher dieser Art hatte Agatha Simpson im Souterrain ih res Hauses mehrere Gästezimmer einrichten lassen. Sie lagen dort, wo man noch die wuchtigen Grundmauern einer steinalten Abtei bewundern konnte, auf denen das Fachwerkhaus der ver mögenden Witwe errichtet war. An zeitgemäßem Komfort fehlte, es nicht. Die Einrichtung konn te als leidlich geschmackvoll gelten. Fenster und Telefon suchte man vergeblich, und die stählernen Feuerschutztüren waren mit komplizierten Sicherheitsschlössern ausgerüstet. Nachdem Parker den sanft röchelnden Geldboten behutsam dort abgelegt und sorgfältig die Tür verriegelt hatte, begab er sich gemessen in die geräumige Wirtschaftsküche und erschien fünf Minuten später mit dem Teetablett in der Wohnhalle. Die Hausherrin hatte bereits damit begonnen, die Ereignisse des Abends aus ihrer eigenwilligen Sicht zu schildern, so daß Rander und seine Begleiterin einige Mühe hatten, sich den wahren Verlauf zusammenzureimen. »Da sieht man mal wieder, was für ein Störfaktor Polizisten sind«, wetterte die ältere Dame, während Parker ihr einen Cognac einschenkte und die Besucher mit Tee versorgte. »Die einzige Gefahr ist, daß es mal langweilig wird, weil niemand sich mehr traut, mich anzugreifen.« »Eine schreckliche Vorstellung, Mylady«, äußerte Kathy Porter amüsiert. »Wer rastet, der rostet, Kindchen«, bemerkte Lady Agatha ernst und schob dem Butler ihr Glas zum Nachfüllen hin. »Nur wer sich ständig Höchstleistungen abfordert, bleibt jung und in Schwung.« »Dafür sind Sie, Mylady…« setzte Kathy Porter an, unterbrach sich aber mitten im Satz, weil das Telefon schrillte. »Erwarte ich um diese Zeit noch einen Anruf, Mister Parker?« fragte die Hausherrin argwöhnisch. Die Zeiger der pompösen Standuhr rückten immerhin schon auf zwei Uhr zu. »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, gab Parker mit einer an gedeuteten Verbeugung Auskunft. »Also eine List der Gangster«, mutmaßte die leidenschaftliche Detektivin. »Gehen Sie an den Apparat, Mister Parker, und hören Sie sich an, was die Unterwelt mir mitzuteilen hat.«
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»Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit Befehl«, versicherte der Butler und lenkte seine Schritte in Richtung Diele. Daß es wirklich die Erpresser waren, die. zu nachtschlafender Zeit anläu teten, bezweifelte er. Woher sollten die Gangster Lady Simpsons Telefonnummer haben? »Endlich, Mister Parker«, war Marc Maples nervöse Stimme am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. »Seit Stunden versuche ich in Abständen, Sie zu erreichen.« »Darf man zunächst die Frage stellen, ob Sie sich wohl und un versehrt befinden, Mister Maple?« erkundigte sich Parker höflich. »Ich bin soweit okay, Mister Parker«, teilte der Anrufer mit. »Nachdem ich den Koffer im Schließfach abgestellt habe, bin ich unbehelligt ins Büro zurückgefahren, wo ich auch jetzt noch sitze. Aber was ist mit den Erpressern? Haben Sie sie geschnappt?« In knappen Sätzen weihte der Butler den Firmenchef in die Er eignisse der zurückliegenden Stunden ein. »Immerhin ein Teilerfolg«, stellte Maple anerkennend fest. »A ber wird das reichen, um die Burschen abzuschrecken?« »Vermutlich nicht, falls man eine persönliche Einschätzung wie dergeben darf, Mister Maple«, antwortete Parker. »Mylady ist al lerdings weiterhin zuversichtlich, auch den Auftraggeber des Verbrechens kurzfristig dingfest machen zu können.« »Da würde mir wirklich ein Stein vom Herzen fallen, Mister Par ker«, versicherte der erpreßte Geschäftsführer. »Darf man übrigens hoffen, daß Sie imstande sind, Ihren Com puter gänzlich vom externen Datennetz zu trennen, Mister Maple?« fragte der Butler. »Ich persönlich verstehe nichts davon, aber ich könnte Fleet wood aus dem Bett klingeln, der in der Nähe wohnt«, antwortete Maple. »Halten Sie das denn für nötig, Mister Parker?« »Nach der Entführung eines Bandenmitgliedes, die dem Auf traggeber längst zu Ohren gekommen sein dürfte, sollte man mit Racheakten datentechnischer Natur unbedingt rechnen, Mister Maple«, gab Parker zu bedenken. »Stimmt, ich werde Fleetwood sofort anrufen«, sagte Maple und verabschiedete sich. Die Hausherrin war sichtbar frustriert, als sie erfuhr, daß der Butler nicht mit dem geheimnisvollen Erpresser telefoniert hatte.
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»Darf man sich möglicherweise erlauben, Mylady an die anste hende Vernehmung zu erinnern«, machte Parker sich höflich be merkbar. »Die hat noch Zeit, Mister Parker«, befand die passionierte De tektivin. »Vorher will ich ein Stündchen meditieren und an den letzten Unebenheiten meines taktischen Konzepts feilen.« »Dann machen wir uns jetzt auch auf den Weg«, meinte Rander, als Lady Agatha sich erhob und unter huldvollem Nicken die geschwungene Freitreppe ansteuerte, die zu ihren privaten Ge mächern im Obergeschoß führte. »Und vergessen Sie nicht die Stärkungsmittel, die ich zum Me ditieren brauche, Mister Parker«, mahnte die Hausherrin, noch bevor sie die erste Stufe erreichte. »Meine Wenigkeit eilt, Mylady«, antwortete der Butler. Ohne Hast nahm er ein kostbar ziseliertes Silbertablett mit Aufbau und folgte in würdevoller Haltung seiner Herrin. Als er Minuten später zurückkehrte, waren Kathy Porter und Mi ke Rander schon in ihre Mäntel geschlüpft, warteten aber noch im verglasten Vorflur. »Vielleicht wollen Sie noch kurz hören, was mit dem Straßen kehrer war, Parker«, meinte der Anwalt. »Man sieht Ihrem Bericht durchaus mit gespannter Erwartung entgegen, Sir«, versicherte Parker. Unbemerkt hatten Mike Rander und Kathy Porter beobachtet, wir der angebliche Straßenkehrer in einer dunklen Ecke am Bahn hofsausgang seine Montur abstreifte und in den Abfallkasten warf. »Anschließend ging der Bursche auf Umwegen zu seinem Wa gen, der in der Nähe parkte«, erzählte Rander. »Zum Glück war auch mein Austin nicht weit, so daß wir ihm ohne Schwierigkeiten folgen konnten.« »Von wegen ohne Schwierigkeiten«, korrigierte die hübsche Ka thy. »Fast wäre er uns schon ganz zu Anfang entwischt.« »Stimmt«, räumte der Anwalt ein. »Der Bursche war wirklich gewieft.« »Er fuhr auf den merkwürdigsten Umwegen durch die Stadt«, setzte seine attraktive Begleiterin den Bericht fort. »Trotzdem hat er mit Sicherheit nicht bemerkt, daß wir ihm die ganze Zeit folg ten.« »Nach über einer Stunde stoppte er vor einem Geschäft an der Sutton Street in Shadwell«, nahm Rander wieder den Faden auf.
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»Er klingelte und klopfte, aber niemand machte auf. Anschließend stieg, der Bursche wieder in seinen Wagen und fuhr weiter.« »Und dann haben wir ihn irgendwo zwischen Shadwell und Ratcliff aus den Augen verloren«, setzte Kathy Porter den betrüb lichen Schlußpunkt. »Darf man möglicherweise erwarten, daß Sie über das erwähnte Geschäft nähere Auskunft geben können?« hakte Parker nach. »Es war ein Laden, in dem hauptsächlich sogenannte HomeComputer mit entsprechendem Zubehör verkauft werden«, teilte der Anwalt mit. »Falls das Firmenschild stimmt, ist der Besitzer ein gewisser Fred Greystoke.« »Eine Mitteilung, die man mit ungeteiltem Interesse entgegen nimmt, Sir«, sagte der Butler. »Falls man nicht sehr irrt, dürfte Mylady morgen früh den Wunsch äußern, dem Inhaber des Ge schäftes einen Besuch abzustatten.« Anschließend ließ er das junge Paar hinaus und wünschte eine gute Nacht. * Als Parker gleich darauf in die Wohnhalle zurückkehrte, um das Geschirr abzuräumen, war Lady Agatha schon unüberhörbar mit der Arbeit an ihrem taktischen Konzept beschäftigt. Die Geräusche, die an sein Ohr drangen, erinnerten indes eher an Sägen als an Feilen. Steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt, balancierte der Butler das Geschirrtablett in die Küche, beschickte die Spülma schine und entschied sich dann, Myladys unfreiwilligem Gast noch einen kurzen Besuch abzustatten. Lautlos näherte sich Parker der schweren Feuerschutztür, hinter der er den Gangster sicher verwahrt wußte. Inzwischen mußte allerdings die Wirkung des Betäubungsmittels verflogen sein. Seine Vermutung bestätigte sich, als er durch den Türspion ins Zimmer blickte. Mit grimmiger Miene schritt der breitschultrige Geldbote in seinem komfortablen Gefängnis auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Er unterbrach diese Tätigkeit jedoch sofort, als der Butler den Schlüssel ins Schloß schob und dabei absichtlich geräuschvoll zu Werke ging. Blitzschnell ließ der Man sich wieder auf das Sofa
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fallen, wo Parker ihn ursprünglich deponiert hätte, und stellte sich schlafend. »Man erlaubt sich, einen möglichst sorgenfreien Morgen zu wünschen«, sagte Parker beim Eintreten und lüftete höflich die schwarze Melone. Aber der Gruß blieb unerwidert. Erst als der Butler gemessen näher kam, wurde die Gestalt auf dem Sofa schlagartig lebendig. Wie eine Stahlfeder schnellte der Gangster aus den Polstern, stieß einen unartikulierten Laut aus und warf sich in Parkers Richtung. Der Butler rührte sich nicht von der Stelle. Er verneigte sich le diglich vor seinem Gegner. Daß die tiefe Verbeugung alles andere als eine höfliche Geste war, wurde dem Angreifer erst bewußt, als sich Parkers schwarzer Bowler durch unangenehmen Druck in seiner Magengrube be merkbar machte. Mit einem pfeifenden Geräusch gab der Mann alle Atemluft von sich, während die Halbkugel mit ihrer stahlgefütterten Krempe eingehend sein sensibles Verdauungsorgan massierte. Kreide bleich und japsend blieb der stämmige Gangster über der Schul ter des Butlers hängen. »Leider sieht man sich nicht in der Lage, diesen kleinen Zwi schenfall zu bedauern«, sagte Parker und ließ den Mann behut sam abrollen. Wie ein nasser Sack plumpste er aufs Sofa zurück. Es dauerte eine Weile, bis der Geldbote so weit wieder bei Atem war, daß er dem Butler als Gesprächspartner dienen konnte. »Was soll der verdammte Quatsch?« knurrte er. »Das ist Frei heitsberaubung, Mann. Ich zeig’ Sie an.« »Ein Vorsatz, den man Ihnen keineswegs ausreden möchte«, erwiderte Parker unbeeindruckt. »Mylady plant ohnehin, Sie der Polizei zu überstellen, sobald Sie ein Geständnis abgelegt haben. Dort wird man Ihre Anzeige zu Protokoll nehmen, falls der Hin weis erlaubt ist.« »Was reden Sie da? Polizei? Geständnis? Sie sind wohl nicht ganz bei Trost?« spielte Myladys Logiergast den Entrüsteten. »Demnach bestreiten Sie, im Auftrag einer kriminellen Organi sation tätig zu sein, die unter anderem die Henderson Ltd. zu erpressen versucht?« vergewisserte sich der Butler. »Ich weiß von keiner Erpressung«, behauptete der Mann mit trotzig vorgeschobenem Kinn. »Auf solche Sachen laß’ ich mich
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sowieso nicht ein. Warum sollte ich auch, wo ich einen anständi gen Job habe?« »Darf man möglicherweise erfahren, welcher Art die Erwerbstä tigkeit ist, der Sie nachgehen, Mister…?« »Hynes. AL Hynes«, nannte der Ganove einen Namen, der ge nausogut falsch wie richtig sein konnte. »Und wer sind Sie?« woll te er wissen. »Parker. Josuah Parker«, stellte sein Gegenüber sich vor. »Man hat die Ehre und den Vorzug, Butler in Lady Simpsons Diensten zu sein.« »Und wer hat Ihnen dieses Märchen mit der Erpressung unter gejubelt?« fragte Hynes mit einer Miene, die Empörung ausdrü cken sollte. »Mehrere Augenzeugen können bestätigen, daß Sie zur verein barten Zeit in Victoria Station von einem als Straßenkehrer ver kleideten Komplicen einen Gepäckfachschlüssel übernommen ha ben, Mister Hynes«, teilte Parker in beiläufigem Ton mit. »An schließend entnahmen Sie dem Schließfach einen Koffer, der von dem erpreßten Mister Maple dort deponiert worden war.« Da der Butler seinen Gesprächspartner ebenso unauffällig wie konzentriert im Auge behielt, entging ihm nicht, daß Hynes wäh rend der Schilderung immer blasser wurde. Vergeblich mühte der Gangster sich, das nervöse Flattern seiner Augenlider unter Kon trolle zu bringen. »Bis hierher stimmt alles«, warf er hastig ein. »Der eben erwähnte Koffer enthielt fünfzigtausend Pfund in kleinen Scheinen, die ein unbekannter Erpresser telefonisch von Mister Maple gefordert hatte, Mister Hynes«, fuhr Parker fort. »Unsinn!« unterbrach Hynes. »In dem Koffer war überhaupt kein Geld.« »Dieser Umstand dürfte Ihnen aber noch nicht bekannt gewe sen sein, als Sie weisungsgemäß das Gepäckstück dem Schließ fach entnahmen«, merkte der Butler kühl an. Hynes’ Mundwinkel fielen herunter. Diesmal hatte er sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Ich meine… von den fünfzigtausend Pfund höre ich zum ers tenmal«, behauptete der Ganove. »Mir hat der Chef nichts davon gesagt, daß Geld in dem Koffer sein sollte.« »Dann darf man vermutlich um Auskunft bitten, welchen Inhalt Sie vermuteten, Mister Hynes?«
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»Irgendwelche Mikrochips aus Japan oder Texas«, erwiderte der Breitschultrige. »Darf man übrigens an dieser Stelle die Frage nach Ihrer Er werbstätigkeit wiederholen, Mister Hynes?« »Ich arbeite in einem Computerladen«, antwortete der Gangs ter. »Vermutet man unter Umständen richtig, daß es sich dabei um den Laden eines gewissen Fred Greystoke an der Sutton Street handelt, Mister Hynes?« Das war zuviel für die überreizten Nerven des Geldboten. Er zuckte zusammen wie von einem Stromstoß getroffen. Haßerfüllt starrte er den Butler an, ballte die Fäuste und ging mit Wutgebrüll auf die schwarzgewandete Gestalt los. Parker, der von der erneut aufflammenden Aggressivität seines Gesprächspartners keineswegs überrascht wurde, blieb auch in diesem Fall Herr der Lage. Er verlor nicht mal seine stets würde volle Haltung. Mit der steifen Eleganz eines routinierten Stier kämpfers wich der Butler einen Schritt zur Seite, so daß der An greifer an ihm vorbei ins Leere stürmte. Statt des roten Tuchs hielt Parker ein Sprühfläschchen in der Hand, das mit einer be täubenden Essenz gefüllt war. Al Hynes kam nicht umhin, eine wirkungsvolle Dosis des feinen Nebels einzuatmen, den Parker per Knopfdruck versprühte. Die Wirkung setzte augenblicklich ein. In gebückter Haltung schoß der Gangster, der nach seinem mißglückten Angriffsversuch unübersehbare Probleme mit der Körperbeherrschung hatte, auf die stählerne Tür zu. Dabei knick ten seine Knie von Schritt zu Schritt tiefer ein. Er erreichte sein Ziel jedoch mit knapper Not und produzierte einen dunklen Glockenton, als er die Widerstandsfähigkeit des Stahls mit seiner Schädeldecke testete. Anschließend sackte er röchelnd in sich zusammen und blieb auf den Knien vor der ver schlossenen Tür hegen. Der Butler hätte Hynes gerne noch gefragt, warum er derart umständlich vorgegangen war, wenn der Koffer nach seiner Mei nung nur Mikrochips enthielt. Dazu war aber keine Gelegenheit mehr. Möglicherweise hatte der Gangster seine Sicherheitsvorkehrun gen mit dem Hinweis erklären wollen, es handelte sich um illegal eingeführte Ware, mutmaßte Parker. Damit hätte er zwar einen
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Gesetzesverstoß zugegeben, aber einen, der bei weitem nicht so schwer wog wie die Beteiligung an einer Erpressung. Seine reichlich unbequeme Haltung hatte Hynes nicht daran hindern können, sanft zu entschlummern. Er lächelte friedlich und ließ verhaltene Schnarchtöne hören, als Parker ihn unter den Achseln faßte und zum Sofa zurückschleifte. Bevor der Butler den Raum verließ und die Tür gewissenhaft hinter sich abriegelte, sorgte er mit Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl dafür, daß Hynes nach dem Erwachen keinen störenden Bewegungsdrang mehr entfalten konnte. * »Sie sind zu zimperlich im Umgang mit hartgesottenen Gangs tern, Mister Parker«, sagte Lady Simpson, während sie beherzt einem opulenten Frühstück zusprach. »Wenn ich den verlogenen Lümmel gleich in die Zange nehme, legt er mit Sicherheit ein Geständnis ab.« »Was man keine Sekunde bezweifelt, Mylady«, versicherte Par ker, schenkte bernsteinfarbenen Darjeelingtee nach und trat an schließend in seiner unvergleichlichen Art einen halben Schritt zurück. »Haben Sie dem Schurken einen Imbiß serviert, Mister Parker?« erkundigte sich die Hausherrin. »Sie wissen, daß meine Gäste sich nicht beklagen sollen, andererseits darf es aber auch nicht zu teuer sein.« »Das Stadium, in dem er sich über Myladys Gastfreundschaft beklagte, dürfte Mister Hynes inzwischen überwunden haben«, antwortete der Butler. »Im übrigen war man so frei, dem Herrn Tee und einige Sandwichs anzubieten.« »Hoffentlich haben Sie nicht wieder übertrieben, Mister Parker«, meinte die ältere Dame, von der man sagte, ihr Geiz könnte selbst einen Schotten in Verlegenheit bringen. »Als alleinstehende Dame kann ich es mir nicht leisten, arbeitsscheue Logiergäste durchzufüttern. Außerdem hat der Mann sowieso Probleme mit seinem Körpergewicht.« »Schlank dürfte Mister Hynes kaum zu nennen sein«, pflichtete Parker ihr bei.
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»Da fällt mir ein, daß ich ab heute wieder strenge Diät halten wollte, Mister Parker«, blieb Mylady beim Thema. »Aber dafür ist morgen auch noch Zeit.« Sie wandte sich der mit exotischen Früchten garnierten Käseplatte zu. »Wer seine Kräfte in selbstlo sem Einsatz gegen das organisierte Verbrechen verzehrt, kann auf ein Mindestmaß an leiblichen Genüssen nicht verzichten.« »Eine Feststellung, deren bestechende Logik jedermann ein leuchten dürfte, Mylady.« »Gleich nach dem Frühstück werde ich mir das verlogene Sub jekt im Gästezimmer vornehmen, Mister Parker«, teilte die Detek tivin ihre aktuellen Pläne mit. »Anschließend nehme ich seinen Auftraggeber fest, und der Fall ist noch vor Mittag abgeschlos sen.« »Was eindeutig zu hoffen wäre, Mylady.« »Ich persönlich habe nicht die geringsten Zweifel, Mister Par ker«, entgegnete Agatha Simpson und ließ sich als Nachtisch ein Glas Champagner reichen. »Der Chef dieser Firma… Wie hieß er noch gleich?« »Mylady dürften Mister Marc Maple, den Geschäftsführer der Henderson Ltd. zu meinen geruhen, falls man nicht sehr irrt.« »Richtig, Clark Gable«, nickte Lady Agatha. »Er wird ganz schön erleichtert sein.« »Wozu Mister Maple auch allen Grund haben dürfte, Mylady.« Ein Leuchten ging über das Gesicht der älteren Dame, als in diesem Moment das Telefon klingelte. »Bestimmt ist das Mister Gable, der sich nach dem Stand mei ner Ermittlungen erkundigen will«, mutmaßte die Hausherrin. »Teilen Sie ihm bitte mit, daß die ganze Bande bis heute mittag hinter Schloß und Riegel sitzt, Mister Parker.« »Man wird es keinesfalls versäumen, Mylady«, versprach der Butler, deutete eine Verbeugung an und schritt in Richtung Diele davon. Der Anrufer kam ohne Formalitäten zur Sache. »Sie haben einen meiner Angestellten gekidnappt«, quasselte der Mann, noch ehe Parker sich melden konnte. »Darf man höflich fragen, wer Sie sind und woher Ihre Informa tionen stammen, Sir?« erkundigte sich der Butler. »Solche Fragen können Sie sich sparen, Parker«, gab der Mann am anderen Ende brummig zurück. »Jedenfalls ist das Ganze ein
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Irrtum Ihrerseits. Sie haben keinen Grund, meinen Mann noch länger festzuhalten.« »Eine Ansicht, die Mylady wohl kaum teilen dürfte«, erwiderte Parker. Er zweifelte nicht daran, daß es sich bei dem Anrufer um Fred Greystoke handelte, den Besitzer des Computerladens an der Sutton Street. Aber woher konnte Greystoke wissen, daß sein Geldbote AL Hynes sich unter Lady Simpsons gastfreundlichem Dach aufhielt? »Wenn Sie sich stur stellen, kann ich auch anders, Parker«, warnte Greystoke. »Dann schicke ich Ihnen die Polizei auf den Hals und lasse den Mann rausholen.« »Eine Ankündigung, die man mit geradezu heiterer Gelassenheit zur Kenntnis nimmt«, ließ der Butler ihn wissen. »Okay, reden wir offen miteinander, Parker«, wechselte Greystoke die Taktik. »Sie haben den Koffer mit den fünfzigtau send Pfund gekapert und meinen Mann gleich mit.« »Ihr Informationsstand ist in der Tat hervorragend, Sir«, be scheinigte Parker dem Anrufer. Also wußte Greystoke noch nichts davon, daß der Koffer statt der geforderten Banknoten nur wert loses Papier enthalten hatte. »Lassen Sie meinen Mann frei und werden Sie mit dem Geld glücklich, Parker«, unterbreitete der Gangster sein Verhandlungs angebot. »Ich verzichte!« »Auch diesem Vorschlag dürfte Mylady mit Sicherheit ihre Zu stimmung verweigern«, teilte der Butler unmißverständlich mit. »Daß Sie ein sturer Hund sind, habe ich gleich gemerkt, Par ker«, gab Greystoke verärgert zurück. »Aber daß Sie so stur sind, spricht nicht gerade für Ihre Intelligenz.« »In dieser Frage dürfte Ihnen wohl kaum ein Urteil zustehen, Sir«, beschied Parker ihn kühl. »Also gut, mein letztes Angebot«, schaltete der Anrufer erneut um. »Sie lassen meinen Mann frei und geben ihm den Koffer mit den Fünfzigtausend mit.« »Darf man möglicherweise erfahren, welche Gegenleistung Sie im geschilderten Fall zu erbringen bereit wären?« fragte der But ler. »Ich würde einen Mann freilassen, an dessen Leben Ihnen ver mutlich einiges liegt, Parker«, bot der Gangster an. »Es hängt
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allein von Ihnen ab, ob der Mann an ’ner Bleivergiftung stirbt o der nicht.« »Vermutet man möglicherweise richtig, daß Sie Mister Marc Maple zu meinen belieben?« vergewisserte sich Parker. »Erraten! Sie sollten sich als Kandidat beim Quiz melden«, bes tätigte Greystoke und ließ ein dröhnendes Lachen hören. »Mylady dürfte Beweise für die Tatsache verlangen, daß Mister Maple sich tatsächlich in Ihrer Gewalt befindet«, gab der Butler zu bedenken. »Kein Problem«, erwiderte Greystoke. »Sie können mit ihm re den, Parker.« * Die Stimme, die aus dem Hörer drang, klang matt und zittrig, aber es war ohne Zweifel Marc Maple. »Tut mir schrecklich leid, daß ich Ihre Anschrift verraten habe, Mister Parker«, begann der Firmenchef, den man zuerst erpreßt und jetzt auch noch entführt hatte. »Auch ohne Ihr Zutun wäre es über kurz oder lang zu einer di rekten Konfrontation zwischen Mylady und den in diesen Fall ver wickelten Kriminellen gekommen, Mister Maple«, versuchte Par ker ihn zu beruhigen. »Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Maple, »aber…« »Muß man möglicherweise von der Annahme ausgehen, daß Sie gefoltert wurden, Mister Maple?« wollte der Butler wissen. Der Mann schwieg. Nur im Hintergrund war undeutliches Rau nen zu hören. »Nein, nein«, versicherte der Geschäftsführer gleich darauf has tig. »Ich bin gut behandelt worden. Werden Sie denn auf die Be dingungen meiner Entführer eingehen, Mister Parker?« »Eine Entscheidung dürfte eindeutig in Myladys Kompetenz fäl len«, gab Parker ausweichend zur Antwort. »Darf man in diesem Zusammenhang übrigens fragen, wo Sie zur Zeit gefangengehal ten werden, Mister Maple?« Ehe der Firmenchef auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, wurde ihm der Hörer aus der Hand gerissen. Sofort war Greysto kes Stimme wieder in der Leitung.
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»Diese Art Fragen hör’ ich gar nicht gern, Parker«, knurrte der Gangster, der das Gespräch vermutlich mittels eines zweiten Hö rers überwacht hatte. »Wir wollen doch mit offenen Karten spie len, damit jeder die gleiche Chance hat.« »Zum Thema Chancengleichheit dürfte anzumerken sein, daß Sie sehr wohl wissen, wo Ihr Befehlsempfänger sich aufhält«, wandte der Butler ein. »Wenn schon«, fauchte Greystoke. »Ich diktiere die Bedingun gen, Parker, nicht Sie!« »Unter diesen Umständen darf man wohl billigerweise eine Mit teilung erwarten, wie Sie sich den Austausch der Gefangenen vorstellen«, meinte der Butler. »Ganz einfach«, teilte der Anrufer mit. »Sie lassen meinen Mann mit dem Koffer frei, und sobald er hier eingetroffen ist, kann Mister Maple gehen, wohin er will.« »Niemand könnte Sie hindern, auch nach der Freilassung Ihres Mitarbeiters mit Mister Maple zu verfahren, wie es Ihnen beliebt«, hielt der Butler dagegen. »Schluß jetzt!« brach der Gangster die Diskussion kurzerhand ab. »Nehmen Sie meine Bedingungen an oder nicht?« »Man wird es keinesfalls versäumen, Mylady Ihre Vorschläge zu unterbreiten und um baldige Entscheidung nachzusuchen«, bot Parker an. »Sofern Sie bereit wären, meiner Wenigkeit Ihre Tele fonnummer zu übermitteln, würde man später zurückrufen.« »Hören Sie doch mit dem Blödsinn auf, Parker«, entgegnete Greystoke wutschnaubend. »Meinen Sie wirklich, Sie könnten mir meine Telefonnummer entlocken?« »Unter diesen Umständen dürfte es sich als unumgänglich er weisen, daß Sie selbst nach angemessener Frist hier anrufen, um Myladys Bescheid entgegenzunehmen«, stellte der Butler klar und hängte den Hörer ein. Agatha Simpson ließ sich durch die Nachricht von der Entfüh rung Marc Maples nicht sonderlich beeindrucken. »Das habe ich längst geahnt und mein taktisches Konzept ent sprechend erweitert, Mister Parker«, behauptete die Detektivin, nachdem der Butler Bericht erstattet hatte. »Mylady dürften von der beklagenswerten Annahme ausgehen, daß Mister Maples Leben in akuter Gefahr ist.« »Der junge Mann soll sich nicht so anstellen«, erwiderte die re solute Dame ärgerlich. »Erwartet er etwa, daß ich mein Frühstück
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ausfallen lasse, damit er pünktlich an seinen Schreibtisch zurück kehren kann?« »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, meinte Parker. »Ohne hin sollte man annehmen, daß Mister Maple ärztlicher Behandlung bedarf, ehe er seine Tätigkeit bei der Henderson Ltd. wieder auf nehmen kann.« »Ist Mister Gable denn krank?« wunderte sich die Hausherrin. »Mister Maple dürfte von den Gangstern gefoltert worden sein, falls man sich nicht gründlich täuscht, Mylady.« »Gefoltert? Das geht zu weit, Mister Parker«, fand Lady Agatha. »Das werde ich den Schurken auf Heller und Pfennig heimzah len.« »Ein Vorsatz, der uneingeschränkten Beifall verdient, Mylady.« »Ich beeile mich ja schon, Mister Parker«, versicherte die De tektivin, leerte das Champagnerglas und erhob sich ächzend aus dem Sessel. »Was wollte ich noch aus dem Lümmel im Gäste zimmer herausholen?« »Mylady äußerten die Absicht, Mister Hynes nach seinem Auf traggeber zu fragen, falls der Hinweis genehm ist«, half Parker aus. »Also ans Werk, Mister Parker.« Lady Simpson steuerte die Treppe zum Souterrain an. »Ich habe keine Zeit zu verlieren.« »Unter diesem Gesichtspunkt dürften Mylady möglicherweise erwägen, auf die Vernehmung von Mister Hynes zu verzichten«, ließ der Butler sich vernehmen. »Verzichten, Mister Parker?« Myladys Miene war ein einziges Fragezeichen. »Bei Mister Hynes’ Auftraggeber, der in dringendem Verdacht steht, Mister Maple erpreßt und entführt zu haben, dürfte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen gewissen Fred Greystoke handeln, der an der Sutton Road ein Geschäft für HomeComputer betreibt«, erklärte Parker, während seine Herrin ihn fassungslos anstarrte. »Insofern dürfte an den bisherigen Ergeb nissen von Myladys Ermittlungen kaum zu zweifeln sein.« Agatha Simpson fing den Ball, den der Butler ihr zugespielt hat te, in einer Art auf, die eindeutig das Prädikat »souverän« ver diente. »Gut aufgepaßt, Mister Parker«, ließ sie sich zu überschwengli chem Lob hinreißen. »Das ist tatsächlich das Ergebnis meiner
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Ermittlungen. Ich wollte nur prüfen, ob Sie die Zusammenhänge auch behalten haben.« »Meine Wenigkeit bemüht sich nach Kräften, Mylady in keiner Weise zu enttäuschen«, entgegnete Parker, dessen Höflichkeit durch nichts zu erschüttern war. »Bedauerlicherweise sieht man sich aber genötigt, Mylady noch um Geduld zu bitten«, fügte der Butler hinzu, der vorsichtshalber die hauseigene Video-Überwachungsanlage eingeschaltet hatte. »Killerkommandos vor meiner Tür?« tippte Lady Agatha hocher freut. »Mylady dürften eine solche Möglichkeit zumindest nicht aus schließen«, erwiderte Parker. Das kristallklare Bild des kleinen Monitors, der in einem Wand schrank in der Diele untergebracht war, lieferte keinen eindeuti gen Aufschluß, ob es sich um Killer handelte, die Fred Greystoke nach Shepherd’s Market entsandt hatte. Das änderte sich jedoch, als der Butler mit routinierten Hand griffen auf eine der anderen Kameras umschaltete. * Parker hatte den dunkelroten BMW, der gegenüber der Einfahrt am Straßenrand parkte, auf dem Bildschirm. Die beiden Männer auf den Vordersitzen spielten scheinbar gelangweilt mit ihren Au tomatics und bückten ungeniert zum Haus. »Sind ja nur zwei, Mister Parker«, stellte die Detektivin ent täuscht fest. »Die räume ich mit leichter Hand aus dem Weg.« »Was man durchaus nicht bezweifeln möchte, Mylady«, schickte der Butler in seiner höflichen Art voraus. »Dennoch ist unter Um ständen der Hinweis erlaubt, daß die Herren sich auffallenderwei se in Szene setzen.« »Die Flegel bilden sich wohl ein, mich einschüchtern zu kön nen«, interpretierte Agatha Simpson das Verhalten der Bewaffne ten. »Gleich wird ihnen aufgehen, daß sie an die Falsche geraten sind.« »Mylady dürften noch eine weitere Erklärung für die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Herren sich keinerlei Mühe geben, un bemerkt zu bleiben.« »Selbstverständlich, Mister Parker. Welche denn?«
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»Mylady dürften auf versteckte Scharfschützen gefaßt sein, falls man sich nicht gründlich irrt.« »Davor wollte ich Sie auch gerade warnen, Mister Parker«, ent gegnete die ältere Dame unbekümmert. »Darf man fragen, ob Mylady ein bestimmtes Vorgehen wün schen?« »Details überlasse ich Ihnen, Mister Parker. Ich muß mich auf den Chef der Bande konzentrieren.« »Man dankt für den ehrenvollen Auftrag und wird sich bemühen, Myladys Vorstellungen gerecht zu werden.« »Aber vergeuden Sie keine unnötige Zeit, Mister Parker. Sie wissen ja, daß ich anderswo dringend gebraucht werde.« »Dieser Umstand ist meiner bescheidenen Wenigkeit durchaus vertraut, Mylady«, versicherte Parker, deutete eine Verbeugung an und entfernte sich. Bevor er gemessen die Treppe zum Dachboden hinaufstieg, un ternahm der Butler noch einen kurzen Abstecher ins Souterrain. Gleich neben seinen privaten Räumen, die im Kajütstil eingerich tet waren, befand sich dort eine Bastelwerkstatt, die Mylady manchmal »Mister Parkers Labor« nannte. In diesem quadratischen Raum, dessen Regale von Alltäglichem und Kuriosem überquollen, hatte Parker schon manche Neuheit ausgetüftelt, die seinen Gegnern aus der Unterwelt arges Kopf zerbrechen oder Schlimmeres bescherte. Jetzt griff der Butler in eine Schublade, holte eine Handvoll so genannter Krähenfüße heraus und ließ sie in die linke Außenta sche seines schwarzen Covercoats gleiten. Ein paar Feuerwerks körper, die man unter der Bezeichnung »Heuler« kennt, steckte er ebenfalls zu sich, bevor er in würdevoller Haltung den Weg nach oben antrat. Auf dem Dachspeicher angekommen, öffnete Parker geräusch los eines der kleinen Fenster, die zur Straße hinausführten, und hielt nach den BMW-Insassen Ausschau. Gerade hatten die Männer ihre dunkelrote Limousine verlassen und überquerten im Laufschritt die Fahrbahn. Deutlich konnte der Butler aus der Vogelperspektive verfolgen, wie die beiden hinter den Mauerpfeilern der Einfahrt in Deckung gingen und langläufige Waffen auf den Hauseingang richteten.
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Offenbar hatten die Gangster die Absicht, Lady Simpsons Haus im Sturm zu nehmen und ihren Komplicen zu befreien. Doch so weit wollte Parker es nicht kommen lassen. Mit sicherem Griff zog er seine Gabelschleuder aus der Tasche und legte zwei hartgebrannte Tonmurmeln auf der Fensterbank bereit. Im Prinzip war die Schleuder nicht anders konstruiert als die primitiven Holzgabeln, die Jungen eines bestimmten Alters gern benutzen. Dem schlichten Vorbild war Parkers Spezialkon struktion jedoch an Reichweite und Treffsicherheit haushoch ü berlegen. Gerade wollte der Butler die Lederschlaufe mit einer Tonmurmel »laden«, da zerrissen Schüsse die vormittägliche Stille. Salven von Projektilen klatschten gegen die Hauswand und Eingangstür, prallten von den gepanzerten Fensterscheiben ab und irrten heu lend als Querschläger über den Vorplatz. Das Spektakel dauerte schätzungsweise zwei Sekunden. Dann trat unvermittelt wieder Stille ein. Die Tatsache, daß nicht zurückgeschossen wurde, schienen die Gangster als Einladung zu mißdeuten. Jedenfalls schickten sie sich nach kurzem Zögern an, das stählerne Rolltor zu überklet tern. Bei dieser Fitneßübung entging dem Duo jedoch, daß Parker seine Zwille bereits »geladen« hatte und gerade die starken Gummistränge spannte. Kurz visierte er sein Ziel an und schickte den tönernen Gruß auf die Reise. Sekundenbruchteile später zuckte der Angreifer, der als erster das Hindernis erklommen hatte, zusammen, als stände das Tor plötzlich unter Strom. Er hatte gerade das zweite Bein hinüberge schwungen, saß auf der Querstrebe und wollte sich elegant hin abgleiten lassen. Parkers unverhoffter Gruß verwirrte ihn jedoch derart, daß er auf den formgerechten Abschluß der sportlichen Übung verzichtete. Mit beiden Händen griff der Mann sich an die Schläfe, wo die kleine Tonkugel unüberhörbar angeklopft hatte. Daß seine stäh lerne Mordmaschine dabei polternd zu Boden fiel, schien ihn nicht weiter zu interessieren. Obwohl ihm die Sinne schwanden, spürte der Gangster instink tiv, daß es vor allem darauf ankam, das Gleichgewicht zu halten. Vehement ruderte der Mann mit den Armen und wirkte dadurch
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wie ein großer, schwarzer Raubvogel, der sich mit schweren Flü gelschlägen in die Lüfte erheben will. Es erging ihm jedoch nur geringfügig besser als dem sagenhaf ten Ikarus, der es schon in der Antike den Vögeln gleichtun woll te. Immerhin stürzte der verhinderte Flugkünstler nicht ins Meer wie sein berühmtes Vorbild, sondern nur auf das Pflaster des Vor platzes. Ehe der zweite Mann aus dem Staunen über das merkwürdige Verhalten seines Kollegen herauskam, hatte auch ihn schon das Geschick in Gestalt einer hartgebrannten Tonmurmel ereilt. Da der Gangster beim Klettern weniger Geschick und Schnelligkeit gezeigt hatte, schaffte er es nicht mal mehr, das Hindernis zu überwinden, sondern blieb wie ein nasses Handtuch über der Querstrebe hängen. Obwohl alles still blieb, schien es einen Zuschauer zu geben, den das Mißgeschick des kletterfreudigen Duos beunruhigte. Dem Butler, der die belaubten Kronen der Straßenbäume aufmerksam gemustert hatte, entging nicht, daß trotz Windstille unvermittelt ein Zweig zu wedeln begann. Parker löste einen kleinen Sicherungshebel am Griff seines schwarzen Universalschirmes und klappte anschließend die blei gefütterte Spitze rechtwinklig zur Seite. Dadurch entpuppte sich der hohle Schaft des Regendachs als Lauf, aus dem der Butler kleine, gefiederte Pfeile verschießen konnte. Für die erforderliche Schubkraft sorgte eine Patrone mit komprimierter Kohlensäure, die in den Falten des Schirmes verborgen war. Den gebogenen Bambusgriff wie einen Gewehrkolben an die Wange geschmiegt, visierte Parker die Baumkrone an. Augenbli cke später glitt der erste Pfeil unter leisem Zischen aus dem Rohr und suchte sich unfehlbar sein Ziel. Wie eine große Libelle schwirrte das kaum stricknadelgroße Ge schoß über den Vorplatz hinweg und tauchte in das undurchdring liche Blätterdach des Baumes ein. Gleich darauf drang ein spitzer Schrei an das Ohr des Butlers. Der Zweig, der sich vorher schon verräterisch bewegt hatte, ge riet in heftige Schwankung. Es dauerte jedoch nur kurze Zeit, bis die Bewegungen wieder abebbten. Parker wußte dadurch, daß das pflanzliche Betäubungsmittel, mit dem die Spitze des Pfeils präpariert war, bereits seine Wir
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kung entfaltete. Sekunden danach begann es erneut heftig in der Baumkrone zu rascheln. Mit der unbewegten Miene eines professionellen Pokerspielers sah der Butler den Scharfschützen wie eine reife Frucht zu Boden plumpsen. Ein Gewehr mit Zielfernrohr war unmittelbar vorher den Gesetzen der Schwerkraft gefolgt. Ob Fred Greystokes Angriffskontingent damit wirklich erschöpft war? Was Parker bisher nur argwöhnte, wurde wenig später zur lebensgefährlichen Gewißheit. * Nur seiner schnellen Reaktion hatte es der Butler zu verdanken, daß die Kugel ihr Ziel verfehlte. Als das Mündungsfeuer aufblitzte, zog Parker reflexartig den Kopf vom Fenster zurück. Fast gleichzeitig war das Krachen des Schusses zu hören. Pfei fend jagte das Projektil zum offenen Fenster herein, durchschlug an der gegenüberliegenden Seite des Speichers einen Dachziegel und setzte seinen Flug fort. Also war zwei Bäume weiter links doch noch ein weiterer Scharfschütze verborgen gewesen! Aus dem grünen Versteck heraus hatte der Gangster den Butler am Dachfenster entdeckt und auf ihn angelegt. Gelassen schritt Parker zur Speichertreppe und nahm den Be sen, der dort stand. Seine schwarze Melone stülpte er auf das Ende des Stiels. So ausgerüstet, öffnete der Butler in geduckter Haltung ein zweites Dachfenster. Anschließend lehnte er den Besen so gegen das Fensterbrett, daß der Schütze im Baum ein Stück der halbku gelförmigen Kopfbedeckung wahrnehmen mußte. Der Butler hatte sich nicht verrechnet. Während der Gangster den schwarzen Popanz unter Beschuß nahm, glitt Parker zum Fenster nebenan und visierte mit seinem altväterlich gebundenen Universalschirm die Stelle in der Baumkrone an, wo ständig das Mündungsfeuer aufblitzte. In diesem Moment traf eins der Geschosse den schwarzen Bow ler und entlockte ihm einen grellen Ton. Gleichzeitig kippte der Besen nach hinten. Die stahlgefütterte Halbkugel schwirrte wie eine schwarze Frisbeescheibe quer durch den Dachboden.
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Unvermittelt trat Stille ein. Das lag allerdings nicht daran, daß der Scharfschütze durch den Treffer sein Ziel erreicht zu haben glaubte. Vielmehr hatte er selbst einen Treffer hinnehmen müssen, der sich zunächst nur durch unangenehmes Pieken in der Hüftgegend bemerkbar machte. Als der Mann den buntgefiederten Pfeil er blickte, waren seine Sinne schon umnebelt. Lallend versuchte er, das zierliche Geschoß herauszuziehen. Um beide Hände frei zu haben, entledigte er sich des störenden Ge wehrs. Doch gleich darauf schien dem Gangster der kleine Pfeil schon gleichgültig zu sein. Unverhofft hatte den Schützen auf seinem luftigen Platz ein Schwindelgefühl befallen, das in ihm den Wunsch weckte, sich irgendwo festzuklammern. Ein paarmal griffen seine Hände ins Leere. Dann gab der Gangster sein Bemühen auf und ließ sich mit erlöstem Seufzer Mutter Erde entgegenfallen. »Mittlerweile dürften die Herren keinerlei Einwände mehr gegen Myladys geplante Abfahrt erheben«, meldete Parker, als er in die Wohnhalle zurückkehrte, wo Lady Agatha sich bei einem Kreis laufbeschleuniger die Zeit vertrieb. »Meinen Sie, ich kann die Lümmel einfach auf der Straße lie genlassen, Mister Parker?« erkundigte sich die Hausherrin, die einen Teil des Geschehens am Monitor verfolgt hatte. »Man könnte den Herren vorschlagen, einstweilen ihrem Kom plicen AL Hynes Gesellschaft zu leisten, Mylady«, antwortete der Butler. »Mel Rhymes? Wo habe ich den Namen schon mal gehört, Mis ter Parker?« »Bei Mister AL Hynes, den Mylady zweifellos zu meinen belie ben, handelt es sich um den Geldboten des mutmaßlichen Erpres sers Fred Greystoke, den Mylady kurzfristig aufzusuchen geden ken«, half Parker dem Gedächtnis der Detektivin auf die Sprünge. »Mister Hynes genießt seit etlichen Stunden Myladys Gastfreund schaft in einem der Zimmer im Souterrain.« »Ich weiß, ich weiß«, wehrte Agatha Simpson ungeduldig ab. »Das Mißverständnis lag nur daran, daß Sie den Namen Rhymes so undeutlich ausgesprochen haben, Mister Parker.« »Meine Wenigkeit bittet um Nachsicht und wird sich in Zukunft um einwandfreie Artikulation bemühen, Mylady«, versprach der Butler und verneigte sich höflich.
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»Dann verfahren Sie jetzt so mit den Flegeln, wie ich es ange ordnet habe«, entschied die vor Tatendrang förmlich berstende Lady. »Vergeuden Sie keine unnötige Zeit, Mister Parker.« »Worum man sich eingehend bemühen wird, Mylady«, sagte Parker, verneigte sich knapp und ging zur Haustür hinaus. Wenig später hatte der Butler die gestrandeten Klettermaxe ge borgen. Die Männer machten einen übermüdeten Eindruck. Es kostete einige Mühe, sie zu einem Besuch bei AL Hynes zu über reden. Der breitschultrige Kassierer staunte nicht schlecht, als er so unverhofft Gesellschaft in seiner Klause bekam. Er verhielt sich jedoch höflich und friedlich, was wohl nicht zuletzt mit den Hand schellen zusammenhing. Anschließend schritt Parker auf die Straße, um auch die schlummernden Scharfschützen ins Haus zu holen. Während er sich einen der Männer auf die Schulter lud, fiel sein Blick auf einen silbergrauen Sportwagen der Nobelmarke Jaguar, der weiter entfernt auf dem Gehweg parkte. Dort, wo die stille Wohnstraße in die breite Durchgangspiste mündete. Da sich in dem Wagen nichts regte, prägte der Butler sich nur das Kennzeichen ein und trug seine schlummernde Last ins Haus. Als Parker eine Minute später zurückkehrte, um auch den letz ten der Mohikaner in den Genuß von Lady Simpsons Gastfreund schaft kommen zu lassen, stand der Jaguar allerdings nicht mehr an seinem Platz. Der spurtstarke Zweisitzer war in der Zwischenzeit auf die Stra ße gerollt. Der Fahrer ließ die bullige Maschine aufröhren und nahm mit Vollgas Kurs auf den schwarzgewandeten Butler. Die Scheibe an der Beifahrerseite wurde abgesenkt und ein schallgedämpfter Lauf in der Fensteröffnung erschien. Parker zog es vor, seine Tätigkeit kurz zu unterbrechen und hinter einem Torpfeiler Deckung zu suchen. Schon war der silbergraue Flitzer heran. Im Dröhnen der vielpferdigen Maschine ging das sanfte »Plopp!«, das die schall gedämpfte Automatic in kurzen Abständen von sich gab, völlig unter. Nur das Klatschen der Projektile, die wie bleierner Hagel in das Mauerwerk einschlugen, war zu vernehmen. Sekunden später war der Spuk vorbei, der Jaguar am anderen Ende der Straße verschwunden. Doch die Motorgeräusche, die weiter an Parkers Ohr drangen, ließen einen naheliegenden
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Schluß zu: Die Gangster hatten ihr Fahrzeug gewendet und kehr ten zurück, um noch mal ihr Glück zu versuchen. Gelassen griff der Butler in die linke Außentasche seines Cover coats und holte die Krähenfüße heraus, die er zu sich gesteckt hatte. Diese im Winkel miteinander verschweißten Stahlnägel konnten auf die Fahrbahn fallen, wie sie wollten. Immer zeigte eine nadel scharfe Spitze nach oben und wartete nur darauf, sich in einem prall gefüllten Pneu festzubeißen. Mit ruckartiger Handbewegung ließ Parker die Krähenfüße vor dem herannahenden Sportwagen auf die Straße fliegen, wo sie unverzüglich in Stellung gingen. Diesmal war scharfes Knallen wie von Schüssen zu vernehmen, als der Jaguar an der Einfahrt vorbeipreschte. Der Schütze, der in dem engen Coupe abenteuerliche Verrenkungen ausführte, um diesmal zum Fahrerfenster hinausfeuern zu können, reagierte ausgesprochen verdutzt und warf einen prüfenden Blick auf seine schallgedämpfte Waffe. Die Herkunft der unerklärlichen Geräusche ging dem Mann erst auf, als sein Gefährt bedenklich ins Schlingern geriet und den Fahrer zu nicht gerade salonfähigen Äußerungen provozierte. Wie die spitzen Zähne raubgieriger Piranhas hatten die Krähen füße zugepackt und alle Reifen des Jaguars schlagartig von ihrem inneren Druck befreit. Parkers Miene blieb glatt und unbewegt wie immer, als er hinter dem Mauerpfeiler hervortrat und dem Wagen nachsah, der auf blanken Felgen mühsam davonhumpelte. Bevor der Butler mit dem immer noch friedlich schlummernden Scharfschützen ins Haus zurückkehrte, registrierte er, wie die Gangster an der Einmündung zur Durchgangsstraße ihr Fahrzeug abstellten. Heftig winkend lief das Duo zum Straßenrand, stieg gleich darauf in ein Taxi und war den Blicken entschwunden. Parker indes zweifelte nicht daran, daß er die Männer bald wie dersehen würde. * Fred Greystokes Computerladen an der Sutton Street machte einen absolut unverdächtigen Eindruck. Dennoch hätte Parker es
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vorgezogen, sein hochbeiniges Monstrum eine Seitenstraße weiter abzustellen. Aber Lady Agatha, die unnötige Fußmärsche haßte, durchkreuzte sein Vorhaben. »Halten Sie direkt vor dem Eingang, Mister Parker«, sagte sie. »Die Zeit drängt.« »Ein Umstand, dessen man sich durchaus bewußt ist, Mylady«, erwiderte der Butler. »Dennoch ist gegebenenfalls der Hinweis erlaubt, daß Mylady mit einer Falle rechnen dürften.« »Ich gehe also davon aus, daß Mister Playjoke mich erwartet?« vergewisserte sich die Detektivin. »Die beiden Herren, die vom Jaguar aus Myladys Anwesen be schossen, dürften das Nötige veranlaßt haben, falls man sich nicht sehr irrt.« »Zu dumm, daß Ihnen die Lümmel entwischt sind«, schüttelte Agatha Simpson den Kopf. »Da sieht man wieder mal, daß Sie doch noch viel lernen müssen, Mister Parker.« »Worum man sich eingehend bemühen wird, Mylady«, versi cherte Parker. »Darf man im übrigen die Frage anschließen, ob Mylady unter diesen Vorzeichen an der Absicht festhalten, auf kürzestem Weg zum Ziel vorzudringen?« »Warum denn nicht, Mister Parker?« reagierte die ältere Dame überrascht. »Meinen Sie etwa, eine Falle könnte mich aufhalten?« »Derartiges anzudeuten, liegt meiner bescheidenen Wenigkeit fern, Mylady«, antwortete der Butler mit unbewegter Miene und brachte den schwarzen Kasten direkt vor der Ladentür am Stra ßenrand zum Stehen. Eigentlich sprach nichts dagegen, den Haupteingang zur Höhle des Löwen zu benutzen. Da Greystoke einmal gewarnt war, ließ er sicher auch etwaige Hintereingänge bewachen, vorausgesetzt, seine personellen Reserven reichten dafür aus. Aus dem Augenwinkel musterte Parker die Vorderfront des La dens, während er Lady Simpson beim Aussteigen behilflich war. Beide Schaufenster waren mit Kleincomputern vollgestellt, die allerdings schon etwas Staub angesetzt hatten. Obwohl die Ein gangstür verglast war, erwies es sich als unmöglich, in den Laden hineinzusehen. Vor der Tür zögerte der Butler einen Moment, was Myladys Un willen weckte. »Sie haben wohl Angst, Mister Parker?« mutmaßte die resolute Dame. »Ich werde Ihnen zeigen, wie man sowas macht.«
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Entschlossen trat die ältere Dame auf die Tür zu, drückte die Klinke und trat forschen Schrittes über die Schwelle. Zielbewußt den Blick nach vorn gerichtet, ignorierte Lady Agat ha den athletisch gebauten jungen Mann. Er hielt eine federnde Stahlrute in der Faust und holte gerade zum Schlag aus. Parker, der seiner Herrin mit zwei Schritten Abstand folgte, mißbilligte dieses ungastliche Benehmen und zog die entspre chenden Konsequenzen. Wie ein routinierter Degenfechter, der einen Ausfall macht, fuhr der Butler mit seinem schwarzen Universalschirm dazwischen, gerade noch rechtzeitig, um die ältere Dame vor einem Kranken hausaufenthalt oder Schlimmerem zu bewahren. Klirrend federte die Stahlrute von der bleigefütterten Schirm spitze ab und leitete die volle Wucht des Schlages in die Hand des Angreifers zurück. Jaulend führte der Mann eine Art indianischen Kriegstanz auf. Parker blieb jedoch keine Zeit, sich dieser ekstatischen Darbie tung zu widmen. Blitzschnell zog er die schwarze Melone vom Kopf und ließ sie in elegantem Bogen in den Verkaufsraum schwirren. Der Mann, dessen Kopf hinter einem leicht mitgenommen wir kenden Grünpflanzenarrangement aufgetaucht war, reagierte eindeutig verdutzt, als die steife Kopfbedeckung wie eine schwar ze Frisbeescheibe auf ihn zugesegelt kam. Das unbemannte Flug objekt faszinierte ihn dermaßen, daß er völlig vergaß, die langläu fige Automatic einzusetzen, die er aus der Schulterhalfter gezo gen hatte. Erst als die Stahlkrempe des Bowlers eine saubere Schneise durch Farne und Philodendron schnitt, zuckte der Gangster zu sammen und riß im Reflex die Hände hoch. Die Reaktion kam allerdings um Sekundenbruchteile zu spät. Parkers Gegner konnte nicht mehr verhindern, daß die Melone über seine Stirn glitt und ihm im Handumdrehen eine nicht be sonders vorteilhafte Kurzhaarfrisur bescherte. Irritiert ließ der Geschorene seine entsicherte Mordmaschine fal len und nahm zwischen den Resten der Grünpflanzen Platz. Dabei machte er den Eindruck, als wollte er die Angelegenheit erst mal gründlich überdenken. Agatha Simpson war in der Zwischenzeit nicht untätig geblie ben. Sie hatte ihren perlenbestickten Pompadour in Marsch ge
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setzt und dem Indianertanz des Türwächters ein abruptes Ende bereitet. »Sehen Sie, Mister Parker, so wird’s gemacht«, triumphierte die Detektivin, während der Butler die beiden Gangster an Hand- und Fußgelenken mit nylonverstärktem Paketklebeband versorgte. Daß es sich um die Männer handelte, die aus dem fahrenden Ja guar auf ihn geschossen hatten, überraschte ihn keineswegs. »Lassen Sie den Lümmel einstweilen hier liegen, Mister Parker«, verlangte Lady Simpson. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit bedeutungslosen Randfiguren abzugeben.« »Eine Feststellung, die man mit allem Nachdruck unterstreichen möchte, falls es genehm ist«, sagte der Butler und schritt seiner Herrin auf dem weiteren Weg voran. * Im Gegensatz zu Lady Agatha gab Parker sich keineswegs der Illusion hin, Fred Greystokes Sicherheitsvorkehrungen wären be reits erschöpft. Deshalb ging er mit außerordentlicher Vorsicht zu Werke, ehe er die Tür öffnete, die vom Laden in den rückwärtigen Teil des Gebäudes führte. Wider Erwarten gelangte man jedoch unbehelligt durch einen langen Flur auf den asphaltierten Hof und von dort in einen zwei geschossigen Flachbau, dessen oberes Stockwerk Wohnzwecken zu dienen schien. Parker schob behutsam die Tür einen Spalt auf und lauschte in den Hausflur. Die Stimmen, die an sein Ohr drangen, wirkten gedämpft. Sie schienen aus einem weiter entfernten Raum zu kommen. Geräuschlos drückte der Butler die Tür ganz auf und ließ Lady Agatha eintreten. Am Ende des Ganges stand die Tür eines Zimmers offen. Von dort drangen undeutliche Gesprächsfetzen heraus. »Könntest uns ja ruhig mal zeigen, wie du das machst, John«, hörte Parker eine Männerstimme, während man auf leisen Sohlen die offene Tür ansteuerte. »Im Prinzip ganz einfach, Ray«, erwiderte eine helle Stimme, die allem Anschein nach dem entführten Computerfan John Seagle gehörte.
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»Hast du denn schon mal was von Viren gehört, Ray?« wollte der Junge wissen. »Klar, hat doch jeder«, gab Ray zur Antwort. »Ich meine sogenannte Computerviren«, wurde der jugendliche »Hacker« konkreter. »Computerviren?« nahm der Butler eine zweite Männerstimme wahr. »Willst uns wohl auf den Arm nehmen, John?« »Nee«, beharrte der Junge. »Die gibt’s wirklich, Glen. Allerdings sind das keine Lebewesen, sondern spezielle Programme, die an dere Programme sozusagen infizieren und von innen heraus zer stören können.« »Und so ’nen Virus willst du in den Computer von Henderson schmuggeln?« erkundigte sich Ray. »Ich will schon«, entgegnete der Junge. »Aber zur Zeit komm’ ich einfach nicht durch. Die scheinen sich komplett vom externen Netz abgehängt zu haben.« »Eine Maßnahme, zu der man dem Geschäftsführer des erwähn ten Unternehmens ausdrücklich riet, falls der Hinweis erlaubt ist«, sagte Parker in die Gesprächspause hinein und faßte sofort seinen schwarzen Universal-Regenschirm fester. Entsprechend verhielt sich Lady Simpson auf der anderen Seite der offenen Tür. Neugierig auf den unsichtbaren Gesprächsteilnehmer, steckten beide Männer den Kopf nach draußen. Sie sahen jedoch nichts, da ihnen schlagartig schwarz vor Augen wurde. Dafür hatten Lady Simpsons Glücksbringer und Parkers Regen dach in konzentrierter Aktion gesorgt. Stöhnend torkelten die beiden ins Zimmer zurück und richteten dabei diverse Verwüs tungen an, was von eindrucksvollem Scheppern und Poltern be gleitet wurde. Als die Detektivin und der Butler Sekunden später eintraten, schaute der vierzehnjährige John Seagle ihnen fassungslos ent gegen. Seine Bewacher hingen ebenso einträchtig wie entspannt über einem schmalen Tisch. Um sich diesen offenbar gemütlichen Platz ergattern zu können, hatten sie vorher ein Computer-Terminal samt Tastatur, Bild schirm und Schnelldrucker abräumen müssen. Die bis zur Un kenntlichkeit zerkleinerten Geräte lagen auf dem Boden und qualmten verhalten vor sich hin.
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»Ich habe dich befreit, mein Junge«, setzte Agatha Simpson den leicht geschockt wirkenden Computerfan ins Bild. »Freust du dich denn gar nicht?« »Nee«, antwortete Seagle knapp und wich gewandt aus, als die ältere Dame mit ausgebreiteten Armen auf ihn zustürmte. »Die Angst vor den skrupellosen Verbrechern und das unver hoffte Glück der Befreiung haben dem armen Kind die Sinne ver wirrt, Mister Parker«, stand für die Detektivin fest. »Jetzt braucht der Junge erst mal eine Brust, an der er sich ausweinen kann.« »Wie Mylady meinen«, erwiderte der Butler höflich und regist rierte mit teilnahmslos wirkender Miene, wie seine Herrin den schmächtigen Vierzehnjährigen geschickt in eine Ecke trieb. Beherzt gelang es Lady Agatha auch, den sichtbar Widerstre benden in die Arme zu schließen und mitleidsvoll an ihre Brust zu drücken, doch John Seagle wußte sich zu befreien. In seiner Not kratzte und biß er wie eine tollwütige Katze. Agatha Simpson mußte die Umklammerung lösen, um einen handfesten Verweis erteilen zu können und traf zu ihrer maßlosen Überraschung… ins Leere. John war entwischt, hatte sich in eine andere Ecke des Zimmers gerettet und fixierte nun den Butler, der ihm den Weg zur Tür versperrte. »Hat man richtig verstanden, daß Sie nicht daran interessiert sind, aus der Hand Ihrer Entführer befreit zu werden?« vergewis serte sich Parker. »Warum auch?« gab der Junge patzig zurück. »So gut wie hier ist es mir noch nie gegangen.« »Darf man möglicherweise auf eine nähere Erläuterung hoffen?« hakte der Butler nach, während Agatha Simpson den Jungen mit der Nickelbrille und den roten Stoppelhaaren mißbilligend von der Seite betrachtete. »Pa und Ma liegen doch immer nur betrunken im Bett und ha ben nie Geld«, schilderte der Vierzehnjährige sein verwahrlostes Zuhause. »Hier haben sie mir ein Zimmer gegeben – mit Farb fernseher und Stereoturm. Ich kann den ganzen Tag am Compu ter sitzen und kriege zu essen, was ich mir wünsche.« »Dennoch dürfte sich der Verlust der Freiheit auf Dauer schmerzlich bemerkbar machen, sofern der Hinweis erlaubt ist.« »Da komm’ ich gut mit klar«, behauptete John ein wenig groß spurig. »Ich hab’ ja sogar Freunde hier.«
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»Muß man möglicherweise der Vermutung zuneigen, daß Sie diese Herren hier als Ihre Freunde betrachten?« Parker streifte die Gangster, die er kurz vorher entwaffnet hatte, mit einem aufmerksamen Blick. »Ray Stout ist ein prima Kerl«, versicherte der Junge und deu tete auf eine der völlig erschöpft wirkenden Gestalten. Es handelte sich um den Mann, der dem Butler sofort bekannt vorgekommen war. Er erinnerte sich auch, wo er Ray Stout schon mal gesehen hatte: als Straßenkehrer in der Halle von Victoria Station. »Aber Glen Somers ist auch ganz in Ordnung«, fuhr der Compu terspezialist in Karohemd und Blue Jeans fort. »Darf man möglicherweise erwarten, daß auch Mister Fred Greystoke Ihnen persönlich bekannt ist?« fragte Parker, und der Junge nickte. »Kein übler Typ«, urteilte er lässig. Plötzlich verzog John Seagle, der die Unterhaltung mit kindli chem Ernst geführt hatte, sein Gesicht zu breitem Grinsen. Seine Blicke waren eindeutig auf die offene Tür gerichtet, die sich im Rücken des Butlers befand. Der fünfzigjährige Mann im Türrahmen hielt einen schallge dämpften Revolver in der Rechten. Sein hageres Gesicht wirkte wie versteinert. Langsam wanderten die eisblauen Augen hin und her. »Geht man möglicherweise recht in der Annahme, Mister Fred Greystoke vor sich zu haben?« erkundigte sich der Butler mit ei ner höflichen Verbeugung. »Überflüssige Frage«, gab Greystoke kühl zurück. »Und Sie sind vermutlich Mister Parker.« »Sie sagen es, Mister Greystoke«, bestätigte der Butler. »Josu ah Parker. Man hat die Ehre und den Vorzug, Butler in Lady Simpsons Diensten zu sein.« Dabei verneigte er sich in Richtung seiner Herrin. »Sie haben einen Fehler gemacht, Parker«, stellte der Gangster mit metallisch klingender Stimme fest. »Darf man unter Umständen erfahren, welchen Fehler Sie zu meinen belieben, Mister Greystoke?« wollte Parker wissen. »Sie haben sich in eine Sache eingemischt, aus der Sie sich besser rausgehalten hätten«, antwortete Greystoke.
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»Das ist meine Pflicht, junger Mann«, mußte er sich von Lady Agatha belehren lassen. »Wenn ich die Unterwelt nicht in Schach halte – wer soll es dann tun?« »Dann wird es Ihnen ja auch nicht schwerfallen, in Erfüllung Ih rer Aufgabe den Tod für Recht und Gesetz zu sterben, Lady«, meinte Greystoke und setzte ein diabolisches Grinsen auf. »Jetzt ist nämlich für alle Zeiten Schluß mit der Schnüffelei.« »Kann und muß man Ihre Äußerung so deuten, daß Sie Mylady und meine bescheidene Wenigkeit ins sogenannte Jenseits zu befördern gedenken, Mister Greystoke?« vergewisserte sich der Butler. »Anders seit ihr zwei ja nicht zur Vernunft zu bringen«, tat der Gangster seine Ansicht kund. Mit einer Geste, die wohl väterlich wirken sollte, legte er den linken Arm um die Schulter des Jun gen, der inzwischen an seine Seite getreten war. »Ray! Glen!« raunzte er gleich darauf seine immer noch recht apathisch wirkenden Bodyguards an. »Erhebt euch, ihr schlappen Säcke! Oder muß ich erst ungemütlich werden?« Darauf wollten weder Ray Stout noch Glen Somers es ankom men lassen. Stöhnend schraubten sie sich in die Senkrechte, standen auf schwankenden Beinen und machten Gesichter wie begossene Pudel. »Wo habt ihr denn eure Ballermänner, ihr Nullen?« wollte Greystoke in barschem Ton wissen. »Keine Ahnung, Chef«, gestanden die beiden ratlos, nachdem sie ohne Erfolg ihre Schulterhalfter inspiziert hatten. »Da, Mister Greystoke«, schaltete der vierzehnjährige John sich ein und zeigte auf den Butler. »Der hat sie eingesteckt.« Unter den wachsamen Blicken des Hausherrn, der weiterhin sei nen schallgedämpften Revolver im Anschlag hielt, mußte Parker wohl oder übel den Bodyguards ihre Waffen aushändigen. »Los, setzt euch in Bewegung, Jungs!« kommandierte Greysto ke. »Und diese beiden Witzblattfiguren nehmen wir gleich mit.« »Ins Schwimmbad, Chef?« fragte Ray Stout. »Wohin denn sonst, ihr Schlafmützen?« knurrte der Erpresser. »Los, vorwärts!« Von drei Bewaffneten in Schach gehalten, traten Agatha Simp son und Josuah Parker den Weg zum hauseigenen Hallenbad an, das mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet war.
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»Was versprechen Sie sich von diesem skandalösen Verhalten, junger Mann?« beschwerte sich die Detektivin. »Meinen Sie etwa, Sie müßten mir das Schwimmen beibringen?« »Dazu ist es sowieso zu spät, Lady«, ließ Greystoke die ältere Dame wissen. »Das wird nämlich Ihr letztes Bad sein.« Inzwischen näherte man sich dem Rand des marmornen Be ckens. Sofort fiel Parkers Blick auf ein elektrisches Verlänge rungskabel in einer Steckdose an der Wand. Das andere Ende lag griffbereit am Beckenrand. Das also war Greystokes teuflischer Mordplan. Er wollte seine Gegner ein für allemal ausschalten, indem er das Wasser des Schwimmbeckens unter Strom setzte. Hatte er das Paar aus Shepherd’s Market erst mal in den Fluten, war der Rest mit einem leichten Fußkick zu erledigen. Doch soweit wollten es natürlich weder Agatha Simpson noch der Butler kommen lassen. Fieberhaft hielt Josuah Parker nach einer Möglichkeit Ausschau, die Pläne des Trios zu durchkreuzen. Zwar machten Stout und Somers immer noch einen leicht angeschlagenen Eindruck, aber zumindest ihr Chef war die Wachsamkeit in Person. Eine hauchdünne Chance ergab sich, als Ray Stout zwischen Greystoke und Lady Agatha zur anderen Seite hinüberwechselte. Leichtfertigerweise drehte er dabei der resoluten Dame für Au genblicke den Rücken zu, und Agatha Simpson handelte. Mit einem beherzten Fußtritt ins Hinterteil katapultierte sie den völlig überraschten Bodyguard in die Arme seines Brötchenge bers. Der Schuß, der sich dabei löste, war eine unmittelbare Folge des ungestümen Körperkontakts, dem die Gangster sich hinga ben. Die Kugel richtete jedoch keinen Schaden an, wenn man von einer zertrümmerten Fensterscheibe absah. Das war der Moment, in dem Parker eingriff und das Blatt wen dete. Fred Greystoke, der sich kaum von seinem Schrecken erholt hatte, jaulte wie ein getretener Hund, als die bleigefüllte Spitze des altväterlich gebundenen Universal-Regenschirmes nachdrück lich auf seine Fingerknöchel tippte. Jammernd ließ der Mann den Revolver fallen und hatte nur noch Augen für die rasch anschwel lenden Greifwerkzeuge. Gleichzeitig griff der Butler nach seiner schwarzen Melone und ließ sie zu Somers hinübersegeln. Sirrend glitt die Stahlkrempe
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der steifen Kopfbedeckung über die rechte Hand des Mannes und überredete auch ihn, sich schleunigst der Waffe zu entledigen. Anschließend führte Parker die bleigefütterte Schirmspitze auf Ray Stouts Körper spazieren, was den Jugendlichen veranlaßte, schlagartig die Atemluft von sich zu geben. Japsend torkelte er rückwärts an Lady Simpson vorbei und landete klatschend in den Fluten. »Alles Weitere überlassen Sie mir, Mister Parker«, verlangte die Detektivin. Fred Greystoke und Glen Somers waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um noch rechtzeitig reagieren zu können. Kurz nach einander schlugen Myladys berüchtigte Ohrfeigen wie Blitze aus heiterem Himmel ein. Beide zeigten jedoch eine, überraschende Standfestigkeit, so daß Lady Agatha mit einem Tritt, nachhelfen mußte, um Glen Somers zu seinem heftig plantschenden Komplicen ins Wasser zu befördern. Während der Bodyguard im gestreckten Kopfsprung in die Flu ten tauchte, erblickte Fred Greystoke, der als krimineller »Ha cker« das große Geschäft hatte machen wollen, seine letzte Chance. Mit aller Energie, die ihm noch geblieben war, wollte der Gangs ter durchstarten, um das sprichwörtliche Weite zu suchen. Doch der Butler war auf der Hut und durchkreuzte seine Fluchtpläne. Greystoke war noch keine zwei Schritt gelaufen, als sich der Bambusgriff von Parkers schwarzem Regendach um seine Fußge lenke ringelte. Das unverhoffte Hindernis weckte in dem »Ha cker« einen spontanen Entschluß: Er versuchte es mit einem Gleitflug. Dabei zeigte sich jedoch, daß der ungeübte Luftsportler be trächtliche Schwierigkeiten mit der Navigation hatte. Er verfehlte die Richtung, suchte sein Heil in einer Notwasserung und leistete fortan seinen Befehlsempfängern im Schwimmbecken Gesell schaft. *
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»Und diese Jammerlappen haben sich eingebildet, mich mit ih ren Spielzeugpistolen zum Schweigen bringen zu können«, übte die passionierte Detektivin Kritik. »Gegebenenfalls ist der Hinweis genehm, daß die Herren offen bar nicht die Absicht hatten, ihre Schußwaffen zu aktivieren, My lady«, erwiderte der Butler. »Sondern, Mister Parker?« »Vielmehr dürften Mylady davon ausgehen«, fuhr der Butler fort, »daß Mister Greystoke sich elektrischer Energie zu bedienen gedachte.« Dabei deutete er auf das Kabel, dessen Ende immer noch am Beckenrand lag. »Das wird mir das Gesindel büßen!« grollte die Detektivin und griff nach dem Kabelende. »Mylady planen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten?« verge wisserte sich der Butler. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mister Parker«, demonstrierte Agatha Simpson ihre Beschlagenheit im Alten Testament. »Wie Mylady wünschen«, ließ Parker sich mit unbewegter Miene vernehmen, zog jedoch den Stecker aus der Steckdose, ohne daß seine Herrin oder das Trio im Wasser etwas davon merkten. Der vierzehnjährige John Seagle stand. Wie erstarrt dabei. Die hellblauen Augen hinter den runden Brillengläsern waren fas sungslos auf das Geschehen gerichtet. »Sie gestehen also, daß Sie diesen armen Jungen entführt ha ben und ihn dazu mißbrauchen wollten, Mister Gable zu erpres sen?« fragte die ältere Dame in dienstlichem Ton und ließ das Kabelende beängstigend nahe über dem Wasserspiegel baumeln. »Vorsicht!« kreischte Greystoke entsetzt. »Das Kabel.« »Ich passe schon auf, junger Mann«, schob Lady Agatha seine Bedenken beiseite. »Ich gestehe alles«, schrie der »Hacker« mit flehend erhobenen Händen. »Aber nehmen Sie endlich das verdammte Kabel weg!« »Darf man in diesem Zusammenhang möglicherweise die Frage anschließen, wo Sie den ebenfalls entführten Mister Maple ver steckt halten, Mister Greystoke?« schaltete Parker sich ein. »Im Heizungskeller«, gestand der Gangsterboß. »Sehen Sie nach, Mister Parker«, sagte Mylady. »Falls sich her ausstellt, daß der Lümmel lügt, wird mir das Kabel vielleicht aus der Hand rutschen.« »Es stimmt!« beteuerte Greystoke verzweifelt.
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»Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden, Mister Playjoke«, fuhr die resolute Dame ihn an. Dabei passierte es. Das heißt: Es wäre passiert, hätte der stets wachsame Butler nicht reaktionsschnell eingegriffen. Kurz entschlossen hakte er den Bambusgriff seines schwarzen Universalschirms in den Kragen von Myladys Kostümjacke und bewahrte sie dadurch vor einem Sturz ins Becken. Fünf Minuten später stürmten zwei Dutzend Polizisten das priva te Luxus-Schwimmbad des Gangsterchefs. Josuah Parker hatte die Beamten mit ausdrücklicher Zustim mung seiner Herrin alarmiert, nachdem er Marc Maple befreit und das triefende Trio aus dem Schwimmbecken mit Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl versorgt hatte. Als letzter drängte auch Chief-Superintendent McWarden von Scotland Yard durch die Tür. Der einflußreiche Beamte, der eine Spezialabteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens leitete, war häufiger Gast im Hause Simpson. Geradezu überschwenglich gratulierte er der Detektivin zu ih rem Erfolg und beglückwünschte auch Henderson-Geschäftsführer Marc Maple zu seiner Befreiung. »Und das ist der entführte John Seagle?« vergewisserte sich McWarden. »Ein unverschämter Bengel, der es nicht wert ist, daß ich ihn aus der Hand seiner Entführer befreit habe«, reagierte Lady A gatha grimmig. »Das Verhalten des jungen Mister Seagle dürfte eindeutig auf ungünstige Familienverhältnisse zurückzuführen sein, Sir«, er gänzte der Butler und schilderte dem Chief-Superintendent eben so knapp wie diskret Johns zerrüttetes Elternhaus. »Dann werden wir uns erst mal um den Jungen kümmern«, ent schied der Yard Beamte. »Strafmündig ist er ja noch nicht.« * Die Runde, die sich auf der Sonnenterrasse von Marc Maples Fe rienhaus an der Südküste eingefunden hatte, um die Festnahme des »Hackers« zu feiern, zeigte geradezu ausgelassene Fröhlich keit. Außer Lady Simpson und dem Butler hatte der Hausherr auch Mike Rander und Kathy Porter eingeladen. Chief
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Superintendent McWarden hatte sich eigens, dienstfrei genom men, um dabeizusein. Hell klangen die Champagnergläser, und da Marc Maple über ei genes Hauspersonal verfügte, saß auch Josuah Parker am Tisch und genoß das prickelnde Getränk. »Wenn Sie nicht zufällig an dem Morgen im Werk alles miterlebt hätten, wäre der ›Hacker‹ wohl nicht so schnell gefaßt worden, Mylady«, meinte der Gastgeber. »Stimmt genau, junger Mann«, bestätigte Lady Agatha und lä chelte geschmeichelt. »Nur ein Zufall war es nicht. In Wahrheit bin ich meinem Instinkt gefolgt.« »Ich will Ihnen ja keineswegs zu nahe treten, Mister McWar den«, fuhr der Hausherr fort. »Aber ohne den Einsatz von Lady Simpson und Mister Parker wären die Gangster doch vermutlich noch auf freiem Fuß, oder?« »Ehre, wem Ehre gebührt«, erwiderte der Chief-Superintendent mit leicht verkniffenem Lächeln. Er hatte sich fest vorgenommen, die streitbare Dame auf keinen Fall zu reizen. Daß die Polizei in diesem Fall erst reichlich spät kam, ließ sich ohnehin nicht weg diskutieren. »Was ist denn eigentlich aus dem Jungen geworden, Mister McWarden?« erkundigte sich Myladys Gesellschafterin. »Zusammen mit dem Jugendamt haben wir die häuslichen Ver hältnisse des Jungen überprüft und sind zu dem Schluß gelangt, daß er unbedingt in eine andere Umgebung muß«, berichtete der Mann vom Yard. »Doch hoffentlich nicht in ein Heim?« schaltete Rander sich be sorgt ein. »Das war zum Glück nicht nötig«, entgegnete der ChiefSuperintendent. »Wir konnten John bei seiner Tante Betty in Schottland unterbringen, wo er einige glückliche Kinderjahre ver brachte, bis seine Eltern ihn wieder zu sich holten.« »Der Junge sollte sein ungewöhnliches Talent aber auf keinen Fall vernachlässigen«, meinte die hübsche Kathy. »Er hat noch eine große Karriere vor sich.« »Im Moment ist das noch ein kleines Problem, Miß Porter«, ge stand McWarden. »In der Nähe seines neuen Wohnortes gibt es keinen Computerclub, und über ein eigenes Gerät verfügt John auch nicht.«
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»Ich meine allerdings gehört zu haben, daß es selbst in Schott land schon Computer gibt, mein lieber McWarden«, warf Agatha Simpson ein. »Seit kurzem, Mylady«, bestätigte der Beamte schmunzelnd. »Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß Johns Tante zwar in ge ordneten Verhältnissen lebt, aber nicht das Geld aufbringen kann, um dem Jungen ein entsprechendes Gerät zu kaufen.« »Verdient hat der freche Lümmel es ja nicht, aber vielleicht soll te ich doch mal Gnade vor Recht ergehen lassen«, dachte die passionierte Detektivin laut. »Ein Entschluß, zu dem man Mylady nur beglückwünschen kann«, meldete Parker sich zu Wort. »Darf man Myladys Äuße rung so verstehen, daß Mylady dem Jungen einen Computer zu schenken planen?« »Ich werde es mir jedenfalls überlegen«, teilte Agatha Simpson mit. »Sie können ja in den nächsten Tagen nach günstigen Son derangeboten Ausschau halten, Mister Parker.« »Was man keinesfalls versäumen wird, Mylady«, versprach der Butler. Dabei blieb sein alterslos wirkendes Gesicht so glatt und undurchdringlich wie immer.
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