ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 16 von James H. Schmitz Everett B. Cole F. L. Wallace
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 16 von James H. Schmitz Everett B. Cole F. L. Wallace
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2899 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Übersetzung von Heinz Nagel Erstmals in deutscher Sprache
Umschlagillustration: Fawcett Publications, Inc. Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02899 3
Barney Chards Absichten waren eindeutig. Er wollte den Professor ausnehmen, nach allen Regeln der Kunst, wollte ihm seine Erfindung stehlen, in die der Wissenschaftler sein gesamtes Vermögen investiert hatte. Nur ahnte er nicht, daß man seine bösen Absichten längst durchschaut hatte und mit ihm experimentierte… DER ANGLER von James H.Schmitz Eingriffe von außen in die Entwicklung einer Kultur auf einem anderen Planeten waren nicht erlaubt. Aber man wußte sich zu helfen. Es gab Mittel und Wege, den Lauf der Dinge zu bremsen oder etwas nachzuhelfen. Besonders wenn sich gewisse Leute auf den Weg machten, um eine böse Heilslehre zu verbreiten… DIE MISSIONARE von Everett B.Cole Die Menschen hielten sich für die größte und stolzeste Rasse im ganzen Weltraum. Sie hatten sich auf zahlreichen Planeten entwickelt, andere Völker nur jeweils auf einem. Folglich mußten sie von einer großen und mächtigen Ur-Rasse abstammen, die vor undenklichen Zeiten durch das Weltall gereist und unzählige Planeten besiedelt hatte. Sie suchten ihren Ahnherrn, aber sie fanden nicht ihn, sondern die entsetzliche Wahrheit übe ihre Herkunft… AHNENFORSCHUNG von F. L. Wallace
James H. Schmitz DER ANGLER
Barney Chard, siebenunddreißig – Finanzier, Unternehmer, gelegentlich Erpresser, gelegentlich V-Mann und in all diesen Aktivitäten sehr erfahren – stand auf einem brüchigen Landesteg und kniff die Augen gegen die Nachmittagssonne zusammen. Er wartete darauf, daß der Mann, mit dem er Geschäfte machen wollte, aufhörte so zu tun, als interessiere er sich nur fürs Fischefangen. Der Mann, mit dem er Geschäfte machen wollte, stand ein paar Meter entfernt auf demselben Landesteg, die Angelrute in der Hand, und hieß Dr. Oliver B. McAllan. Er war Physiker im Ruhestand, wenn auch weniger im Ruhestand, als man allgemein annahm. Vor einem guten Dutzend Jahren hatte er zur Spitzengruppe der Physiker im Lande gehört. Und wenn er sich auch wie ein gealterter Twen kleidete – er nannte das seine Angelkluft – war er im Augenblick zumindest potentiell der reichste Bürger des Landes. Es gab da eine Erfindung, die er im verborgenen gemacht und McAllan-Röhre genannt hatte. Und diese Röhre war der Grund, weshalb Barney Chard McAllan aufgesucht hatte. Dr. McAllan hob und senkte die Angel und blickte über das ruhige Wasser hinaus. Er schien tief in Gedanken versunken. Der Mann hatte einen Geheimnistuereifimmel. Die Erfindung, dachte Barney, hatte sich als größer als der Erfinder erwiesen. McAllan hatte vor der Röhre Angst, und im Vordergrund seiner Überlegungen mußte die unabweisbare Tatsache stehen, daß das Geheimnis der McAllan-Röhre sich ohne die
Unterstützung Barney Chards nicht mehr bewahren ließ. Barney hatte Beweise für ihre Existenz und brauchte diese Beweise eigentlich gar nicht. Ein paar geschickt unter die Leute gebrachte Andeutungen, und McAllans zwölf Jahre striktester Geheimhaltung waren sinnlos geworden. Ergo, mußte McAllan jetzt überlegen: wie konnte man Mr. Chard dazu bewegen, den Mund zu halten? Aber da war noch eine zweite Überlegung, die Barney dem alten Gelehrten aufgedrängt hatte. Mr. Chard, dieser hochgebildete Mann von Welt, machte – übrigens durchaus nicht zufällig – den Eindruck, als stünden ihm beträchtliche Geldmittel zur Verfügung. Sein Auftreten, der konservativ geschneiderte Anzug, die wertvolle Platinarmbanduhr… und McAllan brauchte dringend Geld. Früher einmal war er selbst ziemlich wohlhabend gewesen; aber da er davon Abstand genommen hatte, die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Röhre auszubeuten, hatte die Arbeit an dieser Erfindung sein ganzes Kapital aufgezehrt. Zumindest konnte man annehmen, daß das der Grund für McAllans Geldmangel war – und daß es ihm an Geld mangelte, hatte Barney zweifelsfrei festgestellt. Es war noch eine Frage von Monaten, und der alte Mann würde anfangen, von trockenem Brot und Wasser zu leben. Ergo, mußte McAllan, jetzt denken: wie konnte man Mr. Chard nicht nur dazu veranlassen zu schweigen, sondern ihm sogar finanzielle Unterstützung zu gewähren? Welchen Anreiz, von der Röhre selbst abgesehen, konnte man jemandem in Mr. Chards Position bieten? Barney grinste innerlich, als er den Stummel seiner Zigarette in das bernsteinfarbene Wasser schnippte. Der Gimpel verkauft sich immer selbst, und McAllan war da schon ziemlich weit gediehen. Höfliches Schweigen war alles, was im Augenblick nötig war. Er zündete sich eine frische Zigarette an und empfand leichte Neugierde hinsichtlich der geographischen
Lage des kleinen Sees. Er mochte in Wisconsin, Minnesota, Michigan liegen – das waren drei Möglichkeiten. Was aber wirklich wichtig war, war die Tatsache, daß McAllans Röhre sie vor einer halben Stunde buchstäblich im Bruchteil einer Sekunde von seinem Haus in Kalifornien hierher transportiert hatte. Dr. McAllan räusperte sich nachdenklich. »Haben Sie schon einmal geangelt, Mr. Chard?« fragte er. Nachdem er seinen ersten Schock über Barneys Enthüllungen überwunden hatte, hatte er jetzt wieder zu reden angefangen, und zwar in der gleichen abrupten Art und Weise, an die Barney sich vom letztenmal erinnerte. »Nein«, meinte Barney lächelnd. »Habe nie die Zeit dafür gefunden.« »Wohl immer beschäftigt, was?« »Ja, mit diesem und jenem«, nickte Barney. Wieder räusperte sich McAllan. Er war ein munterer kleiner Mann, schon siebzig, aber immer noch gesund aussehend, mit einem sonnenverbrannten Gesicht und rosigen Apfelbacken. Seine ausgeblichenen blauen Augen musterten Barney interessiert durch die Stahlrahmenbrille. »Um die fünfunddreißig sind Sie wohl, was?« »Siebenunddreißig.« »Verheiratet?« »Geschieden.« »Besondere Hobbies?« Barney lachte. »Gelegentlich spiele ich Golf. Aber nicht besonders ernsthaft.« »Was tun Sie dann, um sich zu entspannen?« »Oh… ich würde sagen, mir macht fast alles Spaß, um das ich mich kümmere.« Barney lächelte immer noch, aber innerlich war er auf der Hut. Er hatte Fragen von McAllan erwartet, aber nicht Fragen dieser Art.
»Hauptsächlich Geld machen, was? Nun«, räumte McAllan ein, »ist auch kein schlechtes Hobby. Und so praktisch. Ich… he! Augenblick.« Die Spitze der dünnen Angelrute, die er in der linken Hand hielt, wurde plötzlich nach unten gezogen, und zwanzig Meter weiter draußen im See gab es eine heftige Bewegung. McAllan hob seine Angelrute mit einer eleganten, schnellen Bewegung etwas an und wartete. »Der hat angebissen!« verkündete er und sah Barney beinahe kindlich vergnügt an. Der Fisch am anderen Ende der Leine schien sich nicht sonderlich zu wehren, aber der alte Mann kurbelte ihn langsam und vorsichtig herein, ließ ihm manchmal wieder etwas Leine und zog dann wieder an. Er schien völlig in seine Tätigkeit versunken. Erst als er den Fisch dicht an den Landesteg herangezogen hatte, rührte sich unter der Wasserfläche etwas. Und dann kniete McAllan nieder, hielt die Angelrute mit einer Hand und griff mit der anderen nach seinem Fang. Barney erblickte kurz ein grün-silbernes Etwas mit rötlichen Froschaugen. »Sehr hübsch«, meinte McAllan und grinste breit. »Und jetzt – « Er legte die Angel auf den Steg und steckte auch die andere Hand ins Wasser. Der Fisch schlug Wellen, legte sich auf die Seite und – verschwand. »Verloren!« meinte Barney überrascht. »Wie?« McAllan wandte den Kopf. »Nein, junger Mann – ich habe ihn absichtlich freigelassen. Der Haken hat ihn nicht verletzt. So kleine Burschen haben zarte Lippen, aber ich verwende Angelhaken, die nicht verletzen. Da haben die ‘ne bessere Chance.« Er stand auf und klopfte sich die ausgebeulten Hosen ab. »Die paar Fische, die ich essen kann, kriege ich ohnehin«, fügte er hinzu.
»Der Angelsport macht Ihnen wirklich Spaß, oder?« fragte Barney interessiert. McAllan riet ihm so ernsthaft, wie nur echte Angler das können, er solle es doch auch einmal versuchen. »Man gewöhnt sich dran. Ich könnte nicht mehr anders leben. Ich habe geangelt, seit ich ein Dreikäsehoch war. Vor drei Jahren habe ich mir gedacht, jetzt verstehe ich genug davon, um ein Buch zu schreiben. Ich habe mehr Briefe zu diesem Buch bekommen – gute Anregungen übrigens – als zu sämtlichen Arbeiten, die ich auf dem Gebiet der Physik veröffentlicht habe.« Er sah Barney einen Augenblick ernsthaft an und fuhr dann fort: »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich eine Weile angeln muß, um mich zu beruhigen. Sie haben mir wirklich einen Schock versetzt. Nun, es hat geholfen. Angeln ist die beste Medizin für die Nerven, die ich mir denken kann. Dabei habe ich nachgedacht. Ich wäre interessiert… nun, ich würde mich gern mit Ihnen über die Röhre unterhalten, Mr. Chard. Und vielleicht auch über andere Dinge.« »Freut mich sehr, das zu hören, Doktor«, sagte Barney feierlich. »Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie erschreckt habe.« McAllan zuckte die Achseln. »Nichts passiert. Ich habe mir einiges überlegt. Wir können gleich hier reden.« Er deutete auf die verwitterte kleine Hütte am Ufer. »Ich fühle mich in dem Haus in Kalifornien nicht ganz sicher. Deshalb habe ich auch diesen Ausflug vorgeschlagen.« »Sie meinen, Ihr Angestellter dort könnte nicht ganz verläßlich sein?« »Fredericks nicht verläßlich? Um Himmels willen, nein! Der weiß natürlich über die Röhre Bescheid. Er käme nie auf den Gedanken, mit einem Fremden über meine Erfindungen zu reden. Schließlich ist er seit beinahe vierzig Jahren bei mir.«
»Aber den Anfang unserer Unterhaltung heute hat er belauscht«, bemerkte Barney. »Ja, das tut er immer«, nickte McAllan. »Er ist sehr neugierig, wenn ich Besuch bekomme. Aber sonst… nein. Es gibt heute so hervorragende elektronische Horchgeräte, daß man sich seiner Sache nie ganz sicher sein kann.« »Stimmt.« Barney blickte zu der Hütte. »Und weshalb sind Sie so sicher, daß das nicht auch hier der Fall ist, Doktor?« »Hier würde sich keiner die Mühe machen«, meinte McAllan. »Die Hütte ist nicht auf meinen Namen eingetragen, und der nächste Nachbar wohnt am anderen Seeufer. Und ich komme hier immer nur per Röhre her.« Er ging über den Steg voraus. Barney Chard folgte ihm, die Augen nachdenklich auf McAllans Rücken und das ungeschnittene weiße Haar gerichtet, das unter seiner Fischerkappe hervorhing. Barney hatte es gelernt, Leute, mit denen er zu tun hatte, auf deren Fähigkeit für physische Gewaltanwendung abzuschätzen. Er wäre jede Wette eingegangen, daß weder Dr. McAllan noch Fredericks, der alte Neger, der ihm als Butler diente, dazu in der Lage waren. Aber Barneys rechte Hand, die in der Tasche seines gutgeschneiderten Jacketts steckte, hielt den Griff eines Revolvers umschlossen. Schließlich war das eine sehr ungewöhnliche Situation. Gewisse Faktoren waren nicht vorhersehbar. Menschliche Eigenheiten zu erkennen, war Barneys Spezialität. Aber hier kam noch ein unbekannter Faktor hinzu – die McAllan-Röhre. Und wenn es um seine persönliche Sicherheit ging, zog Barney Chard es vor, überhaupt kein Risiko einzugehen. Er war inzwischen die Holztreppe zur Hütte hinaufgegangen und blickte sich zum See um. Eigentlich hätte diese träge Wasserfläche wenigstens ein bißchen unwirklich erscheinen müssen, der See und die im Westen untergehende Sonne. Denn
noch vor weniger als einer Stunde waren sie in McAllans Haus im Süden Kaliforniens gesessen, und draußen war es hellichter Tag gewesen. »Aber ich kann… ich kann mir wirklich nicht vorstellen«, hatte Dr. McAllan gerade gesagt, und sein rundes Gesicht hatte Unbehagen ausgedrückt, »was Sie auf diese… diese ungewöhnlichen Folgerungen gebracht hat, junger Mann.« Barney hatte beruhigend gelächelt und sich in seinem Sessel vor dem Schreibtisch zurückgelehnt. »Nun, indirekt könnte man, wie die Bilder zeigen, sagen, war es Ihr Interesse für das Angeln. Sehen Sie, Sie sind mir zufällig letzten Monat auf Mallorca aufgefallen…«
Für sich betrachtet, war das zufällige Zusammentreffen auf der Insel nur von mäßigem Interesse gewesen. Barney saß hinter dem Steuer eines alten Autos in der Nähe eines Privathauses, in dem gerade eine geschäftliche Verhandlung von einiger Bedeutung geführt wurde. Es ging zufällig um Barneys Geschäfte, aber es wäre für ihn unzweckmäßig gewesen, selbst an der Besprechung teilzunehmen. Während er darauf wartete, daß seine Mitarbeiter die Sache zu Ende führten, vertrieb er sich die Zeit, indem er einen alten Mann beobachtete, der vielleicht hundert Meter unterhalb der Straße von einem Boot aus angelte. Nach einer Weile ruderte der Alte das Boot zum Ufer und tauchte wenige Minuten später auf der Straße auf. Er trug seine Angelrute und einen offenbar leeren Sack und schlenderte gleichgültig an dem Auto und dem Mann hinter dem Steuer vorbei. Und als er vorbeiging, wußte Barney plötzlich, daß er den Mann schon einmal gesehen hatte. Zwölf Jahre war das her. Dr. Oliver B. McAllan. Vor zwölf Jahren war der Name in McAllans Fachbereich sehr bedeutsam gewesen; inzwischen
war er in Vergessenheit geraten, oder besser gesagt: absichtlich begraben worden. McAllan hatte damals an einer der großen Universitäten an einem Regierungsauftrag gearbeitet, und dann war er plötzlich und in aller Stille pensioniert worden. Barney hatte ein finanzielles Interesse an einem der Kontrakte gehabt und hatte daher Nachforschungen angestellt; es bestand die Möglichkeit, daß er einen Verlust erlitt, wenn McAllan von dem Auftrag abgezogen wurde. Schließlich teilte man ihm in strengstem Vertrauen mit, daß Dr. McAllan durchgedreht hatte. Unter der Wahnvorstellung, eine Entdeckung von ungeheurer Bedeutung gemacht zu haben, hatte er die Behörden dazu überredet, eine Demonstration vorzubereiten. Und als die Demonstration mit einem Mißerfolg endete, beschuldigte McAllan einige seiner bedeutendsten Kollegen wütend, seine Erfindung sabotiert zu haben, und zog sich von der Universität zurück. Um den Namen des einst bedeutenden Wissenschaftlers zu schützen, wurde die Sache vertuscht. Auf Mallorca schien der alte Physiker also beschlossen zu haben, seinen Ruhestand zu genießen. Keine schlechte Wahl, hatte Barney überlegt, als er dem Alten nachsah. Eine schöne Insel in einem herrlichen Meer… Er erinnerte sich daran, von McAllans Vorliebe für den Angelsport gehört zu haben. Einen Tag später, nach zufriedenstellendem Abschluß der Verhandlungen auf Mallorca, flog Barney nach Los Angeles zurück. Am Abend waren zwei sehr attraktive, sonnengebräunte junge Damen seine Gäste. Ihre Vorstellung von Vergnügen bestand darin, die ganze Nacht zu trinken, und dann fiel ihnen ein, daß sie bei Morgendämmerung auf hoher See angeln wollten. Barney schauderte innerlich bei dem Gedanken an solch sportliche Exzesse, versprach aber, die beiden Sportsfreundinnen rechtzeitig zum Jachthafen von Sweetwater Beach zu bringen, wo sie ihr Boot erreichen wollten, und tat das auch. Eines der Mädchen, das stellte er
nicht ohne Befriedigung fest – die beiden gingen ihm am Morgen inzwischen auf die Nerven – schien eine zartgrüne Gesichtsfarbe zu bekommen, als sie sich in das schwankende Boot setzte. Barney winkte ein freundliches Lebewohl und wollte gerade gehen, als er einen rundlichen alten Mann neben anderen Anglern im Heck des Bootes sitzen sah. Barney zuckte zusammen. Das war doch wieder Oliver B. McAllan! Diesmal dauerte es beinahe eine Minute, ehe er sich seiner Sache sicher war. Nicht, daß es für McAllan unmöglich gewesen wäre, in diesem Boot zu sitzen, aber sehr seltsam war es zumindest. McAllan wirkte nicht im geringsten wie ein Mitglied des Jet-Set, das es sich leisten konnte einfach so zwischen dem Mittelmeer und Kalifornien hin- und herzufliegen. Und Barney hatte den Eindruck, daß noch etwas ihn leicht beunruhigte, als er den alten Wissenschaftler anstarrte; irgend etwas, eine undeutliche Erinnerung, die noch nicht an die Oberfläche seines Bewußtseins wollte. Ein paar Minuten darauf, als er dem Boot nachsah, wie es aufs Meer hinauszog, fiel es ihm dann ein. Er lächelte über den verrückten Gedanken, den sein Unterbewußtsein ihm beschert hatte, und ging zum Parkplatz. Aber als er seinen Wagen erreicht, die Zündung eingeschaltet und sich eine Zigarette angezündet hatte, hatte ihn der Gedanke immer noch nicht losgelassen, und sein Lächeln war verblaßt. Phantasievoll war der Gedanke schon, im äußersten Maße sogar. Aber unmöglich war er nicht. Und je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr begann er sich zu fragen, ob seine Idee nicht doch Sinn hatte. Und wenn etwas daran war, dann war er dem größten Coup der Geschichte auf der Spur. Später erkannte Barney, daß er den Plan dennoch hätte fallen lassen, wenn da nicht noch andere Dinge gewesen wären, die nicht das geringste mit Dr. McAllan zu schaffen hatten. Er hatte gerade nichts zu tun. Seine Zeit war nicht ausgefüllt.
Außerdem war ihm in letzter Zeit aufgefallen, daß gewöhnliche geschäftliche Transaktionen ihn kalt ließen. Der Spaß, den es ihm früher bereitet hatte, einen andern übers Ohr zu hauen, selbst einen raffinierten Burschen aus seiner eigenen Gewichtsklasse, hatte eigenartigerweise nachgelassen. Das beunruhigte Barney Chard; denn seine Geschäfte waren das einzige, was ihn im Leben interessierte; die andere Rolle, die des reichen Playboy, spielte er eigentlich nur, um die Zeit totzuschlagen. Er erkannte, daß er mit siebenunddreißig anfing, sich zu langweilen. Und die Aussicht, die sich daraus ergab, gefiel ihm nicht. Und da war jetzt endlich wieder etwas, das ihm echte Erregung verschaffen konnte. Vielleicht war bloß die Phantasie mit ihm durchgegangen, aber es würde nicht schaden, Erkundigungen anzustellen. Immer noch seinen skeptischen Gedanken nachhängend, ging Barney zum Jachthafen zurück und erkundigte sich, wann die Angelgesellschaft wieder zurückkehren würde. Er wartete außer Sichtweite, als das Boot einige Stunden später wieder herangetuckert kam. Er hatte nie unmittelbar mit Dr. McAllan zu tun gehabt. Der alte Mann würde ihn also nicht erkennen. Aber er wollte nicht von seinen zwei Amazonen entdeckt werden, die sich inzwischen vielleicht ausgeruht hatten und auf eine weitere Tour durch die Lokale der Stadt Lust haben könnten. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Damen schafften es kaum über die Molentreppe herauf; sie telefonierten nach einer Taxe und waren kurz darauf verschwunden. Dr. McAllan hatte unterdessen ebenfalls ein Telefongespräch geführt und sich dann in der Nähe von Barney auf eine Bank gesetzt, um zu warten. Ein kleiner grauer Wagen, fünf oder sechs Jahre alt, aber blitzblank poliert und gut in Schuß, kam
kurz darauf angerollt und hielt an. Ein schlanker Neger mit Haaren, ebenso weiß wie die des alten Physikers, hielt McAllan die Tür auf. Und dann fuhr das Auto gemächlich davon. Kurz darauf kannte Barney Dr. McAllans Adresse in Kalifornien. Die Zulassungsnummer hatte ihm dazu verholfen. Der Physiker wohnte in Sweetwater Beach, fünfzehn Minuten vom Jachthafen entfernt, in einem alten Haus im spanischen Kolonialstil. Der Name des Chauffeurs war John Emanuel Fredericks; er arbeitete seit langer Zeit für McAllan. Sonst lebte niemand dort. Barney machte sich nicht die Mühe, weitere Einzelheiten über das Haus in Sweetwater Beach zu erfahren. Die Gewährsleute, die er gewöhnlich dazu benützte, ihm Informationen zu beschaffen, waren hinreichend vertrauenswürdig. Dennoch wollte er nicht, daß sein Interesse für Dr. McAllan unnötiges Interesse erweckte. Am Abend nahm er ein Flugzeug nach New York.
Der Physiker Frank Elby war ein paar Jahre älter als Barney. Sie kannten sich seit ihrer gemeinsamen Universitätszeit. Elby war ehrgeizig, fähig und nicht ganz ehrlich; gelegentlich lieferte er Barney vertrauliche Informationen, für die er großzügig bezahlt wurde. Beim Mittagessen schnitt Barney eine Angelegenheit an, die ihnen beiden finanziellen Nutzen bringen und Elbys Gewissen nicht zu sehr belasten sollte. Elby überlegte und stimmte dann zu. Das Gespräch nahm allgemeineren Charakter an. Schließlich bemerkte Barney: »Neulich habe ich einen alten Bekannten gesehen. Erinnerst du dich an Dr. McAllan?« »Oliver B. McAllan? Natürlich. Seit Jahren nicht mehr von ihm gehört. Was treibt er denn?«
Barney sagte, er habe den alten Mann bloß gesehen, nicht mit ihm gesprochen. Aber er war sicher, daß es McAllan gewesen sei. »Wo hast du ihn denn gesehen?« fragte Elby. »Sweetwater Beach. Eine kleine Stadt an der Westküste.« Elby nickte. »Dann war es bestimmt McAllan. Dort hatte er sein Haus.« »Er sah gesund und munter aus. Die haben ihn anscheinend damals nicht in eine Anstalt gesteckt, als er pensioniert wurde, oder?« »O nein. Dafür bestand kein Anlaß. Abgesehen von seiner verrückten Erfindung, hat er sich ganz normal benommen. Außerdem hätte er bestimmt einen Anwalt genommen und sich gegen die Einweisung gewehrt. Er hatte eine Menge Geld, und niemand wollte einen Skandal. McAllan war ein netter alter Bursche.« »Die Universität hatte nie vor, ihn zurückzuholen?« Elby lachte. »Nein, wohl kaum! Überleg doch mal – einen Materie-Transporter wollte er erfunden haben!« Barney traf es wie einen elektrischen Schlag. Erraten, Mann. Erraten. Er lächelte. »Das war es also? Ich habe damals nicht alle Einzelheiten erfahren.« Elby sagte, man habe alle Beteiligten zur Geheimhaltung verpflichtet. Eine ganze Menge Leute, besonders McAllans Mitarbeiter, hätten ihm damals geglaubt. »Als er wegging – er hat sich nie die Mühe gemacht, seinen Transporter mitzunehmen –, wurde das Ding zerlegt und sorgfältig überprüft, gerade als hätte einer Angst, es könnte doch noch funktionieren. Aber das war natürlich Unsinn. Der alte Mann hatte einfach durchgedreht.« »Hatte man schon früher irgendwelche Anzeichen bemerkt?« »Nicht, daß ich wüßte. Bloß, daß er schon ein paar Monate vorher angefangen hatte, Andeutungen über seine Erfindung zu
machen«, meinte Elby gleichgültig. Und dann wandte sich die Unterhaltung anderen Themen zu. Der Rest war Routine. Man fand in Mallorca eine kleine Villa in der Nähe des Strandes, die auf McAllans Namen eingetragen war. Man stellte fest, daß McAllans finanzielle Mittel auf einen etwas geringeren Betrag als die von John Emanuel Fredericks zusammengeschrumpft waren, der die gleiche Bank wie sein Arbeitgeber hatte. In den letzten Jahren waren häufig ziemlich hohe Summen abgehoben worden. Die Beträge waren mit McAllans bescheidener Lebensführung nicht in Einklang zu bringen, und selbst seinen Angelsport betrieb er in sehr bescheidenem Umfang. Daß er dennoch sein Haus am Mittelmeer behielt, mußte also gute Gründe haben. Barney mietete einen Bungalow am Rande von Sweetwater Beach, ganz in der Nähe des alten Hauses, in dem McAllan und Fredericks wohnten, und selbstverständlich so gelegen, daß man das Haus und die Einfahrt beobachten konnte. Er selbst ließ sich nie in dem Bungalow sehen. Angestellte einer Detektei aus Los Angeles bezogen in dem Bungalow Wache und hatten Anweisung, die beiden alten Männer und ihre Besucher jedesmal, wenn sie zu sehen waren, zu fotografieren und genaue Aufzeichnungen über den jeweiligen Zeitpunkt der Aufnahmen zu führen. Am Ende eines jeden Tages wurden die Fotos an eine Adresse geliefert, von der aus sie prompt zu Barney gelangten. Eine europäische Agentur überwachte nach dem gleichen Schema die Villa auf Mallorca. Beinahe vier Wochen verstrichen, ehe Barney die Resultate, die er haben wollte, in Händen hielt. Er ließ die Beobachtung an beiden Punkten einstellen und tauchte am nächsten Tag an McAllans Haustür auf, wo er läutete. John Fredericks erschien, musterte Barneys Karte und Barney selbst mißbilligend und teilte ihm dann mit, daß Dr. McAllan keine Besuche empfange.
»Das habe ich auch schon gehört«, nickte Barney freundlich. »Dann seien Sie bitte so nett und geben das dem Doktor.« Fredericks weiße Brauen hoben sich ein paar Millimeter, als er den zugeklebten Umschlag ansah, den Barney ihm hinhielt. Er zögerte einen Augenblick, nahm ihn dann, forderte Barney auf zu warten, und schloß die Tür. Barney hörte, wie Fredericks Schritte im Haus verklangen, zündete sich eine Zigarette an und stellte erfreut fest, daß seine Hände ganz ruhig waren, so als wäre das ein ganz unbedeutender Besuch. Der Umschlag enthielt zwei Serien von Fotos, jeweils mit demselben Datum und derselben Uhrzeit. Die Zeitangabe zeigte, daß die beiden Fotos innerhalb eines Zeitraums von fünfzehn Minuten aufgenommen waren. Auf beiden Serien war Dr. McAllan zu sehen, und in beiden Fällen in Begleitung von Fredericks. Die eine Serie von Fotos war auf Mallorca aufgenommen worden, die andere in Sweetwater Beach. Wenn man einmal von den Astronauten absah, waren die beiden alten Männer somit die schnellsten Menschen in der bekannten Geschichte der Menschheit. Einige Minuten verstrichen, ehe Fredericks wieder auftauchte. Mit völlig ausdrucksloser Miene forderte er Barney auf, einzutreten, und führte ihn in McAllans Zimmer. Der Wissenschaftler hatte die Fotos vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Er deutete darauf. »Was soll das bedeuten, Sir?« fragte er mit nicht ganz sicherer Stimme. Barney zögerte. Er hatte bemerkt, daß Fredericks draußen im Korridor vor der Tür stehengeblieben war. Aber offenbar genoß Fredericks McAllans vollstes Vertrauen, und so machte es nichts aus, wenn er lauschte. »Es bedeutet folgendes, Doktor«, begann Barney liebenswürdig und schilderte dann McAllan sehr präzise, was
die Fotografien bedeuteten. Zwei- oder dreimal unterbrach ihn McAllan protestierend und ließ dann Barney ohne weitere Einwände seine Darstellung zu Ende führen. Nach ein paar Minuten hörte Barney, wie Fredericks Schritte sich entfernten, und dann schloß sich irgendwo leise eine Tür. Er drehte sich etwas im Sessel, so daß er jetzt die Eingangstür auf der rechten Seite sehen konnte. In der rechten Jackentasche hatte er den kleinen Revolver. Selbst damals hatte Barney eigentlich keine Sorge, daß McAllan oder Fredericks zu Gewalt greifen würden; aber wenn man einen Menschen wirklich in die Enge treibt – und auf McAllan traf das zu – dann konnte beinahe alles geschehen. Als Barney geendet hatte, starrte McAllan noch einmal auf die Fotos, schüttelte dann den Kopf und sah Barney an. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er dann und blinzelte hinter seiner Brille, »möchte ich mir das ein paar Minuten überlegen.« »Aber natürlich, Doktor«, sagte Barney höflich. McAllan lehnte sich in seinem Sessel zurück, nahm die Brille ab und schloß die Augen. Barney ließ die Blicke schweifen. Das Mobiliar des Hauses war so, wie er es erwartet hatte – gepflegt, alt, hie und da bereits schäbig geworden. Das einzig einigermaßen neue Stück in dem Arbeitszimmer war eine Stereo-Anlage. Die Wände des Arbeitszimmers und des Teils des Wohnzimmers, den er durch einen Rundbogen sehen konnte, bedeckten Bücherregale. Am anderen Ende des Wohnzimmers gab es eine eigenartige Sammlung von Uhren in verschiedenen Größen und Typen, hauptsächlich antiquarisch, aber auch ein paar alte Stücke mit modernen Zifferblättern. Die Sammlung hatte Lücken, was darauf hindeutete, daß Fredericks das eine oder andere wertvolle Stück für seinen Arbeitgeber hatte verkaufen müssen.
Schließlich räusperte sich McAllan, öffnete die Augen und setzte die Brille wieder auf. »Mr. Chard«, fragte er, »sind Sie wissenschaftlich gebildet?« »Nein.« »Dann bleibt die Frage, welches Interesse Sie an dieser Angelegenheit haben«, sagte McAllan. »Vielleicht können Sie mir erklären, warum Sie es sich so viel haben kosten lassen, sich in meine persönlichen Angelegenheiten einzumischen?« Barney zögerte. »Doktor«, sagte er schließlich, »Rätsel haben immer etwas verlockendes. Ich habe das Glück, über die finanziellen Mittel zu verfügen, meiner Neugierde nachzugehen, wenn sie in Fällen wie diesem einmal erregt ist.« McAllan nickte. »Neugierde kann ich verstehen. War das Ihr einziges Motiv?« Barney lächelte entwaffnend. »Offengestanden, nein. Ich erwähnte schon, daß ich Geschäftsmann bin – « »Ah!« sagte McAllan und runzelte die Stirn. »Mißverstehen Sie mich bitte nicht. Mein erster Gedanke war, zugegebenermaßen, daß hier Millionen darauf warteten, nur eingeheimst zu werden. Aber im Verlauf meiner Ermittlungen habe ich einiges festgestellt.« »Zum Beispiel?« »Daß Sie sehr triftige Gründe hatten, Ihre Erfindung geheimzuhalten. Daß Sie bereit waren, sich dafür finanziell zu ruinieren und auch Ihren Ruf als Mensch und Wissenschaftler dafür aufs Spiel zu setzen.« »Ich habe nicht das Gefühl«, meinte McAllan sanft, »daß ich meinen Ruf als Mensch oder als Wissenschaftler ruiniert hätte.« »Nein, aber soweit es die Öffentlichkeit betrifft, haben Sie das getan.« McAllan lächelte. »Das allerdings ist mir gelungen – bis zum Augenblick wenigstens. Nun schön, Mr. Chard. Sie sind sich
darüber im klaren, daß ich unter keinen Umständen einer kommerziellen Auswertung meines… nun, sagen wir meines Materie-Transporters zustimmen würde?« Barney nickte. »Natürlich.« »Und dennoch sind Sie weiterhin interessiert?« »In hohem Maße.« McAllan schwieg ein paar Sekunden und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Schön«, sagte er dann. »Sie erwähnten, daß ich eine große Vorliebe für das Angeln habe. Vielleicht würde es Ihnen Spaß machen, mich zum Angeln zu begleiten?« »Jetzt?« fragte Barney. »Ja, jetzt. Ich nehme an, Sie verstehen, was ich meine… ja, Sie verstehen. Wenn Sie mich ein paar Minuten entschuldigen würden – «
Barney hätte nicht sagen können, was er zu sehen erwartete. Seine Phantasie hatte ihm eine verborgene Gruft im Keller von McAllans Haus vorgegaukelt – irgendeinen Ort mit massiven Wänden und Maschinen, die die Energie für den MaterieTransporter lieferten… und vielleicht eine Art Taucherglocke aus Plastik als Transportkabine. Das, was er wirklich erlebte, war ganz anders. Kurz darauf kehrte McAllan zurück. Er hatte sich umgezogen und Sportkleidung angelegt – offenbar wollte er wirklich Angeln gehen. Barney begleitete den alten Physiker ins Wohnzimmer und sah zu, wie er einen kleinen, aber sehr massiv wirkenden Wandsafe öffnete. Unmittelbar hinter der Tür des Safes war ein Schaltbrett zu sehen. McAllan drehte an zwei kleinen Schrauben und schloß dann den Safe wieder ab.
»Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen, Mr. Chard – « Er ging zu einer kleinen Tür, öffnete sie und ging hinaus. Barney folgte ihm in ein Zimmer mit rustikalen Möbeln und lackierten Holzwänden. Der Raum hatte ein einziges Fenster mit schweren Vorhängen. Es war ziemlich dunkel darin. »So«, meinte McAllan, »da wären wir.« Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Dann erkannte Barney, daß er weiter von der Wand entfernt stand, als er angenommen hatte. Er sah sich um und entdeckte, daß hinter ihm jetzt keine Tür mehr war, weder offen noch geschlossen. Er zwang sich zu einem etwas zittrigen Lächeln. »So funktioniert Ihr Materie-Transporter also!« »Nun«, meinte McAllan nachdenklich, »in Wirklichkeit ist es auch kein echter Materie-Transporter. Ich nenne ihn die McAllan-Röhre. Selbst ein gebildeter Laie muß erkennen, daß man nicht einfach einen lebenden Körper an einem Punkt zerlegen und am anderen wieder zusammensetzen kann – und gleichzeitig damit rechnen darf, daß er weiterlebt. Und dann sind da noch andere Überlegungen – « »Wo sind wir?« fragte Barney. »Auf Mallorca?« »Nein. Wir haben den Kontinent nicht verlassen – nur die Gegend. Sehen Sie zum Fenster hinaus, dann sehen Sie es selbst.« McAllan trat an einen Einbauschrank, und Barney zog die Vorhänge zurück. Draußen war ein Hügel. Das Gras war von der Sommersonne ausgetrocknet und gelb. Am Fuße des Hügels lag ein kleiner, von Fichten gesäumter See. Es war niemand zu sehen, aber in den See führte ein kleiner Steg hinaus. Am Ende des Stegs war ein alter Kahn angebunden. Und – ganz offensichtlich – war es nicht mehr Nachmittag, sondern Abend.
Barney sah sich um. McAllans sanfte, prüfende Augen ruhten auf ihm. Er sah, daß der alte Mann eine Angel und einen Kasten mit Angelutensilien auf den Tisch gestellt hatte. »Sie haben mich mehr beunruhigt, als Sie vielleicht bemerkt haben«, meinte McAllan erklärend. Seine Lippen zuckten. »Und in einer solchen Situation beruhigt mich nichts mehr, als wenn ich eine Weile angeln gehe. Außerdem muß ich nachdenken. Gehen wir also hinunter. Es müssen noch ein paar Köder im Eimer sein.«
Als sie später in die Hütte zurückkehrten, war McAllan nachdenklich gestimmt. Er stellte in der kleinen Küche eine Kanne Kaffee aufs Feuer, reinigte dann sein Angelgerät und räumte es weg. Barney saß am Tisch, rauchte und beobachtete ihn, versuchte aber nicht, ein Gespräch zu beginnen. McAllan schenkte Kaffee ein und bot Zucker und Milchpulver an und setzte sich dann Barney gegenüber. Abrupt sagte er: »Haben Sie sich mal überlegt, warum ich diesen geheimnisvollen Hokuspokus veranstalte?« »Ja«, sagte Barney, »ich hatte da einen Verdacht. Aber erst vorhin« – er deutete auf die Wand, aus der sie scheinbar getreten waren – »habe ich meinen Schluß gezogen.« »So?« McAllans Augen verengten sich plötzlich. »Und was war das für ein Schluß?« »Daß Sie etwas erfunden haben, das vielleicht eine Spur zu gut ist.« »Zu gut?« fragte McAllan. »Hm-m-m. Nur weiter.« »Man braucht nicht viel Energie, um das Ding zu betreiben, oder?« »Nein«, meinte McAllan trocken, »sofern Sie Energie meinen, für die man bezahlen muß.«
»Die meine ich. Kann man den Wirkungsbereich der McAllan-Röhre auf jeden Punkt der Erde ausdehnen?« »Das möchte ich annehmen.« »Und Sie haben dieses Modell selbst finanziert. Es kann also nicht sehr teuer sein, es serienmäßig herzustellen. Aber wenn jedermann solch ein Gerät besäße, wäre man zum Beispiel zu Hause vor niemandem mehr sicher. Jeder könnte hingehen, wohin er wollte, und mit den unterschiedlichsten Absichten.« »Das haben Sie ziemlich genau erfaßt«, nickte McAllan. Barney drückte seine Zigarette aus, zündete sich eine neue an und blies einen dünnen Rauchring. »Unter diesen Umständen«, bemerkte er, »ist es ein Pech, daß Sie das Ding nicht wieder abschalten können, nicht wahr?« McAllan schwieg einige Sekunden. »Dann haben Sie das also auch erraten«, sagte er schließlich. »Wie habe ich mich verraten?« »Eigentlich gar nicht«, sagte Barney. »Aber Sie tun alles, was in Ihrer Macht steht, um zu vermeiden, daß die Öffentlichkeit von der McAllan-Röhre erfährt. Gleichzeitig haben Sie sie aber in Betrieb gelassen – also konnte es nur eine Frage der Zeit sein ehe jemand bemerkte, daß da etwas Eigentümliches vor sich ging, so wie ich es bemerkt habe. Die Pläne, die Sie ursprünglich hatten, scheinen schiefgelaufen zu sein.« McAllan nickte bedrückt. »Das sind sie allerdings. Da haben Sie ganz recht, Mr. Chard. Nicht so schief, daß man nichts mehr reparieren könnte, aber – « Er hielt inne. »Als ich das Gerät zum erstenmal aktivierte, habe ich es auf zwei geographische Orte ausgerichtet«, sagte er. »Beide Orte befinden sich in Gebäuden, die mein Eigentum waren und sind. Das war mein Glück.« »Das war diese Hütte und das Haus auf Mallorca?« »Ja. Die Energiequelle für die Röhre ist in meinem Haus in Kalifornien verborgen. Aber man muß auch Steuergeräte an
den Zielorten anbringen, damit man wieder zurückkehren kann. Es wäre nicht leicht, solche Steuergeräte an einem der Öffentlichkeit zugänglichen Ort zu verbergen. Erst als ich die effektive Leistung der Röhre mit meinen theoretischen Berechnungen verglich, stellte ich fest, daß sich ein unvorhergesehener Faktor eingeschlichen hatte. Kurz gesagt, ich konnte – um Ihre Formulierungen zu gebrauchen – die Röhre nicht wieder abschalten. Das hätte nämlich einige extrem gefährliche Phänomene an drei verschiedenen Orten auf unserer Erdkugel zur Folge.« »Explosionen?« fragte Barney. »Nun«, meinte McAllan nachdenklich, »man müßte das wohl eher als Implosionen bezeichnen. Die genaue Bezeichnung gibt es in unserem Vokabular nicht, und ich ziehe es auch vor, daß sie dort nicht auftaucht, wenigstens nicht, solange ich noch am Leben bin. Aber Sie sehen jetzt doch, in welcher Klemme ich sitze, oder? Wenn ich um Hilfe bäte, würde ich die Existenz meiner Röhre offenbaren müssen. Und sobald ihre Existenz einmal bekannt ist, läßt sich auch die Forschungsarbeit, die zu ihrer Entdeckung führte, wiederholen. Sie haben ganz richtig angenommen. Es handelt sich um kein besonders schwer zu konstruierendes Gerät. Und selbst wenn man das augenblickliche Problem löste, ist die McAllan-Röhre immer noch eine Spur zu gefährlich, als daß man sie der heutigen Welt zur Verfügung stellen könnte.« »Sie glauben aber, daß man das Problem lösen kann?« »O ja«, McAllan nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Das ist eine reine Zeitfrage. Zuerst dachte ich, ich könnte alles in drei oder vier Jahren abschließen. Unglücklicherweise hatte ich dabei die Kosten für einige wichtige Experimente unterschätzt. Das hat zu der Verzögerung geführt.«
»Ich verstehe. Ich hatte mich schon gefragt«, gab Barney zu, »warum ein Mann mit Ihrem Wissen so viel Zeit mit dem Angeln verschwendet.« McAllan lächelte. »Erzwungene Muße. Es war wirklich zum Verrücktwerden, Mr. Chard. Ich mußte mit den geringstmöglichen Kosten zurechtkommen, und das bedeutete, daß ich nur sehr langsam Fortschritte machte.« »Und wenn Geld keine Rolle spielte, wie lange würden Sie dann brauchen, um Ihre Forschungen abzuschließen?« wollte Barney wissen. »Ein Jahr – vielleicht zwei.« McAllan zuckte die Achseln. »Es ist schwer, das genau zu sagen, aber mehr als zwei Jahre bestimmt nicht.« »Und wie teuer würde das kommen?« McAllan zögerte. »Mindestens eine Million, fürchte ich. Eher eineinhalb.« »Doktor«, sagte Barney, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.« McAllan sah ihn an. »Haben Sie vor, die Experimente zu finanzieren, Mr. Chard?« »Nun, für eine Gegenleistung«, sagte Barney. »Und die wäre?« McAllan sah sein Gegenüber gespannt an. »Als Sie unfreiwillig in den Ruhestand gingen, habe ich einen erheblichen Betrag an investiertem Kapital verloren«, erklärte Barney. »Das war meine erste Niederlage, die ich erlitt, und das hat wehgetan. Ich würde dieses Geld gern wieder haben. Schön. Wir sind uns darüber einig, daß es nicht mit der McAllan-Röhre geht. Die Röhre würde die Welt bestimmt nicht verbessern – nicht für die Menschheit und nicht für Barney Chard. Aber diese Röhre ist in keiner Weise bemerkenswerter als der Geist, der sie geschaffen hat. Ich kenne eine Firma, die die Spitzenstellung in der Präzisionselektronik einnehmen würde, wenn Sie ihr als
technischer Berater zur Verfügung stünden. Ich kann schon morgen die Aktienmehrheit an dieser Firma aufkaufen, Doktor. Und Sie können die eineinhalb Millionen, die Sie brauchen, in der Zeit zurückzahlen, die es dauern wird, Ihre Experimente abzuschließen und den Transporter abschaltbar zu machen. Drei Jahre Arbeit als technischer Berater, und wir haben beide erreicht, was wir wollen.« McAllans Gesicht rötete sich langsam. »Ich habe mir natürlich auch schon überlegt, wieder eine Stelle anzunehmen«, sagte er. »Oft sogar. Ich brauche das Geld dringend. Aber übersehen Sie dabei nicht etwas?« »Was denn?« »Ich habe mich einigermaßen angestrengt, um mir den Ruf eines Verrückten zuzulegen«, sagte McAllan. »Das war unangenehm, schien mir aber nötig, um Neugierige davon abzuhalten, meine letzten Arbeiten zu gründlich zu überprüfen. Wenn es jetzt bekannt würde, daß ich die Leitung eines wichtigen Projekts – « Barney schüttelte den Kopf. »Kein Problem, Doktor. Wir werden uns für bestimmte Dinge Hilfe von draußen holen. Es ist sehr leicht, alle Spuren zu verwischen, die zu Ihnen persönlich führen. Ich habe solche Sachen schon früher gemacht.« McAllan runzelte nachdenklich die Stirne. »Ich verstehe. Aber ich würde – es müßte sich trotz der Arbeit einrichten lassen, daß ich – « »Aber gewiß«, sagte Barney. »Ich garantiere Ihnen, daß Sie genug Zeit für Ihr eigenes Hobby haben werden.« Er lächelte. »Wenn ich überlege, was Sie mir alles erzählt haben, möchte ich es selbst gern, daß Sie möglichst viel freie Zeit haben.« McAllan lächelte. »Das kann ich mir vorstellen. Schön. Äh… Wann können Sie mir das Geld geben, Mr. Chard?«
Die Sonne ging hinter dem kleinen See unter, als Barney die Vorhänge vor das Fenster der kleinen Hütte zog. Doktor McAllan beugte sich in dem Augenblick in den eingebauten Wandschrank und drehte an einem Schalter. »Jetzt gehen wir«, sagte er plötzlich. Einen Meter von der Wand der Hütte entfernt wurde plötzlich schattenhaft die Andeutung einer anderen Wand und einer offenen Tür wahrnehmbar. Barney sagte, von Zweifeln erfüllt: »Durch die Tür sind wir gekommen?« McAllan sah ihn an. »Von dieser Seite sieht es anders aus. Die Röhre ist jetzt offen. Hier, ich zeige es Ihnen.« Er ging auf die schemenhafte Tür zu und schien plötzlich mit ihr zu verschmelzen. Barney hielt den Atem an und folgte ihm. Wieder hatte er keinen Sinneseindruck. Als sein Fuß in dem Schattenreich, in das er getreten war, etwas Festes berührte, befand er sich plötzlich wieder im Wohnzimmer des Hauses in Sweetwater Beach. »Beim erstenmal wirkt es etwas eigenartig, nicht wahr?« meinte McAllan. Barney atmete tief. »Wenn ich die Röhre erfunden hätte«, sagte er aufrichtig, »hätte ich nie den Mumm gehabt, sie auszuprobieren.« McAllan lächelte. »Ehrlich, ich habe beim erstenmal auch einige Drinks gebraucht, ehe ich es wagte. Aber es ist absolut ungefährlich, wenn man nur weiß, was man tut.« Und das war, fand Barney, nicht besonders beruhigend. Er blickte sich um. Die Tür, durch die sie gekommen waren, war die, durch die sie zu Beginn des Angelausfluges getreten waren. Aber dahinter lag jetzt ein offensichtlich unbenutzter Flur des Hauses in Sweetwater Beach. »Lassen Sie sich nicht täuschen«, sagte McAllan, der seinem Blick gefolgt war. »Wenn Sie in diesem Moment versuchten,
in den Flur hinauszugehen, würden Sie wieder in der Hütte am See landen. Licht, das durch die Röhre kommt, läßt sich manipulieren.« Er ging zur Tür, schloß sie, sperrte ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. »Ich schließe immer zu. Ich bekomme zwar nicht oft Besuch, aber wenn jemand käme, und die Tür wäre offen, könnte das peinlich werden.« »Und was geschieht am anderen Ende?« fragte Barney. »Die Tür erschien in der Hütte, als Sie am Schalter drehten. Was passiert jetzt? Wenn jetzt jemand in die Hütte am See einbräche und anfinge, dort herumzusuchen – ist die Tür dort noch sichtbar?« McAllan schüttelte den Kopf. »Nein, sofern dieser Einbrecher nicht zufällig innerhalb der nächsten halben Minute die Hütte beträte.« Er überlegte. »Wir wollen es mal so sagen: die Röhre ist permanent auf ihre zwei Ausgangspunkte zentriert, aber der Energieeffekt verteilt sich normalerweise am anderen Ende über mehrere hundert Meter. Praktisch hat das nichts zu bedeuten. Wenn ich durchgehen will, fokussiere ich den Energieeffekt am Ausgang… verstehen Sie? Gut. Diese Konzentration der Energie bleibt etwa sechzig bis neunzig Sekunden bestehen, je nachdem, wie ich eingestellt habe; dann tritt der Streueffekt wieder ein.« Er deutete mit einer Handbewegung auf die versperrte Tür. »In der Hütte ist die Tür inzwischen verschwunden. Sie könnten die Stelle betreten, wo sie eben noch war, Sie würden nichts Ungewöhnliches bemerken.« Barney zögerte. »Und wenn die Tür, die Sie eben verschlossen haben, noch offen wäre, und jemand versuchte, hindurchzugehen, nachdem am anderen Ende der Streueffekt eingesetzt hat – « »Nun«, sagte McAllan und drückte auf einen Klingelknopf an der Wand, »das meinte ich, als ich vorhin sagte, es könnte
peinlich werden. Die Person, die hindurchträte, wäre natürlich auch dem Streueffekt unterworfen, was sehr unangenehme Folgen haben würde. Wollen Sie jetzt einen Drink, Mr. Chard? Ich jedenfalls kann einen vertragen.« Die Drinks, die Fredericks servierte, bestanden in erster Linie aus ziemlich starkem Bourbon, aber Barney war dankbar dafür. Etwas Faszinierendes war an dem Gedanken, der ihn jetzt beschäftigte: er würde die Röhre bekommen, das war ganz sicher. Dieses atemberaubende Gerät gehörte ihm. Er brauchte nur zuzugreifen. Nur, wenn er sehr unvorsichtig war, würde der alte Mann wieder Argwohn schöpfen, aber Barney würde nicht unvorsichtig sein. Es bestand auch kein Grund, etwas zu überstürzen. Er würde weiter zurückhaltendes Interesse heucheln, wie er es sich von Anfang an vorgenommen hatte. McAllan hatte die Bürde seines Geheimnisses zwölf Jahre lang mit sich herumgetragen und hatte nur Fredericks als Vertrauten gehabt. Jetzt, wo er Barney so viel gesagt hatte, würde ihm McAllan auch noch mehr sagen wollen. Er würde nur ein wenig Aufmunterung brauchen. Aber Barney munterte ihn nicht auf. Statt dessen erinnerte er McAllan vorsichtig daran, es sei durchaus vorstellbar, daß sie hier elektronische Zuhörer haben könnten, und McAllan verstummte daraufhin widerstrebend. Aber eine ziemlich wichtige Frage gab es noch, auf die Barney heute eine Antwort wollte. Und aus der Antwort würde er dann schließen können, wie er sich in Zukunft McAllan gegenüber verhalten mußte. Er wartete, bis er zum Gehen bereit war, ehe er die Frage stellte. McAllans Hängebacken waren von den zwei Highballs, die er zu sich genommen hatte, gerötet; er hatte in etwas unbeholfenen Sätzen seinen Dank für Barneys großzügige Hilfe zum Ausdruck gebracht, seinen Dank und seine Erleichterung darüber, daß jetzt die Experimentierarbeit an der Röhre zu Ende geführt werden konnte.
»Da ist nur noch eines, was mich etwas beunruhigt, Doktor«, sagte Barney. McAllan sah ihn besorgt an: »Und das wäre, Mr. Chard?« »Nun… Sie erfreuen sich bester Gesundheit, würde ich sagen.« Barney lächelte. »Aber wenn Ihnen jetzt etwas passierte, ehe Sie die McAllan-Röhre abschalten können.« Er deutete auf die verschlossene Tür. »Dann wäre dieses Ding immer noch da und wartete darauf, daß jemand aufmacht und hineintritt…« McAllans besorgter Gesichtsausdruck verschwand. Er stieß Barney grinsend den Finger in die Rippen. »Junger Mann, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Selbstverständlich habe ich an diese Möglichkeit gedacht, und Sie können mir glauben, daß ich sehr genaue Notizen und Instruktionen angefertigt habe. In Banksafes… darüber reden wir morgen, was? Irgendwo anders? Ich hatte schon einen Mann im Auge, aber jetzt können wir ein besseres Arrangement treffen. Sehen Sie, in diesem Stadium ist es so lächerlich einfach.« Barney räusperte sich. »Ein anderer Physiker?« »Jeder einigermaßen brauchbare Physiker«, sagte McAllan. »Wissen Sie, es ist nur eine Frage seiner Zuverlässigkeit.« Er zwinkerte Barney zu. »Darüber können wir ja morgen sprechen – oder an einem der nächsten Tage jedenfalls.« Barney sah den Physiker mit einer Art distanzierter Überraschung an. Er sah in ihm nur noch einen Mann, der gerade ganz beiläufig das Todesurteil über sich selbst ausgesprochen hatte, über sich selbst und einen alten Freund. Zum erstenmal in Barneys Karriere war vorsätzlicher Mord nicht nur Nebenprodukt eines Geschäfts, sondern völlig unvermeidbar. Frank Elby, ehrgeizig und geldgierig, konnte mit Hilfe der präzisen Aufzeichnungen dort weitermachen, wo McAllan aufhörte. Elby war sehr begabt, und Elby war
lenkbar. McAllan nicht. Ihn konnte man nur anschwindeln; wenn nötig, töten. Und nötig war es natürlich. Wenn McAllan noch lange genug lebte, um herauszufinden, wie man die Röhre abschaltete, würde er sie einfach abschalten, das Gerät und seine Notizen vernichten. Ein Mann, der sich so intensiv bemüht hatte, sein Geheimnis zu hüten, würde es sich auch nicht ausreden lassen, daß die McAllan-Röhre die Welt bedrohte. Fredericks, der mürrische Lauscher, mußte gleichzeitig mit seinem Arbeitgeber zum Schweigen gebracht werden, damit Barneys uneingeschränkter Besitz der Röhre sichergestellt war. Konnte er noch aussteigen? McAllan leben lassen? Nein, das konnte er nicht, entschied Barney. Er hatte sich Karten in einem neuen Spiel gezogen, einem großen Spiel – einem phantastischen, atemberaubenden Spiel, wenn man die Möglichkeiten, die die Röhre bot, einmal bedachte. Das bedeutete neue Interessen, neuen Lebensinhalt für ihn. Es lag nicht in seiner Natur, irgend etwas aufzugeben. Die Sache mit McAllan war einfach notwendig. Eine häßliche Notwendigkeit, aber McAllan – der jetzt freundlich irgend etwas plapperte, als sie zur Haustüre gingen – schien schon eine Spur unwirklich, ein korpulentes, plapperndes, verblassendes kleines Gespenst. Unter der Tür wechselte Barney ein paar Worte – er hätte sie in der nächsten Sekunde bereits nicht mehr wiederholen können – mit dem Gespenst, bemerkte den auffallend kräftigen Händedruck und ging die Stufen zur Straße hinunter. Es war Abend geworden in Kalifornien; ein paar Häuser auf der anderen Straßenseite bildeten undeutliche Silhouetten vor dem Hintergrund der Berge. Hinter einigen Fenstern brannte Licht. Barney kam sich eigenartig müde und deprimiert vor. Hinter sich hörte er, wie McAllan leise die Tür seines Hauses schloß.
Der Fußweg, der Garten, die Straße, die Häuser und die Berge dahinter verschwanden in einer lautlosen Explosion. Weißes Licht umgab Barney Chard.
Seine Augen waren möglicherweise schon ein paar Sekunden vorher offen, ehe es ihm bewußt wurde. Er lag auf dem Rücken und blickte zur niedrigen Balkendecke eines Zimmers empor. Das Licht war künstlich, gedämpft; es vermittelte den Eindruck, daß draußen Nacht war. Plötzlich erwachte seine Erinnerung. Hereingelegt! war der erste Gedanke. Ausgetrickst. Und von – und dann ging das verloren in der Erleichterung, in der Erkenntnis, daß er noch lebte, daß er unverletzt war. Barney wälzte sich zur Seite. Er lag in einem Bett, stellte er fest, und sah sich um. Der Raum war niedrig, weit. Etwas war auf undefinierbare Weise seltsam: Wände aus Redwood, Navajoteppiche auf dem Boden, Bücherregale, ein Kamin, in dem kein Feuer brannte, Stühle, Tisch, Schreibtisch mit Schreibmaschine und Leselampe. Und an der anderen Wand eine hohe dunkle Standuhr mit einer hellen Metallscheibe anstelle eines Zifferblattes. Ein leises, tiefes Pochen ging von der Uhr aus und erinnerte ihn an den Herzschlag eines großen Tieres. Er hatte in McAllans Wohnzimmer eine ähnliche Uhr gesehen. Das Zimmer gehörte natürlich McAllan. Verglichen mit seinem Haus war es beinahe luxuriös, dabei aber ganz typisch für den Mann. Und jetzt bemerkte Barney, was ungewöhnlich daran war; es gab keine Fenster. Da war eine Tür, so weit rechts von ihm, daß er den Hals verdrehen mußte, um sie zu sehen. Sie stand halb offen; dahinter konnte er einen schmalen Gang sehen, der genauso beleuchtet war wie das Zimmer. Aber kein Geräusch war zu hören.
Hatte man ihn alleingelassen? Was war geschehen? Er war nicht in McAllans Haus oder in der Hütte am See. Vielleicht hatte die Röhre ihn erfaßt – irgendwie – vor McAllans Haus, ihn nach Mallorca befördert. Oder er befand sich in einem Versteck, das McAllan unter seinem Haus in Sweetwater Beach angelegt hatte. Zwei Dinge jedenfalls waren offenkundig. Seine Nachforschungen hatten nicht alle Geheimnisse McAllans ermitteln können. Und der alte Mann hatte sich in Wirklichkeit nicht von Barney Chard täuschen lassen. Jedenfalls nicht in dem Maße, daß er ihm vertraute. Heiße Wut überkam Barney für einen Augenblick. McAllan hatte die Rolle des Übertölpelten an ihn zurückgereicht. Er schwang die Beine vom Bett und stand auf. Nur zwei Meter von ihm entfernt hing sein Jackett über einer Stuhllehne; die Schuhe standen vor dem Bett. Sonst war er bekleidet. Man schien nichts von den Dingen, die er in der Jackentasche trug, berührt zu haben; Geld, Zigarettenetui, Feuerzeug, ja selbst der Revolver waren da; und zu seiner großen Überraschung war der Revolver sogar geladen. Er steckte ihn nachdenklich in die Hosentasche. Seine Armbanduhr schien der einzige Gegenstand zu sein, der verschwunden war. Er sah sich wieder im Zimmer um und blickte dann auf die halboffene Tür und in den Gang dahinter. McAllan mußte die Waffe gefunden haben. Die Tatsache, daß er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie wegzunehmen oder wenigstens zu entladen, wäre unter anderen Umständen vielleicht beruhigend gewesen. Hier konnte eine sehr unangenehme Überlegung dahinterstehen. Barney ging leise zur Tür, lauschte ein paar Sekunden, entschied dann, daß niemand in Hörweite war, und betrat den Korridor.
In weniger als zwei Minuten kehrte er in das Zimmer zurück. Die ersten Anzeichen von Panik stellten sich ein. Er hatte ein Badezimmer gefunden, eine kleine Küche mit Speisekammer, einen Lagerraum, zweimal so breit und so lang wie der Rest der Wohnung, vollgestopft mit allen möglichen Gegenständen in Kisten und Kartons, und einen Tiefkühlschrank. Wenn das Lager hauptsächlich Lebensmittel enthielt, wie Barney annahm, und wenn es ausreichend belüftet war und über eine eigene Energieversorgung verfügte, wie es anscheinend der Fall war, dann hatte McAllan ein hervorragendes und völlig autarkes Versteck gebaut. Man könnte hier jahrelang bequem leben, ohne es verlassen zu müssen. Von Barneys Seite aus betrachtet stimmte nur eines nicht. Das, wovor er Angst gehabt hatte. Nirgends war eine Spur von einem Fenster oder einem Ausgang zu erkennen. Die McAllanRöhre mochte natürlich solche Dinge überflüssig machen. Und wenn die Röhre der einzige Zu- oder Ausgang war, dann hatte McAllan sich ein ausbruchsicheres Gefängnis geschaffen, für jeden, den er dort einsperren wollte. Es war gut möglich, daß der Raum sich einige hundert Meter unter der Erde befand. Eine ziemlich teure Angelegenheit, aber davon abgesehen durchaus vorstellbar. Barney spürte, wie sein Atem schneller ging, und er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Wo immer er auch sein mochte, lange würde er hier nicht bleiben. McAllan würde bald mit ihm Fühlung aufnehmen. Und dann – sein Blick fiel auf den Schreibtisch, und jetzt sah er, daß seine Armbanduhr dort lag. Er ging hinüber, hob sie auf und stellte fest, daß der lange weiße Umschlag, auf dem die Uhr gelegen hatte, an ihn adressiert war. Einen Augenblick starrte er den Umschlag an. Dann riß er mit etwas zitternden Fingern den Umschlag auf und holte die mit Maschine beschriebenen Blätter heraus.
Ohne Überraschung stellte er fest, daß der Briefkopf den Aufdruck OLIVER B. McALLAN hatte. Und der Brief lautete: Sehr geehrter Mr. Chard: Eine unglückliche Verkettung von Ereignissen, verbunden mit gewissen Charakterzügen Ihrer Person, machen es nötig, Ihre Bewegungsfreiheit in starkem Maße einzuschränken. Ich möchte näher erklären: die Informationen, die ich Ihnen hinsichtlich der McAllan-Röhre und meiner eigenen Lage gab, trafen nicht ganz zu. Die McAllan-Röhre ist nicht so schwierig zu bedienen, wie ich es darstellte – man kann sie ganz leicht abstellen, ohne dabei irgendwelche Schwierigkeiten überwinden zu müssen. Außerdem bin ich nicht allein zu dem Entschluß gekommen, ihre Existenz verborgen zu halten. Seit Jahren sind wir – das heißt Mr. Fredericks, der ausgebildeter Diplomingenieur ist und in hohem Maße für die eigentliche Fertigung der Röhre verantwortlich – und ich Mitglieder einer Vereinigung, über die ich Ihnen nicht sehr viel sagen kann. Ich darf aber sagen, daß diese Vereinigung unter anderem als Hüterin einiger der gefährlicheren Ergebnisse der menschlichen Wissenschaft auftritt und das auch weiterhin tun wird, bis die Zeit reif geworden ist, um diese, Entdeckungen bekanntzugeben. Zu einer Zeit wie der jetzigen ist es nicht leicht, Dinge wie die McAllan-Röhre vor verantwortungslosem Zugriff zu bewahren, aber es gibt eine Anzahl wirksamer Mittel. Im vorliegenden Falle sind Sie in ein Netz gegangen, das wir ausgelegt hatten, um einen anderen Menschen, ein intelligentes, aber skrupelloses Individuum zum Handeln zu veranlassen, einen Mann, der in letzter Zeit ein beunruhigendes Interesse für die mit dem Fiasko meines Materie-Transporters zusammenhängenden Ereignisse gezeigt hatte. Die Chancen, daß eine andere Person auf die
Hinweise aufmerksam werden könnte, die wir diesem Mann zuspielten, wurden von uns für so gering gehalten, daß keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen nötig erschienen. Dennoch geschah das Unerwartete: Sie wurden neugierig. Die Schnelligkeit, mit der Sie auf Ihre zufälligen Beobachtungen reagierten, zeigt, daß Sie über ein so hohes Maß an Phantasie und Entschlossenheit verfügen, daß man Ihnen dazu nur gratulieren kann. Außerdem mußte ich auch Anzeichen einer weniger lobenswerten Motivation feststellen. Während ich scheinbar zögerte, eine Entscheidung zu treffen, die Sie vielleicht für unvermeidbar hielten, hat die Vereinigung Ihre persönliche Vergangenheit untersucht. Diese Untersuchung bestätigte, daß Sie in eine Persönlichkeitskategorie fallen, die mit höchster Vorsicht zu behandeln wir allen Grund haben. Angesichts der umfangreichen Erkenntnisse und Schlüsse, die Sie gezogen haben – wenn Ihnen auch ein etwas gefälschtes Bild dargeboten wurde – ergab sich ein ernsthaftes Problem, das durch die Tatsache noch erschwert wurde, daß sich die Vereinigung im Augenblick in der Vorbereitungsphase eines Fünf-Jahres-Planes von einiger Bedeutung befindet. Jedwedes öffentliche Interesse während dieser Periode ist äußerst unerwünscht. Es wird daher notwendig sein, dafür zu sorgen, daß Sie keine Gelegenheit haben, Ihr Wissen vor dem Abschluß des Planes anderen mitzuteilen. Sicher werden Sie begreifen, daß es sehr unklug wäre, in dieser Angelegenheit allein Ihrem Wort zu vertrauen. Ihre Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit muß daher drastisch eingeschränkt werden, bis diese FünfJahres-Periode vorüber ist. Nach Ablauf der nächsten zwei Wochen, was Sie an der Uhr in Ihrem Quartier ablesen können, wird es mir oder den anderen Mitgliedern der Vereinigung unmöglich geworden
sein, mit Ihnen vor dem Tag Ihrer Freilassung Verbindung aufzunehmen. Ich sage Ihnen dies, damit Sie sich nicht vergeblich Hoffnungen hingeben, die Lage zu Ihrem Vorteil verändern zu können. Vielmehr empfehle ich Ihnen, sich so schnell wie möglich mit der Tatsache abzufinden, daß Sie die nächsten fünf Jahre allein verbringen müssen. Es sind alle Vorkehrungen getroffen worden, Ihnen diese Lage so weit wie möglich zu erleichtern. Vermutlich haben Sie bereits versucht, einen Ausweg aus der Hütte zu finden, in der man Sie gelassen hat. Genau vierundzwanzig Stunden nach Fertigstellung dieses Briefes wird Ihnen diese Möglichkeit offenkundig werden. Es schien uns am besten, Ihnen einige Einzelheiten über die Art Ihrer »Haft« mitzuteilen, ehe Sie selbst entdecken, daß Ihnen so viel Freiheit eingeräumt wurde, wie unter den Umständen überhaupt möglich ist. Mit freundlichen Grüßen Oliver B. McAllan
Barney ließ den Brief auf den Tisch fallen und starrte ihn an. Sein Gesicht hatte sich gerötet. »Aber – das ist doch verrückt!« sagte er schließlich laut. »Und er ist ja noch verrückter als – « Er hielt inne und sah sich beunruhigt in dem Zimmer um. Ob nun ein geistesgestörter McAllan als Gefängniswärter wünschenswerter war als eine Geheimorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, gefährliche wissenschaftliche Entdeckungen geheimzuhalten, war eine schwer zu entscheidende Frage. Seine Hoffnung war immer noch, daß Dr. McAllan einen unerwartet bösartigen Sinn für Humor besaß. Unglücklicherweise gab es aber dafür nicht die geringsten Anhaltspunkte. McAllan hatte ihn durchschaut. Die Situation war kein Trick – und er glaubte auch nicht, daß McAllan ihn
zu diesem Schluß bewegen wollte. Wenn man seine Uhr nicht verstellt hatte, war er etwa fünf Stunden ohne Bewußtsein gewesen – oder siebzehn, korrigierte er sich. Aber in letzterem Falle wäre er hungrig gewesen, und das war er nicht. Fünf Stunden also. Fünf Stunden hätte ihnen nicht die Zeit gegeben, die »Hütte« so vorzubereiten, wie er sie vorgefunden hatte: nämlich für einen zeitlich unbegrenzten Aufenthalt. Er nahm an, daß McAllan sie als persönlichen Zufluchtsort für irgendeinen Katastrophenfall, zum Beispiel einen Atomkrieg, vorbereitet hatte. Aber in diesem Falle – warum sie für Barney Chard räumen? Zu viele Fragen, dachte er. Am besten war, er sah sich zuerst um. Die glatte Metallscheibe der Standuhr ließ sich an einem Scharnier aufklappen, und er entdeckte vier Zifferblätter dahinter, jedes anders eingeteilt. Nur eines davon schien ihm auf den ersten Blick vertraut. Barney studierte die drei anderen einige Zeit und dann begriff er plötzlich. Die große Uhr hatte gerade die vierte Stunde des ersten Tages im ersten Monat des ersten Jahres abgeschlossen. Auf dem Jahreszifferblatt gab es fünf Ziffern. Er starrte es an. Eine fünfjährige Periode von – irgend etwas schien der Schlüssel zu dem Ganzen zu sein. Barney schüttelte den Kopf. Vielleicht gab es einen Schlüssel, aber keinen, den er ohne weitere Detailkenntnisse begriff. Er klappte den Deckel über den Zifferblättern zu und begann im Geiste, McAllans Brief noch einmal zu analysieren. Da hieß es zum Beispiel, in vierundzwanzig Stunden – jetzt in zwanzig – würde es ihm offenbar werden, wie er die Hütte verlassen konnte. Das schien darauf hinzudeuten, daß er nicht irgendwo unter der Erde vergraben war. McAllan würde ihm zweifellos kein Privatmodell der Röhre zur Verfügung gestellt haben; er mußte also von einer gewöhnlichen Tür sprechen, die
ihm den Weg ins Freie öffnete, eine Tür mit einem Zeitschloß vielleicht. Aber wenn dem so war – wo war dann die Tür? Barney suchte zum zweitenmal. Diesmal wesentlich gründlicher. Drei Stunden später beendete er seine Suche. Er hatte immer noch keine Spur eines Ausgangs gefunden. Aber es bestand natürlich durchaus die Möglichkeit, daß in jedem beliebigen Zimmer die Vertäfelung zur Seite glitt, um zur angegebenen Zeit einen Ausgang freizumachen. Ebenso war es möglich, daß die Dielen hochklappten und eine Falltür freilegten. Es hatte keinen Sinn, die Suche weiterzutreiben. Schließlich brauchte er ja nur zu warten. Während seiner Suche hatte er andere Entdeckungen gemacht. Nachdem er ein paar Kisten im Vorratsraum geöffnet und den Inhalt des Tiefkühlschrankes überprüft hatte, konnte er annehmen, daß hier tatsächlich genügend Lebensmittel lagerten, um einen Menschen fünf Jahre lang zu ernähren. Wenn man unterstellte, daß die Wasservorräte ausreichten – das konnte er nicht überprüfen, denn das Wasser kam ebenso wie der Strom und die Lüftung von außerhalb –, würde er weder verhungern noch verdursten. Selbst Tabak und Alkohol waren in Vergleichsweise großzügiger Menge vorhanden. Die Qualität der Spirituosen, die er gesehen hatte, war gut; er hatte beinahe unwillkürlich eine Flasche Cognac genommen und sie mit in den Aufenthaltsraum gebracht. Der Gedanke an Essen war im Augenblick nicht attraktiv. Aber einen Drink konnte er brauchen. Er füllte ein Glas zur Hälfte und leerte es mit ein paar Schlucken, füllte es noch einmal und trug es zu einem der Lehnsessel. Jetzt fühlte er sich ganz entspannt. In Wahrheit, so gestand er sich ein, als er es sich in dem Sessel bequem machte, drohte die Situation ihm völlig die Nerven zu rauben. Alles das, was McAllans Brief angedeutet hatte, kam den
Tatsachen sehr nahe; das, was nicht gesagt wurde, wirkte durch die bewußt vage Aussage noch gefährlicher. Solange sich diese so melodramatisch getarnte Tür nicht öffnete – siebzehn Stunden würde es bis dahin noch dauern – war es für ihn am besten, wenn er gar nicht erst versuchte, sie zu finden. Am besten war, er setzte sich jetzt richtig unter Alkohol und verschlief dann den größten Teil der Wartezeit. Normalerweise war er kein Trinker, aber er hatte bereits die zweite Flasche in Angriff genommen, ehe die Hütte um ihn zu verschwimmen begann. Nachher konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er ins Bett gekommen war.
Als Barney erwachte, hatte er einen Wolfshunger. Von einem Kater keine Spur. Er brauchte nicht lange, sich wieder an seine Umgebung zu gewöhnen; er hatte geträumt, daß Dr. McAllan ihn in eine Schlangengrube geworfen hatte und jetzt sadistisch ein Seil einen Meter über seinem Kopf baumeln ließ und ihn aufforderte, in die Höhe zu klettern. Sich immer noch in der Hütte zu befinden war – wenigstens für ein paar Sekunden – eine Erleichterung. Die Erleichterung ließ nach, als er sich aufsetzte und auf seine Uhr sah. Immer noch eine Stunde, bis McAllans idiotische Tür offenbar wurde. Barney fluchte und ging ins Bad, um sich frischzumachen. Es gab dort einen elektrischen Rasierapparat, dessen Kabel in der Wand verschwand. Barney rasierte sich gründlich, als bereite er sich auf einen ganz normalen Tag vor, machte sich in der Küche das Frühstück und trug es in den Aufenthaltsraum. Dann aß er gemächlich und in Gedanken versunken und sah sich gelegentlich im Zimmer um. Nach ein paar Minuten schob er den Teller zurück und stand auf. Wenn McAllans Frist von vierundzwanzig Stunden mit dem Augenblick begannen, als
man die Standuhr im Raum in Bewegung gesetzt hatte, müßte die Tür jetzt eigentlich sichtbar sein. Er ging noch einmal durch die »Hütte«, fand aber nichts und begann, nervös zu werden. Jetzt untersuchte er einige Dinge zum zweitenmal. Einen Musikschrank – zuerst hatte er geglaubt, es wäre ein Radio, aber in Wirklichkeit war es ein Hi-fi-PlattenSpieler – sowie ein Schrank voll Platten, hauptsächlich klassische Musik. Und ein schmaler eingebauter Schrank mit drei auf Hochglanz polierten Angeln und anderem Gerät, das vielleicht Hinweise auf die Umgebung der Hütte gab – wenn man nicht davon ausging, daß McAllan vielleicht in jeder Umgebung seine Spielsachen in der Nähe haben wollte. Barney schloß die Tür mürrisch und sah die zwei Bücherregale daneben an. Eine Menge Bücher – aber wieder typisch für McAllans Geschmack. Technische Folianten, Belletristik, Dickens, Melville, eine Biographie Ghandis. Barney knurrte und wandte sich ab, als ihm ein weiterer Titel ins Auge fiel. Er sah das Buch an und zog es heraus. Süßwasserfische; erprobte Fangmethoden. Der Autor: O. B. McAllan. Barney öffnete das Buch, als sich auch die Tür der Hütte öffnete. Helles Licht – Tageslicht – füllte den Raum so plötzlich, daß Barney unwillkürlich den Atem anhielt. Das Buch schien ihm aus den Händen zu springen. Im gleichen Augenblick sah er das niedrige, breite Fenster, das plötzlich in der gegenüberliegenden Wand aufgetaucht war, sie halb ausfüllte – und in der anderen Wand, zur linken, eine große Tür, die sich immer noch langsam nach innen öffnete. Tageslicht strömte durch Tür und Fenster herein. Und draußen – Sekundenlang starrte er hinaus, ohne zu erkennen, was er da ansah. Zentimeter um Zentimeter hatte er die Wände abgesucht. Und diese dicke Holzvertäfelung war nicht zur
Seite geglitten; Türrahmen und Fenster hatten sich in den Wänden aufgetan. Die Veränderungen, die er soeben miterlebt hatte, hingen also mit der Funktion der McAllan-Röhre zusammen – eigentlich hätte er es sich denken können, überlegte Barney, daß McAllan mehr als nur eine Möglichkeit entdeckt haben mußte, die raumverzerrenden Eigenschaften seiner Erfindung auszunutzen. Und dann erkannte er plötzlich, was er da durch das Fenster und vor der Tür sah. Langsam schritt er ans Fenster. Sein Atem ging immer noch unregelmäßig. Die Szene war ihm fremd, aber keineswegs außergewöhnlich. Die Hütte schien über einem dicht bewaldeten, ziemlich schmalen Tal zu liegen. Bis zum gegenüberliegenden Höhenzug, der das Tal begrenzte, war es höchstens ein Kilometer. Und jetzt sah Barney auch den Horizont dahinter, etwas diesig noch, aber sommerlich hell. Diese Hütte mochte irgendwo in den kanadischen Rocky Mountains liegen. Oder – und der Gedanke machte ihm wesentlich weniger Freude – vielleicht auch im Himalaja. Aber eine viel drängendere Frage war, ob diese Hütte tatsächlich hier lag, oder vielleicht nur scheinbar da war. Die Röhre machte es möglich, daß dieser Raum und seine scheinbare Umgebung in Wirklichkeit weit auseinanderlagen. Und was würde ihm geschehen, wenn er sich jetzt entschied, hinauszugehen. Vor der offenen Tür waren undeutliche Geräusche zu hören: das Tschilpen von Vögeln und das Gurren einer Taube, einer Wildtaube, überlegte Barney. Und dann erfaßte ein Windzug den Zweig eines Baumes. Er fühlte den Luftzug im Zimmer. Alles sah aus und klang so – und fühlte sich an –, als wäre es ganz normal. Barney furchte unentschlossen die Stirn, räusperte sich und entdeckte dann, daß ein dritter Gegenstand neben Tür und
Fenster im Raum erschienen war. An der Wand, etwa in Schulterhöhe neben der Tür, war eine kleine Platte mit zwei schwarzen Drehknöpfen daran. Vermutlich die Steueranlage für Tür und Fenster… Barney trat näher und berührte den rechten Drehknopf vorsichtig. Er sah das Fenster an und drehte. Im gleichen Augenblick verschwand das Fenster, und Holztäfelung bedeckte wieder die Wand. Barney drehte den Knopf zurück. Und da war das Fenster wieder. Die Tür weigerte sich zu verschwinden, bis er sie schloß. Dann gehorchte sie dem Schalter ebenso schnell wie das Fenster. Er ging wieder durchs Zimmer und nahm eine von McAllans Angeln. Vorsichtig schob er die Spitze der Rute zur Tür hinaus. Es hätte ihn durchaus nicht überrascht, wenn in diesem Augenblick die Spitze sich aufgelöst hätte. Aber überhaupt nichts geschah. Er bohrte die Angelspitze in das lockere Erdreich vor der Tür und zog sie dann zurück. Der Wind blies, ein paar Erdkrumen wurden über die Türschwelle ins Zimmer getragen. Barney trat auf die Schwelle hinaus, tat ein paar zögernde Schritte und schaute sich um. Von hier aus konnte er das Tal besser sehen – und dabei erkannte er sofort, daß er sich nicht in den kanadischen Rockies befand. Zumindest gab es in Kanada nach seiner Kenntnis keine Wüste. Und zu seiner Linken endete das Tal, höchstens anderthalb Kilometer von der Hütte entfernt, und an die bewaldeten Hänge schloß sich eine dunkel rostrote Fläche an – flache Sanddünen, zwischen die einzelne Felsbrocken gestreut waren. Dahinter erstreckte sich die Wüste bis zum diesigen weißen Horizont. Nicht sehr viel anders als – Plötzlich weiteten sich Barneys Augen. Ob er in den Sierras war – höchstens drei oder vier Stunden Fahrt von Los Angeles entfernt?
Drei oder vier Stunden Fahrt, sofern er einen Wagen hatte. Aber dennoch – Er sah sich benommen um. Da war keine Spur eines menschlichen Wesens oder menschlicher Behausungen zu sehen. Aber irgend jemand mußte hier sein, jemand, der ihn bewachte. Sonst konnte nichts ihn daran hindern? diesen Ort zu verlassen, zu Fuß, wenn es sein mußte, selbst wenn es ein langer Marsch werden würde. Auch im Himalaja oder in ähnlich weit entfernten Gegenden mußte es Bergstämme geben, wenn man weit genug ging – und gelegentlich mußte ein Flugzeug über den Himmel ziehen. Barney stand vor der Tür und überdachte mit gefurchter Stirn seine Lage, suchte den Haken, der irgendwo sein mußte. McAllan und seine Freunde waren nicht dumm. Hier gab es irgend etwas, das er noch nicht durchschaut hatte. Und ohne sich etwas dabei zu denken, blickte er in die Höhe, kniff die Augen zusammen und sah hinauf in den hellen, diesigen Himmel – Und da sah er ES. Er hielt die Luft an und stieß einen halberstickten, erschreckten Schrei aus, als er in die Hütte zurücktaumelte, die Tür zuschlug und herumwirbelte und fieberhaft die Drehknöpfe an der Wand betätigte, bis Tür und Fenster verschwunden waren und nur noch das indirekte Licht in der Hütte ihn umgab. Dann kauerte er sich auf den Boden, den Rücken der Wand zugewandt, und zitterte vor Schrecken, einem Schrecken, den er sich kurz zuvor noch kaum hätte vorstellen können. Jetzt wußte er, was der Haken war. In dem Augenblick, als er in den Himmel geschaut hatte, hatte er begriffen, in dem Augenblick, als er den winzigen, grell leuchtenden, weißblauen Lichtpunkt gesehen hatte, der auf ihn herunterbrannte, durch die Wolkenschichten, die über ihm
lagen. Wie ein flammendes, unglaublich schreckliches Insektenauge… Die Sonne eines anderen Planeten.
AM ENDE DES ERSTEN JAHRES Barney Chard hatte schlecht geschlafen, und als er aufwachte, war ihm sofort klar, daß irgend etwas nicht stimmte. Ein paar Sekunden lag er in der dunklen Hütte und starrte um sich. Sein Mund war ausgetrocknet. Sein Herz pochte wie wild. Und dann entdeckte er, daß er die Tür offengelassen und das Fenster eingeschaltet gelassen hatte… Nun? Das war das erste Mal, seit sie ihn hier ausgesetzt hatten, daß er schlafengegangen war, ohne die Hütte zu verschließen. Daran hatte er selbst dann gedacht, wenn er sinnlos betrunken war. Er überlegte, ob er aus dem Bett steigen und es gleich erledigen sollte, entschied dann aber, es zu lassen. Schließlich wußte er ja, daß es nichts im Tal gab – nichts auf der ganzen Welt – vor dem er wirklich Anlaß hatte, sich zu fürchten. Und er war todmüde. Schwach und krank. Aber dieses Gefühl beunruhigte ihn jetzt nicht mehr so sehr wie zu Anfang; es war eine einfache physikalische Tatsache. Das Laken unter ihm war von Schweiß durchnäßt. Dabei war es im Raum nur angenehm warm. Die Hütte war immer angenehm warm. Barney legte sich wieder zurück und versuchte, sich daran zu erinnern, warum er das Fenster und die Tür vergessen hatte. Als er schlafen gegangen war, war es schon eine ganze Weile Nacht gewesen, aber gleichgültig, wie lange er auch geschlafen hatte, es würde noch ziemlich lange Nacht bleiben. Das letzte Mal, als er sich die Mühe gemacht hatte, es nachzuprüfen – er überlegte, daß das schon einige Monate zurücklag –, hatte die
sonnenlose Periode über sechsundfünfzig Stunden gedauert. Kurz bevor er zu Bett gegangen war, hatte er dem Minutenzeiger zugesehen, wie er auf den Punkt zukroch, der das Ende des ersten Jahres irdischer Zeitrechnung markierte, das er in der Hütte verbracht hatte. Dabei überwältigte ihn erneut das Gefühl absoluter Einsamkeit, und er hatte schon Angst es könnte wieder eine jener Perioden daraus werden, in denen er mit dem Revolver in der Hand dasaß und schluchzte und fluchte, erfüllt von Selbstmitleid und hilfloser Wut. Er entschied, mit dem Jammern aufzuhören und sich statt dessen gründlich zu betrinken. Und zwar würde er sich zur Feier seines ersten Jahrestages so betrinken, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Aber auch das hatte er nicht getan. Er hatte alles vorbereitet, richtig festlich war alles hergerichtet, Gläser, gestoßenes Eis, eine eindrucksvolle Batterie frischer Flaschen. Aber als er sich das Arrangement ansah, wurde ihm schon im voraus schlecht. Dann überkam ihn eine bleierne Schwere, völlige Ermüdung. Er hatte nicht die Zeit gehabt, noch an das Schließen der Hütte zu denken. Er war einfach ins Bett gefallen und war dort, wie es schien, sofort eingeschlafen. Barney Chard lag da und dachte darüber nach. Es war, das konnte man wohl sagen, ein hartes Jahr gewesen. Besonders an den langen Tagen hatte er sich redlich bemüht, seine Umgebung hinter einem Alkoholnebel zu verbergen. Der Gedanke an den grellen Stern, um den dieser Planet kreiste, das Wissen, daß nur das Dach und die Wände zwischen ihm und jenem fremden Beobachter waren, schien unerträglich. Die Nächte waren nach einer Weile leichter zu ertragen. Auch an ihnen war etwas Fremdes, aber der Unterschied zu den Nächten auf der Erde war nicht groß. Er gewöhnte sich an den großen grünen Mond und entwickelte geradezu eine Art von Zuneigung zu dem kleineren, der buttergelb war und eine Bahn
beschrieb, die ihn nur in unregelmäßigen Abständen am Himmel über dem Tal auftauchen ließ. Er fing an, nachts das Fenster offen und manchmal sogar die Tür stundenlang geöffnet zu lassen. Aber das hatte er nie zuvor getan, wenn er schlafen gehen wollte. Der Alkohol, dachte Barney und wälzte sich unruhig auf dem schweißdurchtränkten Laken, hatte keine große Wirkung. Sein Körper, oder vielleicht irgendein Widerstandsfaktor in seinem Geist, ließ ihn nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen. Wenn er diese Grenze überschritt, wurde er plötzlich krank. Und sich an diese Periode der Trunkenheit zu erinnern, war alles andere als angenehm. Barney Chard, jener zähe Bursche, war kein schöner Anblick, wenn er zerbrach, in Stücke ging. Und wenn er dieses Bild nicht mehr aus seinen Gedanken verdrängen konnte, dann saß er meistens mit dem Revolver in der Hand da und drehte ihn langsam zwischen den Fingern. Manchmal war er ziemlich nahe dran, einen letzten Entschluß zu fassen. Vielleicht haßte er aber McAllan und seine Vereinigung zu sehr, um die Waffe gegen sich zu richten. Trunken oder nüchtern brütete er endlos darüber, wie er sie vernichten konnte. Er mußte am Leben sein, wenn sie zurückkamen. Vor einer Weile hatte er dieses Ereignis in seinen Halluzinationen gesehen. McAllan und die Vereinigung schienen anwesend zu sein, und er stritt mit ihnen, bedrohte sie, ja bettelte sogar. Als diese Periode vorüber war, empfand er schreckliche Angst über das, was er tat. Seitdem hatte er das Trinken etwas eingeschränkt. Aber das war das erste Mal, daß er völlig ohne Alkohol zu Bett gegangen war. Er setzte sich auf den Bettrand, spürte, wie er wieder zu zittern anfing, stand dann aber auf und schlurfte zur Tür. Dann blickte er hinaus. Während der Nacht ließ die Wolkenbildung
meist nach, setzte aber bei Morgendämmerung wieder ein. Jetzt war der Himmel beinahe klar. Ein grüner Schimmer über der Wüste zur Linken bedeutete, daß der größere Mond bald aufgehen würde. Der kleine gelbe Mond stand schon am Himmel. Wenn sie gemeinsam schienen, so war das der helle Abschnitt der Nacht, in dem die Vögel und der Rest der Tierwelt im Tal ihren Gewohnheiten nachgingen, als wäre es hellichter Tag. Er hörte die Vogelstimmen und das ruhelose Murmeln des Baches im Tal. Er mündete in dem See zu seiner Rechten und versickerte dann in ein paar Tümpeln und Gräben in der Wüste. Plötzlich entdeckte er, daß er den Revolver in der Hand hielt, ohne sich dessen überhaupt bewußt gewesen zu sein. Er grinste und schob die Waffe in die Hosentasche, zog Streichhölzer und ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten hervor und begann zu rauchen. Sehr freundlich von denen, dafür zu sorgen, daß ihm die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens nicht ausgingen… so wie sie ihm zum Beispiel genügend Alkohol dagelassen hatten, daß er sich jederzeit im Laufe dieser fünf Jahre zu Tode trinken konnte, wenn er Lust dazu verspürte. Ebenso wie sie ihm den Revolver dagelassen hatten – Vom Standpunkt der Vereinigung aus lag die Entscheidung natürlich einzig und allein bei ihm, dachte Barney verbittert. In jedem Falle würde er mit seinen Handlungen das Gewissen der anderen nicht belasten. Einen Augenblick empfand er den alten Haß, aber viel schwächer diesmal, nur ein kleines Rinnsal, verglichen mit den wahren Sturzbächen, die ihn früher überwältigt hatten. Irgend etwas war in all diesen Monaten in ihm ausgebrannt, und er empfand nur mehr ein stumpfes, pochendes Gefühl – Und was hatte er jetzt vor der Hüttentür zu suchen? dachte er erschreckt. Er hatte sich nicht bewußt dazu entschieden, so weit zu gehen. In den ersten Wochen hatte er mehrmals
versucht, seine Umgebung während der Nacht zu erforschen. Er hatte schnell erkennen müssen, daß sein Gefängnis etwa so weit reichte, wie er von der Hütte aus schauen konnte. Hinter den Höhenzügen lagen die Wüste und nackte Bergketten, stumm und im Licht der beiden Monde angsteinflößend. Barney sah sich im Tal um, unentschlossen, ohne recht zu wissen, weshalb er unentschlossen war. Ihm war nicht danach, in die Hütte zurückzukehren, und einfach dazustehen war auch langweilig. »Nun«, sagte er schließlich zu sich selbst, »das ist eine schöne Nacht für einen Spaziergang, Freund Chard.« Und warum auch nicht. Es war hell genug, um zu sehen, wenn er sich aus dem Wald heraushielt, und es wurde immer heller, je weiter der große Mond hinter dem fernen Wüstenhorizont emporstieg. Er würde so weit gehen, bis er müde wurde, und dann ausruhen. War er dann wieder zur Hütte zurückgekehrt, würde er müde genug sein, um sich hinzulegen und im Schlaf über die eigenartige Stimmung hinwegzukommen, die ihn erfaßt hatte. Barney ging vorsichtig und etwas unsicher über den unebenen Boden. In den ersten Wochen hatte er einen dicken Loseblattordner in einer der Schreibtischschubladen gefunden. Vermutlich hatte man das Buch absichtlich dort gelassen. Sein Titel lautete: NOTIZEN ÜBER DEN TERRESTRISCHEN ÖKOLOGISCHEN STÜTZPUNKT DES ACHTZEHNTEN SYSTEMS BAND III. Nachdem er einmal durchgeblättert hatte, hatte es eine Weile gedauert, ehe Barney sich wieder dazu aufraffen konnte, die Notizen etwas gründlicher zu studieren. Er wollte damals noch gar nicht zu viel über die Lage wissen, in der er sich befand. Aber schließlich las er die Notizen in dem Ordner gründlich. Die einzelnen Berichte hatten keine Unterschrift, schienen aber
von wenigstens vier oder fünf Personen zusammengestellt worden zu sein – darunter auch McAllan; sein Stil war nicht schwer zu erkennen. Selbst wenn er über vieles hinwegging, was er nicht verstand oder nur halb verstand, konnte Barney sich doch ein ziemlich klares Bild von dem Projekt der Vereinigung machen, an dem er jetzt, ohne es zu wollen, teilnahm. Man hatte ausgewählte Pflanzen und Tiere durch die McAllan-Röhre von der Erde zu einer Welt gebracht, die aus Sand, Felsen und Wasser bestand und keinerlei Spuren eigenen Lebens zeigte. Im Augenblick befand sich der ökologische Stützpunkt in seinem neunten Jahr, und das bedeutete, daß die größeren Bäume im Tal schon beinahe ausgewachsen gewesen sein mußten, als man sie mit ihrem Mutterboden hierhergebracht hatte. Wie man es auch betrachtete, das Errichten einer Oase des Lebens auf diesem unfruchtbaren Planeten war ein gigantisches Unternehmen gewesen, aber es gab zahlreiche Hinweise, daß die McAllan-Röhre nur eines von vielen Geräten war, die der Vereinigung für solche Aufgaben zur Verfügung standen. Einige nicht ganz verständliche Beiträge drückten die Befriedigung des Berichterstatters darüber aus, wie durch nicht näher geschilderte Methoden die klimatischen Umstände des Stützpunktes aufrechterhalten wurden. Bis zur Stunde hatte Barney noch nicht einmal die Geräte finden können, die für das ununterbrochene Funktionieren der Hütte sorgten. Dazu und auch für andere Aufgaben waren Maschinen nötig, die irgendwo im Tal vergraben sein mochten. Ebensogut war auch möglich, daß man sie irgendwo in der Ferne, in der Wüste oder zwischen den Bergen, untergebracht hatte. Eines hatte er auch dem Bericht entnehmen können: McAllan hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, niemand von der Erde könne ihn, ehe die volle Zeit seines Exils um sei, erreichen. Der Grund schien für sich allein betrachtet
erschütternd genug. Dieser Planet hatte einen Punkt auf seiner Bahn erreicht, wo die Strahlung seiner Sonne so intensiv war, daß die Energie der McAllan-Röhre den Strahlenschirm nicht durchdringen konnte. Weitere vier Jahre würden verstreichen, ehe der Planet wieder hinter dieser »Mauer« hervorkäme. Er ging, ruhte aus und ging weiter. Gelegentlich beunruhigte ihn ein Schweißausbruch. Und dann stieg der große Mond über die Bergkette, und in der ersten Flut seines Lichtes sah der gegenüberliegende Talhang aus wie ein geheimnisvolles Felsenriff unter dem Meer. Die Aktivität des Tierlebens um Barney nahm zu. Es war jetzt nicht dunkler als am Abend auf der Erde, und die Tierwelt des ökologischen Stützpunkts schien sich dem seltsamen Wechsel zwischen Tag und Nacht gut angepaßt zu haben. Er brach durch ein Dickicht von Sträuchern und stand plötzlich am Ufer des Sees. Hinter der beinahe kreisrunden Wasserfläche schloß eine Klippenwand das Tal ab. Er war beinahe zwei Kilometer weit gegangen und war ziemlich erschöpft. Er setzte sich ans Ufer und beugte sich nach ein oder zwei Minuten vor, um aus dem See zu trinken. Das Wasser hatte den gleichen kalten, sauberen Geschmack wie das Wasser in seiner Hütte. Die Oberfläche des Sees war unruhig. Große, ihm unbekannte Insekten schwärmten umher, berührten immer wieder das Wasser, und dann hüpften Fische aus dem Wasser, um die Insekten zu fangen. Und einmal war einer ganz deutlich zu sehen, ein großer Fisch, dick und glänzend, und im Mondlicht wirkte er so lang wie Barneys Arm. Er platschte wieder zurück. Barney grinste. In den Notizen stand, daß Dr. McAllan bei der Auswahl der Flora und Fauna für das Tal die Hand im Spiel gehabt hatte, und man konnte sich auf McAllan verlassen, daß er dafür gesorgt hatte, daß selbst bei einem so
gigantischen Projekt seine Lieblingsfische nicht vergessen wurden. Er lehnte sich zur Seite, spürte den Revolver in der Tasche zog ihn heraus. Eine Welle dumpfer Wut überkam ihn plötzlich. Was sie mit Bäumen und Tieren taten, war ihre Sache. Aber was sie mit einem menschlichen Wesen getan hatten… Plötzlich stand er auf, holte weit aus und warf den Revolver weit in den See hinaus. Die Waffe funkelte noch einmal im Mondlicht und klatschte dann ins Wasser. Das Geräusch war leiser als das, das der Fisch verursacht hatte. Dann war sie verschwunden. Warum habe ich das getan? fragte sich Barney überrascht. Er überlegte eine Weile und empfand dann zum erstenmal seit mehr als einem Jahr etwas, das ihn beinahe an das Gefühl der Befriedigung erinnerte. Er würde nicht hier sterben. Gleichgültig, wie verbrämt auch die Einladungen von McAllan und der Vereinigung waren, nämlich sich selbst ein Ende zu setzen. Diesen Gefallen würde er ihnen nicht tun. Er würde leben und gesund sein, wenn sie in vier Jahren in das Tal zurückkehrten. Sie würden ihn nicht töten; sie hatten bereits bewiesen, daß sie nicht den Mumm hatten, einen Mord zu begehen. Sie würden ihn zur Erde zurückbringen müssen. Und sobald er einmal dort war, würde es unangenehm für sie werden. Gleichgültig, wie gründlich sie ihn auch beobachteten; am Ende würde er eine Gelegenheit finden oder herbeiführen, um sie ans Licht zu zerren, und dann würde er dieser ganzen lausigen überspannten Gesellschaft die Maske herunterreißen und dafür sorgen, daß sie in den Schleiern ihrer Geheimnistuerei erstickten…
AM ENDE DES ZWEITEN JAHRES Das Ende des zweiten Jahres auf dem ökologischen Stützpunkt im achtzehnten System kam und ging, ohne daß Barney sich der Tatsache unmittelbar bewußt wurde. Etwa zwei Stunden später blickte er auf die Armbanduhr, schob den Stuhl zurück, stand hinter seinem Schreibtisch auf und ging zu der alten Standuhr, um seine Vermutung bestätigt zu finden. »Nun, nun, Freund Chard«, sagte er laut. »Wieder ein Jubiläum… jetzt sind es nur noch drei. Beinahe Halbzeit.« Er klappte den Deckel über den Zifferblättern zu und wandte sich ab. Drei Jahre noch auf dem ökologischen Stützpunkt – das war eine grausame Zeit, wenn man es als Ganzes betrachtete… Und genau das war auch der Grund, warum er in letzter Zeit nie an die Zeitperiode in ihrer Gesamtheit dachte. Das letzte Jahr, so gestand sich Barney ein, mußte man jedenfalls als Fortschritt gegenüber dem ersten betrachten. Nun, so fügte er gereizt hinzu, eigentlich war das keine Kunst. Es war nicht gerade angenehm gewesen. Die Langeweile hatte ihn manchmal geradezu überwältigt. Aber in physischer Hinsicht zumindest war er fit – wesentlich gesünder als je zuvor in seinem Leben. Das war eigentlich nicht überraschend. Wenn er zu unruhig wurde, um sich auf irgend etwas zu konzentrieren, spazierte er im Tal umher, ging, so schnell er konnte, ohne auf Hindernisse zu achten, so lange, bis er einfach umfiel. Die Anstrengung verdrängte seine Unruhe – zumindest für eine Weile. Und wenn er dann einen Baum auswählte, um ihn zu Feuerholz zu zerkleinern, so zehrte das seine Wut auf, die ihn immer wieder überkam, wenn er an diese Vereinigung von Knilchen irgendwo jenseits dieser Sonne dachte. Chard begann, am ganzen Körper Muskeln zu entwickeln. Und nachdem er sich
schließlich selbst davon überzeugt hatte – schließlich schadete es den Tieren auch nichts –, daß dieser funkelnde, feurige Diamant am Tageshimmel eigentlich nicht schädlich sein konnte, hatte er auch angefangen, sich bräunen zu lassen. Wenn seine sorgfältig eingeteilten Schlafperioden schließlich kamen, war er mehr als bereit und schlief wie ein Toter. Und sonst: Arbeit. Arbeit, um die Langeweile zu verdrängen, Projekte, die vielleicht in sich gar keinen Sinn hatten. Aber nach den ersten ein oder zwei Monaten hatte er so viel zu tun, daß er überhaupt nicht mehr nachzudenken brauchte, was er tun sollte. Zwei Stunden, um an der Schreibmaschine eine der abstrusen technischen Abhandlungen McAllans zu zerpflücken. Wenn Barney genügend schlecht gelaunt war, fielen diese Analysen recht hart aus, und es hätte vermutlich keinen gegeben, der sie abgedruckt hätte; aber darauf kam es nicht an. Zwei Stunden waren ausgefüllt. Eineinhalb Tage – irdische Standardzeit – um einen Damm im Bach zu bauen. Er entwickelte sich zu einem geschickten Landschaftsarchitekten. Der Swimming-pool unterhalb der Hütte hätte vielleicht nicht den Beifall von Carstairs of Californa gefunden, aber das war das einzige Projekt, aus dem er sogar praktischen Nutzen zog. Und dann: Eine halbe Stunde täglich, um seine Technik im Messerwerfen zu verbessern. Fünfzehn Minuten, um nachher die Klinge des Küchenmessers wieder geradezubiegen. Zwei Stunden, um eine Falle für die fetten grauen Eichhörnchen zu basteln, die sich dauernd um die Hütte herumtrieben. Fünfzig Minuten an einem neuen Schachproblem. Schach, das hatte Barney entdeckt, war gar nicht so haarig, wie es aussah. Fünf Stunden, um sich eine weitere narrensichere Methode auszudenken, wie man schließlich die Vereinigung zugrunde
richten konnte. Das brachte genauso wenig praktischen Nutzen wie alles andere, was er getan hatte – er würde erst dann vernünftige Pläne schmieden können, wenn er mehr über McAllans Freunde wußte. Aber die Zeit verging dabei sogar noch schneller als beim Schachspiel. Freund Chard konnte die Langeweile bekämpfen. Vermutlich würde er das noch weitere drei Jahre lang können. Aber denjenigen, die ihm diese Langeweile aufzwangen, hatte er noch nicht vergeben.
AM ENDE DES FÜNFTEN JAHRES
Ein paar Stunden hatte die Altiplano-Station der Vereinigung finster und beinahe verlassen ausgesehen. Nur die IMTTransit-Schleuse unter einem der großen Ranchhäuser war im Lichtschein des großen Bildschirms an der Wand schwach zu erkennen. Der Bildschirm zeigte einen unbedeutenden Sektor der Galaxis, ein verschwommenes Durcheinander von Sternen, das sich nach rechts hin verdichtete. Irgendwo links von der Mitte sah man einen großen nebelhaft roten Globus. John Emanuel Fredericks, der allein in einem der Operatorstühle saß, achtete nicht auf den Bildschirm. Er saß etwas nach vorn gebeugt und spähte aufmerksam in ein Okular. Melvin Simms, Psychologe, kam durch die Transit-Schleuse hereingeschlendert, blieb hinter Fredericks stehen und sagte: »Guten Abend, Doktor.« Fredericks zuckte zusammen und sah sich um. »Hab dich gar nicht kommen hören, Mel. Wo ist Ollie?«
»Er und Spalding besuchen Spaldings Haus in Vermont. Sie müssen in ein paar Minuten da sein.« »Spalding?« fragte Fredericks. »Unser hochgeschätzter Präsident beabsichtigt wohl, die Ergebnisse von Ollies Experiment persönlich in Augenschein zu nehmen?« »Er wird hier den Aufsichtsrat vertreten«, sagte Simms. »Wogegen ich, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, die empörte Psychologieabteilung repräsentiere.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm. »Ist es das?« »Ja. ET-Stützpunkt achtzehn.« »Nicht besonders scharf auf der Röhre, oder?« »Nein. Immer noch ziemlich viel Interferenzstrahlung. Aber die ist jetzt schwach genug, daß Kontakt möglich ist. Vor dreißig Minuten war der Wert 0,19.« Fredericks deutete auf den Stuhl neben sich. »Setz dich doch, wenn du es genauer sehen willst.« »Danke.« Der Psychologe machte es sich auf dem Stuhl bequem, beugte sich vor uns spähte ins Okular. Nach ein paar Augenblicken meinte er: »Sieht nicht gerade einladend aus – « Frederick brummte. »Jeder Ökologe wird dir sagen, daß Achtzehn eine unverfälschte Schönheit ist. Da gibt es überhaupt keine Probleme – bloß die, die wir selbst mitbringen.« Simms grinste schwach. »Nun, dazu haben wir ja ein Talent, oder? Hast du dich schon nach… äh… McAllans Versuchsperson umgesehen?« »Nein. Ich fand, Ollie sollte da sein, wenn wir nachsehen. Übrigens, wie ist die Besprechung denn gelaufen?« »Du hast dich nicht eingeschaltet?« fragte Simms überrascht. »Nein. Ich hatte genügend hier zu tun, den Kontakt vorzubereiten.« »Nun«, Simms lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »man könnte sagen, am Anfang waren alle ziemlich sauer. Die
psychologische Abteilung gab sich überrascht, indigniert und beleidigt. Mit anderen Worten wütend. Ich habe mich herausgehalten, obwohl ich zugeben muß, daß ich auch recht überrascht war, als McAllan mich heute unter vier Augen von dem Fünf-Jahres-Plan informierte, den er ganz im stillen durchgeführt hat. Man hat ihm alle möglichen Verbrechen vorgeworfen, angefangen… nun, von Geheimniskrämerei bis zur Unmenschlichkeit. Und Ollie hat sich natürlich seiner Haut tüchtig gewehrt.« »Natürlich.« »Seine Argumente waren durchaus einleuchtend«, fuhr Simms fort und runzelte nachdenklich die Stirn. »Das wurde anerkannt. Niemand ist von dem Gedanken der Euthanasie als Sicherheitsmaßnahme sonderlich begeistert. Die meisten von uns sind allerdings – mit mir – der Ansicht, daß sie der Gehirnwäsche vorzuziehen ist, die nötig wäre, um in einer Persönlichkeit von der Art Chards spürbare Veränderungen hervorzurufen.« »Ollie teilt diese Meinung«, sagte Fredericks. »Er hat die ursprüngliche Situation so gesehen, daß Barney Chard von dem Augenblick an, als er auf die Spur der Vereinigung stieß, ein toter Mann war. Oder eine für immer deformierte Persönlichkeit.« Simms schüttelte den Kopf. »Letzteres nicht. Wir hätten in seinem Falle nie daran gedacht, eine Persönlichkeitsveränderung vorzunehmen.« »Also Euthanasie«, sagte Fredericks. »Chard war zu intelligent, um von der Spur abgelenkt zu werden, und zu skrupellos, als daß man ihm unter irgendwelchen Umständen hätte vertrauen können. Also meldete Ollie, er sei tot.« Der Psychologe schwieg einige Sekunden. »Es könnte darauf hinauslaufen«, sagte er plötzlich. »Ich habe heute morgen nach
meiner Unterredung mit McAllan das Persönlichkeitsschema, das man vor fünf Jahren von Chard erstellt hatte, extrapoliert. Das Resultat ist, daß er mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres den Verstand verloren und Selbstmord begangen hat.« »Wie verläßlich ist diese Prognose?« fragte Fredericks geistesabwesend. »Auch nicht höher als irgendeine andere Indikation bei der Individualpsychologie. Aber die Wahrscheinlichkeit ist verhältnismäßig hoch… und nicht besonders angenehm.« »Oliver hat durchaus an diese Möglichkeit gedacht«, sagte Fredericks. »Ein Grund, warum er Stützpunkt achtzehn für das Experiment auswählte, war, daß er selbst sicher sein wollte, daß er sich nicht mehr in den Prozeß einschalten konnte. Sein Eindruck, nachdem er sich ein paar Stunden mit Chard unterhalten hatte, war, daß Chard ein überkondensierter Mensch war. Das ist ein Ausdruck, den Oliver selbst geprägt hat. Chard war ganz offensichtlich intelligent und hatte einen starken Selbsterhaltungstrieb. Er hatte sich für seine Person auch eine gute Basis zum Überleben ausgesucht, eine recht gute, aber sehr schmale. In Wirklichkeit steckte er natürlich voller Ängste. Er war sein ganzes Leben lang mit Angstzuständen herumgelaufen und konnte nicht mehr aufhören.« Simms nickte. »Stützpunkt achtzehn hat ihn zur Ruhe gebracht. Die Dinge, vor denen er auf der Flucht war, existierten nicht mehr. Ollie nahm an, daß Chard in Panik geraten würde, wenn er das erkannte. Die Frage war, was er dann tun würde. Das Überleben hatte jetzt völlig andere Aspekte angenommen. Die einzigen Gefahren, die ihn bedrohten, waren nun die, die in seiner eigenen starren Persönlichkeitsstruktur lagen, die er während seines bisherigen Lebens als Erwachsener aufgebaut
hatte. Würde er intelligent genug sein, um das zu begreifen? Und würde sein Selbsterhaltungstrieb – jetzt, da ihm für fünf Jahre jede andere Alternative absolut versperrt war – stark genug sein, um diese Gefahren zu überwinden?« »Und da haben wir zwei ziemlich große Fragen«, sagte Simms trocken. Er räusperte sich. »Es bleibt aber die Tatsache, daß Oliver B. McAllan ein guter Psychologe ist – wie er in der Sitzung bewiesen hat.« »Ich habe erwartet, daß Olli bei der Abstimmung ganz gut abschneidet«, sagte Fredericks. »Wie ist es denn gelaufen?« »Nicht schlecht. Der erste Antrag wurde einstimmig angenommen. Ein Tadelsantrag gegen Dr. McAllan.« Fredericks blickte nachdenklich auf. »Sein siebzehnter – glaube ich.« »Ja. Das wurde auch erwähnt. McAllan räumte ein, daß er selbst keine andere Wahl hätte, als den Antrag zu unterstützen. Der nächste Antrag, für den sich dann eine Mehrheit fand, war praktisch die allgemeine Feststellung, daß Männer mit so… äh… hochspezialisierten Fähigkeiten wie Barney Chard und mit einer entsprechend hohen Intelligenz als Mitglieder der Vereinigung sehr wertvoll sein könnten, falls es sich ergäbe, daß man ihre ausgeprägten gesellschaftsfeindlichen Tendenzen heilen könne. Angesichts dieser Einschränkung konnte die Psychologieabteilung nicht umhin, den Antrag zu unterstützen. Ebenso ging es beim dritten. Die Psychologieabteilung wurde aufgefordert, Dr. McAllans Experiment auf Stützpunkt achtzehn vorurteilslos zu prüfen und dann einen Bericht abzugeben, ob ähnliche Experimente wünschenswert wären, wenn die Persönlichkeit künftiger Versuchspersonen es rechtfertigt.« »Nun«, sagte Fredericks nach einer Pause, »Ollie hat also, soweit es unsere Vereinigung betrifft, das bekommen, was er
wollte. Wie üblich.« Er zögerte. »Die andere Angelegenheit – « »Das werden wir gleich wissen.« Simms wandte den Kopf und lauschte, und dann fügte er mit leiserer Stimme hinzu: »Sie kommen jetzt.« Dr. Steven Spalding sagte zu Simms und Fredericks: »Dr. McAllan ist mit mir einer Meinung, daß der Mann, den wir auf Stützpunkt achtzehn suchen, möglicherweise tot ist. In diesem Falle werden wir versuchen, Hinweise auf die Todesursache zu finden, ehe die ökologischen Forschungsarbeiten auf Achtzehn fortgesetzt werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, daß wir ihn zwar lebend, aber geistesgestört vorfinden. Dr. Simms und ich sind beide mit Narkosestrahlern ausgerüstet, mit denen wir ihn lähmen können. Die Ladung reicht auch aus, um sicherzustellen, daß er nicht wieder aufwacht. In diesem Falle muß besonders vorsichtig vorgegangen werden, da man ihn im Besitz eines geladenen Revolvers gelassen hat. Drittens besteht die Möglichkeit, daß er lebt und im medizinischen Sinne gesund, aber uns offen oder versteckt feindlich gesinnt ist.« Spalding sah die anderen kurz an und fuhr dann fort: »Wegen dieser Möglichkeit ist unsere Kontaktgruppe hier sehr sorgfältig zusammengestellt worden. Wenn das das Ergebnis von Dr. McAllans Experiment ist, wird unsere unangenehme Pflicht darin bestehen, Chards Henker zu sein. Die fünf Jahre Einzelhaft, die Chard bereits hinter sich hat, in lebenslängliche Haft oder weitere psychologische Manipulation umzuwandeln, wäre unentschuldbar. Dr. McAllan hat uns gesagt, daß er Chard den eigentlichen Grund seines Exils nicht mitgeteilt hat – « »Richtig«, unterbrach ihn McAllan, »sonst hätte Chard sich nämlich eher selbst umgebracht, als unser Experiment
zuzulassen. Chard hielt zu jener Zeit jeden anderen Menschen für einen Feind. Es wäre ihm unmöglich gewesen, sich mit den Zielen eines anderen Menschen einverstanden zu erklären.« Simms nickte. »Da pflichte ich Ihnen bei, Doktor.« Spalding fuhr fort: »Inzwischen hat dieser Aspekt wahrscheinlich keine Bedeutung mehr. Jedenfalls ist Chard informiert worden, daß ein wichtiger Fünf-Jahres-Plan der Vereinigung es notwendig machte, ihn so lange festzuhalten. Wir werden ihn sorgfältig beobachten. Falls wir zu dem Schluß gelangen, daß er gegen die Vereinigung handeln würde, sobald sich ihm dazu eine Möglichkeit bietet, werden wir ihm mitteilen, daß der Fünf-Jahres-Plan abgeschlossen ist und daß man ihn deshalb jetzt freilassen und ihm eine angemessene Entschädigung für sein erzwungenes Exil geben wird. Und dann – sobald er eingeschlafen ist – Euthanasie. Aber bis zu diesem Punkt muß alles geschehen, um ihn zu beruhigen.« Wieder hielt er inne. Und dann schloß er: »Und es besteht noch die Möglichkeit, daß Dr. McAllans Plan zu dem Ergebnis geführt hat, das Dr. McAllan wünschte. Ollie… das kannst du jetzt selber vortragen.« McAllan zuckte die Achseln. »Ich habe meine Ansichten bereits dargelegt. Im Wesen geht es um die Frage, ob Barney Chard fähig war zu erkennen, daß er leben konnte, ohne destruktiv mit anderen menschlichen Wesen in Wettbewerb zu treten. Wenn er das begriffen hat, sollte er inzwischen auch erkannt haben, daß Stützpunkt achtzehn im Augenblick einer der interessantesten Orte im bekannten Universum ist.« Simms fragte: »Erwartest du, daß er für das Geschehene dankbar sein wird?« »Nu-u-u-n«, meinte McAllan nachdenklich und wurde dabei eine Spur bleicher, »das hängt natürlich davon ab, ob er noch lebt und geistig gesund ist. Aber wenn er die fünf Jahre überlebt hat, glaube ich, daß er mit dem, was mit ihm
geschehen ist, nicht unzufrieden sein wird. Aber« – wieder zuckte er die Achseln – »fahren wir doch fort. Fünf Jahre waren eine lange Zeit, um festzustellen, ob ich ihn ermordet habe oder nicht.« In dem kurzen Schweigen, das nun folgte, machte er es sich in dem Sessel bequem, den Fredericks freigemacht hatte, und blickte zu Simms hinüber. »Bleib sitzen, Mel«, sagte er. »Du vertrittst hier die Psychologie. Nimm dein Okular. Der Bildschirm ist immer noch nicht frei, was John?« »Nein«, sagte Fredericks. »Noch zwei Stunden, dann bekommen wir ein gutes Bild. Vorher kaum.« »So lange werden wir nicht warten«, erklärte McAllan. »Simms und ich können durch das Okular ungefähr erkennen, was geschehen ist.« Er schwieg ein paar Augenblicke, und dann dehnte sich der verschwommene rote Globus auf dem Bildschirm plötzlich aus, füllte ihn zu zwei Drittel, wuchs weiter und kam schließlich zum Stillstand. McAllan sagte gereizt: »John, ich fürchte, du mußt jetzt übernehmen. Meine Hände sind zu unruhig.« Ein oder zwei Minuten verstrichen. Das Bild wurde immer unschärfer. Die Einzelheiten verschwammen in einem undeutlichen Orangebraun. Grün schob sich plötzlich dazwischen, und dann murmelte McAllan: »Jetzt haben wir gleich die Hütte.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann räusperte sich Fredericks. »So weit, so gut, Oliver. Wir sehen jetzt in die Hütte. Deinen Mann sehen wir noch nicht – aber es liegt jemand dort. Was, Simms?« »Ja, offensichtlich«, nickte der Psychologe. Er zögerte. »Und wie es scheint, kein Verrückter. Alles scheint einigermaßen in Ordnung zu sein.« »Chard ist in der Hütte?« fragte Spalding.
»Nein, es sei denn, er versteckte sich absichtlich«, erklärte Fredericks. »Die Tür ist offen. Hm-m-m. Nun, ganz verlassen ist die Hütte jedenfalls nicht.« »Was soll das heißen?« fragte Spalding. »Zwei Eichhörnchen sitzen am Fenster«, erklärte Simms. »Am Fenster? In der Hütte?« »Ja«, sagte Fredericks. »Entweder sind sie hereingelaufen, während er weg war, oder er hält sie als Haustiere. Sollen wir uns jetzt draußen nach Chard umsehen?« »Nein«, entschied Spalding. »Das Stützpunktgelände ist zu groß, als daß das einen Sinn hätte. Wenn er in der Hütte lebt und nur ausgegangen ist, wird er spätestens in ein paar Stunden zurückkommen. Wir werden warten. Aus seinem Verhalten bei der Rückkehr kann man auch einige Schlüsse ziehen.« Er wandte sich McAllan zu. »Ollie«, sagte er, »ich glaube, du kannst aufatmen. Es sieht gar nicht schlecht aus.« McAllan murrte. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ihr überseht eines.« »Und das wäre?« »Ich habe Chard gesagt, wann er uns erwarten kann. Wenn er die Uhr nicht zerschlagen hat, weiß er, daß wir heute fällig sind. Wenn nichts schiefgegangen ist – würde er dann nicht in der Hütte auf uns warten?« Spalding zögerte. »Da hast du recht. Er scheint sich zu verstecken. Vielleicht hat er uns eine Falle gestellt? John – « »Ja?« sagte Fredericks. »Schalte auf stärkste Vergrößerung und suche jeden Winkel der Hütte ab. Vielleicht finden wir – « »Das tut er schon«, unterbrach ihn Simms. Wieder herrschte ein paar Minuten lang Schweigen. Fredericks’ Finger drehten mit unendlicher Geduld an den Skalen. Sonst war kein Laut zu hören.
»Ha-ha-haaa!« rief Dr. John Fredericks plötzlich. »Ha-hahaaa! Eine Botschaft, Ollie! Dein Mr. Chard hat dir eine – Hahaaa-Botschaft hinterlassen.« Einen Augenblick konnte McAllen nicht deutlich sehen. Fredericks lachte immer noch; und Simms sagte schnell: »Es ist alles in Ordnung, Doktor! Alles in Ordnung. Dein Mann ist normal, ganz normal. Man könnte sagen, du hast ihn zu der McAllanschen Lebensweise bekehrt. Siehst du es denn nicht?« »Nein«, keuchte McAllan. Undeutlich sah er den Schreibtisch in der Hütte, sah etwas Weißes darauf – eine weiße Karte – die festgeklebt war, erkannte Schrift darauf. »Der Junge läßt sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen«, fuhr Simms’ Stimme hinter ihm fort. »Nicht einmal der Gedanke, daß zum erstenmal seit fünf Jahren Besucher von der Erde kommen. Aber er läßt dich wissen, daß du es dir ruhig in seiner Hütte bequem machen kannst, bis er zurückkommt. Da, laß mich – « Er griff über McAllan hinweg, stellte das Okular scharf ein. Und jetzt war die Schrift auf der Karte plötzlich ganz deutlich zu lesen. Die Nachricht war kurz, lakonisch und präzise. BIN ANGELN GEGANGEN. Beste Grüße, B.Chard
Originaltitel: GONE FISHING. Copyright © 1961 by Conde Nast Publications, Inc. Aus ANALOG SCIENCE FACT. – SCIENCE FICTION Mai 1961.
Everett B. Cole DIE MISSIONARE
»Los, Primat, mach den Rücken gerade! Versuch wenigstens aufrecht zu gehen.« Die Stimme klang ungeduldig und befehlsgewohnt. Klion Meinora zuckte zusammen. Dann hielt er mitten im Schritt inne und wirbelte herum. Wenige Zentimeter vor ihm verzog sich ein breitflächiges Gesicht zu einem Lachen. »Diesmal habe ich dich erwischt. Und wie.« Der andere drohte Meinora mit dem Finger. »Du solltest dir einmal die Zeit nehmen und deine Reaktion untersuchen. Pure Wut. Daraus kannst du ein ganzes Kapitel auf einem deiner wissenschaftlichen Bänder machen. Aber sei vorsichtig, Freund, du könntest jemand auf die Zehen treten.« Meinora starrte den anderen immer noch an. »Sanathor!« Er streckte den Arm aus und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich hab wirklich nicht gedacht, daß du in diesem Sektor bist, alter Freund. Ich habe mir eingebildet, du seist irgendwo auf der anderen Seite der Galaxis.« Boreel Sanathor legte eine seiner mächtigen Pranken auf Meinoras Schulter und drückte sie leicht. »Man hat mich gerade versetzt«, sagte er. »Scheint, daß es in diesem Sektor ein paar schwierige Kulturen gibt. Da haben sie einen gebraucht, den sie auf die armen Teufel loslassen können. Und dann haben sie an mich gedacht. Die haben mir einen ganz guten Posten gegeben.« Er rieb sich selbstgefällig
die Hände und sah Meinora dann scharf an. »Bist du hergekommen, um dich wieder zu verpflichten? Wir können dich brauchen.« Meinora schüttelte den Kopf. »Nein«, wehrte er ab. »Ich nicht. Meinetwegen könnt ihr alle eure guten Posten behalten. Ich bin froh, daß meine Zeit um ist und man mich entlassen hat. Ich habe mich entschlossen, eine Weile ins Lehrfach zurückzugehen, und das gefällt mir. Auf die Weise bin ich mein eigener Chef.« Er lächelte. »Ich habe meine Studien auf Kleira abgeschlossen und dann als Außendienstberater angefangen. Wenn mir die Studenten einmal die Zeit dazu lassen, dann mache ich ein paar Unterhaltungsbänder.« »Und deine Themen kommen gut an?« Sanathor blickte auf Meinoras Aktenkoffer. Meinora runzelte die Stirn. »Früher ja. Aber in letzter Zeit hatte ich Ärger. Es klappt einfach nicht mehr so gut.« Er zuckte die Achseln. »Und da habe ich eben beschlossen, den Weltraumdienst eine Weile an den Nagel zu hängen und auf einem Planeten zu arbeiten.« Sanathor spreizte die Finger. »Als du noch beim Corps warst, hattest du nie solchen Ärger. Stell dich doch wieder für ein paar Zyklen zur Verfügung. Auf die Weise streifst du die Spinnweben ab, die du in deiner Akademikerzeit angesetzt hast. Das reinigt den Verstand.« »Nein, nein«, lehnte Meinora ab. »Ich habe dir doch gesagt, ich bin froh, ein freier Mensch zu sein. Ich hatte es einfach satt, im Raum umherzuvagabundieren. Ich habe bei der Universität angerufen und gesagt, daß ich zwei oder drei Zyklen auf einem Planeten arbeiten wolle. Anschließend bin ich nach Dorana geflogen und auf Huilon gelandet; du weißt schon, der siebte Planet – « »Moment mal.« Sanathor hob die Hand. »Ich habe keine Ahnung, was Dorana ist. Ist das ein Stern oder so etwas?«
»Du mußt auch alles ganz genau wissen«, brummte Meinora. »Klar ist das ein Stern. Du kannst dich ja irgendwann einmal darüber informieren.« Er hielt inne. »Weshalb läufst du eigentlich ohne Uniform herum? Als ich noch beim Corps war, ging so etwas nicht. Die Disziplin läßt eben auch nach.« Er schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. »Aber zu deiner Information: Dorana ist ein Stern der Spektralklasse A, Größenklasse 9. Und er hat Planeten, mehrere sogar. Einer davon heißt Huilon. Jedenfalls bin ich auf diesem Planeten Huilon gelandet. Diese Zivilisation hat sich erst kürzlich mit der Föderation verbündet. Sie hat sich uns noch nicht angeschlossen – ist noch nicht Vollmitglied des Rates und hat auch noch keinen formellen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Aber sie haben nichts gegen uns als Kaufleute oder Touristen einzuwenden – sagen sie.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich war schon einmal dort, kurz nachdem ich aus dem Corps ausgetreten war«, fügte er hinzu, »und habe mich köstlich amüsiert. Diesmal war es etwas anderes.« Er hielt inne. »Hör zu, ich hab eine Verabredung. Ich wollte das mit dem Chef der philosophischen Abteilung besprechen. Deshalb die Bänder hier.« Er blickte auf seinen Aktenkoffer. »Ich hab mir gedacht, daß ich da vielleicht auf eine Sache gestoßen bin, die in sein Ressort fällt. Weißt du, wo der oberste Kulturmechaniker sich gerade rumtreibt?« Sanathor blickte ihn gespielt würdevoll an. »Du meinst wahrscheinlich den Wächter des Sektors?« Er klopfte sich auf die Brust. »Ich treib mich nicht herum. Ich leite die Einsätze meines Personals von meinem Büro aus.« »Ich meine doch nicht dich… He! Augenblick mal. Jetzt mach’ mir bloß nicht weis, daß sie dich so schnell befördert haben.« Sanathor griff an Meinora vorbei und öffnete eine Tür.
»Du bist viele Zyklen draußen im Weltraum gewesen, Freund meiner Jugendzeit.« Er lud ihn ein, einzutreten. »Komm ‘rein. Wir finden verlorengegangene Astronauten. Wir biegen kulturell verklemmte Planeten zurecht. Und wir sorgen dafür, daß bei den bewaffneten Streitkräften Arbeitslosigkeit herrscht.« Er wartete, bis Meinora eingetreten war, und ging dann durchs Zimmer, um hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Aber im Ernst«, fügte er dann hinzu, »wo liegt denn das Problem? Deine Mitteilung war ziemlich vage, weißt du?« Meinora nickte. »Absichtlich«, sagte er. »Ich wollte nicht, daß die falschen Leute die Sendung auffingen und auf dumme Gedanken kamen.« »So?« Sanathor legte einen Schalter am Schreibtisch um. »Auf was bist du denn gestoßen?« »Eroberung, zumindest einen Eroberungsversuch durch Infiltration.« »Und es handelt sich um einen Föderationsplaneten?« Sanathor hob die Brauen. »Huilon ist eigentlich kein Föderationsplanet«, meinte Meinora. »Noch nicht, jedenfalls. Aber er ist mit uns verbündet.« »In einem solchen Fall ist das ziemlich gleichgültig.« Sanathor schüttelte den Kopf. »Ebensogut könnten es Vollmitglieder sein. Du sagtest Infiltration. Ist irgendeine Aggression vorgekommen?« »Nein. Nicht im üblichen Sinne des Wortes.« Sanathor lehnte sich zurück. »Wie kann man denn einen Planeten durch Infiltration erobern«, wollte er wissen, »ohne, daß zugleich Aggression im Spiel ist? Und – ganz besonders wichtig – wie läßt sich das auf interstellare Entfernungen bewerkstelligen?«
»Man benutzt Missionare.« Meinora lehnte sich vor. »Und die Entfernung ist gar nicht so wichtig, solange die beiden Völker sich physisch gleichen und die richtigen Umstände vorliegen. Im Ablauf ist da gar kein großer Unterschied zu unseren eigenen Rehabilitierungsmaßnahmen. Bloß die Ergebnisse sind anders. Man kann das gleiche System in beiden Richtungen arbeiten lassen. Du solltest das eigentlich wissen.« Er stand auf. »Darf ich deinen Sternkatalog benutzen? Ich kann dir die betroffenen Gegenden zeigen.« »Bitte.« Sanathor schob seinen Stuhl beiseite. »Hier ist das Schaltbrett.« »Danke.« Meinora lehnte sich über den Schreibtisch und drückte Knöpfe. Neben dem Schreibtisch leuchtete ein großer Stereoschirm auf. Winzige Lichtpunkte erschienen in der Dunkelheit. An einer Seite bildete sich ein roter Kreis um einen dieser Punkte. »Sektor-Hauptquartier«, erklärte Meinora. Er musterte die Karte auf der Konsole einen Augenblick lang und stellte dann eine Kombination ein. Er drückte den Schaltknopf nieder. Eine dünne rote Linie erschien plötzlich an dem rotmarkierten Punkt und dehnte sich über den ganzen Stereoschirm aus. Schließlich kam sie an einem Punkt zum Stillstand. Ein blauer Kreis schloß sich um diesen zweiten Punkt. »Das ist Dorana.« Meinora zeigte auf den blauen Kreis und blickte sich nach Sanathor um. »Jetzt werde ich einen Doppelsektor einstellen.« Sanathor hatte den Stereoschirm nicht aus dem Auge gelassen. »Gut«, sagte er. »Ziemlich dicht an der Sektorengrenze, oder?« Meinora nickte. »Der andere Planet, mit dem wir es zu tun haben, ebenfalls. Aber er liegt in einem anderen Abschnitt.« Wieder drückte er Knöpfe, und ein blauer Strich ging von
Dorana aus. Gleichzeitig ging ein weißer Strich vom SektorHauptquartier aus. Die beiden Linien trafen sich am unteren Ende des Stereoschirms. Ihr Schnittpunkt lag in einer dunklen Fläche, und Meinora sah sich erneut um. »Unerforschtes Gebiet«, bemerkte er. »Wenigstens ist es in meinem Katalog so beschrieben. Ich könnte mich natürlich um ein paar Lichtjahre geirrt haben. Vielleicht hat man die Gegend erforscht, seit mein Katalog zum letztenmal überprüft wurde.« Er drückte einen Knopf, und ein schwacher Nebel umgab den Schnittpunkt der beiden Linien. »Meine Informationen waren etwas vage, und ich konnte weder den genauen Namen der Sonne, noch den des Planeten erfahren. Meine Gewährsleute benutzen nicht die gleichen Bezugspunkte wie wir, daher die eigenartige Orientierung. Und ich habe da noch etwas von einem Vorhang oder einer Sperre gehört. Aber eines steht außer Zweifel: in der Umgebung dieses Schnittpunktes gibt es ein junges Sternenreich. Und in ihrer eigenen verstohlenen Art sind die Burschen ziemlich aggressiv.« »Laß den Schirm eingeschaltet«, sagte Sanathor. »Hast du irgendwelche Beweise?« Meinora schüttelte den Kopf. »Die unbestätigte Aussage eines galaktischen Juniorbürgers«, gab er zu. »Ich habe natürlich eine gute Story.« »Ich bin froh, daß du nicht irgendein Fremder bist. Das spart uns eine Menge Zeit für Nachprüfungen. Dann fang mal an.« Meinora trat ein paar Schritte zurück und setzte sich. »Huilon ist eigentlich keine primitive Welt«, begann er. »Sie ist natürlich nicht so weit fortgeschritten wie die meisten Föderationswelten. So sind sie zum Beispiel noch nicht mit dem Materiekonverter vertraut. Die arbeiten immer noch mit chemischer Synthese und wollen auch dabei bleiben. Sie haben auch eine reine Kostenwirtschaft, und die Telepathie – sowohl
die natürliche als auch die künstliche – ist unbekannt.« Er rieb sich übers Kinn. »Genaugenommen bezweifle ich sogar, daß sie auf absehbare Zeit Interesse für Telepathie entwickeln werden. Irgendein Trauma, das die ganze Spezies betrifft.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe darüber einige Daten gesammelt und werde eines Tages vielleicht eine Synthese herstellen«, fügte er dann hinzu. »Aber das hat jetzt nichts zu sagen. Natürlich haben sie den interstellaren Flug entwickelt. Ihre Raumschiffe haben vor ziemlich langer Zeit Kontakt mit einer Föderationspatrouille aufgenommen. Sie haben unser System angesehen und dann entschieden, daß sie es vorziehen, noch eine Zeitlang ihre eigenen Probleme selbst zu lösen.« Sanathor hob die Brauen und nickte dann zustimmend. »Die wollen uns wahrscheinlich eines Tages auf gleicher Ebene entgegentreten, nehme ich an«, bemerkte er. »Nicht dumm. Einige der anderen jungen Kulturen sollten das versuchen.« »Stimmt schon«, nickte Meinora. »Huilon hatte eine absolut unabhängige Kultur, und die war gut.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich sagte dir schon, daß ich einmal dort gewesen bin. Ich fand die Leute nett und freundlich. Wie gesagt, ich habe mich gut amüsiert. Huilon ist ein schöner Planet, und seine Bewohner sind sympathisch.« Er schüttelte den Kopf. »Aber vor einem halben Zyklus war ich wieder dort. Sie haben sich verändert. Über dem ganzen Planeten lastet eine Aura des Argwohns. Ich bin auf einem ihrer bedeutendsten Raumhäfen gelandet. Sie ließen mich landen und haben mich dann sofort interviewt. Der Mann gab mir den Rat, mich nicht als Galaktiker zu erkennen zu geben. Er sagte, sie hätten zwar nichts gegen Bürger der Föderation, aber schließlich seien sie eine unabhängige Welt. Und sie hätten ihre eigene Kultur, die ihnen gefiele und die sie unverändert bewahren wollten.« Sein
Gesicht verzog sich, als er sich die Unterhaltung vergegenwärtigte. »Ich habe schon gesagt, daß sie nicht telepathisch sind, oder? Aber du solltest einmal sehen, welchen Ausdruck sie ihrer Stimme verleihen können.« Sanathor nickte. »Der Sperrtyp, nehme ich an?« »Ja, in der Wirkung schon«, nickte Meinora. »Die haben praktisch einen geschlossenen Kreis. Man empfindet das wie einen dicken Schleier.« Er hob beide Hände, die Handflächen nach vorn und die Finger ausgestreckt. »Sie können selbst nicht senden, aber suggestive Eindrücke können sie aufnehmen – wenn das Mentalfeld stark genug ist.« »Dann kann man sie beeinflussen?« »Stimmt. Und genau das passiert auch.« Meinora nickte heftig. »Jedenfalls«, fuhr er fort, »habe ich mich eine Weile dort herumgetrieben und mich mit der Sprache besser vertraut gemacht. Ich hab auch ein paar Credits in die Landeswährung umgetauscht und mich informiert, ob es zweckmäßig sei, eine andere Identität anzunehmen. Aber ich habe festgestellt, daß ich unter meinem eigenen Namen auftreten konnte. In einem huilonischen Distrikt gibt es ihn sogar.« Er blickte zur Seite. »So weit brauchte ich gar nicht zu gehen«, gab er zu, »aber ganz offen gesagt, ich war neugierig. Zuerst sah ich mich in der Stadt um.« Er schüttelte den Kopf. »Das war nichts. Von den Leuten im Hotel war nichts zu erfahren. Die unterhielten sich nur schriftlich mit mir – und ganz geschäftsmäßig. Nicht gerade die kalte Schulter, weißt du, aber man wurde einfach als Außenseiter behandelt. So nach dem Motto: Ihr Geld nehmen wir schon, aber eigentlich kennen wir Ihren Großvater gar nicht. Ich sah mich also um und fand ein paar Ausnahmen von dieser Regel. Es gab Leute, die höflich zu mir waren. Aber selbst die waren vorsichtig. Ein Kult hatte sich entwickelt.
Unter sich schienen seine Anhänger ganz normal, aber gegenüber Nichtmitgliedern waren sie sehr argwöhnisch und achteten darauf, möglichst wenig mit anderen zu tun zu haben. Und Nichtmitglieder wußten nicht, wem sie vertrauen konnten.« Er lachte. »Also beschloß ich, die Stadt zu verlassen. Ich kaufte mir einen Wagen und fing an zu reisen. Schließlich hatte ich ja vorgehabt, etwas zu arbeiten, Material für eine neue Arbeit zusammenzutragen. Und das wollte ich jetzt auch tun. Ich fand ein wunderschönes Fleckchen in den Bergen. Ich mietete mir eine Hütte, baute meinen Rekorder auf und fing an zu arbeiten.« Er legte den Kopf etwas zur Seite. »So betrachtet, muß ich zugeben, daß die Reise erfolgreich war. Ich kümmerte mich nicht weiter um die Menschen und wanderte ganz allein und einsam in den Bergen herum. Sie sind wirklich herrlich.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich war da eine Spur der gleichen abweisenden Haltung, die ich in der Stadt bemerkt hatte, aber wie gesagt, ich kümmerte mich nicht darum, und ich kam mit meiner Arbeit auch gut voran – eine Weile wenigstens.« Er hielt inne. »Hör zu, San. Von diesem Punkt an kann ich dir praktisch eine Dokumentation vorlegen. Sie besteht aus Sequenzen, die ich auf dem Rückweg aufgezeichnet habe.« Er deutete auf seinen Aktenkoffer. »Ist es dir recht, wenn ich sie dir vorspiele, anstatt eine Vorlesung zu halten?« »Aber sicher«, nickte Sanathor. »Bau deinen Kasten auf. Ich werde mich inzwischen mit der Forschungsabteilung in Verbindung setzen und sehen, ob ich ein tragbares Wiedergabegerät bekommen kann.« Dann strich er sich über den Kopf, legte einen Schalter an seinem Schreibtisch um, drückte ein paar Knöpfe und wartete.
Ein Gesicht überlagerte das Bild der Sterne von Sektor vierzehn. »Forschungsabteilung. Kellar.« »Sanathor, philosophische Abteilung. Ich habe einen Punkt am Sektorenrand. Wollen Sie die Koordinaten?« Das Gesicht auf dem Stereoschirm bewegte sich etwas, hielt dann inne. »Nicht nötig, ich kann sie duplizieren. Was gibt’s?« »Ich habe einen Bericht über Aktivitäten am Schnittpunkt. Sind von Ihren Leuten jemals welche dort draußen gewesen?« Kellar zögerte. »Moment mal. Ich muß nachsehen.« Sein Gesicht verschwand vom Stereoschirm. Sanathor lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte gelangweilt auf die Kugel. Das Bild wurde jetzt etwas verschwommen, dann aber wieder scharf. Schwache Linien gingen vom Sektor-Hauptquartier aus, und einige Sterne wurden heller. Dann wurde das Bild von einer zweiten Sternkarte überlagert. Sanathor wandte sich ab. Eigenartig, dachte er, daß man nichts von einer aktiven Zivilisation in diesem großen leeren Raum gehört hatte. Irgend etwas Eigenartiges mußte dort vorgehen. Er musterte Meinora eine Weile und schüttelte dann den Kopf. Nein, das konnte es nicht sein. Meinora war zwar schon immer für seine Ungeduld und seinen Abscheu gegenüber orthodoxen Methoden bekannt, ebenso aber für seine Genauigkeit. Sanathor konnte sich an einige Fälle erinnern, wo man Meinoras schnelle Analysen in Zweifel gezogen hatte – was die Zweifler aber nachher jedesmal bereut hatten. Meinora hatte sich einen beachtlichen Ruf erworben, weil er in einigen äußerst komplizierten Unternehmungen hervorragende Resultate erzielt hatte.
Sanathor blickte über seinen Schreibtisch. Meinora hatte inzwischen sein Wiedergabegerät aufgebaut und legte gerade eine Bandkassette ein. Das Intercom summte leise, und Sanathor blickte auf die Kugel. Das Gesicht des Forschungsoffiziers überlagerte jetzt wieder die Sternbilder. »Wollen Sie es mir schwermachen?« »Warum?« »Sie haben da sehr eigenartige Koordinaten. Habe sie zuerst gar nicht erkannt. Aber Sie haben da einen Dunkelnebel, einen ziemlich großen, und Ihr Vektorenschnittpunkt liegt genau in der Mitte. Wir waren schon in der Gegend und haben Warnbojen zurückgelassen, aber soweit uns bekannt ist, war noch niemand so verrückt, daß er versucht hätte, durchzufliegen. Es gibt dort unzählige sich gegenseitig überlagernde Felder von Dunkelstellen.« »Aber könnte man den Nebel durchdringen? Und besteht die Möglichkeit, daß es innerhalb des Nebels etwas gibt?« Sanathor runzelte die Stirn und warf Meinora einen Blick zu. »Ich habe einen Bericht vorliegen, wonach dort irgend etwas los sein soll.« Eine von Kellars Händen tauchte kurz auf. »Oh, natürlich. Es gibt da viele Möglichkeiten. Im Weltraum ist nichts unmöglich. Und wir haben in dieser Gegend auch noch keine gründliche Forschung betrieben. Bloß Karten angefertigt. Wir wissen, daß von diesen Dunkelsternen Schwerkraftfelder ausgehen. Und diese Felder sind so stark, daß sie das Licht in geschlossene Bahnen zwingen. Deshalb sind die Dunkelsterne ja dunkel.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich könnte es Neutralitätszonen geben. Aber die verlaufen bestimmt nicht geradlinig. Und Sie würden in Gegenden kommen, wo die Grenzgeschwindigkeit höchstens einen Kilometer pro Stunde ausmacht, denke ich. Aber ich
würde nicht sagen, daß es unmöglich ist, durchzukommen, oder daß es innerhalb des Nebels nichts geben kann. Warum?« Sanathor zuckte die Achseln. »Wie gesagt, mir liegt ein Bericht einer vertrauenswürdigen Stelle vor, daß etwas aus dieser Nebelregion gekommen ist. Etwas, das in mein Ressort fällt. Könnte sein, daß ich ein paar meiner Leute eines Tages dorthin schicken muß.« Kellar lächelte schief. »Hören Sie, ich habe zwei Schiffe draußen. Wenn Sie wollen, beauftrage ich sie, sie sollen einmal nachsehen. Wir werden ja sehen, ob wir Neutralstellen finden. Gehört ja schließlich zu unseren Aufgaben. Und für meine Leute ist das eine gute Übung.« »Vielen Dank. Wir sehen uns dann im Klub.« Sanathor schaltete ab und sah Meinora an. Dieser hielt ein Kopfband in der Hand. »Damit ist es bequemer, als wenn du dich an die Bildkugel anschließt«, erklärte er. »Und außerdem ist es wirksamer.« Er sah seine Maschine an. »Ich habe an dem Ding ein paar meiner Ideen verwirklicht. Komplette Aufzeichnung und volle Gefühlsempfindung. Das Ganze läuft fast auf einen Persönlichkeitsaustausch hinaus.« Sanathor musterte das Kopfband zweifelnd. »Bloß ein Band? Ich weiß, daß du Volltelepath bist, aber – « »Ich glaube nicht, daß ich mich mit einschalten muß.« Meinora schüttelte den Kopf. »Ich kann natürlich noch ein Band dazuschalten, wenn du möchtest, daß ich dabei bin.« »Nein. Schließlich ist es deine Sequenz.« Sanathor setzte das Kopfband auf. Dann sah er zu, wie der andere die Maschine anschaltete und letzte Einstellungen daran vornahm. Plötzlich war er nicht mehr Boreel Sanathor. Er war Klion Meinora…
Der Türgong schlug musikalisch an, und er blickte von seinem Rekorder auf. Er sah zur Tür, dann streckte er sich, stand auf und wollte gerade durchs Zimmer gehen. Auf halbem Weg zur Tür hielt er inne, wandte sich um, sah den Rekorder an und ging zurück, um eine Staubhülle darüberzulegen. Wieder ertönte der Gong. Er zuckte die Achseln und ging durchs Zimmer. Zwei Männer standen auf den Stufen. Meinora sah sie fragend an. »Guten Abend.« Einer der Männer streckte ihm die Hand hin. »Wie geht es Ihnen, Mr. Meinora? Ich bin Berater Dudarik.« Er legte den Kopf zur Seite. »Und das ist Freund Leuris. Wir sind von der Brüderschaft.« Er streckte beide Hände in einer Geste friedlichen Bittens aus. Komm, schien seine ganze Haltung zu sagen. Schließ dich uns an! »Wir dachten, daß wir Sie besuchen sollten, um Sie in unserem Dorf willkommen zu heißen.« Meinora machte große Augen. »Die Brüderschaft?« »Ja. Die Brüderschaft des Lichts.« Dudarik blickte an Meinora vorbei ins Zimmer. »Wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten, wenn wir dürfen.« Laß uns ein. Wir sind die, denen du vertrauen kannst und denen du folgen sollst! Eine Aura freundlichen Interesses umgab Meinora. Einen Augenblick nahm der Mann vor ihm geradezu väterliche Züge an. Er erschien ihm wie ein alter vertrauter Ratgeber und Gefährte. Und Meinora spürte einen mächtigen Zwang, der ihm auferlegte, das zu glauben, was der Mann sagte, seinen Anweisungen zu folgen. Unwillkürlich trat er zurück. »Treten Sie ein«, sagte er.
Als die beiden Männer das Zimmer betraten, verstärkte sich der Eindruck guten Willens und väterlichen Interesses. Dudarik sah sich billigend in dem Zimmer um. »Nett haben Sie es hier«, lobte er. Meinora lächelte. »Danke. Ich habe es mir so eingerichtet, wie es mir gefiel.« Inzwischen hatte er sich von dem betäubenden Effekt ihrer geistigen Kraft erholt. Er war jetzt auf der Hut und musterte Dudarik prüfend. Dann deutete er auf zwei Sessel. »Nehmen Sie doch Platz«, lud er ein. Dudarik wählte sich einen Sessel aus und warf Leuris einen schnellen Blick zu. Dieser setzte sich ebenfalls und musterte die beiden erwartungsvoll. Gut trainiert, sagte Meinora zu sich selbst. Für den Augenblick interessierte Leuris ihn nicht. Dudarik sah sich immer noch im Zimmer um. »Sie haben ausgezeichneten Geschmack«, sagte er. »Ich sehe, daß Sie den alten Stil diesen sogenannten modernen Möbeln vorziehen. Beabsichtigen Sie, sich hier ständig niederzulassen?« »Nun«, Meinora zögerte, »ich nehme an, daß ich einige Zeit hier sein werde.« Er spreizte die Hände. »Wissen Sie, meine Arbeit erfordert es nicht, daß ich an einem festen Standort bleibe.« »Oh?« Dudarik sah ihn interessiert an. »Da sind Sie aber sehr gut dran. Die meisten von uns haben einen festen Arbeitsplatz. In welcher Branche sind Sie denn tätig?« »Ich bin pensionierter Lehrer«, erklärte Meinora. »Im Augenblick betätige ich mich als Schriftsteller.« Er spürte eine Weile beinahe gierigen Interesses, die aber gleich wieder unterdrückt wurde. Dann war da wieder der gute Wille. Vorsichtig schickte er einen tastenden Gedanken aus.
Bedächtig steigerte Meinora die Kraft seiner telepathischen Sonde und überprüfte die Gedanken des Mannes. Dudarik fuhr fort, Konversation zu machen, wobei er immer wieder Komplimente austeilte und dann wieder Fragen stellte. Stück für Stück ließ Meinora ihn Informationen über die Vergangenheit eines Lehrers der Philosophie und der Geschichte zukommen, der schließlich genügend gespart hatte, um von den Zinsen seines Kapitals ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen zu beziehen. Dafür bekam er Informationen über die Glaubensgrundsätze der Brüderschaft des Lichts, eines theologischen Ordens, der sich einem unerschütterlichen Glauben in die hohe Bestimmung Huilons und seiner Leute hingab. Huilon, so predigten sie, war der auserwählte Planet des Universums – der auserwählte Herrscher aller. Aber Dudarik offenbarte mehr als ihm bewußt war. Unter der Oberfläche holte Meinora sich weitere Informationen. Mardon Dudarik, so stellte er beinahe sofort fest, war kein Eingeborener Huilons. Sein Heimatplanet lag in einem weit entfernten Sonnensystem, wo er der jüngere Sohn einer alten Adelsfamilie war. Den Gebräuchen seiner Heimat entsprechend hatte er sein Vaterhaus verlassen, um sich selbst einen Adelssitz aufzubauen. Und da die Adelssitze auf seinem Heimatplaneten nur dem Erstgeborenen vererbt wurden und nie geteilt werden durften, war er weit gereist. In Gemeinschaft mit anderen, jüngeren Angehörigen adeliger Familien war er nach Huilon gekommen, wo er gemeinsam mit seinen Gefährten eine Eroberungskampagne begonnen hatte, wie seine Landsleute sie schon lange auf anderen Planeten durchzuführen pflegten. Sobald die jungen Adeligen ihr Werk auf Huilon vollendet hatten, würden sie die wertvollsten Ländereien des Planeten für sich beanspruchen dürfen. Dann
würden sie ein Bündnis mit der Heimat eingehen und selbst Adelshäuser gründen. Meinora tastete weiter und versuchte, die Lage des Heimatplaneten des Mannes zu ergründen. Einzelne Daten kamen auch. Die Bezugspunkte waren zwar anders als die, mit denen er vertraut war, aber dennoch konnte er sich aus den einzelnen Gedanken, die sein Tasten an die Oberfläche förderte, eine ungefähre Sternkarte vorstellen. Aber die vagen Gedanken, die sich mit dem »Vorhang« oder der »Barriere« befaßten, vermochte er nicht zu entziffern. Ex wandte seine Aufmerksamkeit Leuris zu. Das war ein typischer Huiloner. Er reagierte auf starke Eindrücke, merkte aber nicht, daß sie ihm von außen aufgezwungen wurden. Seine eigenen Gedanken waren verschleiert. Meinora versuchte nicht, diesen Schleier zu durchdringen. Dudarik bemühte sich jetzt voll Eifer, die Glaubensgrundsätze der Bruderschaft zu begründen, wobei er immer wieder Hinweise auf die huilonische Theologie anbrachte. Meinora mußte zugeben, daß die Satzung der Brüderschaft gut fundiert war. Selbst ohne den geistigen Zwang, der von Dudarik ausging, war die Theorie so aufgebaut, daß sie sowohl intellektuell als auch emotionell bei Huilonern ankam, die gewisse Grundvoraussetzungen akzeptierten. Und diese Grundvoraussetzungen hatten ihren Ursprung in der huilonischen Theologie. Dudarik führte die Diskussion über ein Thema zu Ende und blickte dann auf die Uhr. »Wissen Sie, Mr. Meinora«, entschuldigte er sich, »wir hatten nicht vor, Sie so lange aufzuhalten.« Er lächelte. »Wenn man mit einem intelligenten Menschen diskutiert, wissen Sie, fliegt die Zeit schnell dahin. Aber Sie sind bestimmt müde.« Er stand auf. Und Leuris schloß sich ihm sofort an. Dudarik ging
zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. Er griff in die Tasche und holte eine Broschüre hervor. »Wir möchten Ihnen das hier gern dalassen«, erklärte er. »Es enthält eine Erklärung der Ziele und Glaubensgrundsätze der Bruderschaft. Vielleicht möchten Sie es lesen.« Die geistige Kraft verstärkte sich, als er ihm das Heft hinhielt. »Wir möchten gern wiederkommen und mit Ihnen sprechen, wenn wir dürfen. Vielleicht in etwa zehn Tagen?« Meinora nahm die Broschüre entgegen. »Ja«, nickte er. »Die Unterhaltung mit Ihnen ist wirklich sehr interessant.« Er machte eine Handbewegung, die sein ganzes Zimmer einschloß. »Ich bin abends meist hier. Sie treffen mich also fast an allen Tagen zu Hause an.« Er begleitete seine Besucher zur Tür.
Er blickte auf. Jemand auf der anderen Seite des Schreibtisches spulte gerade eine Kassette in einem Parapsi-Rekorder zurück. Er blinzelte. Der Mann sah aus – nein, war – Meinora. Aber wer war dann er? Er hatte… Und dann fand Sanathor in sein eigenes Bewußtsein zurück. Er richtete sich auf und lachte. »Das ist das erste Mal, daß mir so etwas passiert«, sagte er. »Dein Apparat kann einen ganz schön durcheinander bringen.« Meinora drehte sich um und lächelte. »Normalerweise käme das nicht vor. Es ist ein Anpassungsimpuls vorgesehen, damit man langsam wieder zu sich selbst zurückfindet. Bei dir habe ich die Aufzeichnung einfach abgeschaltet. Jetzt sind wir quitt für den Trick draußen im Gang.« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. Das war eine echte Reportage. »Was hältst du von der Lage?« Sanathor runzelte die Stirn. »Sieht übel aus«, sagte er ruhig.
»Recht übel sogar. Ich werde sofort ein Team ansetzen müssen.« Er hielt inne. »Hast du den zweiten Besuch, den dir diese Burschen angekündigt haben, noch abgewartet?« Meinora nickte. »O ja. Ich wollte keinen Verdacht erwecken. Ich habe denen meistens recht gegeben und ihre Fragen so beantwortet, wie es aus der Broschüre hervorging. Ich habe ihnen gesagt, ich sei sehr interessiert, und habe diesem Dudarik sein freundliches Interesse zurückgegeben – mit Zinsen. Und dann habe ich ihnen eine Geschichte erzählt, daß ich mit meinem Einkommen irgendwelche Schwierigkeiten hätte. Sie gaben sich sehr verständnisvoll. Deshalb sagte ich ihnen, ich müßte eine Weile nach Hause zurück, würde aber wiederkommen, sobald ich alles eingerenkt hätte.« Er lächelte. »Und genau das habe ich vor. Ich habe die ganze Predigt, die sie mir diesen Abend verpaßt haben, über mich ergehen lassen, habe sie zur Tür hinauskomplimentiert und zu packen angefangen.« Er klappte den Deckel seines Rekorders zu. »Und da bin ich jetzt. Zu Hause. Und sobald ich sie Sache eingerenkt habe, gehe ich zurück, wie ich es ihnen versprochen habe.« Sanathor strich sich übers Kinn und blickte dann auf seinen Schreibtisch. Nach einiger Zeit schaute er wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß wir das zulassen können«, sagte er. Meinora sah ihn ungläubig an. »Augenblick mal«, sagte er leicht gereizt. »Mit mir kannst du das nicht machen. Ich stecke bis über beide Ohren in dieser Sache. Und ich will bis zum Ende mit von der Partie sein.« Sanathor schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Geht nicht. Vorschriften, du weißt ja.« »Jetzt hör mal zu, ich – « »Nein, das ist mein Ernst.« Sanathor streckte den Finger aus. »Du bist ein privater Bürger eines der Systeme der Föderation.
Das weißt du ja. Natürlich ist mir bekannt, daß du einmal beim Corps warst, aber das hat mit diesem Fall hier nichts zu tun. Im Augenblick hast du keinen amtlichen Status.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast einen ausgezeichneten Bericht über eine recht unangenehme Situation gegeben, und wir sind dir dafür dankbar. Aber du weißt ja, welche Haltung das Corps gegenüber systemgebundenen Juniorbürgern einnimmt, die sich in dienstliche Angelegenheiten einmischen.« Er spreizte die Hände. »Das geht einfach nicht. Du mußt dich von Huilon fernhalten, bis wir diese verkorkste Geschichte wieder zurechtgebogen haben.« Meinora runzelte die Stirn. »Aber es muß doch irgendeine Möglichkeit geben. Ich weiß, daß es Bürger gibt, die – « »Nur in sehr speziellen Fällen. Und das ist kein solcher. Zunächst waren das ganz besonders schwierige Fälle, in denen hochentwickelte Spezialfähigkeiten und besondere Erfahrung benötigt wurden. Einige der Maßnahmen, die wir ergreifen mußten, waren, gelinde ausgedrückt, drastisch. Und die betreffenden Bürger sind vom Corps ausdrücklich um ihre Hilfe gebeten worden. Außerdem waren das galaktische Vollbürger. Und diesen Status nimmst du ja noch nicht ein.« Meinora schnitt eine Grimasse. »Das weiß ich«, fuhr er den anderen an. »Und ich weiß auch, daß ich noch viele Perioden lang die Vollbürgerschaft nicht beantragen kann. Aber wie du weißt, verfüge ich über gewisse spezielle Fähigkeiten. Und trotz meines Status bin ich auch kein gewöhnlicher planetgebundener Bürger. Ich möchte wetten, daß mein Antrag gebilligt würde, wenn du nicht zu faul wärst, einmal in deinen Vorschriften etwas herumzublättern.« Sanathor zog eine Schulter hoch und neigte den Kopf. »In gewisser Weise hast du recht. Es gibt eine Möglichkeit, dich in diese Sache einzuschalten. Und du kannst auch bis zum Ende dabeibleiben.«
Meinora blickte auf. »Nun, was soll dann der ganze Quatsch? Fangen wir an.« »Heb die rechte Hand.« »Was?« »Tu, was ich gesagt habe. Heb die Hand hoch. Als Abteilungsleiter kann ich dich wieder auf das Corps vereidigen. Und entsprechend deinem ehemaligen Rang kann ich dir ein größeres Team anbieten und dir diese Operation anvertrauen. Es handelt sich natürlich nur um einen provisorischen Posten, aber ich bin ziemlich sicher, daß man, wenn das alles vorbei ist, dir eine Dauerposition als Teamleiter geben wird.« »Aber ich habe nicht vor, wieder zum Corps zu gehen. Und was wird aus meinem Lehrauftrag an der Universität?« »Den kannst du vergessen.« Sanathor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da hast du dich doch selbst schon verdrückt. Das hast du mir jedenfalls erzählt. Und ich kenne dich doch. Du denkst ja gar nicht daran, dorthin zurückzugehen. Schau dir doch die Beweise an, dann mußt du mir rechtgeben.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Du bist es doch leid geworden, ziellos herumzuvagabundieren und zu warten, bis irgendein Student mit dir Verbindung aufnahm. Also hast du dir ganz automatisch einen Krisenpunkt ausgesucht. Nicht nur das, sondern du hast dich ganz instinktiv wie ein ausgebildeter Erkundungsagent verhalten – und das bist du ja schließlich – als du Wind davon bekamst, daß etwas nicht richtig lief.« Er legte beide Hände auf den Tisch und starrte seinen Freund an. »Du bist einer von uns, Klion, ob es dir jetzt gefällt oder nicht. Und das wirst du auch immer sein. Du hast dich nicht ganz wohlgefühlt, seit du das Corps verlassen hast. Das hast du
mir bewiesen. Warum gestehst du es dir denn selbst nicht ein? Komm her. Heb die Hand.« Er stand auf und ging zu einem kleinen Kleiderschrank und holte seinen Uniformrock heraus. Meinora seufzte. »Ja, klar. Wahrscheinlich hast du recht. Ich wollte es bloß nicht zugeben. Los, ruf deinen Schreiber.« Er blickte auf seine rechte Hand und hob sie dann langsam.
Mardon Dudarik lehnte sich im Sitz seines Wagens zurück und sah sich zufrieden in der Gegend um. Sie rollten gerade auf einem mit Wald bestandenem Tal vorbei, und er nickte zufrieden. Der ideale Platz für eine Jagdhütte, dachte er. Die Straße wurde jetzt steiler. Er sah zu dem Mann am Steuer hinüber. Leuris war ein brauchbarer Mann. Später würde man ihn als Aufseher einsetzen können. Dudarik blickte auf seinen eigenen bescheidenen Anzug herab und sprach den anderen dann an. »Was hältst du von diesem Meinora?« Leuris blickte kurz von der Straße auf. »Ein sehr belesener Mann«, meinte er. »Ich glaube, er würde einen ausgezeichneten Ordensbruder abgeben.« Eine Spur von Sehnsucht klang in seiner Stimme mit. »Nein«, wehrte Dudarik ab. »Ich glaube, er ist besser als Freund der Bruderschaft geeignet. Ich glaube, daß er ebenso wie du ein Talent dafür hat, das Wort der Bruderschaft zu verbreiten.« Er sah die Alleebäume an. »Ich glaube, Freund Leuris«, fügte er hinzu, »daß wir dir wichtigere Arbeiten anvertrauen können als die, die du in letzter Zeit getan hast. Ich glaube, du könntest dich mit Freund Kedrin zusammentun, und ihr beide könntet in den Außendienst gehen.«
Leuris sah ihn überrascht an. »Du meinst, wir könnten unabhängig arbeiten?« Dudarik nickte und sah den anderen prüfend an. »Ich glaube schon«, sagte er. »Wie mir scheint, hast du unsere Lehre in beispielhafter Weise in dich aufgenommen. Dein Wissen um die Prinzipien der Bruderschaft muß als hervorragend bezeichnet werden.« Wieder musterte er seinen Assistenten kritisch. »Wir werden die Angelegenheit weiter untersuchen und dir morgen in deinem Heim eine volle Instruktion zuteil werden lassen. Du kannst Freund Kedrin einladen, sich uns dort anzuschließen. Gleich nach Mittag.« Er wandte sich wieder der Betrachtung der Landschaft zu. Er freute sich schon auf die Zeit, wo die Einführungsphase hier auf Huilon abgeschlossen sein würde. Dann würde er sich etwas entspannen können, die ziemlich schwierige Rolle, die er hier zu spielen hatte, aufgeben können. Er würde seinen eigentlichen Platz einnehmen können und damit beginnen, sein Adelshaus aufzubauen. Er lächelte. Als Angehöriger der Familie Quinbar und mit Ausnahme des Prinzen das einzige Mitglied dieser Expedition, in dessen Adern kaiserliches Blut floß, stand ihm bei der Landverteilung die zweite Wahl zu. Und der Prinz hatte seine Wahl bereits getroffen. Dudarik schüttelte unwillkürlich den Kopf, als er an das Land dachte, das der Prinz sich ausgewählt hatte. Er hätte sich bestimmt diese Industriegegend nicht genommen. Aber der Prinz mußte natürlich den Weisungen seines Vaters folgen. Er würde selbstverständlich Kaiser werden, wenn der Planet schließlich gesichert war. Und der Kaiser hatte gewisse Pflichten wahrzunehmen. Dudarik zuckte die Achseln. Er konnte sich da viel freier bewegen. Es würde natürlich noch einige Jahre dauern, aber schließlich würden sie die Schiffe von Jorik kommen lassen. Und in ihnen würden die jungen Adeligen kommen, die von den Pionieren,
die den Planeten kolonisiert hatten, ihre Lehen nehmen würden. Die »Brüder« würden dann wieder ihre normale Rolle spielen und damit beginnen, aus dem Planeten ein zweites Jorik zu machen. Viele der Geräte und Vorrichtungen, die hier im täglichen Gebrauch waren, kannte man auf Jorik nicht, aber man würde sie auf dem Heimatplaneten gebrauchen können. Die Aussichten für den Handel waren ausgezeichnet. Wieder warf er Leuris einen Seitenblick zu und lächelte. Der Mann schien geradezu erpicht darauf zu sein, Ordensbruder zu werden. Dudarik fragte sich, wie er wohl reagieren würde, sobald er einmal erkannt hatte, was das bedeutete. Und das würde er erkennen. Der Jorikaner lächelte erneut. Eines Tages würde Leuris und viele andere in die Geheimnisse der »Bruderschaft des Lichts« eingeweiht werden, und damit würde sein Wunsch sich erfüllen. Vielleicht war er dann nicht mehr so eifrig, aber er würde »Bruder« werden. Aber lange vor dieser Zeit würde Huilon völlig reorganisiert sein. Der Planet würde dann eine Kolonie Joriks sein, und nur die königliche Familie würde dann über technisches Wissen und Produktionsanlagen verfügen. Und die nächste Generation würde sich darauf vorbereiten, zu einem weiteren Planeten zu ziehen, um dort ihre eigene Kolonie zu gründen. Vielleicht würde Leuris dann auserwählt werden, irgendeinen anderen Berater als Assistent zu begleiten – sofern es gelang, ihm die nötigen geistigen Techniken beizubringen. Dudarik furchte die Stirn. Eigenartig, dachte er, daß die Eingeborenen dieses Planeten es fertiggebracht hatten, eine so hohe Zivilisation aufzubauen, ohne daß eine Adelsklasse sie dabei geleitet hatte. Er war bis jetzt noch niemandem begegnet, der nennenswerten geistigen Einfluß ausüben konnte. Nicht einmal gegenüber einem anderen Eingeborenen.
Und doch war der Planet hoch entwickelt. Sie hatten sogar eine eigene Version des Alerom-Antriebs entwickelt und besaßen daher Schiffe des Alls. Schiffe, das mußte er zugeben, die jenen des Kaisers von Jorik überlegen waren. Wenn das auch an Sakrileg grenzte. Und was noch schlimmer war, sie hatten eine ganze Anzahl Geräte und Werkzeuge, wie noch kein Jorikaner sie je gesehen hatte. Verächtlich zuckte er die Achseln. Trotz ihres Wissensstandes war es ein Planet der Sklaven. Und nicht einmal das – einige seiner eigenen Sklaven hatten wesentlich ausgeprägtere Suggestionskräfte als die Leute hier. Und ihre Technologie schien nur dem Komfort und dem bequemen Leben zu dienen. Offenbar hatten sie nie daran gedacht, auszuziehen und anderen ihren Willen aufzuzwingen. Er sah sich in dem luxuriösen Wagen um. Ja, sie waren ein verweichlichtes Volk und lebten ein verweichlichtes Leben. Aber das machte ihm seine Aufgabe nur leichter. Das bedeutete, daß er und seine Gefährten – und sogar einige vertraute Gemeine in seiner Mannschaft – überhaupt keine Mühe gehabt hatten, die Saat des Mißtrauens und der Unentschlossenheit zu legen. Und verweichlichte Leute, die an ein verweichlichtes Leben gewöhnt sind, ließen sich leicht beherrschen. Und dann würden sie sich daran gewöhnen, ein nicht mehr ganz so verweichlichtes Leben zu führen. Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie wenig Mühe es gekostet hatte, den ganzen Planeten einer Suggestivbehandlung zu unterziehen. Es hatte keinen Widerstand gegeben. Jeder von ihnen hatte bloß kurze Zeit in einer Siedlung bleiben und seine Botschaft aussenden müssen: Vertraue keinem, wenn er nicht ein Berater oder ein Freund des Lichts ist. Ihnen aber mußt du in völligem Vertrauen und Gehorsam folgen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß alle die Botschaft gehört und aufgenommen hatten, konnte er weiterziehen. Und das Gefühl dauerte an – war sogar gewachsen. Bald galt es auf ganz Huilon als selbstverständliches Prinzip, daß man selbst enge Freunde argwöhnisch beobachten, sich vor Fremden sogar hüten mußte. Es sei denn, daß sie als Abgesandte oder Freunde des Lichts kamen. Dudarik zuckte die Achseln. Er sah wieder Leuris an. Wenn die Zeit gekommen war, konnten Männer wie er vielleicht bei der Kolonisierung eingesetzt werden. Ebenso wie die Sklaven von Jorik. Sie konnten Diener werden – Brüder der Fackel. Der Wagen bog um eine scharfe Kurve und kam vor den Toren eines großen Gebäudes aus Stein und Holz zum Stillstand. Ein Bruder der Fackel kam gelaufen, um die Tür zu öffnen, und Dudarik wandte sich dem Besitzer des Wagens zu. »Wir sind dir dankbar, Freund Leuris«, sagte er. »Wenn es dich und die anderen Freunde der Brüderschaft nicht gäbe, die uns so bereitwillig ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit widmen, hätten wir demütigen Arbeiter es wirklich schwer.« Er verließ den Wagen und ging auf den Eingang des Gebäudes zu. Der Bruder der Fackel folgte ihm in respektvollem Abstand. Es wäre schön, jetzt in sein bequemes Appartement zu gehen, dachte er. Dort könnte er sich umziehen, die Maske für eine Weile ablegen und sich entspannen. Im Innern des Hauses kam der Diener auf ihn zu, und er musterte den Mann mißtrauisch. »Ich erkenne dich nicht, Bursche«, sagte er. »Wessen Gefolgsmann – «
Der Mann lächelte kühl und richtete einen kleinen Gegenstand auf ihn. Einen Augenblick verspürte Dudarik in jedem Nerv Agonie. Und dann wurde seine Welt ein schwarzer Traum.
Er erwachte in einem kleinen kahlen Zimmer. Ein paar Augenblicke lag er da und blickte zur glatten Decke hinauf. Dann sprang er von der niedrigen Pritsche und sah sich um. Aber da war nichts. Nichts außer der Pritsche mit der Matratze und einer Decke, die nackten Wände und die kahle Decke. Nicht einmal sanitäre Einrichtungen gab es. Nichts, worauf man sitzen konnte, bloß die Pritsche. Nicht einmal Beleuchtungskörper. Von den Wänden schien ein weiches, beruhigendes Licht auszugehen, das keine Schatten warf. Und es gab keine Tür. Dudarik ging von der einen Seite des Zimmers zur anderen und blieb dann in der Mitte stehen. Was war geschehen? Er erinnerte sich an das Lächeln des fremden Dieners. Und er erinnerte sich auch an den Augenblick unerträglicher Pein. Und sonst war da nichts. Nichts, außer einer vagen Erinnerung an Angst. Die Angst kehrte wieder, wurde zum Schrecken. Wo war er? Was würde geschehen? Was war schon alles geschehen? Eine der Wände schob sich beiseite, und ein Mann in enganliegender schwarzer Kleidung sah ihn an. Er winkte ihm. »Mitkommen«, befahl er. Dudarik mühte sich, seine Angst zu unterdrücken. Er blieb, wo er war. »Wer bist du?« fragte er ärgerlich. »Wo bin ich? Was – « Der Mann unterbrach ihn. »Das werden Sie gleich erfahren. Kommen Sie mit. Der Chef will Sie sehen.«
»Ich weigere mich, auch nur einen Schritt zu tun«, herrschte Dudarik ihn an, »bis man mir alles erklärt hat. Ein Adeliger von Jorik läßt sich nicht so behandeln.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie werden kommen«, prophezeite er. »Wollen Sie gehen, oder soll ich dafür sorgen?« Er zog einen Gegenstand aus dem Gürtel. Dudarik schauderte. Die formlosen Schrecken seines finsteren Traums drohten wiederzukehren, und er musterte den Gegenstand verängstigt. Zögernd trat er vor. »Ich werde gehen«, erklärte er. Der Mann trat beiseite. »Geradeaus«, befahl er. »Ich sage Ihnen, wo Sie abbiegen müssen.« Sie gingen über einen Korridor, bogen ab und traten in einen Schacht. Dudarik spürte, wie etwas ihn in die Höhe hob. Auf Befehl seines Begleiters trat er aus dem Schacht und ging durch eine weite Halle. Schließlich mußte er ein Büro betreten. Als die Wand hinter ihm wieder zuging, blieb er stehen und starrte den Mann hinter dem Schreibtisch an. Außer dem Schreibtisch gab es kein Möbelstück in dem völlig leeren Zimmer. »Meinora! Aber – « »Stimmt schon«, sagte der andere. »Teamleiter Klion Meinora, Philosophisches Corps. Ich habe Ihnen gesagt’, daß ich ein Lehrer der Philosophie wäre. Das bin ich auch. Sie befanden sich nur im Irrtum hinsichtlich meiner Methoden und meiner Schüler.« Meinora lächelte. »Wissen Sie, wir belügen Primitive nämlich nie. Das widerspricht unseren Vorschriften.« Dudarik spürte, wie Wut in ihm aufwallte. »Primitive!« brauste er auf. »Ich will Ihnen bloß sagen, daß ich – « Meinora machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut«, sagte er. »Ich habe Sie nicht festnehmen und hierherbringen lassen, bloß um mir das Vergnügen zu gönnen,
mit Ihnen zu streiten. Man hat Sie hierhergebracht, weil wir Informationen haben wollen, die Sie besitzen.« Er drückte auf den Tisch, und eine große durchsichtige Kugel hob sich aus dem Boden. »Zunächst wollen wir den Namen Ihres Heimatplaneten wissen. Wir brauchen seine genaue Lage und Navigationsdaten, damit wir ihn erreichen können.« Die Kugel verdunkelte sich und wurde zu einer Sternkarte. »Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen solche Informationen geben würde?« zischte Dudarik. Meinora sah ihn gleichgültig an. »Natürlich. Ich weiß, daß Sie es tun werden.« Er nahm ein dünnes Kopfband vom Tisch und legte es an. »Gedankenverstärker«, erklärte er. »Vielleicht nicht notwendig, aber das macht es bequemer – für mich.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, ohne den Gefangenen aus den Augen zu lassen. Dudarik spürte, wie ihn irgend etwas zwang, zu der Bildkugel zu gehen. Ein paar Sekunden versuchte er, gegen den unerträglichen Druck anzukämpfen. Dann brach sein Widerstand zusammen. Er fühlte sich krank und benommen, aber die Information, die man von ihm verlangt hatte, hatte er ganz deutlich vor Augen. Er musterte die Bildkugel. Sie war ihm nicht vertraut, aber irgendwie begriff er. Zuerst gab er die Ortsangaben langsam, dann mit mehr Sicherheit. Und während er redete, tauchten innerhalb der Kugel Bezugspunkte auf. Linien schossen von Punkt zu Punkt, verschoben sich, wenn er Reiserouten angab. Langsam begriff er die Wirkungsweise dieser Kugel und das hohe Maß an Wissen, das dahinterstehen mußte. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihn, daß er Informationen liefern konnte, die jenen Wesen fehlten. Die Sternkarte verblaßte, eine Weltraumansicht von Huilon ersetzte sie. Dudarik zeigte ihnen
die verschiedenen Zufluchtsorte der jorikanischen »Brüderschaft«. Und dann beschrieb er die jungen Adeligen, einen nach dem anderen, die nach Huilon als »Berater« gekommen waren. Es war eine ziemlich große Zahl, und er begann müde zu werden. Endlich war es vorbei, und er wandte sich von der Kugel ab. Benommen und stumpf ließ er sich in seine Zelle zurückführen. Irgend etwas, das spürte er, war hier geschehen. Etwas, das er getan hatte – etwas Unehrenhaftes. Aber er konnte sich einfach nicht daran erinnern, was es war. Sein Wächter erklärte ihm die Funktion der verschiedenen Geräte seiner Zelle. Es gab, so stellte Dudarik fest, verschiedene Punkte an den Wänden, auf die man drücken konnte, um sich mehr Bequemlichkeit zu verschaffen. »Sie werden ohnehin nicht lange hier bleiben müssen«, sagte man ihm. »Wir landen bald im Sektor-Hauptquartier. Dort wird man Sie zur Behandlung abholen. Dann starten wir wieder.« Der Mann lächelte. »Ihre Sorgen sind vorüber«, fügte er hinzu. »Die unseren fangen erst an. Das wird ein ziemlich umfangreicher Job.«
»Kompliziert, nicht wahr?« Chefpilot Lor Barskor sah sich einen Augenblick um und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder den Steuerorganen des Schiffes zu. Er blickte in die Bildkugel und sah dann auf die Skalen. Plötzlich hielt er den Atem an und betätigte schnell einen Schalter. »Ja, kompliziert«, nickte er. »Chef, wenn ich als Junge je daran gedacht hätte, daß es so etwas geben könnte, hätte ich auf meinen Vater gehört. Er wollte, daß ich Oboe blasen lerne.«
Eine Nadel zuckte, und Barskor legte ein paar Schalter um und drehte dann an einem Knopf. Das Schiff erzitterte, und Meinora klammerte sich an einer der Haltestangen fest. »Ich muß träumen«, brummte der Pilot. »Das passiert in Wirklichkeit gar nicht. Nicht mir!« Delman kam in die Steuerkanzel geschlendert, wobei er sorgfältig darauf bedacht war, stets in Griffweite einer der Haltestangen zu bleiben. »He, Barskor«, sagte er. »Soll ich dich ablösen?« »Hält dich fest.« Barskor nahm eine weitere Kurskorrektur vor, und Meinora und Delman klammerten sich an die Haltegriffe. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen, und die beiden sahen einander dumm an. »Ha!« machte Barskor. »Das erste Mal in dieser Schicht, daß ich eine vernünftige Feldkorrektur geschafft habe.« Er sah sich zu Delman um. »Nimm die andere Konsole und häng dich mir an«, befahl er. »Ich kann erst aufstehen, wenn du ganz übernommen hast. Wenn ich jetzt loslasse, wäre bestimmt die Hölle los.« »Welche Geschwindigkeit haben wir denn jetzt?« »Was für eine Geschwindigkeit? Und bezogen auf was?« Delman setzte sich und machte eine unsichere Handbewegung. »Du meinst, es ist so schlimm?« Er blickte auf die Skalen und schüttelte dann den Kopf. »Jetzt begreife ich. Ich dachte an die absolute Geschwindigkeit, bezogen auf den galaktischen Nullpunkt.« »Als ob das jetzt interessant wäre«, meinte Barskor und blickte auf seine Skalen. »Selbst wenn wir es bestimmen könnten.« Ängstlich blickte er auf die Bildkugel. Es gab kleine Lichtflecken, aber der größte Teil der Kugel war von einer nebelhaften Schwärze erfüllt, in der nur ein paar vage Andeutungen von Licht zu erkennen waren. Eine ausgefranste rote Linie verlief durch den Nebel und hörte an
der fernliegenden Seite der Kugel auf. Ungefähr parallel dazu gab es eine blaue Linie, die zu einem kleinen Oval in der Nähe des Kugelmittelpunkts führte. Barskor blickte wieder auf seine Skalen. »Im Augenblick liegen wir beinahe auf Kurs. Ich bemühe mich, sechs Zehntel der Endgeschwindigkeit zu halten. Aber vorläufig ist die Geschwindigkeit variabel.« Er lächelte säuerlich. »Oh, wir kommen gut voran. Vor einer Weile wäre ich beinahe in ein geschlossenes Feld geraten, und im Augenblick zwinge ich mich auf der Neutrallinie zwischen zwei weiteren durch.« Er blickte wieder zu Delman hinüber und stellte fest, daß der Mann jetzt beide Hände am Steuer hatte. »Vergleichsweise neutral, heißt das.« Eine winzige Kurskorrektur. »Halte dich gut an diesen Hebeln fest«, rief er. »Du wirst sie aus der Steuerkonsole reißen. Das Feld treibt nach allen Richtungen ab, und da gibt es welche, von denen du noch nie etwas gehört hast.« Er krümmte den Rücken und kratzte sich an der Schulter. »Während dieser Wache habe ich so ziemlich jede Geschwindigkeit draufgehabt, von einem Parsek bis zu ein paar tausend Kilometer pro Sekunde.« Er beugte sich zur Seite und tippte auf die große Skala unmittelbar vor Delman. »Und laß das hier nicht aus den Augen. Der Zeiger springt über die ganze Skala. Und jedesmal, wenn er zuckt, versucht das Schiff einen Looping zu schlagen. Wenn du nicht aufpaßt, schmiert sie dir ab. Und das könnte zu einer Verzögerung von ein paar tausend Zyklen führen, während sich einer der Eierköpfe eine Methode ausdenkt, wie man ein Schiff aus einem geschlossenen Feld herausholt.« Er stand auf. »Und bis dahin wären wir ziemlich hungrig.«
Meinora betrat den Korridor, der zur Steuerkanzel führte. Das Deck unter seinen Füßen bewegte sich in unvorhersehbaren Rucken und kam dann wieder zum Stillstand. Plötzlich war er einen atemlosen Augenblick lang schwerelos. Dann schienen seine Füße wieder im Begriff zu sein, den Boden zu durchstoßen. Er schüttelte den Kopf und schluckte unwillkürlich. Er erinnerte sich an eine Episode, die er auf einem primitiven Planeten erlebt hatte. Er hatte sich an Bord eines Seeschiffes befunden, und nach ein paar Tagen auf hoher See hatte er sich genauso gefühlt wie jetzt. Er erinnerte sich auch, daß viele der anderen Passagiere krank geworden waren – ebenso wie es einigen seiner Teammitglieder jetzt erging. Eine riesige Hand schien nach seinem Magen zu greifen, und sein Mund öffnete sich, ohne daß er es wollte. Er riß sich zusammen und wischte sich mit der Hand den kalten Schweiß vom Gesicht. Als er die Tür zum Kontrollraum öffnete, wandte Barskor sich gerade von der Konsole ab. Er sah Meinora mit blutunterlaufenen Augen an. »Chef, und die Leute, die Sie von Huilon gebracht haben, sind wirklich hier durchgekommen?« »Ja.« »In dieser alten Badewanne, die wir gefunden haben?« »Das war ihr Schiff.« Barskor schüttelte den Kopf und griff sich an die Stirn. »Solche Leute können nur zweierlei sein: entweder Superastronauten, die statt Nerven Stahlkabel und statt einem Gehirn einen Computer haben, oder es sind Vollidioten, die ein Schwerkraftfeld nicht von einer leichten Brise auf einem Weiher unterscheiden können. In dem Fall sind sie mit mehr Glück als Verstand durchgekommen.« Er hielt inne. »Oder sie sind eine Kombination von den beiden.«
Delman wandte sich einen Augenblick um. »Du kannst es dir aussuchen. Sie hatten vor, geistigen Zwang einzusetzen, um die Galaxis zu erobern.« Er wandte sich wieder seinen Steuerorganen zu. »Unterschätzt sie nur nicht zu sehr«, warnte Meinora. »In mancher Hinsicht sind sie primitiv, und sie haben sich auch nicht die Mühe gemacht, sich ihre Chancen auszurechnen oder größere Forschungsexpeditionen zu starten, ehe sie den Angriff beschlossen. Aber die Tatsache bleibt, daß es ihnen gelang, diese Sternwolke zu durchqueren. Und sie haben auch eine Karte erstellt, um wieder zurückzufinden.« Er legte den Kopf etwas zur Seite. »Und noch etwas. Es wäre ihnen wahrscheinlich gelungen, Huilon zu übernehmen, einen Planeten, der ihrem eigenen sowohl in seiner technologischen als auch in seiner sozialen Entwicklung weit überlegen ist. Vergeßt das nicht.« Barskor grinste müde. »Chuzpe kann man da nur sagen.« »So könnte man es nennen«, lachte Meinora. »Und hartnäckig auch. Die müssen eine Menge Schiffe hier verloren haben, ehe eins durchkam.« Er blickte auf die Bildkugel. »Wissen Sie«, fügte er hinzu, »die hatten nämlich bloß zwei Männer an Bord, die wirklich etwas vom Raumflug verstanden.« Barskor sah ihn fassungslos an. »Habe ich richtig gehört?« »Ja.« Meinora ging durch den Kontrollraum und blieb dann vor dem Hauptcomputer stehen. »Alles Wissen, das sich auf den Raumflug, die Gravitik und selbst auf Mechanik bezieht, wird in ihrer Gesellschaft sorgfältig gehütet. Nur Angehörige der herrschenden Familie auf Jorik dürfen über Wissenschaft oder Technologie informiert werden.« Er deutete auf das Bedienungspult des Computers. »Sie hatten natürlich Bedienstete, die ihre Geräte bedienten, so wie das hier zum Beispiel. Aber alles, was diese Diener
taten, bestand darin im Auftrag der zwei Männer, die wirklich Bescheid wußten, Schalter umzulegen und Knöpfe zu drehen.« Er lächelte. »Und einer wußte nicht, was das Schiff wirklich antrieb. Er kann es nur steuern.« Als Barskor antworten wollte, wirbelte Delman plötzlich herum. »He«, rief er. »Schaut. Ich habe freien Raum vor mir.« Meinora und Barskor blickten in die Bildkugel. Der dunkle Nebel war der normalen samtigen Schwärze des Weltraums gewichen. Drei klare Lichtpunkte flammten darin. »Gut«, nickte Meinora. »Das sind die drei Sterne von Jorik. Projizieren Sie Ihre Leitlinie in die Kugel und geben Sie etwas Dampf auf den Antrieb. Wir wollen den linken, und bis zum Systemfeld sollte es nicht mehr weit sein.« Er blickte auf den Fahrtschreiber. »Nun, wir scheinen wenigstens den Vorhang passiert zu haben.« Barskor atmete auf. »Ist auch höchste Zeit gewesen«, sagte er. »Ich habe schon gedacht, ich erreiche hier das Pensionierungsalter.« Plötzlich wandte er sich um. »Aber raus müssen wir auch wieder«, beklagte er sich. »Wieder durch diese Suppe.« Meinora nickte. »Und vielleicht noch einmal hinein. Das kann sich zu einem ziemlich langen Job auswachsen. Und wir brauchen vielleicht noch mehr Teams. Und wir können auch nicht einfach dort sitzenbleiben und nach Hilfe rufen. Der Sprechverkehr funktioniert bestimmt nicht. Diesmal müssen wir hinaus und uns selbst Verstärkungen holen.« Er sah sich um. »Wäre viel besser«, fügte er hinzu, »wenn wir die ganze Angelegenheit auf einmal erledigen könnten. Dann brauchen wir bloß noch gelegentlich Inspektionsgruppen hineinzubringen.«
Meinora setzte sich auf den Tisch und sah zu wie die Mitglieder seines Teams langsam den Saal verließen. Er versuchte, sich seine Rede noch einmal zu vergegenwärtigen, und fragte sich, wie sie wohl angekommen war. Am Ende schüttelte er den Kopf und lachte leise vor sich hin. Wahrscheinlich zu pompös, dachte er. Als der letzte Mann durch die Tür verschwunden war, erhob sich auch Meinora und ging hinaus. Im Korridor blieb er stehen. Das Ausschiffen muß ich auch überwachen, dachte er. Aber das kommt später. Er ging in den Kontrollraum. Barskor wandte sich um, als er eintrat. »Sind jetzt alle informiert, Sir?« Meinora nickte. »Hoffentlich.« Er lächelte. »Wahrscheinlich habe ich zu viel geredet, aber ich wollte nichts auslassen.« »Ich hatte nicht das Gefühl, daß es zu viel war, Sir.« Barskor schüttelte den Kopf. »Ich habe teilweise zugehört, und es klang gut. Es schadet gar nichts, wenn man sie an einige dieser Routinepunkte erinnert. Selbst die erfahrensten Agenten vergessen gelegentlich etwas. Werden Sie an Bord bleiben und koordinieren?« »Ich glaube nicht.« Meinora schüttelte den Kopf. »Wenigstens nicht während der Anfangsphase. Später natürlich, wenn das Team detaillierte Untersuchungen anstellt, werde ich an Bord bleiben. Aber im Augenblick möchte ich ein paar Eindrücke aus erster Hand. Wissen Sie, ich denke und fühle immer noch wie ein Mann von der Sektorenpatrouille. Und dabei kann ich immer etwas Nützliches tun.« Er wandte sich der Bildkugel zu. »Sie und Delman können die Anfangsphase koordinieren, das habe ich ja zuerst gesagt«, fügte er hinzu. »Und wenn ich wieder an Bord komme, übernehmen Sie die Untersuchung in Quinbar. Ich nehme Krenall mit und werde mir einmal das
Herzogtum Quinbar ansehen. Dann kommen wir zurück und geben unsere Informationen an Sie und Delman weiter. Sie übernehmen dann.« Er hielt inne und sah sich im Zimmer um. »Übrigens, wo ist denn Krenall?« Barskor wandte sich wieder seiner Konsole zu. »Er sollte eigentlich gleich nebenan sein. Er hat Delman geholfen, die Landkarten auf die Lehrbänder zu übertragen.« Er legte einen Schalter auf seiner Konsole um. »Wie geht’s euch denn?« Delmans Gesicht tauchte auf der Bildkugel auf. Es überlagerte zum Teil eine Luftansicht des Planeten. »Beinahe fertig. Wo ist der Chef?« »Ich schicke ihn hinüber.« »Hier. Er erkundigt sich nach Krenall.« Das schwache Bild verblaßte, und Barskor drehte sich wieder herum. »Bin froh, daß die uns Krenall gegeben haben, Sir«, bemerkte er. »Das wird ‘ne ausgezeichnete Übung für ihn, und ich bin sicher, daß er einmal ein guter Agent wird.« Eine Wandfläche glitt beiseite, und Krenall kam herein. »Sie wollten mich sprechen, Sir?« Meinora nickte. »Sie und ich werden uns ein wenig in der Hauptstadt umsehen«, sagte er. »Jawohl, Sir. Ich habe mich schon gefragt, was ich für einen Auftrag bekommen würde.« Krenall grinste. »Auf den Bändern habe ich mich nicht gefunden, also dachte ich schon, ich sollte nur im Kartenraum arbeiten.« »Nicht nötig«, Meinora schüttelte den Kopf. »Barskor und Delman können das leicht übernehmen. Sie können diesen Planeten von Pol zu Pol umkreisen und dabei fotografieren. Dabei brauchen sie bloß ein paar Tage, um einen kompletten Atlas herzustellen. Wir brauchen für unsere Anfangsphase viel länger. Außerdem sind Sie der einzige Agent in Ausbildung,
dem man uns mitgegeben hat. Also sollten wir Sie auch ausbilden.« »Anfangsphase, Sir?« Krenall wirkte enttäuscht. »Wir führen doch eine komplette Untersuchung durch, oder?« »Das schon. Aber zuerst sehen wir uns schnell einmal um. Anschließend kommt eine detaillierte Untersuchung. Dabei mischen wir uns unter die Eingeborenen und versuchen, ihre Denkweise zu ergründen. Wenn möglich, werden wir das Ergebnis dann gleich auswerten und eine Korrektur einleiten, ehe wir uns wieder im Stützpunkt melden. Jedenfalls wollen wir nicht von irgendwelchen Jorikanern gesehen werden, ehe wir genau über sie Bescheid wissen. Wenn wir uns zeigen, müssen wir unter den eingeborenen Jorikanern untertauchen. Das wird einige Zeit und einige Arbeit in Anspruch nehmen.« Krenall dachte nach. »Tut mir leid, Chef«, entschuldigte er sich. »Daran hätte ich denken müssen.« Er legte den Finger an die Nase. »Aber eines an diesem ganzen Fall beunruhigt mich.« »So?« »Wir treffen alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, Sir.« Er nahm den Finger von der Nase und musterte ihn interessiert. »Ich weiß natürlich, daß sie notwendig sind. Das hat man mir beigebracht, und ich habe auch die Beispiele gründlich studiert, in denen geschildert wird, was eintreten kann, wenn man diese Vorsichtsmaßregeln vernachlässigt. Das Schiff ist zum Beispiel völlig in sein Tarnfeld eingehüllt – selbst wir könnten es nicht entdecken. Man muß uns mit Peilsendern hereinholen. Und wir zeigen uns nicht, ehe wir nicht die Gewohnheiten, das gesellschaftliche Leben und so weiter der Eingeborenen genau kennen. Das ist doch Routine, oder?« »Ja.« Meinora sah ihn erwartungsvoll an. »Das stimmt. Und?«
»Aber diese Knilche, die wir auf Huilon geschnappt haben, haben diese Vorsichtsmaßregeln nicht getroffen. Sie sind einfach gelandet. Oh, sie landeten natürlich an einer abgelegenen Stelle und haben ihr Schiff vergraben. Aber dann haben sie sich einfach auf dem Planeten herumgetrieben. Erst dann die Sprache und Sitten und Gebräuche gelernt. Sie haben praktisch jede einzelne Regel in unserem Buch verletzt, und dennoch hätten sie es beinahe geschafft.« Meinora lächelte. »Das stimmt allerdings«, räumte er ein. »Aber sie hatten auch nicht genau die gleichen Ziele wie wir. Vergessen Sie nicht, die wollten erobern, nicht die Eingeborenen von Huilon lenken und leicht beeinflussen. Und spätere soziale oder philosophische Spannungen machten ihnen nichts aus. Die wollten sie ja sogar. Demzufolge dachten sie überhaupt nicht an einige der Probleme, die wir sehr ernst nehmen.« Er lehnte sich gegen ein Schott. »Sehen Sie, Huilon ist ein zivilisierter Planet, der in einem Sektor der Föderation liegt. Hunderte von Zyklen sind vergangen, ehe man dort auch nur an einen feindlichen Besuch gedacht hat. Natürlich gibt es dort Peilgeräte, aber man benutzt sie nur als Navigationshilfen. Ich kann mir schon vorstellen, daß man das jorikanische Schiff auf einem Bildschirm entdeckt hat. Wahrscheinlich hat man es auch gesehen, als es über Land flog. Aber für die Huiloner war das ein ganz gewöhnliches Schiff, das über den Himmel flog, hinter dem Horizont verschwand und dann nicht mehr interessant war. Es trat mit keinem Raumhafen in Verbindung und erbat keine Landeinstruktionen. Und es brauchte auch keine Navigationshilfen. Also bemerkte man es nicht.« Er streckte die Hand aus. »Und noch etwas. Huilon hatte in der Vergangenheit gelegentlich Besucher aus dem Weltraum und empfindet sie als normalen Teil seines täglichen Lebens. Fremde, die einfach
herumschlenderten und sich umsahen, ohne den Frieden und die Ruhe der jeweiligen Gesellschaft zu stören, fielen also nicht sonderlich auf.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hatten es einfach zu gut. Das ist alles.« Er blickte zur Schiffsuhr. »Am besten sagen Sie jetzt dem Team Bescheid, Barskor. Und bereiten Sie die Kursspirale vor. Wir setzen das erste Paar ab, sobald Sie die entsprechende Region erreicht haben.« Er ging, von Krenall gefolgt, hinaus. Einer nach dem anderen verließen die Agenten das Schiff. Zuletzt stand nur noch Krenall auf der kleinen Plattform vor dem Personalausgang und stützte die Hände auf den Gürtel. Meinora überprüfte ihn schnell und nickte dann zustimmend. Die Geräte waren in gutem Zustand. Er war absprungbereit. Das Schiff senkte sich zu dem Planeten hinunter, bremste und blieb auf der Stelle stehen. »Absprungfertig?« Barskors Gedanke war deutlich und scharf, als führte er im Stützpunkt eine Übung durch. »Fertig, eins.« Meinora fühlte Krenalls Gedanken. »Fertig, zwei«, dachte er. »Eins ab.« Krenall verschwand plötzlich, und Barskor wartete. Meinora fühlte, wie er für sich zählte, und trat schnell an den Rand der Plattform. Er wartete und blickte durch den dünnen Nebel hinunter. »Und zwei und eins und – « »Eins klar.« Krenalls Gedanke unterbrach ihn. Barskor hatte richtig gezählt, beinahe auf die Millisekunde genau. »Zwei ab.« Meinora aktivierte sein Kraftfeld und stieß sich von der Plattform ab. Er spürte ein leichtes Prickeln, als sein Kraftfeld das wesentlich intensivere Feld des Schiffes berührte. Dann schwebte er.
Er sah sich um und stellte fest, daß er offenbar allein am Himmel war und langsam den fernen Straßen zuschwebte. »Zwei klar.« »Viel Glück, Chef«, kam ein Gedanke als Antwort herein. »Schiff klar und auf Kurs.« Meinora reduzierte den Auftrieb seines Kraftfeldes. Es hatte keinen Sinn, den ganzen Tag hier oben zu treiben. Die Stadt kam ihm schnell entgegen, und er wartete, bis er unmittelbar über den Dächern war, ehe er seinen Fall bremste. Einen Augenblick trieb er ziellos über den Gebäuden dahin. Dann versuchte er sich zu orientieren. Er hielt nach Krenall Ausschau, mußte dann aber unwillkürlich lachen. Sein Assistent war natürlich genauso wenig sichtbar wie er selbst. »Krenall«, dachte er, »sind Sie unten?« Er fing eine Projektion einer der großen Fabriken am Stadtrand auf. »Ja, Sir.« »Sehr gut. Wir sehen uns dann später. Im Augenblick gehen wir zum Marktplatz. Dort kann man sich am besten mit Sprache und Dialekt vertraut machen.« Meinora steuerte auf die Stadtmitte zu.
Krenall wandte sich von dem Wiedergabegerät ab und schüttelte den Kopf. »Komische Leute«, bemerkte er. »Ich versteh die einfach nicht.« »Was ist denn so schwierig?« Krenall deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gerät. »Bis jetzt habe ich ziemlich viele Hinweise auf eine recht gut entwickelte Technik gefunden. Aber das konzentriert sich alles auf einen Punkt. – Das Herzogtum Quinbar. Sonst sind sie überall so primitiv wie man sich nur denken kann.« Meinora grinste. »Die menschliche Arbeitskraft ist wohl sehr billig?«
»Ja, das scheint der Grund zu sein, Sir. Oder sogar tierische Arbeitskraft. Sie benutzen natürlich Wasserkraft, aber ihre Maschinen sind noch ziemlich primitiv und unwirksam. Selbst ihre Waffen und ihre Methoden der Kriegsführung sind primitiv. Und wenn man andere Faktoren bedenkt, ist es schon beinahe ungewöhnlich.« »Haben Sie sich Gründe dafür überlegt?« »Nun«, Krenall zögerte etwas, »in ihrer Technologie sind sie natürlich völlig einseitig. Es sieht gerade so aus, als hätte jemand einmal eine einzige grundlegende Entdeckung gemacht. Und dann aufgehört, weiterzuforschen.« »Und?« »Nur wenige Leute dürfen über wissenschaftliche Prinzipien Bescheid wissen. Das Studium wird in keiner Weise gefördert.« »Da haben Sie die Antwort.« Meinora deutete auf das Wiedergabegerät. »Sie fördern weder Studium, noch Forschung. Das Gegenteil trifft zu. Eine Familie, die Quinbars, hatten das Glück eine revolutionäre Entdeckung zu machen – das Geheimnis des negativen Gravitationsfeldes. Und sie haben es völlig geheimgehalten.« Er deutete mit dem Daumen auf den Bildschirm. »Die Resultate kann man sehen. Sie haben ihre Entdeckung dazu benutzt, ihre Nachbarn zu erobern und schließlich den ganzen Planeten, unter ihrer Herrschaft vereint. Sie haben einige Waffen und ein paar Geräte entwickelt, die sie allein benutzen.« Er spreizte die Hände. »Sie wissen ein wenig über die Prinzipien des magnetogravitischen Feldes, haben aber ihr Grundgeheimnis sorgfältig gehütet und sich auch nicht die Mühe gemacht, sehr viel dazuzulernen. Schließlich braucht man ja nicht besser zu werden, wenn man ohnehin an der Spitze liegt und seine
Nachbarn überreden oder zwingen kann, den Wettbewerb aufzugeben. Oder?« Er nahm eine Bandspule und sah sie an. »Die hat Barskor gemacht«, fügte er hinzu. »Es ist eine Art Handbuch für unsere Leute. Man erfährt darin eine ganze Menge über die Staatsreligion von Jorik. Sehen Sie, die Forschung wird hier nicht nur vom Gesetz verboten, sondern sie gilt auch noch als Ketzerei.« Krenall lachte. »Anstatt also eine technische Gesellschaft zu entwickeln, haben sie zu ihrem eigenen Nutzen die Weiterentwicklung unterdrückt. Und ihre überschüssige Bevölkerung schaffen sie sich durch Kolonisation vom Hals?« »Stimmt genau. Und die bewohnbaren Planeten innerhalb ihres Nebels sind ihnen ausgegangen. Jetzt müssen sie hinaus.« Meinora lächelte. »Das ist ziemlich übel.« Er blickte auf, als das Interkom summte. »Da kommt jemand. Es scheint, daß sie wieder einen Bericht aufnehmen müssen.«
»Endlich habe ich das gefunden, was wir alle suchen.« Agent Nerieda hob einen kleinen durchsichtigen Würfel hoch. Eine winzige Figur war darin eingebettet. Der Mann stand mit ausgestreckter Hand da und hatte offenbar versucht, jemanden zu überzeugen. Meinora nahm den Würfel und sah ihn sich an. »Ihr würdet das wahrscheinlich nicht als besonders gut getroffen empfinden«, lachte er. »Haben Sie die Aufnahme gerade gemacht?« Er beugte sich vor und legte den Würfel auf das Wiedergabegerät. Nerieda nickte. »Ja, Sir. Erst vor ein paar Stunden.« Er lächelte. »Er hat sich wirklich bemüht, jemandem ein juwelenbesetztes Armband zu verkaufen. Aber der Käufer
wollte nicht recht.« Er deutete auf das Betrachtungsgerät. »Sehen Sie das, was er in der anderen Hand hält?« Meinora hatte die projizierte Gestalt interessiert gemustert. »Ich dachte, Sie hätten in der Grafschaft Darnol gearbeitet?« fragte er. »Das habe ich auch.« Nerieda sah Meinora fragend an. »Aber dieser Mann ist wie ein Bergbewohner gekleidet.« Meinora deutete auf die projizierte Gestalt. »Die Jacke, zum Beispiel, ist typisch. Man trägt sie nur in Minaronik. Was hätte er so gekleidet in Darnol zu suchen?« »Ein reisender Händler«, erklärte Nerieda. »Und er hatte noch einen weiteren Grund für seine Kleidung. Haben Sie Berichte über die Ketzer von Duernia gesehen?« Meinora nickte. »Natürlich. Und über die Kwenronianer. Und auch über eine Anzahl weiterer sogenannter Ketzersekten. Es gibt hier ein paar hundert Leute, die herrlich und in Freuden leben und noch dazu hohes Prestige gewannen, indem sie solche ›Ketzer‹ der Inquisition unterziehen.« Er lächelte. »Das hat sich zu einer ziemlich nutzbringenden Industrie entwickelt, glaube ich. Und die Inquisitionsmethoden scheinen recht hart zu sein.« Nerieda lachte leise und rieb sich über das Kinn. »Ja, Sir. Ich habe selbst ein paar Bänder über solche Inquisitionen mitgebracht. Die werden immer verurteilt. Aber das ist bloß der Rauch.« Seine Augen verengten sich. »Es gibt auch ein echtes Feuer.« Er deutete auf den eifrigen Verkäufer, der immer noch in der Bildkugel abgebildet wurde. »Der da ist ein echter lebender Duernianer.« »Oh, wirklich?« Meinora musterte die Gestalt mit neuem Interesse. »Er kam mit einer Ladung Luxusgüter, die er verkaufen wollte, nach Darnol – in die Stadt Darnol, meine ich. Aber
seine Bergkleidung hat er anbehalten. Und das hat mich neugierig gemacht. Also habe ich mein Tarnfeld eingeschaltet und bin eine Weile bei ihm geblieben. Ich habe ihn mir recht gründlich angesehen. Er hat sich natürlich überlegt, wie er seine Ware verkaufen kann. Aber etwas anderes hat ihn noch viel mehr beschäftigt.« Nerieda zog eine kleine Bandrolle aus der Tasche. »Zunächst erfuhr ich einiges über die Duernianer von ihm. Sie sind eine ziemlich lockere Organisation. Die meisten sind irgendwelche Reisende – ganz offizielle Reisende meine ich. Andere arbeiten als Handwerker und Mechaniker. Ihre Anführer reisen, glaube ich, nicht so viel herum. Die meisten sind ziemlich solide Bürger. Eine halb religiöse, halb politische Gruppe. Wobei auf diesem Planeten kein großer Unterschied zwischen Politik und Religion besteht.« Er hustete trocken. »Und sie nehmen die Lehre der jorikanischen Theologie nicht unbesehen hin. Die meisten Dogmen lehnen sie sogar ab. Sie haben viele eigene Vorstellungen. Darunter auch ernsthafte Zweifel an den Rechten des Adels, sowie ein paar ganz vernünftige theologische Vorstellungen. Außerdem experimentieren sie ziemlich viel, versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen, und wenden eine beinahe wissenschaftliche Methode dafür an.« Er sah Meinora an. »Wissen Sie, es gab eine Zeit auf diesem Planeten, in der die Adeligen das gemeine Volk mit rein suggestivem Zwang beeinflussen konnte. Ich nehme an, daß ihre Vorfahren auf diese Weise Adelige wurden. Aber hier auf dem Heimatplaneten verblaßt dieser Vorteil langsam. Das gemeine Volk – sogar einige der Sklaven – entwickeln Widerstandskräfte gegen so etwas. Und sogar beschränkte eigene Suggestivkräfte. Obwohl die Adeligen immer noch in gewissem Grade von ihren Suggestivkräften abhängig sind, verschiebt sich die Betonung immer mehr auf die Gewalt.«
Meinora nickte. »Dieses Phänomen habe ich studiert«, sagte er. »In Zivilisationen der Klasse I ist das ganz und gar nicht ungewöhnlich.« Er runzelte die Stirn. »Es gibt da verschiedene Entwicklungen. Aber die Ungleichheit der Psi-Grenze wird am Ende immer neutralisiert oder abgeschafft.« Er machte eine vage Handbewegung. »Manchmal ergibt sich das aus Ehen zwischen Psi und Nichtpsi. Aber hier ist das völlig unmöglich. Solche Kinder lassen sie nicht leben. Und manchmal entwickelt es sich in der Nichtpsi-bevölkerung durch natürliche Zuchtwahl.« Er deutete auf die Bildkugel. »Und wie ist es mit diesem hier?« Nerieda schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er. »Dieser Bursche gehört den unteren Schichten der Duerianischen Organisation an. Er sieht sich als ›Gläubiger‹. Er arbeitete als Kurier. Er wußte natürlich über die grundlegenden Prinzipien seiner Organisation Bescheid. Ihr Ziel ist, die jorikanische Religion zu reformieren und für das Volk und die Sklaven Zugeständnisse zu erreichen. Aber über die Methoden oder das Personal der Organisation wußte er nicht Bescheid. Er hatte eine Botschaft bei sich, die er an jemand weitergab, der auf dem Markt mit ihm Verbindung aufnahm. Seine ungewöhnliche Kleidung diente zu seiner Identifizierung.« Er runzelte die Stirn. »Leider hatte er seine Botschaft bereits weitergegeben, ehe ich ihn erreichte«, sagte er bedauernd, »deshalb konnte ich mir seine Kontaktperson nicht ansehen. Ich war also auf das Erinnerungsvermögen des Kuriers selbst angewiesen. Er hatte noch nicht Zeit gehabt, den Markt zu verlassen und sich umzuziehen, als er eine Chance sah, noch etwas zu verkaufen. Also blieb er da.« »Und wie hat sich die Kontaktperson ihm gegenüber ausgewiesen?«
»Sie hatten Losungsworte. Ich glaube, ich kann mich daran erinnern, ohne daß wir das Band abzuspielen brauchen.« Nerieda musterte das Wiedergabegerät scharf. »Oh, ja«, sagte er schließlich. »Die Kontaktperson sagte: ›Sie waren wohl viele Jahre in den Bergen?‹ Und der Kurier antwortete: ›Nein, ich bin neben der Straße durch die Berge gegangen.‹ Die Kontaktperson sah ihn eine Weile an und sagte dann: ›Und sind Sie auch über das weite Meer gefahren?‹« Nerieda grinste. »Der Kurier gab darauf keine Antwort, sondern bot dem Mann ein Armband aus Muscheln an. Der andere sah sich das eine Weile an und meinte dann, er habe solche Arbeiten schon gesehen – hätte sogar selbst welche hergestellt, als sein Schiff auf den Felsen auflief.« Nerieda hob die Hand. »Dieser Hinweis auf ein Schiff, das auf Felsen gelaufen war, war das letzte Erkennungszeichen. Und dann feilschte der Kurier eine Weile mit ihm um das Armband und erzählte etwas über einen Sturm, den er vor einiger Zeit erlebt hätte. Das war die Nachricht.« Er runzelte die Stirn. »Unglücklicherweise hatte der Kurier keine Ahnung von dem Code, den sie benutzten. Er wiederholte die Nachricht lediglich auswendig und wußte auch nicht, woher sie stammte. Er hatte sie einfach von einem anderen Kurier bekommen. Jemand ist hier außergewöhnlich vorsichtig.« Meinora lehnte sich vor. »Trotzdem ist das sehr wichtig und uns auch ein Anhaltspunkt«, bemerkte er. Er wandte sich zu Krenall um, der mit zugehört hatte. »Haben wir sonstige Berichte über den Kult?« »Nicht viele, Sir« Krenall schüttelte den Kopf. »Es gibt einige Hinweise von verschiedenen Klerikern. Und da ist einer von einem Inquisitor. Er gibt Methoden an, wie man die Duernianer entdecken und zum Geständnis zwingen kann. Er führt eine Anzahl von Fragen und Antworten auf, die sie
garantiert zum Zusammenbruch bringen.« Er lächelte. »Aber bis jetzt hatten wir noch nie Verbindung mit einem Angehörigen des Kults. Sie scheinen sehr selten und außerdem vorsichtig zu sein.« Meinora nickte. »Wenn man auf diesem Planeten eigene Gedanken entwickelt, muß man sogar äußerst vorsichtig sein. Und selten muß man sich auch machen, sonst wird man ausgelöscht. Quinbar ist sehr darauf bedacht, sein Regime von nichts und niemandem stören zu lassen. Und diese Staatsreligion ist für ihn äußerst wertvoll. Das ist einer der Hauptfaktoren, dem es zuzuschreiben ist, daß seine Familie so lange die Macht ausüben konnte. Also folgt er der Familiendoktrin und setzt eine große Zahl fähiger Leute dafür ein, die Dinge in genau dem Zustand zu belassen.« Er lächelte. »Sehen Sie doch zum Beispiel, wie sie das Geheimnis der Antigravitation behielten«, fügte er hinzu. »Die Familie kennt es seit Jahrhunderten. Seit jener Zeit, als der alte Vayder nel Quinbar ein obskurer Marquis war. Und seit der Zeit hat kein einziger Fremder auch nur einen Hinweis auf das Geheimnis bekommen. Die Gehäuse der Generatoren sind so konstruiert, daß die eigentlichen Maschinen beim Öffnen durch einen Unbefugten explodieren. Und dann gibt es noch ein paar andere Familiengeheimnisse, wie zum Beispiel dieses Gerät, das Hitze konzentriert und projiziert. Das ist eine ziemlich wirksame Waffe. Und dann wäre da noch der Energie-Akkumulator.« Er stand auf. »Nun, ich würde sagen, wir tun gut daran, das zu überprüfen.« Er nahm die kleine Bandrolle. »Wir können das mit dem Rest unserer Informationen integrieren und unsere Leute darüber informieren.« Als er die Rolle gerade einlegen wollte, leuchtete der Bildschirm auf und zeigte ein besorgtes Gesicht. »Ist der Chef da?«
Meinora trat vor das Aufnahmegerät. »Ja, Kerola?« »Erbitte Genehmigung zur Rückkehr, Sir. Weroaen hat Schwierigkeiten. Sie haben ihn drüben in der Grafschaft Dorolik ins Gefängnis gesteckt.«
Walur, der Händler, betrat die Kneipe und sah sich in dem großen Gästeraum um. An einer Wand war ein Platz frei, und er ging hinüber und stellte sein Bündel vorsichtig zwischen den Füßen ab. Man duldete Händler in den Kneipen, das hatte er festgestellt, solange sie die Gäste nicht belästigten, indem sie ihnen ihre Waren zeigten, und solange sie das, was sie verzehrten, bezahlen konnten. Walur schob sich die schwere Kappe zurecht. Darunter konnte man das Mentacom-Kopfband gut verbergen. Er sah sich im Raum um. Am nächsten Tisch saßen einige Sklaven des Grafen von Dorolik. Sie tranken mürrisch, jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Gelegentlich tauschten sie kurze Bemerkungen aus. Um die Tageszeit gab es hier nicht viel zu erfahren, dachte Walur. Er hatte sich schon oft um die Sklaven und ihre Familien gekümmert. Ihre Gedanken und Probleme liefen meistens in den gleichen Bahnen. Und als Agent Weroaen hatte er schon genügend Bandaufnahmen solcher Typen gemacht. Daraus konnte er nichts mehr lernen. Er wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Tisch zu. Das war schon interessanter. Der Mann schien ein kleiner Geldverleiher zu sein. Während er trank, blätterte er in seinem Kontobuch. Offenbar machte er gerade einen Plan für den nächsten Tag. Aber die sorgfältig verschlüsselten Notizen in
seinem Buch schienen ihn weit mehr zu interessieren als seine Konten. Das war der Mann! Weroaen verlor jegliches Interesse für die übrigen Gäste. Eine Bedienung kam, und er bestellte geistesabwesend ein Glas und schob eine Münze hin. Dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder Laduro, dem Geldverleiher, zu. Als kleiner Finanzier war der Mann ohne Interesse, aber als Moderator der Anhänger des Duern war er nicht nur eine wertvolle Informationsquelle, sondern auch ein möglicher künftiger Verbündeter. Der Mann arbeitete gerade Instruktionen für einige seiner Lehrer aus, die Kontakt mit den Freien und den Handwerkern der Region herstellen sollten – den Gläubigen. Er hatte kürzlich von einem Kurier neue Informationen erhalten und wollte diese jetzt weiterverbreiten. Einige seiner Leute würden daraus Nutzen ziehen können. Der bevorstehende Besuch des Inquisitors Markorik schien ihn etwas zu beunruhigen. In der Grafschaft war Ketzerei gemeldet worden. Ein Teil von Laduros Plänen befaßte sich mit Methoden, wie man die Aufmerksamkeit der Inquisitoren ablenken und seine Gläubigen vor der Verfolgung schützen konnte. Weroaen saß ruhig da, nahm gelegentlich einen Schluck aus seinem Glas und beobachtete Laduro dabei scharf. Er registrierte Einzelheiten über die Organisation und die Ziele des Kults. Auch die Methoden ihrer Lehre und ihrer Missionstätigkeit nahmen langsam für ihn Gestalt an. Die fünf Männer, die inzwischen eingetreten waren und an einem Tisch in der Nähe Platz genommen hatten, beachtete er überhaupt nicht.
Feldor, Profos der Inquisition, zügelte sein Pferd und wandte sich im Sattel um. »Die Kneipe sieht nicht übel aus«, rief er seinen Begleitern zu. »Wollen wir dort ein paar Gläser trinken? Meine Kehle ist vom Staub trocken.« Seine vier Begleiter sahen das Gebäude an. »Und was ist mit dem Kapitän?« fragte einer von ihnen zweifelnd. »Er wollte, daß wir uns gleich nach unserer Ankunft in der Stadt bei ihm melden.« »Ach was!« Feldor warf seinem Tier die Zügel über den Kopf und schwang sich aus dem Sattel. »Schließlich sind wir ja noch nicht in der Stadt eingetroffen, oder? Wir sind eben eine Weile auf der Straße aufgehalten worden. Wenn er fragt, wird mir schon etwas einfallen. Außerdem, wenn ich unseren Kapitän kenne, dann läßt der es sich jetzt in der Stadt gutgehen. Ihm ist’s gleichgültig, wann wir uns melden, solange wir nur morgen da sind.« Er ging auf die Kneipe zu und blieb unter der Tür stehen. »Kommt«, sagte er. »Der alte Markorik trinkt jetzt mit dem Grafen Wein, das wette ich. Und der Kapitän verläßt seine warme Herberge auch nicht – wenigstens heute abend nicht. Warum sollten wir uns also das hier entgehen lassen? Ich will einen anständigen Schluck trinken und im Warmen sitzen.« Er drehte sich um und trat ein. Seine Begleiter zögerten noch einen Augenblick, dann stiegen sie ebenfalls aus dem Sattel und folgten ihm. Drinnen stelzte Feldor zu einem Tisch. Wortlos funkelte er die zwei Sklaven an, die auf der Bank saßen. Langsam näherte sich seine Hand dem Schwertgriff. Die beiden Männer begriffen sofort. Sie wandten den Blick ab, griffen nach ihren Krügen und suchten sich andere Plätze. Feldor drehte sich um und winkte seinen Kameraden zu. Eine Kellnerin eilte heran.
»Wein«, verlangte Feldor. »Wein. Und sorge dafür, daß er etwas taugt.« Dann sah er die Gläser, die das Mädchen zurückbrachte, mißbilligend an. »Das nennst du Weinpokale? Ich habe Wein verlangt, Mädchen, ich will etwas zu Trinken. Nicht nur einen Tropfen, den ich auf der Zunge rollen kann. Verschwinde und bring uns Pokale für ausgewachsene Männer.« Er nahm das Glas und hielt es ans Licht, dann stürzte er seinen Inhalt hinunter. »Zum Probieren reichts ja«, bemerkte er. Einer seiner Begleiter sah ihn an. »Sei vorsichtig, Feldor«, warnte er. »Es heißt, daß dieser Bergwein stark ist. Du brauchst morgen einen klaren Kopf und eine feste Hand.« »Einen klaren Kopf!« spottete Feldor. »Einen klaren Kopf, sagt er. Du hältst mich wohl für ein kleines Kind, das sich wegen ein paar Tropfen Wein Sorgen macht?« Er nahm den großen silbernen Pokal, den das Mädchen vor ihn hingestellt hatte, trank durstig und sah sich im Raum um. Die beiden Sklaven, die er verscheucht hatte, hatten in der Nähe eines Händlers Platz genommen, der unauffällig an der Wand saß. Feldor beobachtete den Mann ein paar Minuten. Dann wandte er sich angewidert ab. »Dieser Geizkragen«, dachte er, »wie man nur so langsam trinken kann. Dabei möchte ich wetten, daß er viel mehr Geld hat als ich.« Er leerte seinen Pokal und ließ sich nachschenken. Und dann ein zweites Mal. Die Zeit verstrich, und der Raum verschwamm vor seinen Augen. Wieder blickte er zu der Wand hinüber, wo immer noch der Händler saß. Mühsam versuchte er, ein scharfes Bild von dem Mann zu bekommen, dann sah er wieder auf seinen Pokal. Der war
immer noch da. Und der Händler, mit einem leichten Lächeln im Gesicht, saß da und schien niemanden zu sehen. Feldor stand auf und ging durch die Gaststube. Er schwankte etwas dabei, hatte aber noch keine Schwierigkeiten. Vor dem Händler blieb er stehen und schlug dem Mann die Kappe vom Kopf. Der Händler sah ihn überrascht und verängstigt an. »Wenn du dir keinen Wein leisten kannst«, fauchte Feldor ihn an, »warum bist du dann gekommen? Verschwinde hier, oder trink wie ein Mann!« Er nahm das Glas, das vor Weroaen auf dem Tisch stand, schwenkte es in der Hand und setzte es wieder krachend auf den Tisch. »He, Bedienung«, schrie er. »Bring diesem Mann zu trinken – aber ein großes Glas. Und mir auch. Ich werde dafür sorgen, daß er trinkt. Ja – und auch bezahlt.« Er packte den Händler am Kragen. Weroaen schüttelte benommen den Kopf. Er war so in seine Beobachtung des duernianischen Moderators versunken gewesen, daß er niemanden bemerkt hatte. Und jetzt hatte er sein Mentacom nicht mehr und konnte den betrunkenen Soldaten nicht beeinflussen. Er beugte sich vor, um seine Kappe aufzuheben. Aber Feldor hinderte ihn brutal daran. »So«, murrte er und verstärkte seinen Griff an Weroaens Kragen. »Du willst also deinen Hut. Du willst dich davonstehlen und mit anständigen Männern nichts zu tun haben. Oh, nein! Das gibt es nicht! Wir werden feiern. Ihr Händler habt Geld, das weiß ich. Du sollst das richtige Leben kennenlernen. Du sollst die Ehre haben, die Soldaten seiner Lordschaft einzuladen.« Er sprang auf den Tisch, trat auf der anderen Seite auf die Bank und packte Weroaen am Arm. Er zerrte ihn ans Tischende. Weroaens freie Hand glitt an seinen Gürtel. Dieser Betrunkene brauchte eine Abreibung, dachte er.
Dann zögerte er. Natürlich war es nicht schwer, mit diesen Soldaten fertigzuwerden. Dazu mußte er aber vor aller Augen ungewöhnliche Mittel einsetzen. Man würde ihn verfolgen, und viele Leute würden von dem Zwischenfall hören und anfangen, Fragen zu stellen. Natürlich war er berechtigt, in extremen Fällen seine Ausrüstung zum Schutz seines Lebens einzusetzen. Aber wenn dabei die Existenz technisch fortgeschrittener Geräte den Eingeborenen bekannt wurden, würde er seine Position aufgeben müssen. Und Weroaen hatte keineswegs den Wunsch, aus dem Corps auszutreten. Außerdem, dachte er, war das kein extremer Fall. Vielleicht würde er einige Beleidigungen einstecken müssen. Und am Ende würde eine dicke Rechnung stehen, die er dem Kneipenbesitzer zahlen mußte. Aber das war schließlich unbedeutend und brachte ihn nicht in Lebensgefahr. Früher oder später im Laufe des Abends würde er Gelegenheit haben, seine Kappe zurückzuholen. Und die Soldaten würden es am Morgen recht schwer haben, zu erklären, weshalb sie auf dem Boden einer Kneipe eingeschlafen waren. Also ließ er sich widerstandslos abschleppen. Feldors Begleiter waren aufgestanden und sahen zu. Einer von ihnen blickte zur Tür und packte Feldor an der Schulter. »Der Kapitän«, flüsterte er. »Unter der Tür.« Feldor sah sich um und erstarrte. Der Kapitän stand dort. Einige Bewaffnete standen neben ihm und er blickte mißbilligend in die Gaststube. Plötzlich stieß Feldor Weroaen von sich, so daß seine Begleiter ihn festhalten konnten, und ging auf seinen Vorgesetzten zu. »Wir haben hier angehalten, Sir«, improvisierte er schnell, »um diese Kneipe zu untersuchen. Sie kam uns ungewöhnlich
überfüllt vor. Und dabei haben wir diesen Mann gefunden« – er deutete anklagend auf Weroaen – »wie er versuchte, jene zwei zu beeinflussen.« Er deutete auf die Sklaven, die in Weroaens Nähe gesessen waren. »Dieser Mann«, fügte er hinzu, »versuchte, diese zwei Bauern zu überreden, die Doktrin der duernianischen Ketzer anzunehmen. Aber soweit wir feststellen konnten, wollten sie mit seinen Lügen nichts zu tun haben.« Er winkte den Sklaven befehlend zu. »Ihr habt doch die falsche Doktrin dieses Mannes zurückgewiesen, oder?« Die beiden Sklaven sahen sich einen Augenblick an und überlegten. Dann nickten sie zweifelnd. Der Kapitän musterte Feldor argwöhnisch und sah dann Weroaen an, der zwischen zwei Bewaffneten stand. Schließlich nickte er. »Na schön«, sagte er. »Wir werden die Angelegenheit weiter untersuchen. Nehmt ihn mit. Und seine Güter und Besitztümer ebenfalls. Vielleicht finden wir darin Beweismaterial.« Er deutete auf die zwei Sklaven. »Ihr beiden kommt ebenfalls mit. Wir brauchen eure Aussage.« Er drehte sich um und ging hinaus. Feldor trat vor die beiden Sklaven. »Kommt mit, ihr zwei«, befahl er. Und mit etwas leiserer Stimme fügte er hinzu: »Und achtet darauf, daß ihr richtig aussagt. Der Inquisitor hat etwas gegen faule Zeugen.« Einer der Sklaven zuckte die Achseln. »Wir werden Zeugnis abgeben, Meister«, versprach er. »Der Händler interessiert uns nicht, und wir lieben das Leben.«
Lord Markorik, Inquisitor und Schrecken der Ketzer, blickte verärgert auf, als sein Kapitän vor ihn trat.
»Nun, Gurol, was führt dich zu dieser Stunde zu mir? Du willst mich doch nicht etwa mit disziplinarischen Problemen belasten? Und wenn es nicht sehr wichtig ist, habe ich jetzt wirklich keine Zeit für Berichte.« Kapitän Gurol nickte. »Das ist mir bekannt, Euer Lordschaft«, sagte er. »Ich würde auch Euer Lordschaft nie mit etwas Unbedeutendem stören. Aber ich bringe Nachricht von einem duernianischen Ketzer, der auf frischer Tat ertappt wurde, als er in einer Kneipe unweit dieser Stadt Anhänger suchte. Einige meiner Männer haben ihn festgenommen, und wir haben Zeugen verhört und den Schuldigen befragt. Er hat sich als wandernder Händler verkleidet. Möchten Sie den Fall vielleicht morgen untersuchen, Sir?« Markorik stellte sein Weinglas weg. »Ein Ketzer, was? Und am Abend eurer Ankunft festgenommen? Das ist beispielhaft, Kapitän. Du und deine Männer, ihr verdient Lob für eure Hingabe an die Pflicht.« Er wandte sich dem Grafen zu. »Ich habe es Euch gesagt, Dorolik«, bemerkte er, »wir ruhen nie. Und wir verlieren keine Zeit dabei, die Ketzerei zu finden und zu vertilgen.« Er hielt inne und sah Gurol an. »Ich will diesen Mann morgen selbst verhören«, befahl er. »Nachmittag.« Er machte eine gleichgültige Handbewegung und entließ damit den Kapitän. »Vielleicht wollt Ihr und Euer Hofstaat mit ansehen, wie wir Diener der Kirche unsere Verhöre und Inquisitionen durchführen?« fragte er dann. Durolik nickte schnell. »Oh, ganz bestimmt«, stimmte er zu. »Vielleicht können wir von Euren Methoden lernen? Ich werde Euch die Schloßkapelle zur Verfügung stellen. Und ich werde dafür sorgen, daß meine Leute alle anwesend sind, damit sie sehen, wie über jene, die den Frieden des Staates und der Kirche stören, Gericht gehalten wird.«
Er wandte sich zum Tisch, sah, daß Markoriks Glas beinahe leer war, und winkte einem Pagen zu, ehe er sich wieder seinem Besucher zuwandte. »Machen diese Duernianer schon lange Schwierigkeiten?« wollte er wissen. Markorik furchte Wichtigtuerisch die Stirn. »Ja«, nickte er. »Ja, sie sind schon seit einigen Jahren eine Gefahr für alle rechtdenkenden Menschen des Reiches. Aber wir beobachten sie, und wir holen sie einen nach dem anderen aus ihren Löchern.« »Ein lobenswertes Werk.« Durolik nickte verständnisvoll. »Und ich habe keinen Zweifel daran, daß sie bald ausgemerzt sein werden.« Er hielt inne. »Euer Kapitän erwähnte, dieser Mann habe sich als Wanderhändler verkleidet. Ob er aus den Landen des Südens gekommen ist?« Er seufzte. »Wir bekommen von dort so viele Verbrecher. Ich wünschte, die kümmerten sich selbst darum, statt das uns in unseren friedlichen Landen zu überlassen.«
»Und das ist die Grafschaft Durolik?« Klion Meinora blickte in die Bildkugel. Jetzt sah er bereits Einzelheiten der friedlichen Szene, die sich ihm darbot. Männer und Tiere bewegten sich auf den Feldern, und man sah einige kleine Dörfer. »Ja.« Kerola deutete auf den Hügel. »Es ist ein ziemlich kleines Lehen und gehört zum Herzogtum Minaronik. Und der Graf versucht die ganze Zeit, seinen Status anzuheben. Er liegt dauernd mit dem Marquis von Kiranik unten im Tal in Streit. Die beiden sind wie Hund und Katze. Wirklich reizende Leute.« »Aber auf dieser Welt nicht ungewöhnlich?« lachte Meinora. »Nein, Sir, das kann man nicht sagen.«
»Sie haben den gräflichen Haushalt untersucht, sagten Sie?« »Ja. Wir hatten das ganze Herzogtum unter die Lupe genommen. Weroaen hat sich hauptsächlich mit dem gemeinen Volk und ihren Reaktionen befaßt. Und er meinte, er brauche dazu keine Hilfe. Er sagte, er hätte sich ein eigenes Klassifizierungssystem ausgearbeitet und brauchte bloß noch einige Einzelheiten, um seinen Bericht abzuschließen. Er glaubte außerdem, einige wichtige Dinge über diesen Kult erfahren zu haben, der dem Kaiser und seiner religiösen Hierarchie schon so viele Schwierigkeiten gemacht hat. Sie wissen schon, die Duernianer. Man kann sie nur recht schwer im Auge behalten. Aber er glaubte, einen Hinweis auf einen ihrer führenden Leute bekommen zu haben. Er hatte ein paar Kuriere verfolgt und wollte der Sache noch weiter nachgehen.« Kerola deutete auf sein Kostüm. »Ich habe mich unterdessen mit den oberen Klassen befaßt. Ich hatte mich dazu eine Zeitlang als reisender Musikant verkleidet und mir sogar einen ziemlichen Ruf erworben.« Er lachte amüsiert. »Offengestanden, wenn ich hier stranden würde, könnte ich wahrscheinlich damit ganz gut leben. Jedenfalls war ich in Duroliks Schloß und spielte dort für ihn und seine Gäste.« Er deutete auf die Wälle und Türme auf der kleinen Anhöhe. »Es sah so aus als ließen sich Weroaens und meine Untersuchungen miteinander verbinden. Und da kam dieser Inquisitor Markorik. Es scheint, daß Markorik ebenfalls Informationen über den Moderator hatte, dessen Spur auch Weroaen verfolgte. Ich hatte schon einiges von dem Inquisitor erfahren, als sein Kapitän hereinkam und ihm meldete, sie hätten einen Händler unter Anklage der Ketzerei festgenommen. Dann schlossen sie Weroaens Verhör ab und warfen ihn in eine Zelle.« Er schnitt eine Grimasse.
»Weroaen hatte sich sein Mentacom in die Kappe eingenäht und trug wie alle Händler die Kappe die ganze Zeit. Aber er ist keineswegs voller Telepath, und als sie ihm die Kappe wegnahmen, saß er in der Patsche. Als sie ihn für den Rest der Nacht in die Zelle steckten, warf ihm jemand sein Zeug nach. Er nahm sofort mit mir Verbindung auf.« Kerola lächelte bei dem Gedanken. »Er war kaum davon abzubringen, alles in Stücke zu schlagen. Die müssen ihm ziemlich übel mitgespielt haben. Und dann haben sie sogar noch versucht, ihre Suggestivkraft gegen ihn einzusetzen. Das klappte natürlich nicht. Jedenfalls war er aber völlig durcheinander und wütend. Ich sagte ihm, er solle sich ruhig verhalten und auf mich warten. Dann verließ ich das Schloß und sah zu, daß ich schleunigst zum Schiff kam.« Meinora wandte sich von der Bildkugel ab. »Das war das beste, was Sie machen konnten«, meinte er. »Wir werden ihn schon irgendwie rausholen.« Er ging zur Tür. »Ich will jetzt in das Schloß. Ich möchte anwesend sein, wenn Markorik sein Verhör beginnt.« Er schob die Tür auf und wandte sich noch einmal um. »Nerieda«, sagte er, »Sie kommen am besten mit. Und Krenall, Sie übernehmen das Schiff. Rufen Sie einige der anderen zurück. Ich hoffe, daß wir drei mit dieser Sache fertigwerden. Aber es schadet nichts, wenn Hilfe in der Nähe ist.« Er ging zur Absprungplattform. Das war eine knifflige Situation, dachte er. Irgendwie mußte Agent Weroaen aus dem Schloß befreit werden. Und die jorikanischen Adeligen, Soldaten, Sklaven und Inquisitoren dürften keinen Verdacht schöpfen, daß an der Flucht irgend etwas Übernatürliches war. Meinora schüttelte den Kopf.
Wie würde ein Eingeborener des Planeten seinen Wächtern und jenem Schloß entkommen? Insbesondere, wenn er der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit war? Er schüttelte den Kopf und trat zur Seite. »Gehen Sie voran, Keroa«, befahl er. »Führen Sie uns zu der Kapelle.« Weroaen folgte seinen Wachen in die Kapelle. Hinter ihm kamen zwei weitere Posten, darauf bedacht, jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Die kleine Prozession schritt durch den Mittelgang auf den Altar zu, wobei andere Bewaffnete ihnen einen Weg durch die Menge bahnten. Schließlich blieben die beiden stehen und befahlen ihrem Gefangenen, niederzuknien. Weroaen verspürte einen beruhigenden Gedanken. Machen Sie die Zeremonie mit, Weroaen. Wir werden sehen, wie sie sich entwickelt und dann ein Ablenkungsmanöver versuchen. Wo ist Ihr Mentacom? Weroaen kniete nieder und beugte unterwürfig den Kopf. Draußen im Vorzimmer. Bei den anderen Kappen. Gut. Holen Sie es, Nerieda. Wir werden es nachher brauchen. Außerdem wollen wir es nicht herumliegen lassen. Irgendein Idiot könnte Unheil damit anrichten. Markorik schritt zum Altar. Zwei seiner Profose, die seine Amtsinsignien trugen, flankierten ihn – ein großes Buch und ein Stab, auf dem eine juwelenähnliche Linse angebracht war. Ein junger Assistent folgte ihm. Er trug seine Amtsrobe. Der Inquisitor erstieg die Altarstufen und nahm das Buch von seinem Träger entgegen. Er breitete es auf der Buchstütze aus und sah es einen Augenblick an. Der Assistent war ihm respektvoll beim Anlegen seines schweren, mit Edelsteinen besetzten Kragens und seines Kopfschmuckes behilflich, zupfte die Falten seiner Robe zurecht und trat zurück.
Markorik stand ein paar Sekunden da und blickte die in der Kapelle Versammelten an. Dann nahm er seinen Amtsstab entgegen. Schließlich blickte er auf Weroaen nieder. Sein Gesicht war jetzt streng und mißbilligend. »Erhebe dich, Gefangener, und stehe vor diesem Tribunal.« Er wartete, bis Weroaen vor dem Lesepult stand. »Wie heißt du, Gefangener?« »Man nennt mich Walur, den – « Markorik schlug mit der Hand auf sein Pult. »Ich will nicht wissen, wie man dich nennt. Sag mir, wie du heißt – deinen wirklichen Namen. Und versuche nicht, mir auszuweichen.« »Ich bin Walur, der Händler, Mylord.« »Und du weißt natürlich, warum man dich hierhergebracht hat?« »Nein, Mylord. Man hat mich ergriffen und schlecht behandelt, und dann hat man mir Namen gegeben, mit denen ich nicht vertraut bin. Ich wäre froh – « Wieder schlug Markoriks Hand auf das Lesepult. Der Schlag hallte durch die Kapelle. »Man hat dich gewarnt, Ketzer. Ich dulde keine Umschweife. Du glaubst nicht an die Dinge, die alle guten und treuen Menschen dieses Reiches für heilig halten. In kurzen Worten, du bist ein Ketzer. Du bist ein Anhänger dieser ketzerischen Hunde, die sich als Duernianer bezeichnen. Stimmt das?« Weroaen zögerte. Aber da erreichte ihn ein geistiger Befehl, der alle Versuche des Inquisitors, Druck auf ihn auszuüben, überlagerte. Sagen Sie nach, was ich vorsage. Er erwartet bestimmte Antworten, und die werden wir ihm geben. Genauso wie sie im Buch stehen. Langsam beginne ich, etwas zu ahnen. Weroaen schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Ungläubiger, Mylord.«
»Nun, was glaubst du dann?« »Ich glaube das, was Ihr und die anderen guten Lords mir sagen, daß ich glauben soll.« Eine kurze Weile wirkte Markoriks Blick beinahe liebevoll. Dieser Mann verhielt sich genau, wie man es von ihm erwartete. Das war das ideale Subjekt für eine Inquisition. Und schließlich würde er zusammenbrechen und Namen verraten. Oh, natürlich würde er zusammenbrechen. Sein Blick wurde wieder streng. »Und du schwörst, daß du nie etwas erfahren hast, was den Lehren der Großen Kirche von Jorik widerspricht?« »Wenn Ihr befehlt, daß ich schwören soll, dann werde ich schwören.« »Ich befehle dir gar nichts. Du bist der Angeklagte. Du und du allein bist es, der sich von dem Makel der Anklage reinwaschen muß. Wirst du schwören?« »Ja, Mylord.« Weroaen senkte unterwürfig die Augen. »Und du wirst Eide sonder Zahl schwören und hoffen, damit dem gerechten Schicksal zu entgehen, das Ketzern zuteil wird?« »Eide sonder Zahl, Mylord?« »Sonder Zahl«, sagte Markorik drohend. »Denn wisse, Ketzer, daß wir Zeugen für deine Untreue haben. Und so viele Eide du auch schwören wirst, so viele mehr werden wir von dir fordern. Und du sollst schwören, bis du in deinem verschrobenen Glauben dich in die ewige Strafe hineingeschworen hast.« Er runzelte die Stirn und deutete mit seinem Amtsstab. »Wirst du jetzt schwören?« Er hat den Köder angenommen, jetzt haben wir ihn an der Angel! Weroaen rang in einer Geste hoffnungsloser Angst die Hände.
»Mylord«, sagte er mit weinerlicher Stimme. »Ich weiß, daß ich Euch nicht länger täuschen kann. Ihr wißt, daß ich nicht endlose Eide schwören kann, ohne mich selbst zum ewigen Nichts zu verurteilen. Also werde ich meinen Glauben bekennen.« Er beugte den Kopf. »Ja, Mylord, ich war ein Anhänger von Duern, dem Erlöser.« »Ah«, rief Markorik, »und nachdem du dich der Gnade dieses Tribunals ausgeliefert hast, bist du auch bereit, deine Komplizen zu nennen, damit auch sie von ihrer Ketzerei befreit werden können?« »Mylord, ich muß. Nachdem ich das eine gestanden habe, werde ich alles gestehen müssen.« Weroaen blickte auf und sah sich in der Kapelle um. »Mein Moderator und Lehrer«, sagte er deutlich, »ist Karonu, Graf von Durolik, und sein Kapitän, Odurnis, ist mein Gefährte in unserem Orden.« Markorik sah sich in der Kapelle um und machte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung. Seine Profose richteten sich auf. Sie waren jetzt auf der Hut. »Und gibt es noch andere in diesem Haus?« »Ja, Mylord. Viele andere. Zu viele, um sie hier zu nennen.« Weroaen sah sich um. Durolik war aufgesprungen. Sein Gesicht war flammend rot. »Dieser Mann lügt!« schrie er wütend. »Damit will er bloß Verwirrung stiften und diese Inquisition in Mißkredit bringen.« Markorik musterte ihn kalt. »Es ist nicht die Inquisition, die er in Mißkredit bringt«, bemerkte er. »Und was sollte er damit gewinnen?« »Nun, er – « Durolik sah sich in der Kapelle um. Ja, fragte er sich, was wollte dieser Mann damit gewinnen? Seine eigenen Männer und die des Inquisitors betrachteten ihn. Er konnte unmöglich auf Flucht hoffen. Das Gesicht des Grafen veränderte die Farbe. Jetzt war es ganz weiß.
Jedermann, das wußte er, selbst ein verurteilter Ketzer, konnte vor einem Inquisitor Anklage erheben. Dieser Mann gestand und bezeichnete ihn – Durolik – in eben diesem Geständnis als seinen Lehrer. Und wer war jemals, wenn einmal Anklage erhoben war, als völlig schuldlos freigesprochen worden? Markorik hob den Arm. »Das«, so verkündete er, »bringt einen neuen Aspekt in unsere Inquisition. Ich werde nichts weiteres unternehmen, ehe ich meine Vorgesetzten verständigt habe.« Er nickte Weroaens Wächtern zu. »Man schaffe diesen Mann weg. Wir werden ihn als Zeugen festhalten.« Nerieda! Kerola! Einer der Soldaten des Grafen taumelte plötzlich nach vorn. Er streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, und packte einen von Weroaens Wächtern, der ihn zurückstieß und sein Schwert zog. Aber da schlug ein weiterer Soldat, der aus einer neuen Richtung kam, auf ihn ein. Während er zu Boden ging, wurde ein weiterer Wächter der Inquisition angegriffen. Er wich aus, und sein Schwert zuckte in einem genauen Bogen vor und traf den Angreifer im Nacken. Jemand schrie: »Zum Grafen! Es lebe Durolik!« Die Profose der Inquisition umringten mit gezogenen Waffen Markorik. Der hob seinen Stab mit der Linse und hielt ihn bereit. Und dann arbeiteten sich seine Leute mit gezogenen Schwertern, die sie rücksichtslos einsetzten, zur Tür der Kapelle, ohne darauf zu achten, wen sie trafen. Die Soldaten des Grafen versuchten, ihnen den Rückzug abzuschneiden. Wildes Geschrei erhob sich. Weroaen duckte sich hinter dem Pult und sah sich um. Plötzlich tauchte sein Mentacom vor ihm auf. Er legte es sich um den Kopf und drückte einen Knopf an seinem Gürtel, und plötzlich war er nicht mehr zu sehen.
Jetzt schaltete er den Flugmodulator ein und stieg zur Decke. Von dort aus fand er geradewegs zur Tür. Im Freien hielt er inne, um das Schlachtfeld zu betrachten. Inzwischen hatte sich eine erstklassige Prügelei entwickelt, die er ein paar Minuten interessiert beobachtete. Einige dieser Soldaten, so dachte er, hatten wirklich gelernt, wie man mit schweren Waffen umging. So mancher gute Fechter eines anderen Planeten hätte hier noch einiges dazulernen können. Markorik bahnte sich jetzt seinen Weg durch die Massen. Er hielt seinen Stab vor sich und richtete ihn auf solche, die ihn angreifen wollten. Die Männer griffen sich an den Leib und fielen zu Boden, krümmten sich vor Schmerzen, ehe sie erstarrten. Der Inquisitor arbeitete sich zu den Stallungen vor. Komm, befahl Meinora. Der Inquisitor muß entkommen. Er könnte uns sehr nützlich werden.
Laduro, der Geldverleiher, saß schweigend in der Ecke der Gaststube. Seit dem Aufruhr, den die Verhandlung gegen den Grafen von Dorulik mit sich gebracht hatte, hatte er es nicht gewagt, mit anderen Duernianern Verbindung aufzunehmen. Er blickte mürrisch auf das Weinglas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Natürlich, dachte er, war es ein unglaublicher Glückszufall gewesen, daß die betrunkenen Profose sich den Händler als Opfer auserwählt hatten. Ebensogut hätte es ein Geldverleiher sein können und er hätte vielleicht nicht so viel Glück wie jener Händler gehabt. Er rutschte unruhig auf seinem Sitz herum. Der Händler war recht geschickt gewesen. Er hätte nie daran gedacht, einen Adeligen anzuklagen und damit Verwirrung zu stiften. Aber wie hatte der Mann seine Flucht bewerkstelligt? Natürlich hatte seine Anklage die Inquisition in ein völliges
Chaos verwandelt. Aber es war blindes Glück gewesen, daß auch die Soldaten den Kopf verloren hatten. Und wohin war der Händler verschwunden? Jedenfalls hatte er nicht mit den Anhängern von Duern Verbindung aufgenommen. Der Geldverleiher hob sein Glas und nahm einen Schluck. Dieser Händler hatte wirklich ein Chaos ausgelöst. Markorik war mit Hilfe seines Zauberstabs aus der Grafschaft entflohen. Und die großen Schiffe des Kaisers waren nach Dorulik gekommen. Natürlich hatten die Leute des Grafen im Schloß sich so gut gewehrt wie sie konnten. Aber das Ganze war dennoch eine Demonstration geworden, wie sinnlos es war, sich gegen die Flugschiffe des Kaisers zu wehren. Dorulik lag heute in Ruinen, und der Graf hatte das Schicksal eines Ketzers erlitten. Laduro schüttelte den Kopf. Was vermochte Duerns Gefolgschaft auszurichten? Er und seine Leute, so erinnerte er sich, hatten ihre Anhänger aus der Grafschaft abziehen können. Und das war eine beachtliche Leistung. Und jetzt war aus dem kleinen Funken, der in Dorulik aufgeflammt war, ein rasendes Feuer geworden. Die Inquisition flammte über das Land, und niemand schien vor Anklagen sicher zu sein. Und keiner wurde als unschuldig freigesprochen. Kein Rang, kein Einfluß, keine erwiesene Frömmigkeit konnten ihn schützen. Vor den Inquisitoren waren alle gleich. Reiche, Arme, Adelige, Sklaven. Niemand war vor der Anklage und dem Prozeß sicher. Laduro schüttelte den Kopf. Es machte wenigstens kaum einen Unterschied, ob man der Gefolgschaft Duerns angehörte oder nicht. Die Gläubigen waren genauso sicher wie jeder andere. Beinahe, so schien es, sicherer. Es hatte Gerüchte gegeben – er schüttelte den Kopf. Das waren müßige Vermutungen.
Er wandte den Kopf und sah sich in der Gaststube um. Sie wirkte ganz ähnlich wie jener vertraute Raum in Dorulik. Da waren dieselben Tische, dieselben Kellnerinnen – selbst dieselben Gäste. Nur daß die Gesichter natürlich anders waren, aber – Die Tür ging auf und ein Hauch kalter Luft kam herein. Laduro sah den Mann prüfend an, der jetzt die Tür hinter sich schloß und sich in der Gaststube umsah. Er kam ihm bekannt vor. Der Blick des Händlers suchte die Gaststube ab und blieb schließlich an dem Geldverleiher hängen. Der Mann ging auf eine Kellnerin zu, sprach leise auf sie ein und trat an den Tisch des Geldverleihers. »Macht es Euch etwas aus, guter Freund, wenn ich mich eine Weile zu Ihnen setze? Ich bin müde, weil ich zu lange neben der Straße gereist bin.« Laduro sah den Mann an. »Ich bin auch gereist«, sagte er, »und über viele Steine gestolpert.« Der Händler nahm sein Bündel ab und stellte es auf den Boden. »Und seid Ihr auch über das weite Meer gereist und ebenso an den Felsen gestrandet, wie es mir ergangen ist?« Die Formel war komplett. Laduro sah sich im Zimmer um, prüfte, ob jemand besonders auf ihn oder seinen neuen Bekannten achtete. Die Kellnerin kam jetzt, aber niemand achtete auf die Männer in der Ecke. Die Bedienung nahm die angebotene Münze, sah sie prüfend an und ging wieder. Laduro wandte sich dem Händler zu. »Wir sind uns vielleicht schon einmal begegnet?« »Ja. Möge dieses Zusammentreffen glücklicher sein als das letzte.« Der Händler griff nach seinem Glas. »Ich habe Euch gesucht«, erklärte er, »Euch und andere. Es war schwer, Euch
zu finden.« Er nahm einen Schluck, stellte das Glas ab und sah Ladura an. »Lassen wir den Code«, sagte er. »Was könntet Ihr ausrichten, wenn Ihr über die Geheimnisse der Großen Schiffe von Jorik verfügtet und die Kraft von Alarom und die anderen Zauberkünste des Kaisers?« Laduro riß die Augen auf und hob das Glas an die Lippen. Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Schließlich faßte er einen Entschluß. »Nun«, sagte er, »unsere Gefolgschaft ist groß. Und wir haben Handwerker aus jeder Zunft.« Vorsichtig sah er sich in dem großen Saal um. »Wir könnten vieles tun«, fügte er hinzu. »Und wir könnten viele neue Gläubige sammeln, da es in diesen Tagen wenig Nutzen bringt, dem Kaiser zu folgen.« Er nahm sein Glas und trank schnell. Er leerte es. Dann sah er das Glas des Händlers an. »Dieses Bier macht müde«, sagte er. »Und hier ist auch nicht der Platz, um sich zu unterhalten. Folge mir, guter Freund, dann gehen wir zu einem anderen Ort, den ich gut kenne. Vielleicht finden wir dort andere, mit denen wir in Freundschaft und im Vertrauen sprechen können.«
Barskor blickte auf, als Meinora den Kontrollraum betrat. »Alle Berichte da, Sir?« »Ich habe mir gerade den letzten angesehen.« Meinora lehnte sich gegen ein Schott und rieb sich über die Wange. »Ich mache die Zusammenfassung unterwegs.« Er gähnte. »Jetzt bin ich etwas müde.« »Die Angaben über den Kurs durch den Vorhang kommen auch mit hinein, oder?«
»Aber natürlich.« Meinora blickte auf. »Ich habe die Einflugkarten alle auf einer der Spulen. Den Rest können wir eingeben, wenn wir wieder in normalem Raum sind. Diesmal sollte es ein glatterer Flug werden.« Barskor nickte. »Ja, das sollte es«, pflichtete er bei. »Die Daten, die wir haben, machen es viel leichter, und bis wir draußen sind, habe ich den Rest auf Band.« Er stellte einen Kurs ein, warf einen Blick auf die Bildkugel und lehnte sich zurück. »Der Autopilot schafft jetzt den Rest, bis wir das Schwerefeld des Systems hinter uns gelassen haben«, meinte er. »Und dann übernehme ich bis zum Vorhang, ehe ich wirklich Arbeit bekomme. Inzwischen habe ich eine Frage. Das heißt – falls es Ihnen nichts ausmacht.« »Oh? Nein, gar nicht. Was gibt’s denn?« »Gegen Ende zu schien es, als wären Delman und ich irgendwie unwichtig geworden. Wir hatten mit Quinbar zu tun, wie Sie wissen. Die meiste Zeit waren wir mit dem Rest des Teams in Verbindung. Aber irgend etwas haben wir da wohl nicht mitgekriegt.« Er schüttelte den Kopf. »Gegen Ende ging alles so schnell, daß wir bloß noch die Ansichten des Kaisers und seines Volkes mitkriegten. Und die haben nie richtig kapiert, was mit ihnen vorgegangen ist. Wie ist es denn wirklich gegangen?« Meinora lachte. »Wissen Sie«, sagte er, »Sie haben praktisch genau so viel mitgekriegt, wie die anderen. Als die Sache einmal ins Laufen kam, haben wir überhaupt nicht mehr viel getan. Und die Ereignisse liefen wirklich ziemlich schnell. Sie wissen natürlich, daß einige der Team-Mitglieder sich mit verschiedenen Inquisitoren befaßten und sie auch etwas anspornten?« »O ja.« Barskor grinste. »Das habe ich auch eine Zeitlang getan.«
»Nun, damit war die Szene vorbereitet. Und dann nahm Weroaen mit den Anhängern von Duern Verbindung auf. Er gab sich als abtrünniges Mitglied des Hauses Quinbar aus, der die, Wahrheit erkannt hatte, und behauptete, er habe die Pläne für praktisch sämtliche technischen Einrichtungen des Kaisers gestohlen. Er übergab die Antigravitationsmaschinen, den EnergieAkkumulator und all die anderen Anwendungen der Magnetogravitik, die Quinbars Leute sich je ausgedacht hatten. Und er gab den Duernianern auch die Pläne für ein Flugzeug.« Er spreizte die Hände. »Für diesen Planeten war nichts davon wirklich neu, wissen Sie. Man hatte diese Dinge erfunden und gleich wieder unterdrückt, um sie einer kleinen Gruppe vorzubehalten. Also war die Veröffentlichung ganz legitim.« Er zuckte die Achseln. »Ein bißchen tragen wir natürlich die Mitschuld«, gab er zu, »indem wir die Inquisitoren beeinflußten, allen – den Adeligen ebenso wie den Sklaven – das Leben so schwer zu machen, daß sie wirklich für alles reif waren. Und wir sorgten dafür, daß die Inquisition alle so auf Trab hielt, daß keiner Zeit hatte, die echten Duernianer zu belästigen.« Er lächelte. »Und deshalb hätte das Volk sich beinahe gegenseitig totgetrampelt, um ja noch mitmachen zu können, als die Duernianer Quinbar angriffen«, fügte er hinzu. »Eines ist allerdings neu«, sagte er nachdenklich. »Dieser modulierte Strahl, womit sie Quinbars Fabriken und sein Schloß in Schutt und Asche legten – den hatten sie nicht von uns bekommen. Den haben sie selber erfunden.« Er schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie, ich glaube, die werden in gar nicht zu ferner Zukunft aus ihrer Dunkelwolke kommen und sich die Galaxis ansehen. Und diesmal glaube ich nicht, daß sie es nötig haben werden, Missionare zu schicken.«
Originaltitel: THE MISSIONARIES. Copyright © 1956 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Mai 1956.
F. L. Wallace AHNENFORSCHUNG
Im Sitzen ähnelte Taphetta, das Bänderwesen, einer riesigen Phantasieschleife, mit der man Geschenkpäckchen schmückt. Seine vier flachen Beine, sein Körper und sein Hals waren nach außen gebogen und wieder nach innen, zu einem Mittelpunkt hin, über dem der Kopf ruhte, der, wenn man bei dem Vergleich mit der Schleife bleiben will, den Knoten darstellte. Von allen Körperteilen besaß nur der Kopf nennenswerte Dicke. Ein rundes Dutzend langer, schmalerer Bänder krönte ihn. Taphetta rieb seine Kopfbänder aneinander und vermochte damit die menschliche Sprache überraschend gut nachzuahmen. »Ja, ich habe von der Legende gehört.« »Es ist mehr als eine Legende«, sagte Sam Halden, der Biologe. Er hatte genau diese Reaktion von Taphetta erwartet. Taphetta neigte dazu, Tatsachen als eine Spekulation und nichts weiter abzutun. »Es gibt wenigstens hundert verschiedene Arten von Menschenwesen, und von allen behauptet man, daß sie unabhängig und in strengster Abgeschiedenheit auf unzähligen Planeten entstanden sind. Es besteht kein Zweifel, daß es vor dem Raumzeitalter keine Verbindung dieser Rassen untereinander gegeben hat – und trotzdem kann jede dieser individuellen planetarischen Rassen sich mit mindestens zehn anderen Rassen fortpflanzen! Das ist mehr als eine Legende – so leicht kann man es sich nicht machen!«
»Es ist beeindruckend«, räumte Taphetta ein. »Trotzdem finde ich es – gelinde gesagt – ein wenig widerwärtig, mich mit jemand zu paaren, der nicht meiner Rasse angehört.« »Das ist verständlich. Du bist ja auch einmalig«, sagte Halden. »Auf keinem anderen Planeten existieren Wesen, die deiner Rasse ähnlich wären, wenn man von einigen Äußerlichkeiten absieht. Dasselbe gilt für alle anderen Rassen der Galaxis, ob sie nun intelligent sind oder nicht. Wir Menschen bilden da die einzige Ausnahme. Tatsächlich repräsentieren wir hier – wenn auch rein zufällig – fast lückenlos das biologische Spektrum der menschlichen Entwicklung. Emmer, ein Neandertaltyp und Archäologe unseres Teams, steht etwa an dem einen Ende dieser Skala. Ich bin von der Erde – ich stehe ungefähr in der Mitte, aber mehr auf Emmers Seite. Meredith, unsere Sprachwissenschaftlerin, befindet sich auf der anderen Seite der Mitte. Und noch weiter zum anderen Ende hin steht Kelburn, unser Mathematiker. Parallel zu dieser Rangordnung läuft die Fähigkeit, sich mit den anderen Rassen fortpflanzen zu können. Emmer könnte sich nicht mit einem Mitglied meiner Rasse paaren, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, daß ich mit Meredith Kinder haben könnte, und sie wiederum könnte – allerdings mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit – mit Kelburn Nachkommen zeugen.« Taphetta raschelte mit seinen Sprechbändern. »Aber ich dachte, man hätte nachgewiesen, daß die menschliche Rasse sich auf einem einzigen Planeten entwickelt hat und daß man auf diesem Planeten eine ununterbrochene Evolutionslinie über fast eine Milliarde Jahre zurückverfolgen konnte?« »Du denkst jetzt an die Erde«, sagte Halden. »Menschen brauchen eine bestimmte Art von Planeten. Falls wir einmal – und das ist unsere Theorie – vor undenklichen Zeiten auf hundert verschiedenen Planeten abgesetzt worden sind – wir
wissen nicht, wer das getan hat –, dann war zu erwarten, daß es unter all diesen Planeten bestimmt einen gegeben hat, auf dem selbständig eine ähnliche Lebensform entstanden ist. Das trifft auf den Planeten Erde zu. Als die Menschen kamen, gab es dort tatsächlich schon menschenähnliche Wesen. Unsere Wissenschaftler begingen den Fehler, diese Wesen mit zur menschlichen Rasse zu zählen. Auf diese Weise sind sie auf eine Entwicklungsgeschichte von einer Milliarde Jahre gekommen. Heute wissen wir, daß diese Theorie nicht zutrifft. Aber auf allen anderen von Menschen bewohnten Planeten läßt sich die Entwicklung unserer Rasse nur ein paar hunderttausend Jahre zurückverfolgen. Der Mensch taucht plötzlich auf. Es gibt keinerlei Beweise für eine Verwandtschaft mit anderen dort ansässigen Lebensformen. Daraus müssen wir schließen, daß der Mensch ursprünglich auf keinem der Planeten entstanden ist, auf denen es ihn heute gibt. Statt dessen hat er sich irgendwo anders entwickelt und sich später über diesen Sektor der Galaxis ausgebreitet. Unerklärlich ist nur, wie das überhaupt möglich sein konnte. Zu dieser Zeit kannte nämlich noch keine der menschlichen Rassen die Raumfahrt.« »Und deshalb habt ihr euren legendären Stammvater erfunden, nur um die Herkunft dieser einmaligen Rasse zu erklären, die auf Tausende von Lichtjahren voneinander entfernten Planeten aufwuchs und sich trotzdem untereinander fortpflanzen kann?« fragte Taphetta. »Ich weiß nicht, ob eine solche Simplifizierung wirklich zulässig ist.« »Kannst du uns eine andere Erklärung anbieten?« fragte Halden. »Irgend jemand oder irgend etwas muß unsere Rasse so weit verstreut haben. Wir haben es hier nicht mit dem Ergebnis zufälliger Parallelentwicklungen zu tun – nicht, wenn
mehr als hundert verschiedene menschliche Rassen davon betroffen sind. Menschliche Rassen – nur diese, sonst keine.« »Nun, mir fällt auch keine andere Erklärung ein«, sagte Taphetta und brachte seine Bänder in eine andere Lage. »Und, ehrlich gesagt, interessiert sich auch sonst niemand so sehr für die verschiedenen Theorien, die die Menschen über ihren Ursprung aufstellen.« Taphettas Einstellung war durchaus begreiflich. Zahlenmäßig betrachtet war die Menschheit die absolut führende Rasse in der bekannten Galaxis. Es gab zwar noch andere Rassen, die – wie zum Beispiel die Bänderwesen – noch höher entwickelt waren als die Menschen. Aber gerade ihrer Zahl wegen hatte man überall so etwas wie Angst vor den Menschen. Wenn es jemals dazu kommen sollte, daß alle menschlichen Rassen sich vereinigten… Aber bis jetzt war ihre gemeinsame Abstammung das einzige, worauf sie sich einigen konnten. Sam Halden griff den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. »Du hast sicher schon von der sogenannten Nachbarschaftsfruchtbarkeit gehört?« fragte er Taphetta. »Ja, oberflächlich. Die meisten Wesen, die einmal mit Menschen zusammengekommen sind, wissen davon.« »Wir besitzen inzwischen neue Daten und können diese Theorie jetzt noch besser interpretieren. Sie besagt in etwa, daß alle Menschenrassen, die sich untereinander fortpflanzen können, sich einst räumlich näher gewesen sein müssen. Wenn die planetarische Rasse F sich mit den Rassen A bis N paaren kann, Rasse G dagegen mit den Rassen B bis O, dann können wir annehmen, daß – gleichgültig, wo sie sich heute befinden – die Rasse G früher irgendwann einmal Nachbar der Rasse F gewesen sein muß. Wenn wir die Sonnensysteme, die die Menschheit vor dem Raumzeitalter bewohnt hat, in die Vergangenheit zurückverfolgen und ihren damaligen Zeitpunkt festlegen, erhalten wir eine ganz bestimmte und auffällige
Anordnung dieser Systeme. Kelburn kann dir das besser erklären.« Der normalerweise rosa gefärbte Körper Taphettas rötete sich leicht. Der Wechsel in der Farbe war kaum zu bemerken, genügte aber, um sein erwachtes Interesse erkennen zu lassen. Kelburn trat an den Projektor. »Es wäre leichter, wenn wir alle Sonnen der Galaxis kennen würden, aber selbst wenn wir nur einen kleinen Teil erforscht haben, so ist es doch möglich, ein einigermaßen zufriedenstellendes Bild der Vergangenheit zu rekonstruieren.« Er drückte auf einige Tasten, und sofort erschienen Sterne auf dem Bildschirm. »Wir blicken jetzt auf die Ebene der Galaxis hinab. Das hier ist unser Spiralarm, so wie er sich uns heute darstellt, und das sind die von Menschen bewohnten Systeme.« Er drückte auf eine andere Taste, worauf einige Sterne plötzlich heller strahlten. Noch war keine Ordnung in ihrer Lage zueinander zu erkennen. Sie waren willkürlich zwischen den anderen Sonnen verstreut. »Bekanntlich rotiert die gesamte Galaxis innerhalb eines sehr großen Zeitraums um einen imaginären Mittelpunkt. Und obgleich dabei gewöhnlich die Sterne eines bestimmten Sektors ihre Position zueinander beibehalten, so kann man doch auch eine gewisse Eigenbewegung feststellen. So sieht die Sternanordnung aus, wenn wir den Standort der Sterne dieses Sektors in der Vergangenheit rekonstruieren.« Lichtpünktchen huschten über den Schirm. »Die Sternpositionen vor zweihunderttausend Jahren«, erklärte Kelburn. Plötzlich konnte man erkennen, daß die heller strahlenden Sterne deutlich ein Muster bildeten. Sie standen in gleichmäßigen Abständen entlang einer regelmäßigen Kurve. Die Kurve erinnerte an ein Hufeisen, dessen Enden man noch
stärker zusammengebogen hat. Hätte man die Linien über die Endpunkte hinaus verlängert, so würden sie sich getroffen haben. Taphetta raschelte: »Stimmen die Berechnungen?« »So genau wie das eben bei einem Millionen-KörperProblem möglich ist.« »Dann wäre das also die hypothetische Reiseroute eures legendären Stammvaters?« »Das vermuten wir«, sagte Kelburn. »Denn wenn es auch heute Menschenrassen gibt, die sich untereinander nicht paaren können, obwohl sie unmittelbare Nachbarn sind, so könnten sie es doch mit denjenigen, in deren Nähe sie sich vor zweihunderttausend Jahren befunden haben.« »Das Nachbarschafts-Fruchtbarkeits-Prinzip. Ich habe noch nie eine so überzeugende Darstellung gesehen«, raschelte Taphetta leise. »Ist das der einzige Zeitpunkt, der eine solche Anordnung ergibt?« »Ja, plus oder minus fünfzigtausend Jahre, aber auch dann bekommen wir noch eine Kurve, die die Flugbahn eines Raumschiffes darstellen mag, das einen entsprechenden Sektor abfliegt«, erklärte Kelburn. »Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten der Zeitbestimmung. Auf einigen Welten, die außer den Menschen keine Säugetiere aufweisen, kann man die ersten menschlichen Fossilien chronologisch einordnen. Wir glauben daher, daß wir die alte Reiseroute unserer Vorfahren einigermaßen richtig bestimmt haben.« Taphetta deutete mit einem seiner Kopfbänder auf die Karte. »Und ihr glaubt, daß euer Ursprung da liegt, wo die Fortsetzung der beiden Linien sich kreuzen muß?« »Ja, das nehmen wir an«, sagte Kelburn. »Wir haben das in Frage kommende Gebiet auf ein Kubiklichtjahr einengen können – im Zustand zur damaligen Zeit. Jetzt ist es natürlich sehr viel größer. Und wenn die Sonne unserer Vorfahren sich
sehr schnell bewegte, liegt der Ursprung möglicherweise sogar außerhalb des Gebietes, das wir bisher erforscht haben. Aber wir sind davon überzeugt, daß wir auf dieser Expedition eine gute Chance haben, ihn zu finden.« »Dann muß ich mich wohl schnell entscheiden.« Taphetta warf einen Blick durch die Sichtluke, vor der ein anderes Schiff reglos im Raum hing. »Darf ich noch ein paar Fragen stellen?« »Bitte«, forderte Kelburn auf. »Solange es sich um Mathematik handelt. Für das andere ist Halden zuständig. Er ist der Leiter unserer Expedition.« Taphetta wandte sich Halden zu. »Warum hast du eigentlich ausgerechnet mich verlangt? Ich meine, wenn man einmal davon absieht, daß dein Pilot plötzlich krank wurde.« Halden erwiderte: »Eigentlich haben wir das gar nicht getan. Unser Pilot erkrankte, und wir hatten nicht die Möglichkeit, ihm die Pflege und Behandlung zuteil werden zu lassen, die in seinem Fall nötig war. Glücklicherweise entdeckten wir das Schiff und meldeten uns, denn bis zum nächsten Planeten beträgt die Reisezeit vier Monate, und das hätte einen beträchtlichen Zeitverlust bedeutet. Der Kapitän des anderen Schiffes willigte ein, unseren Piloten mitzunehmen, und erzählte uns, daß er einen erfahrenen Piloten als Passagier an Bord habe. Wir haben zwar auch Leute an Bord, die provisorisch die Leitung des Schiffes übernehmen könnten; aber das Gebiet, das wir anfliegen wollen, ist noch ziemlich unerschlossen, und wir würden es daher vorziehen, einen Experten an der Hand zu haben – und Bänderwesen sind für ihre Navigationskunst berühmt.« Taphetta krümmte sich höflich, als er das Lob hörte. »Ich hatte eigentlich andere Pläne, aber einer beruflichen Verpflichtung kann ich mich nicht entziehen, und außerdem
rangieren Notfälle wie dieser vor allen anderen Verpflichtungen. Wie steht es mit dem Vertrag?« Sam Halden hustete. »Wir haben euren Standardvertrag übernommen. Allerdings haben wir ihn etwas vereinfacht, dafür aber den Pilotenanteil am Profit, den wir aus irgendwelchen Entdeckungen machen, etwas erhöht.« »Wirklich schmeichelhaft, daß ihr unseren Vertrag so hoch bewertet, daß ihr ihn übernehmt«, sagte Taphetta. »Leider muß ich aber darauf bestehen, daß wir ihn in unserer ungekürzten Fassung abschließen. Wenn ihr mich als Pilot haben wollt, muß ich euch bitten, meinen Vertrag zu unterschreiben. Ich habe ihn gleich mitgebracht.« Er hielt Halden eine zugeschnürte Rolle entgegen, die er bis jetzt irgendwie an seinem Körper verborgen gehalten hatte. Die Menschen sahen sich gegenseitig an, während Halden die Rolle entgegennahm. »Du kannst ihn gern durchlesen«, sagte Taphetta, »obwohl das viel Zeit in Anspruch nimmt. Es ist Mikrodruck. Aber du brauchst nicht zu befürchten, daß ich dich hintergehen möchte. Dieser Vertrag wird überall, wo wir hinkommen, geschätzt. Und wir kommen wirklich fast überall hin – auch an Orte, wo noch nie Menschen gewesen sind.« Wenn sie Taphetta haben wollten, blieb ihnen keine andere Wahl, und sie brauchten ihn. Außerdem – die Lauterkeit eines Bänderwesens stand außer Zweifel. Halden unterschrieb. »Gut.« Taphetta krümmte sich. »Bitte, gebt den Vertrag dem Schiff mit. Man wird ihn für mich befördern, und du kannst dem Kapitän sagen, daß er ohne mich die Reise fortsetzen soll.« Er raschelte mit seinen Bändern. »Wenn du mir jetzt die Karten bringen würdest, könnten wir unser Zielgebiet etwas näher untersuchen.«
Firmon, der Hydroponik-Spezialist, kam herein. Er war ein großer Mann mit spärlichem Haarwuchs und schwerfälligem, ungelenkem Wesen. Es schien ihn einige Überwindung zu kosten, Meredith nicht ununterbrochen anzustarren. Dabei stand er auf einer höheren Entwicklungsstufe als sie und hätte eigentlich gar nicht an ihr interessiert sein dürfen. Aber seine Rasse hatte sich unerklärlich langsam entwickelt, und so war Firmon sich seines Standortes in der Hierarchie der Rassen nicht immer richtig bewußt. Firmon wandte sich an den Biologen. »Der neue Pilot mag unsere Luft nicht.« »Dann ändern Sie die Zusammensetzung, bis sie ihm zusagt. Er hat die Leitung dieses Schiffes und versteht auch mehr von diesen Dingen als wir.« »Mehr als ein Mensch?« Firmon schielte bei diesen Worten zu Meredith hinüber, fügte aber dann, als sie nicht wie erwartet lächelte, hinzu: »Ich habe schon versucht, die Zusammensetzung zu ändern, aber er beklagt sich immer noch.« Halden atmete tief ein, um die Luft zu prüfen. »Mir fällt nichts auf. Scheint alles in Ordnung zu sein.« »Habe ich auch gesagt. Aber dieser überdimensionale Bandwurm hat keine Lungen, sondern atmet durch eine Million Körperporen. Und die scheinen sehr empfindlich zu sein.« Es hatte keinen Zweck, Firmon klarzumachen, daß Taphetta kein Wurm war, daß seine Entwicklung zwar anders gelaufen war als die des Menschen, aber daß er dabei in keiner Weise weniger komplex gebaut war als ein Mensch. Es war ein Paradoxon, daß viele der höherstehenden Menschenrassen geistig oft nicht so weit fortgeschritten waren wie niedrigere. Eigentlich waren sie noch gar nicht richtig auf die Vielfalt der
fremdartigen Lebensformen vorbereitet, die sie im Weltraum antrafen. Firmons Reaktion war da ganz typisch. »Wenn Taphetta nach reinerer Luft verlangt, dann sicher nur, weil sein Körper sie haben muß. Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, um seinen Wunsch zu erfüllen.« »Geht nicht. Besser kann ich die Luft nicht machen. Taphetta meinte, Sie wüßten vielleicht einen Ausweg.« »Hydroponik ist Ihr Gebiet. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Halden zögerte. »Oder stimmt vielleicht mit den Pflanzen etwas nicht?« »So könnte man auch sagen.« »Was ist es denn? Eine Krankheit?« »Nein, die Pflanzen sind alle gesund. Aber etwas knabbert an ihnen. Sie können gar nicht schnell genug nachwachsen.« »Insekten? Dürfte eigentlich nicht vorkommen. Aber wenn es zutrifft – es gibt doch Gegenmittel. Warum setzen Sie die nicht ein?« »Es sind keine Insekten«, erklärte Firmon. »Es ist ein größeres Tier. Wir haben es mit Gift versucht und ein paar von ihnen erwischt. Aber jetzt rühren sie das Gift nicht mehr an. Ich habe von der Elektronikabteilung ein paar Fallen bauen lassen, aber die Biester scheinen zu wissen, was ihnen blüht, und deshalb machen sie einen großen Bogen um die Fallen. Jedenfalls haben wir keins mehr gefangen.« Halden sah den Mann durchdringend an. »Wie lange geht das denn schon so?« »Etwa seit drei Monaten. Es ist nicht schlimm. Wir kommen schon damit zurecht.« Vermutlich hatte er recht. Aber ein Schädling auf dem Schiff war lästig, insbesondere jetzt, wo sie ein Bänderwesen als Pilot an Bord hatten. »Was wissen Sie über die Biester?« fragte Halden.
»Es sind kleine Dinger, ungefähr so lang.« Firmon zeigte es mit den Händen. »Ich weiß auch nicht, wie sie an Bord gekommen sind, aber als sie einmal hier waren, haben sie sofort Verstecke gefunden.« Er blickte Halden an. »Das Schiff ist alt, und wir haben neue Geräte eingebaut. Jetzt verstecken die sich unter den Maschinen. Wir können gar nichts machen – höchstens das ganze Schiff zerlegen und neu zusammensetzen.« Firmon hatte recht. Die neuen Anlagen waren an jedem verfügbaren freien Platz untergebracht worden, und es gab daher eine Menge Ecken und unzugänglicher Winkel, die man nicht abschließen konnte. Sie konnten auch nicht eine Wache aufstellen, die die Tiere bei ihrem Auftauchen abschießen könnte. Dazu hatten sie nicht genug Leute an Bord. Außerdem würde so ein Gemetzel vermutlich den Pflanzen mehr schaden als den Tieren. Er mußte eine andere Lösung finden. Sam Halden stand auf. »Ich werde mich einmal umsehen.« »Ich komme mit und helfe Ihnen«, sagte Meredith und lehnte sich gegen ihn. »Schließlich will ich als Ihre Geliebte auch ein paar Vorrechte genießen.« Halden zuckte zusammen. Sie wußte also, daß die Mannschaft sie als seine Geliebte bezeichnete! Vielleicht wollte sie damit auch nur Firmon ärgern. Aber er wünschte, sie hätte es nicht gesagt. Schließlich machte das die Lage nicht besser.
Taphetta saß in einem Sessel, der eigentlich für einen Menschen gebaut war. Taphettas beweglichem Körper machte das nichts aus. Vielleicht konnte man das, was er tat, nicht gerade Sitzen nennen, denn er hatte die Beine um den Körper geschlungen, und sein Kopf lag auf der Sitzfläche des Sessels.
Die Kopfbänder, die ihm gleichermaßen als Arme und als Sprechorgane dienten, bewegten sich unaufhörlich. Er sah zuerst Halden, dann Emmer und dann wieder Halden an. »Ihr Hydroponik-Spezialist sagte mir, du wolltest ein Experiment anstellen?« Halden zuckte die Achseln. »Wir brauchen bessere Luft. Aber wir wissen natürlich nicht, ob es funktioniert.« »Ungeziefer auf einem Schiff? Widerlich! Mein Volk würde so etwas nie dulden.« »Wir auch nicht.« Das Bänderwesen schien sich langsam zu beruhigen. »Um was für Tiere handelt es sich denn?« »Man hat mir eine Beschreibung gegeben, aber gesehen habe ich noch keines von den Biestern. Es soll ein vierbeiniges Tier sein, mit zwei Antennen an der Schädelbasis. Ein typischer Schädling.« Taphetta raschelte: »Habt ihr herausgekriegt, wie sie an Bord gekommen sind?« »Wahrscheinlich zusammen mit den Vorräten«, meinte der Biologe. »Wo das allerdings geschehen ist, kann man jetzt nicht mehr sagen. Wir haben ein halbes Dutzend Planeten besucht. Jedenfalls hat es sich versteckt. Wir haben noch etwas Unangenehmes festgestellt. Vermutlich haben sich die Schädlinge in nächster Nähe der Außenhaut oder unter den Maschinen verborgen. Jedenfalls haben sie eine gehörige Portion harter Strahlung abbekommen und sind dabei mutiert. Jetzt ist ein Tier neuen Typs daraus geworden, das gegenüber den Giften immun ist, mit denen wir unsere Pflanzen besprühen. Und anderen Fallen, selbst solchen elektronischer Art, weichen die Biester mit unheimlicher Raffinesse aus.« »Willst du damit sagen, daß sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig mutiert haben? Ich meine, klüger geworden sind?«
»Ja, das möchte ich sagen. Es muß sich um ziemlich intelligente Lebewesen handeln, da es schwer ist, sie zu beseitigen. Trotzdem glaube ich, daß wir sie in eine Falle locken können. Die Köder müssen nur reizvoll genug sein.« »Das gefällt mir gar nicht«, sagte Taphetta und krümmte sich. »Ich will mir das noch einmal überlegen. Vorher aber ein paar Fragen.« Er wandte sich Emmer zu: »Ich möchte gern mehr über eure Entstehungstheorie erfahren. Was kannst du mir noch über euren geheimnisvollen Ahnherrn erzählen?« Wenn man Emmer ansah, konnte man sich einfach nicht vorstellen, daß hinter seiner fliehenden Stirn ein genialer Geist wohnte. Er sah zwar aus wie der irdische Neandertaler, aber seine geistigen Fähigkeiten entsprachen denen eines hochentwickelten Menschen. Und auf seinem Fachgebiet genoß er einen hervorragenden Ruf. »Nun, ich bin auf einer Welt geboren, auf der es unzählige Ruinen gibt. Hast du noch nie Bilder davon gesehen? Wirklich eindrucksvoll. Dabei handelte es sich vermutlich nur um provisorische Gebäude, eine Art Lager. Riesige monolithische einstöckige Strukturen. Das Ganze aus einem Material, das wir bis jetzt nicht analysieren konnten. Vermutlich war meine Welt eine der ersten, auf der die Expedition zwischenlandete. Hier bauten sie noch ziemlich sorgfältig. Aus den Türen der Gebäude kann man auf die Größe dieser Wesen schließen. Die Türöffnungen sind zehn Meter hoch.« »Das ist allerdings erstaunlich«, raschelte Taphetta. Es war schwierig zu sagen, wie sehr ihn das Gehörte beeindruckte. »Habt ihr sonst noch etwas in den Ruinen gefunden?« »Nichts«, sagte Emmer. »Außer den Bauten haben sie nichts zurückgelassen. Kein Schriftstück, kein Werkzeug, kein einziges Bild. Sie haben in weniger als fünftausend Jahren etwa dreißigtausend Lichtjahre zurückgelegt – und dabei
scheint während der ganzen Zeit kein einziger von ihnen gestorben zu sein.« »Ein Überlichtgeschwindigkeitsantrieb und eine sehr hohe Lebenserwartung«, überlegte Taphetta laut. »Aber für ihre Nachkommen, also für euch, haben sie nichts hinterlassen, keinerlei Informationen? Ist das nicht eigenartig?« »Wer kann das sagen? Ihre Gedankengänge haben sich bestimmt von den unseren sehr stark unterschieden. Vielleicht wollten sie, daß wir von vornherein auf eigenen Füßen standen. Wir wissen nur, daß sie nach einer ganz bestimmten Art von Planeten Ausschau hielten – ungefähr von der Art der Erde. Sie besuchten nämlich nur Planeten dieses Typs, obwohl sie sich auf keinem davon endgültig niederließen. Vielleicht entsprach keiner der Planeten ihren besonderen Anforderungen. Wir wissen nicht, was mit ihrem Heimatplaneten geschehen ist. Vielleicht haben sie auch festgestellt, daß es in der ganzen Milchstraße die Art von Planet, die sie brauchten, überhaupt nicht gab. Ihre Wissenschaft war ungeheuer weit fortgeschritten, und als sie das dann erfuhren, veränderten sie ihr Keimplasma und ließen ein paar der ihren zurück in der Hoffnung, daß einige von ihnen überleben würden. Und die meisten sind ja auch durchgekommen.« »Ich kann nicht recht an die Theorie von diesem besonderen Planeten glauben«, murmelte Taphetta. »Es ist trotzdem möglich, wenn man sich näher mit dieser Frage beschäftigt«, fuhr Emmer fort. »Ich will dir ein Beispiel nennen: fünfzig menschliche Rassen haben unabhängig voneinander die Weltraumfahrt entwickelt, und unter diesen fünfzig Rassen waren genau so viele weit wie weniger weit in ihrer individuellen Entwicklung fortgeschrittene Arten der Gesamtmenschheit. Es ist allgemein bekannt, daß einzelne Mitglieder meiner Rasse manchmal genauso intelligent sind
wie Mitglieder von Haldens oder Merediths Rasse. Aber im ganzen gesehen haben wir nicht die gleiche Denkkapazität wie diese Rassen, und trotzdem ist unsere Zivilisation genauso weit entwickelt wie die ihre. Der Unterschied? Der muß irgendwie den Planeten zugeschrieben werden, auf denen wir leben, und es ist schwer zu sagen, was es ist.« »Was geschah mit den Rassen, die die Weltraumfahrt nicht entwickelt haben?« fragte Taphetta. »Denen haben wir geholfen«, sagte Emmer. Und das hatten sie auch getan, gleichgültig, wer oder was sie waren, gleichgültig, ob sie noch mitten in der Bronzezeit oder an der Schwelle des Atomzeitalters standen – einfach weil es Menschen waren. Für Nicht-Menschen war es ein beklemmender Gedanke, daß diese Rasse so zusammenhielt. Die Menschen waren nicht eigentlich aggressiv, aber ihre Gesamtzahl war so ungeheuer groß, und sie hielten sich von den anderen intelligenten Rassen immer etwas abgesondert. Wieder spielte hier der legendäre Urahn eine Rolle. Wer sonst hatte einen so geheimnisvollen Ursprung – und – wie man stillschweigend annahm – eine solche Bestimmung? Taphetta fragte weiter: »Und was erhofft ihr euch davon, wenn ihr jetzt euren unbekannten Stammvater finden solltet?« Halden war es, der darauf antwortete: »Nun, da ist zunächst die Genugtuung zu wissen, woher wir kommen.« »Natürlich«, raschelte Taphetta. »Aber diese Expedition hat sicherlich eine Menge Geld gekostet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Institute, die diese Expedition finanzieren, sich nur die Befriedigung ihrer Neugierde davon erhoffen.« »Entdeckungen aller Art«, sagte Emmer. »Wie haben unsere Vorfahren gelebt? Wenn ein Lebewesen in seiner Größe schrumpft, dann verändert es dabei nicht nur seine körperlichen Funktionen – der ganze Lebensrhythmus wird davon betroffen. Dinge, die ihnen leicht fielen, sind uns
vielleicht unmöglich. Man denke bloß an die Lebenserwartung.« »Zweifellos«, sagt Taphetta. »Für einen Archäologen sind da bestimmt eine Menge interessanter Entdeckungen zu machen.« »Sie hatten bereits vor zweihunderttausend Jahren eine ungemein weit fortgeschrittene Zivilisation«, fügte Halden hinzu. »Sie besaßen einen Raumschiffantrieb, der ihnen den Flug mit Überlichtgeschwindigkeit gestattete. Wir haben dieses Prinzip erst vor knapp tausend Jahren entdeckt.« »Aber ich glaube, der Antrieb, den wir haben, ist besser als der ihre«, sagte das Bänderwesen. »Es mag Dinge auf mechanischem oder physikalischem Gebiet geben, die von ihnen lernen könnten, aber würdest du nicht sagen, daß eure Vorfahren in erster Linie auf dem Gebiet der Biologie begabt waren?« Halden nickte. »Das stimmt. Wenn es ihnen möglich war, uns durch die Veränderung ihrer Zellkerne zu erzeugen, dann müssen es wahre Genies der Biologie gewesen sein.« »Das denke ich auch«, sagte Taphetta. »Ich muß gestehen, ich habe, ehe ich dieses Schiff betrat, euren phantastischen Theorien nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet, aber du hast mich überzeugt.« Er hob den Kopf, und seine Sprechbänder flatterten. »Ich habe mir die Sache mit den Schädlingen noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben; wir werden wohl oder übel einen Köder auslegen müssen.« Halden hätte das ohnehin getan, aber es war besser, wenn auch der Pilot zustimmte. Und da war noch eine Frage, die Halden stellen wollte; sie beschäftigte ihn bereits seit einiger Zeit: »Welcher Unterschied besteht denn eigentlich zwischen eurem Standard-Vertrag und dem, den wir dir angeboten haben? Unsere Bedingungen waren doch großzügiger.«
»Für den einzelnen bestimmt, aber darauf kommt es gar nicht an, wenn ihr so viel entdeckt, wie ihr euch vorgenommen habt. Der Unterschied ist der: unter den Bedingungen meines Vertrags habt ihr nicht das Recht, irgendwelche Entdeckungen oder Erkenntnisse zurückzuhalten.« Da irrte Taphetta; sie hatten nicht beabsichtigt, etwas zu verbergen. Halden überlegte. Er hatte das jedenfalls nicht beabsichtigt, aber traf das auch für die Institute zu, die die Expedition finanzierten? Das konnte er nicht sagen – und jetzt war es zu spät. Sie würden ihr Wissen mit den anderen Rassen teilen müssen. Und darauf hatte Taphetta es abgesehen gehabt. Eine Rasse, die sich selbst durch kontrollierte Veränderung der Zellkerne weiterentwickeln konnte, hatte einen Vorsprung vor anderen Rassen, der nie mehr einzuholen wäre. Aber dieses Problem brauchte das Bänderwesen jetzt nicht nehr zu beunruhigen.
»Warum müssen wir es auf dem Bildschirm beobachten?« fragte Meredith und blickte auf. »Ich wäre lieber in der Hydroponik-Abteilung.« Halden zuckte die Achseln. »Vielleicht sind sie klüger als ihre Artgenossen, die auf Planeten leben. Vielleicht auch bloß vorsichtiger. Jedenfalls lassen sie sich nicht sehen, wenn jemand in der Nähe ist.« Das Licht der Lampen in der Hydroponik-Abteilung, das auf dem Schirm zu sehen war, wurde langsam schwächer. Das Bild auf dem TV-Schirm verdunkelte sich entsprechend, bis Halden die Infrarotanlage einschaltete. Dann gab er den beiden Mannschaftsmitgliedern, von denen jeder vor einem Bildschirm saß, ein Zeichen. »Fertig?«
Als die beiden nickten, sagte Halden: »Also, wir machen es jetzt genauso wie wir es geübt haben. Achtet darauf, daß ihr so wenig Lärm wie möglich verursacht.« Zuerst geschah überhaupt nichts. Dann tauchte zwischen den Blättern ein grauer Schatten auf. Lauschend und sichernd schlich er vor, bis er den Rand des Hydroponiktanks erreicht hatte. Dann hielt er an, sprang herunter und rannte zum nächsten Tank. Dort verhielt das Tier. Seine Augen glitzerten. Die Fühler an seinem Kopf bewegten sich nach allen Seiten. Noch einmal blickte es sich um, sprang in die Höhe, hielt sich am Tankrand fest und zog sich daran hinauf. Dann begann es, an den Blättern zu knabbern. Plötzlich drehte es sich um. Hinter ihm, bis jetzt unbemerkt, stand ein zweiter Schatten, dem ersten sehr ähnlich, aber größer. Der Neuankömmling kroch langsam weiter. Der Kleine zog sich rutschend zurück. Unerwartet machte der Große einen mächtigen Satz. Der Kleine versuchte zu fliehen, aber da hatte der Große ihn schon mit zwei Sprüngen eingeholt und biß erbarmungslos auf seinen Gegner ein. Er biß noch ein paarmal zu, selbst als der Kleine schon dalag, ohne sich zu rühren. Endlich ließ er von ihm ab, setzte sich und wartete auf das Anzeichen einer Bewegung. Der Kleine rührte sich nicht. Dann drehte er sich um und begann an den Blättern zu knabbern. Nachdem er die unteren Zweige kahlgefressen hatte, kletterte er höher hinauf. Jetzt bewegte sich der Kleine plötzlich wieder. Er zuckte ein paarmal mit den Beinen und begann dann vorsichtig wegzukriechen. Er rollte sich über den Rand der Plattform und ließ sich auf den Fußboden fallen. Dort schüttelte er sich und lief weg – verließ aber nicht den Aufnahmebereich der Kamera. An einer Wand befand sich ein kleiner Sims. Der Kleine kletterte hinauf und schien dort etwas Interessantes zu finden.
Er schnüffelte, streckte dann seine Pfote aus und befingerte seine Entdeckung. Seine Wunden schien er völlig vergessen zu haben. Dann umklammerte er den Gegenstand, den er gefunden hatte, und eilte zum Schauplatz seiner Niederlage zurück. Mit einem Satz sprang er wieder auf die Plattform und machte dabei ziemlich viel Lärm. Das größere Tier sah ihn und kletterte von der Pflanze herunter. Den letzten Meter vom Tank herunter sprang es sogar. Quiekend landete es auf dem Boden und griff an. Der Kleine rührte sich nicht von der Stelle. Im allerletzten Augenblick zuckte seine Pfote vor, und ein nur wenige Zentimeter langes Messer bohrte sich dem Angreifer in die Kehle. Blut spritzte. Der Große schrie auf. Immer wieder stieß das Messer zu, bis das größere Tier zusammenbrach und regungslos liegenblieb. Der Kleine zog das Messer aus dem Körper des getöteten Feindes und wischte es an dessen Pelz ab. Dann lief es wieder zu dem Sims, auf dem es das Messer gefunden hatte – und legte es zurück. Halden winkte, und die Lampen gingen wieder an. Der Schirm war jetzt zu hell, als daß man etwas darauf erkennen konnte. »Holt sie«, sagte Halden. »Die Biester dürfen keine Gelegenheit haben, herauszufinden, daß die Dinger gar nicht aus Fleisch und Blut bestehen.« »Es war jedenfalls sehr realistisch«, sagte Meredith, während die beiden anderen Männer ihre Bildschirme ausschalteten und sich auf den Weg zur Hydroponik-Abteilung machten. »Glaubst du, daß wir damit Erfolg haben werden?« »Vielleicht. Jedenfalls hatten wir Zuschauer.« »Wirklich? Das habe ich nicht bemerkt.«
Meredith lehnte sich zurück. »Haben die Roboter wirklich wie echte Schädlinge ausgesehen? Und wenn, haben die Schädlinge sich täuschen lassen?« »Die Imitationen sind recht gut gelungen, aber die Biester brauchen sie gar nicht für ihresgleichen zu halten. Sie kennen jetzt jedenfalls den Wert eines Messers. Dabei ist es gleichgültig, wer es zuerst benutzt.« »Und wenn sie noch klüger sind, als wir denken? Wenn sie wissen, daß ein Messer nur von Lebewesen benutzt werden kann, das Hände besitzt?« »Das müssen sie eben ausprobieren. Das gehört ja mit zu unseren Vorsichtsmaßnahmen. Das werden sie erst herausfinden, wenn sie es versuchen – und dann sind sie schon in die Falle gegangen.« »Ausgezeichnet. Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte Meredith und trat näher. »In deiner primitiven Art gefällst du mir. Manchmal denke ich wirklich, ich könnte dich heiraten.« »Primitiv«, sagte er und wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Dabei war ihm völlig klar, daß er verglichen zu ihr tatsächlich ein Primitiver war. »Es ist wie ein Fluch, nicht wahr?« lachte sie und lehnte sich gegen ihn. »Aber manchmal sind gerade Barbaren als Liebhaber nicht zu übertreffen.« Jetzt geht das wieder los, dachte er und legte den Arm um sie. Für sie bin ich einfach ein leidenschaftlicher Wilder. Sie gingen in seine Kabine. Als sie sich setzte, lächelte sie. War sie hübsch? Vielleicht. Für ihre eigene Rasse war sie nicht besonders groß, nur nach irdischen Schönheitsbegriffen. Ihre Beine waren unproportional lang und wohlgeformt, und ihr Gesicht war etwas ausdruckslos, wenn man von der schmalen, geraden Nase absah. Ihre Augen waren es, die den Unterschied ausmachten. Sie hatten sich weiter entwickelt als die seinen und konnten am violetten Ende des Spektrums noch eine Farbe
sehen, die ihm stets verborgen blieb. Außerdem waren sie ungewöhnlich groß. Sie lehnte sich zurück und sah ihn an. »Vielleicht würde es Spaß machen, mit dir auf der alten Erde zu leben.« Er sagte nichts. Sie wußte genauso gut wie er, daß die Entwicklung auf der Erde genauso weit gediehen war wie auf ihrer eigenen Welt. Es störte auch nicht mehr, daß sie sich trotz aller Intimitäten nach wie vor mit Sie ansprechen ließ, wenn andere in der Nähe waren. Damit wollte sie vermutlich zum Ausdruck bringen, daß ihre Rasse die höherstehende war. Aber jetzt beschäftigte sie etwas anderes. »Ich glaube, ich werde es doch nicht tun. Wir könnten Kinder bekommen.« »Wäre das so schlimm?« fragte er. »Ich bin genauso intelligent wie du. Es würden keine Untermenschen werden.« »Es wäre ein Schritt nach oben – für dich.« Bei all ihrer Ruhe spürte man doch die Spannung, unter der sie stand. Die hatte er an ihr bemerkt, seit er sie kannte, aber jetzt war sie noch auffälliger. »Habe ich das Recht, die Ungeborenen zu verdammen? Darf ich sie zwingen, weiter unten anzufangen?« Dieser Konflikt war nicht neu und auch nicht auf sie beide beschränkt. In der einen oder anderen Form beherrschte er die persönlichen Beziehungen zwischen anderen Rassen. »Ich habe dich nicht gebeten, mich zu heiraten«, sagte er. »Weil du Angst hast, ich könnte ablehnen.« Das war richtig. Es geziemte sich einfach nicht, den Angehörigen einer höherstehenden Rasse aufzufordern, eine dauernde Bindung einzugehen. »Warum hast du dich überhaupt mit mir eingelassen?« fragte Halden. »Liebe«, sagte sie bedrückt. »Physische Anziehung. Aber ich darf mich davon nicht beeinflussen lassen.«
»Du könntest ja versuchen, dir Kelburn zu angeln. Wenn du es schon so genau nimmst – von ihm könntest du Kinder eines höheren Typs bekommen.« »Kelburn!« Wie sie das sagte, klang es eher wie ein Schimpfwort, nicht wie ein Name. »Ich mag ihn nicht. Er würde mich auch nicht heiraten.« »Das würde er nicht, aber Kinder könntest du von ihm bekommen, wenn du ihn unterwürfig darum bätest. Die Chancen, daß das biologisch möglich ist, stehen fünfzig zu fünfzig.« Sie streckte aufreizend ihren Körper. Nicht einmal die Frauen von Kelburns Rasse waren so attraktiv gewachsen wie sie, und sie wußte das sehr genau. »Rassisch betrachtet bestünde die Möglichkeit«, sagte sie. »In der Praxis aber wären Kelburn und ich unfruchtbar.« »Bist du sicher?« fragte er. »Wie kann man das in der Theorie jemals sein?« fragte sie, und ihre Augen funkelten. »Ich weiß es aber.« Das wirkte wie eine kalte Dusche auf ihn. »Mußtest du mir das sagen?« Sie stand auf und legte ihm den Arm um den Hals. Dann kam sie noch näher heran, und er reagierte rein instinktiv. Seine Hand zuckte, und er spürte, wie etwas nachgab, wo seine Faust sie getroffen hatte. Sie taumelte zurück und hielt sich die Hand ans Gesicht. Als sie sie wieder wegnahm, war Blut daran. Sie wankte zum Spiegel. Dann wischte sie das Blut weg und musterte ihr Gesicht aufmerksam. »Du hast mir die Nase gebrochen«, stellte sie fest. »Ich muß die Blutung stillen und den Schmerz unterdrücken.« Sie schob die Nase wieder zurecht und bewegte sie dann hin und her, um sich zu vergewissern, daß sie richtig saß. Dann schloß sie die Augen und stand stumm und reglos da. Nach
einer Weile trat sie einen Schritt zurück und musterte sich kritisch. »So, jetzt ist sie wieder eingerichtet und teilweise angewachsen. Ich werde mich heute abend konzentrieren, dann ist bis morgen alles heil.« Sie holte ein unsichtbares Pflaster aus dem Schrank und klebte es über die Nasenwurzel. Dann trat sie neben ihn. »Ich habe mich schon gefragt, was du tun würdest. Du hast mich nicht enttäuscht.« Er sah sie an. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, und das Heftpflaster, auch wenn man es kaum sah, machte sie nicht gerade hübscher. Warum fühlte er sich nur so stark zu ihr hingezogen? »Versuch’s doch mal bei Emmer«, sagte er müde. »Er wird dich unwiderstehlich finden, und er ist noch viel wilder als ich.« »Wirklich?« Sie lächelte rätselhaft. »Vielleicht im biologischen Sinne. Aber für meinen Geschmack eine Spur zu wild. Du bist schon richtig.« Er setzte sich aufs Bett. Es gab natürlich nur eine Methode, Emmers Verhalten kennenzulernen – und das kannte sie. Für sie hatte die Liebe nur den physischen Aspekt, und sie setzte ihren Körper ein, um Vorteile zu erlangen – welche Vorteile eigentlich? Vorteile für die Kinder, die sie haben wollte. Davon abgesehen war für sie nichts wichtig, nur das Ziel, das Niedrige mit dem Höheren zu verbinden. Um dieses Ziel zu erreichen, war sie zu sich selbst ebenso grausam wie sie ihm gegenüber grausam war. Und dennoch begehrte er sie. »Ich glaube wirklich, daß ich dich liebe«, sagte sie. »Und wenn die Liebe ausreicht, könnte es sogar sein, daß ich dich trotz allem heirate. Aber du wirst aufpassen müssen, von wem ich Kinder bekomme.« Sie drängte sich in seine Arme.
Der Rassenunterschied war groß, und sie hatte ihn provoziert, aber das war nicht ganz ihre Schuld. Außerdem… Was eigentlich? Sie hatte einen herrlichen Körper, der Kinder gebären konnte – vielleicht sogar die seinen. Er schob sie von sich. Wenn er das dachte, war er um kein Jota besser als sie. Waren sie alle so? Hatten sie alle nur das eine Interesse, aus dem Schlamm nach oben zu kriechen, dem höchsten Ziel zu, das sie erreichen konnten? Er hob die Hand, aber sein Zorn wandte sich gegen sich selbst. »Vorsichtig, meine Nase«, sagte sie und drängte sich gegen ihn. »Du hast sie mir eben erst gebrochen.« Er küßte sie voll plötzlich erwachter Leidenschaft, die er selbst als primitiv erkannte.
Das Schauspiel mit den Robottieren zeigte keine unmittelbaren Ergebnisse. Deshalb wurde es noch ein paarmal wiederholt. Nach dem dritten Mal konnte Firmon einen Erfolg melden. »Es hat geklappt«, berichtete er Halden. »Vor ein paar Stunden haben wir drei von den Biestern erwischt.« Halden schaute nachdenklich drein. Eigentlich wäre ihm wohler gewesen, wenn es nicht geklappt hätte. Natürlich war es eine Genugtuung, daß sein Plan so erfolgreich gewesen war, aber er hätte es doch vorgezogen, ein weniger intelligentes Tier als blinden Passagier an Bord zu wissen. »Wo haben Sie sie?« fragte er. »Wollen Sie sie denn sehen?« Firmon schien überrascht. Halden seufzte. Es war sein eigener Fehler. Firmon hatte zwar einen Verstand, gebrauchte ihn aber leider zu wenig. »Jedes Tier, das klug genug ist, die Bedeutung eines Messers begreifen zu können, ist es wert, näher untersucht zu werden. Und das gilt erst recht, wenn es sich, wie in diesem Fall, um Schädlinge handelt.«
»Ich werde den Ablauf ändern«, versprach Firmon. »Das nächste Mal werden wir sie nur betäuben. Ich habe sie in die Verbrennungsanlage schaffen lassen, weil sie tot waren.«
In den nächsten Tagen wurden mehrere von den Tieren gefangen. Körperlich entsprachen sie der Beschreibung, die Halden früher einmal Taphetta gegeben hatte: Kleine bepelzte Vierbeiner mit zwei fleischigen Fühlern am Kopf. Bei der Untersuchung ergab sich, daß der Anteil der Gehirnmasse verhältnismäßig groß, war. Man stellte dann noch Verhaltensteste an, die einen Intelligenzgrad ergaben, der etwas unter dem lag, den Halden angenommen hatte. Trotzdem war er wesentlich höher, als bei einem Schädling wünschenswert war. Insbesondere als sich herausstellte, daß diese Tiere Hände besaßen. Die Tiere liefen gewöhnlich auf allen vieren und setzten die Rücken der Vorderpfoten auf den Boden, deren Finger fleischige Ballen hatten. Wenn sie sich jedoch aufrecht hinsetzten, was sie oft taten, dann erlaubte es die Beweglichkeit ihrer Handgelenke, die Vorderpfoten auch als Hände zu gebrauchen. Sie konnten nur unbeholfen damit zugreifen, aber immerhin hatten sie auch Daumen und konnten daher das Messer festhalten. Hier hatte Halden einen Fehler begangen. Er hatte mit der Intelligenz der Tiere gerechnet, nicht aber damit, daß sie das Messer, das er ihnen als Köder angeboten hatte, auch tatsächlich benutzen könnten. Ein kleines Tier mit einem winzigen Messer war sicher nicht sehr gefährlich. Aber die Vorstellung, daß eines davon vielleicht einmal mit einem solchen Messer entkommen und dann im Schiff frei herumlaufen könnte, behagte Halden trotzdem nicht.
Glücklicherweise stellte sich bei den Untersuchungen heraus, daß die Tiere eine verhältnismäßig kurze Lebensspanne hatten und nicht sehr fruchtbar zu sein schienen. Das war der Preis, den sie der Natur für die erworbene Intelligenz hatten zahlen müssen. Deshalb stellten sie eigentlich nur in der geschlossenen Umgebung des Schiffes eine Bedrohung dar. Eine etwas größere Fruchtbarkeit jedoch, und die Tiere wären eine beachtliche Gefahr für die Hydroponikanlage und damit für die Luftversorgung des Schiffes gewesen. Nach und nach – über eine Zeitspanne von mehreren Wochen – ließ dann der Schaden an den Pflanzen nach. Die Fallen hatten die ohnehin nicht zahlreichen Schädlinge genügend dezimiert, und die Gefahr war eingedämmt. Jetzt brauchte man sich keine Sorgen mehr zu machen, es sei denn, die Tiere mutierten von neuem. Das war allerdings unwahrscheinlich.
Kelburn sah den Piloten finster an. »Wo sind wir jetzt?« fragte er, und auf seinem Gesicht zeichnete sich Argwohn ab. »Du hast Zugang zu allen Instrumenten, also solltest du das wissen«, sagte Taphetta. Er saß geduckt da und schien jeden Augenblick losspringen zu wollen. Aber das schien nur so. In Wirklichkeit atmete er behaglich durch seine Millionen Luftporen. »Das weiß ich auch. Meine Berechnungen ergaben einen bestimmten Stern als den wahrscheinlichsten. Wir hätten ihn schon vor zwei Tagen erreichen sollen – aber ich habe noch keine Spur von ihm entdecken können.« »Stimmt«, gab Taphetta zu. »Wir halten Kurs auf einen Stern, der auf deiner Liste wahrscheinlich an fünfter oder sechster Stelle der Wahrscheinlichkeit steht.« Kelburn begriff sofort, was Taphetta damit meinte.
»Dann weißt du also, wo sich der gesuchte Stern befindet?« fragte er. »Nun, ich bin mir nicht sicher, ob es der Stern ist, nach dem du suchst. Aber auf einem der Planeten dieses fraglichen Sterns bestand jedenfalls einst eine große Zivilisation.« »Du wußtest das und hast uns nichts davon gesagt?« »Warum sollte ich?« Taphetta schien erstaunt. »Ehe der Vertrag unterschrieben war, gab es für mich aus verständlichen Gründen dazu keine Veranlassung. Und danach – nun, ich habe mich bemüht, euch auf dem schnellsten Weg an euer Ziel zu bringen. Ich hielt es nicht für nötig, euch vor unserer tatsächlichen Ankunft etwas davon zu sagen. Habe ich dabei etwas falsch gemacht?« Natürlich war es nicht falsch, dachte Kelburn. Es zeigte nur wieder einmal, wie sehr sich die Gedankengänge eines NichtMenschen von denen eines Menschen unterschieden. Früher oder später hätten sie diesen Planeten sicher auch selbst gefunden, aber Taphetta hatte ihnen bei ihrer Suche Monate erspart. »Was für ein Planet ist es denn?« fragte Emmer. Taphetta knisterte mit seinen Bändern. »Das kann ich nicht sagen. Ich habe dieses Gebiet früher einmal durchflogen und ihn nur aus der Ferne gesehen!« »Und ihr seid nicht gelandet?« fragte Emmer ungläubig. »Warum hätte ich das tun sollen? Wir sind berühmte Navigatoren, weil wir uns darauf spezialisiert haben und fast nichts anderes tun. Wenn wir auf jedem Planeten landen würden, der irgendwie interessant aussieht, kämen wir nicht weit. Außerdem ist es nicht ratsam, in einem unbekannten Sektor auf einem unbekannten Planeten zu landen, besonders dann, wenn das Schiff unbewaffnet ist.« Dieses Problem hatten sie nicht. Ihr Schiff war gut bewaffnet und würde irgendwelche unzivilisierten Piraten abwehren
können. Und nur bei solchen Leuten bestand die Gefahr, daß sie es an der gebotenen Gastfreundschaft fehlen ließen. »Und wann werden wir landen?« fragte Halden. »In ein paar Stunden. Aber ich kann euch den Planeten auf dem Bildschirm zeigen.« Taphetta streckte eines seiner Kopfbänder aus und drehte an einem Knopf. Der Schirm leuchtete auf, und der Planet schwamm ins Bildfeld. In der ganzen bekannten Milchstraße gab es keine Zivilisation, die solch grandiose Bauten errichtet hatte. Selbst auf diese Entfernung konnten sie es erkennen. Städte mit mächtigen, hoch aufragenden Gebäuden und riesigen Straßen breiteten sich über den Planeten aus. Es bestand kein Zweifel mehr. Sie hatten ihr Ziel erreicht. »Jetzt werdet ihr also ergründen können, warum eure Vorfahren weggelaufen sind«, sagte. Taphetta. »Eine neue Theorie«, sagte Kelburn. Aber so neu war die gar nicht, denn ihre Vorfahren waren wirklich verschwunden. »Warum glaubst du, daß sie weggelaufen sind?« »Dieser Planet hat keine Atmosphäre. Wenn deine Berechnungen stimmen, dann muß es jedoch vor zweihunderttausend Jahren hier eine dicke Lufthülle gegeben haben. Ein Planet dieser Größe verliert seine Luft nicht so schnell. Das dauert Jahrmillionen. Wir haben es hier also mit einem künstlich erzeugten Zustand zu tun. Und wer macht sich die Mühe, einen ganzen Planeten unbewohnbar zu machen, indem er die Lufthülle zerstört? Höchstens jemand, der vor einem anderen davonläuft und befürchtet, daß dieser andere den Planeten übernehmen könnte.« »Vielleicht haben sie es getan, um das, was sie zurückließen mit Hilfe des Vakuums vor dem Verfall zu bewahren«, meinte Halden. »Vielleicht«, sagte Taphetta, aber es war augenfällig, daß er anderer Meinung war.
Die fehlende Atmosphäre hatte ihr Gutes. Sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, daß die Schädlinge aus dem Schiff entweichen konnten. Der Nachteil war, daß sie Raumanzüge tragen mußten. Sie landeten auf einem der riesigen freien Plätze, nahe einer der Städte. Rings um sie ragten mächtige Bauwerke in den Himmel, eine unübersehbare Menge der unterschiedlichsten Gebäude, keines kleiner als fünf Stockwerke hoch, alle mit schräg ansteigenden Rampen anstelle von Treppen. Aber die Gebäude waren leer. Auf dieser atmosphärelosen Welt gab es keinen Rost, keinen Verfall – aber auch nichts, das hätte zerfallen oder verrosten können. Keine Bilder, keine Werkzeuge, auch nichts, das an Skulptur erinnerte. Und wenn es auch Stellen gab, wo einmal Maschinen gestanden hatten, standen dort jetzt keine mehr. Hie und da gab es an schwer zugänglichen Orten formlose Metallklumpen. Die Folgerung war zwingend: Wo man die betreffende Maschine nicht hatte entfernen können, hatte man sie einfach an Ort und Stelle zerstört. Die Gründlichkeit, mit der hier vorgegangen worden war, war verwirrend. Das hatte kein Feind getan. Der hätte auch die Häuser zerstört. Aber die Gebäude waren alle unversehrt. Nur leer. Die Bewohner selbst mußten alles ausgeräumt haben. Ein ganzes Volk hatte sein Bündel geschnürt, war fortgezogen und hatte hinter sich nur leere Gebäude zurückgelassen. Es gab hier vieles zu lernen, aber nichts, von dem man es lernen konnte. Leere Gebäude geben keine großen Geheimnisse preis. Um mehr über eine Zivilisation zu erfahren, braucht man wenigstens ein paar ihrer Erzeugnisse, Werkzeuge, Schriftfragmente. Draußen vor den Städten fanden sie Überreste der Tier- und Pflanzenwelt, die darauf schließen ließen, daß der Verlust der
Atmosphäre wie eine plötzliche Katastrophe über sie gekommen war. Sam Halden, der Biologe, hatte sich mit ihnen näher beschäftigt. Aber auch diese Spuren brachten keine Anhaltspunkte über das tatsächlich Vorgefallene. Der unbekannte Vorfahr hüllte sich immer noch in den Schleier des Geheimnisses. Für die anderen, Emmer und Kelburn, gab es keine Arbeit. Kelburn fand schließlich eine Spur. Da er nichts zu tun hatte, nahm er sich ein Beiboot und flog damit zur anderen Seite des Planeten. Von dort aus meldete er, er habe eine Maschine gefunden, die noch intakt war. Die Mannschaft wurde hastig zurückgerufen, alle Geräte wieder ins Schiff verladen, und dann machten sie sich auf den Weg. Da stand die Maschine. Ungeheuer groß – wie alles auf diesem Planeten. Sie stand ganz allein auf einer weiten Ebene: ein riesiger Zylinder, der fast bis in die Wolken ragte. Unten am Fuß befand sich eine Tür, die groß genug war, um ein Raumschiff durchzulassen. Allerdings war sie geschlossen. Kelburn stand neben dem turmhohen Eingang – eine Zwergengestalt in Raumanzug. Als die drei anderen bei ihm eintrafen, sagte er: »Wir brauchen bloß aufzumachen.« »Wie?« fragte Meredith. Sie schien vergessen zu haben, daß sie ihn nicht leiden konnte. Er hatte zufällig eine Entdeckung gemacht, weil er nichts zu tun hatte, aber sie hielt das für einen weiteren Beweis einer Überlegenheit. Halden fiel es schwer, ihre glückliche Miene mit anzusehen wenigstens dann, wenn ihre Bewunderung Kelburn galt. Er wandte sich ab. »Sie brauchen bloß auf den Türöffner zu drücken«, sagte er bissig.
Emmer war Haldens Stimmung aufgefallen. »Wenn der Knopf bloß nicht so groß wäre«, sagte er. »Wird schwer zu finden sein.« »Da oben steht eine Art Inschrift«, sagte Kelburn. »Die haben dieses Ding absichtlich hier stehenlassen. Irgendwo muß doch eine Gebrauchsanweisung sein.« »Von hier aus wirkt die Inschrift eher wie eine komplizierte Wellenfrequenz«, sagte plötzlich eine Stimme in ihren Kopfhörern. Taphetta. Er sprach vom Raumschiff aus. »Wir brauchen bloß die richtige Wellenlänge zu finden, dann geht die Tür auf. Ihr könnt das von unten nicht so deutlich erkennen wie ich.« Das Bänderwesen hatte recht. Es dauerte ein paar Tage, bis sie die Frequenz entdeckt hatten. Aber dann schwangen plötzlich die großen Türflügel langsam auf, und aus dem Innern entwich zischend die Luft. Innen wurden sie von neuem enttäuscht. Sie standen in einer kahlen Halle, von der eine Rampe nach oben führte, die an der Decke endete. Sie hätten sich den Weg in die oberen Räume sicherlich erzwingen können, aber sie hatten keine Lust, ein unnötiges Risiko einzugehen. Angesichts der Vorsichtsmaßregeln, die ihnen das Eindringen in die Anlage so erschwert hatten, war anzunehmen, daß weitere Schwierigkeiten ihrer harrten. Emmer fand diesmal die Lösung. »In diesem Gebäude war kein Vakuum. Wir haben zwar jetzt die Luft herausgelassen und können deshalb nichts hören. Aber ich glaube, wenn es einen Träger für die Schallwellen gäbe, würde das anders sein. Wir wollen einmal die Hände gegen die Wand legen.« Das ganze Gebäude vibrierte spürbar. Ehe sie die Tür geöffnet hatten, war davon nichts zu bemerken gewesen. Vermutlich hatten sie beim Öffnen einen Mechanismus
ausgelöst. Und dann hörte das Vibrieren plötzlich auf. Nach einiger Zeit begann es von neuem. War das vielleicht die Botschaft, auf die sie so sehnsüchtig warteten? Hastig bauten sie eine Anlage auf, mit der sie in der Halle Luft erzeugen konnten. Dann stellten sie eine Übersetzungsmaschine auf und schlossen die Tür. Niemand blieb zurück. Man konnte nicht wissen, ob man wieder genauso leicht hinauskam wie man hereingekommen war. Sie warteten zwei Tage, während die Schwingungen aufgenommen wurden. Die Wartezeit schien sich endlos hinzuziehen. Kelburn war von allen am zufriedensten. In biologischer Hinsicht stand er von allen Mitgliedern der Expedition am höchsten. Ihn regte das an. Er wanderte ziellos umher, lächelte freundlich und betätschelte Meredith, wenn er sie irgendwo sah. Meredith war aufgeregt, wenn auch nicht besonders glücklich. Sie mußte warten, bis die Übersetzungsmaschine ihre Arbeit abgeschlossen hatte. Halden schluckte AntiSchlaftabletten. Auch Emmer mußte sich zwingen, die Wartezeit mit Fassung zu ertragen. Nur Taphetta schien das Ganze nicht sonderlich zu berühren. Für ihn war es eine interessante und möglicherweise einträgliche Entdeckung, aber lange nicht so wichtig, wie sie für die Menschen sein würde. Die Stunden schleppten sich dahin. Endlich öffneten sich die Türen wieder. Die Luft zischte heraus, und der mechanische Übersetzer wurde auf das Schiff zurückgeholt, wo Meredith ihn übernahm. Noch ein halber Tag verstrich, bis sie die anderen in ihr Labor einlud. »Die Maschine ist noch bei den letzten Sätzen«, sagte sie. »Es hat den Anschein, als wäre die Botschaft noch zusätzlich verschlüsselt worden. Aber andererseits enthielt sie auch genügend Hinweise für die Lösung des Code. Ich brauchte als
Sprachwissenschaftlerin nur die richtigen Wörter und Sätze zu liefern. Aber den Inhalt kenne ich auch noch nicht. Den erfahren wir jetzt alle gleichzeitig.« Sie nahmen vor der Übersetzungsanlage Platz – Taphetta, Kelburn, Meredith, Halden und Emmer. Meredith saß zwischen Kelburn und Halden. Ob das etwas zu bedeuten hatte? fragte sie Halden. »Die Übersetzung ist abgeschlossen«, verkündete der Computer. »Fang an«, befahl Meredith. »Die Sprache wird beschleunigt, um sie dem menschlichen Tempo anzupassen«, sagte die Maschine. »Sofern möglich, den die Spracheigenschaften des Originals berücksichtigt. Bitte bedenken Sie aber, daß es sich nur um eine künstliche Anpassung handelt.« Die Maschine hustete, stotterte und begann dann: »Wir haben den Zugang zu unseren Aufzeichnungen bewußt erschwert. Wenn Sie diese Botschaft entziffert haben, werden Sie am Schluß Instruktionen finden, die Ihnen auch den Rest unserer Kultur erschließen. Als fortgeschrittene Rasse sind Sie uns willkommen. Für jeden anderen haben wir eine Überraschung vorbereitet. Für uns selbst gibt es jetzt nichts anderes mehr, als einen geordneten Rückzug an den Ort, der es uns erlaubt, weiterhin in Frieden zu leben. Das bedeutet, daß wir diese Galaxis verlassen müssen. Aufgrund unserer langen Lebensspanne sind wir dazu fähig, und man wird uns nicht folgen können.« Taphetta raschelte amüsiert mit seinen Bändern. Kelburn runzelte die Stirn, aber die anderen achteten nicht darauf. Die Übersetzungsmaschine fuhr fort: »Unsere Lebensvorgänge laufen so langsam ab wie bei keinem anderen Lebewesen, das wir kennen. Außerdem vermehren wir uns so langsam, daß wir selbst unter den günstigsten Umständen,
unsere Zahl erst in zweihundert Generationen verdoppeln können.« »Das klingt nicht gerade so, als wären sie Genies der Biologie gewesen«, raschelte Taphetta. Halden rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Das lief gar nicht so, wie er es erwartet hatte. »Zum Zeitpunkt unserer Abreise«, fuhr die Maschine fort, »fanden wir keine weitere intelligente Rasse, obwohl es einige gute Ansätze für weitere Entwicklungen gab. Vielleicht sind unsere Forschungsschiffe Ihren Vorfahren vor langer Zeit auf irgendeinem fernen Planeten begegnet. Wir waren niemals zahlreich, und da wir uns langsam bewegen und uns auch langsam fortpflanzen, besteht die Gefahr, daß wir in absehbarer Zeit von unserem eigenen Planeten verdrängt werden. Wir ziehen es deshalb vor, freiwillig abzuziehen, solange wir das noch können. Der Grund für unsere Flucht entstand auf unserem eigenen Planeten und tief unter unseren Städten – in den Abwässerkanälen und den großen Maschinensälen, die uns mit Energie versorgen. Wir hatten aufgehört, sie regelmäßig zu überprüfen, weil wir sie automatisiert hatten. Diese Anlagen waren so konstruiert, daß sie eine Million Generationen ohne Wartung überstehen konnten, und das ist sogar für uns eine lange Zeit.« Emmer setzte sich auf. Er ärgerte sich über sich selbst. »Natürlich. Überall gibt es Kanalisationsanlagen. Warum habe ich hier nicht nachgesehen!« »Während der letzten Generationen sandten wir vier Expeditionen aus, die fächerförmig von diesem Planeten ausgehend die benachbarten Sonnensysteme erforschen sollten, um für uns eine neue Heimat zu suchen.« Kelburns Gesicht zeigte eine Mischung von Stolz und Ärger. Seine Berechnungen waren richtig gewesen. Aber hatte wirklich ein Grund zu der Annahme bestanden, daß sie nur in
eine Richtung gereist waren? Nein. Aber er war nicht darauf gekommen. Taphetta wurde bleich. Das bedeutete nichts anderes, als daß es viermal so viele Menschen gab, als bis jetzt bekannt war. Er hatte die restlichen drei Viertel noch nicht angetroffen. Aber es war kein angenehmer Gedanke. »Nach langen Vorbereitungen«, sagte die Maschine, »sandten wir ein Kolonisationsschiff zu einem der Planeten, den eine unserer Expeditionen ausgewählt hatte. Zu unserem großen Verdruß mußten wir entdecken, daß die Plage dort ausgebrochen war, obwohl wir bei unserem ersten Besuch den Planeten noch unberührt angetroffen hatten.« Halden runzelte die Stirn. Diese Worte bewiesen immer mehr, daß sie keine besonders großen Biologen gewesen sein konnten. Und diese Plage – es hatte einen Grund für ihr Weggehen geben müssen, und Krankheit schien plausibel. Aber wenn ihn nicht alles täuschte, so wurde das Wort Plage hier nicht in seinem eigentlichen Sinn gebraucht. Vielleicht ein Fehler in der Übersetzung. »Die Kolonisten weigerten sich, den Planeten zu besiedeln. Sie kamen zurück und erstatteten Bericht. Wir sandten unsere Schnellsten Schiffe aus. Wir hatten keine Zeit mehr, den Weg der vier Expeditionen in allen Einzelheiten zurückzuverfolgen, denn sie hatten an unzähligen Orten haltgemacht. Wir überprüften ein paar der Planeten, die unsere Expeditionen besucht hatten. Überall trafen wir die Plage an, und wir wußten, daß die Schuld dafür bei uns lag. Wir taten, was wir konnten. Wir vernichteten die nächstliegenden Planeten, bis der Vorrat unserer Atombomben erschöpft war.« »Ich habe mich schon immer gefragt, warum die Route so plötzlich endete«, sagte Taphetta, aber die anderen gaben ihm keine Antwort.
»Wir rekonstruierten, was geschehen war. Lange Zeit hatte die Plage in unseren Abwasserschächten gelebt und sich von unseren Abfällen ernährt. Da sie klein und ungeheuer beweglich sind, gelang es ihnen nachts, in unsere Schiffe einzudringen. Wir erfuhren zu spät, daß sie sich an Bord befanden, aber da sie so klein waren, fiel es uns schwer, sie aufzustöbern. So mußten wir uns mit ihrer Existenz abfinden.« »So überragend intelligent können sie gar nicht gewesen sein«, sagte Taphetta. »Wir haben eine ähnliche Plage auf unserem Schiff. Aber es würde uns bestimmt nicht einfallen, auf einem bewohnbaren Planeten zu landen, bevor wir die Biester nicht ausgerottet haben.« »Wir konnten nicht wissen«, ging die Botschaft weiter, »daß diese kleinen Kreaturen infolge der kosmischen Strahlungen im Weltraum mutieren würden. Sie erwarben dadurch eine gewisse Intelligenz, und auf jedem unserer Landeplätze entkamen einige und bevölkerten dann diese Planeten. Es waren schon immer ekelhafte kleine Kreaturen gewesen, die auf vier Beinen gehen, anstatt zu kriechen oder zu rollen; aber jetzt waren sie noch bösartiger geworden. Sie vermehrten sich unglaublich schnell. Sie waren Träger gewisser Krankheiten gewesen, die sie auf uns übertrugen. Jetzt wurde es so schlimm, daß wir ihnen gegenüber allergisch wurden und ihre Gegenwart nicht mehr länger ertragen konnten.« Taphetta sah sich um. »Wer hätte das gedacht. Ihr habt euch bezüglich eurer Herkunft gründlich geirrt.« Kilburn starrte vor sich ins Leere, sah aber nichts. Meredith hatte sich gegen Halden gelehnt; sie hatte die Augen geschlossen. »Die Frau hat jetzt ihre Wahl getroffen, jetzt, da sie weiß, daß sie früher einmal Ungeziefer war«, raschelte das Bänderwesen. »Aber sie hat Tränen in den Augen.« »Die Intelligenz des Ungeziefers ist etwas angestiegen, obwohl wir keinen Unterschied zwischen den höher und
niedriger entwickelten feststellen konnten – und wir haben sowohl Anfang als auch Ende unserer Reiserouten untersucht. Aber früher war es einigermaßen verträglich. Jetzt ist es bösartig und über alle Maßen: – « Taphetta raschelte mit seinen Bändern. »Stellen Sie die Maschine ab. Sie brauchen sich das nicht anzuhören. Wir alle haben irgendeinen Vorfahr, der keine Schönheit gewesen sein muß. Dies Wesen, von dem diese Aufzeichnung stammt, war eine Art Schnecke – und schließlich seid ihr heute nicht mehr das, was hier beschrieben wird. In geistiger Hinsicht vielleicht noch ein wenig, weil ihr stolz darauf wart, aber dieser Stolz war unangemessen.« »Wir können nicht alle Planeten zerstören, auf denen wir die Plage unfreiwillig ausgesetzt haben. Es sind zu viele. Die Sterne wandern, und wir könnten einige von ihnen übersehen. Bevor wir die letzten vernichtet haben, könnten sie die Weltraumfahrt entwickeln – ihre Intelligenz ist nicht sehr groß, aber dazu wären sie wahrscheinlich fähig – und dann könnten sie uns entkommen. Wir wissen, daß wir vor einer unmöglichen Aufgabe stehen, und deshalb verlassen wir dieses Milchstraßensystem. Vorher allerdings haben wir dafür gesorgt, daß die Plage sich nie die Erkenntnisse unserer Zivilisation zu eigen machen kann. Unseren Code wird die Plage nicht entziffern können – dazu sind sie zu dumm. Ihr, die ihr mit dieser Plage fertigwerden müßt, vergebt uns. Diese Plage ist das einzige, dessen wir uns schämen müssen.« »Hört nicht hin«, sagte Taphetta von neuem und streckte seine Greifbänder aus. Er rüttelte an der Maschine, bis sie verstummte. »Wir brauchen es niemandem zu sagen«, raschelte Taphetta. »Machet euch meinetwegen keine Sorgen. Ich werde schweigen.« Er sah sich um. »Aber eure Miene verrät mir, daß ihr allen erzählen werdet, was ihr hier gefunden habt. Euer
Stolz läßt wohl nichts anderes zu – und ihr werdet ihn brauchen.« Taphetta saß auf der Maschine – eine riesige Phantasieschleife, mit der man ein Geschenk schmückt. Die Menschen dachten flüchtig an diese Ähnlichkeit. Aber jeder von ihnen wußte, daß es für sie – die Angehörigen der größten Rasse im ganzen galaktischen System, nicht länger gefürchtet – vielmehr verachtet wegen ihres geheimnisvollen Ursprungs – in Zukunft keine Geschenke mehr geben würde.
Originaltitel: BIG ANCESTOR. Copyright © 1954 by Galaxy Publishing Corporation. Aus GALAXY SCIENCE FICTION November 1954.