ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 44 von Kris Neville J. T. Mclntosh Larry Niven
Ausgewählt und zusammengestellt ...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 44 von Kris Neville J. T. Mclntosh Larry Niven
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3102 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Helmut Axmann
Umschlagillustration: Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Stories aus SEVEN TRIPS THROUGH TIME AND SPACE, edited by Groff Conklin, Copyright © 1968 by Fawcett Publications, Inc. Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03102 1
Man hatte ihn ausgebildet, als Spion auf einem totalitär regierten Planeten die Partei zu unterwandern und den Umsturz herbeizuführen. Es wurde ein Ein-Mann-Krieg mit ungeahnten Folgen… DER DEMAGOGE von Kris Neville Der Planet war arm und entwickelte sich verdächtig langsam. Was geschah mit den Menschen, die plötzlich verschwanden, nicht etwa Feinde der Regierung, sondern echte Patrioten? PLANET DER ASKETEN von J. T. Mclntosh Es sollte eine Sensation werden und Gregory Pelton berühmt machen. Geld und Einfluß hatte er genug, nun ging es nur noch um den unsterblichen Ruhm. Aber die Reise ans Ende der Galaxis drohte zum Debakel zu werden… FREMDLING IM KOSMOS von Larry Niven
Kris Neville DER DEMAGOGE
Man schrieb das Jahr 2346. Auf der Erde herrschte eine demokratische Staatsform. Das Volk wurde von der Obersten Ratsversammlung regiert. Untergeordnete Instanzen waren die regionalen und die örtlichen Ratsversammlungen. Jede dieser Versammlungen setzte sich aus Vertretern der beiden gegnerischen Parteien zusammen, die aufgrund ordentlicher Volkswahlen ermittelt wurden. Die Leitung der Exekutive lag in den Händen einer Anzahl von Rats-Sekretären, die von den zuständigen Ratsversammlungen ausgewählt wurden. Ein unabhängiges Gerichtswesen sorgte für die Einhaltung der Gesetze. Die vereinigte Erde sandte Kolonisten in den Raum, die Unerhörtes zu berichten wußten und auf unglaubliche Lebensformen stießen. Auf diese Weise erfuhr die Erde von einer aufblühenden technologischen Zivilisation auf dem Planeten Itra, der von einer vollkommen humanoiden Rasse bewohnt wurde. Auf der Erde glaubte man, es sei für Itra gut, einer galaktischen Föderation beizutreten, und unterbreitete Vorschläge über ein für beide Seiten förderliches Abkommen. Die Itraianer lehnten ab… Raum-Captain Merle S. Shaeffer, der jüngste und vielleicht unerfahrenste Pilot der Universum-Transport-Union, wurde überraschend in das New Yorker Büro gerufen.
Als Captain Shaeffer die luxuriös ausgestattete Suite im achtzigsten Stockwerk betrat, wurde er von Old Tom Twilmaker, dem Präsidenten des Unternehmens, begrüßt. Old Tom legte dem Captain den Arm um die Schulter und führte ihn in sein riesiges Privatbüro. Dort machte er ihn mit General Reuter bekannt, der dem Ausschuß des Obersten Rates für Wissenschaftsaustausch vorstand. Sonst war niemand anwesend. Hinter der geschlossenen Tür befanden sie sich in olympischen Höhen, weit über allem menschlichen Kleinkram. Die hier getroffenen Entscheidungen waren endgültig und unanfechtbar. In Gegenwart von zwei der höchsten Männer der Erdenregierung konnte Captain Shaeffer nur noch ehrfürchtig stammeln. Als sie Platz genommen hatten, drehte sich Old Tom um und blickte schweigend über die Dächer der Stadt. Captain Shaeffer wartete respektvoll. General Reuter rutschte nervös hin und her. »Eines Tages«, sagte Old Tom schließlich, »werde ich meinen Abschied von all dem nehmen. Ja, gütiger Herr Jesus! Oh, wenn ich an all die armen Seelen denke, die sich noch immer weigern, unseren Heiland bei sich aufzunehmen, oh, wie traurig und schal wird mir dann all mein Gut! Seht doch hinab auf das Gewimmel der Millionen Menschen da unten. Wie vielen davon ist Gott fremd? Ja, eines Tages werde ich all dies verlassen und auf die Straßen gehen und meine letzten Tage damit verbringen, den Armen und Bedrückten die Heilsbotschaft zu verkünden. Sind Sie eigentlich Christ, Merle?« General Reuter ließ nervös seine Knöchel knacken, während Captain Shaeffer verwirrt irgend etwas Zustimmendes murmelte. »Ich bin ein tief religiöser Mensch«, fuhr Old Tom fort. »Vermutlich haben Sie davon gehört, Merle?«
»Ja, Sir«, erwiderte Captain Shaeffer. »Aber wissen Sie auch, daß Gott Sie heute hierher geführt hat?« »Nein, Sir«, sagte Captain Shaeffer. »General Reuter ist ein lieber Freund von mir. Wir kennen uns jetzt schon seit, ach, vielen Jahren. Wir sind über unsere lieben Ehefrauen entfernt verwandt. Und wir haben im selben Aufsichtsrat und in denselben Wohltätigkeitskomitees gewirkt… Als er mich vor einigen Wochen um einen Mann bat, habe ich mir Ihre Akte kommen lassen, Merle. Ich habe diskrete Nachforschungen anstellen lassen. Dann kniete ich nieder und redete eine ganze Stunde lang mit Gott darüber. Ich fragte ›Ist dies der richtige Mann?‹ Und ich erhielt ein Zeichen. Ja! Genau in diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken!« General Reuter hatte die nervöse Beschäftigung mit seinen Knöcheln während der ganzen Ansprache fortgesetzt. Dann ergriff er zum erstenmal das Wort. »Guter Gott, Tom, gib uns einen Drink!« Er wandte sich zu Captain Shaeffer. »Dann und wann ein kleiner Drink, das hält einen Mann im Gleichgewicht. Ich nehme meinen pur, Tom.« Old Tom betrachtete Captain Shaeffer prüfend. »Ich glaube nicht, daß der Herr an Schnaps sein Wohlgefallen hat.« »Versuch nicht, ihn zu beeinflussen«, mischte sich General Reuter ein. »Du schüchterst den Jungen nur ein.« »Ich – « setzte Captain Shaeffer an. »Gib ihm einen Drink. Wenn er ihn nicht mag, dann braucht er ihn ja nicht zu trinken.« Mit Märtyrermiene schenkte Old Tom aus der Bar hinter seinem Schreibtisch zwei Gläser Bourbon ein und reichte sie den Männern. Mit einer schnellen Drehung des Handgelenks und einem gekonnten Zurückwerfen des Kopfes leerte General Reuter
sein Glas und reichte es zurück. »Ich hätte nichts gegen einen weiteren einzuwenden«, sagte er. Seine anfängliche Unruhe hatte sich schon etwas gelegt. »Wie steht es mit Ihrer Fähigkeit, Sprachen zu erlernen?« fragte er den Captain. »Ich habe auf den Schulen der Universum-Transport-Union Spanisch und Russisch gelernt«, sagte Captain Shaeffer verschüchtert. »Bei einigen Tests hat sich eine hohe Sprachbegabung herausgestellt. Die UTU führt solche Tests wegen einer möglichen Begegnung mit außerirdischen intelligenten Wesen durch.« »Sie hatten nie Verbindung mit anarchistischen Organisationen oder ähnlichem?« fragte General Reuter. »Sie sind entweder guter Liberal-Konservativer oder RadikalProgressiver, nicht wahr? Es ist mir egal, zu welcher von beiden Richtungen Sie gehören. Ich halte nichts davon, einem Mann in seine politischen Ansichten dreinzureden.« »Ich war nie Mitglied irgendeiner Bewegung«, versicherte Captain Shaeffer. »Oh, Sie können uns glauben, daß wir darüber sehr sorgfältige Ermittlungen angestellt haben«, bemerkte Old Tom. Der General verlangte noch einen Drink. Kummervoll seufzend kam Old Tom seinem Wunsch nach. »Bob«, mahnte Old Tom, »ich glaube wirklich, daß du jetzt genug hast. Ich bitte dich. Der Herr rät zur Mäßigung.« »Zum Teufel damit«, polterte der General und wandte sich wieder dem Raumpiloten zu. »Kann sein, daß ich ein bißchen Arbeit für Sie habe.« Old Tom schüttelte den Kopf und sandte dem General einen warnenden Blick zu. Der General ignorierte den Wink des Präsidenten und fuhr fort:
»Wir leihen Sie uns sozusagen von der UTU aus. In gewisser Hinsicht werden Sie auch für die UTU arbeiten. Ich kann eine Million Dollar aus – « »Bob!« » – aus dem Etat für nicht zweckgebundene Mittel loseisen. Da werden keine Fragen gestellt. Das gilt als Angelegenheit der nationalen Verteidigung. Ich konnte nirgendwo für eine Einzelperson und für ein Jahr eine ähnlich hohe Summe erhalten. Wir müssen den Kuchen aufteilen. Wir haben darüber gesprochen, bevor Sie hereinkamen. Was halten Sie von einer Viertelmillion Dollar pro Jahr?« »Wenn solche Fragen berührt werden«, warf Old Tom hastig ein, »dann denke ich immer zuerst an die Möglichkeit, etwas Gutes zu tun.« Der General fuhr fort: »Jetzt wissen Sie Bescheid, Merle. Und die Sache ist ernst. Hören Sie mir gut zu. Da die Angelegenheit unter die Weltsicherheitsgesetze fällt, unterliegen Sie den entsprechenden Bestimmungen. Sie wissen, was das bedeutet? Sie können zur Verantwortung gezogen werden.« »Ja, Sir.« Merle schluckte. »Ich verstehe.« »Schön. Darauf wollen wir einen trinken!« »Bitte, schweig, General«, sagte Old Tom. »Laß mich erklären. Wissen Sie, Merle, der Ausschuß für Wissenschaftsaustausch wurde kürzlich angewiesen, Methoden auszuarbeiten, die geeignet sind, auf Itra – Sie haben von dem Planeten schon gehört – eine Stimmung zu erzeugen, die dem Vorschlag einer galaktischen Föderation entgegenkommt.« »Entschuldige«, unterbrach General Reuter. »Auf Itra gibt es keine Demokratie, wie wir sie haben. Es gibt keine Freiheit wie bei uns. Ich habe keine Zweifel, daß der DurchschnittsItraianer – wenn man so sagen kann, der Normalverbraucher –
über unser Erscheinen froh sein und seine Befehlshaber zum Teufel jagen wird.« »General, ich muß schon bitten«, sagte Old Tom mit einiger Schärfe. »Aber das ist nicht alles«, fuhr der General mit schwerer Stimme fort. »Sogar ein pl-plötzlicher Überfall wär’ das Richtige und ich hätt’ nichts dagegen – wär’ das Richtige – es gibt die Log- Lo- Logistik. Ich möchte nich’ den Eindruck erwecken, daß unsere Leute von den Verteidigungskräften Geld verschwendet hab’n. Tatsächlich hatten sie nie so viel, wie sie wirklich gebraucht hätten. Ja, so ist es. Wir könn’n von dieser breiten Grundlage ausgehen. Rückgrat. Aber wir leben in einer Demokratie. Nun, Old Tom ist Liberal-Konservativer. Und ich, ich bin Radikal-Progressiver. Aber wir halt’n beide ein- und dasselbe für wichtig: eine starke Verteidigung. Es gibt viele, die das nich’ verstehen. Sie glauben, daß wir schon mehr ausgegeben hätten, als wir uns leisten können. Aber ich frage diese Leute: Was ist wichtiger als die Verteidigung des Planet’n?« »General, ich fürchte, das gehört nicht hierher«, sagte Old Tom steif. »Das ist doch jetzt egal. Die Sache ist die, daß wir lange brauchen würden, um den Wählern klarzumachen, welche Bedrohung von Itra ausgeht. Zehn, vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig Jahre… Bedenken Sie nur mal das eine: Wir haben nirgendwo in der Nähe von Itra genügend Truppentransporter, um eine Besetzung durchführen zu können. Wissen Sie, wie lange es dauern würde, Transportmöglichkeiten zu schaffen? Meine Meinung ist die, daß wir nicht mehr so lange warten dürfen. Stellen Sie sich vor, wo wir bleiben, wenn Itra morgen hinter das Geheimnis des interstellaren Antriebs kommt?«
Old Tom schlug mit der Faust auf den Tisch. »Bitte, General! Der Junge ist an all dem nicht interessiert.« Verärgert und schwankend stand der General auf. »Bei Gott, daran krankt die Welt heutzutage!« rief er aus. »Niemand ist an der Verteidigung interessiert. Wie kann man erwarten, daß man stark bleibt, wenn man nur schäbige zwanzig Prozent des Weltbruttosozialprodukts für die Verteidigung ausgibt! Guter Gott, Tom, gib mir etwas zu trinken!« Anscheinend hatte ihn das Fluchen nüchtern gemacht. »Der General ist Patriot«, erklärte Old Tom. »Wir alle schätzen ihn deswegen.« »Ich verstehe«, sagte Captain Shaeffer. General Reuter schlug mit seinen Knöcheln einen Wirbel auf dem Tisch. »Den Drink, den Drink, den Drink! Es ist noch etwas in der Flasche. Ich habe es deutlich gesehen!« Old Tom drehte die Augen zum Himmel und reichte die Flasche hinüber. »Das ist alles, was du bekommst. Es ist alles, was ich habe.« Der General hielt die Flasche gegen das Licht. »Ich hätte meinen eigenen mitbringen sollen. Laß uns die Sache rasch zu Ende führen.« Old Tom lächelte das Lächeln der hart Bedrängten und Verfolgten. »Wissen Sie, Merle, unter der Bevölkerung von Itra herrscht große Unzufriedenheit. Wir halten es für gut, einen Mann dorthin zu schicken, der – nun, der eine Veränderung einleitet und der, äh, den schon unvermeidlichen Sturz der despotischen Regierung beschleunigt. Dieser Mann wird völlig auf sich selbst angewiesen sein. Die Regierung wird ihn in keiner Weise decken können.« Der General hatte seine Flasche schnell geleert. »Sehen Sie«, unterbrach er, »es gibt etwas, wogegen sie völlig machtlos sind, und das ist eine Idee. Ein einziger Mensch, der den Gedanken der Freiheit nach Itra trägt – mehr braucht es nicht.
Wie viele Männer waren nötig, um die Amerikanische Revolution einzuleiten? Jefferson. Und die Russische Revolution? Marx!« »Ja«, sagte Old Tom. »Ein einziger sendungsbewußter Mann, der auf Itra die Idee der Freiheit verkündet – eine Freiheit, die im Namen des Herrn auf Verantwortungsbewußtsein und Eigentumsrechten gründet. Dieser Mann kann eine Welt verändern.« Ganz mitgenommen von der Reinheit seiner Gefühle lehnte sich Old Tom zurück und harrte auf Antwort. »Eine Viertelmillion Dollar pro Jahr?« fragte Captain Shaeffer schließlich.
2 Die Itraianer hatten eine gemeinsame Sprache. Sie war leicht guttural und besaß viele Beugungsformen. Zum Glück schienen Aussprache und Rechtschreibung überein zu stimmen. Es gab nicht mehr als dreiundvierzig Buchstaben. Soweit man es beurteilen konnte, hatte die weltweit mögliche Kommunikation regionale Besonderheiten zum Verschwinden gebracht. Die verschiedenen Gebiete Itras unterschieden sich in sprachlicher Hinsicht überhaupt nicht. Die Informationen über die Sprache entstammten größtenteils Tonbändern, die bei Fernsehsendungen heimlich mitgeschnitten worden waren. In harter Arbeit hatte ein wissenschaftlicher Sonderausschuß der Obersten Ratsversammlung daraus ein Wörterbuch zusammengestellt. Das gesamte Programm wurde von der InterkontinentalGesellschaft Eisen, Stahl, Gas, Elektrizität, Automobile und Kunststoffe geleitet und verwaltet.
Shaeffer brauchte nur knapp drei Jahre, um Itraianisch gut genug zu beherrschen, daß Nicht-Itraianer seine Aussprache für akzentfrei hielten. Der Rest seines Ausbildungsprogramms wurde von einer Reihe anderer Industriekonzerne getragen. Die Ausbildung lief unter der Bezeichnung »Verteidigungssache«. Nachdem seine Ausbildung abgeschlossen war, wurde Shaeffer mit einem Sonderbus zum Raumhafen von New Mexico gebracht. Ein Schiff wartete schon auf ihn. Der Wagen bewegte sich auf der sechzehnspurigen Autobahn lautlos von der Verteidigungsbasis durch die umliegenden Elendsviertel nach Grants. Der Anblick der Slums löste in Shaeffer gemischte Gefühle aus. Es war kein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Slumbewohnern. Er hatte sie immer mit einer zurückhaltenden Gleichgültigkeit betrachtet. Slums existierten nun mal. Er nahm an, daß es immer Slums geben würde. Aber jetzt konnte er zum erstenmal in seinem Leben mit Recht behaupten, daß er ihrer ständigen Bedrohung ein für allemal entkommen war. Er verspürte ein Gefühl der Schuld und der Erleichterung zugleich. Im Laufe der drei vergangenen Jahre hatte er 750000 Dollar verdient. Natürlich hatte er als Zivilist, der auf einer Basis der Verteidigungskräfte stationiert war, für Kleidung, Essen und Wohnen selbst aufkommen müssen. Aber die Preise waren reine Formsache. Da er nur selten Ausgang hatte und dann scharf überwacht wurde, hatte er es fertiggebracht, nicht mehr als 12000 Dollar auszugeben. Das hieß, daß jetzt, nach Abzug der Steuern, ein Sparguthaben in Höhe von 60000 Dollar auf seine Rückkehr von Itra wartete.
Shaeffers Schiff schwebte in einigem Abstand über Itra, während er sich zum Absprung vorbereitete. In seiner engen Kabine legte er Kleidung an, die nach der itraianischen Mode geschnitten war. Aus Captain Merle S. Shaeffer wurde Shamar, der Arbeiter. Außer seiner Sprungausrüstung, die aus einem Sauerstoffzylinder, einer Maske und einer Schaufel bestand, hatte er vierzig Kilo gefälschte itraianische Zahlungsmittel bei sich, alles in allem vierzigtausend Banknoten verschiedener Werte. Auf der Erde glaubte man, daß er nicht mehr benötigt würde, um in einer technisch fortgeschrittenen Zivilisation zu überleben. Er sollte folgenden Plan durchführen: Er sollte in einem wenig besiedelten Gebiet der größeren kontinentalen Landmassen landen. Er sollte sich nach Xxla begeben, einer großen Stadt, die mit London oder Tokio verglichen werden konnte. Dort befand sich das Hauptquartier der Partei. Er sollte in den Slums, inmitten derer die Universität lag, seinen Wohnsitz nehmen. Er sollte Kontakt mit den Studenten suchen und sich bei allen aufwieglerischen Studenten anbiedern. Sobald seine Kontakte fest waren, sollte er bei der Propagandaarbeit helfen und zu diesem Zweck eine Untergrundpresse einrichten. Sobald alles reibungslos und von selbst lief, sollte er in eine größere Stadt umziehen – und mit allem von vorn beginnen. Das Schiff tauchte in die Atmosphäre hinab. Das Klingelzeichen kam. Shamar, der Arbeiter, setzte sich hin, legte seine Sauerstoffmaske an und gab zu verstehen, daß er bereit war. Er atmete Sauerstoff. Das Schiff erzitterte, die Luke unter ihm öffnete sich, und in dem scharfen Luftstrom verlor er das Bewußtsein.
Fünf Minuten danach öffnete er wieder die Augen. Im freien Fall drehte er sich langsam um seine eigene Achse. Für einen kurzen Augenblick ergriff ihn Panik, und er war nicht imstande, den Höhenmesser abzulesen. Als er sah, daß alles glatt gegangen war, wandte er seine Aufmerksamkeit seinen körperlichen Empfindungen zu. Er fror jämmerlich. Als er sich gegen die Brust schlug, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen, begann er heftig zu kreiseln. Er stabilisierte seinen Fall, indem er die Arme ausstreckte, und schwebte, ohne das Gefühl einer Bewegung zu haben. Über ihm war Itra, das langsam auf ihn herabfiel. Er drehte sich mit dem Rücken zum Planeten und schaute auf die Uhr. Noch zwölf Minuten. Insgesamt verbrachte er siebzehn Minuten im freien Fall. In einer Höhe von sechshundert Metern öffnete sich der Fallschirm mit einem explosionsähnlichen Knall. Dann schwebte er ruhig und erholte sich von dem schaffen Ruck. Er nahm die Sauerstoffmaske ab und kostete die fremde Luft. Sie war nicht schlecht. Unter ihm lag Dunkelheit. Dann kam ihm plötzlich der Boden entgegen, und er schlug auf. Das Gelände war uneben. Er bemühte sich, den Schirm zusammenzulegen, glitt dabei aus und verstauchte sich schmerzhaft den Knöchel. Der Schirm lag ruhig, und er saß auf dem Boden und fluchte in seiner Muttersprache. Schließlich verschnürte er den Schirm und legte alle Geldpäckchen mit Ausnahme des einen, das als Feldpäckchen zu erkennen war, ab. Mit der Schaufel hob er neben einem Baum eine flache Grube aus. Dort hinein legte er den Schirm, den Sauerstoffzylinder, die Maske und die Schaufel. Mit den Händen schüttete er Erde darüber.
Er setzte sich hin, schnürte seinen Schuh auf und entdeckte, daß sein Knöchel bös angeschwollen war. Er spürte unbekannte Gerüche, die ihn mit bösen Vorahnungen erfüllten. Das leiseste Geräusch ließ ihn zusammenschrecken. Es begann zu dämmern.
3 Er merkte sich sorgfältig seinen Standort und humpelte mit dreißig Pfund Geld auf dem Rücken qualvoll in westlicher Richtung. Er würde nicht vor Mittag die große Nord-SüdInterkontinentalautobahn erreichen. Nach zwei Stunden stieß er auf eine kleine Plastikhütte, die auf einer Lichtung in der Nähe des Waldrandes stand. Er bewegte sich auf die Tür zu. Bei jedem Schritt zuckte er vor Schmerz zusammen. Dann klopfte er an. Er mußte lange warten. Dann ging die Tür auf. Ein Mädchen in einem Umhang stand vor ihm. Sie runzelte die Stirn und fragte: »Itsil obwatly jer gekompilp?« Shamar, der Arbeiter, geriet in große Verwirrung, als er zum erstenmal Itraianisch von einer leibhaftigen Eingeborenen gesprochen hörte. Stotternd stellte er sich vor und erzählte, daß er im Freien übernachtet habe. In der vergangenen Nacht habe er die Orientierung verloren und seinen Knöchel verstaucht. Wenn sie ihm Nahrungsmittel geben und den Weg zeigen könne, würde er gern dafür bezahlen. Mit einem überlegenen Lächeln trat sie beiseite und sagte auf Itraianisch: »Treten Sie ein, Shom, der Arbeiter.« Er fühlte, wie Panik in ihm hochstieg; aber er faßte sich und folgte ihr. Anscheinend hatte er seinen eigenen Namen völlig falsch ausgesprochen. Er war etwa so, als ob er auf Englisch
statt Barset Barchestershire gesagt hätte. Er verwünschte den Professor, der aus weiß Gott welchen obskuren Gründen diesen Namen für ihn ausgesucht hatte. »Nehmen Sie Platz«, forderte sie ihn auf. »Ich bin gerade beim Frühstück. Es gibt Schinken mit Ei« – oder was man auf Itra darunter verstand – »wenn Ihnen das recht ist. Ich heiße übrigens Garfling Germapoldlt, aber Sie können Ge-Ge zu mir sagen.« Das Essen schmeckte nicht mehr ganz frisch und war eine ziemlich unerfreuliche Angelegenheit. Er würgte die Eier mit den größten Schwierigkeiten hinunter. Zum Glück entsprach der Kaffee am Schluß der Mahlzeit in gewisser Hinsicht dem irdischen Kaffee und war stark genug, seinen Magen zu beruhigen. »Ein guter Kaffee«, sagte er. »Danke. Mögen Sie eine Zigarette?« »Gern.« Die Zigarette hatte einen milden Geschmack. Sie dämpfte das Verlangen nach Nikotin, das der Kaffee bei ihm hervorgerufen hatte. »Dann wollen wir mal nach Ihrem Knöchel sehen«, sagte sie. Sie kniete sich zu seinen Füßen nieder und begann, den rechten Schuh aufzubinden. »Der ist aber geschwollen«, sagte sie mitfühlend. Er zuckte zusammen, als sie den Knöchel berührte, und dann errötete er verwirrt. Er hatte staubige Landstriche durchquert. Er zog den Fuß zurück und beugte sich vor, um sie abzuhalten. Spielerisch schlug sie die Hand weg. »Setzen Sie sich zurück! Ich mach das schon. Ich sehe nicht zum erstenmal in meinem Leben schmutzige Füße.« Sie zog den Schuh aus und rollte den Socken herunter. »Mein Gott, das ist aber geschwollen«, sagte sie. »Glauben Sie, daß der Knöchel gebrochen ist, Shamar?«
»Nur verstaucht.« »Ich hole heißes Wasser und tue etwas aus dem Arzneischrank hinein. Das läßt die Schwellung zurückgehen.« Als sein Fuß im Wasser badete, setzte sie sich ihm gegenüber und ordnete mit einer koketten Bewegung ihren Umhang. Sie bemerkte, wie er auf ihren Ohrring starrte, und führte ihre Hand mit einer zärtlichen Geste ans Ohr. Um ihren Mund spielte das ewig weibliche Lächeln, das Sicherheit und Leichtsinn, Einladung und Abwehr zugleich ausdrückt. »Sie sind verlobt«, stellte er fest. Sie öffnete weit ihre Augen und betrachtete ihn über ihren Daumennagel hinweg, an dem sie mit den Zähnen herumknabberte. »Ich bin mit Von Stutsman« – wie der Name in der Übersetzung lauten könnte – »verlobt. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört? Er hat in der Partei eine bedeutende Stellung inne. Kennen Sie ihn?« »Nein.« »Sind Sie in der Partei?« fragte sie. Sie nahm ihn jetzt auf den Arm. Dann fügte sie plötzlich hinzu: »Ich auch nicht. Aber vermutlich muß ich eintreten, wenn ich die Frau von Stutsman werde.« Für einen Moment war es still im Raum. Als sie weitersprach, erfaßte ihn ein eisiger Schreck, der alle Gedanken außer dem an Selbsterhaltung aus seinem Gehirn fegte. »Ihr Akzent ist unglaublich schlecht«, sagte sie. »Ich bin von Zuleb«, sagte er schließlich lahm. »Meta – Gelwhops – oder sogar Karkeqwol, das ist alles dasselbe. Niemand auf Itra spricht wie Sie. Also müssen Sie von dem Planeten kommen, mit dem die Partei vor einigen Jahren zu tun hatte – die Erde, nicht wahr?« Er schwieg.
»Wissen Sie, was man mit Ihnen macht, wenn man Sie schnappt?« fragte sie. »Nein«, sagte er hohl. »Man wird Sie köpfen.« Sie lachte, aber nicht unfreundlich. »Wenn Sie sich selbst sehen könnten! Was für ein lächerliches Bild Sie abgeben, Shamar! Wie mag übrigens Ihr wirklicher Name lauten? Wie Sie dasitzen, mit einem Fuß im Wasser, und wild um sich blicken! Ich mache jetzt noch einen Kaffee, dann können wir miteinander reden.« Über die Schulter hinweg rief sie freundlich: »Sie sind hier sicher. Hier kommt niemand vorbei. Ich muß nicht vor Dienstag zurück sein.« Sie brachte ihm eine dampfende Tasse. »Trinken Sie das, ich ziehe mich inzwischen an.« Sie verschwand im Schlafzimmer. Er hörte die Dusche. Er wartete in dumpfer Verzweiflung und trank von dem Kaffee, weil er sonst nichts zu tun hatte. In seinem Schädel liefen die Gedanken im Kreis wie Mäuse in einer Tretmühle. Als Ge-Ge zurückkam, wußte er immer noch nicht, wie er sich verhalten sollte. Sie stand barfuß auf dem Teppich und blickte auf ihn hinab, der unglücklich über der Schüssel mit dem inzwischen lauwarm gewordenen Wasser saß. »Wie geht’s dem Fuß?« »Gut.« »Wollen Sie ihn herausnehmen?« »Ich glaube, ja.« »Ich hole ein Handtuch.« Sie wartete, bis er den Fuß abgetrocknet und Socken und Schuh wieder angezogen hatte. Die Schwellung war verschwunden. Er stand auf und belastete den Fuß mit seinem Körpergewicht. Er lächelte matt. »Der Fuß ist wieder in Ordnung. Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist.«
Sie bedeutete ihm, sich auf das Sofa zu setzen. Er folgte ihr. »Was ist in dem Feldpäckchen drin?« fragte sie. »Geld? Wieviel?« Sie bewegte sich auf das Päckchen zu. Noch ehe er sie hindern konnte, hatte sie es schon halb geöffnet. »Oh«, sagte sie und nahm ein dickes Bündel Banknoten heraus. Sie streichelte es andächtig. »Schön. Sehr schön.« Sie prüfte Material und Aussehen. »Sie sehen aus wie echte, Shamar. Ich wette, man müßte zehn Millionen Dollar in Papier, Farbe und Platten investieren, um so gute Fälschungen herstellen zu können. Nur eine fremde Regierung würde für so etwas soviel Geld hinauswerfen.« Sie warf die Banknoten achtlos beiseite und setzte sich neben ihn. Sie nahm seine Hand. Ihre Hand war warm und sanft. »Erzählen Sie es mir, Shamar«, sagte sie. »Erzählen Sie mir alles darüber.« So leicht werden Spione im wirklichen Leben also ertappt, sagte Shamar ungläubig zu sich selbst. Die Geschichte kam anfangs langsam und zögernd aus ihm heraus. Sie schwieg, bis er fertig war. »Und das ist alles? Sie glauben wirklich daran, nicht wahr? Und Ihre Regierung wahrscheinlich auch. Ihr glaubt, wir brauchen weiter nichts als eine kleine Idee oder etwas Ähnliches.« Sie drehte sich von ihm weg. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich hätte mir nie gedacht, daß ein Abenteurer so wie Sie aussieht. Sie haben so eine sanfte, ehrliche Stimme. Als kleines Mädchen habe ich mir immer ausgemalt, wie ich von einem braungebrannten Wüstenscheich auf einem Kamel entführt werde. Oh, er war so schlank und sah so gut aus mit seinen dunklen, blitzenden Augen, den vollen Lippen und den eisenharten Händen! Ja, so ist das Leben.« Sie erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. »Lassen Sie mich nachdenken. Wenn wir am nächsten Dienstag den Bus nehmen, erreichen wir in Zelonip ein Flugzeug. Wieviel wiegt das Geld?«
»Achtzig Pfund.« »In meinem Gepäck kann ich zehn Pfund mitnehmen. Sie können Ihr Feldpäckchen nehmen. Wieviel ist drin? Dreißig Pfund? Dann bleiben noch ungefähr vierzig Pfund übrig, für die wir extra zahlen müssen. Wenn wir dann in Xxla sind, kann ich Sie in einem Appartement im Osten der Stadt verstecken.« »Warum wollen Sie um meinetwillen so ein Risiko in Kauf nehmen?« fragte er. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Sagen wir einmal, weil – ja, warum? Ich glaube nicht wirklich daran, daß Sie es schaffen werden, denn es ist so aussichtslos. Aber vielleicht, vielleicht nur, haben Sie Glück und bringen das System zu Fall, wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen… Ich sähe es gern, wenn jemand das System auseinander nehmen würde. Ich bin nicht mehr als eine Angestellte. Eine kleine Angestellte in einem der Parteibüros. Vor einem Jahr habe ich Von Stutsman getroffen. Die Hütte hier gehört ihm. Ich darf sie benutzen. Er ist älter als ich. Aber was sonst fürs Heiraten in Frage käme, taugt nichts. Andererseits soll er jetzt in eines der großen landwirtschaftlichen Kombinate am Ende der Welt versetzt werden, wo es keinerlei Abwechslung gibt. Dort gibt es nichts als alte Weiber und kleine alte Männer und Bauern mit Kindern. Ich bin ein Mädchen aus der Stadt. Ich liebe Xxla. Und wenn ich ihn heirate, ist es mit all dem aus. Ich sitze dann mit ihm für Jahre in irgendeinem gottverlassenen Kaff fest. Vollkommen isoliert. Aber immerhin – er ist Von Stutsman, und er ist auf dem Weg nach oben. Jeder sagt das. In zwanzig Jahren kehrt er dann nach Xxla zurück und kommt ganz an die Spitze.
Ach – ich weiß nicht, was ich machen soll! Wenn ich ihn heirate, kann ich alles bekommen, was ich mir schon immer gewünscht habe, eine Position und Sicherheit. Er ist zwar älter als ich, aber er ist wirklich ein netter Kerl. Nur, daß er langweilig ist. Er hat kein anderes Gesprächsthema als immer und ewig die Partei. Deshalb bin ich hier herausgekommen, um über alles nachzudenken und Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Und dann sind Sie aufgetaucht. Vielleicht gibt mir das eine Chance, noch etwas Aufregendes zu erleben, ehe ich in die Wüste gehe. Können Sie das verstehen? Ich bin dann verheiratet, sitze dort draußen, blättere in der Parteizeitung und lächle vergnügt vor mich hin. Ich lächle, weil ich mich jederzeit vorlehnen und sagen kann: ›Liebling, ich habe einmal einem Erdenspion geholfen, sich in Xxla zu verstecken.‹ Und dann wird wenigstens einmal der dumme und selbstzufriedene Ausdruck aus seinem Gesicht verschwinden… ach, ich weiß nicht! Lassen Sie mich allein!« Damit flüchtete sie ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er konnte hören, wie sie schluchzte. Am Nachmittag kam sie wieder heraus. Er war eingeschlafen. Sie schüttelte ihn sanft, um ihn zu wecken. »Eh? Oh? Uh?« Er lächelte töricht. »Sie können sich dort drin waschen«, sagte sie zu ihm. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen heute morgen etwas vorgejammert habe. Ich werde jetzt etwas kochen.« Als er zurückkam, servierte sie auf warmen Tellern für sie beide eine Mahlzeit. »Hören Sie, Ge-Ge«, begann er beim Kaffee. »Sie mögen Ihre Regierung nicht. Wir wollen Ihnen helfen. Da gibt es zum Beispiel die Idee einer galaktischen Föderation.« Er erklärte
ihr, wie die beiden Kulturen sich wechselseitig befruchten würden. »Shamar, mein Freund«, sagte sie, »haben Sie den Vertragsentwurf der Erde gelesen? Es stand nichts davon drin, daß wir den interstellaren Antrieb erhalten sollten. Wir wurden aufgefordert, der Erde alle Transportrechte zu überlassen. Soweit ich mich erinnern kann, sollte der Organisation, für die Sie gearbeitet haben, für neunundneunzig Jahre das Alleinrecht zur Wahrnehmung des gesamten Handelsverkehrs Erde-Itra eingeräumt werden. Es stand alles in den Zeitungen. Haben Sie es nicht gelesen?« Shamar erwiderte: »Nun, ich bin mit den Einzelheiten nicht vertraut. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert. Aber ich bin sicher, daß man über diese Dinge reden könnte. Vielleicht haben wir euch aus Sicherheitsgründen den interstellaren Antrieb vorenthalten, aber ihr könnt daran unsere Konsequenz erkennen. Wenn wir festgestellt hätten, daß ihr wie wir ein friedliebender Planet seid, und wenn ihr eure Regierungsform in eine Demokratie umgewandelt hättet, dann würdet ihr die ganze Sache mit unseren Augen sehen und in dieser Hinsicht nichts zu bemängeln haben.« »Wir wollen nicht über Politik reden«, sagte sie. »Vielleicht verhält es sich so, wie Sie es sagen, vielleicht ist es nur mein natürliches Mißtrauen. Ich möchte nicht darüber reden.« »Ich wollte ja nur helfen – « Er wurde mitten im Satz von einer gewaltigen Explosion unterbrochen. »Mein Gott«, rief Shamar, »was war denn das?« »Ach das«, beruhigte ihn Ge-Ge. »Sie haben wahrscheinlich wieder eine ihrer verdammten vollautomatischen Fabriken getestet, ob sie explosionssicher ist – und sie war es nicht.«
4 Während der Woche, die sie zusammen in der Hütte verbrachten, lernten sich beide lieben. »Mein Gott!« rief Ge-Ge aus. »Was fange ich nur an, wenn sie dich schnappen? Das wäre mein Tod! Ich könnte es nicht ertragen! Wir werden beide nach Xxla ziehen und uns dort still wie zwei Mäuschen verborgen halten. Wir werden nicht aus dem Haus gehen. Wir beide werden hinter geschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen leben – allein, aber zusammen. Niemand wird von uns wissen. Wir werden wie unsichtbare Wesen sein.« Shamar protestierte. »Ich weiß nicht, wie wir jemals sicher sein sollen, ehe mit eurer Regierung nicht etwas geschehen ist. Ich werde solange geächtet bleiben, als ihr mit der Erde kein Übereinkommen erzielt. Ich werde jede Sekunde befürchten müssen, daß sich eine Hand auf meine Schulter legt und daß sie mich mitnehmen. Ich glaube nicht, daß wir es unter diesen Umständen aushalten könnten. Wir würden nach kürzester Zeit aneinander geraten.« Sie weinte still vor sich hin. Am letzten Tag verließen sie die Hütte und gruben den Rest des Geldes aus. Die Fahrt nach Xxla verlief ohne Zwischenfall. Ge-Ge mietete ihm ein Appartement, und er zog dort unbehelligt ein. Sie besorgte Lebensmittel und Kleidung. In der Folgezeit kam sie fast jeden Abend vorbei. Sie aßen dann zusammen, und er ließ sich von ihr die widersprüchlichen Einzelheiten des Herrschaftssystems berichten, denen sie täglich ausgesetzt war. Nach dem Essen setzten sie sich meist ins Wohnzimmer, wo sie die itraianische Sprache übten und sich umarmten. Danach ging sie wieder zu sich nach Hause.
Nachdem ein Monat auf diese Weise verstrichen war, kam sie eines Tages und warf sich schluchzend in seine Arme. »Ich habe heute Von Stutsman meinen Ohrring zurückgegeben. Das war das Anständigste, was ich tun konnte. Ich fürchte, er weiß über uns Bescheid. Er hat mich beobachten lassen. Ich weiß es genau. Ich habe zugegeben, daß ein anderer Mann der Grund ist.« Shamar hielt sie fest in seinen Armen. Sie machte sich frei. »Du bist auf Zuleb geboren, leidest unter Gedächtnisverlust und bist eines Morgens ohne Papiere in einem Graben aufgewacht. Seitdem bist du als Gelegenheitsarbeiter herumgezogen. Solche Dinge passieren dauernd. Du hast vor einigen Monaten einen großen Gewinn in der Lotterie gemacht. Ich habe ihm davon erzählt. Wie sollte er es nachprüfen?« »Du hast ihm erzählt, daß ich keine Papiere hätte?« »Es gibt Millionen, die keine Papiere haben – Umhertreiber, Leute, die von Gelegenheitsarbeit leben, Leute, die überhaupt nicht arbeiten. Die Sache ist die, daß er dich ohne Papiere nicht überprüfen lassen kann. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm den Ohrring zurückgegeben habe. Er war fuchsteufelswild. Ich hatte ihm eine solche Reaktion gar nicht zugetraut. Wahrscheinlich muß ich jetzt meine Stellung aufgeben. Ach, wenn du nur Papiere hättest, dann könnten wir heiraten.« Ge-Ges Stimmung schwankte an diesem Abend zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Zuletzt war sie mürrisch und unruhig. Sie sagte immer wieder: »Ich weiß nicht, was aus uns noch werden soll.« »Ge-Ge«, sagte er, »ich kann mein Leben nicht in dieser Wohnung verbringen. Ich muß hinaus.« »Du bist verrückt!« Sie stand fest und mit gespreizten Beinen auf der anderen Seite des Zimmers und musterte ihn. »Gut, es
soll mir egal sein, was jetzt geschieht. Ich kann so nicht weitermachen. Ich werde dich einigen meiner Bekannten vorstellen, weil du vorher doch keine Ruhe gibst. Aber Gott möge uns schützen!«
Ge-Ge nahm ihn am folgenden Samstag mit zu einer Party, nachdem sie festgestellt hatte, daß seine Aussprache sich unter ihrer Anleitung merklich verbessert hatte. Die Party fand in einer schlecht erleuchteten Wohnung statt. Die Leute saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem bloßen Fußboden herum. Shamar hörte einem Mann zu, der darüber klagte, daß die Bürger zugunsten des laufenden Automatisierungsplans mit unerträglich hohen Steuern belastet würden. »Sie haben kein Interesse an der Produktion von Konsumgütern. Sie wollen nur Fabriken zur Erzeugung von Konsumgütern bauen, um sie dann zu Testzwecken in die Luft zu sprengen. Oder die Fabriken sind bei ihrer Fertigstellung schon veraltet und können nicht in die Produktion und in den Hundertjahresplan eingeschaltet werden.« Ge-Ge flüsterte ihm zu, er solle sich vor den Spionen in acht nehmen. »Spione?« »Die Partei«, sagte sie und zog ihn beiseite. »Aber – aber – du meinst, daß die Partei ihre Leute so reden läßt?« »Was kann es schon schaden?« sagte sie. »Es tut den Leuten gut, wenn sie sich ihre Aggressionen von der Seele reden können. Trink jetzt noch einen Schluck, entspann dich, und sei vor allem vorsichtig, Shamar! Niemand kümmert sich um einheimische Nörgler, aber fremde Kritiker sind nicht erwünscht!«
Sie verschaffte ihm noch einen Drink und ließ ihn mit dem Gastgeber allein. »Nette Party«, sagte Shamar. »Danke«, erwiderte der Gastgeber. »Ich finde sie sehr anregend. Solange es auf diesem Planeten noch Leute gibt, die denken und Kritik üben, solange gebe ich die Hoffnung nicht auf. Geht es Ihnen auch so? Sind Sie zum ersten Male hier? Ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern. Ich leite eine Arbeitsgruppe, die sich Mittwoch abends trifft. Wir würden uns freuen, wenn Sie zu uns kämen. Wir führen sehr anregende Diskussionen über die Regierung und die Politik. Bitte kommen Sie doch, so oft es Ihnen möglich ist. Schneien Sie einfach irgendwann nach acht Uhr herein. Wie war doch gleich Ihr Name?« »Shamar, der Arbeiter.« »Interessanter Name«, sagte der Gastgeber. »Noch einen Drink?« Danach geriet Shamar in eine lebhafte Unterhaltung mit einem bärtigen Jugendlichen von etwa siebzehn Jahren. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich, stimmt’s? Stimmt! Bin ich für die da oben verantwortlich? Jeder Mensch muß seinen eigenen Weg gehen, stimmt’s? Stimmt! Ich will mit denen nichts zu tun haben. Man kann gar nichts daran ändern, sage ich Ihnen. Anscheinend drücke ich mich nicht klar aus. Wissen Sie, es ist eine Maschinerie…« »Aber wenn jeder der Partei beitritt?« fragte Shamar. »Wenn jeder beitritt? Was sollte dann anders sein? Gut, man nimmt an den Parteiwahlen teil. Welche Wahl hat man denn? Man bekommt immer dieselben zwei Bewerber vorgesetzt: Der eine steht etwas links und der andere etwas rechts von der Mitte. Und beide sind ausdrücklich für das Programm der Automatisierung von Fabriken. Angenommen, ein Radikaler stände einmal zur Wahl – angenommen, so einer käme zufällig einmal durch. Was glauben Sie, was passiert? Er kommt in die
Regierung, und sie bringen ihn auf Vordermann, und wenn er zurückkommt, dann fragt man ihn: ›Guter Mann, was ist denn geschehen?‹ Und er antwortet: ›Ich konnte nichts ausrichten.‹ Das lassen Sie sich von mir gesagt sein!« »Ich sehe das anders«, sagte Shamar. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Ein andermal versuchte Shamar, einem weiblichen Wesen zu erklären, was es mit freien Wahlen auf sich habe. Ihm wurde erwidert: »Mann, verschaffen Sie mir die Gelegenheit, gegen all diese Kerle zu stimmen – dann werde ich mir Gedanken über alles machen, was Sie da von sich geben.« Ein Mann, der den Eindruck von Sachlichkeit und Bildung machte, sagte zu Shamar: »Der Partei beitreten? Wozu denn? Wenn man der Partei beitritt, dann muß man alle freien Abende für Zusammenkünfte, Versammlungen, Ansprachen und Feiern zur Gründung neuer automatischer Fabriken opfern. Nein, danke, nichts für mich.« Ein anderer Mann führte aus: »Mein Lieber, Sie brauchen eine Lektion über Wirtschaftsfragen. Was meinen Sie mit freier Gesellschaft? Die einzige Möglichkeit, eine Industriegesellschaft zu erhalten, besteht darin, die Produktion zu begrenzen. Die Regierung würde sich selbst aus dem Geschäft herausproduzieren, wenn für jeden genug produziert würde. Sehen Sie mal: Die Partei hatte Millionen von Rechenautomaten in Betrieb, die Tag und Nacht munter vor sich hin ratterten, um die Produktion den Einkommensverhältnissen anzupassen. Man hat noch nie davon gehört, daß sie Fehler machen und einen Überfluß von irgendeiner Ware produzieren. Verdammt noch mal – wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Planeten hergehen und ein Pfund Nägel kaufen würde, dann wären Nägel bald ungeheuer knapp. Aber würden deshalb mehr Nägel produziert? Nein, wie Sie wissen. ›Ihr wollt mehr
Nägel?‹ würde die Regierung sagen. ›Dann arbeitet halt dafür!‹ Und der Preis würde anziehen. Verstehen Sie jetzt, was ich meine? Man käme uns mit anderen Mitteln bei.« Später saß Shamar auf dem Fußboden einem Ästheten gegenüber, der Ende dreißig sein mochte. »Wissen Sie, mein Freund, Stärke und Gewalt führen nie zum erhofften Ziel. Wir müssen fest zum Grundsatz der Gewaltlosigkeit stehen.« »Aber das heißt doch, daß man sich alles gefallen läßt!« wandte Shamar ein. »Nein! Manchmal glaube ich, es hat mit dem innersten Wesen der menschlichen Existenz zu tun. Vielleicht ist dies der Kernpunkt aller Philosophie: Die Art und Weise, in der man etwas anstrebt, ist wichtiger als das angestrebte Ziel.« In diesem Moment tauchte atemlos Ge-Ge- auf. »Shamar, schnell! Wir müssen fort!« »Wie? Ich bin gerade in einer interessanten Unterhaltung – « Sie zerrte ihn auf den Flur. Verwirrt folgte er ihr, als in der entfernter liegenden Ecke des Raums auch schon eine Schlägerei losging. »Schnell!« drängte sie. »Laß uns verschwinden, bevor die Polizei kommt.« Sie kämpften sich Hand in Hand den Weg zur Tür frei. Dort blieben sie einen Augenblick stehen und schauten zurück. »Es ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden sozialistischen Parteien«, erklärte sie keuchend. »Worum geht der Streit?« »Weiß Gott. Beeil dich!« Dann befanden sie sich auf der Straße. »Nicht rennen, gehen!« mahnte sie. Einen Block weiter sagte sie: »Zuletzt mußte ich dich gar nicht mehr im Auge behalten. Alle waren so betrunken, daß niemand richtig Notiz von dir genommen hat.« »Nicht einmal die Spitzel?«
»Ach, die betrinken sich immer am meisten.« Sirenengeheul kam näher. »Schnell, komm!« Als sie in Shamars Wohnung angekommen waren, fragte sie: »Nun, wie fandest du die Party?« »Es war sehr lehrreich«, sagte er nach kurzem Überlegen.
5 In den folgenden Wochen verbrachte Shamar viel Zeit damit, durch die Straßen von Xxla zu gehen. Er wollte sich davon überzeugen, daß die Leute, die er auf der Party getroffen hatte, nicht typisch für die übrige Bevölkerung waren. Aber sie waren es. Freitagabend erklärte Ge-Ge: »Shamar, ich kann das nicht mehr lange aushalten. Wie soll das weitergehen? Was hat Von Stutsman vor? Er führt etwas im Schilde. O Gott – ich wünschte manchmal, daß etwas passiert, damit wir wissen, woran wir sind und was wir tun sollen!« Er versuchte, dem Arm um sie zu legen, aber sie stieß ihn fort. »Nicht! Laß mich in Ruhe!« Sie zog sich auf die andere Seite des Zimmers zurück, und einen Augenblick lang standen sich beide aus unerklärlichen Gründen wie zwei Feinde gegenüber. »Tut mir leid«, sagte Ge-Ge höflich. »In Ordnung«, erwiderte Shamar in kaltem und unpersönlichem Ton. »Wir wollen über etwas anderes reden.« Für eine Minute herrschte Schweigen. Dann sagte er: »Ich wollte dich etwas fragen. Ich konnte unter all den Leuten, mit denen ich gesprochen habe, keinen einzigen finden, der irgend etwas Gutes oder Schlechtes über die Erde gesagt hätte. Wie
kommt das? Man sollte doch annehmen, daß über die Erde zumindest gesprochen wird.« »Warum sollten sie denn? Wir haben genug mit unseren eigenen Problemen zu tun.« In diesem Augenblick erschien die Polizei und nahm Shamar, den Arbeiter, fest.
Man sperrte ihn in eine Zelle, in der schon drei andere Gefangene waren. »Warum haben sie dich eingelocht, Kleiner?« Shamar betrachtete den Häftling einen Moment lang, ohne zu antworten. Seine Mitgefangenen blickten auf. »Kein nachweisbarer Lebensunterhalt.« »Ich bin Long John Freed.« Shamar nickte. »Sie wollen dich wegen Hinterziehung der Produktivitätssteuer drankriegen, hm?« Shamar äußerte sich nicht. Freed ließ sich wieder auf seine Pritsche nieder. »Ich sage immer: Nimm dir, was du kriegst. Sieh mal, du bist nur ein kleines Würstchen. Darum pressen sie das letzte aus dir heraus. Nimm doch einmal einen Fabrikdirektor oder einen großen Schwarzmarkthändler – glaubst du vielleicht, die zahlen Steuern? Bestimmt nicht, da kannst du Gift drauf nehmen. Das Ganze ist eine Schiebung. Die Armen müssen sich totzahlen, weil sie sich keine teuren Staranwälte leisten können, die für sie lügen. Und die Reichen werden immer reicher. Ich weiß nicht, warum die Partei das zuläßt.« Freed veränderte seine Lage. »Man kann über die Partei sagen, was man will – und ich kenne ihre Mängel – aber sie hat auch pflichtbewußte Männer in ihren Reihen. Ich mag vielleicht ein kleiner, armseliger Gauner sein, aber ich bin so
patriotisch wie jeder andere auch. Die Partei hat viel Gutes getan. Ist es für dich das erste Mal? Wie alt bist du denn, siebenundzwanzig oder so? Beim ersten Mal versuchen sie, einen zu den Fabrikarbeitern zu stecken. Das ist gar nicht so übel. Zu Anfang tun sie einen mit einer Menge Jungs zusammen – meistens Rekruten. Man bekommt sechs Wochen Hacke und Schaufel aufgebrummt, und danach ist man echt geschafft. Dann kommt die Spezialausbildung. Am besten, du versuchst, als Elektriker oder als Installateur anzukommen. Gipser oder Maurer müssen zu schwer arbeiten. Bei den Zimmerleuten ist’s nicht übel – ich würde im Zweifelsfall die Kunsttischlerei dem rauhen Zimmermannshandwerk vorziehen. Doch gibt es noch richtige Spezialberufe. Aber man muß dafür geschaffen sein, sonst schnappt man über. Abbrucharbeiten sind nicht das Schlechteste; da muß man veraltete Fabriken in die Luft jagen. Das wäre genau mein Fall.« Freed schwieg eine Weile, dann faßte er zusammen: »Manchmal rede ich wie ein Radikaler, und vielleicht bin ich auch ein wenig radikal – ich kann es nicht sagen. Aber alles in allem betrachtet stehen die Dinge gar nicht so schlecht. Ich habe in meinem Leben viele Diebe und kleine Gauner kennengelernt. Was den Patriotismus angeht, können sie es meiner Ansicht nach mit jedem aufnehmen, und in gewisser Hinsicht bin ich stolz darauf. Na ja, lassen wir das und verschaffen wir uns lieber eine Mütze voll Schlaf.«
Als Shamar schließlich eingeschlafen war, träumte er, die Partei sei eine riesige, unzerstörbare Pyramide, die auf der beweglichen Masse der Bevölkerung ruhte. Sie war so konstruiert, daß sie Vibrationen dämpfte. Der Grund erzitterte,
das Zittern setzte sich einige Zentimeter nach oben fort und wurde verschluckt. Die Spitze der Pyramide blieb stabil, fest und unbewegt, ohne Beziehung zu ihrem Fundament. Die Pyramide war wie ein erdbebensicherer Turm gebaut. Sie war für die Dauer gedacht. Die Partei sollte regieren; sie hatte keine andere Aufgabe, als sich ihrem Fortbestehen zu widmen. Alles andere war zweitrangig. Sie war eine organische Maschinerie. Ihr Räderwerk bestand aus Fleisch und Blut. Die Leute an der Spitze waren Wartungsingenieure. Ihre Aufgabe war es, mit einem Ölkännchen herumzugehen und bei Bedarf zu schmieren, um die Reibung minimal zu halten. Er erwachte am nächsten Morgen mit einem Heißhunger und war vom Frühstück bitter enttäuscht. Selbst in Anbetracht seines nicht ganz vorurteilsfreien Blickwinkels war das Essen einfach ungenießbar. Freed machte sich gierig über Shamars Portion her und bemerkte: »Es wird dir besser schmecken, wenn du erst einmal einige Mahlzeiten ausgelassen hast. Das ist immer so.« Eine Stunde später kam der Wärter und öffnete die Zelle. »Shamar, der Arbeiter? Nehmen Sie Ihr Zeug und kommen Sie mit.« Ge-Ge wartete im Besucherraum. Sie hatte ihr Haar für diese Gelegenheit extra in Wellen legen lassen. Die Kleidung, die sie trug, war frisch gebügelt und glänzte. In ihren Augen standen Tränen. Sie flog in seine Arme. »Liebling!« rief sie aus und liebkoste sein Gesicht mit kindlicher Neugier. »War es schlimm? Haben sie dich geschlagen?« »Mir geht es gut.« »Liebling, wir werden dich gegen Kaution herausholen. Ich habe schon alles in die Wege geleitet. Wir müssen nur noch für eine Minute in das Zimmer des Richters, und du bist frei. Gott
sei Dank kannst du diesen schrecklichen Ort verlassen – wenigstens für eine Weile.« Der Wärter brachte Shamars Gürtel und ein Bündel mit seinen Habseligkeiten. Shamar unterschrieb eine Empfangsbestätigung, und sie machten sich auf den Weg zum Richter. Der Richter sagte: »Bitte Platz nehmen.« Er hatte eine volltönende und freundliche Stimme. Er begab sich zu seinem Schreibtisch und setzte sich hin. Ge-Ge und Shamar setzten sich ihm gegenüber. »Ach, ihr jungen Leute«, begann er. »Nun, Sie müssen Shamar, der Arbeiter sein, und Sie – « »Garfling Germapoldlt.« »Natürlich.« Er wandte sich an Shamar. »Es gefällt mir nicht, einen jungen Menschen wie Sie in Schwierigkeiten zu sehen, Shamar. Es erscheint mir so überflüssig. Seit sechzig Jahren, von Kindesbeinen an, bin ich ein pflichtbewußter Mitarbeiter der Partei. O Shamar, wenn ich an das herrliche Paradies denke, das vor uns liegt – diese Zeit voll Kraft und Fülle für uns alle – die Zeit, in der der Reichtum und der Überfluß von Mutter Itra, erzeugt durch die Automatisierung, die Häuser der Reichen und der Armen gleichermaßen überschwemmen wird…« Sie warteten. Er fuhr fort: »Hier sitze ich, Garfling und Shamar, und richte Jahr für Jahr über meine Mitmenschen. Richte arme Geschöpfe, die an meinem Träum nicht teilhaben. Manchmal glaube ich, daß dies nicht der richtige Weg ist. Manchmal glaube ich, daß mein Platz draußen an der Straßenecke ist, wo ich den Traum verkünde, die Seelen erwecke und von der Liebe, der Schönheit und dem Überfluß des künftigen Lebens erzähle.
Ach ja. Aber die Welt ist nicht vollkommen, nicht wahr? Und der Verstand des Menschen ist begrenzt. Sie stehen hier vor mir, Shamar, ohne einen Lebensunterhalt nachweisen zu können und ohne Nachweis der Zahlung von Produktivitätssteuern. Oh, was für ein schlimmes und furchtbares Bild! Haben Sie schon einmal in Ihrem Leben an Ihre Verpflichtung gegenüber der Zukunft gedacht? Sie haben sich an sich selbst vergangen. Sie haben sich an der Partei vergangen. Und Sie haben sich an der Zukunft vergangen. Wenn man die Angelegenheit jedoch in einem größeren Zusammenhang betrachtet, ist es dann nicht so – obwohl Sie das nicht von Ihrer Schuld freispricht – daß wir an Ihnen gefehlt haben? Wie konnten wir es nur zulassen, daß ein Mensch sich so weit erniedrigt, daß wir ihn bestrafen müssen?« Unvermittelt erhob sich der Richter. »Nun, ich habe getan, was ich konnte. Ich empfehle Sie der Obhut von Fräulein Germapoldlt. Ihre Verhandlung wird auf einen späteren Termin festgesetzt. Sie dürfen Xxla ohne Erlaubnis dieses Gerichts nicht verlassen. Und ich hoffe, daß meine heutigen Ermahnungen auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Es ist für Sie nicht zu spät, wieder auf den rechten Weg zu kommen. Und ich darf hinzufügen, daß Ihre Führung bis zur Verhandlung hin Einfluß auf das Urteil haben wird, falls ich über Ihren Fall zu entscheiden habe.«
Ein Taxi brachte sie zu seiner Wohnung. Ge-Ge zitterte während der Fahrt heftig und schmiegte sich an ihn. Leise murmelten sie Zärtlichkeiten. Nachdem er gegessen hatte, sagte sie nervös: »Von Stutsman ist für deinen Gefängnisaufenthalt verantwortlich. Ich hätte wissen müssen, daß wir gegen die Partei nicht ankommen.
Wenn er sich entsprechend Mühe gibt, kann uns keine Macht auf Itra retten.« Schließlich machte sie sich auf den Weg, um einen Anwalt zu finden. In der Dämmerung kam sie zurück. »Shamar, Liebling«, sagte sie, »ich habe einen Anwalt gefunden. Ich habe eine ganze Menge von meinen Freunden gefragt, und er gilt als der beste Anwalt. Er ist der Staranwalt für Linksstehende. Ich habe mit ihm gesprochen und ihm alles erzählt.« »Was! Du hast ihm alles erzählt!« »Ja, allerdings!« »Du – du hast ihm gesagt, daß ich von der Erde bin?« Er packte sie an den Schultern. »Hör zu, Ge-Ge! Ich war wegen einer Sache eingesperrt, mit der ich fertig werden konnte. Aber sieh mal, was du jetzt angerichtet hast! Wieso glaubst du, daß er mich nicht an die Partei ausliefern wird? Die Angelegenheit ist jetzt zu bedeutend. Jetzt handelt es sich nicht mehr um einen Fall von Steuerhinterziehung – für ihn bedeutet es Verrat!« »Es ist alles in Ordnung, Liebling«, sagte sie besänftigend und machte sich von ihm frei. »Ich mußte es ihm sagen, damit er den Fall übernimmt. Warum sollte ein bedeutender Mann wie er denn einen gewöhnlichen Landstreicher verteidigen?« Shamar schloß den Mund. »Aber – du glaubst, er wird es niemandem erzählen?« »Natürlich nicht.« »Hat er denn keine patriotische Gesinnung?« »Sieh doch, Shamar«, sagte sie ungehalten, »du hast mich einmal gefragt, warum das Thema Erde den Mann auf der Straße kaltläßt. Allmählich verstehe ich, wie du das meinst. Du willst wissen, ob wir vor der Erde Angst haben. Ob wir nicht
fürchten, daß uns die Erde, hm, überfällt oder etwas Ähnliches. Darauf willst du doch hinaus?« »Ja, natürlich.« »Damals, als wir am Beginn unserer Raumfahrt standen, herrschte in der Partei große Aufregung über die Möglichkeit, daß eine feindliche Streitmacht von außerhalb einen interstellaren Antrieb entwickeln, über uns herfallen und uns versklaven könnte. Man befragte die Computer. Einen Planeten zu überfallen und zu besetzen erfordert einen technologischen Aufwand, der über jede Vorstellung geht. Vergiß nicht, wir besitzen ein Warnsystem. Es funktioniert zwar nicht sehr gut, sonst wärest du nicht durchgeschlüpft. Eine Invasionsflotte würde ihm jedoch nicht entgehen. In einer Kreisbahn befinden sich computergesteuerte chemische Raketen, und einige sind auf Itra stationiert. Sie können alles vernichten, was langsamer wird und zur Landung ansetzt. Itra zu verteidigen erfordert kein Hundertstel, ja nicht einmal ein Tausendstel des technischen Aufwands, der zum Angriff nötig ist. Die Erde kann es sich einfach gar nicht leisten, uns anzugreifen. Sie würde bei dem bloßen Versuch pleite gehen. Für jede Million Dollar, die ihr in den Angriff stecken würdet, brauchten wir nur tausend aufzuwenden, um euere Landung zu vereiteln. Wenn die Erde unbedingt wollte, könnte sie wahrscheinlich schon Mittel und Wege finden, um Itra in die Luft zu jagen. Aber wer hätte davon einen Nutzen? Wir stören euch ja nicht. Wozu solltet ihr dann das ganze Geld ausgeben, ohne irgendeinen Gegenwert zu erhalten?«
Am nächsten Tag rief Shamar Freemason, den Rechtsanwalt, an. Anwalt Freemason erkundigte sich höflich nach seinen
finanziellen Reserven. Shamar konnte ihn über diesen Punkt beruhigen. »Sehr gut. Das ist äußerst ermutigend. In der Tat, äußerst ermutigend. Der Durchführung unserer Pläne sind also keine Schranken gesetzt. Ich habe mir Ihren Fall durch den Kopf gehen lassen, Herr Shamar. Als erstes muß meiner Ansicht nach die öffentliche Meinung zu Ihren Gunsten beeinflußt werden. Es handelt sich fast um einen Schulfall. Es stecken praktisch keine politischen Interessen dahinter. Es ist nicht so, daß Ihnen ein schweres Vergehen zur Last gelegt würde. Nun, ich glaube, ich kann einige Freunde für Ihre Sache gewinnen, die sich schon immer gern mit Fällen befaßt haben, die mit der Einschränkung der persönlichen Freiheit zusammenhingen – vorausgesetzt, es stecken keine politischen Interessen dahinter. Ich kenne einige gute Leute, die bereit sein werden, ein Verteidigungskomitee aufzustellen. Unter Berücksichtigung dieses Tatsachenmaterials scheint mir eine Summe von, hm, einhunderttausend Dollar angemessen?« Er schwieg. »Ich bin in der Lage zu bezahlen.« »Vielleicht brauchen wir sogar mehr«, fuhr Anwalt Freemason rasch fort. »Wir kommen noch darauf zurück. Wichtig ist es jetzt, Ihren Fall in Angriff zu nehmen.« »Anwalt Freemason, ich bin natürlich kein Rechtsgelehrter«, sagte Shamar, »und ich weiß, daß es nicht gut ist, jemandem in seinem Beruf Ratschläge zu geben. Aber ich glaube, Frau Germapoldlt hat Ihnen von meiner, hm, delikaten und ziemlich ungewöhnlichen Lage berichtet. Es will mir scheinen, daß es besser wäre, wenn wir die öffentliche Aufmerksamkeit möglichst wenig erregen.« Anwalt Freemason wies mit dem Bleistift auf ihn. »Ein sehr guter Einwand, Herr Shamar. Er zeigt, daß Sie denken, und ich lege Ihnen gern die Gründe dar, die mich zu meinem
Vorschlag bewogen haben. Wissen Sie, wenn ich Sie frech der Öffentlichkeit präsentiere, dann wird man annehmen, daß wir Nachforschungen nicht zu fürchten brauchen. Wir haben nichts zu verbergen. Also wird niemand Nachforschungen anstellen. Wenn ich aber vorsichtig, ängstlich und abwehrend auftrete, dann werden sich alle fragen: ›Was hat Anwalt Freemason zu verbergen?‹ Und man wird in Ihrer Vergangenheit herumwühlen. Nun, ich hoffe, diese Frage zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben. Ja? Gut. Dann werde ich mich ohne Verzug an Ihren Fall machen. Gibt es sonst noch etwas? Ich glaube, Frau Germapoldlt hat gestern alles ausführlich genug geschildert. Sie gelten für alle als Mann ohne Papiere. Sie haben nie Steuern bezahlt, aber es gibt keinen Beweis dafür, daß Sie steuerpflichtig sind. Sie haben in der Lotterie gewonnen und das Geld anonym kassiert; viele tun das aus einleuchtenden Gründen. Man soll Ihnen erst nachweisen, daß Sie nicht gewonnen haben. Die Partei kann an so einem Mann nicht besonders interessiert sein. Ich werde einen Fall daraus machen. Vielleicht beklagen wir uns darüber, daß jeder Lotteriegewinner Gefahr läuft, verfolgt zu werden. Die Partei will, daß alles glatt geht. Die Lotterie gibt der Bevölkerung das Gefühl, am Besitz des Allgemeingutes Anteil zu haben. Und es gibt nur allzuviele, die keine Papiere haben. Meine Aufgabe besteht darin, einen speziellen Fall aufzugreifen und daraus irgendwie das Grundsätzliche herauszuarbeiten, so daß sich eine ganze Anzahl von Leuten angesprochen fühlt. Die Partei wird den Weg des geringsten Widerstandes gehen; sie ist nicht blöd. Sie hat aus der Erfahrung gelernt. Es lohnt sich nicht für die Partei, Ihretwegen einen großen Rummel zu machen. Sonst kommt es
zu einer allgemeinen Verärgerung – Leute ohne Papiere, die sich mit der Polizei anlegen und ähnliche Vorfälle.«
Drei Tage danach traf sich Shamar mit dem neugegründeten »Gerechtigkeitskomitee der Einhundert für Shamar, den Arbeiter«. Anwesend waren fünf Mitglieder des Komitees und Anwalt Freemason. Sie berichteten ihm über ihre ersten Aktivitäten. Sie hatten Briefköpfe drucken lassen und Briefe an Leute versandt, deren wohlwollende Gesinnung bekannt war. Einer eilig gedruckten Broschüre ließen sich die Fakten des Falles entnehmen. »Wie Sie sehen«, sagte Anwalt Freemason, »sind wir mit Schwung gestartet. Äh, es ist natürlich alles eine Geldfrage. Ich habe aus meiner eigenen Tasche eine Summe vorgestreckt… Wir werden mehr brauchen, als ich im Moment ohne weiteres zusammenkratzen kann, und ich scheue mich, dem Komitee zu einer – äh – Anleihe zu raten, insofern, als – « »Ich war so frei, etwas Bargeld mitzubringen«, sagte Shamar. »Für die laufenden Kosten, und natürlich für Ihr Honorar.« Alle sahen erleichtert aus. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet, Herr Shamar. Ich schlage vor, wir ernennen ein Mitglied des Komitees zum Schatzmeister – vielleicht Frau Freetle hier« – die Dame lächelte –, »um Sie nicht mit Geldangelegenheiten zu belasten. Das wird Sie in die Lage setzen, sich ganz Ihrer Verteidigung zu widmen.« »Nachdem dies geklärt ist«, sagte eines der männlichen Komiteemitglieder, »wollen wir nunmehr voll in die Sache einsteigen. Wie Sie sehen, kommen wir schnell voran. Unsere Strategie ist ungefähr folgende: Als erstes müssen wir für Sie ein öffentliches Image aufbauen, Herr Shamar, ein Image, mit dem sich der Mann auf der Straße identifizieren kann. Anwalt
Freemason hat uns Ihren Fall geschildert. Ich weiß wirklich nicht, wie die Partei dazu kommt, einem Mann wie Von Stutsman zu gestatten, Sie auf diese Weise zu verfolgen. Oh, ich sage Ihnen, so etwas bringt mich auf die Palme!« Die anderen Komiteemitglieder stimmten zu, und es kam zu einigen Gefühlsausbrüchen. »Nun«, sagte Anwalt Freemason, »ich glaube, das genügt für den Augenblick. Sie wissen alle, wo Sie mich erreichen können. Jederzeit, Tag und Nacht. Wenn Sie, Herr Shamar, das Geld bitte an Frau Freetle übergeben wollen. Und wenn Sie, Herr Hall, diesen Verfasser von Ansprachen verpflichten wollen – wie heißt er doch gleich? McGoglhy? –, damit er sich mit Herrn Shamar an die Ausarbeitung der Ansprachen setzt.« »Ansprachen?« fragte Shamar. »Sie werden natürlich unser Hauptredner bei allen unseren Veranstaltungen sein«, sagte Frau Freetle. »Ich weiß, daß Sie das wirklich glänzend erledigen werden. Ihr Akzent ist so entzückend. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört.«
6 Am Abend seines ersten öffentlichen Auftretens wurde Shamar eine säuberlich getippte Ansprache ausgehändigt. Eilig studierte er sie ein, mit Kunstpausen und allein, was dazugehört. »Mitbürger! Wenn ich so dastehe und über die wogende Menge blicke, Ihren Beifall höre und sehe, wie sich Ihre Herzen für einen einzelnen Mann auftun, der in Bedrängnis geraten ist, dann – ich – dann bin ich zutiefst gerührt. Es fehlen mir die Worte, Ihnen zu schildern, wieviel das für mich bedeutet. Ich habe für den heutigen Abend ein Manuskript vorbereitet, aber ich werde es nicht benutzen. Ich will statt
dessen einfach vor Ihnen stehen und Ihnen mit den Worten, die mir dieser Augenblick eingibt, meine Gefühle mitteilen.« An dieser Stelle würde er eine Pause für den Applaus machen und dann fortfahren: »Ich danke Ihnen sehr. Vielen Dank. Ich weiß, daß Sie alle hinter mir stehen – mit Ausnahme der Polizeispitzel unter den Zuhörern.« Hier würde er auf Gelächter warten. »Wir alle kennen sie, nicht wahr? Ich sehe ein rundes Dutzend davon. Ein Dutzend Spitzel haben sich hierher bemüht, um zu hören, was ich sage. Ist das nicht einfach lächerlich?« Hier würden Anfeuerungsrufe, Beifall und Gelächter gleichzeitig kommen. »Schön. Ich danke Ihnen! Ich hoffe, diese Burschen nicht zu enttäuschen.« Später würde er dann fragen: »Warum tut man mir das an? Können Sie mir das sagen? Was habe ich verbrochen? Wessen bin ich angeklagt? Das eine will ich Ihnen sagen – ich bin nicht der Mann, der sich drangsalieren läßt und kuscht. Ich werde mich wehren. Ich habe von meinem Lotteriegewinn noch etwas Geld übrig, und ich werde jeden Groschen in den Kampf gegen diejenigen stecken, die mir das antun.« An dieser Stelle würde er eine dramatische Pause einlegen. »Ich gebe Ihnen folgendes zu bedenken. Es geht hier nicht um Shamar, den Arbeiter. Was bin ich schon? Ein armer Gelegenheitsarbeiter, der von Stadt zu Stadt zieht. Ich bin ein Nichts. Ich hatte nie Besitz, und ich werde vermutlich nie welchen haben. Ich bin kein reicher Schwarzhändler oder Geschäftemacher. Ich bin kein fetter Politiker. Ich bin nur ein einzelner kleiner Mann. Aber es geht nicht um mich – das möchte ich betonen – es geht nicht um Shamar, den Arbeiter. Er ist unwichtig. Wichtig ist einzig und allein die Tatsache, daß man mit Ihnen genauso umspringen kann wie mit mir. Wenn heute Shamar, der Arbeiter dran ist, dann steht morgen vielleicht einer von Ihnen an diesem Pult und sagt dieselben Worte. Wie Sie sehen, ist
dies hier Ihr Kampf. Es geht nicht um mich – es geht um das Prinzip – « Die Veranstaltung hatte einen glänzenden Erfolg. Bei jeder seiner Kunstpausen reagierte das Publikum so, wie es der Verfasser der Rede vorhergesehen hatte. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob sich die Zuhörerschaft genau so sorgfältig wie er auf die Ansprache vorbereitet habe. Der nächste Abend brachte eine weitere Veranstaltung. Und dieser folgte noch eine. Und noch eine. Er bekam nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht, als die Kampagne voll angelaufen war. Er sprach Dutzende Male im grellen Scheinwerferlicht der Fernsehstudios. Er ließ sich immer wieder im offenen Wagen durch ungezählte Straßen fahren. Gesichter über Gesichter zogen an ihm vorbei; sie kamen und gingen. Menschen riefen mit Tränen in den Augen: »Gott segne Shamar, den Arbeiter!« Einmal engagierte das Komitee sogar eine Blaskapelle. So ging es zwei Wochen lang. Dann ließ ihn die Partei wieder ins Gefängnis werfen, offensichtlich, um die Bewegung ihres antreibenden Moments zu berauben. Nach drei Tagen, während derer er in Isolierhaft gehalten wurde, erhielt Anwalt Freemason die Erlaubnis, seinen Klienten zu sprechen. »Wir kommen wunderbar voran! Ge-Ge hat sich zu einer äußerst effektvollen Kreuzritterin entwickelt. Sie sollten sie nur hören, wenn sie ausruft: ›Gebt mir meinen Mann wieder!‹ Die Entwicklung kommt uns sehr zustatten. Die von der Partei beabsichtigte Wirkung hat sich ins Gegenteil verkehrt. Diesmal hat sich von Stutsman übernommen. Die Partei muß einen Rückzieher machen, und das wird ihn teuer zu stehen kommen.« »Wie steht es mit den Finanzen?«
»Ge-Ge hat uns einige Vorauszahlungen zukommen lassen – « »Wieviel haben Sie ausgegeben?« »Ich bin nicht ganz auf dem laufenden, um die Wahrheit zu sagen. Vielleicht haben wir ein wenig mehr ausgegeben, als wir ursprünglich angenommen hatten. Wissen Sie, der Erfolg…« Shamar ging in seine Zelle zurück und wünschte, die Notenpresse auf der Erde wäre ein wenig länger in Betrieb gesetzt worden. Es nahm fast zwei Wochen in Anspruch, für Ge-Ge eine Besuchserlaubnis zu erwirken. Als sie kam, war sie den Tränen nahe. »Liebling, wie du mir gefehlt hast!« Sie berichtete ihm den neuesten Stand der Dinge. Wie Anwalt Freemason schon gesagt hatte, war durch eine Inhaftierung der Eifer seiner Anhänger nur noch vermehrt worden. Ihre Einsatzfreude hatte jetzt den Gipfel erklommen: eine Höhe, die schwer beizubehalten war. »Wenn die Partei noch ein oder zwei Wochen so weitermacht, werde ich noch krank vor Kummer«, sagte sie. »Ich will dich nicht beunruhigen, Shamar, aber du solltest wissen, wie es steht. Anwalt Freemason meint, daß du schlimmstenfalls mit einem Urteil rechnen mußt, das auf einen kurzen Gefängnisaufenthalt von höchstens einem Jahr wegen Steuerhinterziehung lautet. Wir können dich für eine ganze Weile auf Widerruf frei bekommen.« »Ge-Ge, wieviel haben wir bisher ausgegeben?« »Etwa dreihunderttausend Dollar.« »Mein Gott! Wenn alles vorbei ist, werden wir blank sein. Wenn ich jemals auf die Erde zurückkommen sollte – « »Das Geld ist mir gleichgültig, Shamar! Ich möchte, daß du frei bist!«
Er packte sie an den Schultern. »Ge-Ge, was ist, wenn sich die Partei keinen Rückzieher leisten kann? Vielleicht glauben sie, sie dürften nicht nachgeben, um künftigem Ärger vorzubeugen. Und wenn Freemason das ganze Geld eingesteckt hat? Welche Chance haben wir dann noch? Sie können mich für Jahre aus dem Verkehr ziehen. Sie werden aus mir einen Präzedenzfall machen. Sag, bist du bereit, voll mitzumachen? Jeder würde die Gelegenheit, sie abzuwählen, am Schopf packen. Wenn wir könnten – « »Bitte, Shamar«, sagte Ge-Ge, »dieses Gerede von den Wahlen, mit dem du immer kommst, hat wahrscheinlich schon etwas für sich – aber es hilft uns nicht weiter. Vor allem gibt es keine Möglichkeit zu wählen.« »Vielleicht doch«, erwiderte er.
Shamar saß noch im Gefängnis, als Ge-Ge am nächsten Tag im Fernsehen auftrat. Die KLWED hatte sich geweigert, ihr eine Sendezeit einzuräumen. Die KLWED war Itras größter Industrieverband – Kunststoffe, landwirtschaftliche Maschinen, Waschmittel, Elektrizität und Druckgewebe – und da der Verband so mächtig war, kontrollierte er das gesamte Fernsehübertragungsnetz. »Meine Güte«, sagte der Sendeleiter, »niemand kann behaupten, wir hätten Ihnen keine Schützenhilfe gegeben, Frau Germapoldlt.« »Man hat Sie zurückgepfiffen!« protestierte sie. »Man? Etwa die Partei? Glauben Sie das im Ernst, Frau Germapoldlt? Niemand schreibt einem Sendeleiter vor, was er ins Programm setzen soll. Glauben Sie mir. Es existiert keinerlei Vorzensur. Aber andererseits können wir das
Fernsehen auch nicht zum Werbeträger für Minderheiten machen.« Ge-Ge argumentierte und plädierte, und schließlich meinte der Mann seufzend: »Ich glaube, wir haben für Sie schon mehr als genug getan. Aber weil Sie es sind – und das ist eine persönliche Gefälligkeit, Frau Germapoldlt, weil sie eine junge und anziehende Frau sind –, weil Sie es sind, will ich unseren Programmdirektor anrufen und sehen, ob wir Sie im Mittagsinterview unterbringen können. Damit verfügen Sie über das itraweite Fernsehnetz, und das ist sicher mehr, als irgend jemand verlangen kann. Sie haben neunzig Sekunden Sendezeit. Mehr kann ich nicht für Sie tun.« »Ach, vielen, vielen Dank«, schluchzte Ge-Ge. »Sie sind so anständig und großzügig.« Als sie wieder draußen war, atmete sie tief ein, drückte den Daumen und eilte heim, um ihre Ansprache abzuändern. Sie hatte mit höchstens sechzig Sekunden gerechnet. Ge-Ge kam frühzeitig im Studio an und wurde der Schminkabteilung übergeben. Mit geschickter Hand verwandelte man dort ihre Jugend in Alter und brachte es fertig, ihren Gesichtszügen den Ausdruck von Kummer und Niedergeschlagenheit zu verleihen. Ihre Proteste wurden überhört. »So und nicht anders treten Sie im Fernsehen auf«, gab man ihr Bescheid. Als sie fertig war, versicherte man ihr allgemeines Mißfallen und schickte sie zu einer kurzen Unterredung mit dem Chef vom Dienst. Dieser versicherte ihr, daß sie himmlisch aussehe und überflog hastig ihre vorbereitete Rede, die in der Nachrichtenzentrale von unbekannter Hand einschneidende Korrekturen erhalten hatte. Er brachte noch einige unwesentliche Änderungen an und sandte die Rede an die
Abteilung weiter, die für die Ablesetafel zuständig war. Es wurde Ge-Ge erklärt, daß sie Wort für Wort von der elektronischen Anzeige ablesen sollte. Von den Kulissen aus verfolgte Ge-Ge den Programmablauf. Als sie eine Werbesendung für den Genuß einer bestimmten Sorte von Süßigkeiten hörte, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Der Mut drohte ihr zu sinken. Aber der Gedanke an Shamar gab ihr wieder Kraft. Das Zeichen ertönte. Sie begab sich in die schreckliche Helligkeit, die jede Unvollkommenheit einer mikroskopischen Inspektion unterzog. Sie schüttelte Hände, drehte sich um und wurde von der Kamera in einer Nahaufnahme erfaßt. Vor den Bildschirmen befand sich die größte Tages-Zuschauerquote von Itra. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Poren mit minutiöser und kritischer Aufmerksamkeit gemustert. Sie zwinkerte nervös und begann zu lesen. »Ich bin hier, um Ihnen von Shamar, dem Arbeiter zu erzählen.« Bis dahin hielt sie sich an den vorbereiteten Text. Ehe ihre entsetzten Zuhörer im Studio recht begriffen, was geschah, war sie mitten in einer Rede gänzlich anderer Art. »Wenn Sie etwas für Shamar, den Arbeiter tun wollen, dann kaufen Sie keine Süßigkeiten mehr! Verzichten Sie auf den Kauf von Süßigkeiten. Wenn Sie Shamar, dem Arbeiter helfen wollen, dann kaufen Sie bis zu seiner Freilassung keine Süßigkeiten mehr! Wenn Sie Shamar helfen wollen, dann, bitte, kaufen Sie keine – « An dieser Stelle blendeten die Techniker Ge-Ge aus und brachten statt dessen eine ölig vorgetragene Sendung des Süßigkeiten-Herstellers, die zum Vorhergehenden wie die Faust aufs Auge paßte und mit den Worten begann: »Freunde, jeder mag Rot-Block-Candy, und Millionen kaufen ihn Tag für Tag. Und zwar deshalb, weil…«
Ge-Ge benutzte die durch sie entstandene Verwirrung, um unbemerkt das Studio zu verlassen. Auf der Türschwelle zu ihrer Wohnung wartete schon der zornerfüllte Anwalt Freemason. In der Wohnung ließ sie ihn sein Anliegen vortragen. Dieser neue Schachzug, führte er aus, würde schreckliche Folgen nach sich ziehen. Shamars guter Ruf sei jetzt mit Vorurteilen belastet. Man könne sich in solchen Angelegenheiten nicht ungestraft außerhalb des Gesetzes begeben. Es gäbe Regeln, die in diesem Spiel unbedingt befolgt werden müßten. Er könne für die Folgen ihrer Handlung keinerlei Verantwortung übernehmen. »Ich hoffe zu Gott, daß daraus kein Schaden entsteht«, schloß er. »Das Komitee muß ein Dementi ausarbeiten – « Als er so weit gekommen war, klingelte das Telefon. Anwalt Freemason hob ab, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Ja? Hier ist Anwalt Freemason, sprechen Sie.« Er lauschte einen Augenblick, sagte mit müder Stimme »Ja« und legte den Hörer zurück. Er drehte sich zu Ge-Ge um. »Es geht schon los. Das war Pete Freetle vom Komitee.« »Nun«, sagte Ge-Ge, »ich denke, wir warten jetzt erst einmal ein paar Tage ab und sehen, was dann passiert.« Eine Woche danach wartete Ge-Ge immer noch. Ohne Geldmittel war Anwalt Freemason zur Tatenlosigkeit verurteilt. Er sah alles um sich herum in Trümmer fallen. »Aber werden noch Süßigkeiten verkauft?« fragte Ge-Ge. »Das hat damit nichts zu tun!« rief Anwalt Freemason. »Sehen Sie mal, jeder Knallkopf auf dem Planeten wird jetzt loslegen. Shamar ist ihnen gleichgültig. Sie werden lediglich beweisen, daß die Partei unpopulär ist. Aber das ist sowieso jedem bekannt.« Er preßte erbittert die Hände an die Stirn.
Zwei Wochen lang war alles ruhig. Es fanden keine Versammlungen für Shamar, den Arbeiter mehr statt. Die Plakate wurden abgerissen und zerstört. Es wurden keine Tagesberichte mehr herausgegeben. Über das Netzwerk des elektronischen Nachrichtendienstes ging keine Nachricht mehr über Shamar. Das bankrotte Komitee löste sich unter gegenseitigen Bezichtigungen und Zänkereien in der Überzeugung auf, daß die Sache der persönlichen Freiheit um hundert Jahre zurückgeworfen war. Aber Süßigkeiten wurden nicht verkauft. Sie verstopften die Verteilungskanäle. Sie stapelten sich in den Kaufhäusern. Sie lagen unberührt in den Lagerhallen. Sie wurden ranzig. Doch die automatischen Fabriken produzierten mechanisch weiter. Die Partei dementierte, daß der Boykott irgendeine Wirkung hätte. Das konnte die Verteiler, Verkäufer und Produzenten von Süßigkeiten jedoch nicht beruhigen. Sie bangten um ihre Stellung. Sie hatten Rechnungen und Löhne zu bezahlen. Die Partei stoppte die Herstellung von Süßigkeiten. Arbeitnehmer standen plötzlich ohne Arbeitsplätze auf der Straße. Das Wirtschaftssystem war so straff kontrolliert und organisiert, daß die Wirkung sofort eintrat. Es war nicht genug Geld verfügbar, um ebensoviel Vorräte wie zu normalen Zeiten zu kaufen. Die Lieferanten kürzten ihre Fabrikaufträge, wodurch der Bedarf an Vorräten noch weiter zurückging. Als es so weit gekommen war, beschloß die Partei, daß die Bevölkerung auf Gedeih und Verderb Süßigkeiten essen müsse. Der Parteiführer appellierte persönlich über das Fernsehen an den Patriotismus der Leute und forderte sie auf, wieder Süßigkeiten zu kaufen. Das sollte sich als taktischer Fehler herausstellen. Aber da es die Idee des Parteiführers
selbst war, der sich schon immer in Schwierigkeiten gestürzt hatte, wurde kein Widerspruch laut. Die Folgen zeigten sich auf dem Fuß. Die Leute wehrten sich dagegen, daß ihnen weisgemacht wurde, es sei ihre patriotische Pflicht, etwas zu essen, das aller medizinischer Erkenntnis zufolge schädlich war. Darüber hinaus wurde den Leuten klar, daß sie irgendwie auf einen schwachen Punkt des Systems gestoßen waren, den sie ohne unmittelbare Gefährdung ausschlachten konnten. Sie reagierten, indem sie keine Seife mehr kauften. Die Bevölkerung befand sich nun im offenen Aufstand. Schließlich hatten die Itraianer doch eine Methode entdeckt, die es ihnen ermöglichte, ihrer allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Mit der Wirtschaft ging es bergab. Die Computer drehten durch. Die Auswirkungen korrigierender Maßnahmen waren nicht mehr vorherzusehen. Die Partei versuchte krampfhaft, Seife aufzukaufen und zu Schleuderpreisen auf den Markt zu werfen. Die Bevölkerung wich auf andere Waren aus. Jetzt entstand innerhalb der Partei selbst Druck. Der Direktor der KLWED sah sein sorgfältig aufgebautes Reich zerfallen. Eine massive Stagnation auf dem Markt für angewandte Kunststoffe (verstärkt durch einen Boykott) kostete einigen maßgeblichen Leuten die Stellung. Der Direktor der KLWED forderte den Parteiführer persönlich auf, wirkungsvollere Maßnahmen als bisher zu treffen, und zwar bald. Der Parteiführer ordnete die Freilassung von Shamar, dem Arbeiter an. Aber zu diesem Zeitpunkt war niemand mehr an Shamar, dem Arbeiter interessiert.
Der Mann kam und schloß die Tür zu Shamars Zelle auf. Shamar stand auf. Der Wärter warf Shamars Kleidung herein. »Anziehen!« Shamar zog sich an. »Mitkommen!« Shamar ging mit. Shamar hatte seit fast zwei Monaten keine Nachrichten mehr von draußen erhalten, und erst an Ge-Ges freudestrahlendem Gesicht merkte er, daß er gewonnen hatte. »Du bist frei!« rief sie aufgeregt. Shamar erhielt seinen Gürtel und seine Habe zurück. Als sie zur Erledigung der amtlichen Angelegenheiten auf den Richter warteten, sagte Shamar: »Ich frage mich, wie es jetzt weitergeht.« »Das kann niemand sagen. Alle glauben, daß die Partei am Ende ist. Einzelne Parteimitglieder werden versuchen, eine neue Regierung zu bilden, aber sie wird sich von der bisherigen Regierungsform grundsätzlich unterscheiden müssen. Sie werden zwar zu retten versuchen, was sich retten läßt, aber die Bevölkerung wird um jedes kleinste Zugeständnis kämpfen. Vielleicht werden die neugebauten Fabriken künftig nicht in die Luft gesprengt und tatsächlich Gebrauchsgüter produzieren.« »Für eine kurze Weile«, zweifelte Shamar. »Länger als für eine Weile«, erwiderte Ge-Ge. »Wir haben jetzt eine Möglichkeit zu wählen kennengelernt, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten.« Der Richter betrat in seiner roten Robe den Raum. Sie erhob sich respektvoll. Er betrachtete sie lange und schweigend. Schließlich ergriff er das Wort: »Shamar, der Arbeiter, Sie haben jetzt wohl erreicht, was Sie wollten. Sie haben eine ganze Zivilisation zu Fall gebracht. Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden. Womit wollen Sie uns den Traum ersetzen, den Sie uns genommen haben?« Sein Gesicht wurde hart.
»Shamar, der Arbeiter«, fuhr er fort, »der Parteiführer persönlich hat uns gebeten, die gegen Sie anhängigen Verfahren einzustellen. Diesem Wunsch komme ich hiermit nach. Sie können gehen.« »Danke«, sagte Shamar respektvoll. »Shamar, der Arbeiter, ich hoffe in Ihrem Interesse, daß ich nie mehr über Sie zu Gericht sitzen muß. Sie sollten sich davor hüten, noch einmal aus irgendeinem Grund inhaftiert zu werden. Ich werde Ihnen gegenüber kein Mitleid zeigen, sondern der Gerechtigkeit kurz und knapp Genüge tun. Und damit Sie nachts keine Ruhe finden, habe ich einige meiner erfahrenen und zuständigen Freunde gebeten, Ihre Vergangenheit gründlich zu durchleuchten. Sie sollten sich wünschen, daß sie nichts finden. Sie können gehen.« Ge-Ge und Shamar standen da. Dann wandten sie sich wortlos um. Als sie an der Tür waren, rief der Richter: »Ach, Shamar, der Arbeiter!« Er drehte sich um: »Ja, bitte?« »Shamar, der Arbeiter, ich kann Ihren Akzent nicht ausstehen.« Shamar fühlte, wie Ge-Ge an seiner Seite zitterte. Aber als sie auf die Straße traten, wurden sie von Schlagzeilen empfangen, die ankündigten, daß eine Delegation des Planeten Erde gelandet war.
7 Die Erddelegation bewohnte eine Suite im Parteihotel, dem größten und teuersten auf Itra. Normalerweise war es für hohe Parteimitglieder reserviert.
Shamar und Ge-Ge gingen zum Empfangspult. Shamar schrieb auf Englisch eine Nachricht. »Bitte händigen Sie das den Erdleuten aus«, sagte er. Shamar und Ge-Ge zogen sich zurück und warteten auf die Wirkung der Nachricht. Es waren keine fünf Minuten vergangen, als der Empfangschef zurückkam. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, bat er sie respektvoll. Beim Betreten der Suite spürte Shamar, wie die Persönlichkeit von Shamar, dem Arbeiter zur Erinnerung wurde. »Captain Shaeffer! Captain Shaeffer! Was für eine großartige Leistung. Ich bin Gene Gibson von der neugeschaffenen Abteilung für außerirdische Angelegenheiten. Wer ist denn das?« »Das ist meine Verlobte.« »Meine Güte, Mann, Sie wollen doch nicht etwa eine Eingeborene zur Frau nehmen?« Der Mann trat bestürzt einen Schritt zurück. Captain Shaeffer wandte sich an Ge-Ge und machte die beiden in zwei Sprachen miteinander bekannt. Sie gingen in den Empfangsraum und setzten sich. »Ich muß sagen, Captain Shaeffer, daß Ihr Erfolg auf Itra unsere kühnsten Erwartungen übertroffen hat. Die erste Ahnung kam uns, als wir Sie völlig unvermutet auf dem Bildschirm sahen! Sie hätten an diesem Abend bei unserer Feier dabei sein sollen! Sie waren noch nicht viel länger als zwei Monate auf Itra gewesen. Sie werden als einer der größten Helden aller Zeiten in die Geschichte eingehen.« Captain Shaeffer erwiderte: »Ich halte es für das beste, wenn Ge-Ge und ich sofort an Bord Ihres Schiffes gehen. Ihr Leben dürfte in Gefahr sein. Einige linientreue frühere Parteimitglieder könnten ihr die Rolle, die sie bei der
Revolution gespielt hat, übelnehmen. Und tatsächlich hat sie mehr dazu beigetragen als ich.« »Aber, aber, Captain Shaeffer, sicher übertreiben Sie da ein wenig. Das Leben ihrer Verlobten soll in Gefahr sein? Ich bitte Sie! Um offen zu sein, Captain – und Sie müssen mir glauben, daß ich persönlich nichts dagegen einzuwenden habe; es ist schließlich nicht meine Angelegenheit – aber letzten Endes ist sie doch eine Itraianerin. Sie wissen, daß diese Mischehen – « »Ich pfeife auf Ihre persönliche Meinung«, fauchte Captain Shaeffer. »Ist das ein für allemal klar? Sie kommt mit.« »Selbstverständlich. Ich wollte ja nur – brausen Sie doch nicht gleich auf. Selbstverständlich kommt sie mit. Ganz wie Sie wünschen, Captain.« Ge-Ge hatte zwar nicht verstanden, worum der zornige Wortwechsel ging, aber Furcht und Bangen trieben ihr die Tränen in die Augen.
Als eine Woche danach Gene Gibson seinen ersten Besuch bei den beiden abstattete, fragte ihn Shaeffer nach dem Stand der Dinge. »Nun, Captain, es geht voran. Wir bilden eine neue Regierung, die der Bevölkerung von Itra in größerem Umfang verantwortlich ist als bisher. Wir haben mit dem Parteiführer einige erfreuliche Informationsgespräche geführt. Er ist ein wirklich vorzüglicher Mann. Nachdem er einmal im Besitz aller Informationen war – Informationen, die ihm bei unserer ersten Landung vorenthalten worden waren –, entpuppte er sich als äußerst verantwortungsbewußt. Ich glaube, wir haben ihn verkannt. Ich bin ziemlich sicher, daß er der richtige Mann ist, um der neuen Regierung vorzustehen. Wir haben einige Details des Handelsabkommens erörtert, und ich muß sagen, er hat eine sehr vernünftige Haltung an den Tag gelegt.«
Captain Shaeffer schwieg. »Ja«, fuhr Gene Gibson fort, »er ist wirklich eine Ausnahmeerseheinung. Er besitzt reiche administrative Erfahrung und ein feines Gespür für die politische Praxis. Für mich ist er überhaupt kein typischer Vertreter von Itra. Er meinte, daß er mit unserer Hilfe das ganze Durcheinander in einigen Monaten bereinigt haben wird.« »Das Durcheinander?« »Wenn Sie die gegenwärtige Haltung der Bevölkerung betrachten, Captain Shaeffer, dann müssen Sie zugeben, daß Sie – äh – das Handelsabkommen ziemlich erschwert haben. Wissen Sie, die Erde wünscht sich eine stabile und verantwortungsbewußte Regierung. Das heißt eine Regierung, die über längere Zeiträume hinweg planen kann. Und nicht eine, die sich in Auseinandersetzungen mit unpatriotischen Anarchistengruppen aufreibt, die die Straßen unsicher machen.« »Wovon spricht er?« fragte Ge-Ge. »Wie die Dinge jetzt stehen«, fuhr Gene Gibson fort, »haben wir eine Reihe schwieriger Probleme zu meistern. Wahrscheinlich müssen wir Itra für einige Monate unter Quarantäne stellen, bis der Parteiführer selbst imstande ist, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Irgendwie sind Einzelheiten unserer Wirtschaftsverhandlungen durchgesickert, was zu einer allgemeinen Arbeitsniederlegung geführt hat. Verstehen Sie jetzt? Zum Teufel, ich will es frei heraus sagen: Shaeffer, Sie haben ein infernalisches Durcheinander hinterlassen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Gene Gibson. »Was hat er gesagt?« fragte Ge-Ge bittend. Aber Shaeffer schüttelte nur den Kopf.
Am darauffolgenden Tag stattete der Schiffskommandant einen Höflichkeitsbesuch ab. »Sie haben sauber gearbeitet, Merle. Ihr neuer Stellungsbefehl traf übrigens gerade über Raumfunk ein.« »Neuer Stellungsbefehl? Ge-Ge und ich kehren zur Erde zurück!« »Nein. Wir sollen Sie unterwegs auf Folgers Hill absetzen. Das ist ein neuer Planet. Sie sind der terranische Repräsentant bei der dortigen Bevölkerung. Die erste Schiffsladung mit Kolonisten ist vor etwa einem Monat eingetroffen.« »Aha!« sagte Captain Shaeffer. »Die Bezahlung ist gut«, versicherte der Schiffskommandant. »Und wenn ich nicht gehen will?« »Ich habe Befehl, Sie unterwegs abzusetzen. Ich an Ihrer Stelle würde gehen. Man will Sie eine Zeitlang aus dem Weg haben. Sie können nichts dagegen machen. Sie sind zum General der Verteidigungskräfte ernannt worden und fallen unter das Militärgesetz – und das ist ein Befehl.« Ge-Ge unterbrach die Unterhaltung und fragte: »Wie steht es in Xxla?« General Shaeffer unterdrückte seinen Ärger und übersetzte die Frage. »Man läßt uns gar keine Nachrichten zukommen. Die Mannschaft hat Ausgangssperre.« Shamar, der Arbeiter wandte sich an Ge-Ge. »Es geht wieder von vorn los«, sagte er.
Ein Jahr danach spuckte der Computer die Karte von General Merle S. Shaeffer aus. »General Shaeffer steht zur Zuteilung einer neuen Aufgabe heran.« »Wer ist General Shaeffer?«
»Nie von ihm gehört.« Die Karte wurde nach oben weitergeleitet. »Merle S. Shaeffer steht zur Neuzuteilung einer Aufgabe heran«, sagte tags darauf ein Mann, dem der Name bekannt war, beim Mittagessen zu dem Vorsitzenden der Obersten Ratsversammlung. »Es ist ein neuer Planet erschlossen worden, der noch weiter entfernt ist als Folgers Hill.« »Ist er der Mann, der den Itra-Auftrag vermasselt hat? Schicken Sie ihn dorthin. Was gibt es übrigens Neues von Itra?« »Immer das gleiche. Wie ich gehört habe, haben die Anarchisten eine Art Regierung gebildet.« »Schrecklich, schrecklich. Nun ja, je weniger man darüber spricht, desto besser.« Eine Woche danach erhielt der Vorsitzende wiederum beim Mittagessen eine neue Nachricht. »Vermutlich brauchen wir uns nicht mehr um Merle S. Shaeffer zu kümmern. Einige Wochen nach seiner Ankunft auf Folgers Hill sind er und diese Itraianische Frau spurlos verschwunden. Vermutlich hat ein Jagdunfall beide erwischt. Man hat ihre Körper nie gefunden. Solche Dinge geschehen immer wieder auf unzivilisierten Planeten.« Der Vorsitzende schwieg lange. Dann sagte er: »Shaeffer ist tot? Es ist wahrscheinlich besser so. Nun, ein Genie ist dahin, und wir werden seinesgleichen nicht so schnell wiederfinden. Er war vielleicht verdreht, aber trotzdem ein Genie.« Sie tranken feierlich. »Auf Merle S. Shaeffer. Man kann ihn als Helden bezeichnen, und darauf wollen wir anstoßen. Niemand außer uns wird es jemals wieder tun.« Sie hoben wieder die Gläser. In der Folgezeit ereignete sich nichts mehr, das den Vorsitzenden veranlaßt hätte, an Merle S. Shaeffer zu denken,
und ein halbes Jahr später trat er nach Ablauf seiner Amtszeit zurück. Der neue Vorsitzende war mit der Affäre von Itra nicht vertraut. Er war fast ein halbes Jahr im Amt gewesen, als er eines Morgens in wilder Wut sein Büro betrat. »Geben Sie mir den Chef der Verteidigungskräfte!« »Bedaure, Sir, alle Telefonverbindungen sind gestört«, sagte seine Sekretärin. »Was zum Teufel wollen Sie damit sagen, daß alle Telefonverbindungen gestört sind?« »Ich weiß nicht. Es scheint, als hätten sich alle verabredet, den Hörer nicht auf die Gabel zu legen oder so.« »Warum sollten sie so etwas tun? Das ist ja lächerlich! Schicken Sie einen Boten!« Eine halbe Stunde später erschien der Chef der Verteidigung. »Wissen Sie schon«, fragte der Vorsitzende, »daß seit gestern keine Pennymünze mehr im Umlauf ist? Anscheinend haben die Leute in den letzten Monaten alle Pennymünzen zurückgehalten. Das hat sich jetzt herausgestellt. Mit einem Schlag gibt es keine Pennymünzen mehr. Man kann nichts daran ändern. Zum Teufel, aus welchem Grund sollten alle diese Idioten sich verabredet haben, gleichzeitig alle Pennymünzen zurückzuhalten? Es gibt keine vernünftige Erklärung dafür. Warum tun sie das nur?« Der Chef der Verteidigung schwieg. Wie sehr der Vorsitzende auch toben mochte, der Chef der Verteidigung hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, daß ein totgeglaubter Held zur Erde zurückgekehrt war.
Originaltitel: SHAMAR’S WAR Copyright © 1964 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY SCIENCE FICTION Februar 1964
J. T. McIntosh PLANET DER ASKETEN
Ich bin noch nie der hartgesottene, frauenbetörende Supermann-Typ eines Agenten gewesen, auch nicht damals, als ich noch viel jünger war. Bei den sehr seltenen Gelegenheiten, wo schöne Mädchen auf exotischen Welten mich in ihre Schlafzimmer lockten, geschah alles zu offensichtlich in der Absicht, herauszufinden, was ich herausgefunden hatte. Die bezaubernden Damen wußten nicht nur, daß ich es wußte, sondern sie wußten auch, daß ich wußte, daß sie es wußten. Ein Umstand, der geeignet war, der Situation Glanz und Erotik zu nehmen. Als ich in Arneville, der Hauptstadt des Planeten Solitaire, landete, war ich noch weniger hartgesotten und entsprach noch weniger dem Typ eines Supermanns als zu der Zeit, da ich noch ein Grünschnabel von fünfunddreißig oder vierzig Jahren war. Ich sollte versuchen, das Geheimnis einer Welt zu entschleiern, die zwar alle Voraussetzungen besaß, reich zu sein, es jedoch nicht war. Als ich in Arneville ankam, war ich achtundvierzig, verheiratet und hatte drei erwachsene Kinder. Der terranische Nachrichtendienst hatte einige Überredungskünste aufwenden müssen, um mich zur Annahme des Auftrags zu bewegen. Die Aufgabe erforderte nämlich einen echten Historiker, und ich war einer. Phyllis gab ihr Einverständnis, weil die Agenten des Nachrichtendienstes fast immer von Solitaire zurückgekehrt sind (der Planet verdankt seinen Namen dem Umstand, daß er der einzige Planet in seinem Sonnensystem ist).
Solitaire ließ sie kommen, eine Weile herumschnüffeln und dann wieder ziehen, ohne daß sie eine Spur klüger geworden wären. Freilich, manchmal kamen Agenten auch nicht zurück. Vermutlich hatten sie etwas herausgefunden. Aber die Sterblichkeitsziffer war nicht hoch – und Phyllis ist in jeder Hinsicht die Tochter eines Berufssoldaten. Selbst die strenge Oberlippe fehlt nicht. Beim Verlassen des Raumhafens von Arneville fiel mir als erstes die Kälte in der Stadt auf. Der Umstand überraschte mich nicht, da ich meine Hausaufgaben gemacht hatte, aber es fiel mir trotzdem auf. Wenn man auch nicht gerade von einer klirrenden und beißenden Kälte sprechen konnte, so lagen die Temperaturen doch nie weit über dem Nullpunkt. Der in der vergangenen Nacht gefallene Schnee war bei meiner Ankunft im Begriff zu schmelzen und ging in Lawinen von den Dächern nieder. Die überhängenden Dächer waren so gebaut, daß der ganze Schnee auf die Straßen und nicht auf die Gehwege fiel. Die Leute, die unterwegs waren, schauten nicht einmal auf. Das nächste, das mir an Arneville auffiel, war die Altertümlichkeit der Stadt. Sie glich einer irdischen Stadt des zwanzigsten oder gar des neunzehnten Jahrhunderts, die über viele Lichtjahre und vier Jahrhunderte hinweg nach Solitaire verlegt worden war. Die Gebäude, Fahrzeuge und Kleidung, die ich zu Gesicht bekam, waren allesamt schwer, solid und einfallslos; es fehlte ihnen jede Spur von Heiterkeit und Leichtigkeit. Die Dinge auf Solitaire waren dazu bestimmt, bis in alle Ewigkeit zu halten. So weit war ich in meinen Betrachtungen gekommen, als ich mich umblickte und einen Mann auf mich zukommen sah. »Mr. Edwin Horsefeld von der Erde?« fragte der Unbekannte schüchtern.
»Ja«, sagte ich und betrachtete ihn. Er war der älteste Teenager, den ich je gesehen hatte. Er besaß das sanfte, unschuldige und unverbrauchte Aussehen eines vierzehnjährigen Kindes, obwohl er mindestens fünfunddreißig Jahre alt sein mußte. Er war begeisterungsfähig, scheu, angespannt und entschlossen, seine Aufgabe gut zu erledigen. Natürlich mußte er ein Agent der Spionageabwehr sein. »Ich bin Tom Harrison«, sagte er. »Ich wurde gebeten, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen und Ihnen in jeder Hinsicht zu helfen – « »Von wem gebeten?« fragte ich freundlich. »Von irgendeiner Behörde… ich glaube, vom S.A.B.« Meine Achtung vor der Gegenspionageabteilung von Solitaire, die sich putzigerweise »Sicherheitsamt für auswärtige Beziehungen« nannte, stieg um einige Grade. Man muß eine Behörde bewundern, die einen wissen läßt, daß sie einen für einen Spion hält und einem trotzdem ihre Hilfe anbietet. Aber schließlich mußte die Gegenspionage von Solitaire gut sein. Jeder Planet in der Galaxis war davon überzeugt, daß es auf Solitaire irgendein Geheimnis gab, und alle hatten lange Zeit versucht, es aufzudecken. Der terranische Nachrichtendienst hätte Bescheid gewußt, wenn irgend jemand erfolgreich gewesen wäre, auch wenn er das Geheimnis selbst nicht erfahren hätte. Man konnte über Solitaire nur Vermutungen anstellen. Etwas Genaues wußte niemand. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Harrison«, sagte ich und gab ihm die Hand. »Sind Sie Historiker?« »Nein, warum?« »Ist nicht weiter wichtig. War nur so ein Gedanke von mir.«
»Es tut mir leid, Mr. Horsefeld. Wahrscheinlich kann ich Ihnen bei Ihrer Arbeit nicht helfen… aber ich kann Sie über Bibliotheken, Hotels und Geschäfte beraten – « »Das wird mir sehr von Nutzen sein. Fangen wir mit den Hotels an. Zu welchem raten Sie mir?« Harrison zögerte. »Man hat mir gesagt, daß Sie vermutlich Wert auf Ruhe und Frieden legen und ein Zimmer in einem anständigen, bescheidenen Hotel vorziehen, wo Sie ungestört sind. Stimmt das?« »Haargenau.« »Dann dürfte das Hotel Parkblick für Sie in Frage kommen. Es ist billig, sauber – « »Schön. Lassen Sie uns zum Parkblick gehen.« Ich war ganz zufrieden damit, daß die Spionageabwehr von Solitaire mich an einen Ort ihrer Wahl brachte. Sie hätte es sowieso getan. Harrison nahm mich mit zum Parkblick, einem kleinen Gasthaus nicht weit vom Arne Way, der Hauptstraße der Stadt. Und dann schien Harrison zu meiner Überraschung nicht nur bereit, mich allein zu lassen, sondern mit ängstlicher Höflichkeit geradezu darauf bedacht zu sein. Ich hatte eher vermutet, ich würde tief in meine Trickkiste greifen müssen, um ihn loszuwerden. »Sie können mich entweder im Regierungsgebäude oder zu Hause telefonisch erreichen«, sagte er und gab mir beide Telefonnummern. »Noch eines, ehe Sie gehen, Tom – darf ich Tom zu Ihnen sagen? Wo ist das nächste Musikaliengeschäft?« »Musik?« fragte er vage, als ob er das Wort noch nie gehört hätte. »Oh, freilich… Sie können es mal bei Prosser auf dem Arne Way, gleich um die Ecke, versuchen. Ich glaube, sie verkaufen dort Bücher und Musikbedarf.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Das erspart mir die Mühe, Sie nach der nächsten Buchhandlung zu fragen. Vielen Dank, Tom.« »Ist das alles, was ich im Augenblick für Sie tun kann?« »Ich glaube, ja. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen.« Er wurde rot. »Nicht der Rede wert«, sagte er verlegen. »Ich schaue heute abend vorbei und sehe nach, wie Sie zurechtkommen.« Dann verließ er mich. Der S.A.B. hatte mich höflich darüber informiert, daß er wußte, wer ich war, daß er mich im Auge behielt und daß ich mich in Arneville frei bewegen konnte. Man hätte mir genauso gut versichern können, daß ich nichts herausfinden würde. Das Essen im Parkblick war ausgezeichnet. Aber weshalb der Name Parkblick? fragte ich mich. Ich hatte vom Arne Park gehört, der so ziemlich das einzige auf Solitaire war, wovon die meisten gehört hatten. Der Park mußte sich über eine Meile den Arne Way entlang ziehen; trotzdem war er nicht einmal von meinem im obersten Stockwerk gelegenen Zimmer aus zu sehen. In der Richtung, in der er liegen mußte, fiel mein Blick lediglich auf die kahle Wand eines klotzigen Bürogebäudes. Ich überlegte. Wenn Solitaire tatsächlich nichts zu verbergen hatte was zwar unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen war –, dann konnte es wohl möglich sein, daß Spione genauso wie ich jetzt behandelt wurden. In einer Welt, die nichts zu verbergen hatte wenn es so eine Welt überhaupt gab –, würde eine intelligente Spionageabwehr erkennen, daß es nur einen einzigen Weg gab, die anderen Nationen von der eigenen Harmlosigkeit zu überzeugen: nämlich den, sie diese Tatsache selbst herausfinden zu lassen. Nach dem Essen machte ich mich auf den Weg zu Prosser. Inzwischen hatte sich der Schnee in bräunlichen Matsch verwandelt.
Während ich die Leute auf der Straße betrachtete, fand ich es nicht weiter bedauerlich, daß ich achtundvierzig Jahre alt und nicht mehr an Mädchen interessiert war. Denn es schien keine Aussicht zu bestehen, in Arneville jemals ein hübsches Mädchen zu sehen – jedenfalls keines, das attraktiv wirkte. In ihren Stiefeln, schweren Mänteln und Pelzkapuzen und mit ihren von Kälte geröteten Gesichtern sahen Frauen von sechzehn, sechsunddreißig und sechsundfünfzig fast gleich aus. Keine von ihnen schien Make-up zu tragen, und da die Heizung in den meisten Wohnungen nicht ausreichend war, wurden zu Hause wie auf der Straße schwere, unattraktive Kleider getragen. Die junge Frau bei Prosser hätte anziehend wirken können, wenn sie es nur versucht hätte. Aber anscheinend war es ihr gleichgültig. Über einem Kleid, das an sich in Ordnung war, trug sie eine Auswahl wollener Jacken in den verschiedensten Farben und Formen. Keine davon paßte zu ihrer Figur. »Oper?« fragte sie. »Sie meinen bestimmt die Arne Story. Das ist die einzige Oper, die ich kenne.« »Das ist sie«, sagte ich. »Eine Partitur? Das sind die Wörter und die Noten, nicht wahr? Sie möchten gern eine Kopie haben?« »Möglichst eine Kopie des Originals.« Sie ging fort und blieb endlos lange verschwunden, ehe sie mit einer in Papier gebundenen Partitur wiederkam. Ich schaute nach dem Datum. Es handelte sich um eine neue Ausgabe, die im Vorjahr herausgekommen war. Geduldig versuchte ich ihr zu erklären, daß ich eine Kopie der Opernpartitur wollte, die vor langer Zeit gedruckt worden war. Sie sah mich verständnislos an und schleppte schließlich ein kahlköpfiges, weise aussehendes Männchen herbei, dem ich mein Anliegen vortrug.
»Ja, Sir, das hier ist allerdings eine revidierte Ausgabe«, bestätigte er. »Sogar sehr weitgehend revidiert. Sie sind nicht von hier, nehme ich an? Ja, das dachte ich mir. Wissen Sie, da es hier nur eine einzige Oper gibt und noch dazu ein solches Meisterwerk, wird sie ständig revidiert und verbessert. Ich glaube, die Originalfassung der Arne Story unterscheidet sich weitgehend von der heute ausgeführten Fassung.« »Das habe ich mir gedacht. Deshalb wollte ich das Original sehen.« »Sie könnten es in einer Bibliothek versuchen. Oder – vielleicht hat Jerome eine alte Kopie. Es ist ein kleiner Laden, in dem Sie viel alten Plun-… äh… alte Musikinstrumente und ähnliches finden.« Der kleine weise Mann beschrieb mir den Weg, und ich stapfte wieder durch den Matsch. Die Straßen wurden immer enger, kürzer und düsterer. Ich kam mir fast wie in Dickens’ altem London vor. Schließlich fand ich das Geschäft, einen kleinen Laden, durch dessen winziges Schaufenster man wie durch ein Schlüsselloch eine bestürzende Vielfalt von Hörnern, Trompeten, Posaunen und Violinen erblickte. Ich stieß die Tür auf und bückte mich, um einzutreten. Da sah ich die Verkäuferin. Sie war das letzte, wirklich das allerletzte, was ich in einem Laden wie dem von Jerome, in einer Stadt wie Arneville und auf einem Planeten wie Solitaire anzutreffen erwartet hatte. Sie war sehr jung, eine kleine Nymphe, sehr hübsch und außerdem ganz nett angezogen. »Guten Tag«, sagte sie mit freundlichem Lächeln. »Vor fünf Minuten«, erwiderte ich, »war der Tag noch nicht so gut. Aber jetzt scheint er doch gut zu werden.« Sie war jung genug, um an einem freimütigen, ehrlichen Kompliment ihre naive Freude zu haben, und lachte. Es konnte nicht länger als ein paar Monate her sein, seit die Männer
angefangen hatten, ihr Komplimente zu machen. Es mochte noch Jahre dauern, bis die Erfahrung sie gelehrt haben würde, solche Schmeicheleien mit Vorsicht zu genießen. Sie war eine kleine Brünette mit schlanken, makellosen Beinen, wie sie nur ganz junge Mädchen besitzen. Über den Beinen trug sie ein schwarzes, kurzes Röckchen und dazu eine weiße, eng anliegende Bluse. Ihr hübsches Gesichtchen hatte einen kecken Ausdruck, und man hätte sie glatt für ein schönes Kind halten können, wenn ihre erst kürzlich entwickelten, doch vollen Formen nicht zu sehen gewesen wären. »Ich wüßte gern, ob Sie eine Originalpartitur der Arne Story haben?« fragte ich. »Sie sind aber bescheiden. Die Oper ist mehr als zweihundert Jahre alt. Warum grinsen Sie?« »Sie fragen das in einem Ton, als ob ich das Logbuch der Arche Noah in Noahs eigener Handschrift verlangt hätte.« Sie lachte. Und ich dachte mir: Wenn dieses liebliche kleine Geschöpf wirklich von S.A.B. hierher gestellt worden ist, dann will ich mein Vergnügen daran haben, an der Nase herumgeführt zu werden. »Wenn Sie kein Original haben«, sagte ich laut, »dann vielleicht wenigstens eine frühe Ausgabe?« »Na gut, wenn Sie drei Stunden warten wollen, bis ich das Lager durchsucht habe«, sagte sie munter, »dann findet sich vielleicht etwas.« »Das Warten wird mir ein Vergnügen sein«, versetzte ich höflich. Es war ein Vergnügen. Es dauerte tatsächlich fast drei Stunden. Der kleine Laden enthielt auf engstem Raum so viele Sachen, daß man das halbe Lager umkrempeln mußte, um an die andere Hälfte heranzukommen. Ich erfuhr von dem Mädchen bald, daß sie Terry Wood hieß. Ihr Vater war noch am Leben, ihre Mutter bereits tot. Sie hatte keine Geschwister.
Sie verriet mir, daß sie Abenteuer liebte und daß ich in ihren Augen nicht sehr alt aussah. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir näher miteinander bekannt wurden, denn ich mußte für sie Instrumentenkästen halten, Stöße von Notenblättern umschichten und Schachteln, die sie mir reichte, stapeln. Anscheinend gab es in den Geschäften von Arneville keinen Andrang. Wenn ein Käufer etwas verlangte, das vielleicht vorrätig war, fand man nichts dabei, ein oder zwei Stunden Zeit für einen Einkauf zu verwenden, der vielleicht nie zustande kommen mochte. Ganz gewiß war Terry nicht mit Arbeit überlastet. Während der Zeit, in der sie nach der Partitur suchte, kam nur ein einziger Kunde, ein langgewachsener Jugendlicher, der ein Klarinettenblatt wollte. Die Freude, mit der ich Terrys hübsche Beine betrachtete, wenn sie auf die Leitern stieg, war nicht verwerflich oder sinnlich. Ich hatte eine Tochter, die genau in Terrys Alter war; ich erzählte ihr davon. Schließlich förderte sie triumphierend eine Viertelausgabe ans Tageslicht, die nicht mehr als drei Jahre nach der Uraufführung datiert war. Vorher hatten wir uns für den heutigen Abend im Opernhaus verabredet, um die jetzige Fassung der Arne Story zu sehen. Trotz der Leichtigkeit, mit der diese Verabredung zustande kam, verwarf ich vorläufig den Gedanken, daß Terry vom S.A.B. in Jeromes Laden postiert war. Erstens kannte sie sich im Lager bemerkenswert gut aus, wenn man berücksichtigte, wieviel dort herumlag. Zweitens mußte der S.A.B. unvorstellbar auf Draht sein, wenn er vorausgeahnt hatte, daß ich eine frühe Ausgabe der Arne Story erwerben wollte, und mich deshalb zu Jerome gelockt hatte.
Am späten Nachmittag, als ich mich gerade zum Opernhaus aufmachen wollte, kam Harrison vorbei. Er warf einen verständnislosen Blick auf die vergilbte Partitur, die ungeöffnet auf dem Bett lag. »Die Arne Story – zweihundert Jahre alt!« sagte er. »Wozu brauchen Sie das?« »Ich bin Historiker«, erwiderte ich. »Meine Neugierde ist grenzenlos.« Harrison schaute mich unsicher an. »O ja, sie kennen sich sicher in Ihrem Beruf aus. Kann ich Ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein?« »Wohin«, fragte ich, »geht man nach dem Theater mit einem Mädchen?« Harrison schien noch nie davon gehört zu haben, daß man ein Mädchen mit ins Theater nimmt. Vermutlich übertrieb er seine Rolle. Jemand, den der S.A.B. auf mich angesetzt hatte, konnte nie und nimmer so schwer von Begriff sein. »Ich denke, Sie könnten sie hierher zurückbringen«, sagte er in einem kläglichen Versuch, anzüglich zu sein. »Das habe ich nicht gemeint. Wenn man in Arneville ein Mädchen mit ins Theater nimmt – wohin kann man danach mit ihr gehen?« »Nur in den Park.« »In den Park! Im Schnee sitzen und Händchen halten?« Harrison wich meinem Blick aus. »Ich habe den Arne Park gemeint… oh, Sie kennen ihn vermutlich nicht. Er ist überdacht, beheizt und kilometerlang. Eine Art sommerlicher Spielwiese. Tag und Nacht geöffnet.« Ich hätte meine Hausaufgaben besser machen sollen. Ich hatte zwar gewußt, daß Arne Park die Sehenswürdigkeit des Planeten war, aber nicht, daß er vollkommen überdacht war. Ich hatte mir nur einige große Treibhäuser und weite Flächen einer Winterlandschaft vorgestellt.
»Vielen Dank, Tom. Vielleicht schauen wir uns den Park einmal an. Aber beim erstenmal nicht gleich in der Nacht. Haben Sie übrigens eine Ahnung, warum dieses Hotel Parkblick heißt?« »Nun… vermutlich konnte man den Park von hier aus sehen, ehe das Bürogebäude errichtet wurde. Es gibt eine ganze Reihe von Hotels mit ähnlichen Namen – Parkhotel, Parkwappen, Parkhaus, Neupark, Hochpark…« »Park und Arne – mit diesen Namen scheinen Sie hier auszukommen«, bemerkte ich. »Henry Arne war unser erster Premierminister.« »Ja, Tom«, sagte ich sanft, »ich weiß.« Harrison versuchte noch ein paar Minuten lang, mir eine Hilfe zu sein, und verabschiedete sich schließlich. Ich hatte noch niemals jemanden getroffen, der mit Spionage zu tun hatte und so wenig daran interessiert war, einen auszufragen. Terry traf nur ein paar Sekunden nach mir beim Opernhaus ein. »Bin ich zu spät dran?« fragte sie atemlos. »Sie sind das erste Mädchen, mit dem ich verabredet bin, das pünktlich ist«, sagte ich. »Oh, aber ich bin auch keine Intellektuelle«, meinte sie. »Wie gut, daß Sie mir das sagen. Ich habe Sie für eine gelangweilte, blasierte, abgestumpfte Dame der Gesellschaft gehalten – « »Ziehen Sie mich nicht auf!« fuhr sie mich an. »Ich mag das nicht.« Sie konnte also wütend werden. Das war eine Überraschung. Heute nachmittag im Laden hatte nichts, was ich gesagt hatte, sie aus der Ruhe bringen können, und wenn ganze Stapel von Notenblättern zu Boden gefallen waren, hatte sie nur die Achseln gezuckt. Als sie im Waschraum verschwunden war, hatte ich Gelegenheit, über den plötzlichen Wutanfall und seine
Bedeutung nachzudenken. Schon nach kurzer Zeit war ich der Sache näher gekommen. Agenten wie ich bewegen sich nicht in einer Atmosphäre von knallenden Pistolen, fliegenden Fäusten, explodierenden Safes und Verfolgungsjagden in schnellen Wagen. Nur selten wurde ich in gewalttätige Aktionen hineingezogen. Ich arbeitete, indem ich Augen und Ohren offenhielt und auf Kleinigkeiten achtete, die nicht zum Gesamtbild paßten – wie zum Beispiel eine plötzliche Verstörtheit bei einem Mädchen mit sonnigem Gemüt… Das Theater war alt, düster und wuchtig. Wenn es statt durch elektrisches Licht durch Gas beleuchtet worden wäre, hätte man es für ein viktorianisches Opernhaus halten können. Ich nenne es mal Theater und mal Opernhaus, weil die Einheimischen es ebenso machen. Wenn eine Oper aufgeführt wird, ist es ein Opernhaus. Wenn ein Schauspiel oder ein Variete über die Bühne geht, ist es ein Theater. Die Garderobenräume waren viel aufwendiger und größer als in terranischen Theatern. Da man nicht in der gleichen Kleidung im Theater sitzen und auf die Straße gehen konnte, war es Sitte, sich vollkommen umzukleiden. Terry kam zögernd wieder heraus – nicht ganz ohne Grund. Das knöchellange schwarze Satingewand, das sie trug, war zwar nicht besonders offenherzig; aber der Schnitt und die Art verrieten auf allen Welten unfehlbar den erlernten Beruf der Trägerin. Wenn ich nicht schon gewußt hätte, daß Terrys Mutter tot war und daß sie keine Schwestern hatte, dann hätte es mir dieses Kleid verraten. Während sie darauf wartete, daß ich etwas sagte, nahm ich die Gelegenheit wahr, meine Vermutung zu überprüfen. Noch am Nachmittag hatte sie nichts aus der Ruhe bringen können. Als sie am Abend zu einer Verabredung eintraf, auf die sie sich vermutlich gefreut hatte, fauchte sie einen bei der geringsten
Neckerei an. Man mußte kein Gehirnakrobat sein, um zu erraten, daß inzwischen etwas vorgefallen war. Aber was? Eine Auseinandersetzung mit ihrem Freund, weil sie darauf bestanden hatte, ihre Verabredung auf jeden Fall einzuhalten? Krach mit dem Vater, als sie sich in einem Kleid gezeigt hatte, mit dem er nicht einverstanden war? Meine Vermutung ging dahin: Krach mit dem Vater, aber nicht wegen des Kleides. Ich nützte die Gelegenheit nicht aus. Terry war zwar unerfahren, aber intelligent. Man konnte sie nicht aushorchen, ohne daß sie es merkte. »Sie sehen wunderbar aus«, sagte ich. Und das stimmte in gewisser Weise. Sogar in diesem Kleid. Sie errötete vor Freude. Ich hakte sie unter. Die sanfte Berührung ihres bloßen Arms sollte ihr in Erinnerung rufen, daß ich ihr Großvater, ja fast ihr Urgroßvater sein könnte. Es hätte eigentlich nicht notwendig sein sollen… aber schließlich hatte sie keine Mutter mehr, und ihre Zeit schien sie in einem Laden zu verbringen, wo sie in drei Stunden nur zwei Kunden zu bedienen hatte. Ihre Erfahrung hinkte ihrem Alter hinterher. Die Oper setzte mich in Erstaunen. Sie war seltsamerweise gut; wenn von hundert italienischen Opern vielleicht eine ein Meisterwerk genannt werden kann, dann erwartet man von der einzigen einheimischen Oper des Planeten nichts Besonderes. Ich hatte mich auf eine Art Beggars Opera eingestellt und nicht auf ein patriotisches Stück mit einer konsequenten Handlung, einem guten Dialog (in der Operngeschichte fast einzig dastehend), einem erstklassigen Ballett, gefälliger Musik (die Musik war das Schwächste) und einer wirklich fesselnden Handlung. Nach dem ersten Akt teilte ich Terry mit, wie beeindruckt ich war. Sie freute sich darüber. Die zweite Hälfte war eine leichte Enttäuschung. Die Wogen des Patriotismus gingen hoch, und das Ganze endete in einem
übersteigerten Nationalismus, der sogar für eine Oper zu dick aufgetragen war. Die zu Beginn treffende Zeichnung der Charaktere fiel später ab; einer nach dem anderen offenbarte nicht nur einen unmöglichen Patriotismus, sondern auch noch dieselbe Art von übertriebenem Patriotismus. Der Held, Henry Arne – Solitaires erster Premierminister – opferte für Solitaire zuerst seine Liebe zur Heldin und später auch noch ihr Leben. Die Oper war so lang und endete so spät, daß sich die Frage, wohin man nach der Aufführung gehen sollte, von selbst erledigte. Immer hin nahmen wir im Theater noch einen Kaffee, ehe ich Terry nach Hause brachte. Ich war überrascht, als sich herausstellte, daß sie mit mir in der Beurteilung der Oper übereinstimmte. »Es ist ein wunderschöner Gedanke, für die Liebe zu sterben«, sagte sie, »aber für ein Land zu sterben, das ist verrückt, und das Mädchen, das man liebt, für sein Land zu opfern, ist noch verrückter. Jedesmal, wenn es zu der Szene kommt, wird mir übel.« »Sie haben die Oper schon oft gesehen?« »Nicht oft. Vielleicht vier oder fünfmal. Wir mußten von der Schule aus hingehen.« »Sie scheinen nicht sehr patriotisch zu denken«, sagte ich leichthin. »Nein, patriotisch bin ich nicht«, gab sie offen zu. »Aber wenn ich Gelegenheit bekäme, etwas Schönes und Romantisches und Aufregendes für Solitaire zu tun, wie zum Beispiel…« Sie errötete und hielt verwirrt inne. »Zum Beispiel was, Terry?« fragte ich lächelnd. »Jedenfalls würde ich ohne Zögern etwas in dieser Art tun, wenn ich Gelegenheit dazu hätte. Aber für ein Ideal zu sterben…«
Sie redete noch eine ganze Weile weiter, und ich hörte ihr zu. Dann fragte ich ruhig: »Und man läßt sie mit diesen Ansichten frei herumlaufen?« »Wie meinen Sie das?« »In den meisten Ländern und Welten, in denen der Nationalismus planmäßig kultiviert und durch Propaganda und Stücke wie die Arne Story gefördert wird, kann es Leuten, die so reden wie Sie, leicht passieren, daß sie… verschwinden.« Terry lachte, das heißt, sie versuchte es wenigstens. Dann blickte sie mich bestürzt und zweifelnd an, und für einen Moment wünschte ich wirklich, ich hätte sie nicht durch meine Fragen beunruhigt, um ihre Reaktion zu sehen. »Bringen Sie mich nach Hause«, sagte sie plötzlich schwer atmend. »Ich… ich muß morgen schon früh aus dem Haus.« Ich brachte sie heim.
Am nächsten Morgen ging ich nach dem Frühstück wieder auf mein Zimmer und überflog die vierte Ausgabe der Arne Story. Die große Linie der Oper war unverändert. Ein Teil der Musik war neueren Ursprungs, und nach meinem Geschmack war die neuere Musik die bessere. Wahrscheinlich hatte man die Komponisten der letzten zwei Jahrhunderte aufgefordert, nach Möglichkeit an der Urfassung Verbesserungen vorzunehmen. Insgesamt hatte das Werk in den zwei Jahrhunderten seiner Existenz gewonnen. Die frühe Version war roh, ungeschliffen und noch unglaubwürdiger als die gegenwärtige Fassung. Aber das Interessanteste an diesem Vergleich war die Tatsache, daß alle Veränderungen in der Absicht geschehen waren, die Oper zu einem wirkungsvolleren Propagandamittel zu machen. Und sie war von Anfang an ein Propagandawerk gewesen.
Ich schob die Partitur zur Seite und legte meine Füße hoch. Zu einem späteren Zeitpunkt würde ich die beiden Fassungen für meine persönlichen Zwecke vergleichen. Doch jetzt war ich hier, um etwas herauszufinden, und ich nahm nicht an, daß die Arne Story in ihren alten oder neuen Versionen mir mehr verraten konnte, als sie schon getan hatte. Das Problem war einfach. Solitaire war vor fast dreihundert Jahren kolonisiert worden. Der Planet war noch nie besonders attraktiv gewesen, aber seine Vorkommen an Öl, Kohle, Stahl, Diamanten, Silber und Platin waren zumindest durchschnittlich. Innerhalb von fünfzig Jahren war die Bevölkerung auf hundert Millionen angewachsen. So weit, so gut. Jetzt, über zweihundert Jahre später, betrug die Bevölkerungszahl zweihundert Millionen, und Solitaire war so ziemlich die rückständigste Welt in der Galaxis mit dem niedrigsten Lebensstandard. (Terrys Wochenlohn, den sie bei unseren Gesprächen über Solitaire und die Erde erwähnt hatte, würde gerade ausreichen, um in einem New Yorker Hotel ein Mittagessen zu bezahlen. Und meine wöchentliche Hotelrechnung im Parkblick war niedriger als der Preis für eine einzige Nacht in einem New Yorker Hotel.) Woher kam das? Solitaire veröffentlichte keine Statistiken, und alles Zahlenmaterial beruhte daher auf Vermutungen. Aus dem Zahlenmaterial anderer Welten ließ sich jedoch entnehmen, daß die Auswanderungsquote verschwindend gering war. Warum war dann die geschätzte Bevölkerungszahl so niedrig? Warum war der Planet so offensichtlich arm? Warum gab es keinen nennenswerten Export? Was war los mit Solitaire? Die Frage, ob Solitaire ein Geheimnis habe, war überhaupt nur deshalb aufgekommen, weil Agenten, die die Welt an Ort
und Stelle überprüfen sollten, entweder zurückkamen und nichts zu berichten hatten – oder gar nicht mehr zurückkamen. Es waren nur wenige, die nicht zurückkehrten – aber wieso gab es auf einer Welt, die nichts zu verbergen hatte, überhaupt Verluste unter Spionen? Geheimnis war nicht das richtige Wort, um die Vorgänge auf Solitaire zu beschreiben. Ungewißheit war besser. Sogar über die genaue Regierungsform herrschte Unklarheit; nicht etwa, weil es einen eisernen Vorhang gegeben hätte, wie man ihn bei durchorganisierten Polizeistaaten kennt, sondern weil kaum jemand irgend etwas Genaues zu wissen schien. Obwohl man wußte, daß Solitaire einen Senat mit einem Premierminister an der Spitze hatte, war über den jetzigen Premier noch weniger bekannt als über den ersten… Daher bin ich, Edwin Horsefeld, mit zwei oder drei Tricks im Ärmel auf der Bildfläche erschienen. Heutzutage brauchen Spione eher Köpfchen als Nerven- oder Muskelkraft. Als ich mit dem Nachdenken fertig war, begab ich mich zur Bücherei, wo ich alle Möglichkeiten ausschöpfte, um etwas herauszufinden. Ich benötigte dazu nicht mehr als anderthalb Stunden, und ich glaube nicht, daß mir etwas Wesentliches entgangen war. Die Bücherei enthielt nicht mehr als achttausend Werke; das war alles, was auf Solitaire jemals geschrieben und veröffentlicht worden war. Achttausend Bücher in über zweihundert Jahren. Der Rest bestand aus Nachdrucken von Standardwerken, die überall in der Galaxis erhältlich waren. Bei viertausend der achttausend Bücher handelte es sich um Romane. Dreitausend befaßten sich mit der Geographie, Geologie, Erforschung, Fauna und Flora des Planeten. So blieben noch eintausend Bände für mich übrig, um Sozialgeschichte, Biographien, Dichtkunst, Essays, Forschung,
Philosophie und Psychologie einer fast dreihundert Jahre alten Kolonie kennenzulernen. Das war nicht viel. Am Nachmittag war ich mit Terry verabredet und ließ mich von ihr zum Park führen. Es war ihr freier Nachmittag. Ich sah ihr sofort an, daß inzwischen wieder etwas geschehen war. Ich hoffte, daß es sich nicht um ihren Freund handelte. So ein attraktives junges Mädchen mußte einfach einen ständigen Freund haben oder wenigstens einen, der sich einbildete, es zu sein. Womöglich hatte sie ihn zum Teufel geschickt, weil sie davon überzeugt war, mich zu lieben. Ich war zwar der Meinung, daß Terry zu sensibel für so etwas war. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß sie von allem, was ich ihr über die Erde erzählt hatte, fasziniert war, und daß sie in mir bereits mehr zu sehen schien als einen älteren männlichen Bekannten. Obwohl sie mir offensichtlich etwas ungeheuer Wichtiges mitteilen wollte, beschränkte sie sich auf belangloses Gerede, bis wir uns innerhalb des Parks befanden. Die Kuppel über dem Park war größer als irgend etwas Vergleichbares auf dem Mars. Ihre Beschichtung reflektierte ein Minimum an Licht, weshalb sie kaum zu sehen war. Sie wölbte sich über einen riesigen, schön angelegten und wohlgepflegten Garten. Es war warm wie im Juli auf der nördlichen Erdhalbkugel. Sanfte Brisen sorgten für Kühlung und Frischluft. Und das in einer Stadt, in der es das ganze Jahr über schneite. Während ich auf Terry wartete, die ihren Mantel im Pavillon abgab, dachte ich: Der terranische Geheimdienst sollte mehr über Arne Park wissen. Alles auf Solitaire, das so wie der Arne Park aus dem Rahmen fällt, verlangt erhöhte Aufmerksamkeit. Es mußte einen Grund für die Existenz dieses Parks geben. Wahrscheinlich hatten die anderen Agenten bloß einen Blick
auf ihn geworfen, »Sehr eindrucksvoll« gesagt und ihre Spionagetätigkeit sonstwo fortgesetzt. Nun, vielleicht tat ich ihnen Unrecht. Trotzdem ging mir der Gedanke nicht aus dem Kopf: Auf so einer Welt und in so einer Stadt muß es einen besonderen Grund für so ein verschwenderisches, teures, von Menschenhand geschaffenes Wunder geben. Terry kam wieder zu mir, und ich erkannte den Zweck des Parkbesuchs. Er gab ihr Gelegenheit, ihr gelbes Kleidchen zu tragen, ein niedliches Stückchen Stoff, das zu ihr paßte, als sei sie damit auf die Welt gekommen. Nachdem sie gestern in der Wahl ihrer Kleidung so furchtbar danebengegriffen hatte, war es eine große Erleichterung, sie als hübschen, sonnenhungrigen Teenager zu sehen. »Willst du dich nicht auch umziehen, Edwin?« fragte sie. Ich seufzte. »Ja, wenn ich noch einundzwanzig wäre. Wenn ich dich ansehe, dann möchte ich es gern sein.« Ich wünschte es nicht wirklich. Kein vernünftiger Mann von achtundvierzig Jahren will wirklich wieder einundzwanzig sein, es sei denn, er könnte alle Kenntnisse, Erfahrungen und Vorteile behalten, die er mit achtundvierzig hat. Aber Terry freute sich. Wir schlenderten die Wege und Pfade des Parks entlang. Fast jeder, den wir zu Gesicht bekamen, war fröhlich und übermütig. Alle hatten freche und farbenfrohe Kleidung an. Arne Park war der Ort, an dem die Bevölkerung von Arneville ihre Hemmungen ablegte. Es gab in der ganzen Galaxis keine Stadt, die so einen Ort nötiger hatte als Arneville. Als wir uns etwa eine Meile vom Pavillon entfernt hatten, sagte Terry: »Ich will dir helfen, Edwin.« »Wobei denn?« Sie atmete tief ein. »Ich weiß, daß du ein Spion bist.« »Wirklich?« sagte ich sanft. »Wer hat dir das gesagt?«
»Gestern, kurz vor dem Essen, rief jemand im Laden an, ohne seinen Namen zu nennen. Er sagte, daß du kommen würdest. Ich sollte mit dir Freundschaft schließen. Es sei nicht gefährlich, aber ich hätte eine Chance, meine Treue zu Solitaire zu beweisen.« Terry war also nicht in den Laden geschickt worden. Der S.A.B. hatte sie einfach in seine Pläne eingebaut. »Was hat man dir sonst noch gesagt?« fragte ich ruhig. »Zuerst sehr wenig. Ich glaube, man hat mir absichtlich so wenig gesagt, damit ich nichts Unüberlegtes tun kann und dir keine Fragen stelle, die dir verraten könnten, was los ist.« »Du bist sehr intelligent, Terry.« »Na ja, ich hoffe es. Du weißt, wie es weiter gegangen ist – so, wie sich die Dinge entwickelt haben, mußte ich nur tun und sagen, was ich auch sonst gesagt oder getan hätte. Ich meine damit, daß ich schon immer an der Erde interessiert war und daß wir gestern abend vielleicht auch ohne den Telefonanruf die Oper besucht hätten.« Ich nickte. Wenn Terry nicht instruiert worden war, mir all das zu sagen, dann hatte sie einen schrecklichen Fehler begangen. Doch es gab jetzt keinen Weg zurück. Ich mußte ihr weiter zuhören. »Als ich heimkam, wartete mein Vater zusammen mit einem großen, hageren Mann auf mich. Der große Mann stellte sich als Mr. Marks vor und forderte mich auf, ihm alles zu berichten, was wir miteinander geredet hatten. Ich erzählte ihm alles, woran ich mich erinnern konnte, weil es keinen Schaden anrichten konnte. Stimmt das?« »Ja.« »Dann…« Sie zögerte. »Edwin, du hast dir wahrscheinlich schon gedacht, daß mein Vater und ich uns nicht vertragen. Er… es fällt mir furchtbar schwer, so etwas von meinem eigenen Vater zu sagen, aber er taugt nichts. Nach einer Weile
änderte sich das Bild. Meine Zusammenarbeit mit der Polizei war nicht mehr freiwillig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Marks gab mir Anweisungen und drohte mir, daß mein Vater ins Gefängnis käme, wenn ich seine Anweisungen nicht genau befolgte… und daß ich auch ins Gefängnis kommen könnte. Und mein Vater flehte mich an, ihn zu retten…« Ich wartete. Sie tat mir sehr leid. Sie war noch zu jung, um mit solchen Dingen konfrontiert zu werden. »Sie sagten mir, du seist ein Spion, und es sei meine Pflicht, dich auszuhorchen. Ich glaube, ich konnte meine Wut vor ihnen verbergen – denn ich war wirklich wütend. Ich meine – ich hatte dich gern. Ich wußte, daß du nichts Böses getan hast und auch nichts Böses tun wirst.« »Aber du hast gewußt, daß ich für die Erde und gegen deine Welt arbeite.« Sie zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, hat uns die Erde noch nie etwas zuleide getan. Vielleicht, wenn Marks mich anders behandelt hätte, wenn er so getan hätte, als ob er zu mir Vertrauen habe… Auf jeden Fall war ich ratlos. Es konnte nichts schaden, wenn ich Marks genau berichtete, was du gesagt und getan hast – solange es nichts Wichtiges war. Andernfalls hätte ich Marks wahrscheinlich nichts gesagt.« Ich nickte. Ich begriff ihre Lage wahrscheinlich besser als sie selbst. Sie war sehr jung, unerfahren, romantisch und sogar sentimental. Sie hatte bereits lernen müssen, daß sie sich auf ihren Vater nicht verlassen konnte. Ihre Welt, ihre Umgebung und ihre Familie hatten nie viel für sie getan – doch mit Hilfe ihrer Sensibilität und ihres Selbstbewußtseins hatte sie es geschafft, aus allem das Beste zu machen und glücklich zu werden. Und dann trat ich in ihr Leben. Sie mochte mich – und wurde kaltschnäuzig angewiesen, mir Freundschaft zu bezeigen und
gleichzeitig alle meine Äußerungen dem S.A.B. zu hinterbringen. Vielleicht war der S.A.B. doch nicht so sehr auf Draht, wie ich gedacht hatte. Sie hätten wissen müssen, was Terry tun würde. Oder wußten sie es? »Du scheinst nicht überrascht zu sein«, sagte Terry ein wenig enttäuscht. »Ich bin nicht überrascht, Terry. Jedesmal, wenn ich auf einem fremden Planeten lande, muß ich damit rechnen, daß jeder, der sich mir freundlich nähert, für den örtlichen Geheimdienst arbeitet. Bei einem hübschen Mädchen kann ich praktisch sicher sein.« »Da mußt du ja zum Zyniker werden«, sagte sie leise. »Nein, warum denn? Ich bin schließlich keine Figur aus dem Feenland… Du hast mir noch nicht alles erzählt. Das Gespräch mit Marks hat vor unserm Opernbesuch stattgefunden, nicht wahr? Was ist seitdem geschehen?« »Ach, noch mehr von der Sorte. Marks erwartete mich wieder, als ich heimkam, stellte wieder Fragen und warnte mich nochmals. Er…« Sie errötete. »Du kannst mir alles sagen.« »Er sagte, es wäre gut, wenn ich mit dir schlafen würde.« Ich nickte nur. Aber ich vermutete, daß dies der Grund für Terrys Vertrauen zu mir war. Sie besaß praktisch keine sexuelle Erfahrung – darüber konnte ich mir mit meinen achtundvierzig Jahren ein Urteil erlauben. Ein junges, fantasievolles Mädchen mit romantischen Vorstellungen konnte leicht dem Gedanken an eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit einem Spion erliegen. Aber es mußte eine echte Liebesaffäre sein. Die eiskalte Anweisung, ihre Unberührtheit für ihre Welt zu verkaufen, war abstoßend. Nach einer Pause sagte ich sanft: »Bist du dir über die Gefahr, in der du schwebst, im klaren, Terry?«
Sie blinzelte. »Ich bin nicht in Gefahr. Ich habe dich gewarnt. Ich werde weiterhin an Marks berichten. Aber ich werde nichts verraten, das dir irgendwie schaden könnte.« Ich seufzte. Wahrscheinlich war es nicht möglich, ihr die Lage klarzumachen. Und es wäre auch gar nicht unbedingt gut für sie gewesen. »Wer ist dein Freund, Terry?« fragte ich beiläufig. Sie wurde wieder rot und fuhr hoch. Da wußte ich, daß sie sich wirklich in den Gedanken verrannt hatte, mich zu lieben. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, ließ sie sich auf den Rasen nieder, streckte die Beine aus und legte sich auf den Rücken, wobei sie die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Dann setzte sie sich wieder auf und öffnete den Mittelteil ihrer gelben Freizeitkombination, warf ihn neben sich und legte sich hin wie zuvor. Zwischen ihrem kleinen, aber gut gefüllten BH und ihrem Slip, der sich in sanftem Bogen von Hüfte zu Hüfte spannte, war bei jeder ihrer Bewegungen das vollkommene Spiel ihrer jugendlich festen Muskeln zu beobachten. Sie hatte die schmale Taille, die Schauspielerinnen gerne hätten und die nur junge Mädchen wirklich besitzen. Ich setzte mich neben sie. Inzwischen hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie mir antworten konnte: »Ich habe keinen Freund.« »Das kann nicht sein, Terry.« »Nun, ich habe Steve. Aber er… ach, er ist ja noch ein Kind.« »Hast du ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden gesehen?« »Nein. Außerdem ist nichts zwischen uns.« Einen Moment lang wünschte ich, ich wäre nie nach Solitaire gekommen. Wahrscheinlich würde ich nichts herausfinden. Und obwohl ich damit rechnete, den Planeten mit heiler Haut
zu verlassen, war es höchst unwahrscheinlich, daß Terry noch lange zu leben hatte. Was sie nicht begriffen hatte, war die Tatsache, daß Treue für den S.A.B. eine tödlich ernste Angelegenheit war. Auf die Dauer konnte sie den S.A.B. auch nicht zum Narren halten. Was ich auch tun mochte, früher oder später würde die Spionageabwehr von Solitaire herausfinden, daß Terry nach den Gesetzen ihrer Welt Hochverrat begangen hatte. Und das hatte sie in der Tat – wenn das Ganze nicht eine Komödie war, die sie mir vorspielte. Doch daran glaubte ich keinen Moment. Die Tatsache, daß Terry mir nicht helfen konnte, würde sie auch nicht entlasten. Sie hatte einem Spion gesagt, daß sie ihm gegen ihre eigene Welt beistehen wollte. Plötzlich richtete sie sich auf. »Glaubst du, ich bin billig?« fragte sie heftig. Der plötzliche Ausbruch erschreckte mich. »Vielleicht, weil ich mich dir so zeige wie jetzt?« fuhr sie fort. »Du bist schweigsam geworden. Nun, ich bin nicht billig. Ich finde nichts dabei, mich vor dir so zu zeigen. Seit ich dich kennengelernt habe, bedeutet mir Steve nichts mehr.« »Terry«, sagte ich, »ich habe zwei Töchter, und eine von ihnen ist drei Jahre älter als du. Und ich habe nicht besonders jung geheiratet.« »Es stimmt«, sagte sie düster. »Du hältst mich für billig.« Sie griff nach dem abgelegten Mittelteil ihrer Freizeitkombination. Ich konnte sie nur beruhigen, indem ich das Thema wechselte. »Terry«, sagte ich und legte dabei den Mittelteil ihres Kostüms wieder neben sie ins Gras, »ich frage mich, ob du mir nicht helfen kannst. Hast du auf diesem Planeten irgend etwas Sonderbares bemerkt – vielleicht nur eine Kleinigkeit, die dich verwundert oder vor ein Rätsel stellt?«
»Etwas Bestimmtes?« Sie war noch immer mißtrauisch und verletzt. Wahrscheinlich fühlte sie sich Steve gegenüber schuldig – vielleicht hatte sie heute nachmittag oder am Abend zuvor eine Verabredung mit ihm nicht eingehalten; vielleicht glaubte sie, daß sie sich mir an den Hals geworfen habe und dafür von mir nichts als Spott ernten würde. »Nichts Bestimmtes.« »Ja… da gibt es eine Sache, von der ich dir erzählen wollte. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen. Es ist aber nur ein Gerücht.« »Ja?« »Vielleicht ist gar nichts dran. Es ist nur… man spricht davon, daß manchmal Leute verschwinden.« »Verschwinden?« »Ach, sie gelten nicht als verschwunden. Sie sollen irgendwohin gereist sein. Aber sie schreiben nur ein oder zwei Mal, und danach hört man nie mehr etwas von ihnen.« »Das ist sehr interessant, Terry«, sagte ich. Aber es war nicht interessant. Auf einem so patriotischen Planeten wie Solitaire gab es zweifellos einen geheimen Sicherheitsdienst, wenn wir auch nichts darüber wußten. Natürlich verschwanden Menschen. Es wäre erstaunlich gewesen, wenn niemand verschwunden wäre… Da Terrys Kleidung nur für den Park geeignet war, nahmen wir in einem Gartenrestaurant innerhalb der Kuppel eine kleine Mahlzeit zu uns. Anschließend brachte ich sie heim. Ich wußte noch nicht, was weiterhin mit ihr geschehen sollte. Ich würde mir ziemlich bald etwas ausdenken müssen, das sie Marks berichten konnte, etwas, das ihn von Terrys Treue und Nützlichkeit überzeugen würde und ihn glauben ließ, daß ich nichts entdeckt hätte. Letzteres stimmte haargenau. Vorläufig sollte Terry alles berichten, was wir gesprochen hatten mit einer Ausnahme natürlich.
Als ich zum Hotel zurückgekehrt war, wartete dort Tom Harrison auf mich. Er wollte wissen, ob er noch irgend etwas für mich tun könne. Mir kam ein Gedanke. »Nein, Tom, vielen Dank. Ich komme jetzt gut allein zurecht. Ich danke Ihnen für ihre bisherige Hilfe. Sie war mir sehr wertvoll. Aber in Zukunft möchte ich Sie nicht mehr bemühen.« Harrison nickte verstimmt. »Okay«, sagte er barsch. »Wahrscheinlich wollen Sie nicht, daß ich Ihnen noch länger auf die Nerven gehe. Ist es das?« »Nun, nicht unbedingt. Um die Wahrheit zu sagen – das Mädchen, von dem ich Ihnen erzählt habe, hat mich herumgeführt. Sie sind ein netter Kerl, aber sie müssen zugeben, daß Sie kein hübsches Mädchen sind.« Harrisons Miene hellte sich auf. »Oh, wenn es das ist… nun, wenn sie mich brauchen, dann wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können. Auf ein andermal also.« Ich stieg die Treppen hinauf. Solange der S.A.B. offiziell noch auf die sanfte Tour machte, würde er mich in Ruhe lassen. Aber sie würden mich trotzdem unter Beobachtung halten wollen. Indem ich sie zwang, die Überwachung durch Terry durchführen zu lassen, verschaffte ich ihr meines Erachtens einen vorläufigen Schutz. Tatsächlich hatte ich innerhalb einer Stunde einige Pläne ausgearbeitet. Pläne, die ich hier nicht näher erläutern will, da ich nie Gelegenheit hatte, sie zu verwirklichen. Es war noch ziemlich früh, als mir der Portier mitteilte, daß eine junge Dame unten auf mich warte. Ich eilte sofort hinunter. Die Besucherin konnte nur Terry sein. Es war ein Fehler von ihr, mich im Parkblick aufzusuchen, wo jede meiner Bewegungen überwacht wurde und wo die Wände zweifellos Ohren hatten. Ich tat am besten so, als ob ich auf sie gewartet hätte, und konnte nur hoffen, sie
würde so vernünftig sein, mit irgendwelchen wichtigen Mitteilungen zu warten, bis wir draußen waren. Sie war so vernünftig. Sie hatte ihren Mantel anbehalten und tat als ob wir uns verabredet hätten, miteinander auszugehen. Ich empfand ihr Lächeln als etwas gequält. Sie wartete, bis wir uns auf dem Arne Way ein gutes Stück vom Hotel entfernt hatten, bevor sie mir den Grund ihres Kommens verriet. Es wurde dunkel, und der Schnee fiel in zarten weißen Flocken. Es herrschte bittere Kälte; unser Atem verwandelte sich in weiße Dampfwölkchen. Terry, der die Kälte bisher nie etwas ausgemacht hatte, zitterte. »Edwin«, sagte sie plötzlich, »alles läuft schief.« Im Weitergehen erzählte sie mir, was geschehen war. Wenn jemand in unsere Nähe kam, hielt sie inne, bis wir wieder ganz für uns allein waren. Als wir uns getrennt hatten und sie in ihre Wohnung gekommen war, hatte sie die Stimmen von Marks und ihrem Vater vernommen. Sie war nicht geradewegs zu ihnen hineingegangen, sondern erst einmal in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Dort hatte sie einige Worte aufgeschnappt, die sie veranlaßten, sich leise in eine Abstellkammer zu schleichen, um besser hören zu können. Marks erzählte ihrem Vater, daß er sie mit Drogen vollpumpen wolle, um sicherzugehen, daß sie die lückenlose Wahrheit sagte… Terry brauchte mir nicht zu sagen, wie sehr sich dadurch das Bild für sie gewandelt hatte. Wie es ihrem Alter angemessen war, hatte sie wahrscheinlich die verschwommene Vorstellung gehabt, es würde leicht sein, peinlichen Fragen auszuweichen. Und wenn man sie später einer allzu schweren Folterung unterziehen würde, wie es für Heldinnen angemessen war,
würde sie tapfer darauf beharren, die Wahrheit gesagt zu haben. Sie hatte nicht in Erwägung gezogen, daß Marks sie unter Drogen setzen und willenlos machen konnte. Das zerstörte die romantische Vorstellung. Dagegen konnte man nicht ankämpfen… »Ich schlich leise hinaus«, schloß sie, »und ging direkt zu dir.« »Merkst du denn nicht, Terry«, sagte ich, »daß du genau das gehört hast, was du hören solltest, und genau das getan hast, was du tun solltest – nämlich voller Panik zu mir laufen?« Sie richtete sich straff auf. »Ich bin nicht in Panik!« »Du solltest es aber sein. Ich an deiner Stelle wäre es.« »Warum – was meinst du?« »Ich stehe unter einem gewissen Schutz. Ich habe kein hiesiges oder internationales Gesetz gebrochen.« »Aber du bist ein Spion!« »Bitte, schrei nicht so laut mitten auf der Straße, Terry. In gewissem Sinne bin ich ein Spion, aber ich muß mich nicht außerhalb des Gesetzes begeben, um meiner Aufgabe nachzugehen. Sicherlich wird mich der S.A.B. aus dem Weg räumen, wenn er es für gut hält. Aber sie wissen sehr wohl, daß die Erde gar nicht darüber erfreut wäre und die Gelegenheit ergreifen könnte, gegen Solitaire vorzugehen und eine umfassende Untersuchung durchzuführen. Eine derartige Untersuchung wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, das herauszufinden, was ich herausfinden soll. Der S.A.B. weiß das alles. Aber du – « »Was soll mit mir sein?« fragte sie trotzig. Sie durfte sich nicht länger über ihre wahre Lage täuschen. »Sieh mal, Terry, für dich ist allein Solitaire zuständig. Niemand sonst hat die Möglichkeit einzugreifen. Wenn deine Staatsführung ohne Untersuchung oder öffentliche
Verhandlung deines Falles entscheidet, daß du eine Verräterin bist, dann gibt es nichts, was sie daran hindern könnte – « Sie starrte mich erschrocken an. »Du meinst, ich werde hingerichtet – und du kannst nichts dagegen tun?« Ich zog sie an einer Straßenecke auf eine Bank nieder. Es war nicht gerade gemütlich, mitten im Schneetreiben zu sitzen, aber wir waren im Freien viel sicherer als irgendwo anders, wo wir gehört werden konnten. Terry zitterte so sehr, daß ich stutzig wurde. »Was hast du unter deinem Mantel an?« »Nur das, was ich im Park anhatte. Ich hatte keine Zeit, mich umzuziehen.« »Das ist ja großartig«, murmelte ich. »Das bedeutet, daß wir nirgends hingehen können, wo du deinen Mantel ausziehen mußt.« »Außer in den Park.« Am Nachmittag hatte sie mir erzählt, daß nachts mehr im Park los war als tagsüber. Dort gab es keine Polizeistreifen, die mit der Wahrung der öffentlichen Moral beauftragt waren. Die offizielle Regelung war praktischer als in einigen scheinbar besser organisierten Welten: Man vertrat die Ansicht, daß es einen passenden Ort geben müsse, wo junge Verliebte tun können, was junge Verliebte eben tun – sei es harmlos oder auch weniger harmlos. Das Fehlen einer solchen Einrichtung würde die jungen Leute nur in die geöffneten Arme derer treiben, die aus ihren Bedürfnissen Geld schlagen wollen. So konnten wir wieder den Park aufsuchen, ohne allzuviel Aufmerksamkeit zu erregen. Der S.A.B. konnte uns dort mit Leichtigkeit finden; aber letzten Endes konnte uns der S.A.B. überall finden. »Gibt es irgend jemand, dem du trauen kannst, jemand, dem du buchstäblich dein Leben anvertrauen würdest? Dein Vater scheidet offensichtlich aus.«
»Mein Vater gewiß nicht«, sagte sie mit großer Bitterkeit in der Stimme. »Tanten, Onkel, Vettern?« »Nur Steve«, sagte sie verzagt, »und ich mag nicht – « »Es spielt jetzt keine Rolle, was du magst oder nicht. Wir gehen zu Steve.« Zunächst gaben wir unseren Verfolgern Rätsel auf. Vielleicht verfolgte uns auch niemand; jedoch hatte ich zuviel Respekt vor dem S.A.B. um ein Risiko einzugehen. Ich hatte meinen Auftrag auf Solitaire nicht erfüllt. Jetzt versuchte ich nur noch, Terry heil aus der Sache herauszubringen und mit mir zu nehmen, wenn das möglich war. Ich glaubte nicht daran. Wir sprangen auf Busse und wieder ab, wir betraten Gebäude beim einen Eingang und gingen zum andern wieder hinaus, hasteten durch Menschenmengen und warteten in Verstecken, um unsere Verfolger an uns vorbeizulassen. Mit meiner Erfahrung und Terrys Ortskenntnissen waren wir bald sicher, daß uns niemand folgte. Dann gingen wir zu Steves Wohnung. Ich war mir darüber im klaren, daß dies die Verfolger wieder auf unsere Spur bringen konnte. Ich sagte Terry jedoch nichts davon. Sie hatte schon genug Sorgen. »Oh, Miss Terry«, sagte die Vermieterin leicht erstaunt. »Hat Steve Sie denn nicht vor seiner Abreise benachrichtigt?« »Abreise?« sagte Terry ahnungsvoll. »Er ist nach Bennerwald gegangen. Aber er wird sicher schreiben. Ich wette, daß wir alle morgen einen Brief von ihm bekommen.« Terry war im Begriff, sich ausführlich dazu zu äußern. Ich faßte sie hart am Ellbogen. Mühsam bedankte sie sich bei der Vermieterin, und wir entfernten uns. »Wo ist Bennerwald?« fragte ich.
»Auf der anderen Seite des Planeten – zehntausend Meilen von hier entfernt. Er kann doch nicht einfach – « »Sprich nicht zu viel.« Wieder bemühten wir uns, unsere Spur zu verwischen. Als ich davon überzeugt war, daß uns niemand folgte, setzten wir uns wieder auf eine Bank und schmiegten uns aneinander, so daß man uns für ein Liebespärchen halten mußte. »Er ist verschwunden«, sagte Terry leise. Der Nachdruck, mit dem Terry das Wort betonte, ließ es mich in fragendem Ton wiederholen. »Verschwunden«, sagte sie. »Wie die Leute, von denen ich dir erzählt habe.« »Ich fürchte, du hast recht.« Sie erschauderte und umfaßte krampfhaft meine Hand. Doch die Art, in der sie es aufnahm, sagte mir, daß sie Steve nie geliebt hatte. »War er ein Aufrührer?« fragte ich. »Ich meine, war er gegen Patriotismus und Propaganda? Hat er seinen Mund zu weit aufgemacht?« Terry starrte vor sich hin. »Nein, ganz im Gegenteil.« »Wirklich?« fragte ich. »Ja – wir haben uns öfter über das Thema gestritten. Wie ich dir schon sagte, würde es mir nichts ausmachen, mein Land zu lieben, wenn es sich nicht so sehr darum bemühen würde. Aber Steve…« Sie zuckte die Achseln. »Erinnerst du dich noch an die Arne Story? Nun, Steve würde mich für Solitaire opfern. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er nicht dauernd damit geprahlt hätte.« Die Sache begann mich zu interessieren. »Terry, denk mal an all die Leute, von denen du weißt, daß sie möglicherweise verschwunden sind. Was für Leute waren das?«
»Ich sagte dir ja schon, daß niemand etwas Genaues weiß. Vielleicht ist überhaupt niemand verschwunden. Vielleicht ist es nichts weiter als ein Gerücht – « »Ich weiß. Aber du kannst doch Vermutungen anstellen. Die Leute, die auf lange Reisen gehen, ein oder zwei Mal schreiben und dann schweigen – sind diese Leute alt oder jung? Sind es Männer oder Frauen? Aufrührer oder Patrioten?« »Sie sind meistens jung. Ältere Menschen lassen sich nicht gern verpflanzen. Es handelt sich um Männer und Frauen. Und sie sind im allgemeinen ganz patriotisch eingestellt. Auf jeden Fall keine Aufwiegler.« »Das ist sehr interessant«, sagte ich. »Edwin – wo können wir hingehen? In eine andere Stadt?« »Nein. Sicher werden alle Bahnhöfe überwacht.« »In ein Hotel?« »Da gilt das gleiche.« »Dann laß uns in den Park gehen. Ich friere.« »Gut.« Doch ehe wir uns in Bewegung setzten, tauchte ein jugendlich aussehender Mann auf und grüßte im Vorbeigehen fröhlich zu mir herüber. Es war Tom Harrison. Der S.A.B. arbeitete so wirkungsvoll, daß er unsere Spur leicht wieder aufnehmen konnte, wenn er sie verloren hatte. Außerdem lag ihm daran, uns wissen zu lassen, daß wir unter Beobachtung standen. Ich fragte mich, was man damit erreichen wollte. Wir gaben unsere Mäntel im Parkpavillon ab. Wieder hatten wir alles getan, um unsere Bewacher abzuschütteln. Vielleicht hatten wir schließlich doch Erfolg gehabt. Im Park vermuteten sie uns wahrscheinlich zu allerletzt. Denn wir waren dort wie in einer Falle gefangen, wenn es auch eine sehr große Falle war.
Nicht, daß das einen großen Unterschied machte. Der S.A.B. konnte nach Belieben mit uns umspringen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Er konnte mich ohne weiteres daran hindern, Solitaire zu verlassen, ob mit oder ohne Terry. Arne Park bei Nacht war schön, doppelt so schön wie am Tag – besonders für Leute, die geradewegs aus dem Schneetreiben kamen. Die Kuppel erglühte in elektroaktinischem Licht, dessen Reflexionsindex so berechnet war, daß er das Eindringen des Tageslichts nicht behinderte. Das Licht war nicht hell, sondern nur ein wenig stärker als der Schein des Erdenmonds. Zahlreiche Pärchen bevölkerten den riesigen Park. Er stellte wohl die längste, größte und belebteste Promenade für Verliebte dar, die es in der ganzen Galaxis gab. Zärtliches Lachen drang aus jedem Gebüsch. Die Feststellung, daß Terry in ihrem gelben Freizeitdreß nicht übermäßig verdächtig aussah, erleichterte mich. Im Park war es warm wie am Tag, und da es eine Anlage für die Jugend war, war auch die Kleidung jugendlich. Wir gingen wieder spazieren, da es kaum möglich war, unsere Gespräche zu belauschen, wenn wir in Bewegung waren. »Terry«, sagte ich, »habe ich das richtig verstanden? Die Leute, die verschwinden, sind jung, gehören beiderlei Geschlecht an und sind sehr patriotisch?« »Ja, diesen Eindruck habe ich gewonnen.« »Sie verschwinden, noch ehe sie verheiratet sind und Kinder haben?« »Ja, freilich. Du hast gesagt, das sei interessant. Weshalb denn?« »Weil man erwarten sollte, daß in dieser Art von Welt diejenigen Leute verschwinden, die mit den Verhältnissen
unzufrieden sind – Individualisten, Rebellen, Intellektuelle, Anarchisten, Aufwiegler, Reformer.« »Nun – es ist umgekehrt.« »Sie verschwinden also – sie sterben nicht.« »Woher willst du das wissen?« »Was weißt du über Henry Arne, den Mann, nach dem der Park und die Stadt benannt sind?« »Oh, eine ganze Menge. Ich habe schließlich die Schule besucht. Was möchtest du gerne wissen?« »Ich habe es nicht nötig, dich nach ihm zu fragen, Terry. Du weißt, ich bin Historiker. Nimm einmal an, daß er selbst ein Individualist war. Als fanatischer Verfechter der menschlichen Freiheit hat er vielleicht vor langer Zeit eine geheime, aber allmächtige Organisation gegründet, welche die Aufgabe hat, die Konformisten, die Jasager und die Leute, die sich von Propaganda beeinflussen lassen, auszumerzen.« Terry blieb stehen und packte mich am Arm. »Genau das ist es! Natürlich, das ist es!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Arne war vor lauter Liebe zu Solitaire fast verrückt. So gesehen war er ein Fanatiker. Er besaß so viel Macht, daß er letzten Endes ein Diktator war. Was er anordnete, geschah auch. Jede Organisation, die er gründen wollte, wurde gegründet. Egal, ob offiziell oder geheim.« »Du glaubst, er hat eine Geheimorganisation gegründet?« »Ja, aber nicht so eine, wie die, von der ich gerade gesprochen habe. Arne glaubte fest daran, daß ein voll entwickelter Planet Solitaire unvermeidlich zugrunde gehen müsse, ruiniert durch Ausbeuter die eine reiche Welt hervorbringt oder die durch Reichtum oder Erfolg eines Planeten angezogen werden. Er glaubte, daß Solitaire arm heranwachsen müsse, wenn es sich zu einer starken, freien und gesunden Welt entwickeln sollte.«
Diesmal sagte Terry nichts. Sie war verwirrt. Schließlich beschränkte sich ihr Wissen auf ihre eigene Welt. Es fehlte ihr jede Vergleichsmöglichkeit. »Ob Arne nun recht hatte oder nicht«, grübelte ich weiter, »jedenfalls ist das eingetreten, was er für Solitaire gewünscht hat. Durch Zufall oder mit Absicht ist Solitaire nicht reich, stark und glücklich geworden. Aus Gründen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will, kann diese Entwicklung nicht zufällig sein. Also muß eine Absicht dahinterstecken – höchstwahrscheinlich Arnes Absicht. Das bedeutet, daß er einen Plan ins Leben gerufen hat, der zweihundert Jahre nach seinem Tod noch fortwirkt. Das alles ist nichts Neues, Terry. Jeder, der sich mit diesen Dingen befaßt, kann diese Schlußfolgerung ziehen, ohne jemals in die Nähe Solitaires gekommen zu sein. Und auch deine Mitteilung, daß Gerüchte über das Verschwinden von Menschen existieren, war keine Überraschung. Die Bevölkerung Solitaires müßte sich eigentlich alle hundert Jahre um das Sechsfache vermehren. Diese Vermehrung ist ausgeblieben. Nach puren Vermutungen, die auf keinerlei Zahlenmaterial basieren, hat sich die Einwohnerzahl innerhalb von zwei Jahrhunderten nur verdoppelt.« »Du glaubst doch nicht, daß alle diese Leute verschwunden sind. Daß sie geboren wurden und dann… dann…« »Gestorben sind? Abtransportiert? Was meinst du dazu, Terry? Heiraten nicht fast alle? Hat das Durchschnittspaar nicht drei Kinder?« »Ja, schon. Aber was bedeutet das?« »Es bedeutet«, sagte ich, »daß in den letzten zweihundert Jahren zwischen ein- und dreitausend Millionen Einwohner… verschwunden sind.« Ich erwartete von Terry irgendeine Reaktion, aber es erfolgte keine. Als ich mich umsah, erkannte ich den Grund.
Von allen Seiten näherten sich uns Männer. Ihr entschlossenes Auftreten ließ keinen Zweifel daran, daß der S.A.B. vorhatte, uns festzunehmen – wenn nicht gar auf der Stelle zu erschießen. Es hatte keinen Zweck, davonzulaufen. Das erkannte sogar Terry. Sie schmiegte sich an mich, und ich drückte ihre Hand. Tom Harrison führte das Unternehmen an. »Sie bekleiden im S.A.B. offenbar ein wichtiges Amt, Tom«, sagte ich im normalen Unterhaltungston. »Ziemlich wichtig«, meinte er trocken. Aus seinem Tonfall war jede Spur der früheren Schüchternheit verschwunden. »Ich bin nämlich der Chef.« »Ich fühle mich geehrt«, sagte ich. Am Tor erlaubte uns Harrison nicht, unsere Mäntel abzunehmen. Er hatte recht. Mit meinem Mantel hatte es eine besondere Bewandtnis… nun ja, es war nicht wirklich wichtig. »Sie werden Terry doch nicht zwingen, in dieser Bekleidung hinauszugehen?« protestierte ich. »Direkt vor dem Tor steht ein Wagen«, sagte Harrison kurz angebunden. Vor dem Tor befand sich eine ganze Menge von Leuten, die uns natürlich anstarrten, als wir zu dem Wagen geführt wurden. Terry erschauderte, als die Schneeflocken auf ihre nackten Schultern fielen. Aber schließlich waren wir im Wagen, und es gab für sie größere Sorgen als die Kälte. Wir wurden in ein kleines Zimmer des Regierungsgebäudes gebracht, in dem sich nichts Bemerkenswertes befand – ein fensterloser Raum mit einer Tür, einem Tisch und einigen Stühlen. Anwesend waren Harrison, Terry und zwei nichtuniformierte Männer. »Wir wollen nicht lange um den Brei herumreden, oder?« fragte Harrison. »Nicht, wenn Sie es nicht wollen«, stimmte ich zu.
»Geradeheraus gesagt«, fuhr Harrison fort, »möchte ich am liebsten, daß Sie abreisen, Horsefeld.« »Und Terry mit mir?« »Sie bleibt auf jeden Fall hier.« Er musterte sie beiläufig von oben bis unten, als ob er ein Zensor und sie ein schmutziges Buch sei. Terry wurde blaß. »Sie hat sich noch nie zu Solitaires Nationalismus bekannt«, sagte ich ruhig. »Ich halte es für besser, wenn sie mit mir zur Erde kommt.« Harrison schüttelte den Kopf. Für einen Moment trat ein harter Ausdruck in seine Augen; er mochte Verräter nicht. Und es ließ sich nicht leugnen, daß Terry eine Verräterin war. »Konnten sie sich denn nicht denken, daß sie sich mit mir verbünden würde?« fragte ich. »Nein. Wir glaubten, daß ihre Treue oder ihr Verstand sie vor den Dummheiten, die sie begangen hat, bewahren würde. Aber es spielt eigentlich keine Rolle. Sie verlassen Solitaire um nichts klüger, als Sie es bei Ihrer Ankunft waren, Horsefeld.« »Sie weisen mich also aus?« »Nachdem Sie beide mir unter Drogeneinfluß einige Fragen beantwortet haben. Wenn Sie wollen, können Sie vor der Abreise der Hinrichtung des Mädchens beiwohnen.« »In diesem Fall«, sagte ich, »werde ich jetzt lieber sprechen, um Zeit zu gewinnen.« »Bluffen ist sinnlos. Wir benutzen die Drogen auf jeden Fall.« »Aber ein Verhör unter Drogeneinwirkung geht extrem langsam vor sich, wie wir beide sehr wohl wissen. Wollen Sie, daß diese beiden hören, was ich zu sagen habe?« Ich zeigte auf die zwei Wachen. Harrison nickte ihnen zu, und sie gingen hinaus. Das war interessant. Die Chancen für eine Flucht waren zwar immer
noch gleich Null, aber die Tatsache, daß Harrison sie hinausschickte, bedeutete wahrscheinlich, daß sie nicht in das Geheimnis eingeweiht waren – und daß es nur sehr wenige Eingeweihte gab. »Ich habe eine ganze Menge über den Arne-Plan herausgefunden«, sagte ich, »und den Rest konnte ich mir selbst zusammenreimen. Ich glaube, ich weiß genug, um den Plan zum Scheitern zu bringen.« Harrison reagierte fast unmerklich, aber er reagierte. Das ermutigte mich sehr. Ich kannte zwar nicht die volle Wahrheit und wußte kaum mehr als eine Wahrsagerin in dem Moment, wenn ein Kunde bei ihr eintritt. Aber sie hat Übung darin, auf Anhieb ein richtiges Urteil abzugeben und dann weiterzuraten, indem sie auf alles eingeht, was eine Reaktion hervorruft, und alles andere verwirft. Ich war überrascht, daß mir Harrison dazu Gelegenheit gab. Doch nahm er ja irrigerweise an, alle Trümpfe in der Hand zu halten. »Es war uns schon seit jeher bekannt, daß Leute verschwinden«, sagte ich. »Aber das war Solitaires eigene Angelegenheit. Wir glaubten, es handle sich um Rebellen, die einfach eliminiert werden. Wir wußten nicht, daß sie sozusagen aufbewahrt und in Reserve gehalten werden. Wir hätten es eigentlich wissen müssen. So ein verrückter Plan ist Henry Arne ohne weiteres zuzutrauen. Alles für das Wohl Solitaires – alles.« Harrison sah mich ebenso verblüfft an wie Terry. Doch er hörte noch zu. Also fuhr ich mit gestärktem Selbstvertrauen fort. Ich wußte, daß ich über genug Material verfügte, wenn ich auch nicht alles wußte. »Ich gebe zu, daß ich den Standort der Arne-Armee nicht kenne. Aber nachdem ich einmal herausgefunden hatte, daß nur die Patrioten verschwunden sind, wußte ich auch, daß sie irgendwo liegen
und auf ihre Wiederbelebung warten. Wahrscheinlich unter dem Park. Sie waren nicht sehr geschickt, Harrison. Sie gaben mir zu verstehen, daß Sie mich beobachteten und daß Sie wußten, daß Terry auf meiner Seite ist. Doch Sie sind erst eingeschritten, als wir im Park spazierengingen. War das nicht sehr dumm von Ihnen?« »Horsefeld«, sagte Harrison ruhig, »worauf wollen Sie hinaus? Sie wissen, daß ich Sie jetzt nicht mehr fortlassen darf.« Dummkopf, dachte ich triumphierend. Er sagte mir auch noch, daß ich auf der richtigen Spur bin. »Die Endphase des Plans besteht vermutlich darin«, fuhr ich fort, »daß Solitaire in einigen Jahrhunderten allmählich aufblüht. Der Export nimmt zu, und die Vermögenswerte werden zu Bargeld und Maschinen gemacht. Tausende junger Leute werden zur Erde und zu anderen Planeten gesandt, um dort Schulen zu besuchen. Sie kommen später als hochqualifizierte Techniker zurück und verwandeln Solitaire in eine reibungslos funktionierende, mächtige und leistungsfähige Welt. Dann wird die Armee wiederbelebt und ausgebildet. Bis dahin kann sie Milliarden Mann stark sein. Eine Armee für…« »Wofür?« schnappte Harrison. »Eine Armee dieser Größe, die sich ausschließlich aus Patrioten zusammensetzt, kann nur eine Bestimmung haben – nämlich die, für Solitaire die Vorherrschaft in der Galaxis zu erkämpfen. Offenbar litt Arne unter Größenwahn. Ich weiß nicht, wie er sichergestellt hat, daß über Jahrhunderte hinweg weitere Größenwahnsinnige ausgewählt werden konnten, um an der Vollendung seines Plans mitzuwirken. Aber offensichtlich ist es ihm geglückt – « Plötzlich hielt Harrison eine Pistole in der Hand. Er hatte nicht vor, sich auf Diskussionen einzulassen. Er wollte mich
und Terry auf der Stelle hinrichten, um sicherzugehen, daß nicht noch mehr Fehler passierten. »An Ihrer Stelle würde ich mir das gut überlegen«, sagte ich schneidend. »Erst vorhin haben Sie mich gefragt, worauf ich hinaus will. Sie wußten, daß ich auf etwas hinauswollte. Sie hatten ganz recht damit.« »Nun?« fragte er. Seine Waffe zeigte genau auf mein Herz. »Ihr von Solitaire habt mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten«, sagte ich ruhig. »Ihr seid so weit zurück, daß es euch vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen ist, daß jedes Wort in diesem Raum aufgezeichnet wurde und zur Erde geschickt wird.« Harrison versuchte nicht, seine Bestürzung zu verbergen. Wenn ich bluffte, dann brachte mir das lediglich einen kurzen Zeitgewinn ein. Wenn ich nicht bluffte, waren wir beide nicht mehr wichtig. »Diese Knöpfe hier«, sagte ich und drehte sie zwischen den Fingern. »Vermutlich habt ihr sie sehr eingehend untersucht, so wie alles andere auch. Ich habe wohl bemerkt, wie gründlich die sogenannte Zolluntersuchung war. Es handelt sich um einfache, gewöhnliche Plastikknöpfe. Auch Röntgenstrahlen zeigen nichts anderes – natürlich habt ihr alles versucht. Auch wenn ihr sie aufsägen würdet, könntet ihr nichts finden. Aber sie sind aus einem neuen Material, das mit den Tonschwingungen vibriert. Und auf einem der beiden Schiffe der irdischen Raumflotte, die über der Atmosphäre von Solitaire schweben, befindet sich der leistungsfähigste Verstärker, den Sie je gesehen haben. Er ist imstande – « »Ich glaube Ihnen nicht.« »Das ist auch nicht nötig. Wenn Sie wollen, kann ich es beweisen.« »Wie denn?«
»Wollen Sie, daß in zehn Minuten eine Bombe auf den Arne Park abgeworfen wird? Oder vielleicht etwas Freundlicheres – zum Beispiel ein Feuerwerk über Arneville? Ich schlage ein Begleitschiff für Terry und mich vor, das vor diesem Gebäude landet… sagen wir in einer Stunde, ja?« Harrison starrte mich an. Plötzlich zischte er: »Legen Sie Ihre Kleidung ab. Ich will jeden Faden haben, den Sie am Leib tragen.« Er wandte den Kopf zu Terry. »Sie auch.« Ich lachte. »Wenn man den Käfig schließt, nachdem der Vogel fortgeflogen ist, hindert man ihn daran, zurückzukehren.« »Schnell«, sagte Harrison scharf, »oder ich erschieße Sie beide auf der Stelle.« Terry gab sich große Mühe, ihre Angst vor der Pistole zu verbergen, mit der uns vor der Nase herumgefuchtelt wurde. Trotzig erhob sie sich und begann ihren Freizeitdreß zu öffnen. Ich ließ sie gewähren, denn mir war noch etwas eingefallen, das ich den Schiffen der irdischen Raumflotte mitteilen wollte, obwohl es eigentlich kaum nötig sein würde. »Falls Sie mit dem Gedanken spielen sollten, die Schiffe zu verfolgen oder sie im Raum zu vernichten«, sagte ich, »dann vergessen Sie’s lieber. Das erste Schiff dürfte bereits in Richtung Erde beschleunigen. Es hat alle Informationen an Bord, die es braucht. Und Sie können es nicht mehr einholen… Hör auf, Terry.« »Ich will diese Sachen haben!« fauchte Harrison. »Nehmen Sie die Knöpfe«, sagte ich und riß sie ab. »Seien Sie vernünftig, Tom. Wenn ich geblufft habe, dann gibt es keinen Grund, meine Sachen zu vernichten, wie Sie es vermutlich vorhaben. Wenn ich die Wahrheit gesagt habe, dann ist es zu spät – ich habe schon genug gesagt, und alles Weitere wird es kaum wert sein, aufgezeichnet zu werden.«
Harrison zögerte. »In Ordnung«, stieß er hervor. »Sagen Sie ihnen, sie sollen das Begleitschiff schicken. Aber die Knöpfe will ich haben.« Damit nahm er sie an sich. Terry, die den Mittelteil ihres Anzugs abgelegt hatte und schon halb nackt war – ich erhaschte einen Blick auf eine ihrer festen Brüste –, wurde im letzten Moment vor der Preisgabe ihres Schamgefühls bewahrt. »Aber Sie«, sagte Harrison in bösartigem Ton, wobei er seinen kalten Blick auf Terry richtete, »Sie bleiben hier.« Er steckte die Knöpfe in die Tasche und verließ den Raum. Terry fragte: »Edwin, ist das alles wahr?« »Alles«, erwiderte ich. »Sag, was du willst, Terry, solange du dir darüber klar bist, daß der S.A.B. jedes Wort von dir genau zur Kenntnis nimmt.« Der kleine Wink verwirrte sie nur für einen Augenblick. »Werden sie uns fortlassen?« Mich schon. Aber Terry nicht. Terry hatte mitgeholfen, den Arne-Plan zu vereiteln – denn er war jetzt wirklich unausführbar geworden. Harrison und der S.A.B. würden ihr das nicht durchgehen lassen; fast jedes Geschöpf wird bösartig, wenn es sich in die Enge getrieben fühlt. Wenn ich diese Gedanken jedoch laut aussprach, würde ich mir jede Chance nehmen, Terry zu retten. Sie hatte den Mittelteil ihres Anzugs noch nicht aufgehoben und preßte das Oberteil an sich, ohne es jedoch zu befestigen. Ich wußte, daß sie mit der erschreckenden Direktheit der Unschuld sogar in diesem Moment versuchte, bei mir irgendeine Wirkung zu erzielen. Ich hatte sie niemals anders als meine eigenen Töchter behandelt, die wie sie im Teenageralter waren. Und obwohl wie sich nie direkt beschwert hatte, machte sie auch kein Geheimnis aus ihrer Enttäuschung und ihrem Groll darüber.
»Diese verrückte Geschichte kann doch nicht wahr sein, oder?« »Sie klingt verrückt, aber im wesentlichen stimmt sie.« »Es stimmt, daß alle, die verschwunden sind, auf ihre Widerbelebung warten? Auch Steve?« »Ja, in gewisser Hinsicht ist es ein heroischer Plan, wenn man ihn vom Standpunkt Solitaires aus betrachtet. Eine Armee ausgesuchter Patrioten hat noch nie zuvor existiert. Sie würde kämpfen, wie noch keine Armee je gekämpft hat…« »Ich begreife nicht, warum sie dich laufen lassen sollten.« »Nun, ich bin als halboffizieller Vertreter der Erde hier. Und wie stark auch immer Solitaire in einigen hundert Jahren sein mag, im Moment kann es von der Erde wie eine Eierschale zerdrückt werden. Wenn Harrison mich erschießen würde, dann könnte die Erde meinen Tod als Vorwand nehmen, über Solitaire herzufallen.« Da sie selbst keine Anstalten machte, hakte ich ihren BH ein und legte den Mittelteil um sie. »Edwin«, sagte sie flehend, »machst du dir überhaupt nichts aus mir?« »Doch, ich mache mir sehr viel aus dir – aber nicht so, wie du es meinst. Terry, man merkt, daß in deinem Leben Liebe noch keine große Rolle gespielt hat. Du suchst in mir nicht einen Geliebten, sondern den Vater.« »Nein, das tue ich nicht! Ich – « »Mit mir als Vater würdest du die jungen Männer deines Alters bald mit anderen Augen betrachten. Ein Mädchen in deinem Alter braucht ein Elternhaus, aus dem es herauswachsen kann.« Wir unterhielten uns noch eine Stunde lang. Terry erwähnte nicht ein einziges Mal die Gefahr, in der sie schwebte. In ähnlicher Weise schmieden todgeweihte Patienten noch Zukunftspläne.
Schließlich kam Harrison zurück. »Ein kleines Schiff ist gerade draußen gelandet«, teilte er mit. »Und was haben Sie jetzt vor? Was hat der Premier gesagt?« Harrison zögerte und sagte dann mit mattem Lächeln: »Horsefeld, teilen Sie der Erde mit, daß sie uns nichts antun kann. Ab sofort ist der Arne-Plan zurückgestellt. Wenn es sein muß, dann werden wir reich und stark. Wir haben genügend Arbeitskräfte für die Umwandlung von Solitaire.« Ich grinste zurück. »So ist das also? Das haben Sie also vor, solange der ursprüngliche Arne-Plan begraben ist. Nun – uns soll es recht sein. Komm mit, Terry.« »Terry bleibt hier. Das habe ich bereits gesagt.« »Dann bleibe ich auch.« »Seien Sie doch kein Narr«, sagte Harrison schroff. »Haben Sie tatsächlich geglaubt, es gäbe auch nur die geringste Chance, daß wir sie am Leben lassen?« Terry versuchte, sich hinter mir zu verbergen. Als sie sich gegen mich preßte, spürte ich, daß ihr Herz wie rasend klopfte. »Ich kann es Ihnen leicht oder schwer machen«, sagte ich. »Was darf es sein?« Harrison zögerte wieder. »Ich bin nicht befugt, sie laufen zu lassen.« »Aber ich darf gehen – stimmt das?« Ich ließ die Stille einige Sekunden im Raum stehen. Harrison war kein wirklich guter Schauspieler. Sein pausbäckiges, unschuldiges Gesicht gab zwar sehr wenig preis, doch sein Zögern und sein Schweigen offenbarten eine Menge. Ich war nun sicher, daß er angewiesen worden war, mich zum Verlassen des Planeten zu bewegen. »Hören Sie«, brach ich schließlich das Schweigen, »lassen Sie uns zum Begleitschiff gehen. Schießen Sie dann auf Terry – und treffen Sie daneben. Niemand wird Ihnen etwas anhaben können.«
»Okay«, stimmte er sofort zu. Wir gingen durch das leere und stille Regierungsgebäude. Wir wurden nicht von zwei, sondern von sieben Wachen begleitet, so daß wir uns in einer Prozession von zehn Menschen durch das leere, hallende Gebäude bewegten. Wir schritten in die Nacht hinaus. Terry erschauerte wieder im Schnee. Das Schiff stand in einer Entfernung von zweihundert Metern. Es war ein glatter, schimmernder Miniaturraumkreuzer, der einen sehr tüchtigen Eindruck machte. Ich blieb zurück und ließ Terry als erste gehen. Wir waren schon fast am Schiff angelangt. Die Offiziere der irdischen Flotte salutierten und starrten Terry bewundernd an. Sie hätte das Schiff schon fast mit ausgestreckten Armen berühren können. Leider hatte ich nur Harrison im Auge behalten; er rührte sich nicht. Es war einer von der Wachmannschaft, der plötzlich seine Waffe hob und schoß. Kurz bevor der Schuß losging, packte ich Terry am Arm und zog sie zu mir. Vergeblich. Der Schuß traf. Sie fiel in den Schnee. In ihrem Rücken befand sich ein kleines, rotes Loch. Ich nahm sie rasch in meine Arme und sprang in das Schiff. Ich wußte, daß Harrison nicht auf mich schießen lassen würde. Im Innern des Schiffes sah ich vertraute Gesichter. »Macht Platz, schnell«, sagte ich, während ich Terry noch immer auf den Armen trug. Seit dem Schuß hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben. Ich hatte zwar gewußt, daß sie zart war, aber sie war noch leichter, als ich erwartet hatte. Nach den Vorschriften befand sich fast immer ein Arzt an Bord eines Begleitschiffs. Der Doktor eilte voraus und führte mich in eine winzige Kabine. Ich legte Terry auf das Bett. »Lassen Sie uns jetzt allein«, befahl der Arzt.
Commander Stimson drückte mir im Kontrollraum die Hand. »Du hast es geschafft, Edwin. Hat man schon je so etwas Verrücktes gehört? Was meinst du, hätten sie damit Erfolg gehabt?« »Vielleicht«, sagte ich. »Je nachdem, wie gut unser Spionagesystem in einigen Jahrhunderten gearbeitet hätte.« »Ich muß schon sagen«, erregte sich Stimson, »dir hätte ich es am wenigsten von allen zugetraut, daß du ein halbnacktes Mädchen mitschleifst.« Es fiel mir schwer, höflich zu bleiben. Alle meine Gedanken weilten in der winzigen Kabine, in der Terry mit einem Lungen- oder Herzschuß lag. »Alles in allem eine komische Geschichte«, meinte Stimson, der zwar ein guter Offizier der Raumflotte war, aber nicht allzuviel Phantasie mitbekommen hatte. »Einiges ist kaum zu glauben. Tatsächlich glaube ich es immer noch nicht.« »Das zu entscheiden überlassen wir besser dem irdischen Nachrichtendienst«, sagte ich. Das Begleitschiff steuerte in Richtung auf das Mutterschiff zu. Der Kreuzer nahm unser Schiff reibungslos in seinem Inneren auf und beschleunigte sofort in Richtung Erde. Die Tür der winzigen Kabine hatte sich noch immer nicht geöffnet. Ich mußte dem Kapitän des Kreuzers Meldung erstatten. Ehe ich zum Begleitschiff zurückging, wechselte ich die Kleidung. Schließlich kam der Arzt heraus. »Wird sie überleben?« fragte ich. »Oh, das würde mich nicht überraschen. Man hätte sie allerdings nicht bewegen dürfen.« »Darf ich sie sehen?« Der Arzt zuckte die Achseln. Ich betrat leise die Kabine. Terry sah aus wie ein Gespenst. Wenn ich sie vor meinem Gespräch mit dem Arzt zu Gesicht
bekommen hätte, wäre ich sicher gewesen, daß sie im Sterben lag. Aber sie war bei Bewußtsein. »Nächste Haltestelle Erde«, sagte ich sanft. »Edwin…« »Nicht sprechen«, sagte ich. »Außerdem sollst du auch nicht mehr Edwin zu mir sagen.« »Wie soll ich dann zu dir sagen?« Mit fester Stimme sagte ich nur ein einziges Wort. »Vater.«
Originaltitel: POOR PLANET Copyright © 1964 by Mercury Press, Inc. Aus THE MAGAZINE OF FANTASY AND SCIENCE FICTION August 1964
Larry Niven FREMDLING IM KOSMOS
1 Das schönste Mädchen an Bord entpuppte sich als Ehefrau eines solchen Einzelgängers, daß ich erst in der zweiten Woche von seiner Existenz erfuhr. Er maß nicht ganz ein Meter achtzig und war mittleren Alters; aber auf seiner Schulter trug er die Tätowierung der Höllenflamme, was ihn als einen Mann auswies, der vor dreißig Jahren an dem Krieg auf Kzin teilgenommen hatte. Das hieß, er war dazu ausgebildet, erwachsene Kzinti mit den bloßen Händen, Füßen, Ellbogen, Knien und sonstigem umzubringen. Als wir einander kennenlernten, gab er mir wohlwollend eine erste Warnung und brach meinen Arm zum Beweis dafür, daß er es ernst meinte. Der Arm tat noch am nächsten Tag weh, und jede Frau auf der Lensman galt für mich als über zweihundert Jahre alt. Ich trank allein. Düster starrte ich in den Spiegel hinter der geschwungenen Bartheke. Das Spiegelbild starrte düster zurück. »Heh, Sie von Es-Ist-Erreicht. Was bin ich?« Er saß zwei Stühle weiter und blickte wild um sich. Ohne den Bart hätte sein Gesicht rund und eher verdrießlich gewirkt – glaube ich wenigstens. Der Bart, kurz, schwarz und sorgfältig geschnitten, machte ihn zu einer Kreuzung zwischen Zeus und einer bösartigen Bulldogge. Der Blick entsprach dem Bart.
Seine breiten Finger umspannten mit unnachgiebigem Griff einen großen Trinkkolben. Breite Schultern paßten zu einem gewaltigen Körper und ließen ihn eher massig als fett aussehen. Offensichtlich sprach er zu mir. »Was meinen Sie mit der Frage, was Sie seien?« erkundigte ich mich. »Von woher stamme ich?« »Von der Erde.« Es war ihm deutlich anzumerken. Der Akzent war irdisch. Ebenso der konservativ symmetrische Bart. In der Standard-Atmosphäre des Schiffes ging sein Atem mühelos und natürlich, und seine Statur hatte sich bei einer Schwerkraft von einskommanull G geformt. »Was bin ich also?« »Ein Flachländer.« Sein Blick wurde noch wilder. Offensichtlich war er schon eine ganze Weile vor mir in der Bar angekommen. »Ein Flachländer! Verdämmt, überall bin ich ein Flachländer. Wissen Sie, wie viele Stunden ich im Raum verbracht habe?« »Nein. Lange genug, um sich mit einem Trinkkolben auszukennen.« »Witzig. Sehr witzig. Überall im menschenbewohnten Raum gilt ein Flachländer als ein Grashüpfer, der nie über die Atmosphäre hinauskommt. Überall, außer auf der Erde. Ist man von der Erde, gilt man sein ganzes Leben lang als Flachländer. Die vergangenen fünfzig Jahre habe ich damit verbracht, im Raum herumzuhetzen – und was bin ich? Ein Flachländer! Warum nur?« »Erdenbewohner ist ein holpriger Ausdruck.« »Was ist dann Es-Ist-Erreicht-Bewohner?« wollte er wissen. »Ich bin ein Bruchländer. Ich bin zwar nicht im FünfzigMeilen-Umkreis von Bruchlandungs-City geboren, aber ich bin trotzdem ein Bruchländer.«
Das brachte mir ein Lächeln ein. Glaube ich wenigstens. Es ist schwierig, sich mit einem Bart zu unterhalten. »Zum Glück sind Sie nicht Pilot«, sagte er. »Ich bin es. War es.« »Sie machen Späße. Man läßt einen Bruchländer ein Schiff steuern?« »Wenn er’s kann.« »Ich wollte nicht Ihren Unwillen erregen, Sir. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Elephant.« »Beowulf Schaeffer«, sagte ich. Er spendierte mir einen Drink. Ich spendierte ihm einen Drink. Es stellte sich heraus, daß wir beide Tricksen spielten, und so nahmen wir weitere Drinks an einem Kartentisch…
Als ich ein Kind war, stand ich gern am Rand des Raumhafens von Bruchlandungs-City und beobachtete die hereinkommenden Schiffe. Man konnte die Passagiere sehen, wie sie aus der Luke stiegen und sich in großen Gruppen auf den Zoll zubewegten, und ich fragte mich, warum das Geradeausgehen ihnen wohl Schwierigkeiten machte. Die meisten Sterngeborenen bewegten sich immer in Schlangenlinien, schwankten und blinzelten tränenden Auges in die Sonne. Ich führte es darauf zurück, daß sie von Welten mit unterschiedlicher Schwerkraft und unterschiedlicher Atmosphäre kamen, die von Sonnen unterschiedlicher Farbe beschienen wurden. Später wußte ich es besser. In einem Passagierraumschiff gibt es keine Fenster. Gäbe es welche, so würde die Hälfte der Passagiere wahnsinnig. Es erfordert eine ungewöhnlich gute Geistesverfassung, die Erscheinung des Blinden Flecks im Hyperraum wahrzunehmen und nicht durchzudrehen. Für die Passagiere gibt es nichts zu
sehen und nichts zu tun, und wenn man nicht gerade sechzehn Stunden am Tag lesen will, dann trinkt man. Zwei Tage, nachdem ich Elephant getroffen hatte, landete das Schiff in Los Angeles. Er hatte einen guten Saufkumpan abgegeben. Wir hatten ein anständiges Kartenspiel hingelegt; er mit seinem sechsten Sinn für Karten, ich mit meinem üblichen Glück. Was unsere Unterhaltung betraf, so wußten wir am Ende fast ebensoviel voneinander wie jeder über jeden weiß. Irgendwie stimmte mich der Abschied traurig. »Du hast meine Nummer?« »Ja. Aber, wie gesagt, ich habe noch nichts Bestimmtes vor.« Damit sagte ich die Wahrheit. Wenn ich mich in einer zivilisierten Welt umsehe, mache ich gern meine eigenen Entdeckungen. »Na ja, ruf mich an, wenn du Gelegenheit hast. Ich würde mich freuen, wenn du deine Meinung änderst. Ich hätte dir wirklich gern ein Stück von der Erde gezeigt.« »Ich muß dankend ablehnen. Leb wohl, Elephant. Hat mich gefreut.« Elephant machte kehrt und verschwand durch den Ausgang für Einheimische. Ich ging auf den Zoll zu. Der letzte Drink steckte mir noch in den Knochen, aber das konnte ich im Hotel auskurieren. Ich erwartete nicht, Elephant jemals wiederzusehen. Wirklich nicht.
Neun Tage zuvor, auf Jinx, war ich reich gewesen. Und niedergeschlagen. Geld und Niedergeschlagenheit entstammten derselben Quelle. Die Puppeter, dieses dreibeinige, zweiköpfige und berufsmäßig feige Händlerpack, hatten mich dazu verleitet, die ganzen dreißigtausend Lichtjahre zum galaktischen Zentrum in einem neuen Schiffstyp zurückzulegen. Die Fahrt diente
Reklamezwecken. Es handelte sich darum, Forschungsgelder lockerzumachen, damit die Konstruktionsfehler gerade meines Schiffes behoben werden konnten. Wahrscheinlich hätte ich mehr Verstand zeigen sollen, aber das war noch nie meine Stärke gewesen; außerdem zahlten sie gut. Der Haken war nur, daß sich das Zentrum zur Zeit meiner Ankunft im Zustand einer Explosion befand. Zehntausend Jahre zuvor hatten sich die Zentrumssonnen in einer Kettenreaktion zu Novae aufgelöst, und seit damals breitete sich ein Strahlungsfeld unaufhaltsam in Richtung auf den erforschten Raum aus. In genau zwanzigtausend Jahren befinden wir uns alle in tödlicher Gefahr. Das läßt Sie kalt? Auch mich hat es nicht allzu sehr erschüttert. Aber sämtliche Puppeter verschwanden über Nacht aus dem erforschten Raum, weiß Finagle zu welchen Galaxen. Ich war niedergeschlagen. Ich vermißte die Puppeter, und es bedrückte mich, daß ich an ihrem Auszug schuld war. Ich hatte Zeit, Geld und eine tiefe Melancholie loszuwerden. Und ich hatte schon immer den Planeten Terra sehen wollen.
2 Die Erde roch gut. Die Luft atmete etwas Uraltes und zugleich Lebendiges; mir war noch nie Ähnliches begegnet. So unterscheiden sich Quellwasser und destilliertes Wasser. Jeder Atemzug, der meine Lungen füllte, enthielt Moleküle, die schon Dante, Aristoteles, Shakespeare, Heinlein, Carter und meine eigenen Vorfahren geatmet hatten. Spuren vergangener Industrien schwebten in der Luft, mehr der Ahnung als den Sinnen zugänglich: Gerüche nach Benzin und Kohle, Tabak und angebrannten Zigarettenfiltern, Dieselöl und
Bierbrauereien. Ich atmete tief ein und verließ erwartungsvoll das Zollgebäude. Ich hätte eine Transferzelle geradewegs zum Hotel nehmen können. Aber ich entschied mich dafür, erst ein wenig zu Fuß zu gehen. Alle Erdenbewohner schienen den gleichen Gedanken gehabt zu haben. Eine unvorstellbare Menge füllte den Gehweg. Alle Formen und Farben waren vertreten. Die Kleidung wirkte fremdartig und zauberhaft. Schillernde Farben verwirrten das Auge, so daß einem schwindlig wurde. Auf jeder Welt in menschenbewohnten Raum findet man auf den ersten Blick die Einheimischen heraus, und nur eine einzige macht eine Ausnahme. Wunderland? Die Abzeichen der gehobenen Schicht sind asymmetrische Barte; das gemeine Volk erkennt man daran, daß es diesen Bärten auf der Straße beflissen Platz macht. Auf Es-Ist-Erreicht? Da ist es im Sommer und Winter die Blässe unserer Haut, die uns verrät; und im Frühling und Herbst, wenn die mörderischen Stürme ruhen und wir nach Sonne lechzen, findet man uns todsicher auf den Treppen, die von den unterirdischen Städten hinauf zu den blühenden Ebenen an der Oberfläche führen. Auf Jinx? Die Einheimischen sind stark und gedrungen; der Händedruck einer netten alten Dame ist härter als Stahl. Sogar auf dem Asteroidengürtel des Sonnensystems kennzeichnen die Streifen des »Gürtelhaarschnitts« Männer und Frauen gleichermaßen. Dagegen auf der Erde –! Nicht zwei Menschen sahen gleich aus. Es gab rote, blaue, grüne, gelbe und orangefarbene, karierte und gestreifte. Damit Sie mich recht verstehen – ich spreche über Haut- und Haarfarben. Zeit meines Lebens hatte ich Tanninpillen als Schutz gegen die Ultraviolettstrahlung genommen, so daß meine Haut im Schein blauweißer Sonnen schwarz wie ein Smoking geworden war (ich bin nämlich Albino, und meine
Haut schimmert eigentlich in blassem Rosa). Aber es war mir völlig unbekannt, daß es auch andere Hautfärbungspillen gab. Aufgewühlt und willenlos ließ ich mich in der unglaublichen Menschenmenge treiben. Von allen Seiten stießen Knie und Ellbogen gegen meinen Körper. Morgen würde ich von blauen Flecken übersät sein. »He!« Das Mädchen war klein und vier oder fünf Köpfe unter mir. Ich konnte sie überhaupt nur sehen, weil alle anderen ebenso klein waren wie sie. Flachländer werden selten größer als einsachtzig. Was für ein Mädchen! Ihr Haar – eine topologische Sensation, eine Explosion in schillerndem Orange und Silber; ihr Gesicht – ein hingehauchtes, zartes Grün mit weltraumschwarzen Brauen und Lippen. Sie rief mir etwas zu und schwenkte einen Gegenstand in ihrer Hand. Es war meine Brieftasche. Ich kämpfte mich bis in Körpernähe zu ihr durch; erst jetzt konnte ich sie in dem brausenden Lärm verstehen. »Blödmann! Wo steht Ihre Adresse? Hier ist nicht mal Platz für eine Briefmarke!« »Wie bitte?« »Oh, Sie sind von draußen!« sagte sie bestürzt. »Ja.« Bei dieser Lautstärke würde meine Stimme bald streiken. »Also, hören Sie mal zu!« Sie schob sich näher an mich heran. »Sie können hier nicht einfach mit Ihrer Brieftasche herumspazieren. Der nächste Taschendieb verständigt Sie womöglich nicht, ehe Sie fort sind.« »Sie haben meine Taschen ausgeraubt?« »Allerdings! Glauben Sie, ich habe sie gefunden? Soll ich vielleicht unter all diesen spitzen Absätzen meine wertvolle Hand riskieren?«
»Und wenn ich jetzt nach einem Polizisten rufe?« »Einem Polizisten? Ach, einem Gesetzeshüter.« Sie lachte hell auf. »Mann, jeder muß sehen, wo er bleibt. Es gibt kein Gesetz gegen Taschendiebstahl. Schauen Sie doch mal um sich!« Ich tat es. Voll Angst, sie könnte verschwinden, drehte ich mich rasch wieder um. Die Brieftasche enthielt nicht nur mein Bargeld, sondern auch die Anweisung für die Bank von Jinx über vierzigtausend Star. Es war mein ganzer Besitz. »Sehen Sie all die Leute? Allein Los Angeles hat vierundsechzig Millionen Einwohner. Achtzehn Milliarden Menschen gibt es auf der ganzen Welt. Angenommen, es gäbe ein Gesetz gegen Taschendiebstahl – wie würden Sie es durchsetzen?« Flink entnahm sie der Brieftasche das Bargeld und händigte sie mir wieder aus. »Leisten Sie sich eine neue Brieftasche, und zwar bald. Sie sollte Platz für Ihre Anschrift haben und ein Fenster für eine Zehn-Star-Briefmarke. Dann kann der nächste Dieb das Geld herausnehmen und die Brieftasche ohne großen Aufwand in den nächsten Briefkasten werfen. Sonst verlieren Sie Ihre Kreditkarten, Ihren Ausweis und alles übrige.« Sie stopfte zweihundert Star Bargeld in ihren Ausschnitt und schenkte mir ein Abschiedslächeln. »Danke«, rief ich hinterher. Tatsächlich, ich bedankte mich. Ich war noch völlig verdattert; aber offensichtlich hatte sie mir helfen wollen. Sie hätte die Brieftasche samt Inhalt ebenso gut mitgehen lassen können. »Schon recht!« rief sie zurück und war verschwunden. Ich blieb bei der nächstbesten Transferzelle stehen, warf einen halben Star in den Schlitz und wählte Elephants Nummer.
Der Vorraum war einschüchternd. Ich hatte zwar einen Vorraum erwartet. Denn wer wird schon eine Transferzelle in seinem Wohnzimmer installieren und damit jedem Beliebigen, der bloß eine Nummer zu wählen braucht, die Möglichkeit geben, unangemeldet bei ihm aufzutauchen? Wer eine private Transferzelle unterhalten kann, der kann sich auch einen Vorraum mit verschlossenem Tor und Intercom-Gerät leisten. Aber dieser Vorraum hatte die Größe eines Salons und war mit Massagesesseln und automatischer Bedienung ausgestattet. Ein Intercom war vorhanden, aber es hatte einen flachen Bildschirm und war mindestens dreihundert Jahre alt; die Restauration des antiken Stücks hatte vielleicht das Hundertfache des ursprünglichen Preises gekostet. Eine zweiflügelige Tür mit zwei gewaltigen geschnitzten Griffen glänzte wie poliertes Messing und war über vier Meter hoch. Ich hatte zwar erwartet, daß es Elephant gut ging, aber das hier war zuviel. Es fiel mir ein, daß ich ihn nie völlig nüchtern gesehen und sein Angebot, mich herumzuführen, tatsächlich abgelehnt hatte. Eine einfache Behandlung »Am-MorgenDanach« könnte mich bereits aus seinem Gedächtnis gelöscht haben. Sollte ich nicht lieber verschwinden? Schließlich hatte ich mich auf eigene Faust auf der Erde umsehen wollen. Aber mir waren die hier gültigen Spielregeln fremd! Ich stieg aus der Zelle und warf einen Blick auf die rückwärtige Wand. Sie bestand aus einer Panoramascheibe, durch die nichts als blauer Himmel zu sehen war. Wie komisch, dachte ich und trat näher. Elephant wohnte in halber Höhe einer Felswand, einer senkrecht abfallenden, zweitausend Meter hohen Felswand. Das Intercom klingelte.
Beim dritten ohrenbetäubenden Klingelzeichen meldete ich mich, hauptsächlich, um den Lärm zu beenden. Eine herablassende Stimme fragte: »Ist da jemand?« »Ich fürchte, nein«, erwiderte ich. »Wohnt hier jemand namens Elephant?« »Ich werde nachsehen, Sir«, gab die Stimme Bescheid. Der Bildschirm war zwar dunkel geblieben, aber ich hatte das Gefühl, daß mich jemand sehr deutlich gemustert hatte. Die Sekunden verrannen. Ich war schon halb entschlossen, wieder in die Zelle einzusteigen und aufs Geratewohl eine Nummer zu wählen. Aber eben nur halb. Und dann erschien Elephants Kopf auf dem Bildschirm. »Beo! Du hast es dir doch noch anders überlegt!« »Ja. Du hast mir nichts von deinem Reichtum erzählt.« »Du hast auch nicht danach gefragt.« »Natürlich nicht.« »Wie willst du je etwas dazulernen, wenn du nicht fragst? Spar dir die Antwort. Häng ein, ich bin gleich bei dir draußen. Du hast es dir überlegt? Du läßt dir von mir die Erde zeigen?« »Allerdings. Ich trau mich nicht allein hinaus.« »Warum? Ach, spar dir jetzt die Antwort. Ich bin gleich da.« Er hängte ein. Sekunden danach schwangen die Flügel der Messingtür mit lautem Krach auf, als wollten sie Elephant hastig den Weg freimachen. Ehe ich nach Luft schnappen konnte, hatte er mich schon hineingeschleift und mir einen Drink in die Hand gedrückt. Er fragte mich, warum ich mich nicht an die Öffentlichkeit traue. Ich erzählte ihm die Sache mit dem Taschendiebstahl, und er lachte. Er revanchierte sich mit einer Geschichte über seinen Versuch, während eines Sommers auf Es-Ist-Erreicht ins Freie zu gehen; jetzt mußte ich lachen, denn ich wußte von Besuchern des Planeten, die bei dem gleichen Versuch auf
Nimmerwiedersehen weggeblasen worden waren. Wir hatten erstaunlich schnell den vertraulichen Ton wiedergefunden. Sogar das Ende der Erzählung erinnerte an unsere Begegnung im Raumschiff. »Natürlich nannte man mich einen dämlichen Flachländer.« »Ich habe daran denken müssen«, sagte ich. »Woran?« »Du hast einmal gesagt, du würdest viel darum geben, etwas völlig Neues zu machen; und jeden, der dich einen Flachländer nennt, könntest du dann in eine Ecke ziehen und zwingen, sich deine Geschichte anzuhören. Du hast diesen Wunsch mehrfach geäußert.« »So habe ich mich nicht gerade ausgedrückt. Aber ich hätte gern ein ähnliches Erlebnis vorzuweisen wie du mit deinem Neutronenstern, etwas, wovon ich erzählen könnte – und sei es nur mir selbst. Wenn auch keiner der dämlichen Sternenweltler davon eine Ahnung hätte – ich wüßte Bescheid.« Ich nickte. Die Sache mit dem Neutronenstern, die er da angeschnitten hatte, war meine erste Begegnung mit einem Puppeter gewesen. Die Puppeter hatten mich dazu erpreßt, mit einem ihrer Schiffe in weniger als zwei Kilometer Höhe eine hyperbolische Bahn um einen Neutronenstern zu ziehen. Den Schiffsmantel hatten die Puppeter aus unzerstörbarem GeneralProducts-Material hergestellt. Es hatte sich um den einzigen je entdeckten Neutronenstern gehandelt, und ich war der zweite gewesen, der diesen Flug versuchen sollte. Mein Vorgänger hatte zusammen mit seiner Frau den gleichen Schiffstyp benutzt. Man hatte sie später in dem von unbekannten Kräften vollkommen zerstörten Bug tot aufgefunden. Gefährliche Situationen wirken auf meinen bekannt trägen Geist wunderbar belebend. Ich hatte zwei Minuten Zeit gehabt, um das Rätsel der unbekannten Kräfte zu lösen, und ich hatte es geschafft. Ich war ins Schiffsinnere gekrochen und so dem Schicksal
meiner Vorgänger entgangen. Beim Kartenspielen hatte ich Elephant davon erzählt – ein von mir entwickelter Trick zur Ablenkung meines Gegners – und ihn damit sichtlich beeindruckt. »Mir ist zweierlei für dich eingefallen«, sagte ich. »Laß hören.« »Zum einen: Mach einen Besuch auf dem Heimatplaneten der Puppeter. Noch niemand war dort, aber jeder weiß, daß es ihn gibt. Und jeder weiß, wie schwierig es ist, ihn zu finden. Du könntest der erste sein.« »Großartige Idee.« Er grübelte einen Moment. »Wirklich großartig. Und die Puppeter würden mich nicht daran hindern, weil sie alle fort sind. Wo ist aber die Heimat der Puppeter?« »Woher soll ich das wissen?« »Und deine zweite Idee?« »Frag die Außenwesen.« »Die Außenwesen.« »Es gibt kein System in der Galaxis, über das die Außenwesen nicht alles wüßten. Wir wissen nicht einmal, wie weit sich das Herrschaftsgebiet der Puppeter erstreckt hat – jedenfalls ging es über den erforschten Raum hinaus – aber wir wissen von den Außenwesen. Sie kennen sich in der Galaxis aus wie in ihrer Westen – hm, na ja… und sie handeln mit Informationen; das ist so ziemlich ihre einzige Beschäftigung. Frag sie einfach nach der ungewöhnlichsten Welt im erreichbaren Raum.« Elephant nickte. In seine Augen trat ein abwesender Ausdruck. Ich war nicht sicher gewesen, ob es ihm mit der Suche nach einem einzigartigen Bravourstück ernst war. Jetzt wußte ich, daß er es ernst meinte. »Das Problem ist«, gab ich zu bedenken, »daß die Außenwesen vielleicht andere Vorstellungen von ›einzigartig‹
– « ich unterbrach mich, denn Elephant rannte zu einem Trideophon. Ich bedauerte die Unterbrechung nicht, denn sie gab mir Gelegenheit, mich in Ruhe umzusehen. Ich bin schon in größeren Wohnungen als der von Elephant gewesen. In viel größeren. Ich bin sogar in einer solchen aufgewachsen. Aber ich habe noch keinen Raum gesehen, der dem Auge so wohl tat wie Elephants Wohnzimmer. Es war mehr als ein Wohnzimmer; es war eine optische Zauberei, das Gegenteil von diesen unruhigen Schwarz-Weiß-Bildern, die einem in den Vorlesungen über Sehkunde zugemutet werden. Diese sterilen Abkömmlinge der Op-Art geben die Illusion von Bewegung; Elephants Wohnraum aber vermittelte die Vorstellung von Ruhe. Ein Physiker wäre von der Schallisolierung begeistert gewesen. Diese Arbeit hatte irgendeinen Innenarchitekten berühmt gemacht, und falls er es vorher schon war, dann zumindest reich. Wie war es möglich, daß der große, hagere Beowulf Schaeffer in einen Sessel paßte, der auf die Körpermaße des gedrungenen, breiten Elephant zugeschnitten war? Die Starrheit des Knochengerüsts war vergessen; wohlig entspannt beanspruchte ich nur diejenigen Muskeln, die man zum Trinken braucht. Mein doppelwandiges Glas enthielt einen seltsam schmeckenden, äußerst erfrischenden Soft-Drink mit dem Namen Schlotzbier. Das Glas würde nie leer werden. Irgendwo in dem Kristall befand sich ein winziger Transfermotor, der mit der Bar in Verbindung stand; aber die Lichtbrechung des Kristallglases verbarg ihn. Eine weitere technische Spielerei, die gewiß schon manchen zum Alkoholiker gemacht hatte. Ich mußte auf der Hut sein. Elephant kam wieder zurück. Er bewegte sich mit der Grazie eines tonnenschweren Panzers; selbst ein Kzinti hätte sich ihm nur in selbstmörderischer Absicht in den Weg stellen können.
»Alles erledigt«, verkündete er, »Don Cramer wird mit dem nächstgelegenen Schiff der Außenwesen Kontakt aufnehmen und für mich die Vorverhandlungen führen. In ein paar Tagen sollten wir wieder von ihm hören.« »Gut«, sagte ich. Dann wollte ich von ihm wissen, was es mit dem Felsen auf sich habe. Es stellte sich heraus, daß wir uns in den Rocky Mountains befanden und daß jede Handbreit des nahezu senkrechten Felsens ihm gehörte. Was versprach er sich wohl davon? Da erinnerte ich mich an die achtzehn Milliarden, die die Erde bevölkerten, und ich fragte mich, ob er andernfalls nicht von allen Seiten eingekesselt und erdrückt worden wäre. Plötzlich kam es Elephant in den Sinn, daß jemand namens Dianna jetzt zu Hause sein mußte. Ich folgte ihm in die Transferzelle, sah zu, wie er eine elfstellige Nummer wählte, und gleich darauf standen wir in einem viel kleineren Vorraum. Ich wartete, während er eines der üblichen Intercoms bediente. Dianna schien ziemlich unentschlossen, ob sie ihn einlassen sollte oder nicht; doch sie änderte ihre Einstellung schnell, als er zu toben begann und brüllte, er habe einen Gast bei sich und sie solle aufhören, verrückt zu spielen. Dianna war eine hübsche kleine Frau. Ihre Haut besaß das tiefe, gleichmäßige Rot des Marshimmels, und ihr Haar floß wie Quecksilber. Ihre Augen strahlten im gleichen Silberglanz. Sie hatten uns nicht hereinlassen wollen, weil wir beide unsere Haut in ihrer natürlichen Farbe belassen hatten; aber sie sprach nicht mehr davon, als wir in ihrer Wohnung waren. Elephant stellte mich Dianna vor und teilte ihr fast im gleichen Atemzug mit, daß er im Begriff sei, mit den Außenwesen in Kontakt zu treten. »Was ist ein Außenwesen?« fragte sie mit plötzlich erwachtem Interesse.
»Es ist schwierig, sie zu beschreiben. Stellen Sie sich eine neunschwänzige Peitsche mit einem dicken Stiel vor«, erklärte ich. »Sie leben auf kalten Welten«, sagte Elephant. »Auf kalten, kleinen, atmosphärefreien Welten wie beispielsweise Nereid. Dafür, daß sie Nereid als Stützpunkt benutzen dürfen, zahlen sie Miete, nicht wahr, Elephant? Und sie durchstreifen in großen, luftleeren Schiffen mit Fusionsantrieb fast die ganze Galaxis. Hyperantrieb besitzen sie nicht.« »Sie verkaufen Informationen. Sie können mir etwas über die Welt mitteilen, die ich finden will; es muß der ungewöhnlichste Planet im erforschten Raum sein.« »Sie verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, den Sternwandlern nachzuziehen.« »Warum?« unterbrach mich Dianna. Elephant blickte mich an. Ich blickte ihn an. »Sagt mal«, rief Elephant, »warum holen wir uns eigentlich keinen vierten Mann fürs Bridge?« Dianna schaute nachdenklich vor sich hin. Dann konzentrierte sie den Blick ihrer silbernen Augen auf mich, musterte mich von Kopf bis Fuß und nickte. »Sharrol Janss. Ich werde sie herbestellen.« Während sie anrief, teile Elephant mir mit: »Das ist eine gute Idee. Sharrol hat einen Hang zur Heldenverehrung. Sie ist Computer-Analytikerin bei Donovans Denk Inc. Sie wird dir gefallen.« »Schön«, erwiderte ich und fragte mich, ob wir noch über Bridge sprachen. Mir wurde plötzlich klar, daß ich immer mehr in Elephants Schuld geriet. »Elephant, ich möchte dich gern begleiten, wenn du dich mit den Außenwesen triffst.« »Ach ja? Warum?«
»Du wirst einen Piloten brauchen. Und ich habe mit den Außenwesen schon einmal geschäftlich zu tun gehabt.« »Geht in Ordnung. Abgemacht.« Aus dem Vorraum kam das Läuten des Intercom. Dianna ging zur Tür und kehrte mit dem vierten Bridgepartner zurück. »Sharrol, du kennst Elephant. Dies ist Beowulf Schaeffer von Es-Ist-Erreicht. Beo, dies ist – « »Sie!« rief ich aus. »Sie!« rief sie aus. Es war die Taschendiebin.
3 Mein Urlaub dauerte genau vier Tage. Da ich zwar wußte, wie das Ganze enden würde, aber nicht wann, warf ich mich mit Leib und Seele in dieses Leben. Falls im Lauf jener Tage irgendwann ein Augenblick der Langeweile aufgekommen sein sollte, so muß ich ihn verschlafen haben. Der Schlaf kam sowieso zu kurz. Elephant schien es ähnlich zu gehen. Er kostete das Leben bis zur Neige aus; anscheinend vermutete er genau wie ich, daß die Außenwesen bei der Auswahl seines Planeten den Faktor »Gefahr« nicht berücksichtigen würden. Das hing mit ihren Moralbegriffen zusammen. Elephants Tage waren möglicherweise gezählt. Jene vier Tage brachten uns Erlebnisse, die es mir immer unverständlicher machten, warum Elephant nach einer seltsamen Welt suchte. Sicherlich war die Erde die seltsamste aller Welten… Ich erinnere mich noch, wie wir das Bridgespiel aufgaben, um essen zu gehen. Das war komplizierter, als es klingt. Elephant hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich wieder der Mode der Flachländer anzupassen, und so, wie wir beide
aussahen, konnten wir uns in der Öffentlichkeit nicht blicken lassen. Aber Dianna hatte kosmetische Mittel für uns. Ich folgte einer seltsamen Eingebung. Ich machte mich als Albino zurecht. Statt Pillen gab es Körperfarben. Als ich sie aufgetragen hatte, schaute mir aus dem Spiegel in voller Größe mein jüngeres Selbst entgegen. Die Iris blutrot, das Haar schneeweiß und die Haut durchsichtig blaß, mit einem Anflug von Rosa darunter: So hatte ich als Halbwüchsiger ausgesehen, bevor ich Tanninpillen zu nehmen begann. Im Geist versetzte ich mich um Jahrzehnte zurück in die Zeit, als ich selbst noch Flachländer war, mit beiden Beinen fest auf dem unterirdischen Boden stand und meinen Kopf nie höher als zwei Meter zehn über dem Wüstensand trug… Sie fanden mich in mein Spiegelbild versunken und entschieden, daß ich für die Öffentlichkeit reif sei. Ich denke noch an jenen Abend, als mir Dianna erzählte, daß sie Elephant seit ewigen Zeiten kenne. »Ich war diejenige, die ihm den Namen ›Elephant‹ verliehen hat«, sagte sie mit Stolz. »Ist es ein Spitzname?« »Gewiß«, bestätigte Sharrol. »In Wirklichkeit heißt er Gregory Pelton.« »Oh!« Auf einmal war alles klar. Im ganzen Raum kennt man den Namen Gregory Pelton. Gerüchten zufolge ist er der Eigentümer jenes Bereichs, der ›menschenbewohnter Raum‹ genannt wird und sich dreißig Lichtjahre weit ausdehnt; aus dessen Verpachtung soll er seine Einkünfte beziehen. Angeblich steht Gregory Pelton auch hinter dem Konzern General Products, der nach außen hin von den Puppetern geführt wird und nun, in deren Abwesenheit, still liegt. Tatsache ist, daß vor acht Generationen eine seiner Urgroßmütter die Transferzelle erfunden hat und daß er unermeßlich reich ist.
Ich fragte: »Wieso der Spitzname Elephant? Gibt es besondere Gründe dafür?« Dianna und Sharrol blickten verlegen auf das Tischtuch. »Streng deine Phantasie an, Beo!« forderte Elephant mich auf. »Inwiefern? Was ist ein Elephant? Eine Tierart?« Die Gesichter der drei drückten Betretenheit aus. Ich hatte offenbar den Witz nicht verstanden. »Morgen«, sagte Elephant, »zeigen wir dir den Zoo.« Der Erdenzoo besitzt sieben Transferzellen. Aber wenn Sie daraus auf seine Größe schließen wollen, liegen Sie falsch. Sie müssen in Ihre Schätzung auch die zweihundert Taxis einbeziehen, die ständig verkehren, weil die Zellen für einen Fußweg zu weit voneinander entfernt sind. Wir starrten hinab auf staubbedeckte, massige Lebewesen, die kleiner waren als Sternwandler oder Bandersnatschis, aber größer als andere Tiere, die ich je gesehen hatte. »Verstehst du’s jetzt?« fragte Elephant. Und dann beobachtete ich eines der Tiere, wie es ein Schlammbad nahm. Über seine Maulöffnung hatte es einen hohlen Rüssel, mit dem es sich Wasser auf seinen Rücken spritzte. Ich konnte nicht aufhören, diesen Auswuchs anzustarren… »Heh, schaut mal!« rief Sharrol und zeigte auf mich. »Beo kriegt rote Ohren.« Ich konnte ihr bis zwei Uhr morgens nicht verzeihen. Ich denke noch daran, wie ich über Sharrol hinweg nach einem Tabakstengel langte und dabei ihre Börse auf ihrem übrigen Zeug liegen sah. Ich fragte: »Was wäre, wenn ich jetzt den Taschendieb spielte?« Silberne und orangefarbene Lippen öffneten sich mit trägem Lächeln. »Ich habe keine Taschen.«
»Würde es gegen die guten Sitten verstoßen, aus deiner Börse Geld zu klauen?« »Nicht, wenn du es an dir verstecken kannst.« Ich stecke die kleine, flache Börse, die vierhundert Star enthielt, in den Mund. Ich kam mit dem Trick bei ihr durch. Haben sie schon einmal versucht, eine Frau mit einer Börse im Mund zu lieben? Es ist ein unvergeßliches Erlebnis. Versuchen Sie es lieber nicht, wenn Sie unter Asthma leiden. Ich denke noch an Sharrol. Ich erinnere mich an glatte, warme blaue Haut und an Augen, die silbern unter dem kühlen Blau ihrer halbgeschlossenen Lider hervorsprühten. Ich erinnere mich an ihr Haar, dessen silberne und orangefarbenen Wirbel abstrakte Muster bildeten. Die Frisur war unzerstörbar und glitt von selbst immer wieder in die alte Form zurück. Silbern klang auch ihr Lachen, wenn ich liebevoll zwei dicke Haarsträhnen zu einem Doppelknoten verschlang und dann mit Ausrufen des Entzückens um sie herumsprang, wenn es sich wie bei Medusa langsam von selbst entknotete. Und ihre Stimme war von silbernem Schmelz.
Ich denke auch noch an die Autobahnen. Sie fielen einem als erstes auf, wenn man sich der Erde näherte. Bei Nacht wären es die erleuchteten Städte gewesen; aber natürlich landeten wir auf der Tagseite. Wozu sonst besaß eine Welt drei Raumhäfen? Es gab Autobahnen, Autostradas und Freeways, welche die Oberfläche der Kontinente wie mit einem Netz überzogen. Aus einigen Kilometern Höhe kann man die Lücken noch nicht erkennen. Aber sie sind überall, wo Träger und Straßendecke eingebrochen sind. Nur noch zwei Super-Straßen werden in gutem Zustand erhalten. Beide befinden sich auf
demselben Kontinent: der Pennsylvania Turnpike und der Santa Monica Freeway. Das übrige Straßennetz ist vollkommen zerstört. Es scheint Leute zu geben, die altertümliche Bodenfahrzeuge sammeln und sogar fahren. Einige der Maschinen sind überholt, und die Hälfte der Teile ist ersetzt. Andere sind handgefertigte Nachbauten. Ich lachte, als Elephant mir von ihnen erzählte. Aber es war etwas ganz anderes, sie in Wirklichkeit zu sehen. Im Morgengrauen erschienen die ersten Fahrer. Sie sammelten sich an dem Ende des Santa Monica Freeway, an dem die Verbindungsstraße nach San Diego abging. Dieses Stück mit seinen verschlungenen Auffahrten gleicht einem Haufen hingeworfener Spaghetti. Der Spannbeton hatte mit den Jahren Ermüdungserscheinungen gezeigt und war zusammengesackt. Aber die oberste Auffahrt war noch soweit in Ordnung, daß man über sie die Startlinie erreichen konnte. Von einem Lufttaxi aus beobachteten wir die Bodenfahrzeuge, wie sie sich zum Start aufstellten. »Die Unterhaltung der Wagen kostet mehr als sie selbst«, teilte Elephant mit. »Ich habe selber einen gefahren. Du wirst weiß wie ein Leintuch, wenn du hörst, wieviel die Instandhaltung dieses Straßenstücks kostet.« »Wieviel denn?« Er sagte es mir. Ich wurde weiß wie ein Leintuch. Sie waren gestartet. Ich fragte mich noch immer, was für einen Spaß sie daran haben mochten, mit einer altertümlichen Maschine auf einer ebenen Betonbahn zu fahren, statt mit uns hier oben durch die Luft zu schweben. Sie fuhren in Schlangenlinien und im Zickzack; wie die Verrückten rasten sie mit den verschiedensten Geschwindigkeiten dahin und wichen einander erst im letzten Moment aus – und mir begann einiges zu dämmern.
Diese Automobile besaßen kein Radar. Die Steuerung erfolgte über ein Rad in der Fahrerkabine, das über ein Getriebe direkt mit vier Bodenrädern verbunden war. Ein einziger Fehler beim Steuern, und sie würden zusammenstoßen oder gegen die Straßenbegrenzung krachen. Gesteuert und gebremst wurden die Fahrzeuge durch Muskelkraft. Aber Richtungsänderung und Bremswirkung hingen davon ab, wie fest vier Gummireifen auf glattem Beton hafteten. In dem Moment, da die Reifen die Bodenhaftung verloren, mußte Newtons Erstes Gesetz in Kraft treten. Die zerbrechliche Metallkonstruktion würde sich gradliniggleichförmig fortbewegen, bis sie auf einen Widerstand in Gestalt der Straßenbegrenzung oder eines anderen Wagens stieß. »In so einem Fahrzeug könnte glatt ein Mensch den Tod finden.« »Keine Sorge. Für gewöhnlich passiert das nicht.« »Für gewöhnlich?« Er nannte mir Zahlen. Ich wurde totenbleich. Das Rennen endete nach zwanzig Minuten an einer Stelle, an der die Straßenecke ebenfalls eingebrochen war. Ich war total durchgeschwitzt. Wir landeten und mischten uns unter die Rennfahrer. Einer von ihnen, ein hagerer Bursche mit wirrem, glänzend grünem Haar und einem knochigen weißen Gesicht, aus dem ein scharlachroter Mund grinste, bot mir eine Fahrt an. Ich lehnte dankend ab und zog mich vorsichtig zurück. Mit einer Waffe in der Hand wäre mir wohler gewesen. Dieser Kauz litt offenbar unter einer gemeingefährlichen Geisteskrankheit. Ich denke noch an die Kochkunst der Flachländer, die berühmt ist im erforschten Raum, und an ein fremdartiges, schwach alkoholisches Getränk mit der Bezeichnung Taittinger Comtes de Champagne ‘59. Ich denke noch an den Besuch
einer Außenweltler-Bar, wo wir vier mit einer Bergwerkingenieurin fachsimpelten; ihr drei Zentimeter breiter Haarkamm fiel frei bis zu den Hüften hinunter. Ich denke noch zurück, wie ich mit einem Schwebegürtel quer über Land flog und nichts sah als Stadtgebiet, in das landwirtschaftliche Nutzflächen eingesprenkelt waren. Ich denke noch an ein Unterwasserhotel in der Nähe der Neufundlandbänke, in dem eine Delphinabordnung aus Italien und Flachländer in gemeinsamer Arbeit versuchten, das Hauptproblem vernunftbegabter Lebewesen zu lösen, die nicht über Hände verfügten (es gibt viele davon, und man wird wahrscheinlich noch mehr entdecken). Das Ganze machte mehr den Eindruck eines Kaffeekränzchens als einer ernsthaften Arbeitstagung. Wir wären am Ende des vierten Tages gerade dabei, ins Bett zu gehen, als das Trideophon läutete. Don Cramer hatte die Außenwesen gefunden. Ich fragte ungläubig: »Du willst sofort aufbrechen?« »Aber sicher«, sagte Elephant. »Hier, nimm eine von diesen Pillen. Die wird dich wach halten, bis wir unterwegs sind.« Versprochen ist versprochen, und außerdem stand ich tief in Elephants Schuld. Ich schluckte die Pille. Zum Abschied küßten wir Sharrol und Dianna. Dianna stellte sich auf einen Stuhl, um meinen Mund zu erreichen, während Sharrol an mir wie an einer Stange heraufkletterte und ihre Beine um meine Taille schlang. Ich war einen halben Meter größer als die beiden Mädchen. Der Raumhafen von Kalkutta lag auf der Tagseite. Elephant und ich benutzten eine Transferzelle und stellten fest, daß die »FuS« schon bereit stand. Ihr voller Name war Fast-Unendlich-Schnell. Sie war in einem hundert Meter hohen, spindelförmigen Doppel-PlusMantel von General Products eingebaut. In der Nähe des Hecks wies sie eine wespentaillenartige Einschnürung auf. Mir
fiel ein Stein vom Herzen. Der General-Products-Mantel ist unzerstörbar und für jede Form von Materie und Energie mit Ausnahme der Lichtstrahlung im sichtbaren Wellenbereich undurchlässig. Dafür bürgen die Puppeter-Company und die jahrtausendelange praktische Erprobung. Der Mantel ist in vier Modell-Ausführungen erhältlich, doch sehen sich alle ähnlich, und keine kann als schön bezeichnet werden. Ich hatte gefürchtet, Elephant sei Besitzer einer zerbrechlichen, aufgeputzten Vergnügungsjacht. Der Zwei-Mann-Führerstand schien mir für einen Daueraufenthalt ziemlich klein; doch dann entdeckte ich die blasenförmige Ausbuchtung am Bug. Der Rest des Mantels umschloß einen Fusionsantrieb mit einer Beschleunigung von einem G, einen Treibstofftank, einen Hyperantrieb, einen Gravitationsumwandler und eine Bauchlandevorrichtung. All das war deutlich unter dem Mantel zu sehen, den man durchsichtig gelassen hatte. Das Schiff enthielt Treibstoff, Lebensmittel und eine Notausrüstung. Es mußte schon seit Tagen bereitstehen. Wir starteten zwanzig Minuten nach unserer Ankunft. Jetzt blieb uns Zeit genug zum Schlafen. Bei einer Beschleunigung von einem G brauchten wir eine Woche, um das Sonnensystem mit seiner Schwerkraft so weit hinter uns zu lassen, daß wir den Hyperantrieb einschalten konnten. Irgendwann während dieser Zeit legte ich meine unechte Hautfarbe wieder ab (sie war unecht, denn ich hatte weiterhin Tanninpillen gegen das Licht der Erdensonne eingenommen); auch Elephant gab seiner Haut ihren natürlichen lichtbraunen Ton zurück und trug Haar und Bart wieder schwarz. Mit seiner Marmorhaut, dem goldglänzenden Bart und den golden glühenden Augen hatte er vier Tage lang Zeus verkörpert. Dieses Aussehen hatte so vollkommen zu ihm gepaßt, daß ich es gar nicht als Verkleidung aufgefaßt hatte.
Hyperantrieb – das hieß drei lange, öde Wochen. Wir wachten abwechselnd über dem Massenortungsgerät, obwohl wir bei der ersten Stufe der Hypergeschwindigkeit eine Masse schon zwölf Stunden vor Eintritt einer Gefahr bemerkt hätten. Ich glaube, ich war der einzige Mensch, der wußte, daß es eine zweite Stufe gab – ein Geheimnis der Puppeter. Das Schiff der Außenwesen kreuzte jenseits von Tau Ceti am Rand des erforschten Raums. »Es war das einzig erreichbare Schiff«, hatte Elephant gesagt. »Nummer vierzehn.« »Vierzehn? Das ist das Schiff, mit dem ich schon einmal geschäftlich verhandelt habe.« »Ah ja? Gut. Das könnte uns nützen.« Tage danach fragte er: »Wie kam es dazu?« »Auf die übliche Weise. Nummer vierzehn befand sich damals jenseits des erforschten Raums und bot über Funk Informationsaustausch an. Ich war in der Nähe von Wunderland und fing den Spruch auf. Als ich meine Passagiere abgesetzt hatte, flog ich zurück.« »Hatten sie irgend etwas von Wert anzubieten?« »Ja. Sie hatten die Bummel-Acht II gefunden.« Die Bummel-Acht II war eins von den alten langsamen Schiffen gewesen, ein kreisförmiger Flugkörper, der Siedler für Jinx an Bord gehabt hatte. Kurz vor der Landung war irgend etwas schief gegangen, und das Schiff hatte seinen Flug fortgesetzt – mit fünfzig Passagieren, die in Tiefschlaf lagen, und einer vierköpfigen Mannschaft, die inzwischen vermutlich tot war. Das Schiff konnte seinen Flug bei dauernder Beschleunigung in alle Ewigkeit fortsetzen, da sein Fusionsantrieb über einen Preßkolben mit Wasserstoff versorgt wurde. Es war schon fünfhundert Jahre unterwegs. »Ich erinnere mich daran«, sagte Elephant. »Man konnte es nicht einholen.«
»Nein. Aber wenn Technik und Wissenschaft so weit sind, wird man es finden.« »Das wird nicht so bald der Fall sein.« Er hatte recht. Ein Schiff mit Hyperantrieb mußte nicht nur in seine Nähe kommen, sondern auch nuklearen Treibstoff mit sich führen, um die gleiche Geschwindigkeit zu erreichen. Die Geschwindigkeit der Bummel-Acht II entsprach fast der eines Photons, und sie war über fünfhundert Lichtjahre entfernt; das war der siebzehnfache Durchmesser des erforschten Raums. »Die Außenwesen werden uns erwarten«, sagte ich. »Hattest du damals irgendwelche Schwierigkeiten?« »Ihr Übersetzungsgerät ist recht ordentlich. Aber wir müssen aufpassen. Der Haken beim Kauf von Informationen ist der, daß man die Katze im Sack kauft. Sie durften mir nicht verraten, daß sie die Positionsdaten der Bummel-Acht II zu verkaufen hatten. Sonst hätten wir ihren Flug auf dem Ortungsgerät verfolgt, bis der Feuerschein eines Fusionsantriebs aufgetaucht wäre, und auf diese Weise hätten wir die Information umsonst erhalten.« Dann kam der Moment, in dem ein kleiner grüner Punkt in der Mitte unseres Massenortungsgerätes aufleuchtete. Ein Stern hätte sich als Linie abgebildet; der leere Raum ließ den Schirm dunkel. Ich vollzog den Sprung aus dem Hyper- in den Normalraum und schaltete das Tiefenradar ein, um die Außenwesen aufzuspüren.
4 Die Außenwesen entdeckten uns zuerst. Der verzögerungsfrei arbeitende Antrieb ihres Schiffes befand sich irgendwo in der zylindrischen Metallhülle nahe des Schwerpunkts. Es war allgemein bekannt, daß dieser Antrieb
zu verkaufen war, und zwar für ganze zwei Billionen Star. Der Preis war nicht übertrieben, wenn ihn auch kein Privatmann und keine Nation aufbringen konnte. In den zwei oder drei Minuten unserer Suche hatte es dieser Antrieb geschafft, das Schiff der Außenwesen aus einer Entfernung von neun Lichtsekunden längsseits der FuS zu bringen. Soeben noch nichts als Sterne; und im nächsten Augenblick hatte das Schiff der Außenwesen bei uns angelegt. Es bestand hauptsächlich aus leerem Raum. Ich wußte, daß seine Besatzungsstärke der Bevölkerungszahl einer mittleren Stadt entsprach. Aber seine Ausmaße waren noch viel gewaltiger. Die Antriebskapsel wirkte ziemlich unscheinbar. Am Ende eines fünf Kilometer langen Mastes befand sich eine Lichtquelle. Das übrige Schiff bestand aus Metallstreifen, die sich in schwindelerregenden Schlaufen und Kurven um sich selbst und umeinander wanden, bis sie allesamt in der Antriebskapsel endeten. Die Anzahl dieser Streifen ging in die Tausende, und jeder war so breit wie der Gehweg einer Großstadtstraße. »Sieht aus wie ein geschmückter Christbaum«, bemerkte Elephant. »Und wie geht es jetzt weiter, Beo?« »Sie werden über Funk Kontakt aufnehmen.« Nach einigen Minuten des Wartens erschien eine ganze Schar von Außenwesen. Sie glichen neunschwänzigen Peitschen mit ausnehmend dicken Stielen. Die Stiele beherbergten das Gehirn und unsichtbare Sinnesorgane. In den wurzelartigen Greiforganen am Peitschenende hielten sie Düsenpistolen. Sechs von ihnen machten vor der Luftschleuse halt. Aus dem Funkgerät tönte eine Stimme. »Schiff vierzehn heißt Sie willkommen. Bitte kommen Sie heraus. Wir bringen Sie in unseren Konferenzraum. Bitte führen Sie außerhalb des Druckanzugs keinerlei Gegenstände mit sich.« Elephant fragte: »Sollen wir darauf eingehen?«
»Gewiß. Die Außenwesen sind durch und durch Ehrenmänner«, erwiderte ich. Wir begaben uns hinaus. Jedes der sechs Außenwesen reichte uns eines seiner Greiforgane, und wir durchquerten den freien Raum. Nicht gerade schnell. Die Rückstoßkraft der Düsenpistolen war ungewöhnlich schwach. Aber die Außenwesen selbst besaßen auch nur geringe Körperkräfte. Eine Stunde in der Schwerkraft des Erdmondes hätte ihren Tod bedeutet. Sie brachten uns durch ein Gewirr von silbernen Streifen zu einer Rampe, hinter der die konvexe Wand der Antriebskapsel aufragte. Ich hätte mir wie in einem großen Bandnudeltopf vorkommen können, wenn die Ausmaße nicht so gigantisch gewesen wären. Klein und aus weiter Ferne strahlte die Lichtquelle in intensivem gelblichem Weiß, etwa so, wie man die Erdensonne von einem der Monde des Neptun aus sieht. Der Lichtschein, der durch das interstellare Vakuum fiel, warf ein Netz von scharfen schwarzen Schatten auf die Unzahl der sich windenden Streifen, aus denen die Stadt bestand. Entlang der Licht-Schatten-Grenzen hielten sich die Außenwesen auf. Sie nahmen Lebensenergie auf – genau wie ihre pflanzenähnlichen Vorfahren es vor Milliarden von Jahren auf irgendeiner unbekannten Welt in der Nähe des galaktischen Zentrums getan hatten. Ihre verästelten Greiforgane lagen im Schatten, während sie ihre Köpfe in das Sonnenlicht hielten und damit auf thermoelektrischem Weg ihre biochemischen Batterien aufluden. Einige tauchten ihre wurzelartigen Auswüchse in flache Eßnäpfe; die Spurenelemente, die sie zum Leben und Wachstum brauchten, waren in flüssigem Helium gelöst. Wir folgten einem der Außenwesen zu einem Eingang in der Wand, die vor uns emporragte. Dabei wichen wir den Wesen
sorgsam aus und schalteten unsere Kopflampen auf die schwächste Stufe. An den Rampen waren keine Geländer angebracht; nichts als das kalte Licht ferner Sterne war unter uns. Die Außenwesen machten Platz, wenn wir ihnen zu nahe kamen; durch unsere Druckanzüge mochte wohl zuviel Wärme dringen. Es blieb dunkel, bis wir die Tür hinter uns geschlossen hatten. Mit einemmal umgab uns normales Sonnenlicht, ohne daß eine Lichtquelle zu entdecken gewesen wäre. Wir befanden uns in einer kahlen, quadratischen Kammer. Die einzige Möblierung bestand in einer Halbkugel aus sehr dunklem Glas, in der die zusammengerollte Gestalt eines Außenwesens zu erkennen war. Die Halbkugel mußte ein hochgradiges Vakuum enthalten und gut gekühlt sein. Es war ein Beweis für die vollendete Höflichkeit der Außenwesen, daß sie unseretwegen auf die Bequemlichkeit ihrer natürlichen Umwelt verzichteten. »Willkommen!« tönte es im Raum. Auf natürlichem Weg erreichte uns die Stimme jedenfalls nicht. »Die Luft ist atembar. Legen sie ruhig Ihre Helme, Anzüge und Schuhe ab.« Es handelte sich um einen ausgezeichneten Übersetzer, der den richtigen Ausdruck zu treffen wußte und über einen angenehmen Bariton verfügte. »Danke«, sagte ich, und wir entledigten uns der Druckanzüge. Elephant wirkte ein wenig befangen. »Wer von Ihnen ist Gregory Pelton?« »Ich.« »Guten Tag. Ihrem Unterhändler zufolge haben Sie Interesse an der Information, wo Sie den ungewöhnlichsten Planeten finden können, der innerhalb der Grenzen des Raumgebiets liegt, das sich sechzig Lichtjahre weit erstreckt und Ihnen unter der Bezeichnung ›erforschter Raum‹ bekannt ist. Stimmt das?« »Ja.«
»Wir müssen wissen, ob Sie vorhaben, sich selbst dorthin zu begeben oder Beauftragte zu schicken. Desgleichen benötigen wir die Auskunft, ob sie landen oder in eine enge oder weite Kreisbahn einschwenken wollen.« »Landen.« »Müssen wir berücksichtigen, ob Ihnen Gefahr für Leben oder Eigentum entstehen könnte?« »Nein.« Elephants Stimme klang heiser. Das Schiff der Außenwesen war nicht gerade ein anheimelnder Aufenthalt. »Planen Sie Besiedlung? Bergbau? Agrarwirtschaft oder Viehzucht?« »Ich habe nichts als einen Besuch vor.« »Wir haben einen Planeten für sie ausgewählt. Der Preis beträgt eine Million Star.« »Das ist viel«, sagte Elephant. Ich pfiff unhörbar vor mich hin. Der Preis war tatsächlich hoch, und er würde nicht niedriger werden. Die Außenwesen ließen nicht mit sich handeln. »Ich kaufe«, sagte Elephant. Der Übersetzer diktierte uns einen dreifachen Koordinatensatz. Es handelte sich um eine Gegend im Norden der Galaxis, die vierundzwanzig Lichtjahre von der Erde entfernt lag. »Der Stern, nach dem Sie suchen, ist eine Protosonne mit einem Planeten, der ihn in einer Entfernung von zweieinhalb Milliarden Kilometer umkreist. Das System bewegt sich in Richtung…« Wir erhielten die Richtung in Form einer Vektorgleichung. Anscheinend beschrieb die Protosonne eine flache Kurve durch den erforschten Raum, die weit am menschenbewohnten Raum vorbeiführte. »Schlecht«, meinte Elephant. »Kein Schiff mit Hyperantrieb kann sich im Normalraum so schnell bewegen.«
»Sie könnten sich hinbringen lassen«, tönte es aus dem Übersetzer. »Legen Sie mit Ihrem Schiff an unserer Antriebskapsel an.« »Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Elephant zu. Seine Selbstsicherheit war deutlich erschüttert; unruhig irrte sein Blick über die Wände, als wollte er die Herkunft der Stimme herausfinden. Er vermied es, den Unterhändler der Außenwesen in seiner Vakuumkapsel anzusehen. »Unser Fährpreis beträgt eine Million Star.« Elephant schnappte nach Luft. »Einen kleinen Moment«, mischte ich mich ein. »Ich bin im Besitz einer Information, die ich Ihnen möglicherweise verkaufen könnte.« Es entstand eine längere Pause. Elephant sah mich überrascht an. »Sie sind Beowulf Schaeffer?« »Ja. Sie erinnern sich an mich?« »Wir führen Sie in unseren Unterlagen. Beowulf Schaeffer, für Sie liegt eine Information vor. Sie ist schon bezahlt. Der frühere Bezirksdirektor von General Products auf Jinx möchte mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Ich gebe Ihnen die Nummer einer Transferzelle.« »Das sind ja nicht gerade die neuesten Nachrichten«, sagte ich. »Die Puppeter sind auf und davon. Aber wie dem auch sei – aus welchem Grund will dieser zweiköpfige Halsabschneider mich sehen?« »Über diese Informationen verfüge ich nicht. Ich weiß aber, daß nicht alle Puppeter diese Gegend verlassen haben. Wollen Sie die Nummer der Transferzelle entgegennehmen?« »Aber gewiß!« Ich notierte die acht Ziffern der Reihe nach. Einen Augenblick später hörte ich Elephant wie einen mitten im Satz
angestellten Lautsprecher losbrüllen: » – zum Teufel geht hier vor?« »Ich bedauere«, sagte der Übersetzer. »Was ist geschehen?« fragte ich. »Ich habe keinen Ton gehört! Machst du Privatgeschäfte mit diesem Peitschen-, diesem Außenwesen?« »So etwas Ähnliches. Ich erzähl dir später davon.« Der Übersetzer meldete sich wieder: »Beowulf Schaeffer, wir kaufen keine Informationen. Wir verkaufen Informationen und verwenden die Einnahmen zum Kauf von Land und Agrarboden.« »Es könnte sein, daß Sie diese Information dringend brauchen«, wandte ich ein. »Ich bin weit und breit der einzige Mensch, der sie besitzt.« »Und was ist mit den Angehörigen anderer Rassen?« Möglicherweise hatten ihnen die Puppeter schon davon berichtet, aber ein Versuch lohnte sich. »Sie sind im Begriff, den erforschten Raum zu verlassen. Wenn Sie auf das Geschäft mit mir nicht eingehen, dann erhalten Sie die Information vielleicht nicht mehr rechtzeitig.« »Wieviel verlangen Sie dafür?« »Setzen Sie den Preis fest. Sie haben mehr Erfahrung darin, Informationen nach ihrem Wert einzuschätzen, und Sie sind vertrauenswürdig.« »Vielleicht übersteigt ein angemessener Preis unsere finanziellen Möglichkeiten.« »Er übersteigt nicht den Fährpreis.« »In Ordnung. Sprechen Sie.« Ich berichtete ihm von der Explosion des galaktischen Zentrums und wie ich davon Kenntnis erlangt hatte. Er ließ sich alles detailliert schildern: angefangen von dem grellen Blitz lang zurückliegender Supernovae, deren Lichtschwellen mein Schiff erreicht hatten, bis zu dem Stadium, wo der ganze
galaktische Kern sich in einen vielfarbigen grellen Feuerball von Supernovae verwandelt hatte. »Sie hätten davon erst erfahren, wenn Sie selbst hingeflogen wären – und dann wäre es für Sie zu spät gewesen. Sie besitzen keinen Hyperantrieb.« »Wir haben schon von den Puppetern gehört, daß das Zentrum explodiert sei. Sie konnten jedoch keine Einzelheiten berichten, da sie es nicht selbst gesehen hatten.« »Ach ja. Ich glaube, die Explosion hat auf der von uns abgewandten Seite des Zentrums begonnen; andernfalls wäre ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht so hoch erschienen.« »Vielen Dank. Wir erlassen Ihnen das Fährgeld. Und jetzt noch etwas: Gregory Pelton, für zusätzliche zweihunderttausend Star liefern wir Ihnen genaue Angaben darüber, was es mit Ihrem Planeten Besonderes auf sich hat.« »Kann ich das auch selbst herausfinden?« »Das ist gut möglich.« »Dann versuche ich es auf eigene Faust.« Es folgte Stille. Damit hatten die Außenwesen nicht gerechnet. Ich erkundigte mich neugierig: »Ihre Galaxis verwandelt sich rasch in eine Todesfalle. Was haben Sie vor?« »Diese Information kostet Sie – « »Schon gut. Lassen wir’s.« Als wir wieder draußen waren, sagte Elephant: »Danke!« »Schon recht. Ich frage mich wirklich, was sie vorhaben.« »Vielleicht können sie sich gegen die Strahlung abschirmen.« »Möglich. Aber dann wird es keine Sternwandler mehr geben, denen sie nachziehen können.« »Brauchen sie diese Viecher?« Finagle allein wußte das. Die Sternwandler folgen einem sehr starren Paarungsverhalten. In Schwärmen verlassen sie den galaktischen Kern, um in die äußeren Arme bis fast zum Rand der Galaxis zu ziehen. Dann kehren sie wieder zum Ausgangspunkt zurück. Sie waren dem Tod geweiht. Bei ihrer
Rückkehr würde das Strahlungsfeld, das von den explodierenden Zentrumssonnen ausging, die ganze Tierart ausrotten. Was würden die Außenwesen ohne sie machen? Was zum Teufel machten sie mit ihnen? Brauchen sie die Sternwandler? Brauchen die Sternwandler die Außenwesen? Die Außenwesen würden diese und ähnliche Fragen für je eine Billion Star beantworten. Auskünfte, die sie selbst betrafen, ließen sich die Außenwesen besonders teuer bezahlen. Eine Mannschaft war schon damit beschäftigt, die FuS in das Fährsystem zu bringen. Wir beobachteten das Manöver von der Rampe aus, während Besatzungsmitglieder zu unseren Füßen ein Sonnenbad nahmen. Wir waren unbesorgt. Die Außenwesen gingen mit unserem Schiff so sorgsam um, als sei der unverletzliche Mantel aus Zuckerguß hergestellt. Als die FuS mit einem Spinnennetz dünner Bänder an der Wand der Antriebskapsel festgemacht war, forderte die Stimme des Übersetzers uns auf, an Bord zu gehen. Wir schwebten im Gravitationsschacht ein paar hundert Meter aufwärts, stiegen in die Luftschleuse und legten unsere Druckanzüge ab. »Nochmals vielen Dank«, sagte Elephant. »Schon recht«, wehrte ich bescheiden ab. »Ich stehe völlig in deiner Schuld. Du hast mich auf der teuersten Welt im erforschten Raum als Gast aufgenommen und mir als Fremdenführer gedient, obwohl die Arbeitslöhne – « »Ja, ja, ja! Aber du hast mir eine Million Star gespart, vergiß das bitte nicht.« Er ließ seine Hand schwer auf meine Schulter fallen und eilte dann in den Führerstand, um eine Anweisung über eine Million Star für das nächste Schiff der Außenwesen durchzugeben. »Ich werde es nicht vergessen!« rief ich ihm nach. Und ich fragte mich, was zum Teufel ich damit meinte. Später fragte ich mich noch etwas anderes. Hatte Elephant eigentlich vorgehabt, mich zu ›seiner‹ Welt mitzunehmen?
Oder hatte er allein losziehen wollen, um der erste und nicht einer der beiden ersten Besucher zu sein? Nach der Geschichte mit den Außenwesen war es schon zu spät. Er konnte mich nicht mehr einfach fortschicken. Ich wünschte, ich hätte mir darüber rechtzeitig Gedanken gemacht. Die Rolle eines Kindermädchens hat mir noch nie gelegen. Ich sah meine Aufgabe bei diesem Unternehmen darin, Elephant notfalls auf freundliche und taktvolle Art vor dem Selbstmord zu bewahren. Denn trotz all seines unerschütterlichen Selbstvertrauens, seines riesigen Reichtums, seiner unübertroffenen Großzügigkeit und seiner respekteinflößenden Persönlichkeit war er doch nur ein Flachländer, und als solcher ein wenig hilflos.
5 Als es geschah, befanden wir uns in der blasenartigen Ausbuchtung des Schiffes, dem Freizeitraum. Er war mit aufblasbaren Tischen und Stühlen ausgestattet und bot Gelegenheit, sich zu bewegen und sich die Zeit zu vertreiben. Da seine Oberfläche völlig durchsichtig war, hatte man einen schönen Rundblick. Andernfalls hätten wir es übersehen. Es preßte uns nicht gegen die Sitze, wir fühlten kein Kribbeln im Magen und hatten nicht das Gefühl, uns zu bewegen. Aber Elephant, der gerade von einem Jinx-Mädchen erzählte, das er in einer Bar in Chicago aufgegabelt hatte, verstummte genau in dem Moment, als sie im Begriff war, aus der Inneneinrichtung der Bar Kleinholz zu machen, weil irgendein lebensmüder Schwachkopf sie beleidigt hatte. Irgend etwas Schweres drückte auf das Weltall.
Das Universum verformte sich allmählich wie ein Ball, auf den sich ein schwergewichtiger Mann niederläßt. Von unserem Blasenraum aus schien es, als ob alle Sterne und Nebel um uns herum zusammengedrückt würden. Die Außenwesen auf ihren Bändern blieben unverändert; aber Elephant stieß einen Fluch aus, der mich aufblicken ließ. Die Sterne über uns leuchteten blauweiß; in unserer Höhe waren sie zusammengepreßt; und unter uns färbten sie sich rot und erloschen einer nach dem anderen. Wir hatten zum Verlassen des Sonnensystems eine Woche gebraucht, aber das Schiff der Außenwesen hätte es in fünf Stunden schaffen können. Aus dem Lautsprecher kam eine Ansage. »Meine Herren, unsere Besatzung wird die Verbindung zwischen den Schiffen wieder lösen. Danach sind Sie wieder auf sich selbst gestellt. Wir haben uns über den geschäftlichen Kontakt mit Ihnen gefreut.« Besatzungsmitglieder der Außenwesen lotsten uns durch das Labyrinth von Sonnenrampen und ließen uns dann allein. Eine Sekunde später war das Schiff der Außenwesen verschwunden und wieder in eigener Sache unterwegs. Um uns war nichts als das fremdartige Licht der Sterne. Elephant seufzte tief und erleichtert auf. Manche Menschen sind allergisch gegen andersartige Leben. In ihren Augen sind Puppeter weder anmutig noch schön; sie finden sie entsetzlich und einfach verkehrt. Sie sehen in den Kzinti geifernde Fleischfresser, deren einzige Liebe dem Kämpfen und Töten gehört. Das ist zwar richtig. Aber sie übersehen die strengen Ehrbegriffe und die Selbstbeherrschung, die einem Gesandten von Kzin die Benutzung eines irdischen Gehwegs ermöglicht, ohne daß er das unverschämte Stoßen der Knie und Ellbogen mit seinen Klauen beantwortet. Elephant gehörte zu den Leuten, die fremdes Leben nicht vertragen.
»Okay«, sagte er erleichtert und verblüfft, als er feststellte, daß sie tatsächlich fort waren. »Ich übernehme die erste Wache, Beo.« Er sagte nicht: »Die Bastarde würden dein Herz als Sicherheit für eine Zehn-Star-Anleihe zu akzeptieren.« Er billigte ihnen keinerlei menschliche Maßstäbe zu. Wenn Elephants wunder Punkt andersartiges Leben war, dann war der meinige die Erscheinung der Relativität. Die Reise durch den Hyperraum war bloße Routine. Ich hatte mich daran gewöhnt, den Anblick des Blinden Flecks in den zwei kleinen Fenstern zu ertragen, die zu Flächen von reinem Nichts wurden, das alle Gegenstände rundum zusammenzuziehen schien. Auch Elephant war daran gewöhnt. Er hatte schon einige Flüge hinter sich, obwohl er die Bequemlichkeit eines Luxusschiffes vorzog. Aber die schnelle Protosonne war noch eine Woche entfernt, und sogar der beste Pilot muß gelegentlich in den Normalraum zurückkehren, um sich seine Flugdaten zu verschaffen und um seinem Unterbewußtsein die Gewißheit zu geben, daß das Universum noch existiert. Und jedesmal war es verändert und flachgepreßt. Vor uns drängte sich eine Fülle von gelben Sternen; hinter uns waren sie spärlich verstreut und glühten dunkelrot. Vor vierhundert Jahren hatten Männer und Frauen jahrelang mit diesem Bild des Universums vor Augen gelebt. Aber seit der Erfindung des Hyperantriebs hatte es das nicht mehr gegeben. So hatte ich das All noch nie gesehen. Ich war verstört. »Nein, mir macht es nichts aus«, sagte Elephant, als ich davon sprach. Wir waren noch eine Tagesreise von unserem Ziel entfernt. »Für mich ist ein Stern ein Stern. Aber etwas anderes macht mir Sorgen. Beo, du hast doch gesagt, die Außenwesen seien ehrenhaft.«
»Ja, das sind sie. Das müssen sie sein. Sie müssen so sehr über jeden Zweifel erhaben sein, daß alle Lebewesen, die mit ihnen geschäftlich zu tun haben, sich noch hundert Jahre danach an ihre moralische Unantastbarkeit erinnern. Das leuchtet dir doch ein, nicht wahr? Öfter pflegen die Außenwesen schließlich nicht aufzutauchen.« »Okay. Aber warum haben sie wohl versucht, mir zusätzlich diese zweihunderttausend Star aus der Tasche zu ziehen?« »Hm.« »Schau mal, das gottverdammte Problem ist doch folgendes: Was ist, wenn der Preis angemessen war? Was ist, wenn wir wissen müssen, was es mit der Protosonne auf sich hat?« »Du hast recht. Nach allem, was man über die Außenwesen weiß, ist die Information wahrscheinlich nützlich. Bevor wir landen, wollen wir uns ein wenig umsehen. Wir hätten das sowieso getan, aber jetzt tun wir es gründlicher.« »Was war los mit der Protosonne?« Um die Mittagszeit des siebten Tages begann sich eine kurze grüne Linie auf dem Bildschirm des Ortungsgerätes auszudehnen. Sie war breit und unregelmäßig, genau so, wie man es von einer Protosonne erwartet. Ich ließ die Linie bis fast zum Rand anwachsen, ehe ich den Sprung in den Normalraum vollzog. In den Fenstern erschien das zusammengequetschte Universum. Aber vor uns zeichnete sich inmitten der strahlenden blau-weißen Sterne ein kreisrunder dunkler Fleck ab, dessen Zentrum dunkelrot glühte. »Komm, wir gehen in die Außenblase«, forderte mich Elephant auf. »Nein!« »Wir haben dort eine bessere Sicht.« Er betätigte die Schaltung, welche die Blase durchsichtig machte. Im Hyperraum hatten wir sie natürlich undurchsichtig gelassen.
»Ich sage nochmals nein. Überleg doch mal, Elephant. Was für einen Sinn hat es wohl, einen undurchlässigen Schiffmantel zu benutzen und dann die meiste Zeit außerhalb zu verbringen? Bis wir wissen, was hier vorgeht, sollten wir die Außenblase wieder einziehen.« Zustimmend neigte er sein zottiges Haupt und ging wieder ans Schaltbrett. Saugende Laute verrieten, daß Luft und Wasser aus der Blase gepumpt wurden. Elephant trat an ein Fenster. »Hast du schon mal eine Protosonne gesehen?« »Nein. Ich glaube nicht, daß es im erforschten Raum welche gibt.« »Das könnte das Besondere an ihr sein.« »Möglich. Ihre Geschwindigkeit ist es jedenfalls nicht. Die Außenwesen bewegen sich ihr ganzes Leben lang schneller.« »Aber Planeten nicht. Und Sterne auch nicht. Beo, dieses Ding stammt vielleicht von außerhalb der Galaxis. Das könnte das Besondere an ihm sein.« Es war an der Zeit, eine Liste anzufertigen. Ich nahm einen Schreibblock und notierte sorgfältig Geschwindigkeit und Beschaffenheit des Sterns und seine möglicherweise extragalaktische Herkunft. »Ich habe unseren Planeten entdeckt!« rief Elephant aus. »Wo denn?« »Fast genau auf der anderen Seite der Protosonne. Mit Hyperantrieb kämen wir schneller hin.« Als wir wieder in den Normalraum zurückkehrten, war der Planet noch unscheinbar klein. Die Protosonne bot einen unveränderten Anblick. Eine Protosonne ist die Vorstufe eines Sterns: eine dünne Wolke aus Gas und Staub, die sich aufgrund langsamer Wirbel in interstellaren Magnetfeldern oder durch das Vorhandensein eines Trojanischen Punktes in einem losen Sternhaufen
gebildet hat; eine Anhäufung von Masse, die sich aufgrund der Schwerkraft immer mehr verdichtet. In der Schiffsbücherei hatte ich Material über Protosonnen gefunden, das aber nur aus astronomischen Daten bestand. Noch nie hatte jemand eine Protosonne aus der Nähe gesehen. Theoretisch mußte sich die schnelle Protosonne in einem ziemlich späten Stadium ihrer Entwicklung befinden; darauf wies nicht nur ihre außerordentlich hohe Geschwindigkeit hin, sondern vor allem die Tatsache, daß sie bereits glühte. »Das ist er«, sagte Elephant. »Entfernung noch zwei Tagesreisen bei einer Beschleunigung von einem G.« »Gut. Wir können die Instrumente unterwegs überprüfen. Fahr los!« Während der Fusionsantrieb uns ruhig und sanft vorwärtsbrachte, kehrte Elephant an das Teleskop zurück, und ich begann, die übrigen Instrumente abzulesen. Eines davon schlug heftig aus. »Elephant, hast du bei mir schon mal einen Hang zum Fluchen festgestellt?« »Nicht daß ich wüßte. Warum?« »Draußen ist es verflucht radioaktiv.« »Könntest du dich etwas genauer ausdrücken?« »Der Schutzschild unserer Druckanzüge würde innerhalb von drei Tagen zusammenbrechen. Die Außenblase schon nach zwanzig Stunden.« »Gut, schreib es auf deine Liste. Hast du eine Ahnung, woher die Radioaktivität kommt?« »Nicht die geringste.« Ich nahm es in meine Liste auf. Wir waren nicht in Gefahr; der GP-Mantel würde uns vor allem schützen außer vor den Folgen eines heftigen Aufpralls. »Kein Asteroidengürtel«, gab Elephant an. »Meteordichte gleich Null, soweit ich feststellen kann. Keine weiteren Planeten.«
»Das interstellare Gas könnte bei dieser Geschwindigkeit alle kleinen Körper durch Reibungshitze verglühen lassen.« »Eines jedenfalls ist sicher, Beo. Ich habe mein Geld nicht umsonst ausgegeben. Das hier ist ein fremdartiges und seltsames System.« »Ja. Aber laß uns jetzt das Mittagessen nachholen.« »Philister!«
6 Elephant aß hastig. Ehe ich noch zum Kaffee übergegangen war, stand er schon wieder vor dem Teleskop. In seinen Bewegungen erinnerte er wieder an eine gewaltige Gottheit; neu für mich war seine Entschlossenheit. Ein hungriger Kzinti, der sich zwischen ihn und das Teleskop gestellt hätte, wäre glatt niedergewalzt worden. Aber der einzige, der ihm hier draußen im Weg stehen konnte, war ich. »Ich kriege den Planeten nicht nahe genug ‘ran«, ließ er sich vernehmen. »Aber er sieht glatt aus.« »Wie eine Billardkugel?« »Genau so. Ich kann keine Anzeichen für eine Atmosphäre feststellen.« »Wie steht es mit Einschlagkratern?« »Nichts.« »Es müßten welche vorhanden sein.« »Dieses System ist fast ganz frei von Meteoren.« »Der Raum um uns dürfte es eigentlich nicht sein. Und bei dieser Geschwindigkeit – « »Hm. Schreib es besser auf deine Liste.« Ich notierte es.
Wir schliefen auf den Notliegen. Vor mir waren die gelben Lichter der Instrumententafel; die Sterne leuchteten durch das eine Seitenfenster rot, durch das andere blau. Ich blieb lange wach und blickte durch das Vorderfenster in die rote Dunkelheit vor mir. Wir hatten das Fenster verdunkelt; aber ich sah die Protosonne deutlich in meiner Vorstellung als Blutstropfen, der sich in dunklem, stillem Wasser ausbreitete. Die Strahlung hielt am nächsten Tag unvermindert an. Ich nahm mit den Temperaturanzeigern und dem Tiefenradar einige gründliche Messungen an der Sonne und dem Planeten vor. Alle Ergebnisse wichen von der Norm ab. »Dieser Stern dürfte keinesfalls schon glühen. Seine Ausdehnung ist noch zu groß; die Gasdichte ist für eine Kernverschmelzung zu gering.« »Reicht seine Temperatur zum Glühen aus?« »Gewiß. Aber sie dürfte es nicht.« »Vielleicht sind die Theorien über Protosonnen falsch?« »Schreib es auf deine Liste.« Eine Stunde danach: »Elephant – « »Noch eine Besonderheit?« »Ja.« Seine Augen unter den buschigen Brauen verrieten mir, daß sein Bedarf an Besonderheiten allmählich gedeckt war. »Nach dem Bild auf dem Tiefenradar besitzt der Planet keine feste Oberfläche. Sie ist bis auf die Schicht, die man als Magma bezeichnen könnte, abgetragen. Aber wegen der Kälte, die hier draußen herrscht, hat das Magma seine flüssige Eigenschaft verloren.« »Schreib es auf. Wieviel Punkte hast du schon notiert?« »Neun.« »Ist es zweihunderttausend Star wert, einen der Punkte im voraus zu erfahren?«
»Vielleicht die radioaktive Strahlung, wenn wir keinen GPMantel hätten.« »Aber«, sagte Elephant und starrte durch die riesige dunkle Scheibe, »sie wußten, daß wir einen GP-Mantel haben. Beo, gibt es irgend etwas, das einen General-Products-Mantel durchdringen könnte?« »Licht in Form eines Laserstrahls. Schwerkraft, die einen wie eine ungeheure Strömung mit sich reißt und in den Bug preßt, wenn man einem Neutronenstern zu nahe kommt. Ein Zusammenstoß, der zwar den Mantel unbeschädigt läßt, aber alles zerstören kann, was sich innerhalb befindet.« »Vielleicht ist der Planet bewohnt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß er von außerhalb der Galaxis stammt. Nichts in der Galaxis hätte ihm eine derartige Geschwindigkeit verleihen können. Seine Bahn schneidet die galaktische Ebene; deshalb kann er nicht von den Randgebieten hereingeschleudert worden sein.« »Was tun wir, wenn uns jemand mit Laserstrahlen beschießt?« »Wir kommen vermutlich um. Ich habe die Kabine mit Ausnahme der Fenster mit einer reflektierenden Schicht versehen, aber der übrige Mantel ist für Laser durchlässig.« »Von hier aus können wir während der nächsten zwanzig Stunden noch in den Hyperraum ausweichen. Danach sind wir dem Planeten schon zu nahe.« Obwohl ich mich körperlich nicht angestrengt hatte, war ich todmüde, als ich mich auf die Liege fallen ließ. Einige Stunden später fühlte ich, wie mich etwas beobachtete. Ich konnte es durch die geschlossenen Lider wahrnehmen. Ich spürte den sengenden Blick eines riesigen roten Auges und dahinter eine furchtbare geistige Gewalt. Ich versuchte zu entfliehen, schlug um mich, stieß mit der Hand gegen etwas und erwachte in panischer Angst.
Ich lag in dunkelrotes Licht getaucht. Durch das Fenster war der Rand der Protosonne zu sehen. Ich spürte die Feindseligkeit ihres düsteren Glühens. »Elephant«, sagte ich. »Mnglbrfz?« »Ach nichts.« Es hatte bis zum Morgen Zeit. Am Morgen wandte ich mich an Elephant: »Elephant, würdest du mir einen Gefallen tun?« »Aber sicher. Willst du Dianna? Oder meinen rechten Arm? Oder willst du mir den Bart abrasieren?« »Danke, ich möchte Sharrol behalten. Ich wollte dich nur bitten, deinen Druckanzug anzulegen.« »Aber sicher, das ist eine blendende Idee. Wir haben auf die Außenblase verzichtet, aber anscheinend ist es dir noch nicht unbequem genug.« »Ganz recht. Und weil ich ein ausgesprochener Masochist bin, werde ich augenblicklich meinen Druckanzug anlegen. Nur hasse ich es, mich allein zu amüsieren – « »Hast du Schiß gekriegt?« »Ein bißchen. Es reicht gerade.« »Für einen Freund tue ich alles. Fang du an.« Wir mußten uns nacheinander umziehen, da der Platz gerade für einen reichte. Und auch das ging nur, weil die innere Luke der Luftschleuse geöffnet war. Wir versuchten, die Helme aufgeklappt zu lassen, aber wir stießen damit fortwährend gegen die Notliegen. Deshalb hängten wir sie an das Vorderfenster. Ich fühlte mich jetzt wohler, aber Elephant war der festen Überzeugung, ich hätte durchgedreht. »Bist du sicher, daß du nicht lieber mit aufgesetztem Helm essen willst?« »Ich hasse den Druckanzug-Sirup. Wenn wir ein Leck bekommen, können wir unsere Helme noch erreichen.«
»Was für ein Leck? Wir sind in einem General-ProductsMantel!« »Ich erinnere noch einmal daran, daß den Außenwesen diese Tatsache bekannt war.« »Das haben wir schon mal durchgekaut.« »Wir wollen es nochmal durchkauen. Angenommen, sie haben erwartet, daß wir auf jeden Fall umkommen würden, falls wir uns nicht entsprechend vorsehen. Was dann?« »Hm.« »Entweder erwarteten sie, daß wir uns in den Druckanzügen hinaus begeben und umkommen, oder sie wußten von etwas, das einen General-Products-Mantel durchdringen kann.« »Oder beides. In diesem Fall nützen uns die Anzüge überhaupt nichts. Beo, weißt du, wann ein GP-Mantel zum letzten Mal versagt hat?« »Noch nie, soviel ich weiß.« »Noch nie.« »Du hast absolut recht. Ich war blöd. Mach schon und leg deinen Anzug ab.« Elephant wandte sich um und sah mich an. »Und du?« »Ich behalte meinen an.« Elephant hob seine buschigen Augenbrauen und ging zurück an das Teleskop. Inzwischen waren es nur noch sechs Stunden bis zur Landung, und wir leiteten die Bremsvorgänge ein. »Ich glaube, ich habe einen Meteoritenkrater gefunden«, stieß Elephant hervor. Ich blickte durch das Teleskop. »Ja, ich glaube, du hast recht. Aber er ist verdammt flach.« Er übernahm das Teleskop wieder. »Aber er ist rund genug, um ein Krater zu sein. Beo, warum ist er wohl so flach und abgeschliffen?« »Das muß von interstellaren Staub kommen. Das wird auch der Grund sein, weshalb der Planet keine feste Oberfläche oder
Atmosphäre hat. Soviel ich aber sehen kann, ist die Dichte des Staubs selbst bei dieser Geschwindigkeit nicht hoch genug, um derartige Erosionserscheinungen hervorzurufen.« »Schreib es – « »Ja.« Ich griff nach meiner Liste. »Bei der nächsten Besonderheit bekomme ich einen Anfall.« Eine halbe Stunde später entdeckten wir Leben. Wir waren jetzt nahe genug herangekommen, um den Gravitationsumwandler zu benutzen. Der Vorteil eines Gravitationsumwandlers ist sein geringer Energieverbrauch. Er wandelt den Bewegungsimpuls, den ein Schiff relativ zur nächsten großen Masse hat, in Hitze um; und man muß dann nur noch die Wärmeenergie ableiten. Die Erbauer des Schiffes hatten berücksichtigt, daß der Mantel der FuS nur Strahlungsbereiche durchqueren würde, die von den Kunden der Puppeter als sichtbares Licht bezeichnet werden, und hatten deshalb von dem Gravitationsumwandler eine Wärmeleitung durch den Mantel nach außen geführt. Hinter uns glühte es dunkelrot. Und der Fusionsantrieb war abgestellt. Es gab keinen weißen Verbrennungsstrahl, der die Sicht behindern konnte. Elephant hatte das Teleskop auf die stärkste Vergrößerung eingestellt. Zuerst konnte ich überhaupt nicht sehen, wovon er sprach. Ich erkannte nichts als eine gleichmäßige weiße Fläche mit einigen bläulichen Klümpchen. Die Klümpchen fielen einem überhaupt nur wegen der Einförmigkeit der ganzen Oberfläche auf. Dann bewegte sich eines von ihnen. Zwar sehr langsam, aber es bewegte sich. »Tatsächlich«, sagte ich. »Prüfen wir einmal die Temperatur nach.«
Die Oberflächentemperatur dieses Gebiets entsprach der von Helium II. Das gleiche galt für den Rest des Planeten; die Protosonne sandte zwar Strahlung, aber nicht viel Wärme aus. »Ich glaube nicht, daß sie irgendeiner Lebensform gleichen, die ich kenne.« »Ich weiß nicht«, sagte Elephant. Er benutzte zugleich mit dem Teleskop den Bildschirm der Bücherei, der ein Klümpchenwesen von Sirius VIII zeigte. »Ich habe in diesem Buch zwanzig verschiedene heliumgebundene Lebensformen gefunden, und alle sehen ähnlich aus.« »Nicht ganz. Diese hier müssen vakuumdichte Körperhüllen besitzen. Und wenn du dein Augenmerk auf diese Körnung in den – « »Ich gebe meine Unwissenheit auf diesem Gebiet zu, Beo. Jedenfalls werden wir auf dieser Welt keine bekannten Lebensformen vorfinden. Bei diesen Geschwindigkeiten würde nicht einmal der Samen eines Bühnenbaumes einen Aufprall überstehen.« Ich ließ das Thema fallen. Elephant suchte mit dem Teleskop nochmals »seinen« Planeten ab, um die lebenden Klümpchen zu studieren. Sie waren für Lebensformen, die in Helium II existierten, groß, aber nicht in übertriebenem Maß. Viele kalte Welten entwickeln Lebensformen, die sich die besonderen Eigenschaften von superflüssigem Helium zunutze machen. Aber da für Leben solcher Art komplizierte Formen nicht viel Sinn haben, bleiben sie gewöhnlich auf der Stufe der Einzeller stehen. Es gab noch eine Besonderheit, die ich notieren mußte. Sämtliche Klümpchen befanden sich auf der Rückseite des Planeten; Rückseite in bezug auf die Richtung, in der sich der Planet durch die Galaxis bewegte. Sie hatten keine Scheu vor
dem Licht der Protosonne, aber sie fürchteten anscheinend den interstellaren Staub. Es vergingen zwei Stunden. Der Wärmeleiter des Gravitationsumwandlers glühte jetzt in intensivem Rot. Wir waren dem Planeten näher, ohne daß sich mehr Einzelheiten gezeigt hätten. »Billardkugel«, sagte Elephant. »Nicht sehr gut. Der Name ist schon für Beta Lyrae I vergeben.« »Zu schade. Wie wäre es mit Glatzkopf?« »Wie Glatzkopf? Das ist nicht übel.« »Dann bleibt’s also dabei. Glatzkopf, entdeckt von Gregory Zhiv Pelton und Freund.« »Elephant, was haben wir hier eigentlich verloren?« Bestürzt wandte er sich um. »Was willst du damit sagen?« »Sieh mal, du kennst mich jetzt und weißt, daß ich dich nicht im Stich lasse. Aber mir ist einiges unklar. Um hierherzukommen, hast du eine Million Star aufgewandt, und notfalls hättest du auch zwei Millionen ausgegeben. Du könntest dir jetzt mit Dianna daheim in den Rocky Mountains schöne Tage machen oder über Beta Lyrae schweben, einem Planeten, der ungewöhnlich genug ist und dem Auge mehr Abwechslung bietet als, äh, Glatzkopf. Du könntest in Bruchlandungs-City Phantasie-Pillen und andere biochemische Drogen ausprobieren, oder du könntest auf Plateau nach Nebelwesen Ausschau halten oder auf Jinx an einem Strand Bandersnatschis jagen oder dich von ihnen jagen lassen. Was suchst du ausgerechnet hier?« »Vielleicht bin ich hier, weil es eben hier ist.« »Was soll denn das für eine schlaue Antwort sein?« »Beo, es war einmal ein Bursche namens Miller. Vor sechs Jahren hat er aus einem Museum ein Schiff mit Preßkolbenantrieb entwendet, einen Hyperantrieb eingebaut
und sich damit zum Rand des Universums aufgemacht. Er nahm an, er könne sein Hydrogen im Normalraum aufnehmen und den Hyperantrieb mit Hilfe des Fusionsmotors betreiben. Er ist wahrscheinlich noch immer unterwegs. Und er wird in alle Ewigkeit weiterfliegen, wenn er nicht irgendwo aufprallt. Und worum tut er so etwas?« »Ich bin kein Psychiater.« »Er wollte nicht vergessen werden. Wenn du hundert Jahre tot bist, Beo, was wird man noch von dir wissen?« »Ich werde für alle der Idiot sein, der Gregory Pelton begleitet hat, den Mann, der zwei Monate seines Lebens und über eine Million Star verschwendet hat, um einmal auf einem vollkommen nutzlosen Planeten zu landen.« »Boing! Aber siehst du – du wirst nicht vergessen sein!« »Es muß bessere Dinge geben, um deretwegen man der Nachwelt unvergeßlich bleibt.« »Ich habe kein Talent zum Schriftsteller. Ich hätte einen miesen Planeten-Präsidenten abgegeben. Ich bin kein Wissenschaftler. Was bleibt noch übrig?« »Die Gründung einer Dynastie?« Elephants Lippen wurden schmal, und er blickte starr vor sich hin. »Ich hätte auch ein schlechtes Familienoberhaupt abgegeben«, knurrte er. »Lassen wir das Thema lieber, ja?« »In Ordnung«, sagte ich. Denn mir war etwas eingefallen. Ich hatte von diesem Miller gehört. Die Strahlung, die durch das Leck einer kernelektrischen Anlage gedrungen war, hatte ihn zeugungsunfähig gemacht. Es gibt noch andere berühmte Männer und Frauen, an deren Namen man sich erinnert, weil sie ausgefallene, schwierige und nicht besonders nützliche Taten vollbracht haben. Mae Doolin beispielsweise, die in einem selbstkonstruierten Druckanzug den Siebzig-KilometerAbstieg über die Felswand des Monte Schauinsland gewagt hatte. Wenn sie noch ein paar Monate Arbeit an diesen
Druckanzug verwandt hätte, dann hätte sie vielleicht auch den Aufstieg geschafft. Oder zum Beispiel Lynaeus, dessen richtiger Name unbekannt ist. Er kämpfte mit den bloßen Händen gegen Kzinti und gründete die Schule für die »Kämpfer der Höllenflamme«. Hat einer von ihnen Familie besessen? Hatte Elephant Nachkommen? Konnte er überhaupt welche zeugen? Wenn ich es richtig anfing, konnte ich eine erste Frage stellen. Ich mußte mit Gefühl vorgehen. »Elephant, bist du zeugungs – « Ich wurde von einem dumpfen Knall unterbrochen. Meine Kehle schnürte sich zu. In den Ohren spürte ich einen stechenden Schmerz, und die Hautoberfläche wurde kalt und pelzig. Als die Luft zu entweichen begann und der Alarm anfing, hatte ich schon nach meinem Helm gegriffen. Ich setzte ihn fest auf und drehte den Kragenring zu. Aus meinen Lungen und dem Körperinneren entwich pfeifend die Luft.
7 Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit festzustellen, was geschehen war. Vakuum umgab uns; Luft, die von der Lagerung noch eisig war, strömte in meinen Druckanzug. Nadeln durchbohrten Ohren, Mund und Nasenhöhlen – aber ich war mit dem Leben davongekommen. Meine Lungen waren leergepumpt, doch mein Anzug füllte sich mit Luft. Ich würde leben. Man glaubt nicht, von was für egoistischen Gedanken man beherrscht werden kann, wenn man das Grauen des drohenden Vakuumtodes nicht am eigenen Leib erfahren hat. Meine
Hände begannen zu zittern. Ich riß mich zusammen und drehte mich zu Elephant um. In seinem Gesicht stand die nackte Todesangst. Er hatte seinen Helm aufgesetzt, aber der Kragen machte Schwierigkeiten. Wölkchen kondensierter Atemluft pufften aus dem Halsring. Um seinen Helm schließen zu können, mußte ich erst seine Hände gewaltsam wegbiegen. Das Glas beschlug und wurde wieder klar; er bekam Atemluft. Hatte ich noch rechtzeitig helfen können? Unfaßliches hatte sich ereignet. Der Schiffsmantel hatte sich in Nichts aufgelöst. Einfach in Nichts. Mit einem Schlag hatte sich der Mantel aufgelöst und war zusammen mit der Atemluft verpufft. Ich hatte es selbst gesehen. Ohne Zweifel, der Mantel war verschwunden. Nur das Schiffsinnere war noch da. Vor mir der beleuchtete Instrumentenstand. Ein wenig tiefer die Luke zur eingezogenen Außenblase und deren Umhüllung. Über den Instrumenten Sterne und die öde Halbkugel von Glatzkopf. Auf der linken Seite Sterne. Rechts von mir Elephant, verdattert, verängstigt und am Leben. Über ihm Sterne. Hinter uns die Luftschleuse, der Lagerraum für die Lebensmittel, der Führerstand, die glühende Wärmeleitung und Sterne. Die FuS war nur noch ein Gerippe. Elephant schüttelte den Kopf und schaltete die Sprechanlage seines Anzugs ein. Ich hörte das Summen des Lautsprechers in meinem Helm. Wir sahen einander an und warteten. Es gab anscheinend nichts zu sagen, und jeder Kommentar war überflüssig. Ich seufzte, wandte mich zum Instrumentenstand und schaltete den Fusionsantrieb ein. Soweit ich das Schiff überblicken konnte, fehlte nur der Mantel. Nichts Unentbehrliches trieb ins All davon. Alles, was an dem Mantel befestigt war, hatte auch an anderen Schiffsteilen Halt gehabt.
»Was hast du vor, Beo?« »Ich bringe uns hier heraus. Und du kannst nach dieser neuen Besonderheit deinen Anfall kriegen.« »Warum? Ich meine, warum wegfliegen?« Er war übergeschnappt. Flachländer sind von Natur aus labil. Ich schaltete den Antrieb auf eine niedrige Stufe, stellte den Gravitationsumwandler ab und drehte mich zu Elephant um. »Schau, Elephant. Kein Mantel mehr.« Ich beschrieb mit dem Arm einen Kreis. »Keiner. Nichts.« »Aber was von dem Schiff übriggeblieben ist, gehört noch mir?« »Wie? Ja, gewiß.« »Ich möchte landen. Glaubst du, du kannst mir das ausreden?« Hinter seinem furchterregenden Bart war er vollkommen ernst, und wie ich allmählich glaubte, vollkommen verrückt. »Das Landegestell ist in Ordnung. Unsere Anzüge können uns drei Tage vor der radioaktiven Strahlung schützen. Wir könnten landen und nach zwölf Stunden wieder aufbrechen.« »Wahrscheinlich, wenn nicht noch etwas passiert.« »Und wir haben anderthalb Monate gebraucht, um hierher zu finden.« »Stimmt. Blödsinnig, aber es stimmt.« »Ich käme mir dumm vor, so dicht vor dem Ziel umzukehren. Du nicht?« »Ich komme mir dumm vor, weil ich so nahe herangegangen bin. Nein, streich das. Ja, ich käme mir blöd vor, heimzukehren, ohne etwas vorzeigen zu können. Aber wir haben ja etwas vorzuzeigen!« »Ein abgehäutetes Schiff. Schön, der Schiffsmantel hat sich in Nichts aufgelöst. Was hat das zu sagen? Man hat uns einen fehlerhaften Mantel geliefert, und ich werde General Products
vor Gericht schleifen, wenn wir zurück sind. Aber weißt du denn, was die Ursache war?« »Nein. Du?« Er überging die Frage. »Warum also annehmen, es handle sich um etwas Gefährliches?« Ich wußte genau, daß er sich irrte. Aber wie sollte ich es ihm beibringen? »Ich sag dir, was ich tun werde«, begann ich. Ich drehte das Schiff mit dem Heck zu Glatzkopf. »So. Wir können in drei Stunden landen, wenn du darauf bestehst. Dieser abgefieselte Hering ist dein Schiff, wie du ganz richtig sagst. Aber ich werde versuchen, dir die Landung auszureden.« »Das ist ein fairer Vorschlag.« Doch sein großer, bartumrahmter Mund öffnete sich dabei nur einen schmalen Spalt. »Hast du eine Astronautenausbildung mitgemacht?« »Selbstverständlich.« »War auch ein Kurs in Geschichte dabei?« »Alles, was man mir beigebracht hat, war, ein Schiff zu fliegen. Und ein bißchen über die Entwicklung dieser Kunst.« »Das ist immerhin etwas. Du weißt, daß man zuerst Schiffe mit chemischen Kraftstoffen verwendet hat, um das Sonnensystem zu erforschen, und daß das erste Schiff, das an einem Asteroiden anlegen sollte, in einer Mondumlaufbahn gebaut wurde.« »Es wird schon stimmen, wenn du es sagst.« »Folgendes dürfte dir unbekannt sein: Schon zuvor gab es ein Schiff, das für dieselbe Aufgabe vorgesehen war. Es trat seinen Flug aus einer Mondumlaufbahn heraus an. Dreißig Stunden nachdem es in den Umlauf gebracht worden war, stellte die Besatzung fest, daß sich das Glas sämtlicher Luken in Milchglas verwandelte. Zwei von der Mannschaft wollten weiterfliegen und ihre Aufgabe zu Ende führen. Der dritte
Mann war zufällig der Kapitän. So benutzten sie ihre Bremsraketen und unterbrachen den Flug. Du mußt dir vorstellen, daß ihr bestes Material nichts anderes als Eisenlegierungen waren. Der Schiffsrumpf bestand aus einer Kohlenstoff-Eisen-Legierung; die Luken waren mit zwei Lagen dicken Glases versehen. 426000 Kilometer vom Mond entfernt hielten die Männer das Schiff an und verständigten die Bodenstation über den Abbruch der Mission.« »Das hast du dir aber sehr gut gemerkt. Wieso eigentlich?« »Professor Spioza paukte uns diese Geschichten immer wieder ein. Er brachte uns alles anhand von Beispielen aus der Geschichte bei. Und das blieb haften. Man macht sich viel Mühe mit der Ausbildung von Passagierschiffpiloten.« »Fahr fort.« »Sie verständigten die Bodenstation über die Sache mit den Fenstern. Jemand stellte fest, daß eine Unmenge feiner Staubpartikelchen die Ursache sein mußte. Ein anderer fand heraus, daß die Bahn des Schiffes genau durch den Trojanischen Punkt der Mondbahn lief.« Elephants Gelächter ging in Husten über. »Dumme Angelegenheit. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel Vakuum eingeatmet. Aber du willst doch auf etwas hinaus.« »Wenn sie den Flug nicht unterbrochen hätten, wäre das Schiff durch den Staub aus seiner Bahn gebracht worden. Und die Moral von der Geschichte: Etwas ist so lange gefährlich, als man es nicht versteht.« »Klingt verrückt.« »Vielleicht für einen Flachländer. Du kommst von einem so menschenfreundlichen und auf deine Bedürfnisse zugeschnittenen Planeten, daß du glaubst, das ganze Universum sei nichts anderes als ein Siedlungsprojekt der Regierung. Du solltest hören, was die Anhänger Finagles sagen: ›Die Entwicklung des Universums verläuft in Richtung
auf größtmögliche Unwahrscheinlichkeit‹. Ein gewisser Neutronenstern hätte mein Ende bedeutet, wenn ich den Gezeiteneffekt der Gravitation nicht rechtzeitig begriffen hätte.« »Allerdings. Und du hältst also alle Flachländer für Idioten?« Verdammt, ich hatte seine wunde Stelle berührt. »Nein, Elephant. Ich halte sie nur nicht für verrückt genug. Und ich denke nicht daran, mich zu entschuldigen.« »Wer hat das von dir verlangt?« »Ich werde landen, sobald du mir erklären kannst, was unseren Mantel in Nichts aufgelöst hat.« Elephant verschränkte die Arme und starrte grimmig vor sich hin. Ich wartete und schwieg. Wenn er darauf bestand, mußte ich trotz seiner Bedenken landen. Nicht nur deshalb, weil uns lediglich ein einziges Schiff zur Verfügung stand und ich nicht gut im Raum auf seine Rückkehr warten konnte. Sondern vor allem, weil ich mich selbst eingeladen hatte. Nach einer Weile fragte er: »Kommen wir wieder heim?« »Ich weiß es nicht. Der Hyperantrieb funktioniert, und wenn wir ein Sonnensystem erreichen, können wir mit Hilfe des Gravitationsumwandlers abbremsen. Im Bereich der Protosonne hätten wir das nicht gekonnt; die Gasdichte ist hier zu hoch. Technisch gesehen müßte es uns möglich sein, zurückzukommen.« »In Ordnung, kehren wir um. Aber ich will dir eines sagen, Beo: Wenn ich allein hier wäre, würde ich landen – Mantel hin, Mantel her.« So machten wir uns unter Elephants Protest auf den Heimweg. Nach zehn Stunden hatten wir uns dem Gravitationseinfluß von Glatzkopf weit genug entzogen, um den Sprung in den Hyperraum wagen zu können.
Ich schaltete den Hyperantrieb ein, schnappte nach Luft und schaltete ihn blitzschnell wieder aus. Wir saßen zitternd da. »Wir können die Außenblase entfalten«, schlug Elephant vor. »Aber wie kommen wir hinein?« »Ich weiß nicht. Sie hat keine Luftschleuse.« Wir schafften es trotzdem. Die Kabine hatte einen Druckregulator, den wir auf Null stellten. Das elektromagnetische Feld, in das die Blase jetzt gepackt war, würde sie ohne Druckluft entfalten. Wir gingen hinein, stellten den Luftdruck wieder her und setzten unsere Helme ab. »Wir haben die Strahlung hinter uns gelassen«, sagte Elephant. »Ich habe mich davon überzeugt.« »Gut.« »Im Hyperraum kann man innerhalb von wenigen Sekunden eine große Strecke zurücklegen.« »Da ist noch etwas, das ich wissen muß. Kannst du das Ganze noch einmal aushalten?« Elephant schüttelte sich. »Kannst du es?« »Ich glaube schon. Notfalls kann ich die Navigation allein übernehmen.« »Was du aushältst, halte ich auch aus.« »Kannst du es aushalten, ohne den Verstand zu verlieren?« »Ja.« »Dann kann’s ja losgehen. Aber wenn du deine Meinung änderst, laß es mich sofort wissen. Der Blinde Fleck hat schon viele Männer von Format in den Wahnsinn getrieben, und alles, was sie betrachten mußten, waren einige verdeckte Fensteröffnungen.« »Ich glaub dir’s gern. Ehrlich. Und was machen wir jetzt?« »Wir müssen einen Kurs durch möglichst leere Gebiete des erforschten Raums abstecken. Die nächste bewohnte Welt ist Kzin. Mir widerstrebt es, die Kzinti um Hilfe angehen zu müssen, aber es scheint unsere beste Chance zu sein.«
»Ich mach dir einen Vorschlag, Beo. Wir wollen versuchen, wenigstens bis Jinx zu kommen. Ich will mit Hilfe deiner Transfernummer die Puppeter ereichen und ihnen die Hölle heiß machen.« »Schön.« Wenn es sich zeigen sollte, daß der Hyperflug über unsere psychischen Kräfte ging, konnten wir es uns noch immer anders überlegen. Ich verbrachte eine Stunde damit, den Kurs auszuarbeiten. Als ich fertig war, lagen nur noch sehr wenige Schwerkraftfelder auf unserem Weg. Wir würden das Massenortungsgerät nicht öfter als einmal täglich kontrollieren müssen. Elephant gewann beim Fingerknobeln. Ich hatte die erste Wache. Wir legten unsere Druckanzüge an und pumpten die Außenblase leer. Als ich durch die Luke kroch, sah ich, wie Elephant die Blase undurchsichtig machte. Ich quetschte mich in die Notliege und war allein mit all den flachgepreßten Sternen. Die Protosonne war hinter uns verschwunden. Über die Hälfte meines Gesichtsfeldes war leerer Raum. Gedankenvoll schaute ich auf die Luftschleuse. Sie bestand aus einem länglichen Metallkörper, der links hinter mir am Rand des Decks stand. Seine beiden Luken waren dicht verschlossen. Die innere Luke war beim Entweichen der Luft zugeschlagen, und nun hielt der Schleusenmechanismus den Innendruck gegen das Vakuum an beiden Luken aufrecht. Es war niemand drinnen, der einen Nutzen davon hatte; aber wie sollte man das einem Druckregulator klarmachen? Ich zögerte noch einmal. Das Schiff war auf Kurs gerichtet. Dann gab ich mir einen Ruck und schickte die FuS in den Hyperraum.
Man nennt es den Blinden Fleck. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Es gibt eine Methode, den Blinden Fleck im eigenen Auge zu finden. Man schließt ein Auge, zeichnet zwei Punkte auf ein Blatt Papier und nähert sich mit dem Kopf dem Papier, wobei man einen der beiden Punkte fixiert. Wenn der richtige Abstand erreicht ist, verschwindet plötzlich der andere Punkt. Wenn ein Schiff mit durchsichtigen Fenstern in den Hyperraum eintritt, so scheinen die Fenster zu verschwinden. Genauso ist es mit dem Raum, der sie umgibt. Die Gegenstände rundum strecken sich und rücken sich zusammen, um den fehlenden Raum zu füllen. Wenn man lange genug hinsieht, scheint sich der Blinde Fleck auszudehnen. Die Wände und die an ihnen angebrachten Sachen werden von dem Blinden Fleck förmlich angesaugt und schließlich verschlungen. Es hilft zunächst, wenn man die Fenster verdeckt; aber nach einer Weile scheint der Blinde Fleck an den Rändern durchzusickern. Angeblich spielt sich das alles nur in der eigenen Phantasie ab. Wirklich nur in der Fantasie? Ich drehte den Schalter, und die Hälfte meines Gesichtsfeldes wurde vom Blinden Fleck eingenommen. Der Instrumentenstand streckte sich und floß auseinander. Der Schirm des Massenortungsgeräts schien sich um mich zu schlingen. Ich griff nach ihm, und meine Hände waren auch verzerrt. Mit beträchtlicher Anstrengung zog ich sie zu mir zurück und bekam mich wieder unter Kontrolle. In der Plastikmasse, die einmal ein Massenortungsgerät gewesen war, leuchtete eine zerfaserte grüne Linie. Und das Gerät befand sich gleichzeitig vor mir, hinter mir und auf den Seiten. Das Schiff konnte mit Automatik fliegen, bis Elephant dran war. Ich begab mich zur Luke und kroch hindurch.
8 Etwas später fand mich Elephant beim Durchsehen meiner Liste. Er nahm sie an sich und ging sie durch. Sie sah folgendermaßen aus: 1. Geschwindigkeit des Sterns: 0,8 Lichteinheiten. 2. Art des Sterns: Protosonne. Einzigartig im erforschten Raum. 3. Herkunft des Sterns: höchstwahrscheinlich extragalaktisch. 4. Ungewöhnlich starke radioaktive Strahlung. 5. Der Planet hat keine Atmosphäre. 6. Keine Anzeichen von Meteoritenkratern auf dem Planeten. 7. Die Protosonne weist unerklärlich hohe Temperaturen auf. 8. Der Planet hat keine feste Oberfläche. 9. Ein sehr abgeflachter Meteoritenkrater. Ursache Staub? Warum so dicht? 10. Helium-II-Lebewesen. Vorkommen auf die Rückseite des Planeten beschränkt. Fürchten sie den Staub? Elephant nickte, schrieb etwas dazu und gab mir die Liste zurück. Ich las: 11. Mantel in Nichts aufgelöst. Elf Punkte. Elf Unregelmäßigkeiten, für die es keine Erklärung gab und die miteinander in Zusammenhang gebracht werden mußten. »Wenn wir mehr über die Beschaffenheit unseres Mantels wüßten, könnten wir das Geheimnis wahrscheinlich herausfinden.« »Viel Glück«, meinte Elephant. »Der Mantel ist ein geheimgehaltenes Handelspatent der Puppeter.« Und damit war das Thema vorläufig abgetan. Unsere Gespräche erstarben stets nach wenigen Sätzen. Keiner von uns fühlte den Drang zu reden. Die Stunden
verrannen und wurden zu Tagen. Wir saßen abwechselnd vor dem Bildschirm der Bücherei. Wenn die Außenblase nicht gewesen wäre, hätten wir vermutlich nicht überlebt. Alle vierundzwanzig Stunden ging einer von uns hinaus, um nachzusehen, ob gefährliche Massen in der Nähe waren; dann vollzog er den Sprung in den Normalraum, um Orientierungsdaten zu erhalten und den Kurs zu korrigieren. Während der paar Stunden vor jeder Wache redeten wir überhaupt nicht; wir fürchteten, daß einem von uns die Nerven durchgehen könnten. Bei meinem dritten Kontrollgang war ich leichtsinnig genug, nach oben zu blicken. Ich wurde mehr als blind. Mein Gesichtsfeld war völlig leer und gänzlich vom Blinden Fleck eingenommen. Es war mehr als Blindheit. Ein blinder Mensch, ein Mensch also, dessen Augen ihre Sehkraft eingebüßt haben, erinnert sich wenigstens daran, wie die Dinge ausgesehen haben. Ein Mensch, dessen Sehzentrum im Gehirn Schaden gelitten hat, kann sich nicht erinnern. Ich konnte mich erinnern, in welcher Absicht ich hierhergekommen war – nämlich um festzustellen, ob gefährliche Massen in der Nähe waren –, aber ich wußte nicht mehr, wie ich das anstellen sollte. Ich berührte eine gekrümmte, weiche Oberfläche und wußte: dies war das Gerät, das ich dazu verwenden konnte, wenn ich nur sein Geheimnis entschleierte. Ich bewegte den Kopf, vielleicht, weil mein Genick zu schmerzen begann. So fiel mein Blick wieder auf reale Gegenstände. Als wieder Luft in die Blase strömte, fragte Elephant: »Wo hast du gesteckt? Du warst eine halbe Stunde draußen.« »Und damit bin ich noch gut weggekommen. Wenn du hinausgehst, dann schau bitte nicht nach oben.« »Oh.«
Warum zum Teufel konnten wir denn kein Gesprächsthema finden? Vielleicht deshalb, weil das Thema »Glatzkopf« abgeschlossen war? Vielleicht. Der Planet hatte uns besiegt, ohne von uns Notiz genommen zu haben. Wir hatten ihm einen Namen verliehen, uns in seine Nähe begeben und waren wieder umgekehrt. Zwei Fliegen, welche die geheimnisvolle Welt nicht ernst genommen hatte. Wir waren umgekehrt, weil ich darauf bestanden hatte. Eines Tages sprach ich es aus. »Elephant, da gibt es ein Wort in unserer Sprache, das in unseren Unterhaltungen nicht auftaucht.« Er hob den Blick von Leseschirm. »Mehr als eines. Worte sind zwischen uns selten geworden.« »Ein bestimmtes Wort. Wir fürchten uns so sehr davor, es auszusprechen, daß wir lieber überhaupt nicht reden.« »Sag es!« »Das Wort heißt Feigling.« Elephant runzelte die Stirn und schaltete den Bildschirm aus. »Gut, wir wollen darüber reden. Und laß uns vor allem festhalten: Du hast das Wort ausgesprochen. Richtig?« »Richtig. Hast du das Wort gedacht?« »Nein. Ich habe in beschönigenden Ausdrücken wie ›übervorsichtig‹ und ›keine Lust, sein Leben leichtsinnig aufs Spiel zu setzen‹ gedacht. Aber da wir gerade dabei sind: Warum wolltest du um jeden Preis umkehren?« »Ich hatte Angst.« Ich ließ ihm Zeit, das Wort in sich aufzunehmen. »Meine Ausbilder haben dafür gesorgt, daß ich in gewissen Situationen Angst zeige. Bei aller Hochachtung für dich, Elephant – ich habe mehr Ausbildung als du erhalten. Ich glaube, dein Wunsch zu landen entsprang deiner Unwissenheit.« Elephant seufzte. »Bist du dessen sicher?«
»Ganz und gar nicht. Ich zweifle jeden Tag mehr daran. Vielleicht habe ich mich täuschen lassen. Vielleicht wären wir vollkommen sicher gelandet, ausgestiegen, hätten eine befriedigende Antwort auf unsere elf Fragen gefunden, wären wieder eingestiegen, gestartet und zwölf Stunden später, als es jetzt der Fall sein wird, auf Jinx angekommen.« »Möglich. Wir werden es im Moment nicht herausfinden.« »Nein, bestimmt nicht.« Einer von uns hatte recht, der andere unrecht. Wenn ich unrecht hatte, war gerade eine gute Freundschaft zum Teufel gegangen. Ich war verbittert. Ich war nicht einmal sicher, ob Sharrol sich nicht auf Elephants Seite stellen würde. Und wenn Sharrol mich für einen Feigling hielt… Unsere Bekanntschaft hatte nur vier Tage gedauert. War ich tatsächlich ein Feigling? Ich bin kein geborener Held und habe auch nie behauptet, einer zu sein. Zum erstenmal in meinem Leben machte ich mir darüber Gedanken. Während der Heimreise dachte ich tatsächlich manchmal daran, wieder zu Glatzkopf umzukehren. Doch wenn ich dann während meiner Wache einige Minuten in den Blinden Fleck geblickt hatte, wünschte ich nichts sehnlicher, als recht bald auf Jinx zu landen. Wir traten in der Nähe der Zwillingssonne des Sirius aus dem Hyperraum. Aber das bedeutete noch nicht das Ende der Reise. Das Universum raste noch immer mit acht Zehnteln der Lichtgeschwindigkeit an uns vorüber. Wir brauchten fast zwei Wochen, um auf Normalgeschwindigkeit abzubremsen. Die Wärmeleitung des Schwerkraftumwandlers glühte die meiste Zeit weißorange. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir zwischen Normal- und Hyperraum hin- und herwechselten, um die unregelmäßige Verteilung der Gravitationsfelder optimal auszunutzen.
Doch zu guter Letzt gingen wir in die Umlaufbahn um Jinx. Ich brach unser stundenlanges Schweigen. »Was jetzt, Elephant? Du kehrst noch einmal zurück, nicht wahr?« »Sobald wir nahe genug sind, werde ich die Nummer anrufen, die du von den Außenwesen bekommen hast.« »Und dann?« »Dann setz ich dich auf Sirius Mater mit genug Geld für die Heimreise ab. Ich würde mich freuen, wenn du bis zu meiner Heimkehr mein Haus als das deinige betrachtest. Ich selbst werde hier ein neues Schiff chartern.« »Du willst mich nicht mehr dabei haben?« »Beo, ich habe die Absicht zu landen. Müßtest du dir nicht wie ein verdammter Narr vorkommen, wenn du dabei drauf gehst?« »Ich war wegen dieses blöden Planeten drei Monate in einer Außenblase eingesperrt. Ich habe eine abenteuerliche Reise durch den Hyperraum hinter mir – und das ohne Schiffsmantel. Ich komme mir wie ein verdammter Narr vor, wenn du es ohne mich schaffen würdest.« Elephant blickte kreuzunglücklich drein. Er holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an. Wenn ich einen Mann jemals im richtigen Moment unterbrochen habe, dann jetzt. »Sag nichts. Laß uns zuerst die Puppeter anrufen. Wir brauchen uns mit der Entscheidung nicht zu übereilen.« Elephant nickte. Er hatte mir sicher sagen wollen, daß er meine Begleitung nicht wünschte, weil ›ich keine Lust hatte, mein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen‹. Statt dessen ging er ans Trideophon und wählte die Nummer der Puppeter. Jinx lag wie ein mit Streifen bemaltes Osterei unter uns. Seitlich war der große orangefarbene Hauptplanet Binary zu sehen, den Jinx als Mond umkreist. Wir waren im Funkbereich
von Jinx… und die Transfernummer der Puppeter würde wohl auch ihre Trideophonnummer sein. Elephant wählte. Eine warme Altstimme, die einem durch und durch ging, antwortete. Der Bildschirm blieb dunkel, aber eines war mir klar: Keine Frauenstimme konnte so viel Schmelz haben. Der Puppeter sagte: »89346770?« »Mein General-Products-Mantel hat versagt.« Elephant kam gleich zum Kern der Dinge. »Wie bitte?« »Mein Name ist Gregory Pelton. Vor zwölf Jahren habe ich von General Products einen Doppelplus-Mantel gekauft. Vor anderthalb Monaten hat der Mantel versagt. Er hat sich in Nichts aufgelöst. Seitdem versuchen wir, uns nach Hause durchzuschlagen. Könnte ich mit einem Puppeter sprechen?« Der Bildschirm leuchtete auf. Zwei stirnlose dreieckige Köpfe sahen uns aus je einem Auge an. »Das ist eine ernste Angelegenheit«, sagte der Puppeter mit dümmlichem Gesichtsausdruck. Ein Puppeter mit seinen herabhängenden Greiflippen sieht immer dümmlich aus. »Selbstverständlich werden wir den Schaden in vollem Umfang ersetzen. Ist das neben ihnen Beowulf Schaeffer?« »Ja«, erwiderte ich, »doch wir wollen zuerst über den Mantel sprechen, ehe Sie mir verraten, weshalb Sie mich zu sprechen wünschen.« »Gewiß. Gregory Pelton, würde es Ihnen etwas ausmachen, in allen Einzelheiten die Umstände zu schildern, unter denen der Mantel versagt hat?« Es machte Gregory Pelton nicht das geringste aus. Er war sogar ganz scharf darauf. Sein Nacken und seine Ohren liefen rot an. Sein vorspringender Bart schien ein Eigenleben zu führen. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. Die Schüchternheit, die er den Außenwesen gegenüber gezeigt
hatte, war wie fortgeblasen. Er behandelte den Puppeter wie einen kleinen Ingenieur aus einer seiner Fabriken. Der dümmliche Gesichtausdruck des Puppeters blieb unerschüttert; aber als Elephant zu Ende war, blinzelte er heftig. »Ich verstehe«, sagte er. »Natürlich sind unsere Entschuldigungen nicht ausreichend. Aber Sie werden einsehen, daß unser Denkfehler eine zwingende Ursache hat. Wir vermuteten nicht, daß irgendwo innerhalb der Galaxis, geschweige denn innerhalb des erforschten Raums, Antimaterie vorhanden sei – und dann gleich in solchen Mengen.« Elephants rauhe Stimme wurde seltsam sanft. »Antimaterie? Sagten Sie Antimaterie?« Mir war, als ob er das Wort gebrüllt hätte. Es hallte in meinem Schädel wider. »Gewiß. Wir versuchen nicht, uns zu entschuldigen; aber Sie hätten es sofort herausfinden müssen. Interstellarer Staub aus normaler Materie hat die Oberfläche des Planeten durch unzählige kleine Explosionen geglättet und seine feste Oberschicht bis zum Magma abgetragen, hat die Temperatur der Protosonne unerklärlich hoch getrieben und eine wirklich bemerkenswerte radioaktive Strahlung hervorgerufen. Der Staub hat die normale Staub- und Gasansammlung im System der Protosonne vollkommen beseitigt. Haben Ihnen diese Dinge nicht zu denken gegeben? Sie wußten doch, daß das System extragalaktischen Ursprungs ist. Sagt man den Menschen nicht Neugierde nach?« »Was ist mit dem Mantel?« verlangte Elephant zu wissen. »Ja, Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Ein GeneralProducts-Mantel ist ein künstlich hergestelltes Molekül, dessen interatomare Bindungskräfte durch eine kleine Energiequelle künstlich verstärkt werden. Die verstärkten Bindungskräfte sind beständig gegen jeglichen Aufprall und gegen
Temperaturen von mehreren Millionen Grad. Aber wenn durch den Aufprall von Antimaterie genügend Atome aus dem molekularen Verband gelöst sind, zerfällt das Molekül natürlich.« Elephant nickte. Ich fragte mich, ob er vielleicht seine Stimme verloren habe. »Wann wollen Sie den Schaden ersetzt haben? Glücklicherweise scheint kein Mensch ums Leben gekommen zu sein. Unsere Geldmittel sind nämlich beschränkt.« Elephant stellte das Trideophon ab. Er schluckte ein- oder zweimal und schaute mir nach einigem Zögern in die Augen. Ich glaube, daß er dazu seine ganze Willenskraft aufwenden mußte. Und ich frage mich, was er wohl gesagt hätte, wenn ich ihm nicht zuvorgekommen wäre. »Da siehst du es«, feixte ich. Ich hasse gefühlvolle Szenen. »Da siehst du es ganz deutlich. Ich hatte recht, und du hattest unrecht. Wenn wir auf deinem gottverlassenen Planeten gelandet wären, hätten wir uns in einen reinen Energieblitz verwandelt. Und deshalb genieße ich es ganz ungeheuer, dir sagen zu können: Hab ich dir’s nicht gleich gesagt!« Er lächelte lahm. »Du hast mir’s gleich gesagt. Antimaterie.« »Bei Gott, ich hab dir’s gleich gesagt. Immer und immer wieder habe ich meine Stimme erhoben: Dieser Planet ist verflucht! Er wird dir Leib und Seele rauben, habe ich gepredigt. Es sind Zeichen erschienen am Himmel und auf Erden – « »Schon gut, du Bastard, du mußt es nicht gleich übertreiben. Ich verdanke dir zweimal mein Leben plus eine Million Star, und keinen Star mehr.« »In Ordnung, vergessen wir’s. Aber ich möchte, daß du dich an eines erinnerst – « »Etwas ist so lange gefährlich, als man es nicht versteht.«
»Genau das ist es, was ich dir in Erinnerung rufen wollte – abgesehen von der Tatsache, daß ›ich dir’s gleich gesagt habe‹.«
Elephants Haus war zur Hälfte in den Felsen hinein gebaut. Die andere Hälfte ragte über den Abgrund, ohne daß irgendwelche Abstützungen zu sehen waren. Ein breiter Balkon lief um den herausragenden Teil des Hauses herum; auch er hatte weder Stützen noch Geländer. Das ihn umgebende Sicherheitskraftfeld war natürlich unsichtbar. Elephant war irgendwo in eigenen Geschäften unterwegs. Ihm war ein ausgezeichnetes Dinner entgangen. Sharrol schenkte uns aus einer bauchigen grünen Flasche drei Gläser ein. Die Flasche war mit typisch flachländerischer Weitschweifigkeit etikettiert: Rothschild Extra Fine Brandy Napoleon 2680. Das Getränk war klar und hatte eine leicht braune Tönung. »Eine letzte Frage«, sagte Dianna. »Was wollten denn die Puppeter von dir?« »Sie wollten, daß ich für sie die Magellanschen Wolken erforsche. Ich lehnte ab.« Die Mädchen sahen sich gegenseitig an und richteten ihre Blicke dann auf mich. Für sie war ich ein überführter Lügner. Wie unfair! Zum mindesten hatte ich die halbe Wahrheit gesagt, und der Rest war ein Geheimnis zwischen mir und den Puppetern. Sie hatten mir eine kleine Schweigeprämie gezahlt. Ich zuckte die Achseln und nahm einen Schluck von dem Drink. Ich versuchte gerade, meine Luftröhre freizuhusten, als Elephant hereinplatzte. »Das Schiff steht bereit!« rief er schon im Vorraum. »In einer Woche kann’s losgehen. Was ist denn mit dir los, Beo?« Mit diesen Worten betrat er den Balkon.
Ich bekam wieder Luft. »In einer Woche? Losgehen? Schiff?« »Habe ich nichts davon erwähnt? Zu dumm, muß ich glatt vergessen haben. Beo, ich will noch mal zur Protosonne, Ich habe einen GP-2-Mantel erstanden, der von einer dreißig Zentimeter dicken Plastikschaummasse eingehüllt ist. Über den Fenstern ist eine dreißig Zentimeter dicke Glasschicht angebracht; wir können sie abstoßen, wenn sie trüb wird. Mit einem supergroßen Gravitationsumwandler werden wir hohe Geschwindigkeiten erreichen. Willst du mitkommen?« Das Ding, das er mit sich schleppte, war ungefähr einen Meter zwanzig lang, aus Metall und unordentlich in ein Tuch eingewickelt. Ich erkannte es als Vakuumflagge, die mit Hilfe von Sprungfedern ein Flattern im luftleeren Raum vortäuschen sollte. Er mußte meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. »Nein, du Schwachkopf. Ich will nicht landen. Wofür hältst du mich eigentlich? In dem Mast ist eine tadellose Rakete eingebaut. Ich will sie aus einiger Entfernung auf Glatzkopf schießen. Das wird eine tolle Explosion geben, meinst du nicht auch?« »Möchtest du, daß ich mitkomme?« »Aber gewiß.« »Das Schiff scheint ziemlich sicher zu sein. Haben wir noch eine Woche Zeit?« »So ungefähr. Es sind noch Vorräte zu beschaffen.« »Ich gebe dir rechtzeitig Bescheid.« Wir starten morgen. Ich habe mir eine Trideo-Kamera verschafft, die fest am Instrumentenbrett eingebaut ist. Außerdem habe ich einen Vertrag mit der größten Rundfunkgesellschaft im erforschten Raum abgeschlossen.
Sie besitzt die Exklusivrechte an der ersten großformatigen Explosion von Antimaterie, die je aufgenommen worden ist. Diesmal hatte ich einen guten Grund für die Reise.
Originaltitel: FLATLANDER Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp. Aus WORLD OF IF SCIENCE FICTION März 1967