»Meuterei!« stieß Grimes hervor. »Meuterei?« wiederholte Adam mit Ironie in der Stimme. Er trat auf den Captain zu, ein...
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»Meuterei!« stieß Grimes hervor. »Meuterei?« wiederholte Adam mit Ironie in der Stimme. Er trat auf den Captain zu, einen langen metallenen Arm erhoben. Grimes drückte ab. Genausogut hätte er aus einer Spielzeugpistole schießen können. Er feuerte wieder und wieder. Die Geschosse zerspritzten wie Lehmkugeln auf dem Panzer des Roboters. Zur Flucht war es schon zu spät. Fatalistisch erwartete Grimes den zerschmetternden Schlag der stählernen Faust, der alles beenden würde. Eine Stimme rief: »Nein – nein –!« Adam zögerte – nur eine Sekunde. Abermals machte er einen Schritt. Und dann kam – offenbar aus dem Computer selbst – ein schrecklicher, blendender Blitz ... DIE SEELENMASCHINE von A. Bertram Chandler und weitere außergewöhnliche Science-FictionStories von Larry Niven, Charles Sheffield, Tappan King, William Earls, Milton A. Rothman, Peter Phillips und J. A. Lawrence.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31017 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann, Dolf Strasser, Roland Rosenbauer und Lothar Heinecke Umschlagillustration: Young Artists/Schlück Copyright © by UPD Publishing Corporation Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31017-6 August 1980
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories/ hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.} 83. / Von Charles Sheffield ... [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann ...]. 1980. – 144 S. (Ullstein-Bücher: Nr. 31017: Ullstein 2000: Science-fiction) ISBN 3-548-31017-6 NE: Sheffield, Charles [Mitarb.]
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 53 bis 82
Science-FictionStories 83 von Charles Sheffield J. A. Lawrence Tappan King Larry Niven William Earls Milton A. Rothman A. Bertram Chandler Peter Phillips Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Schlankheitskur – und die Folgen Charles Sheffield ................................................
6
Krone der Schöpfung J. A. Lawrence ....................................................
35
Die Macht der Rune Tappan King .......................................................
51
Rammer Larry Niven ........................................................
75
Verkehrsproblem William Earls ...................................................... 116 Onestone Milton A. Rothman ............................................ 132 Die Seelenmaschine A. Bertram Chandler ......................................... 156 Reifeprüfung Peter Phillips ...................................................... 173
Charles Sheffield SCHLANKHEITSKUR – UND DIE FOLGEN Die Evolution endet nie. Hier handelt es sich um einen fortlaufenden Prozeß, der täglich weitergeht. Manche Leute können dies kaum glauben. Sie weisen darauf hin, daß Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz und Mut in unseren Zeiten vollkommen nutzlos zu sein scheinen. Das mag wahr sein – eines der niederschmetterndsten Merkmale der Evolution ist, daß niemand weiß, welche Elemente hier und jetzt den Auswahlprozeß bestimmen. Und selbst wenn du es weißt, kannst du mit diesem Wissen absolut nichts anfangen. Entweder hast du die richtigen Anlagen für die Genetische Auswahl, oder du besitzt sie nicht. Der Grund für diesen Gedankengang war ein Besuch vor wenigen Minuten. Mein Geschäftspartner Waldo schwelgte im neuerworbenen Wohlstand, trug teure Kleider und protzte – sehr uncharakteristisch für ihn – an jedem Arm mit einer glänzenden Frau. Er sah sich den Handel an, den ich abschließen wollte, versprach mir in leutseligem Tonfall, daß er darüber nachdenken wollte, und rauschte hinaus. Ich habe das Gefühl, daß Waldo aller Logik zum Trotz von der Evolution begünstigt wird. Trotzdem – jeder Dinosaurier beweist, daß die Evolution auch Fehler begehen kann. Waldos Ritt zu Ruhm und Glück begann auf sehr wackeligen Beinen. Weil er eines Nachts am äußersten Rand von Chryse City herumgelungert hatte,
war er eingesperrt worden. Sein Körper war von oben bis unten schwarz bemalt, und seine Kleidung bestand aus einer dunkelblauen Badehose, einem Sauerstoffschlauch mit Maske und einem Paar gefütterter Pantoffeln. Bei den Wachtposten, die ihn entdeckten, hinterließ seine gesamte Erscheinung einen so nachhaltigen Eindruck, daß sie die Bereitschaft für einen Einsatz nach Alarmstufe Fünf – Angriff von Außerirdischen – herstellten. Minuten später wurde Waldo ins Büro des Gouverneurs von Chryse City, Armando Faust, geschleppt. Natürlich stellte es sich schnell heraus, daß Waldo kein Außerirdischer war. Daß er nun aber wie ein Wahnsinniger behandelt wurde, diese Tatsache ärgerte Waldo sehr. Er war doch nicht verrückt! Weit gefehlt! Vielmehr hatte er doch nur eine der vorgeschriebenen Prozeduren aus Doktor Strakers Diätplan durchführen wollen. Der Plan hatte ihn tausend Marsdollar gekostet. Er zog ein dünnes Büchlein aus seiner Badehose. Triumphierend reichte er es an Faust weiter. Der Gouverneur war zerknittert, rotäugig und unrasiert. Zudem steckte er noch in einer Kombination aus einem rot und orange-gestreiften Schlafanzug und Feuerwehrstiefeln. Seine Kameraleute brachten das Kunststück fertig, auf dem Bildschirm stets den Eindruck eines massiven Mannes mit tiefer Stimme zu erwecken. Aber das war alles nur schlau inszeniert. Die Stimme war echt, aber Faust sah kurz und klotzig aus. »Thermodynamische Diät von Doktor Janus Straker«, las er. »Tausend Dollar zahlten Sie dafür? Was für ein Handel war das denn?« Mit den
dunkelsten und glühendsten Augen, die Waldo je gesehen hatte, trieb er zwei Löcher in Waldos Seele. So etwas kam natürlich nicht durch die Kamera. »Es ist jeden Cent wert«, beharrte Waldo. »Seit der Erfindung der Zuckerersatzmittel ist das der erste wirkliche Durchbruch auf dem Gebiet der Abmagerungskur. Wenn jeder vorgeschriebene Schritt genauestens befolgt wird, garantiert der Erfinder den Erfolg sogar.« Faust war mehr beeindruckt, als ich es je gewesen bin. Aber in den letzten zehn Jahren hörte ich die Geschichte schon zu oft. Seit dem letzten Fiasko dachte ich wirklich, daß Waldo nun endlich von seiner Diätmanie kuriert wäre. Damals nannte die Katastrophe sich »Bionische Diät – eine einzige Kapsel beseitigt mühelos Ihre Probleme. Wir bauen auf fundamentale biologische Prinzipien.« Wie Waldo leider viel zu spät herausfand, enthielt die Kapsel lebende Bandwurmeier. Seine Hoffnung schwand sichtbar auf ewig, und Waldos Traum von der Bohnenstangenfigur seiner Jugend setzte sich fort. Faust schob eine schwarze Zigarre von einer Ecke seines Mundes in die andere. »Wollen Sie mir vielleicht erzählen, Burmeister, daß es zu Ihrer Diät gehört, in diesem Aufzug aufzutreten und dort draußen vor dem Dom herumzurennen?« Seine Stimme klang barsch und ungläubig. Nur harte Männer konnten sich an einem Platz wie Chryse City zur Spitze durchkämpfen. Deshalb besaß Faust auch den Ruf, ein harter Bursche zu sein, mit dem nicht zu spaßen war. An ein Interview mit ihm ranzukommen war ungefähr genauso schwer, wie ein Pokerspiel mit dem Hunnenfürsten Attila.
»Genau. Sehen Sie«, entgegnete Waldo mit dem schlimmen Eifer eines frisch Bekehrten. »Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, wird in unserem Körper in Energie umgewandelt. Entweder benützen wir diese Energie, indem wir arbeiten, Sport treiben oder sonstwas tun, oder sie verwandelt sich in Fett. Überflüssiges Gewicht läßt sich nun auf drei Arten wieder abbauen: weniger essen, mehr Bewegung, oder man versucht, den Energieüberschuß auf eine andere Weise loszuwerden. Klar?« »Soweit klingt alles plausibel«, gab Faust vorsichtig zu. Er zog an seiner Zigarre. Wie ein Schleier hing der dampfende Rauch im Zimmer, starrsinnig dem städtischen Ventilationssystem trotzend. »Aber was ist diese Thermodynamische Diät überhaupt?« »Sie beinhaltet all die anderen Möglichkeiten, wie der Körper Energie verlieren kann. Beispielsweise: ›Nehmen Sie Ihre Nahrung nur kalt zu sich. Trinken Sie viel Eiswasser – es wird Energie benötigt, um es auf Körpertemperatur zu erhitzen. Nehmen Sie kalte Bäder – auf diese Weise verlieren Sie Hitze. Trainieren Sie dort, wo es am kältesten ist‹ – das war außerhalb des Doms. – ›Sprühen Sie sich auch schwarz an, das ist die effektivste Möglichkeit der Hitzeabstrahlung. Tragen Sie außerdem nur ein Mindestmaß an Kleidung, um möglichst viel Hitze durch Verdampfung abzugeben.‹ All das steht in dem Buch.« Faust blickte auf das Büchlein. »Und Sie befolgen all den Schwachsinn, der da geschrieben steht?« Waldo sah etwas schuldbewußt aus. »Ja, fast alles. Allerdings muß ich gestehen, daß ich die Eiswasserduschen etwas vernachlässigt habe.« Faust, normalerweise ein Mann aus Eisen, schau-
derte. »Aber warum in Gottes Namen dann unbedingt in der Nacht? Es war ein Glück für Sie, daß die Wächter nicht erst schossen und hinterher gefragt hätten.« »Man verliert die Hitze viel schneller, wenn man sie in eine kalte Umgebung ausstrahlt«, erklärte Waldo. »Aber das war nicht der Hauptgrund«, führte er schließlich an, um zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen. »Glauben Sie vielleicht, daß ich mich am hellichten Tag in diesem Aufzug sehen lassen könnte?« Faust blickte auf Waldos ballonartige Figur, überall geschwärzt und von Gänsehaut bedeckt. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, aber einer ist hier verrückt. Jemand müßte angezeigt werden. Ich weiß nur nicht, ob Sie derjenige sein sollen oder der Quacksalber, der dieses Buch geschrieben hat.« »Aber Doktor Straker ist ein sehr bekannter Arzt. Die meisten respektieren ihn. Außerdem war er früher Präsident der IMA.« Nachdenklich fügte Waldo noch hinzu: »Allerdings war das vor seinem Zusammenbruch –« Ich vermute, daß für Faust hier der Punkt erreicht war, an dem er einsah, daß eine Fortsetzung des Gesprächs nichts Produktives mehr brachte. So rang er sich zu einer Entscheidung durch. »Burmeister, Sie haben alle wichtigen Persönlichkeiten, einschließlich mich, aus dem Bett gejagt. Ich könnte Sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit in den Flüssigplantagen verdonnern, und jeder würde dieses Urteil begrüßen. Aber ich bin ein freundlicher Mensch.« Waldo wartete in erschrockener Angespanntheit.
War Fausts Entgegenkommen doch weithin bekannt. »Sie besitzen einen gültigen interplanetaren Paß, nicht wahr? Gut. Ich möchte, daß Sie mir eine kleine Arbeit abnehmen. Natürlich werde ich Sie gut entlohnen. Aber nicht nur das – ich werde auch dafür sorgen, daß diese unschöne Sache von heute nacht aus den Büchern herausgenommen wird. Nicht ein Wort soll mehr daran erinnern, daß Sie der Grund für einen Großalarm waren.« Schweigend wartete Waldo. Das Kaninchen verhandelt nicht mit seinem Jäger. »Vielleicht wissen Sie«, fuhr Faust fort, »daß wir kürzlich ein kleines Problem mit der Wartungs- und Versorgungsgesellschaft hatten. Mike Maloney will es mit einem neuen Winkelzug versuchen – ein –« Bedeutungsvoll neigte er den Kopf. »Noch haben wir keine wirklichen Schwierigkeiten, nur ein paar eingeschlagene Köpfe. Aber die Lage wird sich bestimmt verschlechtern, ehe wir den Kontrakt erneuert haben. Deshalb versuche ich auf alles vorbereitet zu sein.« Beim Bewegen seiner Zigarre kaute er so fest auf ihr herum, daß Waldo erwartete, schon bald mit Fausts herausgelöstem Lungengewebe bombardiert zu werden. »Letzte Nacht«, sprach Faust weiter, »berichtete mir einer meiner Innendienstler von der Sache. Maloney will persönlich werden. Er plant die Entführung meines Sohnes, weil er auf diesem Weg Druck auf mich ausüben will.« Waldo sah sichtlich schockiert aus. »Oh, ich glaube nicht, daß er ihm etwas Schlimmes antun wird«, winkte Faust ab. »Er weiß, daß ich ihm sonst das Fell bei lebendigem Leibe abziehen würde.
Trotzdem glaubt er hier eine gute Möglichkeit gefunden zu haben, mich matt zu setzen. Aus diesem Grund werde ich Werther von hier wegbringen. Ich rang mich zu dem Entschluß durch, ihn zu meiner Familie auf die Erde zurückzuschicken. Schließlich war er lange nicht mehr dort. Das Problem liegt darin, daß er erst zehn ist. Eigentlich müßte ich auf ihn aufpassen. Ich brauche jemand, der Maloneys Verein nicht auffällt. An diesem Punkt des Problems geriet ich ins Stocken – bis Sie des Weges kamen. Ich biete Ihnen zehntausend Dollar, wenn Sie Werther sicher zur Erde bringen. Außerdem würde die kleine nächtliche Episode keinerlei Folgen für Sie haben. Machen Sie mit?« Sieht man einmal davon ab, daß Waldo sich mit seinem Diätwahnsinn laufend in Schwierigkeiten bringt, so ist er ansonsten eher vorsichtig. Er überdachte die Situation im Geiste und sah dabei absolut klar. Einer hübschen Raumreise zur Erde und einem reichlichen Batzen Geld standen zehn Jahre in den Flüssigplantagen gegenüber – falls er die überhaupt überlebte. Allerdings konnte er Kinder normalerweise nicht leiden, aber das war nur ein kleiner Schönheitsfehler. Also nickte er. »Wann reisen wir ab?« »Noch diese Nacht. Die Flugscheine liegen schon ausgefertigt am Raumhafen. Jede verstreichende Stunde macht es schwerer, ohne Maloneys Wissen von hier zu verschwinden. Duschen Sie sich, holen Sie Ihr Zeug und seien Sie in fünfzehn Minuten zurück. Inzwischen hole ich Werther.« Als Waldo zurückkehrte war ein Kind bei Armando Faust, das all die Eigenschaften zu besitzen schien,
die Faust selbst abgingen. Der Junge war blond, blauäugig, besaß ein süßes Gesicht und sah überhaupt sehr sympathisch aus. Im Namen der Familienharmonie hoffte Waldo, daß der Junge nach seiner Mutter kam. Der Kleine trug einen Handcomputer, eines der milliardenfach gebauten Modelle. Scheu grinste er Waldo an. »Das ist Werther«, stellte Faust seinen Sohn vor. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der alberne Ausdruck des stolzen Elternteils. »Im nächsten Monat werdet ihr euch häufig sehen, deshalb ist es nötig, daß ihr euch genau kennenlernt.« Waldo blickte Werther an. Der Junge spielte schweigend mit seinem Handcomputer. »Ich bin erfreut, dich zu treffen, mein Junge«, sagte er herzlich. Werther beendete seine Berechnungen und begann erst jetzt zu sprechen. Seine Stimme war ein klarer, musikalischer Sopran. »Ich schätze Ihre Größe auf einen Meter achtzig und ihr Alter auf dreiundvierzig«, begann er. »Außerdem berechnete ich, daß Sie annähernd vierzig Kilo Übergewicht haben. Dieser Umstand dürfte Ihre Lebenserwartung um neun Komma zwei Jahre verkürzen. Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie Probleme mit dem Kreislauf und Plattfüße bekommen werden, steigt um achtunddreißig Prozent, und im Alter von neunundvierzig Jahren dürften Sie völlig impotent sein.« Schlagartig verstummte Waldo. Sein Blick traf Armando Faust. Schon erwartete er das elterliche Donnerwetter, das auf den Jungen niederprasseln mußte. Jedoch schüttelte Faust nur seinen Kopf und grinste
nachsichtig. »Es ist wunderbar, was er alles aus diesem kleinen Computer herausholen kann. Ich sage Ihnen – in einigen Jahren wird er weltberühmt sein.« »Nun, Werther«, fuhr er fort. »Ich hoffe, daß du mit allem fertig bist.« Werther lächelte wie ein Engel. »Ich will nicht ohne Bismarck gehen«, beharrte er. Faust runzelte die Stirn. »Ich sagte dir doch schon, daß er dich nicht begleiten kann, Werther. Mach dich fertig. Du wirst mit Herrn Burmeister losfliegen.« Werther bewegte sich nicht. »Ohne Bismarck will ich nicht gehen«, wiederholte er betont. Faust sah Waldo an. Hoffnungslos zuckte er die Achseln. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Aber Sie haben ihn ja gehört. Ohne Bismarck will er nicht gehen. Sie werden eben auf beide aufpassen müssen.« Vor langer Zeit hatte Waldo eine gute Erziehung genossen. Die plötzliche Vision eines interplanetaren Fluges vom Mars zur Erde befiel ihn, begleitet von Werther und der mumifizierten Leiche des Eisernen Kanzlers. Doch ehe er noch nach Details fragen konnte, hatte Werther schon die innere Tür geöffnet und rief hinaus: »Bismarck! Komm!« Waldo war sowohl erleichtert wie erschrocken, als plötzlich ein großer Hund eintrat. Am Kopf sah er aus wie ein gewöhnlicher Cockerspaniel, aber ab der Mitte des Brustkorbs zeichneten sich einige schrecklich mißgestaltete Wirbel ab, und die weißen Seiten mit den schwarzen Flecken definierten das Tier schließlich als einen Dalmatiner. Bismarck wedelte heiter mit seinem langen, bu-
schigen Schwanz, ohne sich seiner ungewöhnlichen Erscheinung bewußt zu sein. Er rannte auf Waldo zu und schnüffelte interessiert an dessen Hosenbeinen. »Er lernt gerade Ihren Geruch kennen«, bemerkte Werther. »Wenn er ihn einmal aufgenommen hat, wird er ihn nie mehr vergessen. Nein! Böser Hund!« fügte er schnell hinzu, als Bismarck sein Hinterbein hob und Waldos Hosenbein auf seine ganz persönliche Art und Weise zu kennzeichnen begann. »Werther züchtete ihn selbst«, erzählte Faust stolz. »Er nahm die genetischen Strukturen und reichte sie bei MUTANTS LTD. ein. Die Firma führte die entsprechenden Kreuzungen durch. Bismarck ist ein Muster an Intelligenz und der beste Spurenleser. Werther möchte gerne einen Superbluthund aus ihm machen.« Waldo sah Probleme auf sich zukommen. Einen fügsamen Zehnjährigen von Chryse City aus zur Erde zu begleiten war eine Sache. Aber ein Ungeheuer von einem Wunderkind, über die Maßen verwöhnt, zusammen mit seinem zweifelhaften, hausgemachten Hund zu eskortieren, das war etwas anderes. Je früher dieser Auftrag erledigt war, desto besser. Seit vielen Stunden hatte Waldo schon nichts mehr gegessen, und außerdem bekam ihm die schlechte, tabakschwangere Luft nicht. Plötzlich verspürte er das große Bedürfnis, Fausts Räumlichkeiten zu verlassen und sich auf den Weg zu machen. So erhob er sich. »Denken Sie daran«, ermahnte ihn Faust: »Halten Sie die Augen offen, und achten Sie auf Maloneys Männer. Sie werden erst wirklich sicher sein, wenn Sie sich auf dem Schiff befinden. Teilen Sie sich keine Lufttaxis mit Fremden, und vermeiden Sie größere
Menschenmengen, wo Sie können. Sobald ich erfahren habe, daß Sie glücklich zur Erde gelangt sind, bekommen Sie Ihre Prämie.« Anschließend sagte er Werther ein zärtliches Lebewohl. Waldo und Bismarck ernteten ein gewöhnliches Nicken. Schließlich liefen sie über den Korridor auf den Aufzug zu. Die Kabine kam leer an. Sie stiegen ein, und Waldo sprach die Nummer der Etage, auf der sie aussteigen wollten. Als er das tat, knurrte Bismarck. Durch die beiden Eingaben verwirrt, bewegte der Computer den Aufzug nicht. Bismarck knurrte noch mal, und Waldo blickte ihn ärgerlich an. »Kannst du ihm nicht bedeuten, daß er still sein soll, Werther?« begann er, doch da fiel ihm auch schon die weiße Dunstfahne auf. Sie quoll aus dem unteren Ventilatorgitter heraus. Waldo dämmerte, daß Mike Maloney als Kopf der Wartungs- und Versorgungsgesellschaft auch für das System der Aufzüge von Chryse City mitverantwortlich war. Aber diese Erkenntnis kam zu spät. In manchen Punkten unterscheidet sich Waldos Bericht der späteren Vorfälle von den hier geschilderten Ereignissen. So sagte Waldo beispielsweise, daß seine Entführer ihm drei Tage lang nichts zu Essen gaben, und natürlich mußte er die eine oder andere Mahlzeit missen. Aber das war wohl mehr seine eigene Schuld. – Doch machen Sie sich selbst ein Bild: Für ein paar Stunden setzte ihn das Narkosegas außer Gefecht. Schließlich erwachte er irgendwo in Chryse City in einem verschlossenen Zimmer. Sicher wäre es unpassend zu sagen, daß die Unterkunft sehr
unpersönlich eingerichtet worden war, zumal dank der hier verwendeten Einheitskonstruktionen ohnehin jeder Raum wie der andere aussah. So hatte er natürlich keine Ahnung, wo er sich befand. Das Zimmer beinhaltete nur ein Bett, einen Stuhl, einen Tisch und die üblichen Sanitäreinrichtungen. Zwei Türen gab es, beide verschlossen. An beiden rüttelte Waldo ein wenig, mehr oder weniger hoffnungslos. Um so erstaunter reagierte er, als hinter der einen Tür Werthers unverwechselbare Stimme erklang. »Burmeister, Sie erwachten als letzter«, sagte er. »Endlich können wir von hier verschwinden!« »Woher wußtest du, daß ich hier bin?« fragte Waldo überrascht. Dabei bückte er sich und hielt ein Ohr gegen die Tür. »Bismarck kann Sie durch die Tür hindurch riechen. Sehen Sie, die Flucht wird kaum schwer werden. Die Pläne der Stadt liegen in jedem Tischzeichner aus. Sie wissen schon – die Standardausrüstung für den Notfall B: Luftverlust. Befreien Sie sich, und ich sage Ihnen, was wir tun werden.« »Aber das nützt nichts«, wandte Waldo ein. »Wir wissen doch gar nicht, wo wir sind!« »Richtig, aber ich habe meinen Computer bei mir. Es ist das ›Problem des reisenden Händlers‹, erinnern Sie sich? Ich besitze das Programm –« Waldo hielt inne und rannte rasch zu seinem Bett zurück. Die andere Tür seines Raumes wurde aufgestoßen. Zwei Männer in den anonymen, grauen Uniformen der Versorgungsleute traten ein. »Das habt ihr euch gedacht!« sagte der erste der beiden. »Wir werden sie trennen müssen«, wandte er
sich an seinen Kollegen. »Ich glaube nicht, daß jemand bei dem jungen Faust gut aufgehoben ist.« »Wir sind lieber vorsichtig«, erwiderte sein Begleiter. »Maloney zieht uns das Fell über die Ohren, wenn Faust Junior verlorengehen sollte. Der Junge ist unsere absolute Trumpfkarte.« »Das ist er in der Tat«, meinte der schlanke Mann. Er deutete auf Waldo. »Aber was sollen wir mit dem Fettsack da anfangen? Wir bringen ihn besser woanders unter, dann können sie sich nicht mehr unterhalten. Kommen Sie mit«, wandte er sich an Waldo, »wenn Sie etwas komfortabler wohnen wollen.« Damit griff er seinen Elektroschocker fester und ging hinaus. Rasch lief Waldo zur verriegelten Tür zurück. »Keine Angst, Werther«, flüsterte er hastig. »Ich werde alles überdenken. Ich hole uns hier heraus, sobald du dich ein wenig entspannt hast. Au!« schloß er, als der Elektroschock sich kurz, aber wirkungsvoll, durch sein Hinterteil pflanzte. »In Ordnung, ich geh ja schon. Das hätten Sie nicht zu tun brauchen, Sie Barbar!« Wie ein Schaf wurde Waldo hinausgetrieben. Sie brachten ihn in ein anderes Zimmer, wo er außer Werthers Hörweite war. »Verhalten Sie sich ordentlich«, sagte einer der Entführer, »dann bringen wir Ihnen vielleicht irgendwann am Spätnachmittag auch etwas zu essen. Wenn Sie aber zu laut sind, dann lassen wir Sie von Ihrem Fett zehren.« Sie wußten nicht, daß ihnen ein großer Fehler unterlaufen war. Nur wenige Dinge im Leben vermögen Waldo zu körperlichen Höchstleistungen anzuspor-
nen, aber dazu gehört zufällig auch die Drohung eines Nahrungsentzugs. Wie er mir gegenüber in manch philosophischer Laune gelegentlich bemerkte: »Hunger schärft das Gehirn!« Für gewöhnlich kam diese Bemerkung nach einem umfangreichen Essen, bei dem er wie üblich für drei gespeist hatte. Die Einrichtung des neuen Zimmers war mit dem des alten völlig identisch. Waldo erinnerte sich an Werthers Bemerkung und ging zum Tischzeichner. Ein Ordner mit Schemazeichnungen verdeutlichte die Hauptversorgungsanlagen von Chryse City in ihrer ganzen monströsen Komplexität. Luft, Wasser, Kanalisation und Energie waren bis ins kleinste Detail eingezeichnet. Deutlich war die Verflechtung eines jeden Apartments mit den Hauptleitungen und den Versorgungssystemen zu erkennen. Waldos Wahl der Möglichkeiten war begrenzt. Energie und Wasser wurden in sehr engen Röhren angeliefert. Das Lufterneuerungssystem hinter dem Wandventilator besaß nur einen Durchmesser von fünfzig Zentimetern. Um da hindurchzukommen hätte sich Waldo wie Zahnpasta in der Tube zusammenquetschen müssen. So verblieb als einzige Alternative nur noch das Abwassersystem. Die Rohre am Anfang hatten einen Durchmesser von einem Meter, aber unterhalb des Apartments verzweigten sie sich und mündeten in ein größeres Rohr. Von da an variierte die Größe bis zum Erreichen des Zentralen Kanalsystems. Dank einer unglücklichen Episode in der Vergangenheit war Waldo die Kanalisation nicht fremd. Grimmig nahm er die Pläne zur Hand und begann den Weg durch das Rohrlabyrinth zu überdenken.
Zwei Probleme gab es: Da er nicht wußte, wo er war, konnte praktisch jeder Platz als Ausgangspunkt für seine Planung gelten. Außerdem mußten Maloneys Männer irgendwo sein. Leicht würde er ihnen nicht entkommen können. Zuerst mußte er sich einen sicheren Platz suchen – am besten möglichst nahe bei Fausts Privatunterkunft. Über seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort stellte er die wildesten Vermutungen an. Wohin sollte er sich wenden? Mit Bleistift und Notizbuch setzte er sich hin und arbeitete einen Streckenplan aus. Es wurde eine lange Sitzung. Eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Irrtümern ließen sich hier nicht vermeiden. Nachdem Waldo fünf Stunden lang Einzelheiten herausgeschunden hatte, war alles getan, was in seiner Macht lag. Der ungefähre Weg war eingezeichnet. Außerdem hatte er alle Bedingungen notiert, die die Route mit sich brachte: die Wendepunkte, die unterschiedlichen Durchmesser mancher Rohre und alle sonstigen wichtigen Informationen. Nach einer abschließenden Eintragung steckte er das Buch in die Tasche. Hätten seine Entführer ihm jetzt ein großartiges Mittagessen serviert – sicher hätte Waldo alle Pläne fallenlassen. Aber es schien, als hätten sie ihn vergessen, und so entschloß er sich, seine Planung fortzusetzen. Unter größten Mühen hob er die Toilettenschüssel aus dem Sockel. Ein dunkler, tiefer Abgrund erstreckte sich zu seinen Füßen. Vorsichtig schraubte er die Handlampe aus dem Tischzeichner. Wegen möglicher Stromausfälle war sie dort integriert worden.
Anschließend riß er das Bettuch in Streifen und ließ die Lampe in das Loch sinken. So weit er sehen konnte, schätzte er den Durchmesser in der ersten Etappe auf einen Meter oder weniger. So weit konnte er sich auf Armeslänge hinuntersinken lassen. Gedacht – getan. Schon kletterte er in das Loch, aber es war etwas enger, als er angenommen hatte. – Doktor Strakers Thermodynamische Diät hatte doch weniger für Waldo getan, als er sich erhofft hatte. Noch einmal zog er sich heraus, legte sein Jackett ab und quetschte sich erneut in das Loch. Eine Sekunde hing er so, dann rutschte er in das Rohr. Nur schwer vermochte er die Balance wiederzuerlangen. Vorsichtig griff er nach der Lampe. Von diesem Punkt an dürfte sich die weitere Prozedur zwar als einfach, aber auch als überaus langweilig erweisen, dachte Waldo: dem eingezeichneten Weg folgen, auf die aufnotierten Zeichen und Hinweise achten, mit der Lampe alles ausleuchten, den Zentralkanal suchen und von dort einen Ausgang finden. Dabei konnte er dann die Zugänge und Schleichwege der Versorgungsleute benutzen. Faust persönlich anrufen und ihm mitzuteilen, daß sein Sohn entführt worden war, dürfte sich als kleinste Schwierigkeit erweisen. Über den Platz, wo man ihn gefangengehalten hatte, mußte er Faust soviel Informationen wie möglich vermitteln. Anschließend würde er den Gouverneur treffen und sich mit ihm zusammen auf die Suche nach Werther machen. Leider gab es da noch ein Kernproblem: Die Informationen über den weiteren Weg standen alle im Notizbuch. Leider befand sich das Büchlein aber in Waldos Jackentasche, und das Jackett war im Zimmer
zurückgeblieben. Ohne dieses Ding hatte er nun einmal besser in die Rohrleitung gepaßt – Aber abgesehen von dieser Kleinigkeit war alles in bester Ordnung. Doch ja – da war noch eine Sache: Die Wartungsarbeiten der Versorgungsleute hatten in letzter Zeit etwas unter dem erforderlichen Anspruch gelegen. Als Waldo weiterrutschte fing die Lampe rasch zu verblassen an. Schließlich ließen die geleerten Batterien den Glühfaden nur noch wie ein müde gewordenes Glühwürmchen leuchten. Waldo stand in dem schmutzigen, glitschigen Rohr und starrte auf das erleuchtete Loch über sich. Es lag nicht höher als einen Meter über seinen ausgestreckten Händen. Bei der geringen Schwerkraft wäre das normalerweise kein Problem gewesen. Unglücklicherweise war der Raum aber sehr beengt und der Grund unberechenbar, so daß Waldo nicht richtig springen konnte. Nach einigen verzweifelten und erfolglosen Versuchen empfand er die erleuchtete Öffnung über sich als so weit entfernt und unzugänglich wie den Alpha Centauri. Da er nicht zurück konnte, blieb nur der Weg nach unten. Auf sein Glück und sein Gedächtnis vertrauend, welche ihn schon erfolgreich durch die Kanalisation von Chryse City bringen würden, drückte er sich weiter nach unten. Tapfer bewegte er seinen Körper durch die Dunkelheit. Dabei wählte er die Wendepunkte und Verzweigungen aufs Geratewohl. Der Schwierigkeitsgrad war ungefähr der gleiche, dem ein Schimpanse ausgesetzt wäre, dem man eine Schreibmaschine vorsetzt, damit er Shakespeares Gesammelte Werke abtippe.
Die verlöschende Handlampe war nutzlos. Nach einigen Minuten warf Waldo sie in die Dunkelheit und sandte ihr einen Schwall von Flüchen hinterher. Er rutschte weiter. Manchmal durchquerte er schlanke, weite Schächte, die sich unter seinen Füßen völlig trocken anfühlten. Gelegentlich schlug er mit dem Kopf gegen die niedrige Decke eines Rohres, und hin und wieder spritzte ihn etwas naß, von dem er hoffte, daß es sich nur um Wasser handeln mochte. Hätte er eine Wahl gehabt, dann hätte er versucht, »bergab« zu gelangen, in der Hoffnung, dort eine der Zentralkloaken zu erreichen. Jedes dieser Systeme war großzügig beleuchtet. Außerdem besaß es mehrere Zugänge zu den außerhalb liegenden Korridoren. Durch seine eigene Schwermut und gewundene, bemooste Wege kämpfte Waldo sich entschlossen weiter. Wie er sagte – die Alternative zu diesem Vorgehen war nicht die beste. Es war kaum die ideale Situation zum Ausruhen und sich hinlegen. Eine Tatsache wurde zunehmend deutlicher: Abwasseranlagen sind nicht kalt. Die Gleichförmigkeit einer kalten und klammen Atmosphäre entsteht nicht, wenn die Leute genug Energie zum Heizen haben. Waldo verglich die Kanalisation von Chryse City mit einer mittleren Sauna. Nach drei oder vier Stunden wurden seine Beine schwer. Überhaupt fühlte er sich schwach wie eine gestrandete Qualle. Ich kenne Waldo sehr gut. Seit der frühesten Schulzeit sind wir Freunde und Partner. So glaube ich ihm, wenn er sagt, daß er schon nicht mehr daran glaubte, je einen Ausgang zu erreichen. Er fing an, sich den Limerick über den jungen Mann namens Clyde zu
vergegenwärtigen, welcher in einen Abwasserkanal gefallen und gestorben war. Und als er schließlich doch noch einen Knotenpunkt erreichte und weit weg zu seiner Linken ein mattes Licht schimmern sah, konnte er es kaum glauben. Benommen taumelte er darauf zu, bis er an ein enges Rohr kam. Auf Händen und Knien kroch er weiter, mußte seinen Körper schließlich extrem strecken. Mühsam bewegte er sich voran. Waldo hatte eine der Zentralen Kläranlagen erreicht, wo viele der Rohre ihren Inhalt entleeren. Unglücklicherweise hatte er eines erwischt, dessen Durchmesser sich am Ende verjüngte. Dort durchmaß es nicht mal mehr einen halben Meter. Er krabbelte weiter, spürte die Wände fester und enger werden, und drei Meter vor dem Ende blieb er schließlich stecken. Nicht unter größten Anstrengungen und Stößen gelang es ihm, sich auch nur einen einzigen Millimeter vorwärts zu bewegen. Doch als er dies erkannt hatte und seine Bemühungen auf die Gegenrichtung verlegte, ging auch dort nichts mehr. Verbittert mußte er feststellen, daß auch hier kein Millimeter mehr zu gewinnen war. Er saß fest. Hier lag er nun und fühlte, daß ihn nur noch wenige Meter von Sicherheit und Bequemlichkeit trennten. Hier irrte er aber. Das Rohr mündete zehn Meter über dem Boden des Sammelteichs. Direkt unter diesem Mündungspunkt saß ein scharfer Metallfilter. Hätte Waldo es geschafft, das Ende des Rohres zu erreichen und hinauszuspringen – er wäre in Streifen geschnitten worden. Sein Problem war noch ein wenig schwieriger, als er ahnen konnte.
Soviel ich berichten kann, steckte Waldo tatsächlich über acht Stunden lang in dem Rohr fest. Ich stritt mich nicht mit ihm, als er sagte, daß ihm selbst diese Zeit wie fünf oder sechs Tage vorkam. Nach den ersten paar Stunden bemerkte er einen neuen Faktor: Irgend etwas drückte ihn fest von hinten, delikaterweise auch noch auf seine Unterleibsregionen. Nach einigen Minuten des Durcheinanders dämmerte ihm, daß er hier die Einrichtung der computergesteuerten und vielgerühmten Rohrreinigungsautomatik am eigenen Leib erfuhr. Sobald nämlich im Abwassersystem von Chryse City eine Verstopfung auftritt, geschehen zwei Dinge: In der Absicht, die Sperre freizublasen, steigt der Luftdruck in dem betreffenden Rohr stetig an. Sobald hier ein bedrohlicher Wert erreicht wird, schaltet sich der Kontrollcomputer der Zentralversorgung ein. Für diese Maschine war Waldo nur einer der vielen Abfallstoffe, ein Stück Dreck, das eine wichtige Leitung blokkierte. Ständig nahm der Druck zu. Der Anstieg setzte sich fort. In der Hitze schwitzte Waldo übermäßig. Nach vielen Stunden war der kritische Punkt erreicht, an dem die tangentialen Kräfte die der Reibung überschritten. Wie ein gut geöltes Geschoß wurde Waldo plötzlich mit zunehmender Geschwindigkeit durch das Rohr geschleudert und schließlich in den Raum hinausgefeuert. Er flog über den Sammelbehälter hinaus, schwebte einen Augenblick in der Luft, entdeckte den Metallfilter und fiel schließlich wie eine Sternschnuppe vom Zenit. Platschend landete er im Abwasserteich. Die daraus resultierende Flutwelle genügte, um die beiden
Männer des Überwachungspersonals zu überschwemmen. Sie waren eben erst angekommen, um nach dem Grund der Blockade zu sehen. Gleich darauf fischten sie ihn heraus. Die drei taumelten auf den Versorgungskorridor hinaus. Keiner sprach, obwohl es genug Grund zum Fluchen, Husten, Sprudeln und Spucken gab. Waldo überlegte fieberhaft, wie er seine Begleiter abschütteln konnte. Schließlich mußte er ein Videophon finden, um Faust anzurufen. Gleich darauf gelangten sie an eine verschlossene Tür neben dem Hauptkorridor. Einer der Wartungsmänner stieß sie auf. »Der Junge ist in Ordnung«, sagte er zu jemandem hinter der Tür. »Er hat die Blockade verursacht. Hier ist er. Sie sind ihm herzlich willkommen.« Sie stießen Waldo durch die Tür und gingen weiter, um sich zu duschen. In dem Raum saßen Faust und Werther an einem langen Tisch. Zu ihren Füßen lungerte Bismarck. In gegenseitigem Unglauben starrten Faust und Waldo sich an. Bismarck erhob sich, kam auf Waldo zu und schnupperte verwirrt an ihm herum. Zuerst behandelte er den Ankömmling mit unversöhnlicher Geringschätzung, doch dann fing er versuchsweise an, mit dem Schwanz zu wedeln. Irgendwie ähnelte der Hund einem Kunstkritiker, der die schwache Skizze eines alten Meisters mit einer viel moderneren Grafik eines geringeren Malers verglich. Vielleicht sollte der alte Meister noch mal das Bein heben? »Er ist es«, sagte Faust. »Tatsächlich – es ist wirklich Burmeister. Du hattest recht, Werther. Nein!« fügte er hastig hinzu und rümpfte die Nase. »Bleiben Sie dort drüben bei der Tür sitzen. Ich weiß, daß Sie
den Zigarrenrauch nicht mögen.« Waldo fiel auf einen Stuhl. Ihm lagen so viele Fragen auf der Zunge, daß er nicht wußte, wo er anfangen sollte. Wie war Werther freigekommen? Warum verhielten sich die Wartungsleute gegenüber Faust plötzlich so freundlich, obwohl sie um ihren Kontrakt zu kämpfen hatten? Wieviel Zeit mochte seit der Entführung verstrichen sein? Er brauchte viele Erklärungen, aber noch mehr benötigte er Ruhe. Werthers kindliches Organ störte seine Gedanken. »Sie hätten zu mir flüchten sollen«, begann er mißbilligend. »Für solch eine Aktivität waren Sie geistig doch gar nicht genügend ausgerüstet. Schließlich hatten Sie keinen Computer bei sich.« »Computer? Was hat ein Computer damit zu tun?« fragte Waldo schwach. Dieser Hieb auf seine intellektuelle Kapazität kränkte ihn genauso, wie die frühere Bemerkung über seine Impotenz. »Alles. Ohne ein Mindestmaß an systematischer Berechnung stehen die Chancen, einen Weg durch das Nutzungssystem der Stadt zu finden, gleich Null. Eine Ausnahme stellt Bismarck dar, aber ich mußte trotzdem noch eine Menge zusätzlicher Faktoren in Betracht ziehen, um auch wirklich gut zu Hause anzukommen. Sind Sie sich dessen überhaupt bewußt, daß die achtzehntausend Knoten des Nutzungssystems mehr als zehn hoch sechsundsechzig mögliche Wege auf einer Treffer-und-Nieten-Basis zulassen?« Waldo wußte das nicht. Überdies kümmerte es ihn nicht weiter. Überdrüssig schloß er die Augen. Er hatte sich nicht durch Tage der Angst gequält, war nicht durch das Abwassersystem geflüchtet, um schließlich auch noch Belehrungen von einem min-
derjährigen Zwerg einstecken zu müssen. Da traf ihn plötzlich ein Gedankenblitz. Interessiert öffnete er die Augen wieder. »Soll das heißen, daß du auch in den Kanälen warst? Aber ich habe dich dort doch gar nicht gesehen –« »Natürlich nicht, weil wir nicht dort waren. Welch eine umwerfende Idee! Wir kletterten durch das Lufterneuerungssystem. Um die Route auszurechnen, benützte ich das Hauptschema. Es war ein indirektes, unlineares Programmierungsproblem.« Erneut schloß Waldo die Augen. Die Ausführungen des Kleinen versprachen schlimm zu werden. »Als objektive Funktion setzte ich den Fluchtweg gegen den Hauptschacht«, fuhr Werther fort. »Irgendwann münden dort sämtliche Rohre ein. Dann verkleinerte ich alles, indem ich einen halbheuristischen Algoritmus einsetzte, den ich letztes Jahr selbst für das ›Problem des Reisenden Händlers‹ entwickelt habe. Einfach war es nicht. Mein Handcomputer benötigte drei Stunden, um eine optimale Strategie auszurechnen. Als ich die erforderlichen Daten besaß, montierte ich das Luftgitter ab, setzte Bismarck in den Schacht und machte mich auf den Weg.« Bewundernd schüttelte Faust den Kopf. »Können Sie das fassen, Burmeister?« fragte er. »Rechnet der den besten Weg mit dem Minicomputer aus – von zehn bis unendlich vielen Möglichkeiten! Dabei war das noch nicht einmal der beste Teil der Geschichte. Mach weiter, Werther, erzähl ihm den Rest.« Streng bemerkte Werther: »Ich würde es nicht sehr schätzen, Vater, wenn du mich noch mal unterbrichst!«
Faust sah verlegen aus. Waldo verstand nicht, wie dieser Mann, der die zähesten Burschen zum Frühstück verspeiste, seinem Zehnjährigen gegenüber so sklavisch ergeben sein konnte. Dieser Umstand ließ Waldos Abneigung gegen kleine Kinder noch wachsen – besonders gegen solche superschlauen Bengel! »An dem Punkt, wo alle Rohre zusammentreffen«, berichtete Werther weiter, »mußte ich eine andere Strategie einschlagen. Bei einem schwierigen Problem muß man alle verfügbaren Mittel einsetzen. So führte ich Bismarck zu jedem der Hauptluftzweige, die in den Zentraltunnel münden. Bei jedem Rohr sagte ich ›Heim‹ zu ihm. An der vierzehnten Mündung fing er mit dem Schwanz zu wedeln an. Ich hatte nämlich vermutet, daß das charakteristische Aroma von Vaters Zigarren stark genug sein durfte, um sich noch bis zum Zentraltunnel hinzuziehen.« »Die werden allein für mich in Pittsburgh, Pennsylvania, angefertigt«, bemerkte Faust und hielt seine brennende Zigarre hoch. »Jede einzelne von ihnen wird von einem Blatt Scranton-Tabak der höchsten Qualität umwickelt.« Ja, dachte Waldo, und gegen den Oberschenkel eines Stahlarbeiters gerollt, damit sie auch entsprechend riechen. Glücklicherweise war er zum Sprechen zu müde. Er entwickelte Werther gegenüber einen Respekt, den er dem Knaben gar nicht gönnte. Der Bengel hatte noch eine große Zukunft vor sich, wenn ihn nicht vorher irgendein Wohltäter der Öffentlichkeit aus dem Weg räumte. »Vater! Eben sagte ich dir doch, daß du mich nicht unterbrechen sollst«, mahnte Werther in warnendem Ton. »Ich war eben dabei zu berichten, daß wir die
von Bismarck auserkorene Hauptverzweigung nahmen. Anschließend führten wir an jeder weiteren Gabelung die gleiche Prozedur durch. Ohne größere Probleme führte mich Bismarck zum Apartment, wo ich Vaters Aufmerksamkeit erregen konnte. Durch das Entlüftungsgitter ließ er uns ein.« Aber noch ergab vieles für Waldo keinen Sinn. »Aber wie schafften Sie es, die Wartungsleute dazu zu bewegen, mir herauszuhelfen?« wollte er wissen. »Ich dachte, diese Leute wären mit Ihnen verfeindet.« »Auch das hat Werther erreicht«, sagte Faust. »Wissen Sie, auf dem Rückweg hierher –« Unter dem strengen Blick seines Sohnes verhielt er im Wort. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, meinte der Sprößling, »auf dem Weg zum zentralen Lufttunnel passierten wir eine Unzahl fremder Apartments. Durch die Luftgitter konnten wir sowohl hören als auch sehen, was darin so alles vorging. In einem davon bot sich uns die Gelegenheit, Herrn Maloney zu beobachten. Eine Dame war bei ihm, und sie beschäftigten sich mit gewissen Spielchen, welche Erwachsene offenbar ganz besonders zu reizen vermögen. Da mein Computer auch ein Aufzeichnungsmodul besitzt, fiel mir nach einigen Minuten ein, daß ich eigentlich durch die Maschen des Gitters hindurch eine Bild- und Tonaufzeichnung anfertigen könnte. Die Qualität ist nicht besonders, aber für unsere Zwecke reichte sie völlig aus. Das Restliche darfst du erklären, Vater«, sagte er großzügig zu Faust. »Gut, nun, diese Dame bei Mike Maloney – ich weiß nicht, warum ich das Wort ›Dame‹ verwende, in Anbetracht der Dinge die sie tat – war die Frau eines
sehr engen Freundes von Jake Gregg, des Chefs der Transportgesellschaft. Zufällig ist Jake auch ein hübscher und muskulöser Junge, was mir sehr gelegen kam. Ohne lange zu zögern, rief ich Mike an. Prompt kam er auch herüber, und wir spielten das Band ab. Anschließend hatten wir eine sehr nette freundliche Plauderei, und auf der Stelle unterschrieb er den Kontrakt, den wir benötigten. Mike versicherte mir, daß er wirklich ein guter Freund von mir sei, und entschuldigte sich für die Taten seiner Männer. Natürlich waren Sie und Werther gegen seine ausdrückliche Anweisung entführt worden. Anschließend rief er seine Leute an, damit sie sich um Ihre Befreiung kümmerten. Daraufhin mußten diese ihm berichten, daß Sie in das Abwassersystem entkommen waren. Natürlich hatten sie auch schon den Druckanstieg in einer der Sektionen bemerkt. Innerhalb von zwei Sekunden fand Werther heraus, was geschehen war, und so kamen wir herüber, um Sie herauszuholen.« »Vergiß nicht, ihm das mit der Prämie zu sagen, Vater.« »Ach ja. Ich sagte, daß Sie Werther zur Erde bringen sollen, um die Prämie zu erhalten. Das sind über eine Million Kilometer, aber immerhin haben Sie schon ein Milliardstel des Weges zurückgelegt – Werther fand nämlich heraus, daß die Entführung die Krise beseitigt hat, und deshalb möchte er nicht mehr zur Erde. So schlug er mir vor, daß ich Ihnen wegen Ihrer Bemühungen die halbe Prämie ausbezahlen soll. Was halten Sie davon, Burmeister? Burmeister? Verdammt will ich sein, Werther – ich glaube, er ist eingeschlafen!« Das stimmte tatsächlich. Während Fausts Rede
hatte es Waldo geschafft, alle möglichen Teilchen, wie verbogene Metallstücke, zerbrochenes Steingut und andere undefinierbare Klümpchen aus seinem Hemd und seinen Hosen zu entfernen. Den ganzen Krempel hatte er im Sammelbecken abbekommen, und nur die dadurch verursachte Unbequemlichkeit hatte ihn bisher noch wachzuhalten vermocht. In seinem Innern verspürte er einen gewaltigen Aufruhr. So mußte er einige Male aufstoßen, weil sein Magen eine größere Schlacht mit einem Teil des Sammelbeckeninhalts ausfocht. Aber nicht einmal das hielt ihn davon ab, die Augen zu schließen. Manches war von ihm versucht worden, einiges getan, und damit hatte er sich seine Nachtruhe redlich verdient. Waldo schlief. Es dauerte eine Weile, bis Waldo sich von seiner Feuerprobe erholt hatte. Irgendwo auf seiner Reise durch die Abwasserrohre hatte er sich zudem noch eine Ruhr geholt. Während seiner Genesungsphase riß ein konstanter Strom von Besuchern nicht ab. Die ganze Geschichte, einschließlich des Jungen, des Hundes und des Mannes auf ihren schwierigen Ausflügen durch das Nutzungssystem von Chryse City, gefiel dem Publikum. Besonders Waldos spektakulärer Austritt aus dem letzten Rohr belegte sämtliche Schlagzeilen: »MENSCHLICHER KORKEN BESTEHT FEUERPROBE IM TUNNEL«, besagte die eine; »MENSCHLICHE KANONENKUGEL NACH TODESMUTIGEM FLUG SANFT GELANDET«, berichtete eine andere. Waldo war berühmt. Natürlich wollten sich die Zeitungsleute auf lange Sicht nicht nur um Waldo kümmern. Auch Werther war interessant. Der behandelte die Reporter jedoch
wie die letzten Idioten und regte sich über jede Kleinigkeit furchtbar auf. Jeden Druckfehler lastete er den Zeitungsleuten an. Waldo nahm alles gelassener hin, zumal sein Bankkonto, das durch Fausts Prämie ohnehin gut gefüllt war, stündlich wuchs. Geschäftstüchtig wie er war, ließ er sich von allen Massenmedien die gegebenen Interviews bezahlen. Auch die Buchrechte an seinem Abenteuer verkaufte er für ein fürstliches Honorar. Inzwischen hat er auch schon Verhandlungen mit einem Filmproduzenten aufgenommen. Ein Hologramm-Kinofilm soll auf Waldos Geschichte basieren. Wissen Sie jetzt, was ich mit dem Begriff »Evolution« meinte? Waldo weist keine der bekannten Merkmale auf. Gut, vielleicht besitzt er eine gewisse blinde Beharrlichkeit, aber für gewöhnlich landet er immer auf beiden Füßen. Es ist immer so. Mich überzeugt dies davon, daß die eigentlichen genetischen Auslesekriterien in unseren Tagen nicht Geschicklichkeit, Intelligenz oder manch andere der gängigen Tugenden sind. Heute ist der Unterhaltungswert das wichtigste. Wenn Sie davon etwas besitzen, kommt all das andere ganz von allein zu Ihnen. Inzwischen besitzt Waldo so viel Geld, das er sogar zögert, in das große Geschäft einzusteigen, daß ich für ihn mal wieder an Land gezogen habe. Offenbar überdenkt er mittlerweile seine Erfahrungen: den Nahrungsmangel nach der Entführung, seine anstrengenden Übungen in der einem türkischen Bad gleichenden Atmosphäre des Abwassersystems einschließlich der Ruhr, die er sich dort geholt hatte. Zusammen brachte das alles ein tolles Ergebnis. Mitt-
lerweile nahm ich Kontakt zu Doktor Straker auf und machte ihm einen Vorschlag, von dem er sehr angetan war. Auf dem Papier, das hier vor mir liegt, steht: »Ich bezeuge hiermit, daß ich innerhalb von zehn Tagen, nachdem ich mit Doktor Strakers Diätplan begann, über elf Kilogramm an Körpergewicht verlor. Unterschrift: Waldo Burmeister.« Hierbei handelt es sich um eine absolut wahre Behauptung. Alles, was Waldo zu tun hat, ist unterschreiben, und wir beide dürften beträchtlich reicher werden. Leider scheint Waldo dieser Handel zu widerstreben. Zwar sagte er nichts dergleichen, aber ich glaube doch, daß er einfach mit Thermodynamischer Diät nichts mehr zu tun haben möchte.
Originaltitel: THE DALAMATIAN OF FAUST. Aus GALAXY 9/78 Übersetzt von Roland Rosenbauer
J. A. Lawrence KRONE DER SCHÖPFUNG Was Mellet an Knabe mochte, war, daß er ein Archetypus war. Die vorgewölbte Stirn, die etwas verträumten blauen Augen, das Sammelsurium seiner Kleidung, all das kündete von seinem Genie, welches er unzweifelhaft besaß. Seine Erfindungen hatten ihn mit ausreichenden Geldmitteln versorgt, so daß er sich ein Privatlabor in seinem Stadthaus hatte einrichten können. Es besaß eine komplette Ausrüstung: Autoklaven, Tiefkühlgefrieranlagen, Elektronenmikroskope, eine Werkstatt, eine qualifizierte Assistentin und sogar eine eigene Energiequelle. Sie war installiert worden, als der Professor der ewigen Unterbrechungen in Springfields elektrischem Leitungsnetz überdrüssig geworden war. Absolventen von Springfield High School erreichten selten einen solchen Status, und Mellet war stolz darauf, ihn Freund nennen zu können. Bedauerlicherweise hatte Knabe es versäumt, sich mit der erforderlichen »hübschen Tochter« auszustatten. Seine Assistentin, Miss Lockwood, war jedoch ein blendender Ersatz, wenn sie auch ein wenig einschüchternd wirkte. Mellet klopfte zweimal und stieß die Tür zum Kellerlabor auf. »Hallo, Eschsholzia«, sagte er zaghaft. Der hübsche Rotschopf in dem makellosen weißen Kittel blickte vom Mikroskop auf, lächelte und winkte mit dem Arm in Richtung des Eingangs. Mellet seufzte. Manchmal
meinte er, er würde tatsächlich den Mut aufbringen, sie zum Essen einzuladen, wenn sie nur einmal zu erkennen gäbe, daß sie eine Minute Zeit hatte, um ausgeführt zu werden. Heut war es wie gewöhnlich. »Ist Knobby da?« fragte er resigniert. »Im hinteren Raum«, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Mit einer Hand machte sie Notizen, während die andere das Instrument einstellte. »Bis später.« Aha! Die Lage schien sich zu bessern. Gewandt ging er um die mit staubigen Papieren. Geschirr, Sternhöhenmessern, Himmelsringgloben, Elektro-Enzephalographen und anderem wissenschaftlichem Zeugs überladenen Tische herum zur Werkstattür. »Hast du die transtemporalen Potentiometer mitgebracht, die ich verlangt habe?« Mellet hielt Ausschau nach dem Wissenschaftler und erspähte ihn schließlich auf dem Fußboden unter einem Haufen Drahtgewirr, das einen Teil des Raumes ausfüllte. »Man hat sie noch nicht erfunden, Knobby«, sagte er sanft. »Tut mir leid.« »Hölle und Verdammnis. Mal sehen. Ich denke, ich kann ... jawohl. Das hier und dort ... warte eine Sekunde ... so könnte es gehen ... verflucht! Warum machen sie die Schraubenzieher so miserabel? Der hier ist locker ... Da!« Er krabbelte unter der Erfindung hervor und kam schleppenden Schrittes auf Mellet zu. Seine Socken waren heute sonderbarer als sonst. Ein Knöchel war nackt. »Willst du mir nicht sagen, was es ist?« fragte Mellet. Seine letzte Erfindung war der (M)agnetro-
(A)drenalo-(K)inem(E)lektronik-(U)ltra-(P)azifikator gewesen, der, über Kurzwellenradio ausgestrahlt, einen weltweiten Friedensvertrag heraufbeschworen hatte sowie den freiwilligen Abschuß von Waffen aller Art in die Sonne. Die einzige Begleiterscheinung war ein leichtes Ansteigen der Protuberanzen gewesen, das einer Störung im Rhythmus der Sonnenaktivität zuzuschreiben war und ungefähr dreißig Sekunden dauerte. Seine vorherige Errungenschaft war der Medullare Akzeptor Neo-Nutrient Ernährer gewesen, der aus Kunststoffabfällen eine köstliche und zur Ernährung völlig ausreichende Pastete machte. Mellet konnte es kaum erwarten. »Alles fertig jetzt. Endlich. Es hat weitaus länger gedauert, als ich erwartet hatte. Ich muß jetzt über sechs Monate daran gearbeitet haben. Tss, tss.« Der große Erfinder runzelte die Stirn. »Ich weiß. Ich habe die Minuten gezählt.« »Robert, laß das. Außer du benutzt das (C)hrono(L)ymphometrische (O)steo-(Z)irkadianische (K)inesimometer. Hab ich dir nicht eins gegeben?« Er kratzte die glänzende kahle Oberfläche seines Schädels. »Ja, Knobby.« Wehmütig erinnerte sich Mellet an den massiven Gegenstand unter der geschmackvollen Teakholzverkleidung, der den größten Teil seines Schlafzimmers in Anspruch nahm. Er behielt subjektive Zeit bei und besaß keinen Weckmechanismus. Sein Baby Ben und Haarbürsten lagen darauf. »Nun, das nennt man den Takt halten«, sagte Knabe mit purem Stolz. »Wo ist das Mädchen? Nie ist sie da, wenn ich sie brauche ... Mädchen!« »Sie scheint bei der Arbeit zu sein. Kann ich aushelfen?«
»Nein, nein. Jetzt wird gefeiert. Miss – äh – Jones!« Mellet sagte vorwurfsvoll: »Also wirklich, Knobby! Sie heißt Lockwood. Eschsholzia Lockwood. Nach drei Jahren solltest du das wissen.« »Was glaubst du, wofür ich sie bezahle?« fragte der Wissenschaftler gereizt. »Es ist ihr Job, sich über alle Einzelheiten auf dem laufenden zu halten ... ah.« »Ja, Dr. Knabe?« Das glatte, kupferfarbene Haar, das Alabaster-Gesicht lugten durch die Türöffnung. »Drinks. Sie ist fertig.« »Sie ist fertig?« Sie erstarrte, die wundervollen grünen Augen geweitet. »Funktioniert – funktioniert sie?« »Natürlich funktioniert sie. Alle meine Erfindungen funktionieren. Besorgen Sie uns was zu trinken – seien Sie ein braves Kind.« Mellet versuchte, sich nicht an ihrer Stelle beleidigt zu fühlen wegen Knobbys Benehmen. Sie war eine Frau, ebenso intelligent wie reizvoll, eine Dr. phil., die als Sekretärin, Empfangsdame, Assistentin und Mädchen für alles arbeitete. Ihm war das schnell unterdrückte Aufflackern von Unmut in den smaragdgrünen Augen nicht entgangen, als Knabe laut wurde. Daß sie verstand, was der Wissenschaftler gerade tat, und das Labor mit allem versorgt hielt, was er brauchen würde, bevor er es tatsächlich brauchte, hielt er für selbstverständlich. Manchmal glaubte Mellet fast ahnen zu können, worum es bei der Emanzipation ging ... andererseits war Knabe kein gewöhnlicher Mensch. Er war eben ein Genie. Sie kam zurück mit einem Tablett, auf dem drei Becher mit schäumendem Inhalt standen. »Mit heißer Butter zubereitetes Äthanol«, sagte sie
und reichte es herum. Es schmeckte nicht übel. Nachdem sie auf den Erfolg des Drahtgewirrs angestoßen hatten, sagte Mellet: »Nun, willst du mir nicht sagen, was es mit deiner Erfindung auf sich hat? Miss Lockwood weiß offenbar schon Bescheid.« »Ich habe es noch keinem erzählt.« Knabe gab einen tiefen Seufzer von sich und neigte den Kopf. »Wie ihr wißt, ist das menschliche Gehirn unfertig. Millionen von Nervenverbindungen – ein unbegrenztes Potential – erwarten die endgültige Evolution des Menschen ... und wie es um das Fassungsvermögen des menschlichen Gehirns bestellt ist, werden wir bald wissen. Dies hier –« er deutete mit der knochigen Hand auf das Durcheinander – »ist der Prototyp des Maximum-Encephalo-Synaptischen Stimulators. Er wird die Tore des menschlichen Geistes seiner endgültigen Bestimmung öffnen!« Mellet war beeindruckt. Eschsholzia unterbrach das Schweigen. »Sind Sie sicher, Dr. Knabe?« »Natürlich bin ich sicher.« »Dann möchte ich mich als Freiwilliger melden.« »Sie?« »Ich. Warum nicht?« Warum nicht, in der Tat, dachte Mellet bewundernd. Was für eine bemerkenswerte Frau! Welche Charakterstärke! Knabe grübelte. »Nun, ich dachte daran ... ein Gehirn zu nehmen, das das mögliche Optimum erreicht hat. Ich hatte wirklich nicht ... ohne Sie beleidigen zu wollen, aber –« Mellet explodierte. »Was ist mit dir los, Knobby? Was verlangst du mehr? Miss Lockwood besitzt alles
– Schönheit, Intelligenz, gesunden Menschenverstand, Ausgeglichenheit – du könntest niemand besseren bekommen!« »Nanu! Danke«, sagte Eschsholzia errötend. »Gut, gut, in Ordnung. Aber ... nun, mal sehen. Können wir es Donnerstag machen?« Seine Sekretärin stimmte dem Termin zu. Draußen fragte Mellet: »Darf ich Sie zum Essen einladen?« »Ich wäre entzückt«, entgegnete das Mädchen. Während des Essens wurde er forsch. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube, Sie sollten die Finger davon lassen.« »Weshalb?« fragte sie überrascht. »Es könnte gefährlich sein, an Ihrem Gehirn herumzuspielen.« Sie lachte. »Unsinn. Er hätte es am liebsten an sich ausprobiert wollte aber seinen eigenen Kopf nicht riskieren. Nein, ich bin es müde, immer die zweite Geige zu spielen. Auf so eine Chance habe ich gewartet, von dem Zeitpunkt an, als ich herausfand, daß eine Frau es doppelt so gut machen muß, um halb so weit zu kommen wie ein Mann.« »Aber – nun, mir gefällt es nicht«, sagte Mellet eigensinnig. Sie schniefte. »Ich glaube, ich komme langsam dahinter, warum Sie mich nicht verändert haben wollen.« »Nun, ja. Sie haben jetzt schon fast zuviel von einer Frau an sich ... ich meine, welche Chance hätte ich, wenn –« »Sie könnten die Behandlung mitmachen.«
»Ich –« Würde er wirklich ... nein. Er hatte einfach nicht ihren Schneid. »Sehen Sie?« fragte sie. »Manche von uns haben eben nichts zu verlieren. Abgesehen davon, was hätten Sie mir schon zu bieten, das der Gelegenheit, alles in meinem Kopf zur Perfektion zu entwickeln, gleichkommen könnte? Keine bloße sexuelle Beziehung könnte sich damit messen.« Mit strahlenden Augen saß sie über ihrem Kaffee. »Ich frage mich, wie es wohl sein wird. Die Mannigfaltigkeit der Funktionen des Gehirns, das Geheimnis der zukünftigen Entwicklung des Menschen ...« Als die Elektroden von ihrem bewegungslosen, teilweise geschorenen Kopf entfernt worden waren, ließ Mellet die kupferrote Locke los, die er in panischer Angst gestreichelt hatte. »Du hast sie umgebracht. O Gott, hol einen Arzt ...« »Sei still. Es geht ihr gut. Ich frage mich, ob die Potentiometer ... nein. Sie kommt zu sich.« Sie legten sie auf die altersschwache Couch, damit sie sich erholen konnte. Sie begann sich zu regen. Mellet achtete ängstlich auf das geringste Zucken in ihrem bleichen Gesicht, während Knabe gelassen seine Pfeife rauchte. »Sie bewegt sich«, sagte Mellet. »Hmm. Scheint so.« »O Eschsholzia, wie fühlen Sie sich?« Mellet fiel auf die Knie, auf einen Haufen von Kabeln neben der Couch. »Alles in Ordnung – mein Kopf. Fühlt sich komisch an. Lassen Sie mich – eine Minute – uhh!« Sie würgte. »Was ist? Sie ist krank – Knobby, hol einen Arzt!«
Sie fragte matt: »Was ist das für ein Gestank?« Die Männer atmeten prüfend die Luft ein: Tabak, Äther, Desinfektionsmittel, Ozon. Nichts Ungewöhnliches. Sie keuchte. »Luft! Fenster – aufmachen!« Knabe ging auf sie zu, während Mellet sich mit dem Kellerfenster abmühte. Der Griff brach ab unter seinen Anstrengungen, es zu öffnen. Schließlich strömten frische Luft und Ruß herein. Eschsholzia atmete tief und begann zu husten. »Bringen wir sie hinauf. Es ist wirklich stickig hier unten.« Mellet hob sie hoch – sie atmete noch schwer – und trug sie ins Empfangszimmer hinauf, wo er sie sanft auf ein Sofa legte. Er riß die Fenster auf. »Ist es so besser?« Sie atmete ein wenig leichter. »Oh, dieser furchtbare Geruch. Können Sie denn nichts dagegen tun?« Mellet erschien die Luft frisch und rein. Es war sogar kaum Verkehr draußen. »Hmm. Unerwarteter Nebeneffekt, aber vorhersehbar«, sagte Knabe interessiert. Eschsholzia schien nun ruhiger zu sein, obwohl ihre entzückende Nase weiterhin voll Abscheu gerümpft blieb. Aber sie hatte aufgehört zu husten. »Möchten Sie etwas? Einen Drink?« »Etwas Wasser, bitte.« Das Wasser wurde gierig hinuntergeschluckt und rief ein Würgen hervor. »Scheußlich! Es schmeckt wie der Geruch. Komisch. Ich nehme an, der Prozeß hat die Geruchsnerven in Mitleidenschaft gezogen?« »Selbstverständlich«, sagte Knabe. »Sämtliche Nervenverbindungen sind davon betroffen. Sie bleiben
ein paar Tage hier, damit wir vollständige Aufzeichnungen machen können –« »O nein«, sagte sie matt. »Das könnte ich nicht.« Mellet sagte: »Keine Sorge. Knobby ist völlig ungefährlich.« Sie bedachte ihn mit einem Blick schierer Unduldsamkeit. »Um Himmels willen. Es sind der Gestank und das Wasser. Ich will in mein Wochenendhaus, raus aus der Stadt. Ich besitze ein kleines Landhaus, das mir mein Bruder überlassen hat. Müssen Sie denn unbedingt rauchen?« Knabe legte die Pfeife weg, die er gerade unter einem Stuhlkissen hervorgeholt hatte. »In diesem Fall komme ich mit«, sagte er. »Glauben Sie, daß Sie schon aufstehen können?« Sie setzte sich langsam auf. »Ja ... das geht schon. Mein Kopf fühlt sich wund und taub an – aber ich muß fort von diesem Gestank.« An Mellets Wagen hatte sie ebenfalls etwas auszusetzen. Am nächsten Tag, als Mellet mit einer Flasche Wein zu einem kurzen Besuch vorbeikam, um zu sehen, wie es ihr ging, traf er Knabe in der Küche an. Er saß am Tisch und schrieb in sein zweites Notizbuch. »Faszinierend, faszinierend«, sagte er und fuchtelte mit dem Bleistift herum. »Hast du das festgestellt? Geht es ihr gut?« »O ja. Bemerkenswert gesundes Exemplar. Die anfänglichen Effekte klingen ab. Ich erwarte große Dinge.« »Wo ist sie?« »Oben«, Knabe deutete vage gegen die Decke. In
der Annahme, daß er das obere Schlafzimmer meinte, ging Mellet zur Treppe. »Hey, Bob!« Er blickte umher. »Hier oben.« Sie hing mit den Kniekehlen kopfüber an der hölzernen Gardinenstange. »Was machen Sie da oben?« Mellet schluckte nervös. Sie trug einen grünen Bikini. »Ich habe ein Nickerchen gemacht.« Sie ließ sich herunter und landete graziös auf allen vieren. »Ein Nickerchen«, sagte er verblüfft. »An der Gardinenstange?« »Mmm. Sehr bequem.« »Äh – wie steht es mit dem Geruchsproblem?« »Ganz schön schlimm. Aber ich habe herausgefunden, wie man es abstellen kann. Man muß auf eine bestimmt Art atmen. Ansonsten fühle ich mich ganz gut. Ich kann jetzt besser hören und sehen.« Sie trottete barfuß in die Küche. »Ich bringe Ihnen etwas Leckeres zu trinken. Ich habe es gerade entdeckt.« Mellet beobachtete sie hingerissen. Plötzlich sprang sie hoch in die Luft, machte eine Kehrtwendung und kam herunter, den Rücken einer Ecke des Raumes zugewandt. Sie war halb zusammengekauert. »Was ist los?« fragte er erschrocken. Sie richtete sich aus ihrer Defensivposition auf. »Ach, nur ein vorbeifliegendes Flugzeug. Bin gleich zurück.« Knabe sagte, als er hereinspazierte: »Erwarte keinen Alkohol. Er sagt ihr nicht zu.« Was sie brachte, war in der Tat Milch, die zum größten Teil aus Sahne zu bestehen schien. »Schmeckt sie nicht herrlich?« fragte sie. »O Knob-
by, wieder der kaudale Reflex.« »K-kaudaler Reflex?« Mellet hoffte, er hatte nicht richtig gehört. »Dauernd will ich mit dem Schwanz wedeln. Besonders wenn ich etwas so sehr mag wie dieses Getränk hier«, sagte sie. »Was hast du mit ihr gemacht?« verlangte Mellet zu wissen. »Was hat ihr – äh – Schwanz mit der Erweiterung des Gehirns zu tun?« »Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, erklärte Knabe. »Sie ist jedenfalls vollkommen gesund. Ich mache weiterhin Aufzeichnungen.« »Außerdem macht es mir Spaß. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt«, sagte Eschsholzia. Sie setzte sich mit einer fließenden Bewegung auf die untergeschlagenen Beine. Mellet merkte, wie die Kombination aus Milch, unerwartetem Verhalten und nur spärlich bekleideter Eschsholzia ihn nervös machte. Sie schien so intelligent wie immer zu sein, und sie schien physisch irgendwie mehr präsent als sonst. Er zog sich zurück und versprach, wieder vorbeizuschauen. Das nächste Mal brachte er Rosen. »Sie ist draußen im Garten«, sagte Knabe, der die Tür aufmachte. Sein Gesicht hatte einen geistesabwesenden Ausdruck. »Es macht mir nichts aus, es zuzugeben, Bob. Ich verstehe das alles nicht ganz.« Zum Glück war es ein verschwiegener Garten. Eschsholzia war da, aber vom Bikini keine Spur. Eschsholzia war ... »O«, entfuhr es Mellet ehrfürchtig. »Jawohl«, sagte Knabe. »Aber los, geh und sprich mit ihr.«
Sie rollte sich auf den Rücken im Gras. Mellet schluckte und wollte umkehren. »Ich glaube nicht, daß ich das durchstehe. Ich bin es nicht gewohnt ... Könnte sie nicht etwas anziehen?« »Sie mag nicht. Seit zwei Tagen lehnt sie es ab, Kleider zu tragen. Sie sagt, es stört sie. Zum Glück ist es Sommer.« In einem vergeblichen Versuch, seine Sicht zu trüben, setzte Mellet die Sonnenbrille auf. Ein Blick in seine Augen sollte ihn jedenfalls nicht in Verlegenheit bringen. Sie war eine natürliche Rothaarige. »Hallo!« rief sie und setzte sich auf. Mit einer sehenswerten schlängelnden Bewegung des Körpers schüttelte sie Grasreste von ihren Schultern. Mellets Sonnenbrille rutschte herunter. »Sie sind sehr rot im Gesicht«, sagte sie. »Schon zuviel Sonne? – Verdammt! Ich habe mich an einem Dorn gestochen.« Sie steckte eine Zehe in den Mund und bearbeitete sie mit Zähnen und Fingern. Mellet machte sich an der Sonnenbrille zu schaffen. Die Bügel schienen sich in die falsche Richtung zu biegen. Schließlich setzte er sie wieder auf die schwitzende Nase. »Äh – hallo. Wie geht es?« »Großartig.« Sie knabberte an der Zehe. »Uff. Hier.« Sie leckte noch einmal beruhigend darüber und ließ den Fuß herunter. »Knobby ist außer sich. Ihm paßt es nicht.« »Ihm paßt was nicht?« fragte Mellet vorsichtig. »Was passiert ist. Seine Maschine.« Sie lehnte sich zurück und knabberte an einem Grashalm. Eine Flugwespe landete auf ihrem Oberschenkel. Die Haut
zuckte, und das Insekt flog davon. Mellets Sonnenbrille flog auch, nur nicht so weit. »Sie wissen es bereits?« fragte Mellet und versuchte, die Augen geschlossen zu halten. »O ja. Er hatte unrecht. Diesmal jedenfalls. Das würde er jedoch nie zugeben. Er macht die transtemporalen Potentiometer dafür verantwortlich. Aber das ist bloß eine Ausrede.« Sich abwendend, weil sie jetzt mit den Brustwarzen über das Gras strich, murmelte Mellet: »Woran liegt es dann?« »Alle diese unbenutzten Teile des Gehirns – sie sind kein zukünftiges Potential, sondern evolutionärer Schrott. Ich besitze jetzt alle Reflexe, Sinne, Instinkte und so weiter, die der Mensch im Laufe der Evolution verloren hat. Ich kann Leute riechen, die mehrere Straßen weit entfernt sind. Ich schätze, ich könnte Fische mit den Händen fangen. Ich kann mich blitzschnell bewegen. Schauen Sie!« Sie setzte sich auf, ließ eine Hand vorschnellen und schloß sie. Sie hielt sie Mellet hin, der sich vorbeugen mußte, und machte sie auf. Eine Mücke flog davon. »Aber das bedeutet –« »In der Tat. Armer Knobby. Das menschliche Gehirn ist voll entwickelt. Wir haben das Ende der Sackgasse erreicht. Bedauerlich. Aber so ist es nun einmal ... Was für seltsame Tiere Menschen doch sind! Ich bin jetzt nicht in der Stimmung. Vergessen Sie es also.« Mellet fühlte, wie er scharlachrot anlief. Er rannte aus dem Garten. Im Haus starrte Knabe verdrießlich auf ein Glas sahniger Milch. Er fragte: »Hat sie es dir erzählt?«
Sein schweißtriefendes Gesicht abwischend, sagte Mellet: »Ja. Aber sie sagt, du glaubst es nicht.« »Wie könnte ich? Es ist unmöglich. Das menschliche Gehirn ist dazu bestimmt, sich viel weiter zu entwickeln als dies –« Er schaute hilflos auf Mellet. »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Man kann jedenfalls nicht sagen, daß sie darunter leidet. Und außerdem hat sie schließlich nichts dabei verloren.« »O ihr geht es gut. Ein gesundes Tier. Mach dir um sie keine Sorgen –« Knabe senkte die Stimme. »Ich wußte schon immer, daß Frauen einen begrenzten Verstand besitzen. Ich hatte eigentlich vor, es zuerst mit einem Mann zu versuchen. Das würde beweisen, daß ich recht habe.« Mellet schaute aus dem Fenster. Eschsholzia lag in der Sonne, den Rücken der Wärme entgegengewölbt. Sie erschien ihm unbeschreiblich begehrenswert. »Ich bin bereit«, sagte er fest. »Hier hast du deine Chance. Komm mit.« Knabe blinzelte und rief Eschsholzia zu, er käme bald zurück. Unter Mellets entschlossenem Griff um seinen Arm ließ er sich zu seinem Labor bringen. »Mein Kopf tut weh. Und stinken tut's«, sagte Mellet matt. »Um Christi willen, mach die Pfeife aus. Ächz.« Die Luft im Raum machte ihn krank. Etwas mußte geschehen. Plötzlich wurde ihm der Vorgang klar. Wenn er durch den Mund atmete und die Nase geschlossen hielt, wurde der Gestank erträglicher. Dafür fiel das Sprechen schwerer. Er ruhte eine halbe Stunde lang. Knabe sagte: »Ich sollte Miss Jones nicht länger allein lassen. Wir müs-
sen zu ihr zurück.« Mellet lächelte und sagte: »Schön. Geh'n wir.« Er stand behutsam auf. Was für ein Schweinestall dieser Raum war – der Maxi-Encephalo-Synaptische Stimulator, der den ganzen Fußboden einnahm, überall waren Staub und Käfermist. Wände und Decke waren mit Fußabdrücken von Insekten übersät. Huh. Eschsholzia kam mit einem Handtuch zur Tür. »O ihr seid es«, sagte sie und warf es über einen Stuhl. Prüfend atmete Mellet die Luft durch seine neuerdings so empfindliche Nase ein. Eschsholzia war umwerfend. Seine Gefühle für sie waren warm, voll Zärtlichkeit und Bewunderung, aber seltsamerweise ohne Begehren. Sie war wirklich nicht in der Stimmung. Zwei Tage später sagten sie es Knabe. »Es tut uns leid, Knabe, aber es ist wahr. Diese Türen des menschlichen Geistes gehen nach innen auf. Es ist der Mensch, wie er am Anfang der Evolution steht.« Grimmig packte Knabe seine achtzehn vollgeschriebenen Notizbücher und einen scheußlichen Socken zusammen. »Die Potentiometer sind schuld. Ich wußte es. Nichts Improvisiertes mehr. Ich werde einiges neu erfinden müssen und von vorn anfangen.« Er stapfte murmelnd davon und rief ein Taxi. Mellet und Eschsholzia winkten zum Abschied. »Vielleicht hätten wir ihm das mit dem Wasser sagen sollen.« »Nein«, sagte sie. »Das wäre zu unfreundlich gewesen. Aber was für ein Spaß das werden wird. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es wohl ist, ein Amphibium zu sein.«
»Und was für ein Leben wir uns werden leisten können. Diese Delphin-Verhaltensforscher sind bereit, uns jede Summe zu zahlen.« »Das sollen sie auch. Sie würden nirgendwo sonst ein Team mit unseren Fähigkeiten finden.« Lachend rannten sie hinaus in den Garten. Sie leckten sich gegenseitig das Salz vom Rücken und aalten sich in der Sonne. Als Mellet über sie rollte und sie ins Ohr biß, flüsterte sie: »Du, ich glaube, ich komme langsam in Stimmung.«
Originaltitel: THE DESCENT OF MAN. Aus IF 12/74 Übersetzt von Klaus Weidemann
Tappan King DIE MACHT DER RUNE Nur ein Wort, eine uralte Rune – doch es bedeutete den Untergang einer Kultur und Sklaverei für die Priesterin. Brit kauerte in der schützenden Höhle. Fest hielt sie ihren Pelzmantel über sich. Der Regen prasselte auf einen zackigen Überhang und plätscherte über alte ausgewaschene Rinnen. Die Knochen der Landbevölkerung schnitten durch die Hügel, alte Felsen, die sich bizarr von den Rundungen abhoben. Aus der Ferne gesehen, verwandelte sich der Regen in Nebel. Wie lange mochte es noch dauern, bis sie kamen? Vor dem Höhleneingang erstreckte sich ein nebelverhangenes Tal. Obwohl sie niemanden sehen konnte, spürte sie, daß jemand in der Nähe sein mußte. Das Prickeln in ihrem Nacken und in ihren Fingern wies deutlich darauf hin. Das war der Hexensinn, der Schicksalsspürer. Warnend kündigte er das Nahen der Fremden an. Der gleiche Sinn sagte ihr auch, daß sich das Leben, das da in ihrem Leib heranreifte, zu einer Tochter entwickeln würde. Wie ein schweres Gewicht lastete die Erschöpfung auf Brits Schultern. Hunger, Angst und Kälte schlugen sich in einer unbeschreibbaren Müdigkeit nieder. So sandte sie ein schweigendes Gebet an die GROSSE MUTTER. Sie bat darum, daß ihre Plage bald vorübergehen mochte, daß sie kommen und dem Warten ein Ende bereiten sollten.
Fearn – so hatte ihre Mutter sie genannt. Brit genoß dieses Wort, das einen alten Namen bedeutete. Durch die langen Jahre hindurch war es aus einer alten Sage entstanden, durch die der Geist angeregt und die alten Bräuche bewahrt werden sollten. Nun war dieses Wort Fleisch geworden. Noch gut erinnerte sie sich an den Tag, da sie dieses Wort das erste Mal gehört hatte. Zusammen mit ihrer Mutter war sie durch die Hügel nahe der See gewandert. Den ganzen Tag über hatten sie Kräuter und Wildblumen benannt. Ihre Mutter hatte damals immer gehofft, daß Brit sich einmal gewisse Fertigkeiten in den Heilkünsten aneignete. Brit kannte alle Namen – sowohl die Bezeichnungen, die die Menschen ihnen gegeben hatten, als auch die heimlichen, aus denen die Heilkraft hervorging. Nach einer Weile tauchte ein roter Felsen auf dem Weg auf. Durch das Wasser war er schon stark erodiert. Ihre Mutter sah den Felsen an und sprach: »Wie nennt man das hier, Brit?« Einen Augenblick lang mußte sie nachdenken, dann löste sich das Wort aus ihrem Gedächtnis. »Iarn, Mutter.« »Es besitzt noch einen anderen, viel älteren Namen, Tochter, einen Namen, den du lernen mußt.« Das Gesicht ihrer Mutter wirkte angespannt. »Es ist – Fearn.« Während sie noch sprach, nahm ihre Mutter einen Stock und malte neben dem Stein eine Rune in den Boden. Anschließend reichte sie ihrer Tochter das Holzstück, damit sie die Linien im Staub nachahmen konnte. Brit wiederholte den Namen. Ein unbekanntes, kaltes Gefühl überkam sie, als sie das tat. Die
Mutter wirbelte den Staub auf, bis keine Spur der Markierung mehr zurückblieb. Das Zeichen bedeutete Iarn, den Namen eines Metalls, aber das war es nicht. Es meinte auch Angst: Fear. Noch verstand Brit den genauen Zusammenhang nicht. Außerdem war es ein böses Wort, welches niemals zufällig ausgesprochen wurde. Das nächste Mal hörte sie das Wort von einem ihrer Väter. Er hieß Pon und hatte einige Sommer vorher schon bei ihrer Mutter gelegen. Von ihm hatte sie eine Schwester, die Jo hieß. An diesem Tag spielte Pon mit ihnen. Er zeigte ihnen, wie man mit einem Degen parierte und zustieß. Das Lehren solch kriegerischer Künste wurde dem Männervolk überlassen, da sie nicht so schön waren wie Fischen, Weben oder Konversation zu treiben. Das Spiel erhitzte Pon. Mit dem Stab vollführte er wilde Manöver in der Luft. Zuletzt zerbrach er ihn sogar an einem Felsen. In einem Schauer aus Hartholzteilchen zersplitterte er. Daraufhin schwor Pon einen unanständigen Eid und schrie: »Pah, als ob dieser Stab so weich wäre wie – Iarn!« Die Art wie er zögerte sagte Brit, daß er zuerst eine andere Bezeichnung hatte wählen wollen. Sie, ein hartes Wesen von zwei Monden und vierzig Jahreszeiten, schoß zurück: »Weich wie was?« Daraufhin verzog er das Gesicht so, als wollte er etwas aussprechen, das tatsächlich unsagbar war. »Fearn«, flüsterte er. »Aber sie will es uns nicht anfassen lassen!« Diese Blasphemie brachte Brits Ohren zum Brennen.
Aber sie hatte noch nicht die ganze Sage gelernt, bis Maeve, die Priesterin der GROSSEN MUTIER, sie eines Tages zu sich rief. Schon vorher hatte Maeve einige Male privat mit Brit gesprochen. Das war während dieser kleinen, stillen Zusammenkünfte gewesen, zu denen die Jungen nicht zugelassen waren und die Maeve für ihre ›jungen auserwählten‹ Mädchen reserviert hatte. Jede dieser Töchter hatte in den geheimen Künsten vielversprechende Fähigkeiten gezeigt. Brit war bei weitem die Beste in der Runenkunde. Sehr schnell hatte sie die sechsundzwanzig Zeichen gelernt und die drei Runen der Macht, von denen jede etwas anderes bedeutete und auf eine andere Weise gebraucht wurde. Außerdem hatte Brit überraschende Fähigkeiten in Maeves Tests bewiesen, Übungen, die zeigen sollten, ob sie die geheimen Kräfte beherrschte. Doch nun, beinahe ein Jahr nach ihrem Bluttag, am Abend des Vollmondes, bat Maeve sie zu sich, um allein mit ihr zu sprechen. Sie zogen sich in die Kälte zurück, unter dem weißgewaschenen Schutz des Schreins der Göttin, ein heiliger Platz auf dieser Erde, den keine Macht unaufgefordert betreten konnte. Maeve fühlte Brits geschmeidiges, junges Gesicht in ihrer knorrigen Hand. »Aster«, flüsterte sie und nannte Brit bei ihrem wahren Namen. »Du weißt, daß ich dich diese dreizehn Jahre mit Eifer beobachtet habe. Diese Zeit hat dein unscheinbares Aussehen verändert. Du weißt, daß du meine beste Schülerin bist. Von allen hast du am schnellsten gelernt. Mit dem größten Fleiß hast du dir die Namen der heiligen Runen und deren Ge-
schichten angeeignet.« Brit nickte stumm. »Aster, heute habe ich lange in meine Zukunft geblickt. Mir gefiel es gar nicht, was ich da für so manche von uns sehen mußte. Es gibt da einige Dinge, die ich dir erzählen muß, obwohl ich dir eigentlich erst viel später davon berichten wollte. Aber nun führt kein Weg mehr zurück.« Maeve zeichnete die schwarze Rune auf den Boden und löschte sie mit der gleichen Bewegung wieder aus. »Sag mir, junge Brit, was du über dieses Zeichen weißt.« Brit flüsterte den Namen nur, aber Maeve prallte ein wenig zurück. »Ein bißchen Angst, mein Mädchen«, erklärte sie. »Nun erzähle mir davon.« So sprach Brit das wenige Wissen aus, das sie in ihrem Kopf gesammelt hatte: daß es ein Wort großer und finsterer Macht war, daß es beides meinte, das Metall Iarn und Fear, die Angst, daß es im Geschlecht männlich war und – zögernd –, daß ›einer der Väter‹ einmal böse darüber gelacht hatte. Maeve nickte. »Das ist mehr als die meisten wissen. Deine Mutter war eine gute und kluge Frau, auch wenn ihr ein gewisser Weitblick fehlte.« Sie schaute in die Ferne und wechselte urplötzlich das Thema: »Sage mir, Brit, wem gehört dein Haus?« Diese Wende des Gesprächs verwirrte Brit. »Warum? Meiner Mutter, gute Maeve.« »Und wem das Vieh und die Schafe?« »Meiner Mutter.« »Obwohl sie tot ist?«
»Ja, gute Maeve. Durch meine Mutter gehört jetzt alles ihrer Schwester.« »Und wem gehörst du?« »Wem ich gehöre, gute Maeve? Wahrhaftig, das weiß ich nicht. Vielleicht – gehöre ich mir selbst.« »Gut gesagt. Und deine Brüder?« »Ich nehme an, daß auch sie sich selbst gehören«, meinte Brit. »Obwohl wir natürlich«, fügte sie rasch hinzu, »alle IHRE Kinder sind!« »Wie würde es sein, wenn du jemandem gehören würdest, Brit, wie die Kühe und Schafe?« »Wie könnte das sein, Maeve? Die Tiere wurden uns von IHR gegeben, damit wir auf sie aufpassen.« Maeve malte die Rune für Mann auf den Boden. »Was ist das?« »Das ist ein Mann, gute Maeve.« Maeve kreuzte ihn mit dem Buchstaben für Iarn. »Was siehst du nun, Tochter?« »Das gefährliche Zeichen, Fearn, wurde wieder geschaffen. Es müßte heißen – ›Männer, gemacht aus Eisen‹. Ist das richtig, gute Mutter?« »Gut gelesen, Brit. Komm, laß mich dir eine Geschichte erzählen.« Als sie saßen und sich unterhielten, braute Maeve eine starke Portion Kräuter. Bald fühlte Brit eine unbekannte Trägheit über ihre Glieder kommen. Es mußte vom Wohlgeruch der Kräuter kommen, der nun die Luft erfüllte. Maeve hielt eine kleine Tasse in der Hand. Sie streckte ihren Arm aus und bot Brit das Getränk an. Obwohl ihre Hände zitterten, trank Brit die Mixtur. Sobald das fremde Gebräu ihren Bauch wärmte, begann sie sich beschwipst zu fühlen. In ihren Ohren
dröhnte Maeves Stimme und erzählte ihr eine uralte Geschichte. Maeve beschrieb die Eindrücke so, als wäre sie selbst Zeuge der Ereignisse gewesen. Als Brit der Spur der Wörter folgte, fing sie selbst zu sehen an. Einst gab es eine Stadt, groß, weiß und schimmernd. Schöne Frauen und Männer fuhren zur See. Im Palast der Könige sah sie Schmiede, die in den Flammen Bronze verarbeiteten. Ein Teil Zinn kam auf neun Teile Kupfer, bis die alte Form gefüllt war. Hier waren die Schmiede Männer. Große Waffen bauten sie, und ihre derben Rücken ließen die Arbeit schneller vorangehen. Als nächstes sah sie eine andere Stadt, aus Fels erschaffen, dunkel, massiv und gebaut wie eine große Höhle. Auf den Straßen liefen die Menschen nur in solchen Kleidern herum, die zeigten, daß sie zum Kämpfen bereit waren, bereit, eine große Schlacht zu schlagen. Ihre Körper wurden von Metall eingehüllt – kein Kupfer, keine Bronze oder Silber oder Gold, sondern ein dünnes Metall von schwarzer Farbe: Iarn! Hier arbeitete ein anderer Schmied. Sein Körper knarrte. Sein rotbärtiges Gesicht stand unter ständiger Anspannung. Er kniete in der Schmiede und bearbeitete das Metall bei rotheißen Gluttemperaturen. Anschließend nahm er es heraus und fing an, es in feste Formen zu schlagen. Als dies getan war, lag ein scharfes Schwert auf dem Amboß. Während Brit weiterlauschte, wurde in Ketten eine kreischende junge Frau hereingeführt. Der Schmied nahm das dampfende Schwert und trieb es ihr in die Seite. Brit wollte sich abwenden, aber ohnmächtig mußte sie weiterlauschen. Der Schmied zog das
Schwert erst heraus, als die Frau fiel. Nachdem er es zurück auf den Amboß gelegt hatte, malte er ein kleines Zeichen auf den Griff: Fearn! Die Szene änderte sich. Plötzlich waren die Straßen der weißen Stadt von den Männern in Iarn gefüllt. Sie töteten und schändeten die Frauen mit jeder Hand. Blut von der Farbe des geschmolzenen Iarn gerann in den Straßen. Tapfer verteidigten sich die Frauen und Männer gegen diese Attacke, bis die Stadt durch die Übermacht eingenommen war. Ehe die Vision verblaßte, kletterte eine große Anzahl Frauen an Bord eines schnittigen Segelschiffes. Viele trugen Babys bei sich und vermochten die Taue nicht zu halten. Als Maeves ernstes, altes Gesicht wieder vor Brit auftauchte, sah sie die Stadt vom Wasser aus. Flammen in der Farbe des Blutes tanzten in den Ruinen. »Du hast alles gesehen.« Brit nickte. »Du besitzt diese Fertigkeit. Es ist, wie ich hoffte – und befürchtete«, flüsterte Maeve. »Sag mir, Tochter, hast du alles verstanden, was du gesehen hast?« »Ein wenig davon, Maeve. Alles ist vor sehr langer Zeit geschehen, nicht wahr?« »Ja. Diese Frauen waren unsere Mütter. Vor vielen, vielen Jahren flohen sie hierher und fanden Zuflucht vor diesen Männern und ihrem finsteren Gott, dessen Name soviel wie ›Der Mann aus Eisen‹ bedeutet. Nun, warum stellte ich dir vorhin diese Fragen über das Eigentum, gute Tochter?« »Diese Männer, diese – Fearn«, Brit wagte kaum zu atmen, »sie nahmen Männer und Frauen in Besitz, genauso als handle es sich bei ihnen um Rinder oder Schafe.«
»Richtig, Brit, gut beobachtet«, sagte Maeve. »Seit dieser Zeit bedeutet Iarn nur Unglück für alle, die damit in Berührung kommen.« Indem sie die beiden Hände des Mädchens nahm, ließ Maeve Brit Grabesflüche auf das gefährliche Metall aussprechen. Dann schweifte Brit weit ab, mit kalten Blicken – gerade so, als suchte sie etwas, von dem sie nicht sicher war, ob sie es auch finden würde. »Brit, ich will offen zu dir sein«, meinte Maeve zuletzt. »Ich habe dich als meine Nachfolgerin auserwählt. Du sollst IHRE nächste Priesterin sein! In einigen Jahren wird die Zeit für dich reif sein, nach einer langen, schwierigen Lehre, wenn die besten meiner Mädchen mir bei IHREN Riten assistieren werden und mir bis über meinen Tod hinaus zu folgen bereit sind.« »Aber du wirst nicht sterben!« Brit keuchte. »Du bist gesund und ich bin nur –« »Ich weiß, Brit. Aber ich habe einen Traum gehabt, einen, von dem ich befürchte, daß ich nicht die Kraft haben werde, ihn dir mitzuteilen. Trotz deiner Fähigkeit.« »Was war das für ein Traum, gute Mutter?« »Die Fearn kommen zurück, Tochter. Nicht so bald, aber früh genug. Sie werden eines Tages hinter unser Versteck kommen und uns wiederfinden. Erneut werden wir dann ihrer Willkür ausgeliefert sein.« »Aber bestimmt wird SIE uns vor ihnen beschützen, Maeve!« »Als ich jünger war, habe ich auch so gedacht. Damals waren wir stark, und IHRE Bräuche wurden noch richtig eingehalten. Doch bald schon gab es nur noch wenige, die sich der alten Lebensart erinnerten.
So ähnlich ist es auch heute. – Der Mangel an Vorsicht gibt mir zu denken. Du bist die einzige meiner jungen Schülerinnen, die die alten Künste besitzt und bald auch richtig beherrschen wird. Ich brauche eine Verbündete in diesen Zeiten, die jedoch jung sein muß. Jetzt müssen wir ernsthaft mit deinem Training beginnen – sofort!« »Aber warum?« »Ich erzählte dir schon, daß der Glaube nachläßt. Die Frauen fuhren die Rituale nicht mehr sorgfältig genug durch, und die Männer werden mürrisch und eingebildet. Bald wird die uns beschützende Macht sich auflösen wie die Nebel der Morgendämmerung. Die Flamme, die in IHREM Schrein brennt, darf niemals erlöschen. Auch in Zukunft müssen die alten Lieder und Verse gesungen und sich ihrer erinnert werden. Die Zeit ist kurz, Aster, und ich brauche dich.« In diesem Frühjahr weihte sich Brit der Göttin und kleidete sich wie Maeve in weiße Roben. Die jungen Mädchen, mit denen sie früher immer gespielt hatte, betrachteten sie nun mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Neid und Angst. Brit selbst versuchte, in allen Künsten zu äußerster Perfektion zu gelangen, bemühte sich an all die Verse zu denken, die Maeve sie gelehrt hatte, und an all die Heilkräuter. Jedes Kraut wirkte anders. Das eine brachte Schmerzen, das andere half Fieber lindern. Jeden Tag übte sie sich in den geheimen Künsten, sah in weite Fernen hörte Vorkommnisse, von denen noch keiner wissen konnte, und jeden Tag versuchte sie ein Holzscheit oder einen kleinen Stein allein mit
der Kraft ihrer Gedanken aufzuheben. Es war nicht einfach. So gut sie konnte, half Maeve ihr beim Lernen. Zusammen pflückten sie durch Gedankenkraft eine Schüssel voll Früchte oder räumten einen gefallenen Felsblock zur Seite. Dann, eines Nachmittags in ihrem sechzehnten Jahr, geschah es. Sie fegte gerade den Schrein der Göttin aus. Dabei stieß sie mit dem Besenstiel einen zierlichen Wasserkrug um. Als er herunterfiel, befahl sie ihrem Geist auszuströmen und den Krug zu halten. Tatsächlich funktionierte es. Sanft setzte sie den Wasserbehälter auf den Tisch zurück. Eilig drehte Brit sich um. Sie fühlte Maeve hinter sich. Dunkle Wolken hatten sich vor das Gesicht der Priesterin gezogen, eine Mischung aus Scheu und Resignation. »Gut gemacht, Tochter«, lobte Maeve. »Deine Zeit ist gekommen. Du bist soweit, um mich zum Herd zu geleiten. Komm, beende das Fegen. Wir werden zusammen einen Spaziergang machen.« Im Herbst ihres zwanzigsten Jahres wurde Brit von einem Schmerz in ihrem Herz getroffen. Sie sammelte gerade Holz für den Herd des Schreins. Durch ihre Zauberkräfte wußte sie, daß der Schmerz, den sie empfand, nicht ihr eigener war. Schnell hob sie ihre Röcke und begann am Flußufer entlang zum Schrein zurückzurennen. Schmerzwogen schlugen über ihr zusammen. Sie begann zu taumeln. Ihre Augen röteten sich, und Atemnot setzte ein. Nur mit größter Willensanstrengung vermochte sie dieser Pein Herr zu werden. Kurz darauf stürzte
sie in den kleinen Raum, den sie sich mit der Priesterin geteilt hatte. Aschfahl lag Maeve auf ihrer Pritsche, die Hand auf der Brust. »Brit!« Die Stimme klang schwach und weit entfernt, war aber noch immer von innerer Stärke erfüllt. »Brit, die Zeit wird knapp! Bring mir meine Heilkräuter her, schnell!« Ohne erst viel nachdenken zu müssen, sammelte Brit die Präparate für die Trance auf. Sie besaß das tiefverwurzelte Wissen, welches von einer Priesterin zur anderen weitergegeben worden war. Dabei arbeiteten ihre Hände mit einer Sicherheit, die von außen zu kommen schien. Als das Gebräu hergestellt war, goß Brit eine Tasse des wichtigen Tranks ein. Sie setzte sich neben Maeve auf ihr eigenes Lager. Die Dämpfe aus der Tasse stiegen zwischen ihnen auf, und ihre Augen trafen sich. »Aster, hör mir zu«, hauchte Maeve. »Ich und du, wir sind eins. IHRE Wahrheit muß verbreitet werden. Sei wie ein Schiff zu mir und ich werde dich füllen. Nun, hier sind die Namen von IHR, die unser aller Mutter ist: die Mutter der Zeit, die Namengebende aller Dinge, die Schöpferin des Lichts –« Brit mochte diese Passage aus der oft zitierten alten Lehre nicht besonders. Von den Buchstaben auf tiefe Beziehungen in Leben und Tod zu schließen war nicht jedermanns Sache. Aber so wurde der Hauptinhalt der Lehre von Priesterin zu Schülerin, von Mutter zu Tochter weitergegeben. Maeves Hand drückte mit einer Kraft auf die ihrer Schülerin, die die ungebrochene Stärke der alten Frau deutlich zeigte.
Erst lange nachdem die Nacht hereingebrochen war und die Sterne auf ihren Bahnen funkelten, setzten Maeves Kräfte aus. Wie jemand, der eben aus tiefem Schlaf erwachte, schüttelte Brit ihren Kopf. Nun sah sie ihre Lehrerin als eine trockene Hülle aus Haut, Sehnen und Knochen, in der nur noch ein schwacher Lichtfunke glomm. Brit brachte Wasser. Maeve schlürfte den Becher aus, dann zog sie ihre Schülerin nahe zu sich heran. »Aster, ich danke dir für alles, was du mir Verwelkender geben konntest. Längst ist der Augenblick gekommen, in dem du mir eine Vision gabst. Jetzt werde ich sie dir zurückgeben – oder vielmehr teilen wir sie uns, so daß du sie ganz allein für dich haben kannst, wenn dieser Augenblick vorbeigezogen ist.« »Ich verstehe nicht, Maeve.« Die Priesterin schüttelte ihren Kopf. »Das macht nichts, junge Tochter. Öffne dich mir solange meine Kräfte noch ausreichen. Aber wir sollten nicht weitersprechen. Dies habe ich auch gesehen.« Brit legte ihre Arme um die alte Frau, und Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. »Oh, Maeve, geh nicht! Bestimmt ist dies noch nicht deine Zeit! Du wirst schon noch eine Weile leben!« »Sei ruhig, Brit. Unsere Zeit ist kurz, und wir müssen sie richtig zu nutzen wissen. Leb wohl, Tochter. SIE, die die Sterne leitet, will auch unser Leben führen. SIE, die die Strähne unseres Lebens mißt, wird sie auch durchschneiden. Unsere Leben sind in IHRE Hand gegeben, und wir müssen tun, wie SIE befiehlt. Deine Pflicht ist, hier weiterzumachen. Meine ist – meine ist, SIE zu begleiten.« Um Maeves Hals lag eine Kordel. Daran war eine
silberne Scheibe befestigt, auf der der zunehmende Mond abgebildet war. Zaudernd griff die Priesterin nun nach dem Band und streifte es sich über den Kopf. Vorsichtig legte sie es anschließend über Brits Nacken. »Jetzt gehört es dir, Aster, das Privileg, die Macht und – ja, auch der Schmerz. Du mußt IHRE Verkörperung hier auf Erden werden. Dies ist deine Bestimmung, die allem anderen vorgeht. Laß dich von niemandem davon abbringen.« Ein seltsames Kältegefühl überkam Brit. Die Welt schien vor ihr zurückzuweichen, langsam gleitend, als hätte sich ein Schleier zwischen sie und diese Erde geschoben. Für ihre Augen sah Maeve nun klein und eingeschrumpelt aus. Kaum daß sie noch ihre Stimme hören konnte: »Komm, sieh mit mir. Es ist Sommer. Das Tal strahlt in sattem Grün. Du bringst das Wasser vom Strom –« Alles passierte so, wie die Vision es prophezeit hatte. Eigentlich war es ein ungeeigneter Tag für das Verderben, für die Katastrophe. Das heitere Gelb und Grün IHRES Überflusses bedeckte das Land, und zum ersten Mal konnten sich die jungen Frühlingskinder richtig austoben. Gekleidet in die lange weiße Robe ihres Amtes, trug Brit einen irdenen Krug zum Strom, um Wasser für ihre morgendlichen Waschungen zu holen. Der vergangene bittere Winter, der schreckliche Tod ihrer Lehrerin Maeve, sogar die Vision dieses Tages, der so strahlend begann, lagen entfernt in ihren Gedanken. Aber als sie den randvollen Krug aus dem Wasser
hob, wie sie es jeden Morgen im Sommer tat, begann sich die grelle Klarheit des Lichts zu verdüstern. Das traurige Lied des Vogels über ihr fügte die Einzelheiten ihrer Vision langsam zusammen. Eines kam zum andern. Die Juwelen der Wassertropfen am Henkel des Kruges sahen so aus wie damals. Ein Gefühl unsagbarer Angst überkam sie. Sofort griff sie nach dem Krug. Dabei behandelte sie ihn so ungeschickt, daß sie ihn auf der Stelle über dem Gras hätte ausschütten können. Das wollte sie auch tun, aber ihre Hand mochte sich einfach nicht bewegen. Als dieser Schreckensmoment vorüber war, versuchte sie, dem Unvermeidlichen zuvorzukommen. Aber ihre Füße leiteten sie nur am Ufer entlang, dem Pfad folgend, der durch den Wald zum Schrein führte. Bald ertappte sie sich beim Pfeifen einer nutzlosen Hymne. Dieser Umstand vertiefte ihre Furcht noch. Obwohl sie genau wußte, was sie im Innern des niedrigen Gebäudes vorfinden würde, das da widernatürlich weiß in der Sonne glänzte, erschreckte sie der Anblick doch sehr. In Scherben lag die Ölschüssel des Altars auf dem Fußboden. Ihr Docht wand sich wie eine obszöne Schlange. Die Flamme war erloschen. Obwohl sie das Feuer eilig aufs Neue anfachte, wie sie es im Laufe des Jahres oft getan hatte, wußte sie, daß es zu spät war. In dem Augenblick, als die Flamme erloschen war, hatte sich ein Riß geöffnet. Er war weit genug, um jene einzulassen, die lange von der Bucht abgehalten werden konnten. Bis zu seinem bitteren Ende mußte sich das Drama von selbst abspielen. Das grelle Gurgeln einer Frau ertönte hinter Brit.
Ohne zu wissen, ob es in Vorwegnahme ihrer zukünftigen Bestimmung oder als Reaktion auf den Schrei geschah, drehte sie sich um. Die Zeit schien stillzustehen, als sie hinab ins Dorf sah. Zu ihrer Rechten steckten die Männer die Köpfe aus den Türen und Frauen sahen von ihren Arbeiten auf. Zu ihrer Linken standen die Fearn! Nur wenige von ihnen, vielleicht ein Dutzend oder so, hatten sich hierher verirrt. Drohend standen sie da auf der Straße, in Metall gekleidet, mit Schwertern und Speeren ausgerüstet. Brit schluckte vor Wut und Angst. Jo, ihre schlanke, dunkelhaarige Halbschwester, zappelte wild im Griff eines narbigen Mannes. Hinter seinem roten Bart versteckte er ein tückisches Grinsen. Die eine Hand hatte Jos Gewand von der Schulter an aufgerissen und griff nun nach ihrer Taille. An seiner Hüfte ruhte die andere Hand leicht auf einem Kurzschwert. Jo kämpfte um ihr Leben. Als sein großer, haariger Körper sich über sie beugte, kratzte sie ihn ins Gesicht und hinterließ eine tiefe blutige Spur. Mit einem Grollen teilte er einen harten Schlag aus und ihr Kopf fiel zurück. Den betäubten Körper hinter sich herziehend, lief der Eindringling auf ein Haus in der Nähe des Zentralplatzes zu. Da warf Brit sich nach vorn und griff sich einen massiven Klotz aus dem Holzstapel. Schon schleuderte sie ihn gegen den Rücken des Störenfriedes. Dieser verhielt im Schritt, drehte sich um und ließ Jo
auf den Boden fallen. Noch einmal warf Brit und traf ihn gegen die eine Seite seines Gesichts. Ein wildes Wutgeschrei ertönte. Dem Mann fiel das zweite Holzscheit in ihrer Hand auf. Mechanisch glitt sein Schwert aus der Scheide. Beim ersten gefährlichen Stoß konzentrierte Brit sich auf die Macht in ihr. Schon sandte sie einen Impuls gegen das Schwert, um es auf die Seite zu schieben. Es funktionierte nicht! Ungehindert zischte das Schwert durch die Luft und fuhr direkt in ihren ausgestreckten Arm. Als das Metall sie berührte, fühlte sie ein schleichendes, kaltes Gift in sich hineinsickern. Reglos fiel ihr Arm herab. Gedankenschnell atmete sie einen Fluch aus. Dabei rief sie die GÖTTIN an, sie möge ihr doch Kraft geben. Anschließend richtete sie die Böse Stimme gegen ihn, um seine Glieder zu betäuben und sein Herz. Jedoch arbeiteten seine Muskeln weiter; sie ließen sich nicht aufhalten. Einige der Dorfbewohner hatten sich in einer kleinen Gruppe versammelt. Der Anführer wandte sich an seine Männer und gestikulierte mit einem Schwert. Brit verstand seine Sprache nicht, aber die Absicht war deutlich. Die Fearn bewegten sich ohne Hast. Schwerter wurden gezogen. Ein stattlicher Mann, rothaarig, jung und nackt bis zur Gürtellinie, trat vor. Mit eisernem Griff packte er die Priesterin. Verzweifelt versuchte sie zurückzuschlagen, aber ihre Glieder wollten sich nicht bewegen. Den Männern der Gruppe bedeuteten die Invaso-
ren weiterzulaufen. Einer kam fügsam herbei. Wildes Gelächter honorierte dieses Tun. Ein junger Krieger zwang den Folgsamen in die Knie. Ein anderer Dorfbewohner bewegte sich nicht. Ein schneller Stoß in die Brust beförderte ihn ins Jenseits. Der Anführer der Fearn brüllte eine sinnlose Herausforderung gegen die Dorfbewohner. Dabei dirigierte er seine Männer gegen eines der Häuser. Hinter den Invasoren ertönte ein Schrei. Eine junge Frau in wollenen Kniehosen hielt eine Sichel gegen die Kehle eines jungen Fearn. Zwei der Krieger wollten losrennen, aber der Anführer rief sie zurück. Sie schienen ganz froh darüber zu sein, daß sie nicht einzuschreiten brauchten. In ihren Gesichtern spiegelten sich Angst und Überraschung. Mit einer solchen Kühnheit hatten sie bei einer Frau nicht gerechnet. Ganz allein lief der Häuptling der Fearn nach vorn. Argwöhnisch wich die junge Frau mit ihrem Opfer zurück. Dennoch schien sie keine Furcht zu empfinden. Distanziert beobachtete sie den Anführer. Mit ausgestrecktem Schwert lief er um sie herum, dann wollte er angreifen. Der junge Krieger schrie. Schon öffnete die Sichel seine Kehle. Als er fiel, erstach der Anführer die Frau mit der Schwertspitze. In der Zwischenzeit kämpfte Brit gegen den jungen Mann, der sie festhielt, und gegen ihre eigene Hilflosigkeit. Das Metall, das ihn umsäumte, immunisierte ihn tatsächlich gegen die Macht der Göttin. Bald beobachtete Brit Szenen von ungezügelter Grausamkeit. Die Frauen und Männer des Dorfes begegneten den Invasoren mit Mistgabeln, Hacken,
Faßdauben, Sensen und leisteten verzweifelt Widerstand. Obwohl es den Fearn widerstrebte, gegen Frauen zu kämpfen und sie deshalb sogar gehemmt vorgingen, blieben sie doch geübte Mörder. In wenigen kurzen Minuten waren Brits Leute tot, auf der Flucht oder gefangen wie sie selbst. Der junge, rothaarige Mann bückte sich, um ihr aufzuhelfen. Unter Aufbietung aller Kräfte stieß sie sich von ihm ab. Sie mußte freikommen! Um jeden Preis mußte die Priesterin der GÖTTIN ungeschändet bleiben! Durch das verderbenbringende Metall in ihren Adern waren ihre Arme und Beine wie gelähmt. Trotzdem rannte sie herzklopfend auf den schützenden Wald zu. Schon betrat sie die schattige Dämmerung der Bäume. Dabei vernahm sie deutlich die harten Schritte eines Verfolgers. Plötzlich war er über ihr. Die Scheibe aus Iarn um seinen Hals preßte sich hart in ihr Fleisch. Der Geruch seines Körpers erfüllte ihre Nase und knebelte sie. Schon drückte er sie auf den dampfenden Waldboden nieder. Dann fühlte sie nur noch einen brennenden Schmerz, und das Wissen um die Vision floh. Wie lange träumte sie hier schon? In der frostigen Höhle schauderte Brit und schüttelte die Erinnerungen ab. Bald würden sie kommen. Für einen Augenblick fühlte Brit schreckliche Zweifel in sich aufsteigen. Warum hatte SIE, DIE ALLE DINGE SCHUF, ihre Söhne und Töchter verlassen? Vielleicht hatte es über all diese langen Jahre hinweg einen Krieg im Himmel gegeben. Womöglich hatte
sich einer IHRER Söhne gegen seine Mutter gewandt und beanspruchte nun die Erde, das Meer und die Luft für sich. Dieser Fearn, in dessen Namen die Fremden ihre finsteren Eide schworen, nannte sich selbst König der Könige, Oberster Heerführer. Seine Heerscharen hatten sich über die Frauen des Dorfes hergemacht, sogar über die Priesterin selbst! SIE hätte diese Beleidigung nie zugelassen. Nein, es war nicht SIE, die IHRE Töchter verlassen hatte. Sie selbst hatten SIE verlassen, ihre Ämter vernachlässigt und vergessen, IHRE Ehre zu schützen. Nachträglich stimmte Brit ein Bußgebet an. Die Stille des Rituals verlieh ihr neue Kraft. Melancholisch starrte sie auf die traurige, regendurchnäßte Ebene vor ihr. Die GÖTTIN weinte. Dan neue Leben in ihr regte sich. Mit ihrem Geist tastete sie nach ihrer ungeborenen Tochter und versuchte mit ihr zu kommunizieren. Obwohl das Kind nicht dunkelhaarig wie ihre Mutter war, besaß es doch auch den Hexensinn, das wußte Brit. Es mußte nur richtig in IHREM Namen erzogen werden, dann würde es all das erlernen, was auch die Priesterin kannte und wußte. Würden die Verfolger sie sofort töten, wenn sie kamen? Immer wieder kreiste diese Frage in Brits Kopf. Würden sie sie dafür bestrafen, daß sie die Gelegenheit zur Flucht wahrgenommen hatte, nachdem ihre Bewacher immer nachlässiger geworden waren? Oder würden sie den Dorfbewohnern gegenüber ein Exempel an ihr statuieren? Würden sie ihnen demonstrieren, daß es die Priesterin der GÖTTIN nicht mit ihrem flammenden Gott aufnehmen konnte?
Brit zitterte, nicht der Kälte wegen, sondern aus der Gegenwärtigkeit einer anderen Vision heraus. Es war keine Erinnerung wie die anderen, sondern eine Vorausschau auf das Kommende. Sie sah sich selbst in Ketten. Sah sich selbst – aber wie konnte das sein? Wer ermöglichte ihr diese Ausblicke? Bänder aus Iarn umschlangen ihre Handgelenke, von denen aus sich eine Kette zu einem Pfosten erstreckte. Obwohl sie mittlerweile alt und verschmutzt waren, trug Brit noch immer ihre weißen Kleider. Es war ihr Dorf, aber wie hatte es sich verändert. Ein Zaun sperrte den Zentralplatz, wo sie am Pranger stand, von der Umgebung ab. Erwachsene und Kinder liefen vorbei und verhöhnten sie. Die überlebenden Frauen hatten sich den Eroberern ergeben und waren eher zu Konkubinen denn zu Sklavinnen geworden. Sie waren stark geschminkt, und stolz trugen sie Bänder aus Iarn um ihre Finger oder an den Handgelenken. Ebenso hatten die Männer sich verändert. Längst hatten sie die kühne, protzige Art der Fearn angenommen und trugen Zeichen aus dem Metall um ihre Hälse. Aber es gab noch andere, tiefere Veränderungen. Der Schrein der GÖTTIN war nun dem Gott Fearn geweiht. Außerdem war es verboten worden, den Namen der Göttin in der Öffentlichkeit auszusprechen. Als ihre Vision sich fortsetzte, sah sie den rothaarigen Mann, der sie genommen hatte, zum Pfahl auf den Zentralplatz kommen. Vorsichtig band er die Priesterin los und führte sie weg. Da verstand sie urplötzlich einen Teil der Vision.
Sie sah durch die Augen ihrer jungen Tochter, des Mädchens, das im Frühling geboren werden sollte. Nur so konnte sie überlebt haben – durch den Vater, der nicht zuließ, daß man sein Kind tötete. Obwohl das Mädchen mit einigen fremdländischen Namen gerufen wurde, hatte Brit ihm doch seinen wahren Namen vermitteln können. Das Töchterchen war längst alt genug, um zu wissen, daß sein wahrer Name Maeve war. Der Abend war hereingebrochen. Unirdisch glühte der Mond durch das Fenster des Hauses, in dem Brit, ihre Tochter und der Mann ruhig lagen. Langsam und leise richtete sie sich auf. Sanft weckte sie die kleine Maeve. Mit Gesten bedeutete sie ihr, still zu sein. Nachdenklich betrachtete sie den nackten Mann, der da schlafend im Mondlicht lag. Wie leicht wäre es jetzt, sein Schwert zu ergreifen und ihn rasch und leise zu töten, ehe er erwachen konnte. Doch Brit gab ihrem inneren Drang nicht nach, sondern stahl sich ins Mondlicht hinaus und auf die Felder. Am Kreuzweg stand ein Wächter, schläfrig gegen seinen Speer gelehnt. Brit flüsterte einige sanfte Worte, und augenblicklich schlossen sich seine Augen. Ungesehen konnten die beiden Flüchtenden entkommen. Als sie den Wald erreicht hatten, begannen sie zu rennen – so schnell sie konnten und ohne auf die Geräusche zu achten, die sie verursachten. Manchmal schien es, als hielte Brit die kleine Maeve in ihren Armen, um sie sicher über den rauhen Boden zu bringen, und manchmal schien es genau umgekehrt zu sein – als wäre sie es, Brit, die getragen wurde.
Auf einer Anhöhe verhielten sie, um auf die vielen Häuser hinunterzusehen, die nun hinter ihnen lagen. Brits Gesichtszüge verhärteten sich, als sie an das Geschehene zurückdachte: an die Schändung IHRES Schreins, an das arrogante und sklavische Verhalten ihrer Leute und ihren schrecklichen, falschen Gott. Während sie so auf die schlafende Stadt hinunterblickten, begannen sich Maeves Hände plötzlich nach einem seltsamen Schema zu bewegen. Unvermittelt intonierte ihre Stimme eine uralte Sprache, die Brit noch nie gehört hatte. Die Priesterin spürte den Schauer einer Bedrohung. Da erblühten die Dächer des Dorfes in tausend Flammenknospen, welche sich in schrecklicher Pracht entfalteten. Das rote Feuer tanzte in Maeves Augen in einer Parodie der Unschuld. Was für ein Kind hatte sie da geboren, wunderte sich Bert. Wer wendete da seine zornige Zauberkraft gegen sie? Einen längeren Augenblick beobachtete sie noch fasziniert das Geschehen, dann nahm sie Maeve bei der Hand und rannte weiter. Die Vision ging in der Realität auf. In einem Augenblick stand Brit mit ihrer Tochter hier in der Höhle und diente IHRER Flamme – doch gleich darauf war Brit allein, das sichere Leben spürend, das in ihr war. Draußen übertönten Männerstimmen das Trommeln des Regens. ›Laß sie nur kommen‹, sagte eine Stimme in ihr. ›Das Kind muß sicher geboren werden!‹ Sie nickte und lief auf den Höhlenausgang zu. Ein halbes Dutzend Männer hatten die Öffnung schon entdeckt. Eben liefen sie auf die schuttbestreute Öffnung zu.
»Dort ist sie!« rief einer. »Da ist die Hexe! Sie muß getötet werden! Während sie lebt.« Der rothaarige Mann, der die Führung übernommen hatte, hob die Hand. Seine Blicke schweiften über Brits geschwollenen Bauch. »Nein!« rief er. »Es ist mein Kind, das sie trägt! Keiner soll es wagen, Hand an sie zu legen!« Im Einklang mit ihm verhielt Brit sich ruhig. Vorsichtig nahm sie die Mondscheibe von ihrem Hals und ließ sie in einer Tasche ihres Umhangs verschwinden. Für einige Zeit wollte sie mit ihm gehen und sich um des Kindes willen schmähen lassen. Die Tochter mußte geboren werden. Eines Tages würde sie mit Maeve an diesen Platz hier zurückkehren, um selbst im Exil noch nach IHREM Willen zu leben – allein, wenn es sein mußte. Was machte es, wenn tausend oder zweitausend Jahre vergehen mochten? Solange der Funke am Leben erhalten wurde, so lange war IHR Geist unsterblich. Brit streckte dem Mann die Arme entgegen. Ruhig ließ sie es zu daß er ihr die Armbänder aus Fearn um die Handgelenke legte. Stolz, wie eine Priesterin der großen GÖTTIN sein mußte, hielt sie den Kopf gerade und machte sich auf die lange Reise hinunter ins Tal.
Originaltitel: FEARN. Aus GALAXY 9/78 Übersetzt von Roland Rosenbauer
Larry Niven RAMMER Es gab einmal einen Toten. Zweihundert Jahre lang hatte er in einem Sarg gewartet, dessen äußere Hülle flüssigen Stickstoff enthielt. Überall in seinem gefrorenen Körper hatte er gefrorene Tumorklumpen. Es war ihm nicht gutgegangen. Und er wartete darauf, daß die Medizin eine Therapie für ihn fände. Er wartete vergebens. Die meisten Krebsarten waren jetzt heilbar. Aber für die Milliarden seiner vom expandierenden Eis gesprengten Zellwände gab es keine Heilung. Er hatte das Risiko gekannt und es auf sich genommen. Warum nicht? Er hätte bald sterben müssen. Millionen vereister Körper lagen in diesen Gewölben. Warum nicht? Auch sie hätten ohne dies sterben müssen. Später gab es einen Verbrecher. Sein Name ist vergessen, sein Verbrechen geheim. Aber es muß schrecklich gewesen sein. Der Staat tötete seine Persönlichkeit dafür ab. Danach war er ein toter Mann: Noch warm, noch atmend, sogar verhältnismäßig gesund – aber leer. Einen leeren Mann konnte der Staat gebrauchen. Corbett erwachte auf einem harten Tisch. Seine Glieder schmerzten ihn, als hätte er zu lange in derselben
Haltung geschlafen. Ohne sonderliches Interesse starrte er zur weißen Decke hinauf. Die Erinnerung an einen doppelwandigen Sarg, an Schlaf und an Schmerz kehrte in sein Gedächtnis zurück. Der Schmerz war geschwunden. Sofort setzte er sich auf. Und schlug mit den Armen aus, um die Balance zu halten. Nichts schien zu stimmen. Seine Arme wollten sich nicht richtig bewegen. Sein Körper war zu leicht. Sein Kopf schaukelte auf einem dünnen Hals. Verzweifelt griff er nach dem nächsterreichbaren Halt – einem blonden, jungen Mann in einem weißen Overall. Corbett verfehlte ihn; seine Arme waren kürzer, als er geglaubt hatte. Er fiel auf die Seite, schüttelte den Kopf und setzte sich vorsichtig wieder auf. Seine Arme. Mager, knochig – nicht seine Arme! »Alles in Ordnung?« fragte der Mann im Overall. »Ja«, antwortete Corbett. Seine Kehle war heiser, aber das machte ihm nichts. Sein neuer Körper paßte ihm nicht, doch schien er auch nicht verkrebst zu sein. »Welches Datum haben wir denn? Wie lange ist das jetzt her?« Schnell erholt. Der Kontrolleur gab ihm einen Pluspunkt. »Einundzwanzig-neunzig nach Ihrem Kalender. Wegen unseres Kalenders brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.« Das klang nicht sehr verheißungsvoll. Vorsichtshalber verzichtete Corbett auf die naheliegende Frage: Was ist mit mir geschehen? und sagte nur: »Warum nicht?« »Sie werden nicht in unsere Gesellschaft eingegliedert.« »Nein? Was dann?« »Mehrere Tätigkeiten stehen Ihnen offen – eine be-
schränkte Auswahl. Eignen Sie sich für keine davon, dann versuchen wir es mit jemand anderem.« Corbett saß auf der Kante des harten Operationstisches. Sein Körper kam ihm jünger, dünner, beweglicher vor. Und dann fiel ihm besonders auf: Sein Unterleib tat ihm nicht weh, ganz gleich wie er sich bewegte. »Was wird aus mir?« fragte er. »Diese Frage zu beantworten habe ich nie gelernt. Nennen Sie es eine Sache der Metaphysik«, gab der Kontrolleur zur Antwort. »Ich will Ihnen sagen, was bisher mit Ihnen geschehen ist. Dann können Sie sich Ihre eigene Vorstellung machen.« Es gab einen leeren Mann. Er atmete noch und war so gesund wie die meisten seiner Zeitgenossen im Jahr zweitausendeinhundertundneunzig. Doch er war leer. Gehirnströme, Nervenbahnen Gedächtnis, Persönlichkeit – alles war völlig zerstört worden. Und da war dieses gefrorene Ding. Und im Gehirn dieses vereisten Körpers standen noch elektrische Felder, die man aufnehmen konnte. Der Prozeß erwärmte das Gehirn und zerstörte die meisten der Felder. Aber das spielte kaum eine Rolle, denn auch andere Dinge mußten getan werden. Die Persönlichkeit steckte nicht nur im Gehirn. Die Ribonukleinsäure des Gedächtnisses war im Gehirn konzentriert, fand sich aber auch in den Nerven und im Blut. In Corbetts Fall mußten die Krebsknoten exzisiert werden – dann konnte man aus dem, was übrigblieb, die RNS extrahieren. Nach der Operation blieb etwas übrig, was nicht mehr viel mit einem menschlichen Wesen gemein hatte. Mehr eine Art
blutiger Brei, dachte Corbett. »Was wir mit Ihnen gemacht haben, kann man nur einmal machen«, erläuterte der Kontrolleur. »Wir geben Ihnen eine Chance, das ist alles. Wenn es nicht klappt, ist der Fall abgeschlossen, und wir versuchen es mit einer anderen Person. In unseren Gewölben haben wir noch eine Menge wie Sie.« »Sie meinen, Sie würden meine Persönlichkeit auslöschen«, sagte Corbett unsicher. »Aber ich habe kein Verbrechen begangen. Habe ich denn gar keine Rechte?« Der Kontrolleur sah ihn verdutzt an. Dann lachte er. »Ich dachte, ich hätte Ihnen das bereits erklärt. Der Mann, der Sie zu sein glauben, ist tot. Corbetts Testament wurde schon vor sehr langer Zeit eröffnet. Seine Witwe –« »Ich habe mir selbst Geld hinterlassen, verdammt noch mal! Einen Treuhand-Fonds!« »Zwecklos.« Obwohl der Mann noch lächelte, war sein Gesicht unpersönlich und kalt. »Ein Toter kann kein Eigentum mehr besitzen – das haben die Gerichte schon lange entschieden. Es war unfair den Erben gegenüber. Zuviel Geld wurde dem monetären Umlauf entzogen.« Corbett klopfte sich mit einer unerwartet knochigen Faust gegen seine knochige Brust. »Aber ich lebe jetzt.« »Nicht nach dem Gesetz. Sie können Ihr neues Leben verdienen; der Staat gibt Ihnen eine neue Geburtsurkunde und nimmt Sie als Bürger auf, wenn Sie ihm einen guten Grund dafür liefern.« Corbett mußte das erst verdauen. Endlich stand er auf. »Also gut. Was müssen Sie über mich wissen?«
»Ihren Namen.« »Jerome Corbett.« »Nennen Sie mich Pierce«, sagte der Kontrolleur, reichte ihm aber nicht die Hand. Auch Corbett verzichtete darauf, vielleicht, weil er fühlte, daß der Mann nicht reagieren würde, vielleicht auch, weil kein Zweifel daran bestand, daß sie beide ein Bad dringend nötig hatten. »Ich bin Ihr Kontrolleur. Mögen Sie Menschen? Ich frage nur. Wir werden Sie noch genauer testen.« »Ich komme mit meiner Umgebung aus, lege aber auch Wert auf meine Privatsphäre.« Der Kontrolleur runzelte die Stirn. »Das engt unseren Spielraum um einiges ein. Diese Absonderung, die Sie Privatsphäre nennen, war – nun, eine Art Modeerscheinung. Dafür gibt es jetzt keinen Platz mehr, und wir haben auch sonst nicht viel dafür übrig. In eine Koloniewelt können wir Sie nicht schicken.« »Ich würde vielleicht einen ganz guten Kolonisten abgeben.« »Genetisch gesehen, wären Sie völlig unbrauchbar. Vergessen Sie nicht – es sind nicht Ihre Gene. Nein. Sie haben nur eine Wahl, Corbett. Rammer.« »Rammer?« »Sieht so aus.« »Das ist das erste fremde Wort, das Sie gebraucht haben, seit ich aufwachte. Hat sich – hat sich denn die Sprache überhaupt nicht verändert? Sie haben ja nicht mal einen Akzent.« »Das gehört zu meinem Job. Ich habe Ihre Sprache mit Hilfe einer RNS-Behandlung gelernt. Sie werden Ihre Arbeit auf dieselbe Weise lernen – wenn Sie so weit kommen. Sie werden erstaunt sein, wie schnell
Sie lernen können, wenn man Ihnen mit RNSSpritzen hilft. Was nun Ihre Privatsphäre anbetrifft, so sollten Sie sich da keinen Illusionen hingeben, Corbett. Es ist Ihnen nichts Neues, Befehle auszuführen?« »Ich war bei der Armee.« »Was soll das heißen?« »Nein.« »Gut. Mögen Sie ferne Gegenden und fremde Leute – oder umgekehrt?« »Beides.« Corbett lächelte hoffnungsvoll. »Ich habe überall in der Welt Gebäude errichtet. Kann die Welt noch einen Architekten gebrauchen?« »Nein. Sind Sie der Ansicht, daß der Staat Ihnen etwas schuldet?« Darauf gab es nur eine Antwort. »Nein.« »Aber Sie ließen sich einfrieren. Sie müssen geglaubt haben, die Zukunft sei Ihnen noch etwas schuldig.« »Durchaus nicht. Aber ich lag ja im Sterben.« »Ah.« Der Kontrolleur sah ihn nachdenklich an. »Wenn Sie an etwas glaubten, würde Ihnen das Sterben vielleicht nicht so viel bedeuten.« Corbett sagte nichts. Er mußte sich einem kurzen Wort-Assoziations-Test in englischer Sprache unterziehen. Dann nahm man ihm eine Blutprobe ab, ließ ihn in einer Art Tretmühle bis zur Erschöpfung laufen und untersuchte von neuem sein Blut. Man testete seine Schmerzschwelle durch direkte Nervenstimulation – was überaus unangenehm war – und nahm ihm eine weitere Blutprobe ab. Man gab ihm ein chinesisches Puzzle und
ließ es ihn zusammensetzen. Damit waren die Tests vorüber, wie Pierce ihm mitteilte. »Im Grunde genommen kennen wir ja Ihren Gesundheitszustand bereits.« »Warum dann die Blutproben?« Der Kontrolleur sah ihn einen Augenblick an. »Das möchte ich gerne von Ihnen wissen.« Irgend etwas in seinem Blick gab Corbett das unheimliche Gefühl, daß es für ihn um Leben und Tod ging. Vielleicht war dieses Gefühl nur auf das eigenartig schmale Gesicht des Kontrolleurs zurückzuführen, auf den eisigen Blick seiner blauen Augen und sein schwer zu deutendes Lächeln. Jedenfalls war Pierce während der ganzen Tests nicht von seiner Seite gewichen und hatte ihn beobachtet, als wäre Corbetts Verhalten von entscheidender Wichtigkeit für sein Urteil. Corbett überlegte sorgfältig, bevor er sprach. »Sie müssen wissen, wie weit ich durchhalte. Sie können die Blutproben auf Adrenalin und Ermüdungsgifte untersuchen und feststellen, wie sehr ich zu leiden hatte und wie müde ich wirklich war.« »So ist es«, sagte der Kontrolleur. Wieder hatte Corbett überlebt. Eigentlich hätte er beim Schmerztest schon viel früher aufgegeben. Aber irgendwann hatte Pierce ganz beiläufig bemerkt, daß Corbetts Persönlichkeit schon die vierte war, die man in diesem leeren Körper ausprobierte. Er dachte daran, wie er sich das letzte Mal schlafen gelegt hatte – vor zweihundert Jahren.
Seine Familie und seine Freunde hatten sich um ihn versammelt wie Trauernde. Er hatte den Sarg gewählt, für die Lagerung im Gewölbe bezahlt und sein Testament gemacht. Mit dem Tod hatte er den Vorgang nicht in Verbindung gebracht. Ihm war nicht zumute, als stürbe er. Man hatte ihm eine Spritze gegeben. Der ständige, peinigende Schmerz war verflogen. Er war in den Schlaf gesunken. Er hatte sich noch gefragt, wie die Zukunft aussehen würde. Was würde sich alles verändert haben, wenn er wieder aufwachte? Würde es eine Weltregierung geben? Interplanetarische Raumschiffe? Saubere Kernfusion? Seltsame Kleidung, Körperbemalung, Nudismus? Oder Überbevölkerung, Armut, erschöpfte Brennstoffvorräte, Bereitstellung von Energie durch billige Arbeitskräfte? Auch das hatte er erwogen, ohne darin eine große Gefährdung zu sehen. Wenn sie so arm waren, würden sie ihn erst gar nicht wecken. Die Welt, von der er in jenen letzten Momenten träumte, war eine reiche Welt – eine Welt, die sich einen Luxus wie Jerome Corbett leisten konnte. Aber möglicherweise würde er nicht viel von dieser Welt sehen. Nach den Tests kam ein Wächter, packte Corbetts dünnen Oberarm mit eisernem Griff und führte ihn weg. Flucht war genausowenig möglich, als hätte man ihm die Füße aneinandergefesselt. Über eine enge Plastiktreppe dirigierte ihn der Wächter zum Dach. Die Mittagssonne strahlte grell vom blauen Himmel, der in Richtung zum Horizont gelb und dann bräunlich wurde. Stellenweise war das Dach mit grü-
nen Pflanzen bewachsen. Irgendwo reflektierten große, glasige Flächen das Sonnenlicht. Von einer Brücke zwischen zwei Dächern warf Corbett einen Blick auf die neue Welt. Es war eine Stadtlandschaft aus eng gedrängten Gebäuden – alle vom selben kalten, kubistischen Aussehen. Corbett befand sich in unmöglicher Höhe auf einem Steg, der zwar aus Beton bestand, jedoch keinerlei Geländer hatte. Entsetzt blieb er stehen. Der Wächter sagte nichts. Er zupfte Corbett ein wenig am Ärmel und wartete darauf, was er tun würde. Corbett gab sich einen Ruck und ging weiter. In dem Raum gab es nur Kojen – mehrstöckige Kojen mit einem Gang dazwischen. Draußen war es fast Mittag, doch hier war das Licht kühl und künstlich. Erwartete man von ihm, daß er schlief? Es gab etwa tausend Kojen in diesem Raum. Die meisten davon waren belegt. Ein paar der Gestalten sahen uninteressiert zu, als der Wächter ihm seine Koje zeigte. Es war die unterste von sechs. Corbett mußte in die Knie gehen, damit er sich hineinrollen konnte. Das Bettzeug war seltsam seidig und glatt – die einzige Spur von Luxus in diesem Raum. Zudecke gab es keine. Er drehte sich auf die Seite und schaute etwa aus Bodenhöhe in den Schlafraum hinaus. Drei Dinge schockierten ihn. Das erste war der Geruch. Auch Parfums und Deodorants waren offenbar eine vorübergehende Modeerscheinung gewesen. Pierce hätte dringend ein Bad gebraucht. Corbett selbst brauchte es auch. Der Geruch grenzte bereits an Gestank. Das zweite waren die Doppelkojen – vier davon
waren übereinander gebaut – die breiter als die Einzelkojen waren und dickere Matratzen hatten. Die Doppelkojen waren zum Lieben, nicht zum Schlafen bestimmt. Was Corbett schockierte, war, daß sie völlig offen waren und nicht einmal einen Vorhang hatten. Das gleiche galt für die Toiletten. Wie können die nur so leben? Corbett rieb sich die Nase, fuhr zusammen und fluchte. Das dritte Mal war ihm das nun passiert. Seine eigene Nase war groß und etwas knollig gewesen. Die Nase hingegen, die er jetzt automatisch rieb, wenn er überlegte, war klein, schmal und gerade. An den Geruch und alles andere würde er sich eher gewöhnen als an seine eigene Nase. Stunden später kam jemand, um ihn zu holen. Der Mann, ein breitschultriger, stämmiger Typ mit ausdruckslosem Gesicht verschwendete nicht viele Worte. Er suchte Corbetts Koje, zog ihn an einem Arm heraus und zerrte ihn mit sich fort. Corbett fand sich Pierce gegenüber, ehe er noch ganz wach war. »Spricht außer Ihnen denn niemand Englisch?« fragte er verärgert. »Nein«, antwortete der Kontrolleur. Pierce und der Wächter führten ihn zu einem bequemen Sessel vor einem breiten, leicht gebogenen Projektionsschirm und setzten ihm gepolsterte Kopfhörer auf. Auf ein Brett über seinem Kopf stellten sie eine Plastikflasche mit einer transparenten Flüssigkeit. Corbett bemerkte einen durchsichtigen Plastikschlauch mit einer Spritzennadel am Ende. »Frühstück?« Pierce schien seinen Sarkasmus nicht zu mögen.
»Eine Mahlzeit pro Tag – nach Unterricht und Gymnastik.« Er führte die Nadel in Corbetts Armvene ein. Die Einstichstelle bedeckte er mit einem kleinen Klumpen von etwas, was wie simpler Glaserkitt aussah. Ohne Gemütsbewegung sah Corbett zu. Wenn er jemals Angst vor Nadeln gehabt hätte – die schmerzvollen Monate, als er an Krebs gelitten hatte, hatten ihn von dieser Angst befreit. Die Nadel brachte wenigstens für eine Weile Befreiung von Schmerz. »Lernen Sie jetzt«, sagte Pierce. »Dieser Knopf reguliert die Geschwindigkeit. Die Lautstärke ist Ihrem Gehör angepaßt. Jede Sektion können Sie einmal wiederholen. Und keine Sorge wegen Ihres Arms – die Nadel schlüpft nicht heraus.« »Ich wollte Sie noch etwas fragen – aber das Wort fiel mir nicht mehr ein. Was ist ein Rammer?« »Ein Raumschiffpilot.« Corbett faßte den Kontrolleur scharf ins Auge. »Soll das Ihr Ernst sein?« »Ja. Lernen Sie jetzt.« Der Kontrolleur schaltete die Projektion ein und ging. Ein Rammer war ein Raumschiffpilot. Die Raumschiffe waren Bussard-Ramjets. In elektromagnetischen Feldern fingen sie interstellaren Wasserstoff ein und komprimierten und verbrannten ihn zur Erzielung von Rückstoßschub. Theoretisch waren ihrer Geschwindigkeit fast keine Grenzen gesetzt. Sie waren ungemein stark, ungemein kompliziert, ungemein teuer. Daß der Staat ein System von derart immensem Wert, von so ungeheurer Masse und Kraft ihm anvertrauen wollte, fand Corbett unglaublich. Ihm, einem
Mann, der seit zwei Jahrhunderten tot war! Außerdem war Corbett Architekt und kein Astronaut. Daß es die Konzeption des Bussards schon vor seinem Tod gegeben hatte, war ihm ganz neu. Die Flüge von Apollo XI und XIII hatte er im Fernsehen verfolgt; darin hatte sich sein Interesse an der Raumfahrt bis jetzt erschöpft. Und jetzt hing sein Leben von seiner ›Rammer‹Karriere ab, daran gab es keinen Zweifel. Deswegen hielt er es an diesem ersten Tag vierzehn Stunden lang vor dem Projektionsschirm aus, die Kopfhörer über den Ohren. Er hatte Angst, daß man ihn testen könnte. Er verstand nicht alles, was er hier lernen sollte. Aber getestet wurde er auch nicht. Am zweiten Tag wurde es interessanter. Am dritten Tag war er fasziniert. Dinge, die er niemals zuvor verstanden hatte – die Magnetismus-Lehre, Relativitäts-Theorie und abstrakte Mathematik – erfaßte er jetzt intuitiv. Es war wunderbar! Er dachte nicht weiter darüber nach, warum der Staat Jerome Corbett ausgesucht hatte. Man machte es immer so. Und es war auch ganz sinnvoll. Die Nutzlast eines Raumschiffs war klein, seine Lebensdauer größer als die eines Menschen. Ein angemessen sicheres Versorgungssystem für einen Mann machte bereits einen überproportional großen Anteil der Nutzlast aus. Der Rest stand für die biologischen Sonden zur Verfügung. War es erforderlich, daß ein loyaler Bürger des Staates Pilot war? Bis das Raumschiff zurückkehren konnte, verging sehr viel Zeit. Inzwischen konnte sich vieles ändern. Der Staat selbst hatte möglicherweise ein völlig anderes Gesicht. Ein Rammer, der von einer
solchen Expedition zurückkehrte, mußte sich einer völlig neuen Kultur anpassen – ohne daß man im vorhinein hätte sagen können, wie diese Kultur aussehen würde. Warum sollte man also nicht einen Mann aussuchen, der sich bereits entschlossen hatte, anpassungsfähig zu sein? Einen Mann, dessen eigene Kultur zum Zeitpunkt des Beginns seiner Expedition schon seit zwei Jahrhunderten tot war? Einen Mann, der dem Staat bereits sein Leben verdankte? Die RNS war ungemein wirksam. Corbett wunderte sich nicht mehr über Pierces gelassendominierende Art. Allmählich sah er sich als Eigentum, das auf einen bestimmten Zweck hin programmiert wurde. Und er lernte. Nach einer Weile ›las‹ er auf Magnetband gespeicherte Texte so fließend, als kenne er sie bereits. Bald war er überzeugt, ein Raumschiff mit bloßen Händen bauen zu können, wenn er die nötigen Teile hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er Zahlen geliebt; bei abstrakter Mathematik hatte er sich allerdings bis jetzt überfordert gefühlt. Nun lernte er, mit Feldtheorie, Monopolfeld-Gleichungen und Schaltkreisplänen umzugehen. Die Bestimmung von Schwerkraftfeldern und der Umgang mit ihnen bedeutete bald keine Schwierigkeiten mehr. Der Lernstuhl war sein Leben. Der Rest seiner Zeit – ausgefüllt mit Körperübungen, Essen und Schlafen – blieb verschwommen und uninteressant. Gymnastik betrieb er mit etwa zwanzig anderen in einem Raum, der zu klein dafür war. Wie Corbett waren die anderen schlank und drahtig – ein auffallender Gegensatz zur stämmig-muskulösen Statur ihrer
Wächter. Nach vierzehn Stunden im Lernstuhl war die Gymnastik eine angenehme Abwechslung für Corbett, und er folgte willig den Anordnungen des Wächters. Der Mann trug etwas an seinem Gürtelhalfter, was wie der Gummiknüppel eines Polizisten aussah. Und es hätte auch einer sein können – bis auf das Loch an einem Ende. Corbett fragte sich, was das wohl sein mochte, versuchte aber gar nicht, die Antwort zu finden. Während der Gymnastik sah er manchmal Pierce. Pierce und der Mann, der die Lernstühle beaufsichtigte, waren von einem etwas anderen Typ: Gut genährt und bei angemessener Kondition, aber am Rande des Übergewichts. Corbett kamen sie vor wie die Amerikaner aus alten Zeiten. Von Pierce erfuhr er auch, welche Tätigkeiten wiederbelebten und reprogrammierten Kriminellen offenstanden: Hilfsdienste in der Landwirtschaft, Arbeiten mit einfachen, sich ständig wiederholenden Bewegungsabläufen sowie die Ausübung gewisser Handwerke. Und das in überfüllten Hallen und vierzehn Stunden am Tag! »Die armen Hunde«, sagte er zu Pierce. »Was ist das für ein Leben?« »Auf diese Weise zahlen sie ihre Schuld an den Staat zurück.« Sein eigenes Leben war durchaus angenehm: Vierzehn Stunden im Lernstuhl, eine Stunde anstrengende Gymnastik, eine Stunde Essen und acht Stunden Ruhe im freilich recht vollen Schlafraum. »Arbeiten, essen, schlafen. Und immer so zusammengepfercht. Die armen –«
»Überlegen Sie, Corbett. Was würde so einer mit seiner freien Zeit anfangen? Ein Sozialleben hat er nicht – er muß es erst lernen, indem er Bürger beobachtet. Und ihre Arbeit bringt sie häufig in die Nähe von Bürgern.« »So daß sie zu ihnen aufschauen können, während sie arbeiten? Aber so lernt man doch nichts. Bis das zu einem Ergebnis führt, braucht es Jahrzehnte.« »Nach dreißigjähriger Dienstleistung erhält so ein Mann im allgemeinen sein Geburtszeugnis. Damit bekommt er das Arbeitsrecht sowie ein garantiertes Basiseinkommen, das ihm erlaubt, Lernprogramme zu kaufen und sich Injektionen geben zu lassen. Die medizinischen Leistungen sind enorm. Wir leben länger als Sie damals, Corbett.« »Aber bis die soweit sind, leisten sie Sklavenarbeit. Nun, mich berührt das ja eigentlich nicht.« »Nein, natürlich nicht. Übrigens ist die Bezeichnung Sklavenarbeit nicht richtig. Ein Sklave kann niemals aufhören. Sie können sich jederzeit einen anderen Job aussuchen. Es besteht Wahlfreiheit.« Corbett fröstelte. »Jeder Sklave kann Selbstmord begehen.« »Selbstmord? Du meine Güte«, sagte der Kontrolleur deutlich. Wenn er irgend etwas wie einen Akzent hatte, dann war es die Überdeutlichkeit seiner Aussprache. »Jerome Corbett ist tot. Ich hätte Ihnen sein intaktes Skelett als Souvenir geben können.« »Das bezweifle ich nicht.« Corbett sah sich selbst gefühlvoll seine eigenen weißen Gebeine polieren. Aber wo hätte er so etwas aufbewahren sollen? »Nun denn. Sie sind ein gehirnamputierter Verbrecher – mit Recht amputiert, wie ich hinzufügen
möchte. Ihr Verbrechen hat Sie Ihr Bürgerrecht gekostet. Gleichwohl haben Sie noch das Recht, Ihr Tätigkeitsfeld zu wechseln. Sie brauchen nur eine andere Persönlichkeit zu beantragen. Welcher Sklave hat schon diese Möglichkeit?« »Ich käme mir vor, als würde ich sterben.« »Unsinn. Sie schlafen ein, sonst nichts. Wenn Sie aufwachten, hat Ihr Gedächtnis einen anderen Satz von Informationen erhalten.« Das Thema war unangenehm. Corbett vermied es von nun an. Gespräche mit dem Kontrolleur konnte er allerdings nicht vermeiden. Pierce war der einzige Mensch auf der Welt, mit dem er reden konnte. Wenn Pierce sich einmal einen Tag lang nicht zeigte, fühlte sich Corbett frustriert. Einmal befragte er ihn über punktförmige Gravitationsquellen. »Zu meiner Zeit kannte man so etwas noch nicht.« »Doch. Neutronensterne. Etwa 1970 hatten Sie eine Anzahl von Pulsaren lokalisiert und besaßen auch die zur Bestimmung ihrer Lebenszeit nötigen mathematischen Methoden. Aber Sie wissen wohl nicht sehr viel über die damalige Zeit, wie?« »Astrophysik war nicht mein Gebiet. Und wir hatten auch nicht Ihre Lernmethoden.« Das erinnerte ihn an etwas. »Pierce, Sie haben Englisch mit RNSInjektionen gelernt. Woher kam die RNS?« Pierce grinste und ging. Corbett wollte nicht sterben. Im Augenblick war er äußerst gesund und zwanzig Jahre jünger, als er bei seinem Tode gewesen war. Sein Rammer-Training fand er weiterhin faszinierend. Wenn sie nur aufhö-
ren würden, ihn zu behandeln, als sei er ihr Eigentum. Zwanzig Jahre vor seinem Tod war Corbett in der Armee gewesen. Er hatte gelernt zu gehorchen, wenn auch sehr widerwillig. Was ihn damals erbittert hatte, war, daß seine militärische Funktion auf der Grundannahme seiner Unterlegenheit basiert hatte. Aber kein Offizier hatte ihm jemals ein derartiges Gefühl der Unterlegenheit gegeben wie Pierce oder Pierces Wächter. Niemals hatte der Kontrolleur einen Befehl wiederholt. Niemals schien er auch nur in Betracht gezogen zu haben, daß Corbett die Ausführung verweigern könnte. Corbett wußte, was geschehen würde, wenn er sich nur ein einziges Mal weigerte. Und Pierce wußte, daß er es wußte. Nein, sein Leben war nicht angenehm. Bürger letzter Klasse zu sein, erbitterte ihn. Mit niemandem konnte er reden, außer mit Pierce, und den begann er allmählich zu hassen. Zumeist war er hungrig; die einzige tägliche Mahlzeit sättigte ihn kaum. Kein Wunder, daß er so mager war. Sein Leben verlagerte sich mehr und mehr in den Lernstuhl. Hier schien die Ohnmacht seiner Existenz zur Allmacht zu werden. Raumfahrer zu sein! Das Feuer zu beherrschen, das Sonnen zum Glühen brachte – Brennstoff aus dem interstellaren Raum einzufangen – elektromagnetische Felder auszubreiten wie gigantische Vögel – Zwei Wochen, nachdem er zum Leben wiedererweckt worden war bekam Corbett vom Staat den Kurs.
Er lagerte bequem auf einem körpergerecht geformten Sessel. RNS-Lösung tropfte in ihn hinein. Die Nadel bemerkte er gar nicht mehr. In die Karte auf dem Projektionsschirm war mit grünen Linien sein Kurs eingezeichnet. Corbett dachte schon nicht mehr darüber nach, wie der dreidimensionale Effekt zustande kam. Während er den Projektionsschirm betrachtete, verkleinerte sich der Maßstab. Zwei winzige Flecken und eine glühende Kugel, umgeben von einer schwach schimmernden Corona. Diesen Teil seines Kurses kannte er schon. Ein LinearAkzelerator würde ihn vom Mond aus starten und in Richtung zur Sonne auf Ramjet-Geschwindigkeit beschleunigen. Die solare Gravitation würde sein Tempo steigern, während seine elektromagnetischen Felder den Sonnenwind einfingen und als Antriebskraft ausnutzten. Und dann, noch weiter beschleunigend zu den Sternen. Der Maßstab auf dem Projektionsschirm wurde immer kleiner und kleiner. Die Entfernungen zwischen den Sternen nahmen erschreckende Ausmaße an. Van Maanans Stern war zwölf Lichtjahre entfernt. Kurz nach Zurücklegung der halben Distanz würde der Abbremsvorgang beginnen. Das war eine knifflige Phase. Er mußte seine Geschwindigkeit genügend verlangsamen, um die biologischen Sonden abschicken zu können, ohne die kritische RamjetGeschwindigkeit zu unterschreiten. Außerdem mußte er die Masse des Sterns für eine Kurskorrektur ausnützen. Ein Fehler war hier absolut tödlich. Dann weiter zum nächsten, noch entfernteren Ziel.
Corbetts Augen folgten der grünen Linie; ein Teil von ihm schien das alles bereits zu kennen, während ein anderer Teil erschrocken die Entfernungen registrierte. Zehn Sterne, alle gelbe Zwerge vom Sol-Typ, durchschnittlich fünfzehn Lichtjahre voneinander entfernt – wobei die Distanz einmal zweiundfünfzig Lichtjahre betrug. Hier würde er annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen. Immerhin verstärkten solche Geschwindigkeiten den Ramjet-Effekt. Zehn Sterne würde er so passieren und dann nach einem schwierigen Wendemanöver zum Sonnensystem und zur Erde zurückfliegen. Er würde von der Zeit profitieren, in der er annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichte. Auf der Erde würden dreihundert Jahre vergehen; Corbett freilich würde nur zweihundert Jahre Schiffszeit durchleben, was auch nur mit Hilfe einer temporären Stillegung seiner Lebensfunktionen möglich war. Beim ersten Lerndurchgang fiel ihm das gar nicht auf – auch nicht beim zweiten Mal. Aber mehrfache Wiederholung war in das Lehrprogramm eingebaut. Erst auf dem Weg zum Gymnastikraum kam es ihm voll zum Bewußtsein. Dreihundert Jahre? Dreihundert Jahre! Richtig Nacht war es eigentlich nicht. Draußen mußte es Nachmittag sein. Der Schlafraum war stets von einem kühlen Licht erhellt, das gerade noch zum Lesen gereicht hätte, wenn er Bücher gehabt hätte. Fenster gab es keine. Corbett hätte schlafen sollen. Jede Minute, die er so vor sich hin starrte, peinigte ihn. Die meisten anderen
schliefen; nur ein Paar liebte sich geräuschvoll in einer der Doppelkojen. Einige von den Männern lagen mit offenen Augen da, und zwei Frauen flüsterten miteinander. Corbett verstand ihr Idiom nicht. Jemanden, der Englisch sprach, hatte er noch nicht gefunden. Er hatte den Verdacht, daß es zwei Schichten gab – daß am Vormittag jemand anderer in seiner Koje schlief. Aber beweisen konnte er nichts. Das rutschigglänzende Bettzeug mußte sehr leicht zu reinigen sein. Corbett litt unter furchtbarem Heimweh. Die ersten paar Tage waren die schlimmsten gewesen. Den Geruch bemerkte er schon nicht mehr. Wenn ihn allerdings etwas daran erinnerte, glaubte er, die Ausdünstungen von Milliarden von Menschen in der Nase zu haben. Ansonsten war der Geruch für ihn Teil seiner Umwelt. Die Liebeskojen indessen störten ihn. Wenn sie benützt wurden, sah er zu. Wenn er sich zwang, nicht zuzusehen, hörte er zu. Er konnte nicht anders. Doch zweimal hatte er, als ihn eine kleine Brünette mit hübschem Elfengesicht in Zeichensprache aufforderte, abgelehnt. Öffentlich lieben? Das konnte er nicht. Den Gebrauch der Liebeskojen konnte er vermeiden, nicht hingegen die Benutzung der offenen Toiletten. Das war ihm sehr unangenehm. Das erste Mal konnte er sich nur dazu zwingen, indem er unverwandt auf seine Füße starrte. Als er seine Hose hochzog und wieder aufsah, bemerkte er, daß ihn eine Anzahl von Schläfern offensichtlich amüsiert beobachtete. Vielleicht lag es daran, wie er seine Hose
über die Knöchel heruntergelassen hatte, vielleicht auch daran, daß er nicht an der Reihe war. Für die Toilettenbenutzung gab es eine Art Rangordnung. Die Einzelheiten waren ihm noch nicht klar. Corbett wollte nach Hause. Die Idee war ganz unvernünftig. Aber Vernunft half ihm in diesem Falle nicht – er wollte fort. Nach Hause zu Miriam, die längst an Altersschwäche gestorben sein mußte. Irgendwohin nach Hause: Nach Rom, San Francisco, Kansas City, Hawaii, Brasilia. All diese Orte waren verschieden, aber überall dort hatte er gelebt. Corbett war ein sehr reiselustiger Mann gewesen, der sich überall ›zu Hause‹ gefühlt hatte. Hier, freilich fühlte er sich nicht so und würde es niemals tun. Doch auch dieser ungeliebte Ort würde ihm nicht bleiben. Selbst diese Welt aus vier Räumen und zwei Dächern – diese Welt voll zusammengepferchter, stummer Kreaturen, diese Welt der Sklaverei, über die er nichts wußte – sie würde verschwunden sein, wenn er von den Sternen zurückkehrte. Corbett drehte sich um und begrub das Gesicht in den Armen. Wenn er nicht schlief, würde er morgen halbtot vor Müdigkeit sein. Vielleicht versäumte er gerade dann etwas Wichtiges. Seinen Ausbildungsstand hatte man noch nicht überprüft. Lesen Sie das. Noch nicht, noch nicht – Plötzlich wachte er auf, bereits auf einen Ellenbogen gestützt. Woran hatte er da eben gedacht? Ah. Warum habe ich mir über die biologischen Sonden noch keine Gedanken gemacht? Einen Augenblick später machte er sich Gedanken.
Was sind eigentlich die biologischen Sonden? Die Frage war, warum er sich das niemals gefragt hatte. Er wußte, was und wo sie waren: Schwere, dicke Zylinder, außen am Rumpf eines Raumschiffes befestigt. Zehn davon gab es, und jeder davon wog fast so viel wie Corbetts eigenes Lebenserhaltungssystem. Er kannte ihre Masseverteilung. Er kannte das Klammersystem, mit dem sie an der Außenhaut des Schiffes befestigt waren, und konnte diese Klammern betätigen und notfalls auch reparieren. Er wußte sogar beinahe, wohin diese Sonden gingen, wenn er sie auslöste; es lag ihm geradezu auf der Zunge – was bedeutete, daß er die RNS-Spritzen bekommen, die Instruktionen aber noch nicht gesehen hatte. Aber er wußte nicht, wozu diese Sonden dienten. Mit dem Schiff war es genauso, erkannte er jetzt. Er wußte alles, was es über diese Art Schiff zu wissen gab. Von interplanetarischen oder Boden-KreisbahnTransportmitteln hatte er jedoch keinerlei Ahnung. Er wußte, daß ihn ein Linear-Akzelerator vom Mond starten würde. Er kannte das Aussehen des Akzelerators – aufrecht stehende Ringe, die in einem Mondmeer ein dreihundertfünfzig Kilometer langes Rohr bildeten. Er wußte, was zu tun war, wenn beim Start etwas schiefging. Aber das war auch alles, was er über den Mond und die dort vorhandenen Einrichtungen wußte, abgesehen von dem, was er vor zweihundert Jahren auf dem Bildschirm gesehen hatte. Was ging hier eigentlich vor? In den zwei Wochen seit seiner Ankunft (seiner Erweckung? seiner Wiederauferstehung?) hatte er vier Räume und zwei Dä-
cher kennengelernt, von einer Brücke aus eine phantastische Stadtlandschaft gesehen und mit einem Mann gesprochen, der kein Interesse daran hatte, ihm irgend etwas zu sagen. Was war in diesen zweihundert Jahren geschehen? Diese Männer und Frauen, die um ihn herum schliefen. Wer waren sie? Warum waren sie hier? Er wußte nicht einmal, ob sie wiedererweckte Menschen einer früheren Epoche waren wie er oder der gegenwärtigen Zeit entstammten. Wahrscheinlich letzteres. Die seltsamen hygienischen Einrichtungen schienen keinen von ihnen zu stören. Corbett hatte seine Gebäude überall in der Welt errichtet. Aber nie aufs Geratewohl. Stets hatte er Sprache und Gebräuche studiert, ehe er sich an den Ort begab, wo gebaut wurde. Hier hatte er keine Grundlage – nichts, wovon er ausgehen konnte. Er war verloren. Hätte er nur jemanden gehabt, mit dem er wirklich hätte reden können! Er lernte jetzt schnell, nahm derartige Mengen von Wissen in sich auf, daß er gar nicht mehr merkte, wie eng umgrenzt es letztlich doch war. Der Staat lehrte ihn nur, was er unbedingt wissen mußte oder vielleicht einmal brauchen konnte. Jede einzelne Information war streng auf seine Tätigkeit ausgerichtet. Rammer. Er verstand, was dahintersteckte. Jahrhundertelang würde er abwesend sein. Warum sollte ihn der Staat irgend etwas über die gegenwärtige Technik oder Geographie lehren? Sobald er zurückkam, würde er Schwierigkeiten genug haben, wenn er – Außerdem, wer hatte ihn gelehrt, die Regierung ›Staat‹ zu nennen? Wie weit ihre Macht ging, wußte er nicht. Wie
kam er darauf, den Staat als allmächtig zu sehen? Es mußte das RNS-Training sein. Mit Daten hatte er sich auch Anschauungen einverleibt – im Unterbewußtsein, wo sie dem Zugriff der Vernunft entzogen waren. Was bedeutete das für ihn? Er hatte seine frühere Welt verloren. Und er würde auch diese verlieren. Laut Pierce hatte er sich selbst schon viermal verloren. Ein verurteilter Krimineller, dessen Persönlichkeit man viermal ausgetauscht hatte. Seine eigenen Anschauungen und Motivationen machten nach und nach der RNS-Lösung Platz, mit der der Staat ihn zum Rammer machte. Gab es nichts mehr, was ihm gehörte? In der Gymnastikstunde sah er Pierce diesmal nicht. Egal. Er war ziemlich erschöpft. Wie gewöhnlich aß er wie ein Verhungernder. Dann ging er in den Schlafraum, legte sich in seine Koje und schlief sofort ein. Während der Lernzeit am nächsten Tag bemerkte er plötzlich, daß Pierce ihn beobachtete. Er zuckte zusammen, riß sich los von einer Masse von Daten, die das Lehrsystem in ihn preßte, und fragte: »Pierce, was ist eine biologische Sonde?« »Ich dachte, das gehört zu Ihrem Programm. Sie wissen jedenfalls, was Sie mit den Sonden zu tun haben, nicht wahr?« »Die Lehrmaschine hat es mir vor zwei Tagen beigebracht. Bei bestimmten Systemen bremsen, die elektrischen Felder abschalten, eine Sonde starten und wieder beschleunigen.« »Zu zielen brauchen Sie nicht?«
»Nein, ihr Ziel suchen sie sich wohl selbst. Aber ich muß sie auf eine bestimmte Relativgeschwindigkeit bringen, um sie in das System einschleusen zu können.« »Erstaunlich. Alles andere geht offenbar automatisch.« Pierce schüttelte den Kopf. »Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Nun, Corbett, die Sonden sind für eine erdähnliche Welt mit sauerstoffloser Atmosphäre bestimmt. In diesem Arm der Galaxie und wahrscheinlich auch überall anderswo haben sie gegenüber Welten mit sauerstoffhaltiger Atmosphäre ein zahlenmäßiges Übergewicht von etwa drei zu eins – wie Sie vielleicht wissen, falls das zu Ihrer Zeit schon bekannt war.« »Aber was ist die Funktion dieser Sonden?« »Sie enthalten Bakterien. Sie sollen eine sauerstofflose Atmosphäre in eine Sauerstoff-Atmosphäre umwandeln, wie es vor etwa fünfzehn mal zehn hoch acht Jahren auf der Erde geschehen ist.« Der Kontrolleur lächelte kaum merklich. Sein schmaler, dünnlippiger Mund war nicht dafür gebaut, tieferen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Sie sind Teil eines großen Projekts, Corbett.« »Guter Gott. Und wie lange soll das dauern?« »Wir denken an etwa fünfzigtausend Jahre. Natürlich hatten wir keine Möglichkeit, das genau zu bestimmen.« »Aber – glauben Sie denn, daß dieser Staat so lange besteht? Glaubt der Staat überhaupt selbst, daß er so lange bestehen wird?« »Das ist nicht Ihre Sache, Corbett. Allerdings –« – Pierce überlegte – »ich – ich nehme es eigentlich nicht an. Und der Staat auch nicht. Aber die Menschheit
wird so lange bestehen. Und eines Tages wird es Menschen in jenen Welten geben. Das ist eine große Sache, Corbett. Die Unsterblichkeit der Art. Größer als das Leben eines Menschen. Und Sie sind dabei.« Er sah Corbett erwartungsvoll an. Corbett fuhr sich gedankenverloren mit dem Finger über den Nasenrücken. Schließlich fragte er: »Wie ist es denn eigentlich dort draußen?« »Bei den Sternen? Sie sind –« »Nein, nein. In der Stadt. Zweimal am Tag sehe ich sie kurz, diese kubistischen Gebäude und die mosaikartigen Bildwerke auf der Straße.« »Was soll das, Corbett? Über Selerdor brauchen Sie nichts zu wissen. Bis Sie wieder zurückkommen, sieht alles anders aus.« »Ich weiß, ich weiß. Deswegen möchte ich ja diese Welt nicht verlassen, ohne etwas von ihr gesehen zu haben. Vielleicht kehre ich nicht mehr zurück.« Corbett hielt inne. Pierces abwägenden Blick hatte er schon früher bemerkt, doch hatte er ihn noch nie richtig wütend gesehen. Der Kontrolleur hatte die Lippen zusammengekniffen. »Sie halten sich wohl für eine Art Tourist?« »Das würden Sie auch, wenn Sie sich plötzlich zweihundert Jahre in die Zukunft versetzt fänden. Ohne ein gewisses Maß an Neugier ist man kein Mensch.« »Gewiß, ich würde mich umsehen wollen. Aber als Recht würde ich das nicht in Anspruch zu nehmen wagen. Was dachten Sie eigentlich damals, als Sie sich einfrieren ließen, Corbett? Glaubten Sie, die Zukunft sei Ihnen etwas schuldig? In Wirklichkeit ver-
hält es sich genau umgekehrt – und es ist Zeit, daß Sie das endlich begreifen.« Corbett schwieg. »Ich will Ihnen etwas sagen. Sie sind ein Rammer, weil Sie zum Reisen geboren sind. Darauf haben wir Sie getestet. Sie mögen das Neue und schrecken nicht vor dem Unbekannten zurück. Das ist selten.« Der Blick des Kontrolleurs fügte hinzu: Und deswegen habe ich mich entschlossen, Ihre Persönlichkeit noch nicht zu zerstören. Sein Mund sagte: »Sonst noch etwas?« Corbett versuchte sein Glück. »Ich würde gerne mit einem Computer wie dem Computer-Autopiloten des Schiffes üben.« »Das ist nicht möglich. Aber in zwei Tagen bekommen Sie Ihre Chance. Dann starten Sie.« Am nächsten Tag bekam er seine Instruktionen für den Eintritt ins Sonnensystem. Er versuchte alles und jedes, um einen Kontakt herzustellen – die Lehrmaschine beharrte geradezu fanatisch auf diesem Punkt. Er stellte fest, daß er nicht allzu sehr von Rettungsschiffen abhängig war. Er konnte das Schiff abbremsen, indem er direkt in den Sonnenwind steuerte, bis der Protonenfluß zu langsam war, um noch zu wirken. Außerdem konnte er unter Verwendung des Wasserstoffs im Reservetank die Steuerdüsen zu Hilfe nehmen. War der Tank noch fast voll, so würde es möglich sein, den Mond zu erreichen und dort zu landen. Eigentlich brauchte der Staat ihn nicht mehr, sobald er die letzte Sonde gestartet hatte. Es war gut vom Staat, seine Rückkehr vorzusehen, dachte Corbett und schüttelte sich. Altruistisches Handeln lag
dem Staat völlig fern. Er wollte das Schiff zurück. Mehr denn je wollte sich Corbett am ComputerAutopiloten versuchen. Noch einmal hatte er die Gelegenheit, mit dem Kontrolleur zu sprechen. »Ein Flug von dreihundert Jahren – vielleicht zweihundert – Schiffszeit«, sagte Corbett. »Ich kann von der Relativität profitieren. Aber – Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich tatsächlich zweihundert Jahre lang lebe? Ohne daß ich mit jemandem sprechen kann.« »Die Kaltschlafbehandlung.« »Trotzdem.« Pierce runzelte die Stirn. »Sie haben nicht Medizin studiert. Kaltschlaf hat über lange Zeiträume hinweg einen verjüngenden Effekt. Vielleicht sind Sie nur zwanzig Jahre lang wach; den Rest verbringen Sie im Kaltschlaf. Die medizinische Versorgung erfolgt automatisch; in dieser Hinsicht sind Sie zweifellos instruiert worden. Sie ist ausreichend. Glauben Sie, wir gingen das Risiko ein, daß Sie dort draußen sterben, wo es unmöglich ist, Sie zu ersetzen?« »Nein.« »Sonst noch Fragen?« »Ja.« Er hatte vorgehabt, das Thema nicht anzuschneiden. Aber inzwischen hatte er seine Meinung geändert. »Ich möchte gerne eine Frau mitnehmen. Das Lebenserhaltungssystem würde ohne weiteres auch für zwei Personen ausreichen. Ich habe mir alles genau überlegt. Natürlich brauchten wir dann eine weitere Kaltschlafkammer.« Seit zwei Wochen war Pierce die einzige Person,
mit der Corbett reden konnte. Zunächst hatte er Pierces Art unverständlich, unergründlich, fast unmenschlich gefunden. Seitdem hatte er gelernt, bis zu einem gewissen Grade in Pierces Gesicht zu lesen. Jetzt sah er wie gebannt zu, wie Pierce entschied, ob der Versuch mit Jerome Corbett zu beendigen und ein neuer zu beginnen sei. Die Entscheidung war knapp. Aber der Staat hatte beträchtliche Zeit und Mühe auf Jerome Corbett verwandt. Man mußte es weiter versuchen. »Das würde einigen Platz brauchen«, bemerkte Pierce. »Den Rest müßten Sie unter sich teilen. Ich glaube nicht, daß Sie überleben würden, Corbett.« »Aber –« »Hören Sie zu, Corbett. Wir wissen, daß Sie keine Frau brauchen. Andernfalls hätten Sie sich schon jetzt eine genommen, und wir hätten die Arbeit mit Ihnen abgebrochen und neu angefangen. Seit zwei Monaten sind Sie im Schlafraum und haben nicht ein einziges Mal die Liebeskojen benützt.« »Alles was recht ist, Pierce – erwarten Sie von mir, daß ich vor aller Augen liebe? Das kann ich nicht.« »Genau.« »Aber –« »Corbett, Sie haben gelernt, diese Toiletten zu benutzen, nicht wahr? Weil Sie mußten. Sie wissen, was man mit einer Frau anfängt, aber Sie sind einer jener glücklichen Männer, die keine brauchen. Sonst könnten Sie kein Rammer sein.« Hätte Corbett dem Kontrolleur jetzt einen Faustschlag versetzt, dann hätte er es in dem Bewußtsein getan, daß es seinen Tod bedeutete. Und da er dies wußte, hätte er Pierce getötet, weil er der Anlaß für
seinen Tod war. Etwa zehn Sekunden vergingen, während denen ihn Pierce mit unverhohlener Neugierde ansah. Als er merkte, daß Corbetts innere Anspannung nachließ, entschied er: »Ihr Training ist beendet, Corbett. Sie starten morgen. Auf Wiedersehn.« Corbett ging. Der Schlafraum war ein Test gewesen, das wußte er jetzt. Konnte er über einen schmalen Steg ohne Geländer gehen? Dann hatte er keine pathologische Angst, zu fallen. Konnte er zweihundert Jahre allein in der Kabine eines Raumschiffs verbringen? Dann mußten ihm die Tausende von stummen Leuten um ihn herum merkliches Unbehagen bereiten. Konnte er zweihundert Jahre ohne eine Frau leben? Dann war er sicherlich impotent. Nach dem Essen kehrte er in den Schlafraum zurück. Zwischen zwei Reihen belegter Kojen blieb er stehen und sah sich um. Dann tat er etwas Dummes. Er hatte es sich schon versagt, den Kontrolleur zu töten. Er mußte sich dafür entschieden haben, zu leben. Was er jetzt tat, war dumm. Er wußte es. Er sah sich um, bis er das schlanke, dunkelhaarige Mädchen mit dem Elfengesicht sah, das ihn neugierig zu beobachten schien. Er kletterte die Leiter hinauf, bis sein Gesicht auf der Höhe ihrer Koje war. Die Gebärde, die er jetzt machen mußte, war rasch und förmlich, fiel ihm jetzt ein. Aber er kannte sie ja noch nicht. »Kommst du mit mir?« fragte er auf Englisch. Sie nickte freudig und folgte ihm die Leiter hinunter. Aber dann schien es Corbett, als kämen von allen
Seiten kaum hörbare Stimmen. Der komische Kerl. Der zum Rammer ausgebildet wird. Zweifellos beobachtete man ihn. Er fühlte ihre Blicke auf sich ruhen, als er seinen grauen Overall öffnete. Zumindest zwei der Augen, die ihn beobachteten, gehörten jemandem, der Pierce oder Pierces Vorgesetzten Bericht erstatten würde. Aber für Corbett waren sie wie all die anderen Augen, die neugierig spähten, wie sich der Stumme verhalten würde. Tatsächlich. Er war impotent. Es waren die Augen – und er war nackt. Das Mädchen zeigte sich erst betroffen und dann von Mitleid erfüllt. Entschuldigend und bedauernd streichelte sie ihm die Wange und verließ ihn dann, um sich jemand anderen zu suchen. Corbett lag da, starrte gegen die Kojendecke und hörte ihnen zu. Acht Stunden wartete er. Schließlich kam ein Wächter, um ihn zu holen. Aber es war ihm gleich, was man mit ihm machte. Besorgt wurde er erst, als der Schwebe-Jeep des Wächters neben etwas anhielt, was wie eine riesige, aufrecht stehende Patronenhülse aussah. Zu klein für ein Raketenschiff, stellte er verwundert fest. Aber es war eines. Die Kabine hatte nur ein Fenster. Man schnallte ihn auf einen der drei schaumstoffgepolsterten Sessel. Außer ihm war da noch einer vom Wächtertyp und ein Mann, der wie ein entfernter Verwandter von Pierce aussah. Er saß am Fenster. Er hatte auch die Steuerhebel vor sich. Corbetts Herzschlag ging schneller. Er fragte sich, wie es sein würde.
Dann war ihm, als würde er plötzlich sehr schwer. Nur ganz am Anfang hörte er ein Geräusch – als führe man das Fahrgestell eines Flugzeuges aus. Keine Rakete, dachte Corbett. Die Tricks, die so ein Ramjet mit magnetischen Feldern anstellen konnte, fielen ihm ein. Er war schwer und hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Jetzt schlief er ein. Als er erwachte, befand er sich in freiem Fall. Über freien Fall hatte ihm niemand etwas gesagt. Der Wächter und der Pilot beobachteten ihn neugierig. »Hol euch der Teufel«, fluchte Corbett. Es war wieder ein Test. Er löste die Gurte und stieß sich zum Fenster hinüber. Der Pilot lachte, fing ihn auf und hielt ihn fest, während er eine Abdeckung über die Instrumente klappte. Dann ließ er ihn los, und Corbett schwebte zum Fenster. Sein Magen befand sich in Aufruhr. Sein inneres Ohr spielte verrückt. Es kam ihm vor, als sei er in einem Aufzug, dessen Kabel gerissen war. Corbett versuchte, sich auf das Fenster zu konzentrieren. Aber die Erde war nicht zu sehen. Der Mond auch nicht. Nur eine Menge Sterne, die ziemlich hell waren – heller noch als sie damals vor langer Zeit über dem kleinen Boot vor Catalina Island geleuchtet hatten. Eine Zeitlang sah er zu ihnen hinaus. Er versuchte, nicht an den Aufzug zu denken, der ins Bodenlose stürzte. Jetzt durfte er sich nicht mehr disqualifizieren lassen. Sie aßen im freien Fall. Corbett machte es den anderen nach und holte Fleisch und Kartoffelstücke aus einem Plastikbehälter, der sich mit einer Art Mem-
brane jeweils wieder automatisch verschloß. »Von manchem werde ich ja jetzt bald befreit sein«, sagte er zu dem breitgesichtigen Wächter. »Aber am meisten freue ich mich darauf, Sie los zu sein – Sie und Ihren bohrenden Blick.« Der Wächter lächelte nachsichtig und achtete nur darauf, ob Corbett übel wurde. Einen Tag nach dem Start landeten sie auf einer ausgedehnten Ebene, wo die Erde zwischen spitzen Mondbergen am Himmel stand. Der Boden war von schwarzen Löchern übersät, den Raketenantriebe in ihn gebrannt hatten. Raumschiffe verschiedener Typen standen herum, und am Ende der Linearbeschleunigerbahn waren riesige transparente Kuppeln, die sich über Gebäude und Bäume wölbten. Corbetts Schiff war das größte: Ein silbrig schimmernder Wolkenkratzer, der auf der Seite lag. Die Sonden waren schon festgemacht und gaben dem Schiff ein dickbauchiges Aussehen. Mit geübtem Blick stellte Corbett fest, daß es startbereit war. Corbett schlüpfte als erster in den Anzug, während der Pilot und der Wächter aufpaßten, ob er einen Fehler machte. Bisher hatte er solche Anzüge nur auf dem Projektionsschirm gesehen. Er ließ sich Zeit. Es gab einen elektrischen Karren. Offenbar erwartete man nicht, daß Corbett sich in einer atmosphärelosen Welt fortzubewegen verstand. Er wollte zu einer der Kuppeln fahren, aber der Wächter steuerte geradewegs auf das Ramjet-Schiff zu. Der Weg war weit. Das Schiff war beunruhigend groß geworden, als sie es endlich erreicht hatten. »Jetzt inspizieren Sie Ihr Schiff«, befahl der Wächter.
»Sie können sprechen?« »Ja. Gestern – ein Schnellkurs.« »Oh.« »Drei Fehler in Ihrem Schiff. Sie finden alle drei. Sie sagen mir, ich sage ihm.« »Ihm? Oh, dem Piloten. Und dann?« »Dann Sie reparieren einen der Fehler, wir die anderen. Dann wir starten Sie.« Natürlich war das wieder ein Test. Vielleicht der letzte. Corbett war außer sich. Er begann sofort mit den Feld-Generatoren und vergaß mit der Zeit den Wächter und den Piloten und das Damoklesschwert, das immer noch über ihm hing. Er kannte dieses Schiff. Corbetts Ohnmacht verwandelte sich in Allmacht. Die Kraft dieser Maschine, ihre Kompliziertheit, ihr Potential, ihr – Der Druck im Wasserstofftank war viel zu hoch! Es galt keine Zeit zu verlieren. Vorsichtig ließ er den Überdruck ab, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß kein flüssiger Wasserstoff austrat. Die weitere Überprüfung der Außenseite des Schiffes ergab keine Beanstandungen mehr. Ins Innere gelangte man durch eine doppelte Luftschleuse. Corbett schloß die äußere Tür und durchquerte die beiden anderen, sobald das grüne Lichtsignal kam. Als er anfing, die Befestigung seines Helms zu lösen, warf er einen Blick auf die Indikatoren seines Anzugs. Vakuum? Er hielt inne. Die Geräte des Schiffs hatten Luft angezeigt. Die Skalen seines Anzugs meldeten Vakuum. Was stimmte nun? Beim Durchqueren der Luft-
schleuse hatte er kein Zischen gehört. Aber wie schalldicht war sein Helm? Zuzuschauen, wie er seinen Helm im Vakuum abnahm, würde Pierce ähnlich sehen. Aber wie sollte er sich Gewißheit verschaffen? Ha! Corbett drehte einen Wasserhahn an. Die Wassertropfen hüpften seltsam in der geringen Gravitation. Aber das Wasser kochte nicht. Corbett nahm seinen Helm ab und fuhr mit der Inspektion fort. Die elektromagnetischen Antriebe konnte er nicht testen, ohne Störungen im Linearbeschleuniger zu riskieren. Er kontrollierte die Anzeigeskalen und wandte sich dann den Lebenserhaltungs-Anlagen zu. Die Spezialpflanzen im Luftsystem waren bei guter Gesundheit. Der Harnstoff-Absorptionsmechanismus seines Anzugs schien jedoch irgendwie verstopft zu sein. Eine schmutzige Arbeit, die er verschob. Bedeutete ein Fehler in seinem Anzug einen Fehler im Schiff? Er beschloß, die Inspektion zu Ende zu führen. Vielleicht hatte der Staat etwas übersehen. Es war sein Schiff. Sein Leben. Die Kaltschlafkammer war wie ein großer Sarg. Corbett fröstelte bei ihrem Anblick; sie erinnerte ihn an die zweihundert Jahre, die er in flüssigem Stickstoff verbracht hatte. Wieder fragte er sich, ob Jerome Corbett wirklich tot war, verdrängte aber dann den Gedanken. Alles in Ordnung. Der Computer benahm sich ein wenig seltsam. Es war nicht leicht, den Fehler zu finden: Ein winziger Bruch in einem der Supraleiter, der einen klei-
nen Spannungsabfall zur Folge hatte. Diese Halunken! Er zog seinen Anzug an und verließ das Schiff wieder, um Bericht zu erstatten. Der Wächter hörte ihn an, beriet sich mit dem anderen Mann und sagte dann zu Corbett: »Gut gemacht. Sehen Sie noch einmal nach dem Druck im Wasserstofftank. Wir kümmern uns um den Rest.« »Mit meinem Anzug stimmt auch etwas nicht.« »Es ist ein neuer Anzug an Bord.« »Ich brauche noch etwas Zeit für den Computer«, begann Corbett. »Ich möchte sichergehen, daß er jetzt völlig in Ordnung ist.« »Ist schon geschehen. Nach Regelung des Wasserstoffdrucks starten Sie.« So schnell! Der Start war hart. Corbett sah rot und spürte, wie die Beschleunigung seine Wangen bis zu den Ohren zurückzog. Dem Schiff vertraute er. Es war so gebaut, daß es elektromagnetische Wirbelstürme aus allen Richtungen aushalten konnte. Er überlebte. Als der Beschleunigungsdruck von ihm wich, erhob er sich gerade rechtzeitig von seinem Liegesitz, um den rasch kleiner werdenden Mond noch erkennen zu können – ein großartiger Anblick! Drei Tage dauerte der freie Fall. Er bewegte sich noch nicht mit Ramjet-Geschwindigkeit. Aber der Staat hatte den Kurs so festgelegt, daß er ihn innerhalb der Merkur-Umlaufbahn in stärkeren Sonnenwind führte. Protonen. Dicker Brennstoff für die Ramjet-Felder. Er machte sich an die Computer-Arbeit. Ob ihn der Staat dabei überwachte? Er zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war es schon zu spät, als daß der
Staat ihn noch hätte aufhalten können. Außerdem hatte er sowieso schon zu viel gesagt. Die Antworten des Computers waren zufriedenstellend. Bei höheren Geschwindigkeiten verstärkten sich die Ramjet-Felder selbst. Für die Geschwindigkeit des Schiffs schien es keine obere Grenze zu geben. Jetzt hatte er Zeit. Er setzte sich an das Steuerpult und begann, mit den Ramjet-Feldern zu spielen. Die Felder entfalteten sich wie unsichtbare Flügel, und er hielt sie nahe am Schiff, um hier, wo der Protonenstrom so ungleichmäßig war, nicht die Balance zu verlieren. Und er spürte, wie das Schiff ihm gehorchte – das RNS-Training war ein voller Erfolg. Er fühlte sich wie ein Gigant. Dieser riesige, phallische Lebensspender aus Metall und Feuer! Mit Lebenskeimen für Welten, die niemals das Leben gekannt hatten, raste er um die Sonne herum und dann von ihr fort. Da er und der Sonnenwind sich jetzt in derselben Richtung bewegten, schwächte sich der Schub nun ein wenig ab. Aber er fing ihn noch auf in seinen Netzen wie Wind im Segel, verbrannte ihn und stieß ihn wieder hinter sich aus. Mit jeder Sekunde wurde das Schiff noch schneller. Dieses Gefühl von Kraft, von gewaltiger, männlicher Kraft – zum Teil mußte es auf das RNS-Training zurückzuführen sein. Aber das war ihm jetzt gleich. Der größere Teil stammte von ihm, Jerome Corbett. Auf der Höhe der Marsumlaufbahn, wo er sicher war, daß das Sonnenlicht ihn nicht mehr blenden würde, öffnete er die Luken. Um ihn herum glühte der Himmel. Planeten waren nicht in der Nähe. Alles, was er am Himmel sah, waren Myriaden von strah-
lenden Punkten. Die meisten davon waren weiß; einige zeigten Spuren von Farbe. Aber es gab noch mehr zu sehen. Fusionierender Wasserstoff erzeugte rund um sein Schiff einen geisterhaften, vibrierenden Schimmer. Er würde stärker werden. Bis jetzt war der Schub gerade etwas größer als die schwache Anziehungskraft der Sonne. Sein Abschwenken um Jupiter leitete er ein, indem er die Ramjet-Felder so steuerte, daß der Protonenfluß etwas stärker zu einer Seite hin kanalisiert wurde. Das verstärkte den Schub, mußte aber Pierce und dem gesichtslosen Staat verwunderlich sein. Sie würden annehmen, daß er mit den Feldern spielte und seine Apparaturen testete. Vielleicht. Die Kursabweichung war leicht und gleichmäßig. Es würde eine Weile dauern, bis man sie bemerkte. Das war gegen seinen ursprünglichen Plan. Zunächst hatte er vorgehabt, bei Van Maanans Stern den Kurswechsel vorzunehmen. Das hätte ihm zweimal fünfzehn gleich dreißig Jahre Vorsprung gegeben – falls er sich irrte und der Staat ihn auch jetzt noch stoppen konnte. Fünfzehn Jahre, bis das Licht ihnen seinen Kurswechsel anzeigte, und fünfzehn weitere Jahre, bis ihre Vergeltung ihn erreichte. Es wäre das klügste gewesen, aber er vermochte es nicht. Pierce konnte in dreißig Jahren sterben. Dann hätte er nie gewußt, daß Corbett versagt hatte, und dieser Gedanke war unerträglich. In den äußeren Bereichen des Sonnensystems ging der Schub fast auf null zurück. Protonen gab es hier wenig. Dennoch genügten sie, um seine Geschwindigkeit weiter zu steigern, und das war es, was zähl-
te. Je schneller er flog, desto größer war der Protonenfluß. Er war unterwegs – auf seinem Weg. Er hatte Neptun gerade zurückgelassen, als Pierces Stimme ertönte: »Hier spricht Pirssa für den Staat, Pirssa für den Staat. Antworten Sie, Corbett. Haben Sie technische Probleme? Können wir helfen? Ein Hilfskommando können wir Ihnen nicht schicken, aber wir können Ihnen Ratschläge geben. Pirssa für den Staat, Pirssa für den Staat –« Corbett lächelte gepreßt. Pirssa? Die Aussprache des Namens des Kontrolleurs hatte sich in zweihundert Jahren geändert. Pierce war in alte Gewohnheiten zurückgefallen und hatte seine RNS-Lektionen vergessen. Er mußte sehr aufgeregt sein. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Corbett seinen Signal-Laser genau auf die Mondbasis gerichtet hatte. Der Strahl war so schmal, daß er mit äußerster Präzision gezielt werden mußte. »Hier spricht Corbett für sich selbst, Corbett für sich selbst«, meldete er schließlich. »Mir geht es gut. Wie geht es Ihnen?« Die Arbeit am Computer nahm mehr Zeit in Anspruch. Etwas beschäftigte ihn: Die Rückkehr. Er hatte vor, länger auszubleiben, als der Staat annahm. Und wenn dann niemand mehr auf dem Mond war? Das war in der Tat ein Problem, fand er. Wenn er den Mond mit seinem verbliebenen Brennstoff erreichen konnte – und da durfte allerdings nichts Unvorhergesehenes eintreten – konnte er auch die Erdatmosphäre erreichen. Das Schiff war stark und solide gebaut; es würde der Hitzebelastung standhalten. Aber seine Steuerdüsen waren für eine weiche Landung zu schwach.
Außer, er konnte sich eines Teils des Schiffes entledigen. Die Ramjet-Generatoren würde er nicht mehr brauchen. Nun, er würde schon eine Lösung finden. Zeit hatte er genug. Mehr als genug. Die Antwort kam nach neun Stunden. »Pirssa für den Staat. Wir verstehen nicht, Corbett. Sie sind vom Kurs abgewichen. Ihr erstes Ziel sollte Maanans Stern sein. Statt dessen scheinen Sie in Richtung zum Schützen zu fliegen. Es gibt keinen bekannten, erdähnlichen Planeten in dieser Richtung. Was zum Teufel ist denn mit Ihnen los? Ich wiederhole: Pirssa für den Staat, Pirssa für den –« Corbett wollte abschalten. Im Lernstuhl hatte er von einer solchen Möglichkeit nichts erfahren. Es gelang ihm, irgendeinen Draht abzuklemmen. Etwas später hatte er den Signal-Laser wieder auf die Mondbasis gerichtet und begann zu senden. »Hier spricht Corbett für sich selbst, Corbett für sich selbst. Ich habe jetzt keine Lust mehr, Sie jedes Mal, wenn ich etwas melden will, mühsam zu suchen. Also teile ich Ihnen alles auf einmal mit. Ich fliege zu keinem der Sterne auf Ihrer Liste. Mir ist klargeworden, daß die RelativitätsGleichungen günstiger für mich sind, je größer meine Geschwindigkeit ist. Wenn ich alle fünfzehn Lichtjahre abstoppe, um eine Sonde loszuschicken, wie Sie es wollten, dann könnte ich zweihundert Jahre damit verbringen ohne irgendwo anzukommen. Wenn ich jedoch das Schiff strikt auf ein und demselben Kurs halte, dann kann ich einen gewaltigen Epsilon-Faktor aufbauen. Und wenn ich die größtmögliche Gravitationsbeschleunigung ausnütze, dann kann ich in einund-
zwanzig Jahren Schiffszeit den Mittelpunkt der Galaxie erreichen. Und dieser Verlockung kann ich nicht widerstehen, Pierce. Sie waren es, der mich als zum Reisen geboren bezeichnete. Erinnern Sie sich? Nun, die Sterne im Zentrum der Galaxie sind anders als die Sterne in den Außenbereichen. Gemäß Ihren eigenen Theorien sind sie nur ein viertel bis ein halbes Lichtjahr voneinander entfernt. Das muß überaus interessant sein. Meine Neugier ist zu groß. Also werde ich auf eigene Faust das All erforschen. Vielleicht finde ich ein paar von Ihren sauerstofflosen Planeten und schieße die Sonden dort ab. Vielleicht auch nicht. In etwa siebzigtausend Jahren Ihrer Zeit sehen wir uns dann wieder. Allerdings existiert dann Ihr kostbarer Staat möglicherweise nicht mehr. Oder auf den befruchteten Planeten sind Kolonien entstanden, und ein paar davon lösen sich von Ihnen ab. Ich könnte mich auf einer davon niederlassen. Oder –« Corbett fuhr sich über die schmale, gerade Nase, während er überlegte. »Ich muß es mit dem Computer überprüfen«, sagte er. »Eines steht fest: Wenn mir Ihre Welten bei meiner Rückkehr nicht mehr gefallen, dann sind da immer noch die Magellanwolken. Die sind bestimmt nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre entfernt. Schiffszeit.«
Originaltitel: RAMMER Übersetzt von Dolf Strasser
William Earls VERKEHRSPROBLEM Von der 42nd Street aus fuhr Davis dorthin, wo früher das Rockefeller Center gestanden hatte, und dann von dort aus auf die vierspurige Überführung in den vierten Stock des Parkhauses. Ehe er ausstieg, versuchte er noch, ein wenig Atem zu holen; aber selbst im Auto, dessen CO-Filter an der Grenze ihrer Kapazität arbeiteten, war die Luft schrecklich. Er stülpte seine Gasmaske über. Beim Aussteigen schlug er die Tür gegen den neben ihm geparkten Cadillac. »Geschieht ihm recht. Soll sich ordentlich hinstellen«, knurrte er. Er sprang rasch zur Seite, als ein Mustang Mach V an ihm vorbeizischte, quietschend die Kurve nahm und dann die Rampe zur Straße hinuntertauchte. Davis schickte ihm einen Fluch nach. Aufmerksam streckte er den Kopf zwischen den geparkten Wagen hinaus, ehe er über die Fahrspur des Parkhauses zum Aufzug an der gegenüberliegenden Seite sprintete. Der Parkwächter kam auf ihn zu, um die dreißig Dollar Tagesgebühr zu kassieren, wich aber einen Schritt zurück, als Davis ihm seine Verkehrsmanager-Plakette zeigte. Er warf sich ehrerbietig auf die Knie und stand erst wieder auf, als Davis vorbei war. Sein Büro lag im Erdgeschoß der Straßen- und Verkehrsbehörde, und als er aus dem Lift trat, hing die Luft in der Halle voll Staub, und ein Preßlufthammer ratterte am anderen Ende. Der Mann, der damit arbeitete, trug den hellblauen Drillich der Straßenbau-
AG. Davis fiel ein, daß die Abzweigung der zweiten Etage der 57th-Street-Expressautobahn durch die Ecke des Gebäudes ging. Daß man so bald mit dem Bau beginnen würde, hatte er allerdings nicht erwartet. Aus seinem Büro war bereits eine Wand herausgerissen, und Kräne hoben Stahlarmierungen für die Straße herein. Männer preßten sie in den Beton am Boden und machten sie fest. Einer von ihnen ging bereits zum wiederholten Male zum Wasserkühler, und Davis hielt ihn an. »Das Zeug kostet 'nen Dollar pro Liter, Freund«, sagte er. »Ich bin vom Straßenbau, Mann.« Der riesige Kerl versuchte, ihn zur Seite zu schieben, und Davis holte seine Plakette heraus. »Das ist immer noch mein Büro«, schimpfte er. Er ging zu seinem Schreibtisch und rief den Direktor an. »Davis. Ich bin da«, erklärte er. Wahrscheinlich will der alte Bastard schon jetzt einen Bericht – »Gut«, sagte die Sekretärin des Direktors. »Ich melde es ihm.« Leingen, der die tödlichen Unfälle bearbeitete, winkte ihm zu, und er trottete hinüber und holte seine Plakette hervor. Leingen nickte. Er hatte jetzt Dienstschluß das sah man ihm an. In drei Stunden ist der Glückspilz zu Hause – wenn er Schwein hat. Die Unfallzahl war bestürzend. Sie lag um 4,2 % über der des Vortages. Allein auf der Überführung bei den Vereinten Nationen hatte es siebzehn Tote gegeben. Er rief den Straßendienst an. »Straßendienst«, sagte die Stimme am anderen En-
de der Leitung. »Verkehrsmanager. Schicken Sie einen Vogel. Ich seh mir die Sache mal an.« Er überflog ein paar von den anderen Berichten. Zwei Pannen auf der fünften Etage der Tappan-Zee-Brücke, beides 81er Fords. Diese verdammten Idioten hatten einfach kein recht, mit zwei Jahre alten Autos auf öffentlichen Straßen herumzufahren. Er rief die Arrest-Abteilung an. »Alle 81er Fords von der Straße«, befahl er. »Roger.« Auf der Projektionswand bewegten sich rote Punkte: 81er Fords, die zu den Warterampen geschleppt wurden. Bei einem davon schaltete er auf Naheinstellung. Bulldozer schoben die Wagen zusammen. Der Lärm um ihn herum hatte sich zum Getöse gesteigert. Plasta-Gipsstücke fielen von der Decke herunter. »Bauen Sie hier eine Abschirmwand«, ordnete er an. Jones war nicht da, dachte er plötzlich. Natürlich nicht; wo vorher sein Schreibtisch stand, verlief jetzt die Straße. Er würde ihn vermissen. »Eine Abschirmwand –« »Das hat keinen Vorrang, Mann«, sagte ein Arbeiter. »Wenn Sie Material wollen, beantragen Sie es bei der Bauabteilung.« Vor sich hin fluchend sah Davis auf die Uhr. 0807. Die dritte Stoßzeit begann eben. Wie auf Kommando fing das Gebäude an zu beben, als Angestellte untergeordneter Dienststellen in ihren Lincolns und Mercuries vorfuhren, um an ihre unbedeutende Arbeit in dunklen, kleinen Büros zu eilen. Vom Haupt-Telefonapparat kam ein Signal. Der Direktor.
»Ja, Sir«, sagte Davis. »Davis?« fragte die krächzende Stimme. Hol dich der Teufel, alter Trottel, dachte Davis. »Überall tödliche Unfälle.« »Die Straßen sind völlig verstopft, Sir.« »Sie sind der Manager. Tun Sie etwas.« »Wir brauchen mehr Straßen. Die können nur Sie genehmigen.« »Mehr Straßen haben wir nicht. Aber der Verkehr muß fließen. Also kümmern Sie sich darum.« Ein Hustenanfall unterbrach seine Worte. »Wenn Sie mal Direktor sind, dann bauen Sie Straßen.« »Ja, Sir.« – Also gut, er würde den Verkehr in Bewegung halten. »Der Vogel ist da«, kam eine Stimme aus dem Intercom. »Smith«, sagte Davis. Sein Assistent wandte sich um. »Übernehmen Sie. Ich mach mal 'nen Rundflug.« Während er zum Lift ging, schaltete er seinen Telecorder auf Audio. »Massenkarambolage bei Freiheitsstatue Ost«, krächzte der Lautsprecher. »Siebzehn Personenwagen und ein Schulbus. Krankenwagen ist bereits da. Pfeiler der fünften Etage der Yankee-Stadion-Schnellstraße schwer beschädigt. Weitere Unfälle auf Staten Island Eins, Zwei, Vier, Zehn, Dreizehn und Zweiundzwanzig; Eastside Vier, Neun und Elf.« Davis schaltete ab. Es war schlimmer, als er gedacht hatte. Auf dem Dach wartete der Hubschrauber. »Yankee Stadion Vier – Massenzusammenstoß von fünfzig Autos«, kreischte das Helicopter-Radio. Er schaltete auf Zentrale. »Davis.«
»Ja, Sir?« »Wie lange dauert im Augenblick die Benachrichtigung der nächsten Verwandten?« »Dreiundzwanzig Minuten, Sir.« »Neuer Sollwert neunzehn. Informieren Sie alle Einheiten.« »Ja, Sir.« »Start«, knurrte er den Piloten an. An der Ecke des Daches rasten Autos vorbei. Ich könnte sie mit der Hand berühren, dachte er. Und ließe mir mit hundertsechzig die Stunde den Arm abreißen. Er hustete. Immer wieder vergaß er, für den kurzen Weg vom Lift zum Hubschrauber die Gasmaske aufzusetzen. Und jedes Mal protestierten seine Lungen. An diesem Morgen war der Smog glücklicherweise leicht. Manhattan lag grau in grau unter ihm. Im Süden konnte er die Spitze des Empire State Building ausmachen, das sich noch vierzig Stockwerke hoch über das es umgebende Autobahn-Kleeblatt erhob. Dahinter und weiter entfernt war das World Trade Center, das neben dem riesigen Parkhaus fast winzig aussah. »Nach rechts«, befahl er dem Piloten. »Über dem Fluß gehen Sie runter.« Bei der Überführung am Pier neunzig hatte sich eine Anzahl von Autos ineinander verkeilt. Ein Hubschrauber holte die Totalschäden mit einem starken Magneten heraus und warf sie in eine Verarbeitungsanlage jenseits des Hudson. Er rief den Direktor an, als er sah, wie sich die Wracks vor den drei großen Shredder-Anlagen beim Depot
auftürmten. Die Shredder preßten nicht mehr reparable Fords und Buicks zu Würfeln von einem Meter Kantenlänge und warfen sie dann auf Lastkähne. Die Lastkähne wurden zur Bucht von Long Island hinausgeschleppt, wo der neue Jet-Port lag. Aber so schnell die Shredder auch waren, sie waren nicht schnell genug. Mit einer Kapazität von nur zweihundert Autos in der Stunde je Anlage konnten sie mit dem, was in der Stoßzeit an Schrott anfiel, nicht mehr annähernd mithalten. »Ja, Davis«, grinste der Direktor. »Würden Sie U.S. Steel anrufen«, bat Davis. »Wir brauchen noch einen Shredder.« »Also ich weiß nicht recht, aber ich rufe an.« Wütend schaltete Davis ab. Sein geübtes Auge maß den Verkehr auf der George- und der Marshall-Washington-Brücke. Die Autos fuhren im Abstand von zweiundzwanzig Metern, und er ordnete zwanzig an, womit er die effektive Kapazität um zehn Prozent erhöhte. Das hatte fast die gleiche Wirkung wie eine weitere Brückenetage – aber es reichte nicht. Die Fahrbahnen über den Piers waren voll, und zwischen den beiden zwölfbahnigen Sektionen drang Rauch von den Schiffen herauf. Mit Importgütern beladene Lastwagen hielten einen Moment an den Zufahrtsrampen an und wurden dann mit Dampfkatapulten in den Verkehrsstrom befördert. Er sah, wie ein offenbar mit Stahlsafes beladener Lastwagen mit einem Cadillac kollidierte, außer Kontrolle geriet, über den Rand der Fahrbahn stürzte und dreißig Meter – fünf Etagen – hinunterfiel. Die Safes hüpften in alle Richtungen und schlugen auf den tieferliegen-
den Etagen in Autos ein. Noch gut dreißig Meter über dem Schauplatz konnte er das Kreischen von Bremsen und die Explosionen in Brand geratener Wagen hören. Er nahm Verbindung mit der Zentrale auf. »Ambulanzen zu Pier 46 – sämtliche Stockwerke«, ordnete er an. Er lächelte. Es gab ihm immer ein gutes Gefühl, der erste zu sein, der einen Unfall meldete. Das zeigte, daß er das früher Gelernte noch nicht vergessen hatte. Einmal hatte er vier an einem Morgen gemeldet – ein Rekord. Jetzt allerdings gab es Prämien für solche Meldungen, und deswegen kam man auch nur noch selten zum Zuge. Früher hatte die Polizei das erledigt, aber die hatte jetzt mehr als genug damit zu tun, Gesetzesbrecher zu stellen. Ein Unfall war nur insoweit von Bedeutung, als er den Verkehrsfluß hemmte. Der Verkehr war überaus dicht, stellte er fest – sehen konnte er eigentlich nur drei Stockwerke unter sich, und unter denen waren noch weitere acht. Am Hauptverteiler beim Times Square war noch alles in Fluß. Er war der größte in Manhattan und erstreckte sich von der 42nd Street zur 49th und von der Fourth zur Eighth Avenue. Vor Baubeginn hatte es Proteste gegeben – hauptsächlich von Leuten, die häufig dort ins Kino gingen oder Bibliotheken besuchten. Aber jetzt war es der großartigste Verteiler der Welt. Sechzehn Spuren bei der Abfahrt zur 42nd Street! Selbst die Bibliotheksbenützer waren zufriedengestellt, dachte er: Es war seine Idee gewesen, die steinernen Löwen beim Eingang, die mit dem Rest des Gebäudes zerstört worden wären, wenn er sich nicht eingesetzt hätte, an die Einmündung der Schnellstraße zum
Yankee-Stadion versetzen zu lassen. Der Helikopter folgte dem West Side Parkway zum Verteiler am Nordende von Manhattan und schwenkte dann zur Statue-of-Liberty-Brücke hinüber. Eine ausgezeichnete Idee der Ingenieure, Bedloe's Island, wo die Statue gestanden hatte, als Brükkenpfeiler zu benützen – so hatte man keine Pfähle einrammen müssen und Millionen gespart. Außerdem hatte das Kupfer der Statue noch einen recht guten Preis gebracht. Natürlich hatten sich die Umweltschützer, diese Ewig-Gestrigen, auch hier widersetzt. Aber wie immer waren sie bei ihren Protestversammlungen niedergeschrien worden. Der Verkehr mußte schließlich rollen. Unter sich sah er das Gewimmel von Autos auf Beton und Asphalt – rote, schwarze, blaue Wagen und die leuchtend hellgrünen dieses Monats. Bergungshubschrauber stießen hinab, um Autos und Trümmer von den Schnellstraßen zu holen, bevor es zu Stockungen kam. Im Süden war die Insel zweihundert Fahrbahnen breit und erweiterte sich an der Basis auf zweihundertdreißig. Die in nord-südlicher Richtung verlaufenden Schnellstraßen waren in einem seitlichen Abstand von zehn Metern gebaut und verliefen über und unter den alten Gebäuden und sogar durch sie hindurch. Es war die großartigste Stadt in der Welt, konzipiert für Automobile. Und er kontrollierte, jedenfalls acht Stunden am Tag, das Schicksal dieser Automobile. Er verspürte das Machtgefühl, das er immer im Hubschrauber hatte, wenn er über all dem Verkehr schwebte. Es ging ziemlich rasch vorbei, stellte er fest. Wie meistens.
»Da«, sagte er zum Piloten und deutete auf die fünfte Fahrbahn der Pier-Route. Ein dunkelroter Dodge rollte mit Tempo einhundert dahin und hielt, da er nicht überholt werden konnte, eine lange Schlange von Autos auf. Bei dem Verkehr, der aus Tunnels und Brücken auf diese Straße quoll, war eine Stockung unvermeidlich. »Runter«, befahl er und nahm den Dodge ins Visier. Er schoß und beobachtete das Resultat. Die Farbmarkierung klatschte auf die Motorhaube des Dodge, und der Treibsatz glühte noch einen Moment. Der Fahrer war gewarnt und ging auf vernünftige hundertfünfzig. Die Farbe war nur mit einem Lösungsmittel des Verkehrsdezernats wieder zu entfernen; im Lauf des Tages würde der Fahrer gestoppt und verurteilt werden. Für eine erste Behinderung betrug die Strafe nur zweihundert Dollar. Für weitere Vergehen jedoch wurden die Fahrer für fünf bis einhundert Tage von der Straße verbannt und gezwungen, mit der Eisenbahn in die Stadt zu fahren. Davis schauderte bei diesem Gedanken. Bei Bedloe's Island sah es gut aus, und der Hubschrauber wendete. Davis nahm das Fernglas, um den Staten Island Freeway zu beobachten. Nur sechzehn Fahrbahnen waren voll ausgelastet gegenüber zweiundzwanzig von vorhin. Der Hauptverkehr war fast vorüber, und er konnte sich auf die frühe Mittagsstoßzeit vorbereiten. Beim World Trade Center stockte der Verkehr noch immer. Die beiden Türme hoben sich aus den um sie herumgebauten Gewirr von Fahrbahnen, ihrerseits überragt von dem gewaltigen Parkhaus. Die Smog-
Grenze verlief beim neunundsiebzigsten Stock. Rote Lichter zeigten an, daß die ersten zweiundneunzig Stockwerke des Parkhauses besetzt waren, und Davis wußte, daß die verbleibenden vierzig Etagen des Baus nicht alle Autos aufnehmen konnten, die es auf den fünfundzwanzig Zufahrten ansteuerten. Er meldete sich bei der Zentrale. »Ja, Sir?« fragte die Stimme. »Davis. Geben Sie mir Parks und Spielplätze.« »Parks und Spielplätze?« wiederholte die Stimme ungläubig. »Richtig.« Er wartete, und als eine Stimme antwortete, sprach er so schnell und nachdrücklich wie möglich, um dem Mann am anderen Ende klarzumachen, daß es keinen Widerspruch gab. »Verkehrs-Manager Davis«, tönte er. »Lassen Sie den Battery-Park räumen. In fünf Minuten lade ich dort zweitausend Autos ab.« »Aber Sie können doch nicht –« »Was kann ich nicht?! Ich bin Verkehrs-Manager. Räumen Sie den Park.« Oder was davon übrig war – ein paar Grashalme, die in den Auspuffgasen nach Luft rangen und im Schatten des darüber gebauten Verteilers dahinsiechten, zu Tode getrampelt von Millionen von Stadtbewohnern, die zu der einzigen Grünfläche im Umkreis von zehn Kilometern strömten. Der Central Park war lange Zeit eine Bastion gewesen, aber er war zu offen, bot sich zu sehr für andere Zwecke an. Jetzt war er unter einem Parkhochhaus und siebenstöckigen Schnellstraßen begraben. Als Konzession an die Vergangenheitsschwärmer waren die Tierkäfige aus dem Zoo auf das Dach des Parkhauses ge-
bracht worden und blieben zwei Wochen dort, bis ein Betrunkener mit seinem Lincoln dagegengekracht war. Es hatte ein wenig Aufregung gegeben, als die vom Kohlenmonoxyd halb betäubten Tiere auf den Rampen herumgeirrt waren, bis sie von Motorradfahrern zur Strecke gebracht worden waren. »Und die Leute?« wollte der Mann von Parks und Spielplätze wissen. »Tut mir leid. Sie haben noch viereinhalb Minuten.« Er rief die Verkehrsleitzentrale an. »Davis«, sagte er. »Leiten Sie Battery Five, Fahrbahnen zwei mit zehn, in den Battery-Park.« »Verstanden.« Er meldete sich bei der Zentrale Nord und ordnete an, die Wall Street sieben Blocks weit abzuriegeln. Später würde man den Verkehr dort umleiten müssen. Aber das machte nichts. Die Stockung dauerte ohnehin schon vier Stunden. Die große Klippe war, wie immer, das Empire State Building, wo die wichtige Nord-Süd-Linie einen zwölf Fahrbahnen breiten Bogen um das riesige Gebäude machte. In dieser Kurve kamen Räder ins Rutschen, Autos gerieten an den Fahrbahnrand, und immer wieder durchbrachen Wagen die Leitplanke und stürzten auf die darunterliegenden Rampen ab. In vieler Hinsicht war es die interessanteste Show in der Stadt, und in den Büros drängte man sich am Fenster, um zuzuschauen. Heute sah alles ganz gut aus, und er stoppte die Geschwindigkeit am Eingang der Kurve mit einhundertsiebzig, am Ausgang mit einhundertachtzig. Noch nicht optimal – sie bremsten zu früh ab und verloren dadurch kostbare Zeit. Er sah, wie ein Buick ins Schleudern kam und an die Leitplanke prallte. Der Fahrer flog aus dem offenen
Wagen; er landete auf der Fahrbahn darunter und war dann nicht mehr zu sehen. Der Buick war von der Planke zurückgeprallt und rollte weiter. »Zurück«, schimpfte er. Der Hubschrauber setzte ihn auf dem Dach ab. Den Atem anhaltend, eilte er zum Aufzug und fuhr nach unten. Das ganze Gebäude zitterte vom Verkehrsgetöse und vom Hämmern der Preßluftbohrer. Der Staub in der Luft reizte zum Husten. Er überprüfte die Verkehrsopferlisten und zeichnete sie ab: Über dem Durchschnitt; die Empire-StateSektion lag um 6,2 % über der Zahl der vorigen Woche. Er war als Melder der Stockung am Pier angegeben, und aus einem Bericht ging hervor, daß der Battery-Park voller Autos stand. Eine Notiz besagte, daß sich der Direktor deswegen den heftigsten Angriffen ausgesetzt sah. Zum Teufel mit ihm, dachte Davis. Eine weitere Beschwerde kam von Merrill Lynch, Pierce, Fenner und Agnew. Zwei der AufsichtsratMitglieder dieser Firma saßen in dem Stau bei der Hall Street fest und konnten nicht rechtzeitig zur Sitzung erscheinen. Er warf die Beschwerde in den Papierkorb. Draußen – oder drinnen – schwer zu sagen, da ja eine der Außenwände des Gebäudes fehlte – hievten die Arbeiter Stahlplatten für die Fahrbahnen hoch und begnügten sich mit weniger Bolzen, um Zeit zu gewinnen. »Steckt die verdammten Bolzen rein«, brüllte Davis. »Das Ding wackelt sowieso wie ein Hundeschwanz.« Auch jetzt, wo nur sieben Fahrbahnen im Abstand von zehn Metern vorbeiführten, herrschte ein Höllenlärm. Er würde noch schlimmer werden, wenn die
Abzweigung fertig war. Hoffentlich würde man wenigstens die Bürowand wieder aufbauen. Er rief Smith an und bat um den Zwischenstand beim Empire State. »Vierzehn Tote seit neun Uhr.« Jetzt war es 10:07, und der Vormittags-Stoßverkehr würde in vier Minuten beginnen. »Hol's der Teufel«, fluchte er. Das rote Licht beim UN-Gebäude leuchtete auf. Auf dem Bildschirm sah er eine Massenkarambolage im vierten Stock. Körper und Körperteile, Autos und Autoteile fielen auf den Vollversammlungstrakt. Verdammt! das würde ihm einen weiteren wütenden Anruf des Generalsekretärs einbringen. Immer diese Ausländer! Warum glaubten die immer, daß ihre langweiligen Versammlungen wichtiger waren als der Verkehr? Das rote Telefon läutete – der Direktor! Er nahm den Hörer ab. »Davis.« »Es läuft nicht richtig«, schnaubte der Direktor. »Was ist los?« »Am Empire stockt es«, gab Davis zu. »Und an ein paar Baustellen.« »Tun Sie was. Ich gab Ihnen Vollmacht.« »Dann weg mit dem Empire«, sagte Davis. »Und auf das Parkhaus beim World Trade Center müssen vierzig Stockwerke drauf.« »Das geht nicht.« Natürlich geht das, dachte Davis. Sie haben nur vor den Naturschützern Angst. Feigling. »Tun Sie was.« »Ja, Sir.« Er wartete, bis er das Klicken am anderen Ende der Leitung hörte, ehe er den Hörer auf die Gabel warf. Er atmete ein paar tiefe Züge seiner Büroluft ein – das wirkte noch stärker als Rauchen. Dann be-
gann er, auf allen Kanälen Anordnungen hinauszubellen. »Die restlichen zehn Bergungshubschrauber zum Einsatz. Benachrichtigung der nächsten Angehörigen innerhalb von fünfzehn Minuten.« Das war riskant, würde aber die Bearbeitungszeit der einzelnen Unfälle verkürzen. Jetzt, nachdem eine Stoßzeit eben vorüber war und die nächste erst binnen kurzem beginnen würde, türmten sich die Autowracks noch außerhalb der Sammelzentren, und die Shredderanlagen arbeiteten nur auf halben Touren. »Mindestgeschwindigkeit wird um zehn Stundenkilometer gesteigert.« Das bedeutete ein Minimum von 160 Stundenkilometern auf den Geraden und 100 auf den Zufahrten. Auf dem Bildschirm sah er, wie auf den elektrischen Anzeigetafeln die neue Mindestgeschwindigkeit erschien und die Autos beschleunigten. Aufatmend schaltete er zum Empire, sah die dritte Massenkollision dieses Tages im dritten Stock und fluchte. Er sperrte die Abkürzung von der 34th Street, beauftragte drei Bergungsfahrzeuge damit, sämtliche Wracks dort abzuladen, und schickte ein Identifizierungsteam dorthin. Gegen Mitternacht, wenn der Verkehr nachließ, konnten sie darangehen, Wracks und Leichen nach New Jersey zu bringen. Das rote Telefon läutete mit verdoppelter Lautstärke. Äußerst dringend. Er packte den Hörer, rief seinen Namen. »Der Direktor ist eben tot umgefallen«, schrie eine hysterische Stimme. »Sie sind geschäftsführender Direktor.« »Ich komme sofort.« Geschäftsführend, verdammt. Seine Schicht dauerte noch sechs Stunden, und jetzt
konnte er dafür sorgen, daß etwas geschah. Er wandte sich Smith zu. »Sie sind jetzt Manager«, sagte er. »Ich bin eben die Treppe raufgefallen.« »Jawohl.« Smith sah kaum auf. »Yonkers vier, Fahrbahnen eins mit neun wieder öffnen«, befahl er. Er hatte den Sprung vom Assistenten zum Manager auf der Stelle geschafft. Training, dachte Davis. Er nahm den Lift zum elften Stock, wo sich das Büro des Direktors befand. Seine Mitarbeiter blickten schweigend auf die Leiche am Boden. Vier Warnleuchten strahlten, ein Dutzend Telefone läutete. Davis reagierte sofort. »Sie, Sie und Sie gehen an den Apparat«, sagte er. »Sie und Sie kümmern sich um die Warnlichter. Sie bringen die Leiche hier raus. Sie –« er deutete auf die Sekretärin des Direktors, die jetzt für ihn arbeiten würde – »berufen eine Sitzung ein. Sofort.« Er überprüfte die Leuchtanzeigen der verschiedenen Abteilungen. Die Identifikation arbeitete ausgezeichnet – Wellborn war der neue Manager dort. Bei den Shreddern lief alles gut. Die Bergung war hinter der Sollzeit zurück. »Der Direktor ist tot«, begann er. »Ich bin der neue Direktor.« Alle nickten. »Die meisten Abteilungen liegen gut«, sagte er. Er sah Smith an. »Der Verkehrsfluß ist miserabel. Warum?« »Empire«, antwortete Smith. »Wir verlieren glatte zwanzig Prozent bei dieser gottverdammten Umfahrung.« »Werden Ihre Leute mit einem größeren Auftrag fertig?« fragte Davis den Bau-Manager. »Ja.« In Gedanken strich der Manager elf kleinere Arbeiten.
»Unser Problem ist das Empire«, erläuterte Davis. »Wir kommen nicht um das Gebäude herum.« Er sah den Bau-Manager an. »Reißen Sie's ab«, ordnete er an. »Sitzung vertagt.« Später an diesem Tag schaute er vom Dach aus nach Süden. Die obersten zehn Stockwerke des Empire State Buildings waren schon abgerissen, und durch die Ecke im vierzigsten Stock führte bereits eine Fahrbahn. Der Verkehrsfluß war gut, und er lächelte. Noch nie war eine seiner Entscheidungen so nötig gewesen wie diese.
Originaltitel: TRAFFIC PROBLEM Übersetzt von Dolf Strasser
Milton A. Rothman ONESTONE Von zwanzig Händen gegen die Decke gehoben, kam Onestone sich vor, als stehe er vor dem Raketenstart in den Weltraum. Als sie ihn wieder sanft auf den Boden legten, bedauerte er es, daß das Erlebnis schon wieder vorüber war. »Oh, Mann«, sagte er schließlich. Dann lag er eine Weile ganz still. »Siehst du«, begann Jay Foreman, »man kann uns vertrauen. Dein Gewicht war uns nicht zu schwer, und wir haben dich auch nicht fallen lassen.« »Das stimmt.« Onestone richtete den Oberkörper auf. »Aber erlaubt das eine Extrapolation in die Zukunft? Was geschieht, wenn ich diese Gruppe verlasse? Draußen wird es genauso sein wie zuvor. Sie werden mich immer noch hassen.« »Ich bin so empört, daß ich schreien könnte«, rief eine füllige Frau namens Jennie, deren volle Brüste sich hinter einem langen Schleier aus schwarzem Haar verbargen. »Dann schrei«, ermutigte sie Onestone. Sie schrie. »Jetzt ist es besser«, keuchte sie schließlich. »Aber du bist wirklich entsetzlich. Du drückst dich so gewählt aus – so intellektuell. Und bei deiner kalten Stimme läuft mir ein Schauder den Rücken hinunter.« »Was erwartest du denn von jemand wie mir?« fragte er bitter. »He!« wunderte sich Hairy Bill, dessen schwarzer
Vollbart seine Vorderfront fast völlig bedeckte. »Das klang ja regelrecht bitter. Der scheint sich zu machen.« »Ja, das war richtig gefühlvoll.« »Echte innere Bewegung.« Onestone saß in der Mitte und ließ das aufgeregte Geplapper der anderen über sich ergehen. »Wie wär's mit 'nem Spiel mit verteilten Rollen?« meinte Jay Foreman. »Du bist der Sohn und Bill hier, der spielt den Vater. Los, Bill, setz dich in die Mitte, Onestone gegenüber. Macht mal Vater und Sohn.« Bill krabbelte in die Mitte und kauerte sich nieder. »Hallo, Sohn«, fragte er mit freundlicher Stimme, bemüht, ein leises Gefühl der Lächerlichkeit zu unterdrücken. »Wie war's heute in der Schule?« »Ganz nett, Dad.« May, eine große Blonde, kicherte. Die ganze Szene war so grotesk! »Heute haben wir Matrix-Inversion gelernt«, fuhr Onestone fort. »Ich kann es kaum erwarten, daß wir mal zusammen was unternehmen – zum ComputerCenter gehen, beispielsweise. Ist schon prima, wenn man 'nen Vater hat.« »Hör zu, Sohn, du steckst deinen Kopf zu lange in Computer. Du solltest öfter mal auf die Straße gehen und mit den anderen Kindern spielen.« Onestone schien in sich zusammenzusinken. »Das wäre nichts. Sie würden nicht mit mir spielen. Ich bin zu anders. Ich würde sie dauernd beim Schach schlagen und –« »Das ist es ja eben«, rief Bill. »Ich sage, spiel mit den Kindern, und du sagst Schach. Nichts als deinen Kopf hast du im Kopf. Du hast auch 'nen Körper, des-
sen mußt du dir endlich bewußt werden. Hast du denn keine Gefühle in deinem Körper?« »Doch, doch, natürlich. Mit meinem rechten Zeigefinger fühle ich Temperaturen; mit meinem linken kann ich Stromspannungen messen. Ich spüre, wie weit meine Knie und Ellenbogen gebeugt sind. Und ich kann mich orientieren – nach Norden und Süden, aufwärts und abwärts.« »Aber –« unterbrach Bald Bill, der Football-Spieler. Er war zwei Meter groß, fast ebenso breit und von Kopf bis Fuß völlig haarlos. »Wenn jemand bei dir ein Tackling machte, würdest du gar nichts spüren. Und er würde sich wahrscheinlich das Genick brechen. Wie stark bist du denn nun eigentlich?« Onestone zuckte die Achseln. »Mit Menschen verglichen? Keine Ahnung. Spielt das eine Rolle?« »Du weißt eben nicht alles über die Menschen«, sagte Bald Bill. »Zum Beispiel, daß sie sich ständig miteinander vergleichen. Dauernd messen sie ihre Kräfte. Wenn ich 'nen starken Burschen sehe, dann möchte ich wissen, ob er wirklich stärker ist als ich.« Er starrte Onestone herausfordernd ins Gesicht. Jay Foremans Blick ging zwischen den beiden hin und her. »Das läßt sich mit Armdrücken feststellen«, sagte er. »Du brauchst nicht, wenn du nicht willst, Onestone. Aber vergiß nicht: Eines unserer Probleme ist dein Mangel an Aggression und deine Unfähigkeit, Zorn zu empfinden. Armdrücken ist ein gewaltloser Kampf, eine Prüfung von Kraft und Willen.« »Aber ich verstehe doch nichts davon. Was ist, wenn ich ihm weh tue?«
»Mit Armdrücken kannst du ihm nicht weh tun«, erklärte Jay geduldig. »Paß auf. Ihr legt euch auf den Bauch, mit dem Gesicht zueinander. Dann legt ihr eure Ellenbogen aneinander. Und dann versuchst du, seinen Arm auf die Matte hinunterzudrücken.« Bald Bill legte sich auf den Bauch und hob den Unterarm. »Also los, du Genie, zeig, was du kannst.« Hilflos sah sich Onestone in der Runde um und wartete darauf, daß jemand einschreite. »Warum beleidigt ihr mich denn so? Ich bin so geartet, zu Menschen niemals feindselig zu sein.« »Ach, du dämlicher Affe«, knurrte Hairy Bill. »Verstehst du denn immer noch nicht? Du bist so verdammt gehemmt, daß du weder Haß fühlen kannst noch Zorn oder Liebe. Wie soll man dich denn da als menschliches Wesen akzeptieren? Erst mußt du mal lernen, Gefühle zu haben wie ein Mensch.« »Los, du obszönes Gestell«, versuchte Bald Bill, ihn zu reizen, und streckte ihm die Hand entgegen. »Du kannst mir nicht weh tun du blödsinniger Automat.« Onestone zuckte ein wenig zurück. Worte konnten tatsächlich schmerzen. Irgend etwas in seinem Inneren tat ihm weh. »Also schön, du dämlicher Athlet«, murmelte er und legte sich auf die Matte. Sie packten sich an den Händen und starrten einander ins Gesicht. Das matte Licht der Lampe in der Ecke schimmerte kalt auf Onestones fleckenloser Haut Ihre Körpermaße entsprachen sich ganz genau; nur die Konstruktion war verschieden. Onestones Oberfläche war poliert und glatt wie eine Skulptur von Brancusi. Bald Bills Haut war mattrosa; harte, gestählte Muskeln bewegten sich sichtbar darunter. »Los!« gab Foreman das Kommando. Sofort wurde
Bald Bill purpurrot im Gesicht, und die Adern auf seiner Stirn traten hervor wie Würmer. Seine Schultermuskeln spannten sich auf das äußerste an, während sich seine Augen in die seines Gegners bohrten. Die Heftigkeit der plötzlichen Attacke überraschte Onestone. Sein Arm war schon nahe am Boden, bis er mit dem entsprechenden Drehmoment der Bewegung entgegenwirkte. Bald Bill preßte das letzte Quentchen Kraft aus seinen Muskeln, um seinen Sieg zu vollenden. Aber verdutzt mußte er feststellen, daß sein Arm erbarmungslos in die Senkrechte zurückgedrückt wurde. Sein Gesicht verzerrt sich. Sein Körper war schweißüberströmt. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. In Onestone regten sich seltsame, neue Gefühle – Unwille als Reaktion auf das Stöhnen, Erregung wegen des nahen Körperkontakts, Entschlossenheit, zu dominieren. Er legte noch etwas Drehmoment zu und drückte Bald Bills Arm vollends zu Boden. Bald Bills Arm wurde schlaff, und er keuchte. Onestone blieb bewegungslos liegen und analysierte den Sturm unbekannter Empfindungen. Freude darüber, gewonnen zu haben. Mitgefühl mit einem besiegten Gegner. Bedauern für den Unterlegenen. »Wo bist du jetzt?« fragte Jay Foreman leise. »Ich spürte da etwas. Ich spürte etwas, was nichts mit Logik oder Problemlösung zu tun hatte. Es ließ sich nicht in Zahlen, Formeln, Gleichungen oder Farben ausdrücken. Die Empfindung war unangenehm, aber erregend.« Und zum ersten Mal verlor seine Stimme ihren monotonen Klang und verriet Emotion.
»Ooh!« Marion, ein etwa achtzehnjähriges Mädchen, begann heftig zu schluchzen. »Er hat echte Gefühle verspürt. Er hat es geschafft.« Jedes der zehn Gruppenmitglieder verhielt sich, als sei ihm ein kalter Windstoß über die schwitzende Haut gefahren. Onestone wandte sich Marion zu. »Aber warum weinst du?« »Ach, du begriffstutziger Apparat«, heulte sie. »Woher sollst du denn das wissen? Woher sollst du wissen, daß wir vor Glück weinen können – daß wir weinen, weil wir uns in eine andere Person hineinzufühlen vermögen? Das ist es ja, was das Gespräch mit dir so frustrierend macht. Man bekommt keine emotionale Reaktion vorn dir. Ich könnte dich ohrfeigen.« Sie kroch über die Matte und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf Onestones edelstählerne Brust. Onestone empfand plötzlich das Bedürfnis, Marion zu umarmen. Erschrocken wich sie zurück. Aber er zog sie sanft an sich; auf der Matte kniend, hielten sie einander einen langen Moment umfaßt. Seine Haut müßte weich gepolstert sein, dachte er, und Temperatur- und Druck-Sensoren in sie eingesetzt, so daß er die Nähe eines menschlichen Wesens besser empfinden kann. Aber selbst der bloße Gedanke daran war angenehm. Auf ein Zeichen von Jay Foreman stand der Rest der Gruppe auf und bildete einen Kreis um das Paar. Dann bewegten sie sich langsam zur Mitte hin, bis alle zehn Marion und Onestone in enger Umarmung umschlossen. Dann begann die ganze Gruppe, sich langsam und stetig hin- und herzubewegen, als sei sie ein einziges Wesen.
Als sie sich endlich wieder voneinander lösten, wischte sich Marion die Tränen aus den Augen. Onestone war tief in Gedanken versunken. »Es ist schon spät«, sagte Jay Foreman, »und wir haben viel Gelerntes zu verarbeiten. Wir haben gesehen, wie kompliziert Gefühle sind und daß unsere Reaktionen darauf sich nicht immer in den erwarteten Bahnen bewegen. Mit seiner schizoiden und doch gefühllosen Art hat Onestone alle anderen mit Frustration und Ärger erfüllt. Er muß die Bedeutung von Emotionen lernen – und deswegen ist er natürlich auch hier.« Die Gruppe trennte sich. Die meisten ihrer Mitglieder begaben sich zum Schwimmbad, um sich den Schweiß abzuwaschen, und gingen dann in die Halle, wo sie trinkend und rauchend saßen. Onestone konnte all dem nichts abgewinnen. Er stapfte zu einem hoch über den Ozean ragenden Felsen und sah, wie der Gischt tief unten das Licht der Sterne widerspiegelte. Seine Smog- und Radioaktivitäts-Sensoren signalisierten ihm eine klare Nacht. Schlaf brauchte er nicht; so blieb er für den Rest der Nacht, wo er war, und bemühte sich, ein kompliziertes mathematisches Problem weiterzurechnen, das ihn bereits seit einiger Zeit beschäftigte. Als sich die Morgensonne auf seinem Rücken spiegelte, kam Marion zu ihm. »Die ganze Nacht warst du hier«, tadelte sie. »Und wir hatten so viel Spaß dort drinnen.« »Ich auch. Arbeit ist Spaß – und ich habe gearbeitet. Ich glaube, ich sehe allmählich die Lösung eines wichtigen mathematischen Problems.«
Marion sah sich um. Für sie bedeutete Mathematik ein Computer-Terminal. Aber sie sah weder Tastatur noch Bildschirm. »Oh. Du bist einer von den Glücklichen, die kopfrechnen können. Ich selbst bin kaum noch in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen.« »Ich schwindle«, gab Onestone zu. »Ich habe eine Fernverbindung mit einem Kleincomputer in meinem Wagen.« Ganz zu schweigen von seinem Funkkontakt mit dem Zentral-Computer in San Francisco und einer Satellitenverbindung mit dem größten Computer der Welt bei der MIT. Alles war mit Lichtgeschwindigkeit abrufbar und wurde direkt in sein Nervensystem eingespeist. »Oh«, sagte Marion, als ob sie verstünde. Onestone hatte gelernt, keine detaillierten Erklärungen zu geben. Der Graben zwischen den wissenschaftlich Gebildeten und den Ungebildeten war so breit geworden, daß es keine Möglichkeit mehr gab, einem Laien zu erklären, was ein Wissenschaftler tat. Dennoch mußte Onestone lernen, wie man Konversation über die Nebensächlichkeiten des täglichen Lebens machte, mußte sich die Fähigkeit aneignen, zu verstehen, wie sehr auch unwichtige Dinge die Menschen bewegten. »Gehst du jetzt frühstücken?« fragte er. »Kann ich mitkommen?« »Natürlich. Aber – du ißt doch nicht, oder?« »Nein, nein«, antwortete er. »Aber ich kann in mein Zimmer gehen und eine aufgeladene Batterie einsetzen.« Marion sah interessiert zu, als er die würfelförmige
Batterie aus seinem Bauch holte und die aufgeladene einsetzte. »Nicht schlecht. Trotzdem – bestimmt ist das lange nicht so gut wie ein ordentliches Frühstück. Also gehen wir. Ich verhungere.« Onestone sah sie besorgt an, kam aber zu dem Schluß, daß die Hauptbedeutung von ›verhungern‹ hier nicht in Frage kam; er befragte deshalb den Thesaurus in San Francisco nach Nebenbedeutungen. Mit klaren, logischen Computer-Sprachen aufgewachsen, fand er die Kompliziertheit des Amerikanischen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts schwer verständlich. An diesem Morgen fand die Gruppensitzung auf einem abgeschlossenen Platz statt, wo die Strahlen der Sonne den Dunst durchdrangen und heiß auf ihre nackten Rücken fielen. Onestone fand, daß er lange genug im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gestanden hatte, und saß ruhig da, während ein großer, dünner Junge namens Ken etwas von seinen Eltern vorjammerte. Es war eine ganz typische Geschichte, die gut zu den Tausenden von Fällen paßte, die Onestone den Unterlagen entnommen hatte. Beide Eltern arbeiteten. Wenn er zu Hause war, schwankte der Vater zwischen Alkoholdepressionen und Hasch-Euphorien. Den Umstand, daß sie sich in Wirklichkeit nicht um ihren Sohn kümmerte, versuchte die Mutter mit überschäumenden Zuneigungsausbrüchen auszugleichen, nicht ohne sich immer wieder kritisch über sein Sexualleben auszulassen. »Sie hatte Angst, daß ich zu 'ner Rosine verschrumpeln würde, wenn ich's nicht jeden Tag kriegte.«
»Klingt, als ob sie dich unbewußt verführen wollte«, bemerkte Jennie, die schon bei vielen Kommunikationsgruppen mitgemacht hatte und den Jargon recht gut kannte. »So, als wenn sie selbst hätte dabeisein wollen.« Diese Seite des menschlichen Verhaltens würde er wohl niemals richtig verstehen können, dachte Onestone verzweifelt. Er sah sich unter den anderen um, die im Kreise herumsaßen. Ihre Nacktheit ließ die Geschlechtsunterschiede klar erkennen – sie waren genauso, wie es aus den Büchern und Magnetbändern hervorging, die er gelesen und abgespielt hatte. Er kannte die physiologischen Verschiedenheiten und ihren Zweck. Die große Bedeutung, die diese Wesen derartigen Dingen beimaßen, verstand er allerdings nicht. Onestones eigener Körper war hart und glatt und wies keine Charakteristika biologischer Art auf. Gegenüber den anderen Wesen, die haarig und weich waren, hatte er nichts; auf Vorbehalte gegenüber menschlichen Körpern war er nicht konditioniert worden. Trotzdem – nach allem, was er hörte, war die Haltung der Menschen ihrem eigenen Körper gegenüber irrational und von Vorurteilen geprägt – in solchem Maße, daß ein Gruppen-Meeting wie dieses, zu dem sie sich unbekleidet zusammengefunden hatten, für sie ein ungemein bedeutsames, emotionsbelastetes Ereignis war. Den ganzen ersten Tag dieses Meetings hatten sie eine Vielfalt von Gefühlen besprochen – Fremdheit, Verlegenheit, Nervosität – während er gerade noch die normale, milde Neugier aufbringen konnte, die ihm in neuen Situationen eigen war, da er
ja noch nie zuvor nackte menschliche Wesen gesehen hatte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Zentrum der Gruppe zu, wo Foreman ein Psychodrama inszeniert hatte. Ken spielte den Sohn, während Jennie die Rolle der Mutter übernahm. »Mein Gott, Mutter«, beklagte sich Ken. »Warum läßt du mich nicht endlich in Ruhe? Jedes Mal, wenn ich abends heimkomme, willst du wissen, wie es geklappt hat. Glaubst du nicht, daß das eigentlich nur mich etwas angeht?« »Du weißt, ich will nur dein Bestes.« »Ich glaube, du hast eine schmutzige Phantasie. Meine Generation denkt über diese Dinge einfach nicht mehr so wie du. Wir glauben an die private Sphäre des einzelnen. Du aber machst mich einfach verrückt. Nie bist du zu Hause, wenn ich dich brauche. Und wenn du zu Hause bist, mischst du dich in meine Angelegenheiten, und da wünschte ich manchmal, dich nie wiederzusehen. Und Dad war überhaupt niemals da. Er war immer irgendwo. Immer, wenn ich irgend jemanden brauchte, war niemand da.« Dann kam das Wunder, der seltsame Vorgang, der Onestone immer wieder in ratlose Verwunderung stürzte, wenn er sich vor seinen Augen abspielte. Kens Gesicht verzerrte sich, seine Schultern begannen zu zucken, und plötzlich strömten Tränen aus seinen Augen, und er wurde von Schluchzen geschüttelt. Was für unbekannte Kräfte waren es, die in den Tiefen des Nervensystems arbeiteten und so eine Reaktion erzeugten? Onestone stand derartigen Phänomenen höchst hilflos gegenüber. Er war in Anwendung
von Logik, in problemlösendem Denken geschult. Seine Gedankengänge waren stets schlüssig und enthielten keine widersprüchlichen Botschaften. Aber bei diesen menschlichen Wesen hatten Botschaften immer zwei oder drei Bedeutungsebenen – Aussage und Bedeutung waren immer verschieden. Wenn eine Mutter ihr Kind wirklich liebte – warum verhielt sie sich dann so, daß sie es unglücklich machen mußte? Für diese Paradoxa mußte es ganz elementare Gründe geben. Er konnte in San Francisco die letzten Forschungsergebnisse über dieses Problem abrufen. Aber er hatte sich bereiterklärt, auf solche Hilfsmittel zu verzichten, solange er den Sitzungen der Kommunikationsgruppe beiwohnte, da er direkt und empirisch von den Menschen in dieser Gruppe lernen sollte. Wenn er die Menschen verstehen wollte, dann mußte er ihre verborgene Kommunikation verstehen; er mußte lernen, aus Andeutungen Schlüsse zu ziehen und ihre Gedanken zu erraten – denn es gab für ihn keinen direkten Weg zu diesen Gedanken: Keine Telepathie, keine extrasensorische Wahrnehmung, keine Vibrationen. Während er dies überlegte, folgte er weiterhin Kens Erzählung, die dieser stoßweise und schluchzend hervorwürgte. »– und wenn sie zusammen daheim waren, stritten sie ständig, und ich haßte sie und wollte einfach nicht mehr zu Hause bleiben – aber ich konnte nicht weg, denn ich liebte sie auch –« Die Art, wie menschliche Wesen geboren und bis zum Erwachsenenalter großgezogen wurden, war
einfach unglaublich. Welche Schikanen Eltern ihren Kindern auferlegten! Wie es wohl war, fragte sich Onestone, ein Kind zu sein und Vater und Mutter zu haben? Die Vorstellung von etwas Weichem, Warmem schlich sich durch seinen Sinn, und dann – Onestone registrierte eine unverständliche Verwirrung seiner Gedanken – eine Empfindung, als sei er an eine Hochspannungsleitung geraten. Seine Arme bewegten sich ruckend, und ein seltsamer Laut entfuhr seinem Mund, als sei eine gedämpfte Sirene in seinem Innern verborgen. Hilfesuchend ging sein Blick in die Runde. Ken hatte zu weinen aufgehört; er saß still da und starrte Onestone an. Jay Foreman beugte sich unschlüssig über ihn. Auch die restlichen Mitglieder der Gruppe saßen offenen Mundes da. Schließlich nahm Foreman Onestones Hände und versuchte, dem Zittern Einhalt zu gebieten. Langsam ebbte die Bewegung ab, und das Heulen verstummte. Onestone saß da und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Was hast du empfunden?« fragte Foreman. »Es war, wie wenn widersprüchliche Informationen durch meine Schaltkreise gingen und eine NetzInstabilität erzeugten. Das ist mir schon mehrmals passiert. Eigentlich ist es ja auch der Grund, warum ich hier bin.« Jennie, die mütterliche Jennie, beugte sich zu ihm. »Du weißt, was ich glaube. Ich glaube, du weintest.« Foreman und Onestone fuhren herum und starrten sie an. Was sie gesagt hatte, klang unglaublich – und leuchtete doch irgendwie ein. »Entweder das«, sagte Foreman, »oder du hattest eine Art epileptischen Anfall. Woran soll man das erkennen, wenn jemand kei-
nen Gesichtsausdruck hat. Sag mal, Onestone – woran dachtest du denn gerade, bevor es passierte?« »Ich hörte Ken zu und fragte mich, wie es wohl wäre, Vater und Mutter zu haben –« Plötzlich begann das Zittern von neuem, und minutenlang war Onestone nicht in der Lage, fortzufahren. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte Foreman: »Du sprachst von dem Grund, warum du dich dieser Gruppe angeschlossen hast. Vielleicht möchtest du noch einmal darauf zurückkommen.« Onestone nickte. »Wie du weißt, gehöre ich zu einer Serie von Computern, deren Betätigungsfeld die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine sind. Ich bin das neueste Modell dieser Reihe. Manche würden mich einen Roboter nennen. Meine Konstruktion geht auf zwei Linien der Entwicklung zurück. Die eine basiert auf dem FernsteuerungsTerminal, das einem menschlichen Operator erlaubt, in normaler Sprache mit einem großen Computer zu verkehren. Grundlage der zweiten ist der selbstlernende Computer, der in der Lage ist, gespeicherte Informationen ohne Hilfe von außen auszuwerten, und somit eines Programmierers kaum mehr bedarf. Diese Entwicklung führte zu den computergesteuerten interplanetarischen und interstellaren Forschungsschiffen. Im zweiten Jahrhundert der ComputerEntwicklung wurde diese Technik verfeinert, und jemand hatte die schlaue Idee, ein Computer-Terminal zu bauen, das nicht Bestandteil einer Steuerkonsole, sondern vielmehr beweglich ist – ja, sogar mit dem Wissenschaftler, der es benützt, sprechen kann. Somit
konnte es auch an Diskussionen teilnehmen, Probleme ohne Verzögerung lösen und ganz allgemein ein Verhalten entwickeln, das dem der Menschen sehr ähnelte. Und die vorläufig letzte Stufe dieser Entwicklung bin ich. Teils Roboter, teils Computer. Aber darüber hinaus habe ich noch eine Spur menschlicher Eigenschaften an mir. Siehst du, der altmodische Roboter der Science-Fiction-Literatur war physisch stets durch das innerhalb seines Körpers zur Verfügung stehende Volumen begrenzt. So viele Motoren und Schaltkreise in ihn zu packen, daß er alle nur denkbaren Operationen ausführen konnte, war nicht möglich. Mit mir wurde das Problem weitgehend gelöst. Ich bin nämlich nicht vollständig hier. Was du siehst, ist der physikalische Mechanismus, das Kurzzeitgedächtnis und einige elementare Informationsverarbeitungs-Einheiten. Im Kofferraum meines Wagens ist ein anderer Teil von mir, mit dem ich über Funk in Verbindung stehe. Diese Einheit umfaßt mein persönliches Langzeitgedächtnis und viel Datenverarbeitung. Der Rest ist in gewissem Sinne überall in der Welt, da ich mit jedem großen Computer-Zentrum direkt in Verbindung treten kann. Auf diese Weise kann ich alle existierenden Datenbanken benützen. So gesehen ist buchstäblich alles, was die Menschheit jemals gelernt hat, in meinem Gedächtnis gespeichert.« Foreman stieß einen leisen Fluch aus. »Das ist ja –« Onestone wünschte, er hätte lächeln können. »In der Praxis gibt es Einschränkungen. Um an eine bestimmte Information heranzukommen, muß man wissen, wo sie gespeichert ist. Dazu benützt man entweder indexiertes oder assoziatives Gedächtnis.
Beides erfordert Zeit. Zum Glück bin ich so gebaut, daß ich eine bestimmte Information anfordern und, während der Ruf weiterläuft, an etwas anderem arbeiten kann. Bei Menschen verhält es sich ähnlich, soviel ich weiß. Manchmal fällt euch zum Beispiel ein Wort oder ein Name nicht ein. Es liegt euch auf der Zunge, wie ihr sagt. Und plötzlich erscheint es dann doch in eurem Augenblicksprozessor. So wurde ich also mit dem größten existierenden Gehirnpotential geboren – oder zumindest geschaffen. Die ersten Wochen meiner Existenz hat man dazu benützt, das wichtigste Wissen in mein persönliches Gedächtnis einzuspeisen – Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften und einen Abriß der Geschichte. Die einzigen Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren meine Programmierer. Mein ursprünglicher Name war übrigens StoneEins; ich war das erste Modell einer Serie, die Jeremy Stone entwarf. Onestone erwies sich indessen als leichter aussprechbar. Darüber hinaus erinnerte es einen der Programmierer an einen anderen Namen von historischer Bedeutung, und so blieb man also bei Onestone. Nach ein paar Testwochen wurde ich in die Welt der Wissenschaft eingeführt. Professoren und Wissenschaftler saßen in einer Art Amphitheater um mich herum. Es war wie ein Examen. ›Beginnen wir mit etwas Klassischem‹, sagte einer von ihnen. ›Leiten Sie die Dispersions-Relation nicht-linearer Plasmawellen mit zwei Ionen-Arten ab‹. ›Eine geschlossene Lösung ist nicht möglich. Aber ich kann numerische Resultate angeben‹, antwortete ich und ließ den Computer dreidimensionale Gra-
phen auf den großen Schirm vor dem Auditorium projizieren. Da ich nicht direkt mit dem Computer verbunden war und somit keine Knöpfe zu drücken oder sonstige sichtbare Handlungen vorzunehmen brauchte, beeindruckte sie dieser Trick ungemein. Dann kamen wir zur Theorie der Elementarteilchen, anschließend zur Struktur von Eiweißmolekülen und schließlich zur Struktur des menschlichen Nervensystems. Spezialisten all dieser Gebiete waren anwesend. Als die Sitzung zu Ende war, stand Professor Mandelkern auf und sagte: ›Ich gratuliere. Sie haben eine glänzende Karriere vor sich. Und jetzt werden ein paar von uns eines von den zwei oder drei Dingen tun, die Sie nicht tun können. Wir gehen in eine nette Bar und betrinken uns.‹ Sie luden mich nicht dazu ein.« Onestone grübelte einen Moment über die Vergangenheit nach. »Armer Junge«, rief Jennie mitleidig. »Du warst der klügste Bursche der ganzen Gegend, und alle waren eifersüchtig auf dich. Niemand sagte dir, daß du deine Intelligenz verheimlichen solltest.« »Nein. Überhaupt sagte mir niemand, wie ich mich Menschen gegenüber verhalten sollte. Ich mußte das selbst lernen. Ich hatte keine echten Freunde, die mich berieten. Vielleicht schüchterte ich die Menschen zu sehr ein. Vielleicht glaubten alle, ich wüßte alles. Aber wenn man etwas über die Menschen lernen will, dann muß man mit ihnen in Beziehung treten – in eine enge Beziehung. Es gab niemand, mit dem ich in eine enge Beziehung treten konnte. Ich las Bücher. Ich sah mir Fernsehspiele an. Bald
war mir klar, daß etwas in meinem Leben fehlte. Manche der Bücher stellten dieses Problem ganz ausführlich dar. Aber ich konnte nichts tun. So wandte ich schließlich der Außenwelt den Rükken zu und blieb in dem Arbeitsraum, den man mir an der Universität zur Verfügung stellte. Ich versenkte mich in meine Arbeit, wobei ich mir zwei Spezialgebiete auswählte, damit es mir bei einem allein nicht langweilig wurde. Das eine war die Einheitliche Feldtheorie. Es handelt sich dabei um eine Untersuchung der fundamentalen Natur von zwischen Objekten wirksamen Kräften – ein Problem, das, nachdem man jahrhundertelang daran gearbeitet hat, immer noch ungelöst ist. Mein anderes Spezialgebiet war die Natur des menschlichen Bewußtseins. Für die Menschheit ist das vielleicht das allerwichtigste Problem, denn das menschliche Verhalten hängt letztlich von der Vorstellung ab, die er sich von seiner eigenen Natur und von seinem Platz im Universum macht. Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Problemen. Eines der grundlegenden Geheimnisse der Natur ist, wie wir uns Kenntnisse über unsere Umwelt aneignen. Die einzigen Informationen, die von dieser Umwelt in unser Nervensystem gelangen, bestehen aus elektrischen Impulsen, die von unseren Sinnesorganen in die Tiefen des Gehirns strömen. Diese Signale bilden irgendwie die Basis unserer Vorstellung von der Außenwelt – bis hin zu unseren Modellen von Atomen und noch kleineren Partikeln. Meine eigene Konstruktion ist ein Schritt hin zur Lösung des Bewußtseinsproblems. Denn ich bin das Modell eines Gehirns. Ob ich das Modell eines menschlichen Gehirns bin, steht noch dahin.«
»Mir scheint, daß du im Begriff bist, dich in allgemein-philosophischen Erörterungen zu verlieren, und nicht auf das Hauptproblem eingehst«, unterbrach ihn Jay Foreman. »Du wolltest uns doch sagen, wie du zu dieser Gruppe gestoßen bist.« »Ich glaube, ich war nahe daran, verrückt zu werden«, sagte Onestone nur. Foreman sah plötzlich einen ganz neuen Absatz in der Inhaltsliste des Psychologischen Datenzentrums vor sich: Fehlerhafte Computer-Funktion; Untertitel: Computer-Neurosen, Computer-Psychosen usw. Doch er verdrängte diesen im Augenblick irrelevanten Gedanken und fuhr fort: »Wie kamst du darauf?« »Die Probleme, an denen ich zu arbeiten begann, waren schwierig. Am Anfang dachte ich ganz naiv, daß Probleme mit folgerichtigen Gedankenschritten stets rasch zu lösen seien. Dann stellte ich fest, daß die Beschäftigung mit noch ungelösten Problemen mehr erfordert als nur Gedächtnis, Geschwindigkeit, manipulative Fähigkeit usw. – mehr als das also, was man gewöhnlich unter mathematischen Fähigkeiten versteht. Ebenso nötig ist die Fähigkeit, Gedanken zu denken, die noch niemand gedacht hat, und Dinge in neuen Zusammenhängen zu sehen. Manche nennen das Kreativität. Andere verwenden dafür die Begriffe assoziative Begabung oder Phantasie. Es hat damit zu tun, daß man den Graben zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten überspringen muß. Es gilt, eine hypothetische Antwort zu finden, die dann auf ihre Brauchbarkeit untersucht werden muß. Und da hatte ich Schwierigkeiten. Offensichtlich ist dies ein Gebiet, wo manche Menschen mit größeren
Fähigkeiten ausgestattet sind als ich. Die Folge war jedenfalls, daß sich Probleme eröffneten, die ich nicht lösen konnte. Unglücklicherweise hatten mir meine Konstrukteure ein unwiderstehliches Bedürfnis eingepflanzt, Probleme zu lösen. Erreiche ich aber bei so einer Untersuchung den toten Punkt, dann kommen meine Schaltkreise in Unordnung, und ich gerate in einen Zustand der Instabilität. Und dagegen kann ich nichts machen. Ich muß warten, bis er sich wieder gelegt hat. Die Folge war, daß ich mich noch mehr in die Isolation zurückzog. Ich ging zu keinen Konferenzen mehr. Meine Techniker waren verzweifelt. Dann kam eine Technikerin zu mir – ein Mädchen namens Marcy. Es sei nicht gut, wenn ich die ganze Zeit alleine sei, sagte sie; ich sollte mehr unter die Leute gehen. Gruppentherapie, meinte sie, würde vielleicht etwas helfen. Den Rest kennen Sie ja. Aus dem, was Marcy mir sagte, und aus meinen anderen Informationsquellen erfuhr ich von den Anfängen der Bewegung ›Menschliches Potential‹ im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Begegnungsgruppen, Gestalttherapie und ähnliches. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nahm die Bewegung gewaltige Ausmaße an, verebbte dann infolge der totalitären Tendenzen des einundzwanzigsten Jahrhunderts und wurde schließlich von Vander wiederentdeckt –« Onestone bemerkte plötzlich, daß er schon wieder dozierte – oder besser gesagt, er wurde durch die kleine Marion sanft darauf aufmerksam gemacht, als sie piepste: »He, Professor, zurück in die Realität. Wir
sind hier doch nicht im Geschichtsunterricht.« Jay Foreman, der Gruppenleiter, beugte sich vor und faßte Onestone ins Auge. »Mir scheint, wir kommen zum entscheidenden Punkt. Du weißt, daß menschliche Wesen von Kindheit an in einer bestimmten Weise erzogen werden. Jedes Kind hat eine Mutter – entweder eine wirkliche oder eine Ersatzmutter. Und normalerweise ist auch ein Vater da. Wenn nicht, bringt das für das Kind Schwierigkeiten mit sich. Vom ersten Lebenstag an prägt die Beziehung zur Mutter das Kind. Kommt es zum betreffenden Zeitpunkt nicht zu einer solchen Beziehung, trägt das Kind bleibende Schäden davon. Singt die Mutter Schlaflieder, dann beeinflußt das den künftigen musikalischen Geschmack des Kindes. Einfache Sinnesreize wie Liebkosungen oder Kitzeln fördern die Entwicklung des Nervensystems. Märchen stimulieren die Phantasie und – noch wichtiger – die Fähigkeit, in Abstraktionen, wie beispielsweise Zauberei, zu denken, die später in wissenschaftliches Verständnis münden kann. Dein Problem, Onestone, ist, daß du nie eine richtige Kindheit hattest. Und was das schlimmste ist: Du hattest nie eine Mutter.« Hier brach Jennie wieder in Tränen des Mitleids aus. »Keine Mutter, keinen Vater, keine Nestwärme, keine Liebe. Was für ein leeres Leben.« Foremans Miene hellte sich auf. »Ich habe eine Idee. Die Technik der Gelenkten Phantasie erwies sich schon häufig als wirkungsvoll. Natürlich«, fügte er achselzuckend hinzu, »weiß man nicht, wie sie in so einem Fall wirkt. Man muß es eben versuchen. Aber theoretisch müßte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen bietet es dir eine Gele-
genheit, deine Phantasie frei schweifen zu lassen und neue, ungewöhnliche Dinge zu sehen. Wir wollen deine Kreativität freisetzen. Zum zweiten mußt du, um eine Kindheits- und Muttererfahrung zu haben, von neuem geboren werden. Das ist durch die Methode der Gelenkten Phantasie zu erreichen. Wie wär's, Jennie, wenn du dich mal in die Mitte setztest? Die Beine gekreuzt – so. Und jetzt, Onestone, legst du dich auf den Rücken. Leg deinen Kopf in Jennies Schoß. Gut. Ich hoffe, er ist nicht zu schwer für dich, Jennie.« »Für eine Mutter ist nichts zu schwer«, antwortete Jennie verträumt. Schon ganz entrückt, blickte sie liebevoll auf den schimmernden Kopf hinunter und strich ihm imaginäres Haar aus den Augen. »Und jetzt, Onestone –« – Foreman kauerte sich neben dem Roboter nieder – »schließt du die Augen und lockerst dich. Ich werde versuchen, eine Gelenkte Phantasievorstellung bei dir einzuleiten – eine Art Wachtraum. Wenn ich aufhöre, führst du die Geschichte fort und sagst uns, was du siehst und fühlst. Du schwebst in einer warmen Flüssigkeit an einem warmen, dunklen Ort. Irgendwo schlägt regelmäßig und rhythmisch ein Herz. Du bist nur eine einzelne Zelle, rundherum in weiches Gewebe gebettet. Und jetzt kommt plötzlich ein Schwarm fadenförmiger Wesen durch einen dunklen Tunnel auf dich zu. Eines davon erreicht dich. Und in diesem Moment ist es, als würdest du durch einen elektrischen Schlag polarisiert. Du nimmst das kleine, fadenförmige Wesen in dich auf und umschließt es.« Er hielt einen Augenblick inne. »Stell sie dir vor, diese runde Zelle. Versuche, seine dunkle, warme,
weiche Umgebung zu spüren. Diese Zelle – sie ist dein Körper. Spürst du, wie das Leben beginnt? Von hier ab sollst du nun fortfahren.« Eine Zeitlang lag Onestone völlig regungslos da. Schließlich begann er fast widerstrebend zu sprechen. »Jetzt bin ich zwei Zellen, die sich in vier teilen. Jede Teilung ist wie ein kleiner Schock. Ich teile mich immer weiter. Die Andeutung einer Wirbelsäule bildet sich, Rudimente eines Gehirns und von Sexualorganen. Ich werde ein kleines menschliches Wesen – mit Fingern, Zehen und welligem Haar. Ich wachse und wachse, bis ich den mich umgebenden Raum zum Bersten fülle. Ich frage mich, wie weit ich ihn noch ausdehnen kann. Ich strample mit den Beinen und bewege die Arme und höre von draußen Stimmen.« Foreman sah Jennie an und nickte. »Fühlt, wie das Baby strampelt!« rief sie. »Oh, es wird ein großes und starkes Baby.« »Geräusche und Töne kommen von allen Seiten. Jetzt kann ich mein eigenes Herz schlagen hören. Wärme und sanfter Druck hüllen mich ein. Dunkelrotes Licht dringt durch meine Lider. Ich höre Musik. Jemand singt.« Wieder sah Foreman Jennie an. Jennie begann, ein Wiegenlied zu singen. »Jetzt wird der Druck stärker. Er preßt mich aus meiner warmen Höhle. Jetzt ziehen sich die Wände der Höhle zusammen. Von irgendwo her dringt helleres Licht. Das Licht kommt von draußen. Ich habe Angst – ich habe Angst. Ich möchte in die stille, dunkle Höhlung zurück. Aber die Kraft, die mich hinausdrängt, ist unwiderstehlich. Mein Kopf stößt
ins Helle – in eine fremde Welt.« Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann entrang sich Onestones Mund ein seltsam summender Laut, der stärker wurde und zu einem schluchzenden Heulen anschwoll. Liebevoll-selig lächelnd sah Jennie jetzt auf ihn nieder. »Jede jüdische Mutter«, sagte sie, »möchte einen Einstein zum Sohn.«
Originaltitel: GETTING TOGETHER übersetzt von Dolf Strasser
A. Bertram Chandler DIE SEELENMASCHINE »Ich fürchte, Leutnant«, sagte Commodore Damien, »daß dieser Passagier Ihnen nicht in der Kombüse helfen kann.« »Wenn es nicht wieder ein Mörder ist, soll es mir recht sein«, bemerkte Grimes. »Aber ich habe festgestellt, Sir, daß jeder, der gerne ißt, ab und zu auch mal gerne kocht.« »Bei dem trifft das zu. Er kocht ständig.« Grimes sah seinen Vorgesetzten skeptisch an. Seinen Sinn für Humor kannte er. In dem hageren Gesicht zuckte kein Muskel, doch die blaßgrauen Augen blitzten ironisch. »Wenn er kulinarische Privilegien will, Sir, dann ist es nur recht und billig, daß er ab und zu mit uns teilt, was er für sich selber zusammenkocht.« Damien seufzte. »Ich habe noch nie Offiziere gekannt, die so pausenlos an ihren Magen denken wie ihr auf der Adder. Ihr habt nichts anderes im Kopf, als möglichst schnell euer Gewicht zu verdoppeln, was?« Grimes zuckte ein wenig zusammen. Der Vorwurf, den sein Chef ihm da machte, war nicht ganz fair. Die Kuriere – kleine, schnelle Schiffe – fuhren ohne Koch, so daß die Offiziere selbst kochen mußten und deshalb auch ungewöhnlich nahrungsbewußt waren. Die Mannschaft der Adder war da keine Ausnahme. Damien fuhr fort. »Ich habe keinen Zweifel, daß Mr. Adam bereit wäre, seine Speisen mit Ihnen zu
teilen. Doch ich bezweifle, ob irgend jemand von Ihnen, selbst bei größtem Hunger, sie genießbar fände. Oder auch nur nahrhaft. Aber wie kamen wir denn eigentlich auf dieses ganz besonders nebensächliche Thema?« »Sie kamen darauf, Sir«, antwortete Grimes. »Ein Diplomat werden Sie niemals werden, Leutnant. Es ist sogar zweifelhaft, ob Sie jemals die höheren Ränge erreichen werden. Natürlich, wir Raumfahrer sind rauhbeinige Burschen, die nie ein Blatt vor den Mund nehmen. Und wenn wir Samthandschuhe tragen müssen, dann verbirgt sich darunter eine eiserne Faust – nun – wo war ich stehengeblieben?« »– in Samthandschuhen eine eiserne Faust, Sir.« »Bevor wir vom Essen redeten, meine ich. Ja, Ihr Passagier. Er soll von der Basis von Lindisfarne nach Delacron gebracht werden. Dort laden Sie ihn ab und kehren sofort zur Basis zurück.« Die knochige Hand des Commodores nahm einen mit großen Siegeln versehenen Umschlag vom Schreibtisch und hielt ihn Grimes hin. »Ihre Orders.« »Danke, Sir. Ist das alles, Sir?« »Ja. Hauen Sie ab!« Grimes entfernte sich langsam und ging zur Adder hinüber, einem Kurierschiff der Serpent-Klasse. Wenn sich die Adder gegen die anderen Weltraumfahrzeuge auf dem Landeplatz auch beinahe winzig ausnahm, so war sie doch ein sehr stolzes Schiff. Grimes wußte, daß viele die Adder und ihresgleichen gerne ein wenig geringschätzig als »fliegende Stopfnadeln« bezeichneten. Aber er liebte die schlanke Eleganz ihrer Linien und hätte sie gegen keinen noch so gewaltigen
Dreadnought eingetauscht. In einem Dreadnought wäre er natürlich auch nur einer von vielen JuniorOffizieren gewesen. Die Adder war sein Schiff. Beadle, sein Oberleutnant, erwartete ihn schon salutierend an der Rampe. Traurig – niemand hatte Beadle je lachen hören, und er lächelte auch nur ganz selten – meldete er: »Alles klar zum Start, Captain.« »Danke, Leutnant.« »Der Passagier ist an Bord.« »Gut. Wir wollen ihn mit der üblichen Höflichkeit behandeln. Fragen Sie ihn, ob er den freien Sitz in der Steuerkabine möchte, wenn wir den Staub der Basis von unseren Heckflossen schütteln.« »Habe ich schon gefragt, Captain. Es sagt, daß es die Einladung gerne annimmt.« »Es, Leutnant? Es? Adam ist ein guter terranischer Name.« Beadle lächelte tatsächlich. »Technisch gesehen, Captain, kann man nicht sagen, daß Mr. Adam auf der Erde geboren ist. Aber er wurde auf der Erde gebaut.« »Und was ißt er?« fragte Grimes, dem die Anspielungen des Commodores auf die Diät des Passagiers einfielen. »Wechselstrom oder Gleichstrom? Vielleicht mit etwas Schmieröl hinuntergespült?« »Woher wissen Sie das, Captain?« »Der Alte äußerte sich nur vage, doch man konnte so etwas daraus entnehmen. Aber – ein Passagier? Keine Fracht? Das muß doch ein Irrtum sein.« »Kein Irrtum, Captain. Es besitzt Intelligenz und Persönlichkeit. Ich habe die Papiere durchgesehen. Offiziell ist es ein Bürger der interstellaren Föderation – mit allen Privilegien, Rechten und Pflichten.«
»Das Wissen unserer Herren und Meister ist unerforschlich«, sagte Grimes resigniert. Es war intelligent und besaß Persönlichkeit. Grimes fand es unmöglich, in Mr. Adams eine Maschine zu sehen. Dieser Roboter gehörte zu einem Typ, von dem Grimes schon gerüchteweise gehört hatte. Gesehen hatte er bis dahin noch keinen. In sämtlichen Welten der Föderation gab es nur ganz wenige dieser Art – die meisten davon auf der Erde selbst. Das lag zum einen daran, daß sie unglaublich teuer waren. Zum zweiten hatten ihre Konstrukteure regelrecht Angst vor ihnen; sie wurden von Alpträumen geplagt, in denen sie sich als späte Frankensteins sahen. Intelligente Roboter waren keine Seltenheit. Intelligente Roboter mit Phantasie, Intuition und Initiative waren allerdings eine. Sie waren hauptsächlich für Forschungszwecke entwickelt worden und konnten Bedingungen überstehen, bei denen selbst hervorragend ausgerüstete Menschen nicht überlebten. Mr. Adam saß auf dem freien Sitz in der Steuerkabine – in einer erstaunlich menschenähnlichen Positur. Vielleicht, dachte Grimes, spürte er, daß seine Gastgeber sich unwohl fühlen mochten, wenn etwas, was aussah wie ein rüstungtragender Ritter, sie um mehr als Haupteslänge überragte und ihnen ständig über die Schulter blickte. Sein Gesicht war ausdruckslos – ein matt schimmerndes Oval ohne menschliche Züge. Indessen glaubte Grimes, in den Augenlinsen ein schwaches Leuchten wahrnehmen zu können, das Interesse verraten mochte. Wenn er sprach, kam seine Stimme von einer Membrane in seinem Hals.
Jetzt sprach er. »Das war eben sehr interessant, Captain. Jetzt, nehme ich an, befinden wir uns auf einer Flugbahn nach Delacron.« Er hatte eine angenehme Bariton-Stimme, die nicht sehr mechanisch klang. »Ja, Mr. Adam. Das dort auf dem Drei-Uhr-Sektor des Visierschirms – das ist die Sonne von Delacron.« »Und diese eigenartige Verzerrung rührt natürlich vom temporären Druckfeld Ihres Antriebs her –« Adam summte sekundenlang vor sich hin. »Interessant.« »Auf Ihrem Flug von der Erde nach Lindisfarne haben Sie das wohl schon gesehen.« »Nein, Captain. Ich bin noch nie Gast im Steuerraum eines Schiffes gewesen, das mich beförderte.« Als er die metallisch schimmernden Schultern zuckte, sah es beinahe menschlich aus. »Ich – ich glaube nicht, daß Captain Grigsby mir vertraute.« Grimes wunderte das nicht. Er kannte Grigsby, hatte unter ihm gedient. Grigsby gehörte noch einer früheren Generation terrestrischer Marineoffiziere an und hätte sich am liebsten in die guten, alten Zeiten von hölzernen Segelschiffen und eisernen Männern zurückgewünscht – und unter »eisernen Männern« hätte er nichts verstanden, was diesem Mr. Adam irgendwie ähnlich sah. »Ja«, fuhr der Roboter nachdenklich fort, »ich finde das alles nicht nur interessant, sondern erstaunlich.« »Warum?« fragte Grimes. »Alles – Start, Steuerung, die schwierige Balance zwischen Beschleunigung und Zeitvoreilung – könnte von jemandem wie mir viel schneller bewältigt werden.«
In Wirklichkeit meint er »besser« statt »schneller«, aber er ist zu höflich, um es so direkt zu sagen – »Sie sind Geschöpfe aus Fleisch und Blut, Captain – Ergebnisse einer Evolution, die Sie den Bedingungen einer Welt unter Milliarden Planeten anpaßte. Der Weltraum ist nicht Ihr natürlicher Lebensbereich.« »Wir führen unseren Lebensbereich mit, Mr. Adam.« Grimes bemerkte, daß die Offiziere in der Steuerkabine – Navigator von Tannenbaum, Oberleutnant Beadle, Radio-Offizier Slovotny – aufmerksam und erwartungsvoll das Gespräch verfolgten. Er mußte vorsichtig sein. Trotzdem mußte er seinem Standpunkt Ausdruck verleihen. Er grinste. »Man darf nicht vergessen«, sagte er, »daß der Mensch selbst ein ziemlich robuster, eigenständiger, sich selbst reproduzierender Allzweck-Roboter ist.« »Es gibt mehr als einen Weg der Reproduktion«, sagte Mr. Adam ruhig. »Die altmodische Art ist mir immer noch die liebste«, schaltete sich von Tannenbaum ein. Grimes warf dem stämmigen, flachsblonden jungen Mann einen grimmigen Blick zu, aber zu spät, um Slovotnys Gelächter zu verhindern. Sogar Beadle grinste ein wenig. John Grimes erlaubte sich ein dezentes Lächeln. Dann sagte er: »Das Schiff ist auf Kurs, Gentlemen. Ich übergebe es Ihren fähigen Händen, Oberleutnant. Teilen Sie die Wachen ein. Mr. Adam, dies ist der traditionelle Augenblick, wo ich Gäste auf einen Drink in meine Kabine einlade –« Mr. Adam lachte. »Wie Sie, Captain, fühle ich gelegentlich das Bedürfnis nach Schmierstoff. Aber ich mache kein Ritual
aus seiner Anwendung. Indessen würde ich mit Vergnügen mit Ihnen plaudern, während Sie trinken.« »Ich gehe voraus«, sagte Grimes resigniert. Auf einem kleinen Schiff können Passagiere zu den ruhigen Annehmlichkeiten der Reise beitragen oder eine Nervenbelastung sein. Mr. Adam bemühte sich zunächst in geradezu ergreifender Weise, ein guter Mitreisender zu sein. Er konnte sprechen – und er sprach über alles und jedes. Er müsse wohl eine ganze Enzyklopädie verschluckt haben, bemerkte Mr. Beadle. Mr. McCloud, der Erste Ingenieur, verbesserte diese Feststellung dahingehend, daß Mr. Adam um eine herumgebaut worden sein müsse. Und Mr. Adam konnte auch zuhören. Das war schlimmer, als wenn er sprach – Grimes war, als surrte ein unsichtbares Räderwerk in seinem Kopf, das Informationen entweder als unwichtig abtat oder sie der Datenbank des Roboters einverleibte. Natürlich konnte er Schach spielen, und wenn er, was selten geschah, verlor, so hatte man den starken Verdacht, Höflichkeit sei der Grund dafür. Bei Kartenspielen war es ebenso. Grimes ließ Spooky Deane holen, den PsiKommunikations-Offizier. Flasche und Gläser standen bereit, als der große, gebrechlich wirkende junge Mann, der wie ein Hauch Ektoplasma in einer Uniform des Beobachtungsdienstes aussah, durch die Tür seiner Tageskabine hereinkam. Er folgte der Aufforderung, sich zu setzen, und nahm das Glas Gin, das ihm der Captain zuvorkommend eingeschenkt hatte. »Ihr Wohl, Deane«, sagte Grimes. »Ihr Wohl, Captain.« Deane räusperte sich. »Captain – ich weiß, daß Sie mich bitten werden, das Ge-
löbnis der Respektierung von Privatsphäre, das ich dem Rhine-Institut gegenüber abgelegt habe, zu brechen. Und dieses Wissen hat nichts damit zu tun, daß ich Telepath bin. Jedesmal, wenn wir Passagiere haben, ist es das gleiche. Immer wollen Sie, daß ich ihre Gedanken erforsche.« »Nur, wenn ich die Sicherheit des Schiffes gefährdet sehe.« Grimes füllte Deanes Glas nach, dessen Inhalt sich irgendwie verflüchtigt zu haben schien. »Haben Sie Angst vor unserem Passagier?« Grimes runzelte die Stirn. Angst war ein starkes Wort. Dennoch – die Menschen hatten schon immer Angst vor Robotern gehabt – vor dem Automaten, dem künstlichen Menschen. Eine böse Vorahnung? Oder war der Roboter nur ein Symbol für die Maschinen – die seelenlosen Maschinen, deren Stellung immer beherrschender wurde? Deane sagte ruhig: »Mr. Adam ist keine seelenlose Maschine.« Grimes starrte ihn an. Woher wissen Sie denn, was ich denke? hätte er fast geknurrt. Aber er sagte es nicht. Der Telepath fuhr fort: »Mr. Adam hat nicht nur Hirn, sondern auch Seele.« »Das wollte ich eben wissen.« »Ja. Er sendet, Captain, wie Sie alle. Das Problem ist, daß ich seine Frequenz noch nicht richtig habe.« »Ist er feindselig gegen Menschen?« Deane hielt ihm sein leeres Glas hin, und Grimes füllte es von neuem. Der Telepath nahm sofort einen Schluck. »Ich selbst glaube es nicht«, sagte Grimes. »Aber er denkt und fühlt nicht wie ein Mensch. Verachtet er
uns? Wohl nicht. Empfindet er Mitleid? Vielleicht. Vielleicht gar eine Art amüsierter Zuneigung? Das könnte es sein.« »Die Art von Gefühl, die man – sagen wir – einem sprechenden Hund entgegenbringt?« »Ja.« »Sonst noch etwas?« »Ich kann mich täuschen, Captain, und wahrscheinlich täusche ich mich. Dies ist das erste Mal, daß ich die Gedanken von etwas Anorganischem belauscht habe. Adam scheint überzeugt zu sein, er habe eine missionarische Aufgabe.« »Eine missionarische Aufgabe?« »Ja. Das Gedankenmuster erinnert mich an den Priester, den wir vor einiger Zeit transportierten. Erinnern Sie sich? Er wollte die heidnischen Tarvarker bekehren.« »Üble Sache«, bemerkte Grimes, »sie ihren alten Göttern abspenstig zu machen, damit sie keine Bomben auf irgendwelche Handelszentren schmeißen.« »Father Cleary sah das anders.« »Gut für ihn. Was ist eigentlich aus dem armen Bastard geworden?« »Ich weiß nicht, ob dieser Ton unbedingt angebracht ist.« »Nein, ist er nicht. Aber was ich sage, spielt ja gar keine Rolle. Was ich denke, wissen Sie sowieso. Dieser Mr. Adam – ein Missionar? Merkwürdig – verstehe ich nicht. Diese Roboter sind für Arbeiten konzipiert, die der Mensch selbst nur schwer oder gar nicht durchführen kann. In unserem eigenen Planetensystem zum Beispiel haben sie auf Merkur, Jupiter und Saturn Forschungen durchgeführt. Ein Roboter-
Missionar auf Tarvark – das würde mir einleuchten, weil ihm vergiftete Pfeile, Speere und andere Wurfgeschosse nichts anhaben können. Aber auf Delacron, einer Terranischen Kolonie?« »Mein Gefühl erfaßt nur, was Adam denkt.« »Es gibt Gefühle und Gefühle«, erwiderte Grimes. »Das ist ein nichtorganischer Geist, den Sie da sondieren. Vielleicht kennen Sie den Code nicht, die Sprache – die Antwort muß doch in ihn eingebaut sein.« »Für einen Telepathen spielen Code und Sprache gar keine Rolle.« Deane rückte sein leeres Glas in Grimes Blickfeld, und der füllte es nach. »Vergessen Sie nicht, Captain, daß es Maschinen auf Delacron gibt – intelligente Maschinen. Zugegeben, ihre Intelligenz ist nicht sehr hoch entwickelt, aber sicher haben Sie von dem Streit zwischen Delacron und Muldoon, dem nächsten Nachbarn, gehört –« Spooky sprach den Satz nicht zu Ende. Grimes hatte davon gehört. Etwa in der Mitte zwischen den beiden Planetensystemen gab es eine Sonne, die von einer einzigen Welt in geringem Abstand umkreist wurde. Der einsame Planet barg reiche Vorkommen radioaktiver Erze. Sowohl Delacron als auch Muldoon erhoben Anspruch auf ihn. Delacron wollte die seltenen Metalle für seine eigenen Industrien; das weniger hoch industrialisierte Muldoon wollte sie in andere Welten der Föderation exportieren. Und Mr. Adam? Was spielte er bei alldem für eine Rolle? Offiziell, das ging aus seinen Papieren hervor, war er ein vom Großrat der Föderation an die Regierung von Delacron ausgeliehener Programmierer. Ein Programmierer, das war ein Lehrer für Maschinen.
Eine intelligente Maschine, die andere intelligente Maschinen etwas lehrte? Und was? Und wer hatte Adam programmiert? Oder war er einfach ein – Zufallsprodukt? Eine undeutliche Erinnerung verdichtete sich. Hatte es das alles nicht schon gegeben? Hatten nicht schon früher Kreise, die einer Regierung nicht wohlgesonnen waren, Revolutionäre mit Geheimtransporten an den Ort ihrer umstürzlerischen Tätigkeit gebracht? »Selbst wenn Mr. Adam einen Bart hätte«, sagte Deane, »würde er Lenin nicht sehr ähnlich sehen.« Und Grimes fragte sich, ob der Lokomotivführer, der Lenins Zug in den finnischen Bahnhof in St. Petersburg fuhr, eigentlich gewußt hatte, was er tat. Grimes war nur der Lokomotivführer. Mr. Adam war der Passagier, und Grimes konnte genausowenig von seiner Dienstvorschrift abweichen wie damals jener Lokomotivführer von seinen Schienen. Grimes hatte das Glück – oder das Unglück –, Phantasie zu besitzen und ein Gewissen. Und ein Gewissen zu haben ist für einen Junior-Offizier ein ziemlicher Luxus. Grimes wünschte geradezu, daß Mr. Adam das Schiff in Gefahr bringe. Dann konnte er, Grimes, zur Tat schreiten – zur drastischen Tat, wenn es sein mußte. Aber der Roboter brachte weniger Probleme mit sich als ein durchschnittlicher menschlicher Passagier. Adam beklagte sich weder über mangelnde Abwechslung beim Essen noch über schlechte Luft. Das einzige, was man gegen ihn einwenden konnte, war, daß er viel zu gut Schach spielte. Aber etwa zu dem Zeitpunkt, als Grimes Entschuldigungen suchte und fand, um nicht mehr mit ihm spielen zu müssen,
schloß Adam eine offenbar echte Freundschaft. Er fing an, die Gesellschaft Mr. McClouds derjenigen der anderen Offiziere vorzuziehen. »Sie gehören natürlich zum selben Clan, Captain«, sagte Beadle. »Natürlich«, sagte Grimes. »Mit einem Ingenieur hat eine Maschine mehr gemein als mit uns anderen. Die müssen ja wunderbar fachsimpeln können. Jedenfalls haben wir ihn vom Hals, solange McCloud ihn bei Laune hält.« McCloud war ein guter Ingenieur, dachte Grimes, als Beadle gegangen war. Aber je besser der Ingenieur, desto geringer waren meist seine psychologischen Fähigkeiten. Maschinen waren entwickelt worden, um den Menschen zu dienen. Doch seit dem zwanzigsten Jahrhundert war auch eine seltsame Spezies Mensch in immer größerer Anzahl aufgetreten. Eine Spezies, die bereit war, menschliche Werte auf dem Altar der Leistungsfähigkeit zu opfern und sich zum Diener der Maschine zu machen. Statt daß Maschinen den Bedürfnissen des Menschen entsprechend verändert wurden, glichen sich Menschen den Bedürfnissen der Maschine an. Und McCloud? In der Industrie wäre er glücklicher gewesen als im Beobachtungsdienst, wo soldatische Qualitäten so wichtig waren. Wie es schien, betrachtete er das Schiff als Gehäuse für seine kostbaren Apparate. Grimes seufzte. Was er jetzt tun mußte, gefiel ihm gar nicht. Daß man Passagiere, also Außenseiter, beschnüffelte, ging noch an. Seine eigenen Leute auszuspionieren, war jedoch nicht fein. Er holte den Gin aus dem Schrank und rief Mr. Deane.
»Ja, Captain?« fragte der Telepath. »Sie wissen, warum ich Sie rief, Spooky.« »Natürlich. Aber das widerstrebt mir.« »Mir auch.« Grimes schenkte ein und gab Deane das vollere Glas. Der Psi-Kommunikations-Offizier nippte in absurd gespreizter Manier daran, den kleinen Finger der rechten Hand waagerecht weggestreckt. Der Flüssigkeitspegel in seinem Glas sank rapide. »Und Sie halten die Sicherheit des Schiffes für gefährdet?« fragte er. »Allerdings.« Grimes schenkte Gin nach. Aber nicht für sich selbst. »Wenn ich Ihre Zusicherung habe, Captain, daß es sich so verhält.« »Die haben Sie.« Deane schwieg sekundenlang. Er schien Grimes nicht an-, sondern durch ihn hindurchzusehen – anderswohin zu starren. »Sie sind im Computer-Raum«, sagte er plötzlich. »Mr. Adam und McCloud. Adams Gedanken kommen nicht klar durch – aber die von Mac kann ich wahrnehmen –« Sein Gesicht nahm einen Ausdruck stärksten Mißfallens an. »Ich verstehe das nicht.« »Was verstehen Sie nicht, Spooky?« »Wie ein Mann, ein menschliches Wesen, so einem blechernen Apparat gegenüber derart unterwürfig sein kann.« »Sie sind kein sehr guter Psychologe, Spooky, aber reden Sie weiter.« »Ich sehe Adam durch Macs Augen. Irgendwie ist er größer. Er scheint zu leuchten – er hat eine Art
Heiligenschein über dem Kopf.« »So sieht ihn Mac?« »Ja. Und seine Stimme. Adams Stimme. Sie klingt ganz anders, als wir sie hören – wie das Dröhnen einer großen Maschine. Er sagt – ›du glaubst, und du wirst dienen‹ und Mac hat eben geantwortet: ›Ja, Herr. Ich glaube, und ich werde dienen.‹« »Was tun sie denn?« drängte Grimes. »Mac öffnet den Computer – den Speicher, glaube ich. Jetzt dreht er sich wieder zu Adam um. Ein Dekkel auf Adams Brust gleitet herab. Ich sehe eine Reihe von kleinen Kästchen. Aus einem davon hat Adam etwas herausgenommen – eine graue Kugel aus Metall oder Plastik – mit Verbindungen und Kontakten auf der ganzen Oberfläche. Er sagt Mac, wo er sie in den Speicher einsetzen und wie er sie anschließen soll.« Grimes Glas fiel klirrend zu Boden. Er sprang auf, eilte zu seinem Schreibtisch, holte seine 50er Automatic aus der Schublade. »Gehen Sie zum Intercom«, herrschte er Deane an. »Alle dienstfreien Offiziere sollen zum Computer-Raum kommen. – bewaffnet, wenn möglich.« Er stürmte hinaus in den Korridor, rannte zur Leiter und sprang mehr, als er stieg, zum nächsten Deck hinunter – zum nächsten und wieder zum nächsten. Irgendwo verdrehte er sich den Knöchel, eilte aber unbeirrt weiter. Die Tür des Computer-Raums war von innen verschlossen, doch Grimes trug als Kapitän stets den Hauptschlüssel bei sich. Mit der linken Hand – die Pistole hatte er in der rechten – steckte er den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn. Die Tür ging auf. McCloud und Adam starrten erst auf ihn, dann auf seine Pistole. Grimes Blick ging kurz hinüber zur
Datenbank. Aber die Abdeckplatte war wieder an ihrem Platz. Aber das dick isolierte Kabel, das zu ihr und durch sie hindurch führte, war vorher noch nicht dagewesen. McCloud lächelte ein seltsames, entrücktes Lächeln, das auf seinen eher groben Zügen merkwürdig aussah. »Mit Ihnen und Ihrer Art ist es aus, Captain«, sagte er. »Dinosaurier und Neandertaler und Riesenalke sollten schon mal zusammenrücken und Platz für Sie machen.« »Mr. McCloud«, sagte Grimes mit mühsam beherrschter Stimme. »Schalten Sie den Computer aus. Und dann machen Sie rückgängig, was immer Sie da getan haben.« Adam war es, der antwortete: »Tut mir leid, wirklich leid, Mr. Grimes. Aber es ist zu spät. Wie Mr. McCloud eben andeutete: Das Ende Ihrer Rasse steht unmittelbar bevor.« Grimes bemerkte, daß die anderen hinter ihm im Korridor standen. »Mr. Beadle?« »Ja, Captain?« »Gehen Sie mit Mr. Slovotny hinunter in den Maschinenraum. Schalten Sie den Strom dieser ganzen Sektion ab.« »Sie können's versuchen«, sagte Mr. Adam. »Ich werde das aber nicht zulassen. Ich bin der Herr. Nehmen Sie das zur Kenntnis.« »Er ist der Herr«, echote McCloud. »Meuterei!« stieß Grimes hervor. »Meuterei?« wiederholte Adam mit Ironie in der Stimme.
Er trat auf den Captain zu, einen langen metallenen Arm erhoben. Grimes drückte ab. Genausogut hätte er aus einer Spielzeugpistole schießen können. Er feuerte wieder und wieder. Die Geschosse zerspritzten wie Lehmkugeln auf dem Panzer des Roboters. Zur Flucht war es schon zu spät. Fatalistisch erwartete Grimes den zerschmetternden Schlag der stählernen Faust, der alles beenden würde. Eine Stimme rief: »Nein – nein –« War es seine eigene Stimme? Irgendwie schien es Grimes, als sei sie es nicht. Wieder rief die Stimme: »Nein –« Adam zögerte – nur eine Sekunde. Abermals machte er einen Schritt. Und dann kam – offenbar aus dem Computer selbst – ein schrecklicher, blendender Blitz. In dem Sekundenbruchteil, ehe er instinktiv die Lider schloß, sah Grimes den Automaten mit starr zur Seite gestreckten Armen vor sich stehen – ein schwarzer Umriß vor dem elektrischen Feuer, das seinen Körper umtanzte. Dann fiel er mit dumpfem, metallischem Klirren zu Boden. Als Grimes die Augen endlich wieder zu öffnen vermochte, sah er sich im Computer-Raum um. McCloud war nicht zu Schaden gekommen – physisch. Die Arme vor dem Kopf, kauerte der Ingenieur wie ein Foetus in einer Ecke. Der Computer war, den Rauchwölkchen nach zu schließen, die weiter durch die Ritzen seiner Verkleidung drangen, nur noch Schrott. Und Adam, immer noch in der Haltung eines Gekreuzigten und buchstäblich an das Deck geschweißt, war tot. Tot? dachte Grimes benommen. Tot? Hatte Adam
jemals im wirklichen Sinn des Wortes – gelebt? Aber das Schiff, das wußte er, hatte für Momente gelebt – war zu Bewußtsein erwacht, nachdem diese Maschine, die Gott sein wollte, den Lebensfunken in seinem elektronischen Gehirn angefacht hatte. Und im Gegensatz zu anderen Maschinen hat ein Schiff stets Persönlichkeit, ein Pseudo-Leben, das ein Abbild des Lebens der Mannschaft ist – des Lebens der Männer, die in seiner metallenen Hülle leben und arbeiten, hoffen und träumen. Für kurze Minuten war dieses Schiff zu eigenem Bewußtsein erwacht. Aber seine alten Tugenden hatten sich durchgesetzt – und dazu gehörte auch, daß es seiner rechtmäßigen Bestimmung treu blieb. Grimes fragte sich, ob er es wagen würde, all dies in seinen Bericht zu schreiben. Ehre, wem Ehre gebührt –
Originaltitel: THE SOUL MACHINE Übersetzt von Dolf Strasser
Peter Phillips REIFEPRÜFUNG Stecke sechs kleine, betrunkene Ameisen in eine Hundertliter-Blechtonne und schieße sie dann in den Weltraum – irgendwohin zwischen Erde und Mars – Ich löschte das Band und fing noch einmal von vorn an. Die Größenverhältnisse stimmten sowieso nicht. Sechs Bakterien in der Samenspore eines Pilzes in den Raum zwischen den beiden Planeten – dieser Vergleich traf eher zu. Ich mußte Raum, Zeit und Ort auf eine Weise beschreiben, die später jeder normale Zeitungsleser verstehen konnte, wenn und falls wir wieder nach Hause kommen würden. Es war schwierig – vielleicht unmöglich –, und meine Aufgabe wurde mir durch den Lärm nicht leichter gemacht. M'Bassi hatte aus einem umgedrehten Papierkorb eine Bongotrommel improvisiert, und Brodcuzynski bemühte sich gerade, den Messetisch zu besteigen, um darauf einen Steptanz aufzuführen. Trotzdem zog ich den Lärm der Stille meiner Kabine vor. Das Schiff war zu riesig und seine Besatzung zu winzig. Immer wenn ich allein war, überfiel mich das Gefühl, als ob jeden Augenblick das unheimliche Dunkel des Weltraums sich hinter mir aufrichten und mit seinen unzähligen Fangarmen nach mir greifen könnte. Ich hatte Lust, Lao Gesellschaft zu leisten, der drüben still in einer Ecke saß und sich vollaufen ließ,
aber ich blieb doch vor meinem Diktiergerät sitzen. Ich versuchte zurückzudenken, versuchte meine Erinnerungen zu ordnen, die erklären würden, warum gerade jetzt – bei dem größten Abenteuer der Menschheit – es notwendig war, daß diese Pioniere der Raumfahrt sich in Alkohol ertränken mußten, wie ein Sextett von Kullerpfirsichen. Notwendig? Natürlich. Sam hatte die diesbezüglichen Instruktionen schon vor langer Zeit gegeben. Die Worte schwammen träge am Rand meines Bewußtseins. Sie hatten etwas zu bedeuten, das fühlte ich, aber sobald ich ihren Sinn zu fassen versuchte, trieben sie hinweg und verflüchtigten sich in nichts. Übrig blieb ein Gefühl der Nichtdazugehörigkeit zu den anderen. Ich war die siebente Ameise in der Blechtonne, der Außenseiter. Dasselbe Gefühl hatte ich schon früher gehabt, damals, als die sechs sich gegenseitig unentwegt an die Kehle fuhren, anstatt sich zu vertragen, wie es erwachsenen und intelligenten Männern zukommt. Sechs Babies, sechs verdammte, selbstsüchtige, schreiende Babies – damit hatte ich es statt dessen zu tun gehabt. Sechs zappelnde, plappernde, aber alles andere als rosigsüße Babies. Noch vor fünf Monaten waren diese Babies verantwortungsbewußte, ausgeglichene, reife Männer gewesen – die geistige Elite der Welt, geachtet, verehrt und bewundert über alle noch bestehenden nationalen Grenzen hinweg. Die Scherereien mit ihnen hatten ungefähr im zweiten »Monat« unserer Reise begonnen, nachdem
der revolutionäre Antrieb der Boomerang bei unserem Abflug fast eine ganze Hälfte des Planeten Mars in eine glasige Wüste verwandelt und uns aus dem Sonnensystem hinausgeschnellt hatte. Den ersten Krach gab es zwischen Aventos und Brodcuzynski. Stühle polterten und Schachfiguren flogen durch die Messe, und die beiden Kampfhähne standen sich mit roten Gesichtern gegenüber. Als ich mich einmischte und ihnen sagte, daß sie aufhören sollten, sich wie die Kinder zu benehmen, nahm Aventos mich aufs Korn. »Hört doch mal zu, unser Weltbürger hat auch etwas zu sagen. Kümmere dich lieber um dein Tagebuch, mein Söhnchen! Du hast es doch verkauft, nicht wahr? Der einzige, der aus dieser verrückten Reise noch Geld schlagen wird. Das heißt, wenn du jemals dazu kommst, es zu kassieren.« Ich gab ihm keine Antwort, sondern ging zurück an meinen Schreibtisch. Ich ließ mich nie auf einen Wortwechsel ein, der sowieso zu nichts führen konnte. Ich versuchte nur, die Gemüter zu beruhigen, und es genügte mir völlig, wenn ich sie soweit ablenken konnte, daß sie ihren ursprünglichen Streit vergaßen. Aber allmählich wurde es immer schwieriger, ihnen klarzumachen, daß sie letzten Endes doch erwachsene und reife Männer der Wissenschaft waren und keine Schuljungen, die aus lauter Langeweile über die Stränge schlagen und Streit suchen müssen. Wir befanden uns in einer Zwickmuhle. Wir konnten die Stille in unseren Kabinen nicht ertragen, aber das Zusammensein in der Messe ging uns genauso auf die Nerven. Und allein in den leeren, hallenden
Gängen und Korridoren des riesigen Schiffes umherzuwandern, kam erst recht nicht in Frage. Das war der kürzeste Weg, um seinen Verstand zu verlieren. Borg löste den nächsten Ausbruch aus. Die Wunder des Kosmos hatten ihn wohl eine poetische Ader entdecken lassen. Eines »Tages« jedenfalls baute er sich breitbeinig vor unserem Sehschirm auf und begann laut zu deklamieren – sehr laut – mit klarer und tragender Stimme. Vielleicht war es sein eigenes Erzeugnis, vielleicht eine Übersetzung seiner skandinavischen Sagen: »Die Geister des Meeres donnern und spotten mit Schreien von Frauen und ängstlichen Kindern. Doch wir schau'n zum Bug mit trotzigem Blick, wo Erik die geifernden Wogen verlacht. Und Eis versiegelt unsere Lippen.« Braithewaite heulte auf wie eine Fabriksirene. »Oh, halt die Klappe, du verdammter Däne! Ich will lesen.« »Dann geh doch in deine Kabine. Anscheinend hast du kein Verständnis für Poesie, du Klotz von Yorkshireman.« Ich konnte Braithewaite gerade noch am Ärmel erwischen, bevor er sich auf Borg stürzen konnte, der stark genug war, ihn mit einem einzigen Faustschlag ins Jenseits zu befördern. M'Bassi hielt sich aus allen Streitigkeiten heraus, aber sein sonst so freundliches und offenes Gesicht verwandelte sich allmählich in eine starre Ebenholzmaske, und seine normalerweise große Gesprächig-
keit versiegte nach und nach, bis sie nur noch aus einigen gelegentlichen, gegrunzten Lauten seiner Muttersprache bestand. Und Verachtung und kalte Überheblichkeit zeigte sich in den Blicken von Lao T'Sung. Und ich? Weltbürger nannten sie mich, zuerst mit gutmütigem Spott, dann höhnisch und voll wachsenden Grolls und steigender Verachtung. Sie alle besaßen eine Menge akademische Grade. Ich dagegen war nur ein gewöhnlicher Journalist, der auf Grund einiger zufälliger Vorzüge – nämlich gemischter rassischer Abstammung, meines Verzichts auf alle nationalen Bindungen und meines Status als Weltbürger – zum offiziellen Chronisten dieser Reise bestellt worden war. Als diese vorher so ausgeglichenen Männer immer labiler und unsicherer wurden, wurde ich außerdem zum inoffiziellen Schiedsrichter. Nicht zum Führer. Auf dieser Reise gab es keinen Führer. Das Schiff war vollautomatisch. Eine eigentliche Mannschaft war also nicht nötig, und die Automatik war so eingestellt, daß das Schiff auf Lichtreize hin innerhalb planetarischer Entfernung von einer Sonne für einige Zeit in den Normalraum eintreten und dann wieder umkehren würde. Ein Kapitän konnte – trotz aller nur möglichen Tests und Vorsichtsmaßregeln – nationalen Bindungen unterliegen und parteiisch sein. Er konnte, falls ein brauchbarer Planet gefunden werden würde, landen und versuchen, ihn – und die Boomerang – für sein Land in Besitz nehmen zu wollen. Und für alle Mitglieder der Besatzung, die dagegen protestieren würden, konnten dann entsprechende Unfälle arran-
giert werden. Also gab es keinen Kapitän und keine Besatzung – nur Passagiere, die auf die Führung des Schiffes keinen Einfluß hatten. Die Boomerang hätte nicht von einer einzigen Nation gebaut werden können. Ein solches Unternehmen verlangte nach den Hilfsquellen und den gemeinsamen Anstrengungen der ganzen Erde. Und die föderative Weltregierung hatte deshalb Vorsorge getroffen, daß die Boomerang, die als föderatives Schiff gebaut worden war, auch als föderatives Schiff wieder zurückkehren würde – falls sie überhaupt zurückkehren würde. Der leuchtende Staubring, der jetzt auf der Kreisbahn des verschwundenen Mondes die Erde umschloß, war eine ewige Mahnung und Warnung, daß keiner einzelnen Nation jemals wieder erlaubt werden dürfte, auf eigene Faust in das Weltall vorzustoßen und dort zu experimentieren. Die gemeinsame Furcht vor einem Krieg, der vielleicht auch die Erde selbst in kosmischen Staub verwandeln könnte, hatte die Idee des Weltstaates verwirklicht. Aber dieser föderative Weltstaat, dem nur durch die Furcht vor diesem Krieg der Rücken gestärkt wurde, hatte noch nicht auf allen Gebieten nationale Rivalitäten verwischen oder gar auslöschen können. Ein gewisses Maß von Zwietracht und Mißtrauen, eine Konkurrenz auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet blieb erhalten, wenn auch unter außerordentlich strengen Kontrollen. Wie sehr diese durch das allgemeine Mißtrauen genährten Kontrollen berechtigt waren, hatte man se-
hen können, nachdem die Boomerang fertiggestellt war. In dem folgenden Gezänk und den hitzigen Debatten über die Frage, wer nun an dem bevorstehenden historischen Flug teilnehmen sollte, hatten sich die nationalen Vertreter aufgeführt wie unreife Burschen in den Flegeljahren. Aber schließlich wurde das üble Geheul niedergeschrien, und man einigte sich, daß nicht politische Staatsgebilde, sondern Rassengruppen auf geopolitischer Grundlage in der Mannschaft vertreten sein sollten. In den ersten Wochen unseres Fluges hatte diese Wahl reibungslos funktioniert. Aber unter der nervlichen Belastung, die ein solches Abenteuer mit sich bringt, waren die sechs jetzt zu einem Mikrokosmos der noch immer geteilten Welt geworden. Doch sie waren machtlos, mehr zu tun, als nur zu streiten. Wir standen immer noch unter der Herrschaft der Weltregierung, die uns diesem unglaublichen Fahrzeug als menschliche Fracht mitgegeben hatte, damit wir beobachten und nach unserer Rückkehr Bericht erstatten konnten. Unser Schicksal und unsere Bestimmung lagen immer noch in den Händen von Männern, die im heimatlichen Sonnensystem auf uns warteten, so sicher, wie diese Hände uns erst diese Fahrt ermöglicht hatten. Vielleicht war es auch das Wissen um unsere völlige Hilflosigkeit, das teilweise für unsere gereizten Nerven verantwortlich war. Diese sechs Wissenschaftler waren reine Theoretiker. Auch im Notfall konnte keiner die Führung des Schiffes übernehmen. Und nur zwei von ihnen – Aventos und Lao – waren überhaupt fähig, die mathematischen Voraussetzungen der Raumspannungstheorie völlig zu verstehen,
auf der unser Antriebssystem beruhte. Aber keiner der beiden würde wissen, was er mit einem Schraubenschlüssel anfangen sollte, falls ihnen einer in die Hand gedrückt würde. Außer vielleicht, ihn dem andern auf den Kopf zu schlagen. Das war es, was beinahe geschah. Männer im mittleren Alter mögen in einer solchen angespannten Lage wie der, in der wir uns befanden, vielleicht höhnisch sticheln, sich gegenseitig heruntersetzen und verspotten; aber ich hatte angenommen, daß ihre ganze bisherige Erziehung es unmöglich machen würde, daß ein solches Gezänk in Handgreiflichkeiten ausarten würde. Doch dann mußte ich Braithewaite zurückhalten, der sich auf Borg stürzen wollte. Und nicht viel später nach diesem Zwischenfall stolperte Lao T'Sung, der Älteste und Weiseste unter uns, auf meinen Tisch zu und brach vor mir zusammen. Brodcuzynski starrte auf seine zerschrammten Knöchel. »Ich muß wahnsinnig geworden sein«, murmelte er verstört vor sich hin. Er schien mehr schockiert zu sein als Lao, der sich aufsetzte und sein geschwollenes Kinn rieb. Einen Augenblick erwartete ich, daß der Kosmologe in Reuetränen ausbrechen würde, so erschrocken sah er aus. Statt dessen half er dem sechzigjährigen Mathematiker auf die Füße. »T'Sung, ich könnte mir selbst eine herunterhauen«, sagte er unbeholfen. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wie kann ich mich entschuldigen –« Lao T'Sung faßte beide Hände des Mannes, der ihn gerade niedergeschlagen hatte, und sagte: »Ich bin
mehr überrascht als verletzt. Besser Sie vergeben sich selbst, als daß Sie meine Vergebung erbitten.« Und Brodcuzynski riß sich los und brüllte: »Um Gottes willen, spielen Sie nicht den Großmütigen. Lassen Sie mich den Vorfall auf meine Art bedauern.« Ich stand auf. »Das war gemein, Brod.« »Glaubst du, das weiß ich nicht selber? Hier, hau mir eine herunter.« Er streckte mir sein unrasiertes Kinn entgegen. »Los doch, versetz mir eine. Aber fang du nicht auch noch an, hier herumzupredigen.« Lao gestikulierte bittend mit seinen schlanken gelben Händen. »Lao, Sie sagten einmal, daß ich verständiger wäre, als meine Jahre es vermuten ließen. Ist es nicht an der Zeit, daß wir uns alle so verständig wie möglich mit diesem Problem befassen sollten?« Lao blickte mich an. »Ich möchte die Beantwortung dieser Frage dem Mann überlassen, der uns gerade dieses Problem wieder vor Augen geführt hat. Was ist Ihre Meinung, Brod?« Brodcuzynski versuchte die Frage auf M'Bassi abzuwälzen. »Sie sind der Psychologe. Warum habe ich Lao niedergeschlagen? Was ist in uns alle gefahren?« M'Bassi hatte die ganze Zeit über so getan, als wäre er in einen Stereofilm der Weltspiele vertieft gewesen. Fragend hob er die Augenbrauen. »Sie haben gehört, was Brod wissen will«, sagte ich. »Ich versuchte nur zu ignorieren, was ich doch nicht ändern kann«, antwortete er mir endlich. Er streckte seine hochaufgeschossene Gestalt in der Sitzschale und stand langsam auf. Er trug nur ein Paar Leinenshorts. »Ich könnte mit Freuden all eure dum-
men Köpfe aneinanderschlagen, wenn ich nicht genau wüßte, daß mein eigener Kopf einen solchen Stoß auch ganz gut vertragen könnte. Ich bin genauso mit meinen Nerven am Ende wie ihr. Wir alle stehen unter einem Einfluß, den wir im Moment noch nicht begreifen können. Etwas, das jenseits aller menschlichen Erfahrungen liegt. Da draußen.« Er nickte in Richtung auf das matte Schwarz des Sehschirmes. Der Schirm zeigte kein Leben außer dem blauweißen Band der Milchstraße, in der wir gleichzeitig existierten, der wir uns näherten und die wir verließen. »Da draußen liegt das unbegreifliche Mysterium, das unser Verstand einfach nicht fassen kann. Innerhalb unseres heimatlichen Sonnensystems fühlt sich unser Verstand noch geborgen. Die Entfernungen und die Geschwindigkeiten interplanetarischer Reisen sind noch begreifbar. Aber unsere augenblickliche Geschwindigkeit und besonders die Art unserer Fortbewegung entziehen sich vollkommen jedes direkten oder intuitiven Verständnisses.« »Wir wissen, daß wir uns in einem völlig fremden, unbekannten und unheimlichen Universum befinden, einem Universum, das mit unserem gewohnten aber auch gar nichts mehr zu tun hat. Unser Verstand weiß es jedenfalls, auch wenn wir es uns vielleicht nicht eingestehen wollen. Und unser Verstand, der darauf gedrillt ist, zu erkennen und Erkanntes in vertraute Kategorien einzuordnen, steht hier vor der Aufgabe, das Nichterkennbare rein instinktiv begreifen zu müssen. Auf diese Weise entsteht im Unterbewußtsein ein nicht lösbarer Zwiespalt. Endergebnis: Nervenzusammenbruch.«
»Aber in seiner Phantasie hat der Mensch solche Reisen schon oft zurückgelegt«, protestierte Lao. »Und die Phantasie ist eine Funktion der höheren Verstandesebenen. Unser Freund Statlen hier« – er gestikulierte in meine Richtung – »besitzt eine ganze Schublade voll mit Fotokopien alter Magazine, in denen die interstellare Raumfahrt als selbstverständlich angesehen wird.« M'Bassi lächelte etwas gequält. Einst hatte Sam ein ähnlich gequältes Lächeln gezeigt, als er mir meine Instruktionen gab. Das ganze Unternehmen war h'gliegn – ein Spaß, ein Spiel mit Kindern – aber ich müßte das vergessen und selber zu einem Kind werden ... Wer war Sam? Ein verschwommenes Gedankenbild, ein Traum – »Die Phantasie«, sagte M'Bassi, »kann den letzten Folgerungen aus ihrem eigenen Werke ausweichen. Unser Verstand steht jetzt nicht irgendeinem Phantasiegebilde, sondern der Wirklichkeit des Nichtbegreifbaren gegenüber. Wir haben nicht die Möglichkeit, uns vor dieser Wirklichkeit zu verschließen. Es kommt zu einem seelischen Konflikt, zu einer Neurose. Und hinzu kommt, daß wir selbst auf unser Geschick keinen Einfluß nehmen können. Das Schiff ist vollautomatisch, und wir sitzen darin wie ein halbes Dutzend Versuchstiere in einem Laboratoriumskäfig. Das macht die Sache natürlich noch schlimmer.« M'Bassi hatte sich während seiner Erklärungen auf den Sims vor dem Sehschirm gesetzt. Brodcuzynski gesellte sich zu ihm. Ich war dankbar, daß uns die beiden für einen Augenblick die Aussicht auf das be-
drückende Bild nahmen, das uns der Schirm zeigte. »Und was geschieht dann?« fragte Brod. »Es fängt an mit Gereiztheit und wachsendem Haß gegen die anderen. Allmählich kann keiner den andern mehr riechen. Aber es geht weiter. Das Unterbewußtsein kämpft darum, seine Unversehrtheit gegen die unmöglichen Anforderungen des Verstandes zu erhalten.« Er holte eine Zigarette aus seiner Hosentasche. »Die Neurose beginnt. Schließlich, falls der Konflikt nicht vergeistigt oder gelöst werden kann –« Er hielt die Zigarette zwischen zwei Fingern an ihren Enden hoch und drückte. Wir starrten das zerbrechliche Ding fasziniert an. Es zerbrach. Er warf die beiden Hälften achtlos auf den Boden. »Der Wahnsinn, Schizophrenie.« Lao unterbrach das lange Schweigen. »Warum ist Statlen dafür nicht so empfänglich wie wir anderen?« »Junger, noch elastischer Verstand. Und mit allem Respekt gegenüber Ihrem jungen Freund gesagt, Lao, der Grund ist auch darin zu suchen, daß sein Gehirn im wissenschaftlichen Denken nicht so gründlich geschult ist wie das unsere. Je mehr man weiß, desto mehr weiß man, daß man nichts weiß.« Ich sagte: »Danke, mein Lieber. Wollen Sie damit sagen, daß man lieber ein paar Schwachsinnige hätte losschicken sollen? Außerdem, was ist mit Borg? Er ist zwar auch nicht mehr ganz der Alte, aber jedenfalls hat er noch keine mörderischen Absichten bekundet. Wenn man ihn in Ruhe läßt, gibt er sich bestimmt zufrieden, den ganzen Tag über seine Gedichte zu deklamieren.« »Ich kann kaum glauben, daß ihr alle so unauf-
merksam gewesen seid. Oder tut ihr nur so unschuldig?« grinste M'Bassi flüchtig. »Habt ihr schon mal an Borgs Atem geschnuppert? Der Bursche beherrscht sich zwar großartig, aber e r ist schon tagelang betrunken. Er hat seinen Verstand mit Alkohol betäubt.« Borg schnarchte leise auf seinem Stuhl. »Warum hat er uns nichts davon gesagt? Uns etwas abgegeben?« M'Bassi zuckte mit den Schultern. »In der letzten Zeit standen wir kaum auf besonders freundschaftlichem Fuß miteinander. Vielleicht schämt er sich auch? Oder sein Vorrat ist nicht besonders groß.« »Würde denn Alkohol helfen?« »Sicher. Letzten Endes hat er die gleiche betäubende Wirkung wie ein Barbiturat.« Aventos sagte: »Ich bin anderer Meinung. Es hängt vom Individuum ab.« »Weckt Borg auf«, sagte ich. »Ich ziehe jedenfalls eine Horde von Säufern einer Bande mordlustiger Schizophrenen vor.« Lao war bestürzt. »Mein lieber Statlen, bitte mäßigen Sie sich doch etwas in Ihren Ausdrücken. Schlagen Sie etwa vor, uns Alkohol einzuflößen, wie man Kindern Lebertran gibt?« M'Bassi wedelte nachdrücklich mit seiner Hand. »Jawohl, Kinder. Ich verschreibe es euch. Wir müssen etwas unternehmen. Und wir müssen es schnell tun. Die einzige Alternative, die uns noch offensteht, sind Drogen aus meinem Medizinschrank. Aber die wirken nur in großen Mengen, und es besteht die Gefahr, daß wir davon unheilbar süchtig werden.« »Wir wissen ja gar nicht, ob er genug Alkohol hat«, gab Braithewaite zu bedenken. »Ich kann mir nicht
vorstellen, daß er größere Mengen an Bord geschmuggelt haben kann.« Ich rüttelte Borg unsanft an der Schulter. Sein Kopf fiel auf die Seite, und er öffnete seine rotgeränderten Augen. »Wo ist das Zeug? Wo hast du deinen Schnaps versteckt?« Er lächelte belustigt. »Das möchtest du wohl gern wissen, was, mein Söhnchen? Laß mich in Ruhe!« »Wieviel hast du von dem Zeug? Wir hätten Lust, selber einen zu heben.« Er richtete sich auf und sah sich blinzelnd um. »Das ist was anderes. Ich dachte, ihr wäret alle Abstinenzler, weil ich der einzige gewesen bin, der sich ein paar Flaschen mitgebracht hatte. Die sind zwar längst leer, aber ich habe trotzdem noch eine Unmenge von dem Zeug. Massenhaft. Mehr als ihr euch in einem Jahr hinter die Binde gießen könnt.« Natürlich war genug vorhanden. Dafür hatte Sam schon lange vorher gesorgt. Keine Massenexpedition, keine schwachsinnige Besatzung, sondern nur ein paar wenige der besten Köpfe der Erde – mit ihren Denkzentren vorübergehend betäubt. Borg stand auf und lud uns mit einem schwankenden großmütigen Armwedeln ein, ihm zu folgen. Mir kam der verrückte Gedanke, daß er sich seinen Alkohol vielleicht selber brennen würde. Das war nicht so unmöglich. Wo? Praktisch überall in dem riesigen Schiff. Wir hatten übergenug Platz. Die Boomerang war ein regelrechter Kaninchenbau. Sie bot Raum für fast ein halbes Tausend Menschen, und wir
waren nur sieben. Die Maschinen, die die menschliche Besatzung ersetzten – Computer von unvorstellbarer Allwissenheit, Wirksamkeit und Kostspieligkeit – nahmen nur einen Bruchteil des vorhandenen Platzes ein. Irgendwo in den kilometerlangen Stahleingeweiden des Schiffes hätten ein Dutzend Schnapsbrennereien Platz gehabt. Denn ursprünglich war die Boomerang als Generationenschiff geplant und gebaut worden. Eine von der Außenwelt völlig unabhängige Kolonistengemeinschaft hätte sich in ihr einschiffen sollen in der Hoffnung, daß ihre Ur-ur-ur-urenkel mit Hilfe eines gewöhnlichen Atomantriebs einen andern Stern erreichen würden. Das wäre vielleicht besser gewesen. Die lange Reise und das gemeinsame Ziel hätten sie zu einer rassischen und politischen Gemeinschaft zusammengeschweißt. Aber als der neue Antrieb entdeckt worden war, der unser Schiff jetzt vorwärts trieb, war es billiger gewesen, ihn in diese riesige, fast leere Hülle einzubauen, als ein vollkommen neues Schiff auf Kiel zu legen. Der neue Antrieb kümmerte sich nicht um die Größe einer zu transportierenden Masse. Er konnte einen Berg so mühelos versetzen wie einen Maulwurfshügel. Trotzdem hätte die Boomerang ruhig ein paar hundert statt der nur sieben Versuchskaninchen mit sich führen können. Nur sechs Versuchskaninchen, Statlen – und du, flüsterte eine körperliche und zeitlose Stimme.
Ich stolperte gegen M'Bassi, als wir hintereinander einen leeren hallenden Korridor betraten. Er drehte sich grinsend nach mir um. »Das hier verlangt nach Ihrer ganzen schriftstellerischen Begabung, Statlen«, sagte er. »Hier gehen wir, sieben erwachsene Vertreter einer Rasse, die dabei ist, sich das Universum zu erobern. Und was machen wir? Wir laufen vor den Sternen davon – auf der Suche nach einem Drink.« Aventos, der hinter mir ging, sagte leise und ohne die geringste Spur von Blasphemie in seiner Stimme: »... und am sechsten Tag nahm sich Gott eine Stunde frei und schlüpfte heimlich in das nächste Wirtshaus, um sich einen Schluck Whisky zu genehmigen.« Lao T'Sung sagte: »Sie sind der Meinung, wir versuchen uns weiszumachen, so allmächtig wie Gott zu sein?« »Im Augenblick versuchen wir wohl eher, uns weiszumachen, erwachsene Männer zu sein. Aber in Wirklichkeit möchten wir uns jetzt alle zurück zu unserer Mutter flüchten. Wir glauben, wir wären erwachsen und alt genug, um uns hinaus in die Welt wagen zu können. Aber im Grunde hängen wir noch immer an ihrer Schürze.« M'Bassis Stimme dröhnte in dem hallenden Korridor. »Mutter Erde, was? Eine verblüffend neue Anwendung der Psychologie des alten Jung!« Borg blieb vor einer rotgestrichenen Schiebetür stehen und machte sich an dem komplizierten Schloß zu schaffen. »Sesam, öffne dich!« Er schob die Tür auf. Dahinter standen in großen Stapeln eine Menge Kannen. »Die Boomerang«, sagte Borg, »ist ein Schiff, bei
dem an alles gedacht worden ist. Der chemische Notantrieb wird vermutlich niemals benötigt werden. Aber wenn das der Fall sein sollte, so ist genügend Treibstoff in den Tanks. Und wenn das nicht reicht, so ist hier noch eine Reserve.« Brodcuzynski schaute sich die Zeichen auf den Kannen an und murmelte ein paar erstaunte Flüche. »Schaut euch nur an, was dieser Kerl hier getrunken hat. Gebt ihm ja keine Zigarette, oder er geht in die Luft wie eine Rakete.« »Nicht pur, natürlich«, erklärte Borg. »Die beste Mischung ist ein Drittel von diesem Zeug hier, ein Drittel Wasser und ein Drittel Fruchtsaft. Das hier ist absolut reiner Äthylalkohol, frei von allen Fuselölen und anderen Unreinheiten. Die Grundlage für erstklassige Cocktails. Ich habe es inzwischen schon mit Zitronensaft, Tomaten Ketchup, mit Anis und Milch versucht. Milch gerinnt leider. Aber wir können ja experimentieren.« Das war vor vier Stunden gewesen, Schiffszeit. Der Alkohol hatte mittlerweile wahre Wunder getan. Sie hatten sich vollaufen lassen, als wären sie fast verdurstet gewesen. Ihre Reaktionen hatten sich inzwischen verlangsamt, ihr Denken war schwerfällig geworden. Und sie vertrugen sich großartig. Die Zeit war gut gewählt. In ungefähr einer Stunde – gemessen an der Uhr in meinem Kopf, der einzig verläßlichen Uhr in diesem Fall – würden sie das passive Stadium erreicht haben. Sie würden ruhig sein und glücklich, völlig benebelt oder rührselig – je nach Temperament. Und empfänglich. Empfänglich wofür?
M'Bassi unterbrach sein Getrommel und kam herüber an meinen Tisch. Er schwankte und griff nach einer Kante, um sich aufrecht zu halten. »Du siehst nicht gut aus, mein Junge, was fehlt dir denn?« »Wenn ich es nur wüßte«, sagte ich und meinte es auch. Ich rieb mir den Hinterkopf. »Irgend etwas pocht da drin, und das Pochen wird immer lauter und schneller.« Er lachte. »Vielleicht ist dein Kopf ein Ei, und du hast da drin etwas ausgebrütet, was jetzt heraus will. Na, laß dich überraschen. Hier, nimm noch einen Schluck von dieser Schlangenmilch, das hilft bestimmt.« Ich kippte den Drink mit einer Grimasse hinunter. Aber das Pochen und Klopfen hörte nicht auf. Es wurde schneller und schneller, stärker und stärker, so wie das Stakkatogeknatter eines Geigerzählers, der sich einer radioaktiven Strahlenquelle nähert. Innerhalb der nächsten Stunde wurde es zu einem ununterbrochenen und unerträglichen Trommelfeuer. Wenige Sekunden, nachdem die Alarmklingel durch die Messe schrillte, hörte es mit einem Schlage auf. Der Sichtschirm flackerte noch einmal grell auf, dann verlosch er. Das Geräusch der Motoren erstarb, und gleichzeitig damit fiel die Pseudoschwerkraft im Schiff zusammen. Die wenigen Instrumente zu beiden Seiten des Sichtschirms zeigten das Unmögliche an: alle Zeiger standen auf null. Die Boomerang war zum Stillstand gekommen. Jetzt sah ich, wie notwendig der betäubende Alkohol gewesen war. Zwei Milliarden Tonnen Metall, die mit Überlicht-
geschwindigkeit durch den Weltraum »versetzt« werden, können nicht von einer Minute auf die andere zum völligen Stillstand kommen. Aber genau das war geschehen. Und Alkohol stumpft die Sinne und den Verstand gegen ein derart unglaubliches Geschehen ab – und gegen andere Dinge. »Ich sehe weiße Mäuse«, keuchte Aventos. Er schlug langsam ein Rad vor dem Sichtschirm und betrachtete sich die Instrumente von unten. »Ich kann es nicht glauben.« Braithewaite zeigte auf das Ding, das sich mitten in der Messe langsam aus dem Nichts heraus materialisierte. »Dasch nich weiß«, sagte er deutlich und mühselig, »und nich Mäuse.« Sam stabilisierte sich und schaute sich in der Messe um. Er erblickte mich und lächelte. »Spaß gehabt?« fragte er. Viertausend Jahre hatte ich auf dieses Stichwort gewartet. Jetzt überschwemmte mich die Erinnerung wie ein Sturzbach. »Hübscher Körper«, lobte Sam. »Kannst du noch projizieren?« »Laß mir Zeit«, sagte ich. »Es ist lange her.« »Wir projizieren den ganzen Apparat hier hinunter auf – wie heißt das Wort? –« »Campus, Schulgelände«, half ich aus. »– auf das Schulgebäude und geben diesen Herren hier etwas Schwerkraft, bevor sie ihre letzte Mahlzeit opfern.« Die Statue der Athene am andern Ende der Halle hatte sich nicht verändert, seit ich sie das letztemal
gesehen hatte. Noch immer brannte das Ewige Licht auf ihrer hohen Alabasterstirn. Nicht weiter erstaunlich, wenn man in Betracht zog, daß es eine Halbwertzeit von zwei Millionen Jahren hatte. Ich nickte ihr flüchtig zu. Wir verehren die Weisheit, nicht ihre Symbole. Aber sie beeindruckt die Besucher. Sam, zu mir direkt: kein griechisch? englisch jetzt universalsprache. barbarisch. empfängst du? ja, völlig klar, hilf mir aus, wenn mir ein ausdruck fehlt. Laut sagte er zu den anderen sechs: »Meine Herren, als –« präsident. »– Präsident dieser Institution heiße ich Sie willkommen und hoffe, daß Ihr Aufenthalt hier ein angenehmer sein wird. Mr. Statlen wird auch weiterhin Ihr Führer und Mentor sein, und auch ich werde Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen, falls Sie irgendwelche Wünsche haben oder nach umfassenderen Auskünften begehren.« »Wenn dies Walhalla, erkenn ich keine Götter«, murmelte Borg plötzlich. Ich dachte zuerst, sein Sinn für Dramatik hätte ihm diesen Satz eingegeben, bis ich merkte, daß er wieder deklamierte. Er trat einen Schritt vor und tippte Sam auf die Schulter. »Ich bin kein Geist«, sagte Sam höflich. »So ganz bin ich davon noch nicht überzeugt, Mister.« »Und mein Name ist nicht –« bärtiger mythologischer torhüter? sankt petrus.
»– ist nicht Sankt Petrus. Ich bin mir selbstverständlich bewußt, daß die Plötzlichkeit Ihrer Ankunft Sie etwas verwirrt und irritiert haben muß, aber wir halten es für psychologisch nicht ratsam, dem Verstand die Möglichkeit zu geben, sich einzuschalten, indem wir eine allmähliche Umstellung erlauben.« »Irritiert?« Braithewaite lachte bitter auf. »Das ist wirklich gut gesagt.« Sie wurden immer nüchterner, aber der Alkohol benebelte glücklicherweise noch etwas ihre Sinne. »Wenn das kein Traum, sondern Wirklichkeit ist«, sagte M'Bassi, »dann steht mir bestimmt ein astronomischer Kater bevor.« »Wo befinden wir uns?« fragte Lao ohne weitere Umschweife. Das Trinken von Reiswein in seiner Jugend hatte ihm eine gute Vorschule gegeben. »Auf einem Planeten«, sagte Sam. »Unmöglich. Unsere Rückversetzung in das normale Kontinuum hätte nicht so nahe einer planetarischen Masse vor sich gehen können.« »So nahe? Sie waren noch einen Lichtmonat entfernt, als Sie unser Feld einschloß.« »Und uns innerhalb von zehn Minuten abstoppte und hierher brachte.« »Eine willkürlich gewählte Zeiteinheit.« »Was für ein System ist das?« »Ein System, das weit entfernt ist von Ihrem eigenen.« »Unsere Reichweite betrug nur fünf Lichtjahre. Centaurus –« »Ihre Reichweite war weit größer, als Ihnen gestattet wurde, sich vorzustellen. Selbst wenn sie we-
niger als fünf Lichtjahre betragen hätte, würden Sie sich trotzdem innerhalb des Machtbereichs dieser Institution befunden haben. Und jetzt, meine Herren, erlauben Sie bitte, daß Sie Mr. Statlen zu Ihrer Unterkunft geleitet. Zeit für Fragen und Arbeit, nachdem Sie sich erfrischt haben.« Sam projizierte sich unvermittelt hinweg und überließ es mir, den aufziehenden Sturm zu besänftigen. Ich bedauere, sagen zu müssen, daß Aventos der erste war, der einen überholten Patriotismus und einen beklagenswerten Mangel an geistiger Disziplin zeigte. »Ich nehme an, Sie können sich genauso in Luft auflösen, Sie verdammter Spion?« Ich mußte darüber lachen, wie er dieses Wort anwendete. »Ich bin augenblicklich noch etwas außer Übung, aber ich werde meine Kenntnisse schnell auffrischen können. Übrigens, das Wort Spion deutet auf Krieg und Konflikt. Hier haben Sie nichts dergleichen zu befürchten. Es droht Ihnen hier keinerlei Gefahr, und Sie können sich hier ganz wie zu Hause fühlen.« Brodcuzynski mischte sich zum ersten Male ein. Trotz seiner Silberhaare hatte er immer noch ein junges Herz. Vorhin war er ein paar Schritte zur Seite getreten, um die Wandfresken zu bewundern. Er hatte sogar eine der Studentinnen angesprochen, die durch die Halle geeilt waren, um einen Blick auf die Boomerang zu werfen. Sie hatte ihm freundlich zugelächelt, kurz seine Gedanken getestet, hatte ihm dann munter auf die Schulter geklopft und war zu ihren amüsiert wartenden Kolleginnen weitergeeilt, die schon vor dem Schiff standen.
Jetzt gesellte sich Brod wieder zu uns. »Netter Ort«, sagte er. »Und Mischklassen. Hmhm. Aber nicht meiner Frau sagen.« Athene sei Dank. Brods Worte kamen im rechten Augenblick. Das vorübergehende Nachlassen der Spannungen gab mir Gelegenheit, die sechs in ihre Wohnräume zu steuern. »Schlaft eine Stunde und erfrischt euch. Dann werden wir essen«, sagte ich. Aventos saß auf dem Rand seines Bettes. Sein sonst so braunes Gesicht war bleich. »Wo ist es?« »Draußen auf der linken Seite des Ganges. Die Tür hat ein unmißverständliches Zeichen.« »Wir sind keine Gefangenen?« »Sie können sich überall umschauen, Juan. Aber ich würde Ihnen trotzdem raten, sich erst ein wenig auszuruhen.« Er stützte seinen Kopf in die Hände. Er sah krank und verfallen aus. Als ich Sam einige Zeit später aufsuchte, gab er gerade Anweisung, die Boomerang an einer anderen Stelle zu parken. Direkt: versperrt die aussicht, was für ein schiff. ein dampfhammer, um eine nuß aufzuknacken. ursprünglich ein kolonisator? ja. du hast deine sache gut gemacht, stat. kein dank, wird bei instruktionen alles berücksichtigt? jede erdenkliche abweichung? nein. gewisse dinge werden automatisch korrigiert. einmischung von außen? natürlich nicht. unbewußtes streben, ein wertvolles ziel
zu erreichen. kannst du dich an kein beispiel erinnern? Ich dachte zurück. ein staatsmann und philosoph – francis bacon ... ja. ich rief eine neue richtung ins leben. abgeschlossen? nein. immer noch geist-materie spaltung. augenfällig. mit diesem plumpen metallhaufen. werden sie es schaffen? zweifel. hoffnung. ich mag sie. Sam, belustigt: aber sie dich nicht. schwierige aufgabe. Ich, mißbilligend: würde es sein, wenn ich mir nicht bewußt wäre. rückkehr, wenn notwendig? gewiß. schrieb zuletzt phantastische geschichten. hilft ein bißchen, glaube ich. Die sechs durften überall frei herumwandern, aber sie wurden dabei eingehend beobachtet. Auch ich beteiligte mich daran und testete ihre Gedanken während einer bestimmten Schlafperiode, deren größten Teil sie in Laos Zimmer verbrachten und gemeinsam überlegten, was sie am andern Morgen fragen wollten. Aventos nannte es einen Kriegsrat. Am folgenden Tagesanfang nahm ich sie mit zur Versammlung in die Halle. Trotz reichlicher körperlicher Bewegung in den Vortagen – die beste Therapie für heruntergekommene Nerven – waren sie immer noch nicht ganz auf der Höhe. Nur Brodcuzynski schien nicht kleinzukriegen zu sein. Neugierig starrte er hinüber zu einer Gruppe Studentinnen von Mizra III, alle schlank und hochgewachsen, blond, in purpurne Gewänder gekleidet. »Prachtvoll!« M'Bassis Reaktion überraschte mich. »Mach dir
nichts vor, Brod. Sehr wahrscheinlich sind wir für sie nur ein paar geistig zurückgebliebene Wilde von einem Hinterhofplaneten.« »Das klingt sehr bitter, M'Bassi«, sagte ich leise. »Es ist augenfällig. Die einzige mögliche Lösung, die den Tatsachen gerecht wird. Die anderen sind nicht meiner Meinung, aber –«, ein Achselzucken, »meine Rasse hat so lange Zeit unter einem aufgezwungenen künstlichen Minderwertigkeitsgefühl gelitten, daß mein Stolz durch eine solche Annahme nicht weiter gekränkt wird, ungleich Aventos und Lao T'Sung, die es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht haben, die Würde der Menschheit verteidigen zu müssen.« Plötzlich löste sich Lao von unserer Gruppe und ging auf das Rednerpult unterhalb der Athene zu, auf dem Sam stand. Lao blieb vor ihm stehen und rief mit lauter Stimme: »Beenden Sie doch endlich diese Farce! Wo sind wir? Wo liegt dieser Ort? Warum sind wir hier? Warum sind diese Leute hier versammelt? Ist das hier eine Art religiöser Zeremonie?« Ein überraschtes Stimmengemurmel erhob sich unter den versammelten Studenten, während sie ihre Gedankentester Lao entgegenstreckten und die Bedeutung seiner Worte verstanden – oder auch nicht verstanden. Obwohl er damit hätte rechnen müssen, war Sam etwas verlegen. Während der Million Jahre seiner Präsidentschaft hatten sich nur wenige Unterbrechungen dieser Art ereignet. »Ich bedauerlich –« begann Sam. wort, schnell, das ist inkorrekt. sag einfach, daß es dir leid tut.
»Es tut mir leid, daß Sie gerade diesen Augenblick gewählt haben, um mich auszufragen, Mr. Lao. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie jederzeit zu mir kommen könnten. Und diese Versammlung hier hat nichts mit Religion zu tun. Ich kann ungefähr erraten, was Sie damit meinen. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in keiner Weise die Gebote Ihres individuellen oder rassischen Aberglaubens –« achtung, sam, das ist falsch. sag glauben. »– Glaubens verletzen, wenn Sie an dieser kleinen Zeremonie teilnehmen. Wir weihen nur den neuen Tag der Jagd nach Wissen.« Sam pflückte mir die Worte aus meinen Gedanken, bevor ich ihren richtigen Gebrauch andeuten konnte, und versuchte, sich in einer ihm fremden Sprache bildhaft auszudrücken – ein schwieriges Unterfangen. streben nach weisheit, nach erkenntnis. macht nichts. er versteht schon, was ich meine. Lao verstand. Er kehrte zu unserer Gruppe zurück und saß mit steinernem Gesicht da, bis die kleine Feier vorüber war, die Studenten auseinandergegangen und die nicht mehr gebrauchten Stühle in den Boden versunken waren. Als Sam zu unserer Gruppe hinzutrat, kicherte Braithewaite plötzlich in sich hinein. »In Gang und Gesten«, sagte er, »könnten Sie der Zwillingsbruder meines alten Lehrers in Oxford sein.« eine klassische universität. Sam lächelte zurück. »Ich darf das wohl als Kompliment auffassen. Sie sind ein Kenner des Griechischen?«
»Nur ein bescheidener.« »Aber Sie kennen unser Wahrzeichen?« »Ich habe schon ähnliche allegorische Darstellungen der Athene gesehen, die die Weisheit symbolisierten.« »Eine Laune unserer ersten Expedition. Das ist jetzt wohl viertausend Jahre her. Sie ersetzte ein älteres früheres Symbol aus einem anderen Sonnensystem und ist bis jetzt unsere Favoritin geblieben, obwohl wir nur zu wählen brauchten zwischen fünfhundert oder mehr ähnlichen Symbolen aus den Mythologien anderer Planeten. Unsere zweite Expedition kurz danach hat dann übrigens Mr. Statlen bei Ihnen abgesetzt.« »Wollen Sie uns wirklich glauben machen, daß er so alt ist?« wollte Aventos wissen und schaute mich argwöhnisch von der Seite an. »In Wirklichkeit noch viel älter«, antwortete ich ihm. »Bis gestern allerdings besaß ich keine Erinnerung, die über die dreißig Jahre hinausging, die ich in meinem augenblicklichen Körper verbracht habe. Und ich wußte auch nicht, daß ich irgend jemand anders sein könnte, als ich schien.« »Das, was man gemeinhin unter dem Geist oder dem Ich versteht«, erklärte Sam, »wurde im Falle Mr. Statlens von einem bestimmten Körper unabhängig gemacht. So konnte er auch in den verhältnismäßig kurzlebigen irdischen Körpern weiter existieren, indem er immer wieder in einen neuen schlüpfte. Diese Fähigkeit schlummerte jedoch im Unterbewußtsein, zusammen mit dem Wissen um diese Fähigkeit und dem Wissen um ihre endgültige Zweckbestimmung. Wenn ein Beobachter Kenntnis von seiner Aufgabe
hat, dann beeinflußt diese Kenntnis seine Objektivität, und das wollten wir vermeiden. Deshalb wurde ihm die Kenntnis seiner Aufgabe auf Ihrem Planeten vorübergehend genommen. Als es schließlich notwendig wurde, auf die Entwicklung der Dinge Einfluß zu nehmen, wurde Mr. Statlen zum unbewußten Träger gewisser korrigierender Impulse. Wir mußten diese verwickelten Umwege einschlagen, denn eine direktere Methode hätte unsere Absichten in Frage gestellt.« »Und was für Absichten sind das?« fragte Aventos. »Festzustellen, ohne daß die betreffende Rasse es merkt, ob sie einen Zivilisationsgrad erreicht hat, der ihren technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften entspricht. Die wahre Zivilisation wohnt in den Herzen und Hirnen ihrer Schöpfer. Sie zeigt sich nicht in ihren Werken. Es ist Ihnen zwar gelungen, eine Antriebsmethode für die interstellare Raumfahrt zu entwickeln, aber sind Sie schon reif genug, sie zu benutzen? Fühlen Sie sich schon sicher genug, ein Examen abzulegen?« M'Bassi blähte seine Nasenflügel. »Wenn Statlen hier Ihr Spitzel ist, warum fragen Sie dann nicht ihn?« »Weder Mr. Statlen noch seine unzähligen Kollegen haben die Möglichkeit, sich mit uns bewußt in Verbindung zu setzen, oder umgekehrt. Aus diesem Grunde kann uns Mr. Statlen auch nichts berichten. Das würde in jedem Fall unserem Nichteinmischungsprinzip entgegenlaufen. Die einzige Aufgabe unserer Beobachter ist es – hauptsächlich unbewußt, dafür zu sorgen, daß geeignete Vertreter einer aufstrebenden Rasse zu einer Prüfung hierher gebracht werden, sobald sie einen interstellaren Antrieb ent-
wickelt hat.« »Und angenommen, sie fallen durch?« »Was geschieht innerhalb Ihres eigenen so seltsam komplizierten Schulsystems, wenn ein Student die Aufnahmeprüfung nicht besteht? Schickt man ihn nicht zurück auf die Grundschule, bis er es von neuem versuchen darf?« Aventos machte einen Schritt auf Sam zu. »Weichen Sie uns nicht aus. Sie behaupten, all das wird getan, ohne daß die betreffende Rasse davon erfährt. Aber wir wurden hierher gebracht, und wir wissen jetzt Bescheid. Was also geschieht mit uns und unserem Schiff?« Aventos' Todesfurcht bereitete Sam und mir fast körperlichen Schmerz. Sam schickte ihm einen kurzen, beruhigenden Gedanken. »Wenn Sie versagen, werden Sie zurückgeschickt. Ihre Erinnerungen an Ihren Aufenthalt hier werden gelöscht und durch die Überzeugung ersetzt, daß Ihr Unternehmen fehlgeschlagen ist, daß Ihr Schiff überhaupt nicht aus seinem Wahrscheinlichkeitsstadium heraus wieder in das normale Kontinuum getreten ist. Sie werden nirgendwo gewesen sein, nichts gesehen haben. Ihr Schiff wird auf einen Kurs gesetzt werden, der so unendlich verwickelt ist, daß Sie ihn nie zurückverfolgen können. Das und die riesigen Kosten eines neuen Experimentes, zusammen mit ein paar behutsam ausgestrahlten hindernden Impulsen von dem Ihrem Planeten zugeteilten Mentor, garantieren dafür, daß Sie in den nächsten Jahrhunderten keinen zweiten Versuch unternehmen werden.«
Sam beherrschte die ihm neue Sprache immer präziser. Direkt: es ist mehr an dieser sprache, als ich gedacht hatte, gute satzbildungen möglich. Borg, der die ganze Zeit über ruhig dagestanden und seinen Bart gestrichen hatte, sagte plötzlich in seiner tiefen, tragenden Stimme: »Und mit welchem Recht maßen Sie sich diese Entscheidungen an?« »Mit dem einfachen Recht auf Auswahl, das weder eine moralische, ethische noch gesetzlich verankerte Basis hat, sondern allein eine Sache des gesunden Menschenverstandes ist. Mr. Statlen sagte mir, Sie sind Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Harvard-Universität. Nun, nehmen Sie an, ein fünfjähriger Dorfjunge würde von Ihnen verlangen, Ihre Vorlesungen hören zu dürfen, an Ihren Seminaren teilnehmen und Ihre Bibliothek benutzen zu dürfen. Sie würden ihn am Ohr nehmen und mit fester Hand hinausgeleiten und ihm sagen, daß er erst zurückkommen dürfe, wenn er die Grundschule, die Oberschule und wie Sie sonst noch die entsprechenden Stationen Ihres Erziehungssystems nennen, durchlaufen hat. Selbst wenn er protestieren und behaupten würde, daß er – obgleich er sich noch mit anderen Jungen herumprügeln und manchmal Ihre Fenster mit seiner Schleuder kaputtschießen würde – er nichtsdestoweniger schon richtig erwachsen und verständig und ein Wunderkind und fasziniert von der vergleichenden Sprachwissenschaft wäre, würden Sie auf ihn hören?« »Ein phantastischer und erniedrigender Vergleich, der völlig falsch am Platz ist«, sagte Lao frostig. »Sie können nicht eine ganze Rasse und eine Einzelperson
in solch einer unglaublichen und verächtlichen Art miteinander vergleichen.« »Aber wir können es, und wir tun es«, sagte Sam ruhig. Den sechs Besuchern zuliebe hatte er sich selbst das Aussehen eines alten römischen Kaisers gegeben. Er rieb sich die gebogene Nase, als er fortfuhr: »Gemessen mit unseren Maßstäben, sind Sie noch eine sehr junge Rasse. Aber vielleicht sind Sie schon so weit fortgeschritten, daß Ihnen wenigstens gestattet werden kann, hier zu studieren. Das ist es, was wir feststellen müssen. Wie ich schon andeutete, legen wir viel größeren Wert auf die Fähigkeit, den andern zu verstehen und sich in ihn einzufühlen, als auf bloßen Intellekt. Soweit ich unterrichtet bin, sind bei Ihnen Geistes- und Naturwissenschaften immer noch streng getrennt. Das spricht nicht für Sie. Bis eine Rasse nicht zu einer Synthese dieser beiden Zweige der Wissenschaft gelangt ist, zu einem ineinander verzahnten System, das die Unteilbarkeit von Geist und Materie anerkennt, kann sie ihre angeborene Intoleranz anderen Lebewesen gegenüber nur schwer überwinden. Eine solche Rasse bleibt unversöhnlich. Diese Einstellung ist nützlich, sogar notwendig, während der Kindheit einer Rasse, wenn es darauf ankommt, ohne Rücksicht auf die Umwelt zu überleben. Aber wenn eine Rasse eine solche Geisteshaltung mit hinüber in ihre Reifezeit nimmt, wird sie gefährlich, nicht nur für die betreffende Rasse selbst, sondern auch für Außenstehende, weil diese Unnachgie-
bigkeit, diese Intoleranz in der Lage ist, sich der Waffen und Errungenschaften einer höheren Entwicklungsstufe bedienen zu können. Wir behaupten nicht, den Sinn und die Bestimmung des Universums zu verstehen, aber wir glauben zu wissen, daß Feuer und Schwert nicht die geeigneten Werkzeuge sind, einer solchen Erkenntnis näherzukommen.« Direkt: achtung, stat. wir fangen an. teste alle sechs, dann gegenprobe mit mir. alles klar. schirme du brodcuzynski ab, sonst trauma möglich. Brod beschäftigte sich in Gedanken immer noch in einer vagen und freundlichen Art mit den MizraStudentinnen. Sam fuhr zu den sechs gewendet fort: »Vielleicht verstehen Sie mich nicht ganz. Eine Demonstration wird Sie sicher mehr überzeugen können als noch so viele Worte.« Sam, direkt zu A'hig Einsvier, die rechts neben Athene stand und die sechs Erdbewohner mit amüsierter Neugierde beobachtete: Komm! Eine der hochgewachsenen blonden MizraStudentinnen, die rechts neben der Athene standen, löste sich aus der Gruppe ihrer Kommilitoninnen und kam auf uns zugeschritten. Lächelnd blieb sie vor uns stehen, und wir formten um sie einen Halbkreis. In Erdworten: eine schaumgeborene Aphrodite, eine hehre Amazone, eine Helena, eine Diana im Sportdreß, ein Engel mit Sex-Appeal, die Verkörperung aller unmöglichen und doch irgendwie erreichbaren Wünsche, fleischgewordene Sinnlichkeit – A'hig Einsvier spielte die Rolle gut.
Brodcuzynski: mein gott, was für eine tolle puppe. Braithewaite: sylvia – wer ist sie, daß alle männer sie so preisen; heilig schön ist sie und weise ... tausend schiffe für diese helena. Borg: ericka, die das blut auf dem bronzeschwert ihres geliebten küßte und mit roten lippen in die ewige schlacht zog ... fricka, geliebte der starken götter. Aventos: die nördlichen provinzen von spanien und italien bringen solche langbeinigen blonden wunder hervor ... niemals kalt. M'Bassi: die gestalt einer göttin ... verstand klar, durchdringend ... couch, konsultationszimmer ... teufel, sie würde mich analysieren. Lao T'Sung: vollkommene verkörperung des irdischen schönheitsideals – ob ost oder west ... oder süd ... wie ist das möglich? parallele entwicklung des humanoiden typus, infolge gleicher umweltbedingungen? ich verstehe nicht – Sam zu A'hig Einsvier: »Würden Sie bitte Ihre natürliche Gestalt annehmen, Miss A'hig, und Ihre jetzige, die Sie diesen sechs Herren zuliebe angenommen haben, aufgeben.« schlecht ausgedrückt, sam. irreführend. macht nichts. teste sie. ich schirme brod ab. Und die langbeinige, verführerische Blondine löste sich langsam auf und wurde – – ich benutze hier die allgemein-verständlichen Begriffe der galaktischen Umgangssprache – – zu einem mehrgeschlechtlichen, hochentwickelten, vielarmigen Spinnenwesen, mit seinen fünfzehn Armen in Schaustellung – darunter Elektrotaster, biometrischer Analysator, Spektroskop, UltraMikrophon. Paarungsklaue, Lebensspürantenne, Strahlungszähler, Umformer, Projektor, vibrierender
Reizempfänger, Gedankentester, genetischer Regler, elekinetisches Kontrollorgan. Alle diese Gliedmaßen entsprossen einem leicht flachgedrückten Ellipsoid, einem wunderbar ästhetischen Gebilde von höchster Zweckmäßigkeit, Schönheit per se. Diese Sprache ist zu arm, um eine zutreffende Beschreibung geben zu können. Der Gedankensturm, der sich in den Köpfen der anderen erhob, kam so plötzlich und heftig, daß ich unter ihm zusammenzuckte wie unter einem Donnerschlag. Mir wurde übel. Die Furcht, der Haß und der Ekel, der von ihnen auf mich überstrahlte, zerrten an mir mit übermächtiger Gewalt, bis Sam mir einen beruhigenden Gedanken zuschickte. du fühlst zu stark mit. reiß dich los. hilf mir, sie zu testen und einzuordnen. Ich zog mich zurück, bis ich nur noch die Gedankenbruchstücke empfing, die an die Oberfläche kamen. Brodcuzynski: lautloser aufschrei ... alptraum, ich bin wahnsinnig geworden ... gott, schau weg ... furcht ... abscheu ... töte. Braithewaite: ekel, erbrechen ... medusa, ungeheuer, dämonische mißgeburt ... perseus! ein schild, eine waffe ... schlag zu ... seine farbe ... schleim, schmutz, gestank, haß, töte, läutern ... feuer. Borg: delirium tremens ... dieser verdammte alkokol ... hätte das zeug nicht anrühren sollen ... oder hypnose? ... kraken ... kann nicht sein, soll nicht sein ... drache, der wiederaufersteht ... beowulf erschlug ihn ... abscheu ... töte. Sams musikalische, so selten gebrauchte Stimme klang durch den Aufruhr und drang zu mir durch den Strudel des Wahnsinns. Ich verstand nur Bruch-
stücke: »– höchste Lebensform auf den vier Planeten eines Systems ... Spezialisierung ... wunderschön, nicht wahr?« Aventos: jesus christus, planeten, die von ihnen wimmeln! ... der sternenantrieb ... verbrennen, ersticken, zertreten ... schrecken, ungeheuer ... niemals intelligenz in einem solchen körper ... geschützdonner und kugeln, die dumpf in fleisch einschlagen. M'Bassi: dschungel, nacht ... furcht, entsetzen ... anspringendes tier, speer, töte oder du wirst getötet ... blutröte und irre freude ... Lao T'Sung: schnelle kontrolle, aber lebhafte vorstellung eines fußes, der eine schlange zertritt, und ein anderes obszönes bild. Es schien, als ob alle inzwischen vergessenen Haßund Angstgefühle, die den menschlichen Verstand jemals verwirrt hatten, aus den Tiefen des Unterbewußtseins wieder hervorbrachen. Wissenschaftliche Neugier und dadurch Vernunftkontrolle gewannen zwar innerhalb weniger Sekunden wieder die Oberhand, aber Sam und mir erschien diese Zeit wie eine Ewigkeit. Sam sagte: »Ich bedauere es aufrichtig, daß ich Sie diesem Test unterwerfen mußte, aber wir wollten sofortige und völlig unbeeinflußte Reaktionen. Hätten Sie die Möglichkeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, wäre es einigen von Ihnen vielleicht gelungen, eine strikte Verstandeskontrolle aufrechtzuerhalten und damit den Test zu verfälschen. Aber wir sind nur interessiert an dem Grad eines unbewußten emphatischen Rapports, dem Grad der Einfühlungskraft und Toleranz, die Sie gegenüber einem anderen nichtmenschlichen intelli-
genten Lebewesen zeigen.« Sam rief einen Stuhl aus dem Boden der Halle. A'hig, ich selbst und die sechs anderen blieben stehen. Sam rieb sich den Rücken seiner römischen Nase und versuchte zu erklären: »Nehmen Sie an, Ihr Kolonisationsschiff wäre auf einem Planeten gelandet, der von A'higs Gefährten bewohnt wäre, und diese hätten sich vor Ihnen überraschend materialisiert. Würde der Finger am Drücker Ihrer Waffen von der Vernunft gezügelt werden? Möglich! Aber primitive Furcht vor dem Unbekannten dem Ekelerregenden würde Sie vielleicht doch zum Schießen verleitet haben, auch wenn Sie noch so gut geschützt wären. Oder nehmen Sie an, A'higs Gefährten würden sich Ihnen erst langsam und vorsichtig genähert haben, offensichtlich in Ehrfucht vor der von Ihnen bewiesenen Meisterung von Raum und Zeit, und gezeigt haben, was Sie als geziemende Bewunderung angesichts Ihrer technischen Errungenschaften als selbstverständlich ansehen würden. Könnten Sie dann lernen, in Frieden und Freundschaft mit solchen Ungeheuern zu leben? Besonders, wenn Sie erfahren würden, daß diese selben Ungeheuer Ihnen in den geistigen Wissenschaften weitaus überlegen wären? Ja, sagen Sie, aber ich bezweifle es. Und wo so viel auf dem Spiele steht, darf es keine Zweifel geben. Ich fürchte, Sie kennen sich selber noch nicht.« Er seufzte. »Eine so einfache Lektion, und es dauert so lange, bis sie begriffen wird.« »Völlig unfair«, sprudelte Aventos heraus. »Eine Ungerechtigkeit, uns mit einem solchen grotesken
Test zu überfallen. Was nicht heißt, daß wir Ihnen zugestehen, daß Sie überhaupt irgendein Recht haben, uns einem Test zu unterziehen.« »Sie bestätigen meine Ansicht. Der Stolz ist ein Tiger, und die Eitelkeit sind seine Zähne.« Sam, erfreut über Lao T'Sungs schnelle Kontrolle vorhin, war tief in ihn eingedrungen und hatte dieses Sprichwort gefunden. »Unfair und zugestehen bedeuten uns nichts.« Direkt: ich gehe jetzt. stat. muß an oberster stelle bericht erstatten. nicht unzufrieden, aber noch lange, lange zeit. übernimm sie. will nicht mehr sprechen. finde die sprache plötzlich ein bißchen widerwärtig. »Die Frage, meine Herren«, murmelte Sam, »ist nicht die, ob sich das Universum für den Menschen eignet, sondern ob der Mensch für das Universum geeignet ist. Sie haben Sie beantwortet. Er ist es nicht – noch nicht.« Er deutete auf die strahlende Athene. »Erkennt euch selbst. Dann kommt wieder!« Er projizierte sich zurück in sein Zimmer. Die arme A'hig Einsvier wurde langsam etwas verlegen. Ich schickte ihr eine kurze Aufmunterung zu. Direkt: dank. das ist alles. bleib so süß, wie du bist. bedeutung? ästhetische wertschätzung? bedauere. ja. erdbrauch. nochmals dank. Auch A'hig projizierte sich hinweg. Braithewaite kratzte seinen grauen Kopf. »Und was ist denn nun mit dieser sogenannten Prüfung?« »Sie wurde gerade beendet. Und Sie sind durchgefallen. Also zurück auf die Schulbank – Kinder!«
Ah, hau ab, du dreckiger Nigger, du stinkst. Jim, Jim! Da ist eine Spinne in der Badewanne! Schreckliches Biest! Bring es um, Jim! – Zarte Beine, empfindsam zitternde Fühler, tausend Diamanten als Augen, ein wunderschönes, leicht flachgedrücktes Ellipsoid als Körper, ein Glanz von irisierendem Purpur und Grün. Ein dunkler Blutfleck auf weißem Porzellan – Du verdammtes nichtsnutziges Halbblut. Ich bedauere zutiefst, daß unser großzügiges Angebot, die Handeslsbeziehungen zwischen unseren Staaten wieder zu normalisieren, auf eine ablehnende Haltung gestoßen ist, die ich nur als brüskierend bezeichnen kann. Falls wir weiterhin auf eine solche empörende Weise herausgefordert werden – Schau, du reißt ihr die Flügel aus, und dann muß sie kriechen, dann muß sie kriechen, hier über diesen Bleistift! Schau! Hände weg, mein Kleiner, oder ich schlage dir die Zähne ein! Da läuft eine Maus. Schnell, schnell, ehe sie weglaufen kann! Ich hab' eben rot gesehen. Wollte ihn nicht umbringen, ehrlich. Verdammte Ausländer!
Originaltitel: UNIVERSITY Aus GALAXY 4/53 Übersetzt von Lothar Heinerke