ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 46 von Cordwainer Smith Eric Frank Russell H. Beam Piper Gregory Benford
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 46 von Cordwainer Smith Eric Frank Russell H. Beam Piper Gregory Benford
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3118 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien
Aus dem Amerikanischen übersetzt Umschlagillustration: Dell Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03118 8
ALS DIE FRAUEN STARBEN setzte der Umwandlungsprozeß ein, der die einzige Möglichkeit war, den Fortbestand der Menschen auf Arachosia zu sichern. Vor zwanzig Jahren waren die Siedler gelandet und hatten eine vielversprechende Welt vorgefunden. Dann begann alles Weibliche zu sterben. Die Veränderungen waren grauenhaft. Da nur männliche Wesen überlebten, wurden alle Frauen in Männer umgewandelt. Kinder, natürlich nur männliche, wurden von Männern geboren. Ein ganzer Planet wurde zur Hölle für seine Bewohner. Auf eine degenerierte Generation folgte die nächste, und der Haß auf die normale Menschheit, vor allem die Erde, wuchs ins Unermeßliche. Bis jetzt hatten nur die technischen Unzulänglichkeiten die Ungeheuer von Arachosia daran gehindert, die Erde zu vernichten. Endlich kam Commander Suzdal mit seinem Schiff. Sein Fehler, die Gefahr nicht gleich erkannt zu haben, wäre noch verzeihlich gewesen, aber dann hatte er einen unerhörten Einfall und beging DAS VERBRECHEN DES COMMANDER SUZDAL von Cordwainer Smith und weitere spannende Erzählungen aus der Welt von übermorgen.
Cordwainer Smith DAS VERBRECHEN DES COMMANDER SUZDAL
Der Anfang Commander Suzdal wurde in einem Schalenschiff ausgesandt, um die äußersten Bereiche unserer Galaxis zu erforschen. Obwohl sein Schiff die Bezeichnung Kreuzer führte, war er der einzige Mensch an Bord. Seine Ausrüstung enthielt Schlafmittel und kleine Würfel, die ihm das Gefühl vermitteln sollten, sich in Gesellschaft zu befinden. Mit Hilfe seiner bloßen Vorstellungskraft konnte er eine ganze Schar freundlicher Leute um sich versammeln. Die Zentrale ließ ihm sogar die Möglichkeit, unter seinen geisterhaften Begleitern eine Auswahl zu treffen. Jeder von ihnen war in einem kleinen Porzellanwürfel untergebracht, der das Gehirn eines kleinen Tieres enthielt – ein Gehirn allerdings, auf das die Persönlichkeit eines wirklich existierenden menschlichen Wesens übertragen worden war. Suzdal, ein kurzer, stämmiger Mann mit einem vergnügten Lächeln, äußerte seine Wünsche: »Geben Sie mir zwei gute Sicherheitsoffiziere mit. Ich komme mit dem Schiff zurecht; aber wenn ich in den unerforschten Raum vorstoße, könnten neuartige Probleme auftreten, zu deren Bewältigung ich Hilfe benötige.« Der Ladebeamte lächelte ihm zu. »Ich habe noch nie von einem Kreuzerkommandanten gehört, der ausdrücklich
Sicherheitsoffiziere angefordert hat. Die meisten betrachten Sicherheitsoffiziere als überflüssiges Ärgernis.« »Das mag sein«, erwiderte Suzdal, »aber ich denke anders darüber.« »Wollen Sie nicht ein paar Schachspieler mitnehmen?« »Ich kann mit den Reservecomputern so viel Schach spielen, wie ich will«, erwiderte Suzdal. »Ich brauche nur die Betriebsenergie herabzusetzen, damit die Computer verlieren. Bei voller Betriebsenergie ziehe ich immer den kürzeren.« Der Ladebeamte warf Suzdal einen seltsamen Blick zu. Der Blick war nicht gerade lauernd, aber doch ein wenig zu persönlich und leicht unangenehm. »Und wie steht es mit anderen Begleitern?« fragte er in einem sonderbar spitzen Tonfall. »Ich habe einige tausend Bücher dabei«, sagte Suzdal. »Ich bin nach irdischer Zeitrechnung nur ein paar Jahre unterwegs.« »Ortsbezogen können es einige tausend Jahre sein«, sagte der Ladebeamte, »aber die Zeit wird während Ihrer Rückreise zur Erde zurückgespult. Ich habe übrigens nicht von Büchern gesprochen«, beharrte er. In seiner Stimme lag wieder der spitze Unterton. Suzdal schüttelte in plötzlichem Ärger den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch sein strohblondes Haar. Der Ausdruck seiner blauen Augen war offen und ehrlich; unerschüttert fixierte er den Beamten. »Wovon haben Sie denn gesprochen, wenn nicht von Büchern? Von Navigatoren? Ich habe genug davon, ganz zu schweigen von den Schildkrötwesen. Sie sind eine angenehme Gesellschaft, wenn man langsam genug zu ihnen spricht und ihnen viel Zeit zum Antworten läßt. Vergessen Sie nicht, ich bin schon einmal draußen gewesen…« Der Beamte platzte mit seinem Angebot heraus. »Mädchen. Frauen. Konkubinen. Wollen Sie denn keine? Wir können
sogar die Persönlichkeit Ihrer eigenen Frau in einen Würfel übertragen lassen. Auf diese Weise könnte sie an jedem Tag Ihrer Wachperioden bei Ihnen sein.« Suzdal machte den Eindruck, als wollte er vor lauter Ekel auf den Fußboden speien. »Alice? Sie wollen mich ernstlich mit ihrem Geist auf die Fahrt schicken? Was würde die wirkliche Alice bei meiner Rückkunft empfinden? Erzählen Sie mir bitte nicht, daß Sie meine Frau in ein Mäusehirn pressen wollen. Sie wollen mich wohl geradewegs in den Wahnsinn treiben. Ich muß dort draußen meine fünf Sinne beisammen haben, wenn Raum und Zeit in großen Wogen über mir zusammenschlagen. Ich werde schon genug Mühe haben, nicht durchzudrehen. Vergessen Sie nicht, ich war schon einmal draußen. Die Rückkehr zu Alice stellt einen meiner wichtigsten Bezüge zur Realität dar. Der Gedanke daran wird mir helfen, wieder heimzukommen.« Jetzt kam der Tonfall neugieriger Vertraulichkeit in Suzdals Stimme, als er hinzufügte: »Machen Sie mir nur nicht weis, daß viele Kommandanten von Raumkreuzern den Wunsch haben, mit dem Geist ihrer Frau zu fliegen. Dieser Gedanke ist für mich ziemlich widerlich. Wollen tatsächlich viele den Geist ihrer Frau dabeihaben?« »Wir sind hier, um die Ausrüstung Ihres Schiffes zu besorgen und nicht, um zu erörtern, was andere Offiziere tun oder lassen. Manchmal halten wir es für gut, wenn der Kommandant eine weibliche Begleitung an Bord hat, auch wenn sie nur imaginär ist. Unter Umständen könnten Sie dort draußen auf Weiblichkeit in irgendeiner Form treffen, und Ihre seelische Widerstandskraft könnte dieser Begegnung nicht gewachsen sein.« »Weiblichkeit, draußen im Raum? Was Sie nicht sagen!« »Es sind schon seltsame Dinge geschehen«, versicherte der Beamte.
»Aber so etwas noch nicht«, sagte Suzdal. »Schmerz, Wahnsinn, Zusammenbrüche, ausweglose Panik, krankhafter Eßtrieb – all das kann ich voraussehen und meine Gegenmaßnahmen treffen. Ganz sicher werde ich mit all dem zu kämpfen haben. Aber Weiblichkeit – nein. Es gibt dort keine Frauen. Ich liebe meine Frau. Ich mag keine Frauen, die nur meiner Phantasie entsprungen sind. Schließlich habe ich die Schildkrötwesen an Bord, die ihren Nachwuchs aufziehen werden. Auf diese Weise kann ich viel Familienleben beobachten und daran Anteil nehmen. Ich kann für die Kinder sogar Weihnachtsfeiern aufziehen.« »Was für Feiern sind denn das?« »Das ist ein lustiges altmodisches Fest, von dem mir ein Fernpilot erzählt hat. Man gibt jedem Kind Geschenke, und zwar einmal pro ortsbezogenem Jahr.« »Klingt hübsch«, sagte der Beamte müde und resigniert. »Sie wollen also weiterhin von einer Würfelfrau an Bord nichts wissen. Sie müßten sie ja nur bei Bedarf aktivieren.« »Sie selbst sind noch nicht geflogen, oder?« fragte Suzdal. Der Beamte wurde rot. »Nein«, sagte er kleinlaut. »Ich werde mir über alles, was sich an Bord befindet, Gedanken machen müssen. Ich bin ein heiterer und bedächtiger Mensch. Zweitausend Jahre nach Ortsrechnung sind eine lange Zeit. Bürden Sie mir nicht noch mehr Entscheidungen auf, als ich sowieso schon treffen muß. Ich werde mit dem Schiff gerade genug Arbeit haben. Lassen Sie mich mit meinen Schildkrötwesen ziehen. Ich bin schon früher gut mit ihnen gefahren.« »Sie sind der Kommandant, Suzdal«, sagte der Ladebeamte. »Tun Sie, was Sie für richtig halten.« »Schön«, lächelte Suzdal. »Bei diesem Geschäft mögen Ihnen viele komische Typen begegnen. Ich bin keiner davon.«
Die beiden Männer lächelten sich gegenseitig ihr Einverständnis zu, und die Beladung des Schiffes wurde ungestört zu Ende geführt. Das Schiff wurde von den Schildkrötwesen bedient. Während Suzdal im Gefrierschlaf durch die äußeren Bezirke der Galaxis kreuzte und nach Ortszeit gerechnet Jahrtausende verstrichen, verrichteten die Schildkrötwesen langsam ihre Arbeit. Sie brachten ihren Jungen die Bedienung des Schiffes bei, erzählten ihnen Geschichten von der Erde, die sie nie wiedersehen würden, und lasen die Daten aus den Computern korrekt ab. Sie weckten Suzdal nur dann, wenn das Eingreifen oder die Intelligenz eines Menschen gebraucht wurde. Von Zeit zu Zeit erwachte Suzdal, erledigte das Notwendige und kehrte wieder in sein tiefgekühltes Bett zurück. Ihm war, als hätte er die Erde erst vor einigen Monaten verlassen. Vor einigen Monaten! Er war schon mehr als zehntausend Jahre ortsbezogener Zeit unterwegs, als er auf die Sirenenkapsel traf. Sie glich einer gewöhnlichen Notrufkapsel, einem von jenen Behältern, die oft in den Raum geschossen werden, um von den Schwierigkeiten zu berichten, mit denen der Mensch auf fremden Planeten zu kämpfen hat. Diese Kapsel hatte allem Anschein nach schon ungeheuere Entfernungen durchmessen. Durch sie erfuhr Suzdal die Geschichte von Arachosia. Die Geschichte war verfälscht. Die geistige Kraft eines ganzen Planeten – der zügellose Genius einer bösartigen, unglücklichen Rasse – hatte sich auf das Problem konzentriert, einen normalen Piloten von der guten alten Erde anzulocken und einzufangen. Eine warme Altstimme, die einer wunderbaren Frau gehören mußte, trug die Geschichte wie ein Lied vor. Die Geschichte stimmte zum Teil. Der Hilferuf war teilweise echt. Suzdal lauschte der Geschichte, die in die Zellen seines Gehirns sickerte wie wundervolle Musik großer
Meister. Er hätte anders reagiert, wenn er die Wahrheit gewußt hätte. Jedermann kennt jetzt die wirkliche Geschichte von Arachosia, die bittere Geschichte eines Planeten, der ein Paradies gewesen war und sich in eine Hölle verwandelt hatte. Die Geschichte von Menschen, die sich in unmenschliche Wesen verwandelt hatten. Die Geschichte von den Ereignissen, die sich weit draußen auf dem fürchterlichsten Planeten im Weltraum abgespielt hatten. Suzdal hätte die Flucht ergriffen, wenn er die Wahrheit gekannt hatte. Er konnte nicht ahnen, was wir inzwischen wissen: Ein Angehöriger der menschlichen Rasse konnte den Wesen von Arachosia nicht begegnen, ohne daß sie ihm zur Erde folgten und der Menschheit namenloses Unglück brachten, Wahnsinn, schlimmer als Krankheit, und Leid, das jedes Leiden übertraf. Die Menschen von Arachosia hatten sich in Un-Menschen verwandelt, und doch waren sie im innersten Kern ihres Wesens Menschen geblieben. In ihren Liedern verklärten sie ihre Abartigkeit und priesen das Schicksal, das sie zu Ungeheuern gemacht hatte. Und doch endeten ihre Lieder und Balladen mit dem Refrain: Ich trauere um die Menschen! Sie wußten, was sie waren, und sie haßten sich selbst dafür. In ihrem Selbsthaß verfolgten sie die Menschheit. Vielleicht verfolgen sie die Menschheit immer noch. Die Zentrale hat inzwischen alles getan, um zu verhindern, daß die Arachosianer uns wiederfinden. Sie hat ein Tarnnetz um die Galaxis gelegt, um sicherzustellen, daß diese elenden, verlorenen Geschöpfe uns nicht finden können. Die Zentrale beobachtet und schützt unsere und alle anderen menschenbewohnten Welten vor der Abnormität, zu der Arachosia geworden ist. Wir wollen mit Arachosia nichts zu
tun haben. Sollen sie ruhig auf uns Jagd machen. Sie werden uns nicht finden. Doch wie hätte Suzdal all das wissen können? Es war das erste Mal gewesen, daß jemand Arachosianern begegnet war. Suzdal traf auf die Arachosianer, und was er vorfand, war eine Botschaft, die von einer Elfenstimme in bezaubernden Gesängen vorgetragen wurde. In gläsern klaren Worten der altgewohnten Sprache hörte er eine Geschichte, die so traurig und abscheulich war, daß die Menschheit sie bis heute nicht vergessen hat. Die Geschichte war im Grunde sehr einfach. Was Suzdal gehört und was die Menschheit später davon erfahren hat, war folgendes: Die Arachosianer waren Kolonisten. Kolonisten konnten mit Seglern ausziehen, die Kapseln hinter sich herzogen. Das war die eine Möglichkeit. Oder sie konnten mit Flachschiffen reisen, die von geübten Männern durch den Hyperraum gesteuert wurden. Oder, für wirklich große Entfernungen, bot sich die neueste Kombination an: Abgeschlossene Kapseln, die in einem riesigen Schalenschiff untergebracht wurden. Dieser Schiffstyp war eine gigantische Ausführung von Suzdals eigenem Schiff. Während die Maschinen wachten und die Menschen im Gefrierschlaf lagen, beschleunigte das Schiff auf Überlichtgeschwindigkeit, unterflog den Raum, tauchte auf gut Glück wieder auf und steuerte ein geeignetes Ziel an. Es war ein Glücksspiel; aber kühne Männer wagten es. Wenn kein geeignetes Ziel gefunden wurde, mochten die Schiffe den Raum für ewige Zeiten durchqueren. Nach und nach verfielen die tiefgekühlten Körper, und das schwache Licht des Lebens erlosch in den eingefrorenen Gehirnen. Die Schalenschiffe waren die Antwort der Menschheit auf eine Überbevölkerung, die weder von dem Heimatplaneten
Erde noch von den Nachbarplaneten ganz aufgefangen werden konnte. Die Schalenschiffe nahmen die Kühnen, die Rücksichtslosen, die Romantischen, die Willensstarken und manchmal auch die Kriminellen mit sich in den Raum hinaus. Die Menschheit verlor immer wieder ganze Schiffsverbände aus den Augen. Die Aufklärungsschiffe der Zentrale stießen dann später irgendwo außerhalb des menschlichen Bereichs, wo die Schiffe gelandet waren, auf Menschen, Stämme und Familien, Städte und Kulturen von unterschiedlichstem Niveau. Dort, wo die Suchinstrumente einen erdähnlichen Planeten entdeckt hatten, gingen die Schalenschiffe wie riesige sterbende Insekten nieder. Die Passagiere wurden geweckt, die Luken öffneten sich, und das Schiff zerstörte sich selbst. Eine Schar neugeborener Kolonisten begann einen Planeten zu besiedeln. Arachosia machte auf die frisch angekommenen Männer und Frauen einen guten Eindruck. Wunderschöne Felsküsten und Sandstrände zogen sich der Riviera vergleichbar endlos hin. Am Himmel standen zwei helle Monde, und die Sonne war nicht zu weit entfernt. Die Maschinen hatten die Atmosphäre getestet und das Wasser geprüft; sie hatten irdische Lebensformen in Luft und Wasser ausgesetzt. Die Menschen hörten bei ihrem Erwachen die Erdenvögel singen, und sie wußten, daß die Fische in den Ozeanen lebensfähig waren und sich zu vermehren begannen. Es schien ein gutes und reiches Leben zu werden. Die Dinge standen gut. Die Dinge standen sehr, sehr gut für die Arachosianer. Das ist die Wahrheit. Bis dahin stimmte die Geschichte, welche die, Notkapsel erzählte. Doch ab hier wich sie von der Wahrheit ab. Die Kapsel erzählte nicht die fürchterliche, erbärmliche Wahrheit über Arachosia, sondern einige gut erfundene Lügen.
Die Stimme, die auf telepathischem Weg aus der Kapsel kam, war die einer reifen, warmherzigen, glücklichen Frau – einer Frau in mittleren Jahren mit einer herrlichen Altstimme. Die Persönlichkeit war so plastisch, daß Suzdal sich fast einbildete, mit ihr zu sprechen. Wie konnte er wissen, daß er getäuscht wurde und in eine Falle lief? Alles klang so echt. »Und dann«, fuhr die Stimme fort, »hat uns die ArachosiaKrankheit heimgesucht. Bitte landen Sie nicht. Halten Sie Abstand. Sprechen Sie mit uns. Berichten Sie über medizinische Wissenschaft. Unsere Kinder sterben ohne erkennbaren Grund. Unsere Farmen sind reich, der Weizen reift goldener als auf der Erde, die Pflaumen leuchten blauer, und die Blumen blühen bunter. Alles gedeiht – außer den Menschen. Unsere Kinder sterben…« schloß die Frauenstimme schluchzend. »Welches sind die Symptome?« dachte Suzdal, und die Kapsel erzählte weiter, als ob sie die Frage gehört hätte. »Sie sterben an nichts. Nichts, das unsere ärztliche Kunst ermitteln, nichts, das unsere Wissenschaft feststellen könnte. Sie sterben. Unsere Bevölkerungszahl sinkt. Menschen, vergeßt uns nicht. Menschen, wo immer ihr seid, kommt schnell, kommt jetzt, bringt Hilfe! Aber landet um euretwillen nicht. Haltet Abstand vom Planeten und betrachtet uns über Bildschirme, damit ihr eurem Heimatplaneten die Nachricht von den Menschenkindern bringen könnt, die im fernen, fremden All verloren sind.« Fremd, in der Tat, und befremdlich! Die Wahrheit war noch weit befremdlicher und äußerst abscheulich. Suzdal zweifelte nicht an der Wahrheit der Botschaft. Man hatte ihn für diese Fahrt ausgesucht, weil er gutmütig,
intelligent und mutig war; der Hilferuf sprach alle diese Tugenden an. Dann, viel später, als er schon festgenommen war, wurde er gefragt: »Suzdal, Sie Narr, warum haben Sie die Botschaft nicht überprüft? Sie haben die Sicherheit der ganzen Menschheit für einen läppischen Hilferuf aufs Spiel gesetzt!« »Er war nicht läppisch«, entgegnete Suzdal. »Aus der Notkapsel kam eine traurige, wundervolle Frauenstimme, und die Geschichte stellte sich als wahr heraus.« »Aufgrund welcher Überprüfung?« Die Stimme Suzdals klang erschöpft und traurig, als er die Frage beantwortete. »Ich überprüfte die Geschichte an Hand meiner Bücher. Und mit Hilfe meines Wissens.« Widerstrebend fügte er hinzu: »Und aufgrund meines Ermessens.« »Hat sich Ihr Ermessen als gut erwiesen?« »Nein«, sagte Suzdal. Er ließ dieses eine Wort in der Luft hängen, als ob es das letzte sei, das je aus seinem Mund kommen sollte. Aber es war Suzdal selbst, der das Schweigen unterbrach, indem er hinzufügte: »Ehe ich das Schiff auf Kurs brachte und mich schlafen legte, aktivierte ich meine Sicherheitsoffiziere in den Würfeln und gab ihnen die Geschichte zur Überprüfung. Sie fanden die Wahrheit über Arachosia auch ganz richtig heraus. Sie entnahmen sie den Strukturen der Notrufkapsel und erzählten mir gleich nach meinem Erwachen sehr schnell die Wahrheit.« »Und was haben Sie getan?« »Was ich eben getan habe. Ich habe das getan, wofür ich jetzt die Strafe erwarte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Arachosianer bereits an der Außenwand meines Schiffes. Sie hatten das Schiff gekapert, und mich ebenfalls. Wie hätte ich wissen sollen, daß die wunderschöne, traurige Geschichte, die
die Frau erzählte, nur für die ersten zwanzig Jahre stimmte. Und es war nicht einmal eine Frau. Nur ein Klopte. Die ersten zwanzig Jahre…«
In den ersten zwanzig Jahren standen die Dinge gut für die Arachosianer. Dann kam die Katastrophe; aber es war nicht die Geschichte, von der die Kapsel berichtete. Sie könnten es nicht begreifen. Sie hatten keine Ahnung, weshalb es ihnen zustieß. Sie wußten nicht, weshalb es zwanzig Jahre, drei Monate und vier Tage gewartet hatte. Aber es kam. Unserer Vermutung nach muß es etwas im Strahlungsfeld ihrer Sonne gewesen sein. Oder vielleicht eine Kombination dieser besonderen Sonnenstrahlung und der chemischen Prozesse, die sogar von den hochentwickelten Maschinen im Schalenschiff nicht voll analysiert worden waren, und die dann übergriffen und sich von innen heraus verbreiteten. Die Katastrophe brach herein. Sie war ebenso einfach wie unaufhaltsam. Sie besaßen Ärzte. Sie besaßen Krankenhäuser. Sie hatten sogar begrenzte Mittel für Forschungszwecke zur Verfügung. Aber die Forschung kam nicht schnell genug nach. Nicht schnell genug, um die Katastrophe aufhalten zu können. Sie war einfach gräßlich und ungeheuerlich. Alles weibliche Leben wurde krebskrank. Alle Frauen auf dem Planeten wurden gleichzeitig von Krebsgeschwüren befallen – an den Lippen, in der Brust, im Unterleib, manchmal am Rand des Kiefers, am Rand der Lippen, an den zarteren Körperteilen. Der Krebs trat in vielen Formen auf und war doch immer derselbe. In der Strahlung gab es etwas, das in den menschlichen Körper eindrang und dort eine gewisse Spielart des Desoxycorticosterons in eine auf
der Erde unbekannte Abart von Pregnandiol verwandelte, die unfehlbar Krebs hervorrief. Die Krankheit schritt rapide fort. Zuerst begannen die weiblichen Kleinkinder zu sterben. Die Frauen klammerten sich weinend an ihre Väter und Männer. Die Mütter versuchten, ihren Söhnen Lebewohl zu sagen. Einer der Ärzte war selbst eine Frau – eine starke Frau. Ohne Mitleid für sich selbst schnitt sie lebendes Gewebe aus ihrem Körper und legte es unters Mikroskop. Sie entnahm Proben ihres eigenen Urins, ihres Blutes und ihres Speichels. Schließlich gelangte sie zu der Erkenntnis: Es gibt keine Antwort. Und doch gab es etwas, das einerseits besser und andererseits schlechter als eine Antwort war: Zwar tötete die Sonne von Arachosia alles Weibliche. Die weiblichen Fische trieben auf der Oberfläche der Gewässer. Das Lied der weiblichen Vögel klang schriller und wilder, wenn sie auf ihren Eiern starben, die sie nie ausbrüten würden. Die weiblichen Tiere grunzten und knurrten auf ihren Lagern, wohin sie sich vor Schmerz verkrochen hatten. Doch die Menschenfrauen mußten den Tod nicht so ergeben hinnehmen. Der Name der Ärztin war Astarte Kraus.
Das Geheimnis der Klopten Die Menschenfrauen konnten etwas tun, wozu die Tierweibchen nicht imstande waren. Sie konnten sich in Männer verwandeln. Mit Hilfe von Ausrüstungsgegenständen aus dem Schiff wurden riesige Mengen von Testosteron hergestellt, und alle Mädchen und Frauen, die noch am Leben waren, wurden in Männer verwandelt. Für alle wurden starke Injektionen angeordnet. Ihre Züge wurden kantiger, ihre Brüste flach, ihre Muskeln stärker, alle begannen wieder ein Stück zu
wachsen, und in weniger als drei Monaten waren sie tatsächlich zu Männern geworden. Einige niedrige Lebensformen hatten überlebt, weil bei ihnen männliches und weibliches Geschlecht nicht scharf getrennt waren und so die biochemische Grundlage fürs Überleben bestand. Als die Fische ausgestorben waren, verstopften Pflanzen die Ozeane; zwar gab es keine Vögel mehr, doch die Insekten hatten überlebt. Libellen, Schmetterlinge, mutierte Heuschrecken und Käfer schwärmten über den ganzen Planeten aus. Männer, die ihre Frauen verloren hatten, arbeiteten Seite an Seite mit Männern, die aus Frauen gemacht worden waren. Wenn sie einander kannten, war es für sie unsagbar traurig, sich zu begegnen: Ehemänner und Frauen, beide bärtig, stark, aggressiv, verzweifelt und fleißig. Die kleinen Jungen fühlten irgendwie, daß sie nie Geliebte und Frauen besitzen würden, die sie heiraten und mit denen sie Töchter zeugen konnten. Aber was war schon eine ganze Welt gegen den voranstürmenden Geist und den scharfen Intellekt von Dr. Astarte Kraus? Sie wurde zur Anführerin ihres Volkes, der Männer und der Mann-Frauen. Sie trieb sie an, brachte ihnen bei zu überleben und gebrauchte allen gegenüber ihren kalten Verstand. Wenn sie ein mitleidiger Mensch gewesen wäre, hätte sie sie vielleicht sterben lassen. Aber Mitleid lag nicht in der Natur von Dr. Astarte Kraus. Sie brachte dem Universum, das die Menschen zu zerstören versucht hatte, nichts als Schärfe, Härte und Unversöhnlichkeit entgegen. Ehe sie starb, hatte sie ein sorgfältig programmiertes genetisches System ausgearbeitet. Kleine Mengen männlichen Gewebes konnten in einem chirurgischen Routineverfahren in den Unterleib knapp außerhalb der Bauchfellwand eingepflanzt werden, so daß sie ein wenig gegen die Eingeweide drückten.
Eine künstliche Gebärmutter künstlicher Stoffwechsel und künstliche Befruchtung durch Bestrahlung und Hitze ermöglichten es den Männern, männliche Kinder zu gebären. Was hatte es auch für einen Sinn, Mädchen zu zeugen, wenn doch alle sterben mußten? Die Menschen von Arachosia machten weiter. Halb von Sinnen vor Leid und Enttäuschung überstand die erste Generation die Tragödie. Sie sandten Notruf kapseln aus und wußten, daß ihre Botschaften die Erde in sechs Millionen Jahren erreichen würden. Als Erkunder von Neuland hatten sie sich weiter vorgewagt als die früheren Schiffe. Sie hatten eine gute Welt gefunden, aber sie wußten nicht genau über ihren Standort Bescheid. Befanden sie sich noch innerhalb der Heimatgalaxis, oder hatten sie den Sprung zu einer der benachbarten Galaxien gemacht? Sie konnten es nicht genau sagen. Es gehörte zur Politik der alten Erde, die Erkundungstrupps nicht allzu reich auszurüsten. Denn man fürchtete, daß einige der Gruppen einen starken kulturellen Wandel durchmachen oder aggressive Herrschaftssysteme entwickeln könnten, die sich vielleicht gegen die Erde wenden und sie vernichten würden. Die Erde sorgte dafür, daß sie immer am längeren Hebel saß. Die dritte, vierte und fünfte Generation von Arachosia waren immer noch Menschen. Alle waren Männer. Sie besaßen noch Erinnerungen an die Menschheit, sie lasen menschliche Bücher, sie kannten die Wörter »Mama«, »Schwester«, »Geliebte«, aber sie verstanden den Sinn dieser Wörter nicht wirklich. Der menschliche Körper, der für seine Entwicklung auf der Erde vier Millionen Jahre benötigt hatte, besitzt enorme Energiequellen, die stärker sind als der Verstand, die Persönlichkeit oder die Wünsche eines Einzelwesens. Und die Körper der Arachosianer nahmen ihnen die Entscheidung ab. Da unter den gegebenen Umständen weiblicher Stoffwechsel
den sofortigen Tod bedeutete, und weibliche Babys tot geboren und gleich begraben wurden, paßten sich die Körper an. Die Menschen von Arachosia wurden Männer und Frauen in einem. Sie gaben sich selbst den häßlichen Spitznamen »Klopten«. Da ihnen die Annehmlichkeiten des Familienlebens nicht vergönnt waren, stolzierten sie wie Hähne einher, vermischten ihre Liebe mit Mord und ihre Lieder mit Zweikämpfen, pflegten ihre Waffen und beanspruchten das Recht, sich innerhalb eines sonderbaren Familiensystems fortzupflanzen, für das kein ernsthafter Erdenmensch Verständnis aufbringen kann. Aber sie überlebten. Und ihre Überlebensmethode war so hart und streng, daß es wirklich schwer war, sie zu verstehen. In weniger als vierhundert Jahren hatten die Arachosianer eine Zivilisation entwickelt, die aus rivalisierenden Gruppen bestand. Sie besaßen noch immer nur einen einzigen Planeten, der um eine einzige Sonne kreiste. Sie lebten alle am selben Ort. Sie verfügten über eine kleine Raumflotte, die sie sich selbst gebaut hatten. Ihre Wissenschaft, Kunst und Musik strebte auf den seltsamen Abwegen eines neurotisch inspirierten Geistes voran; denn ihnen fehlten die Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit: das Gleichgewicht zwischen Mann und Frau, Familie, Liebe, Hoffnung und Vermehrung. Sie überlebten – aber sie waren zu Monstern geworden, ohne es zu wissen. Aus der Erinnerung an die alte Menschheit schufen sie eine Legende von der alten Erde. In dieser Legende waren Frauen Mißbildungen, die umgebracht werden mußten, unglückliche Geschöpfe, die man ausrotten mußte. Die Familie war in ihrer Erinnerung nur Schmutz und Greuel. Sie fühlten sich verpflichtet, sie auszulöschen, wann immer sie ihr begegnen sollten.
Sie selbst waren bärtige Homosexuelle mit geschminkten Lippen, Ohrgehängen und langen Haaren. Unter ihnen waren nur wenige alte Männer zu finden. Sie beseitigten ihre Männer, bevor sie alt wurden. Was ihnen Liebe, Erholung und Entspannung nicht gaben, erkauften sie sich mit Krieg und Tod. Sie erdichteten Lieder, in denen sie sich als die letzten Angehörigen der alten und als die ersten der neuen Menschheit feierten. Sie sangen von dem Haß, mit dem sie der Menschheit begegnen wollten. Sie sangen: »Wehe der Erde, wenn wir sie finden.« Und doch veranlaßte sie etwas in ihnen, jedem Lied einen Refrain hinzuzufügen, von dem sogar sie berührt wurden: Ich trauere um die Menschen! Die Menschheit tat ihnen leid, und doch planten sie einen Angriff gegen die ganze Menschheit.
Die Falle Suzdal hatte sich von der Botschaft, die die Kapsel ausgestrahlt hatte, täuschen lassen. Er begab sich wieder in das Schlafabteil; zuvor wies er die Schildkrötwesen an, den Kreuzer nach Arachosia zu steuern, wo immer der Planet sich befinden mochte. Er handelte nicht aus Unzurechnungsfähigkeit oder Mutwillen, sondern aufgrund einer wohlüberlegten Entscheidung. Einer Entscheidung, deretwegen er später verhört und vor Gericht gestellt wurde, eine ordnungsgemäße Verhandlung erhielt und schließlich zu etwas Schlimmerem als dem Tod verurteilt wurde. Er hatte nichts Besseres verdient. Er suchte nach Arachosia, ohne an die wichtigste aller Vorschriften zu denken: Wie konnte er die Arachosianer, diese singenden Monster, davon abhalten, ihm heimwärts zu folgen
und die Welt in den Untergang zu treiben? Hätte ihr Zustand nicht eine ansteckende Krankheit sein können, oder hätte ihr zügelloses Gesellschaftssystem nicht die anderen menschlichen Gesellschaftsordnungen zerstören und für die Erde und alle anderen menschenbewohnten Welten den Ruin bedeuten können? Er hatte nicht daran gedacht, und deshalb wurde er viel später verhört, vor Gericht gestellt und bestraft. Davon wird noch die Rede sein.
Die Ankunft Suzdal erwachte, als sich das Schiff in einer Umlaufbahn um Arachosia befand. Und er erwachte mit dem Bewußtsein, einen Fehler gemacht zu haben. Fremdartige Schiffe hingen wie Blutegel aus unbekannten Gewässern an seinem Schalenschiff. Er befahl seinen Schildkrötwesen, die Instrumente zu kontrollieren, aber die Instrumente versagten. Die Wesen dort draußen, mochten sie nun Männer oder Frauen, Tiere oder Götter sein, besaßen genügend technisches Wissen, um sein Schiff außer Betrieb zu setzen. Suzdal bemerkte seinen Fehler sofort. Natürlich dachte er daran, sich und das Schiff zu vernichten. Doch er befürchtete das eine: Wenn es ihm mißlingen sollte, sich und das Schiff vollständig zu zerstören, dann bestand Gefahr, daß das Schiff in die Hände der Wesen fiel, die sich an der Außenwand zu schaffen machten – wer immer diese Wesen sein mochten. Immerhin war der Kreuzer ein modernes Modell und mit den neuesten Waffensystemen ausgestattet. Er konnte das Risiko eines bloßen Selbstmordes nicht eingehen. Er mußte zu drastischeren Maßnahmen greifen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um irdische Vorschriften zu befolgen.
Sein Sicherheitsoffizier – ein Würfelgeist, der zu menschlicher Form belebt worden war – flüsterte ihm die ganze Geschichte in kurzen Sätzen zu: »Es sind Menschen, Sir. Sie besitzen mehr menschliche Eigenschaften als ich. Ich bin ein Schemen, ein Widerhall, aus einem toten Hirn. Dies hier sind wirkliche Menschen, Kommander Suzdal, aber es sind die schlimmsten Leute, die je den Weltraum unsicher gemacht haben. Sie müssen sie vernichten, Sir.« »Ich bringe es nicht über mich«, sagte Suzdal, der noch immer versuchte, ganz wach zu werden. »Es sind doch Menschen.« »Dann müssen Sie versuchen, sie zu verjagen. Auf jeden Fall. Mit allen Mitteln. Retten Sie die Erde. Halten Sie die Monster auf. Warnen Sie die Erde.« »Und ich?« fragte Suzdal. Doch sofort schämte er sich wegen seiner selbstsüchtigen, persönlichen Frage. »Sie werden sterben oder bestraft werden«, sagte der Sicherheitsoffizier mitfühlend. »Und ich weiß nicht, was schlimmer ist.« »Muß ich sofort handeln?« »Auf der Stelle. Sie haben keine Zeit zu verlieren. Keine Sekunde.« »Aber die Vorschriften…?« »Sie haben sich sowieso schon weit außerhalb aller Vorschriften bewegt.« Es gab Vorschriften, aber Suzdal überging sie alle. Es waren Vorschriften, die zu gewöhnlichen Zeiten, an gewöhnlichen Orten und bei gewöhnlichen Gefahren ihren Sinn hatten. Dies hier war ein Alptraum, den der menschliche Körper zusammengebraut und der menschliche Verstand angeregt hatte. Bereits seine Bildschirme vermittelten ihm einen
Eindruck, welcher Art diese Leute waren: Ohne Zweifel Geisteskranke, Männer, die nie Frauen gekannt hatten, Knaben, die herangewachsen waren, um ihrer Sinnlichkeit und ihrer Lust am Kämpfen nachzugehen. Es waren Menschen mit einer Familienstruktur, die der normale menschliche Verstand nicht glauben, nicht fassen und nicht dulden konnte. Die Wesen da draußen waren Menschen und waren es auch wieder nicht. Sie besaßen menschlichen Verstand, menschliche Vorstellungskraft und die menschliche Fähigkeit zur Rache; und doch jagte ihre bloße Erscheinung Suzdal, einem mutigen Offizier, einen solchen Schrecken ein, daß er ihre Versuche, mit ihm in Verbindung zu treten, unbeantwortet ließ. Er konnte fühlen, wie die weiblichen Schildkrötwesen vor Angst erstarrten, als sie erkannten, wer da an das Schiff hämmerte und wer da durch Maschinenlärm ankündigte, daß er herein, herein, herein wollte. Suzdal beging ein Verbrechen. Es ist der Stolz der Zentrale, daß sie ihren Offizieren erlaubt, Verbrechen, Fehler oder Selbstmord zu begehen. Die Zentrale erledigt diejenigen Aufgaben für die Menschheit, zu denen ein Computer nicht imstande ist. Die Zentrale läßt dem menschlichen Verstand und dem freien Willen Raum. Die Zentrale läßt ihren Mitarbeitern ein Wissen zukommen, das in der bewohnten Welt normalerweise nicht bekannt ist, ein Wissen um Dinge, das den gewöhnlichen Männern und Frauen vorenthalten wird. Doch’ die Offiziere der Zentrale, die Captains, Vizechefs und Chefs müssen sich mit dem, was sie tun, auskennen. Wenn sie versagen, ist die ganze Menschheit bedroht. Suzdal öffnete sein Arsenal. Er wußte, was er tat. Der größere der beiden Monde von Arachosia war bewohnbar. Er konnte sehen, daß es auf ihm schon Erdpflanzen und Insekten gab. Seine Bildschirme zeigten ihm, daß die Weib-Männer von
Arachosia sich nicht die Mühe gemacht hatten, den Mond zu besiedeln. Er fütterte seine Computer verzweifelt mit Daten. Dann rief er: »Sagt mir die Zeit, in der es möglich ist!« Die Maschine surrte die Antwort: »Über dreißig Millionen Jahre.« Suzdal verfügte über ein großes Ausrüstungspotential. Er führte ein oder zwei Pärchen von fast allen Erdentieren mit sich. Die Tiere waren in winzigen Kapseln von der Größe eines Tablettenröhrchens untergebracht. Die Kapseln enthielten den befruchtungsfähigen Samen und die empfängnisbereiten Eizellen der höheren Arten. Alle konnten von Suzdal programmiert werden. Zur Ausrüstung gehörten auch kleine Bio-Bomben, in denen alle Lebensformen so verpackt werden konnten, daß sie wenigstens eine Überlebenschance hatten. Er ging zur Bio-Bank und nahm acht Paar Katzen heraus, sechzehn Erdenkatzen, felis domesticus, die Art, die Sie und ich kennen, die Art, die manchmal zu telepathischen Zwecken gezüchtet wird oder auch, um als zusätzliche Hilfswaffe auf Schiffen zu dienen, wo die Katzen, gesteuert von Gehirnwellen, Gefahren abwenden. Er gab diesen Katzen ein Programm ein. Er programmierte sie mit Botschaften, die ebenso ungeheuerlich waren wie die Umstände, welche die Weib-Männer von Arachosia zu Monstern gemacht hatten. So lauteten seine Befehle: Pflanzt euch nicht wie bisher fort. Erfindet einen neuen Stoffwechsel. Ihr werdet der Menschheit dienen. Entwickelt eine Zivilisation. Lernt sprechen. Ihr werdet der Menschheit dienen. Ihr werdet der Menschheit dienen, wenn sie euch ruft.
Geht in der Zeit zurück und entwickelt euch. Dient der Menschheit. Diese Instruktionen waren mehr als bloße Worte. Es waren Einprägungen in die vorhandene molekulare Struktur der Tiere. Sie griffen in die genetische und biologische Entwicklung dieser Tiere ein. Und dann beging Suzdal seinen Verstoß gegen die Gesetze der Menschheit. Er hatte ein chronopathisches Gerät an Bord, einen Zeitumwandler, der normalerweise für ein oder zwei Sekunden benützt wurde, um ein Schiff aus äußerster Gefahr zu bringen. Die Weib-Männer von Arachosia drangen schon durch den Schiffsrumpf. Er konnte ihre heulenden, hohen Stimmen hören, wie sie einander in überschwenglicher Freude zujubelten, weil sie den ersten der ihnen verhaßten Feinde gefunden hatten, das erste der Ungeheuer von der alten Erde, das^ schließlich bis zu ihnen vorgedrungen war. Einen der echten, bösartigen Menschen, an dem sie, die Weib-Männer von Arachosia, Rache nehmen würden. Suzdal bewahrte die Ruhe. Er programmierte die Erdkatzen. Er steckte sie in Bio-Bomben. Er bediente die Instrumente seiner Zeitmaschine auf unerlaubte Weise, so daß statt einer Zeitverschiebung von einer Sekunde für ein Schiff von achtzigtausend Tonnen eine Verschiebung von zwei Millionen Jahren für ein Gewicht von nicht ganz vier Kilo eintrat. Er schickte die Katzen zum namenlosen Mond von Arachosia. Er schickte sie in der Zeit zurück. Er wußte, daß er nicht zu warten brauchte. Und er brauchte tatsächlich nicht zu warten.
Suzdals Katzenland Die Katzen kamen. Ihre Schiffe gleißten am wolkenlosen Himmel über Arachosia. Ihre kleine Luftflotte griff an. Die Katzen, die noch einen Augenblick zuvor nicht existiert hatten, die dann jedoch zwei Millionen Jahre zur Verfügung hatten, um einer Bestimmung zu folgen, die direkt in ihre Gehirne eingepflanzt, ihren Nervenbahnen eingeprägt und im Stoffwechsel ihrer Körper und Persönlichkeiten verankert war. Die Katzen hatten sich in eine Rasse verwandelt, die über Sprache, Intelligenz, Hoffnung und eine Sendung verfügte. Ihre Sendung war, zu Suzdal zu stoßen, ihn zu befreien, ihm zu gehorchen und Arachosia zu vernichten. Die Schiffe der Katzen sandten ihren Kampfruf aus. »Das ist Tag und Jahr des verheißenen Zeitalters. Und jetzt kommen die Katzen!« Die Arachosianer hatten viertausend Jahre auf eine Schlacht gewartet, und nun war es so weit. Die Katzen griffen sie an. Zwei der Katzenschiffe erkannten Suzdal und erstatteten Meldung: »O Herr, o Gott, o Schöpfer aller Dinge, o Beherrscher der Zeit, o Ursprung alles Lebens, seit Anbeginn der Welt warten wir darauf, Dir zu dienen, Deinem Namen zu dienen, Deinen Ruhm zu preisen! Laß uns für Dich leben, laß uns für Dich sterben. Wir sind Dein Volk.« Suzdal strahlte seine Botschaft an alle Katzen aus. »Fallt über die Klopten her, aber tötet nicht alle.« Er wiederholte: »Setzt ihnen zu und haltet sie auf, bis ich außer Gefahr bin.« Er flog den Kreuzer in den Hyperraum und entkam. Weder die Katzen noch die Arachosianer folgten ihm.
Das ist die Geschichte. Die Tragödie aber ist, daß Suzdal heimkehrte. Und die Arachosianer und die Katzen existieren immer noch. Vielleicht weiß die Zentrale, wo sie sind, vielleicht auch nicht. Die Menschheit ist nicht wirklich daran interessiert, es herauszufinden. Es verstößt gegen alle Gesetze der Menschheit, eine Rasse ins Leben zu rufen, die der menschlichen überlegen ist. Vielleicht sind die Katzen eine solche Rasse. Vielleicht weiß irgend jemand, ob die Arachosianer gesiegt, die Katzen getötet und deren Wissensstand ihrem eigenen hinzugefügt haben. Vielleicht suchen sie nun nach uns und tasten sich wie Blinde durch den Weltraum, um uns, die wahren Menschen, zu finden, zu hassen und zu töten. Oder vielleicht haben auch die Katzen gesiegt. Vielleicht sind die Katzen von einer seltsamen Sendung erfüllt. Vielleicht folgen sie der verworrenen Hoffnung, den Menschen zu dienen, die sie nicht erkennen. Vielleicht denken sie, wir alle seien Arachosianer und müßten nur eines bestimmten Kreuzerkommandanten wegen verschont werden, den sie nie wiedersehen werden. Sie werden Suzdal nicht wiedersehen, denn wir wissen, was mit ihm geschehen ist.
Suzdals Gerichtsverhandlung Die Verhandlung gegen Suzdal fand auf einer großen Bühne unter freiem Himmel statt. Sein Verhör wurde auf Band genommen. Er hatte etwas getan, das er besser unterlassen hätte. Er hatte nach den Arachosianern gesucht, ohne zu warten und ohne um Rat zu fragen und auf Verstärkung zu warten. War es denn seine Aufgabe gewesen, ein Unglück zu beheben, das schon seit Generationen währte? War das wirklich seine Sache?
Und dann die Katzen. Die Schiffsaufzeichnungen haben uns bewiesen, daß etwas von diesem Mond gekommen war. Raumschiffe, Wesen mit Stimmen, Wesen, die mit dem menschlichen Geist in Verbindung treten konnten. Wir wissen noch nicht einmal genau, ob sie sich einer irdischen Sprache bedienten, denn sie übermittelten ihre Worte direkt in die Empfangscomputer. Vielleicht verwendeten sie dazu eine Art direkter Telepathie. Aber das Verbrechen bestand darin, daß Suzdal Erfolg gehabt hatte. Er hatte die Katzen zwei Millionen Jahre zurückgeschickt, er hatte sie zum Überleben programmiert, er hatte ihnen aufgetragen, eine Zivilisation zu entwickeln und ihm zu Hilfe zu kommen. Dadurch hatte er in weniger als einer Sekunde objektiver Zeit eine vollkommen neue Welt erschaffen. Sein Zeitumwandler hatte die kleinen Bio-Bomben auf die feuchte Erde des großen Mondes über Arachosia geschickt. Und schneller, als man es erzählen kann, kehrten die Bomben in Gestalt einer Flotte zurück – einer Flotte, die von einer zwei Millionen Jahre alten Rasse gebaut worden war, und zwar einer irdischen Rasse, wenn auch einer Rasse von Katzen. Der Gerichtshof entzog Suzdal seinen Namen. »Sie tragen fortan nicht mehr den Namen Suzdal.« Der Gerichtshof entzog Suzdal den Rang. »Sie werden nie mehr das Kommando eines Schiffes übernehmen, weder bei dieser noch bei einer anderen Flotte, weder für den Staat noch für die Zentrale.« Der Gerichtshof entzog Suzdal das Recht zu leben. »Sie haben das Recht auf Leben verwirkt, ehemaliger Commander Suzdal.« Und der Gerichtshof entzog ihm das Recht zu sterben. »Wir verbannen Sie nach Shayol, dem Ort der tiefsten Schande, dem Planeten ohne Wiederkehr. Haß und Verachtung der Menschheit werden Sie begleiten. Wir werden Sie nicht bestrafen. Wir wollen von Ihnen nichts mehr wissen. Sie
werden weiterleben, aber für uns haben Sie aufgehört zu existieren.« Das ist die Geschichte. Es ist eine traurige, schöne Geschichte. Die Zentrale versucht, die ganze Menschheit aufzumuntern, indem sie erklärt, die Geschichte sei nicht wahr, es sei nur eine Sage. Vielleicht existieren die Aufnahmen. Vielleicht tragen die abartigen Klopten igendwo ihre männlichen Babys aus, bringen ihre Nachkommen zur Welt, immer durch Kaiserschnitt, nähren sie immer mit der Flasche – Generationen von Männern, die nur Väter gekannt haben und die keine Ahnung haben, was das Wort Mutter bedeutet. Und vielleicht verbringen die Arachosianer ihr verrücktes Leben in fortwährendem Krieg mit intelligenten Katzen, die einer Menschheit dienen, die vielleicht nie wiederkehrt. Das ist die Geschichte. Im übrigen ist sie nicht wahr.
Originaltitel: THE CRIME AND THE GLORY OF COMMANDER SUZDAL Aus AMAZING STORIES Mai 1964 und SEVEN TRIPS THROUGH TIME AND SPACE, edited by Groff Conklin Copyright © 1968 by Fawcett Publications, Inc. Übersetzt von Helmut Axmann
Eric Frank Russell DER GRÜNE PLANET
Die Marathon hatte den Auftrag bekommen, einen Planeten im Gebiet Rigel zu untersuchen, und was einige von uns gern gewußt hätten, war, wie unsere irdischen Astronomen auf solche riesigen Entfernungen lohnende Objekte aussuchen konnten. Letztesmal hatten sie uns eine harte Nuß zu knacken gegeben, als sie uns zu dieser mechanischen Welt geschickt hatten. Die Marathon, das von Flettner konstruierte neue Schiff, war etwas Einzigartiges und hatte im bekannten Kosmos nicht seinesgleichen. So war denn unsere Lösung des Geheimnisses die, daß wir glaubten, die Astronomen hätten ein ähnlich revolutionäres Instrument in die Hände bekommen. Wir hatten die Reise nach unseren Instruktionen ohne Zwischenfall hinter uns gebracht und waren nahe genug an unser Ziel herangekommen, um zu sehen, daß die Astronomen mit ihrer Behauptung, es gebe hier einen vermutlich von lebenden Wesen bewohnten Planeten, wieder einmal recht gehabt hatten. Auf der Steuerbordseite brannte Rigel wie ein fernes Höllenfeuer, aber die Sonne unseres Forschungsobjekts war nicht der noch weit entfernte Riesenstern. Sie war uns viel näher und sah ein wenig kleiner und gelber aus als unsere alte Heimatsonne. Zwei andere Planeten lagen weiter draußen, und wir hatten auf der anderen Seite der Sonne noch einen gesehen. Das machte insgesamt vier, aber drei waren steril wie das Gehirn
eines venusischen Wasserflohs, und nur dieser Planet, der innerste, schien interessant zu sein. Wir stießen wie ein Habicht auf ihn hinunter. Die fremde Welt schwoll vor unseren Bugfenstern an, und ein Seitenblick auf den angeschnallten Wilson zeigte mir, daß er seiner heiligmäßigen Gewohnheit folgte und für die Sicherheit seiner Kameras und Filme betete. Sein Ausdruck geistiger Agonie legte die Vermutung nahe, er sei mit den verdammten Dingern verheiratet. Das Bremsmanöver kostete mich einige Minuten meines klaren Bewußtseins, doch die Stöße und Erschütterungen der hektischen Bauchlandung rüttelten mich wieder wach. Ich schaute aus dem nächsten Bullauge und studierte die neue Welt. Sie war grün. Nie hätte ich geglaubt, daß es irgendwo so durch und durch grün sein könnte. Die Sonne, draußen im Raum von einem blassen Gelb, hatte hier unten eine noch blassere Grünfärbung angenommen und goß eine gelbgrüne Lichtflut über das Land. Die Marathon lag in einer von Wäldern umgebenen sumpfigen Niederung. Unsere nächste Umgebung war ein Gewirr aus Gräsern, Kräutern, Sträuchern, Stauden und umherschießenden Insekten. Der Wald erschien uns als eine fast solide Mauer aus riesenhaften Gewächsen, deren Farbskala von einem leichten silbrigen Grün bis zu einem satten, glänzenden Schwarzgrün reichte. Brennand stellte sich neben mich. Das einfallende Licht machte sein Gesicht grünlich und fleckig. Er sah aus wie ein frisch dem Grab Entstiegener. »Nun, da wären wir wieder.« Er wandte sich vom Fenster ab, grinste mich an, wischte sich das Grinsen hastig vom Gesicht und ersetzte es durch einen alarmierten Ausdruck. »He, ist dir nicht gut?«
»Das liegt am Licht«, klärte ich ihn auf. »Du solltest dich mal vor einen Spiegel stellen. Du siehst aus wie einer, der drei Tage im Wasser gelegen hat.« »Danke«, sagte er betroffen. »Nicht der Rede wert.« Wir blieben noch eine Weile am Fenster stehen und schauten hinaus, während wir auf das Signal für die Bordversammlung warteten, die gewöhnlich der ersten Erkundungsexpedition vorausgeht. Ich hoffte auf eine Fortsetzung meiner Glückssträhne bei der Auslosung, und auch Brennand juckte es, sich die Füße auf richtiger Erde zu vertreten. Aber das Signal kam nicht. Zuletzt sagte Brennand bekümmert: »Der Skipper läßt sich Zeit. Was hält ihn so lange auf?« »Keine Ahnung.« Ich warf wieder einen Blick in sein fleckiges Gesicht. Es sah furchtbar aus. Nach seiner Miene zu urteilen, dachte er das gleiche von meinen Zügen. »Du weißt, wie vorsichtig McNulty ist«, sagte ich. »Ich glaube, unsere Erlebnisse auf Mechanistria haben ihn dazu gebracht, daß er jedesmal bis hundert zählt, bevor er einen Befehl gibt.« Das leuchtete Brennand ein. »Ich gehe mal nach vorn und sehe nach, was gespielt wird.« Er latschte durch den Korridor davon. Ich konnte nicht mit ihm gehen, denn es war meine Pflicht, in meiner Waffenkammer zu bleiben. Man konnte nie wissen, wann sie das Zeug darin brauchten, und sie hatten die Gewohnheit, dann immer im Galopp zu kommen. Brennand war kaum außer Sicht, da stürmte das Expeditionskorps herein und brüllte nach Waffen und Ausrüstungen. Es waren sechs. Molders, ein Ingenieur; Jepson, ein Navigationsoffizier; Sam Hignett, unser farbiger
Schiffsarzt; der junge Wilson als Fotograf; und schließlich zwei Marseute, Kli Dreen und Kli Morg. »Ha?« grollte ich Sam an. »Wieder Glück gehabt, was?« Damit warf ich ihm unmutig seine Strahlpistole und die übrigen Sachen hin. »Ja, Sergeant.« Die weißen Zähne blitzten zufrieden lächelnd in seinem dunklen Gesicht. »Der Skipper hat angeordnet, daß niemand das Schiff zu Fuß verläßt, bis wir mit dem Rettungsboot die Umgebung erkundet haben.« Kli Morg griff sich seine Strahlpistole mit einem der zehn Tentakel und schwenkte das gefährliche Ding ungeachtet der Sicherheit seiner Kameraden herum. »Gib Dreen und mir unsere Helme.« »Helme?« Ich sah von ihm zu meinen Rassegenossen. »Wollt ihr vielleicht auch Raumanzüge?« »Nein«, erwiderte Jepsin. »Der Luftdruck draußen ist fünfzehn Pfund, und das Zeug ist so reich an Sauerstoff, daß man herumrasen und dabei glauben kann, man gehe spazieren.« »Schlamm!« erklärte Kli Morg. »Der reine Schlamm! Gib uns die Helme.« Er bekam sie. Diese Marsleute waren an die drei Pfund Luftdruck ihres Heimatplaneten so gewöhnt, daß jede dichtere und schwerere Atmosphäre ihre Lebern reizte, vorausgesetzt, sie hatten welche. Zwar konnten sie für begrenzte Zeit auch höhere Luftdrücke ertragen, aber früher oder später machte es sie ungesellig und nörglerisch. Wir halfen ihnen beim Anlegen der Kopf- und Schulterhelme und pumpten die Luft ab. Ich hatte es schon fünfzigmal gemacht, und so ging mir diese sonderbare Arbeit schnell von der Hand. Ich hatte meine Kunden gerade wie Christbäume ausstaffiert, als Jay Score hereinwuchtete – leichtfüßig hereinwuchtete,
wenn man das sagen kann. Er lehnte seine dreihundert Pfund gegen das Gestänge der Barriere und trat schnell zurück, als die Metallrohre zu knistern begannen. Ich rüttelte an der Barriere, um zu sehen, ob er sie ruiniert hatte. »Das Dumme bei manchen Leuten ist, daß sie ihre eigenen Kräfte nicht kennen.« Er ignorierte das und sagte zu den anderen: »Der Skipper ordnet besondere Vorsicht an. Wir wollen keine Wiederholung dessen, was Haines und seiner Mannschaft passiert ist. Flughöhe mindestens dreihundert Meter. Landeverbot. Und kommt sofort zurück, wenn ihr was entdeckt, das eine Meldung wert ist.« »In Ordnung, Jay.« Molders drapierte sich zwei Munitionsgurte um die Schultern. »Wir nehmen uns in acht.« Sie marschierten hinaus. Kurz darauf löste sich das Rettungsboot mit schrillem Geheul vom Mutterschiff, stieg steil auf und verschwand hinter der grünen Mauer des Waldrandes. Brennand kam zurück, stellte sich ans Fenster und schaute dem Boot nach. »McNulty ist vorsichtig«, bemerkte er. »Er hat gute Gründe. Und schließlich ist er derjenige, der sich nach unserer Rückkehr verantworten muß.« Ein Schmunzeln ging über sein seekrankes Gesicht. »Ich war eben im Heck. Ein paar von den Faulenzern dort hinten haben nicht auf Befehle gewartet. Sie sind draußen und spielen im Grünen Versteck.« »Spielen was?« japste ich. »Versteck.« Ich rannte nach achtern, Brennand mit breitem Grinsen mir nach. Tatsächlich. Zwei von diesen schmutzigen Mechanikern hatten ein Ding gedreht. Sie mußten durch das noch nicht abgekühlte Hauptabgasrohr hinausgekrochen sein. Nun standen sie knietief im Grünen und warfen Kiesel auf einen
dreißig Meter entfernten Felsblock. Man hätte glauben können, sie wären auf einem Schulausflug. »Weiß der Skipper davon?« »Sei nicht einfältig«, sagte Brennand überlegen. »Glaubst du, McNulty würde ausgerechnet diese beiden unrasierten Affen als erste hinauslassen?« Einer der beiden drehte sich um, sah uns am Fenster stehen und grinste. Er rief etwas, das wir durch die dicken isolierten Wände nicht hören konnten. Dann sprang er drei Meter hoch in die Luft und schlug sich mit der öligen Hand gegen den Brustkasten. Er machte uns klar, daß die Schwerkraft niedrig, der Sauerstoffgehalt hoch und er selbst zum Bäumeausreißen aufgelegt war. Brennands Gesicht verriet, daß er ernstlich versucht war, durch das Rohr zu kriechen und an ihrem Vergnügen teilzunehmen. »McNulty wird ihnen die Haut abziehen«, sagte ich, pflichtschuldig meinen Neid verbergend. »Man kann es ihnen nicht übelnehmen. Unsere künstliche Schwerkraft ist immer noch eingeschaltet, das Schiff ist voll Gestank und schlechter Luft, und wir haben eine lange Reise hinter uns. Es wäre großartig, ein bißchen hinauszugehen. Ich würde selbst gern im Sandkasten spielen, wenn ich einen Eimer und eine Schaufel hätte.« »Es ist gar kein Sand da.« Des Felsblocks überdrüssig, suchten sich die beiden Ausreißer einen Vorrat von Kieseln zusammen und näherten sich damit einem großen Busch, der fünfzig Meter vom Heck der Marathon wuchs. Je weiter sie sich entfernten, desto größer wurde die Gefahr, daß der Skipper oder einer der Offiziere sie durch die vorderen Bullaugen entdeckten, aber das war ihnen gleich. Sie wußten, daß McNulty nicht mehr tun konnte, als ihnen einen Vortrag zu halten und einen scharfen Verweis ins Logbuch einzutragen.
Der Busch war fünf oder sechs Meter hoch, hatte einen dünnen, biegsam aussehenden Stamm mit mehreren Nebenschößlingen und war in dichtes, leuchtendgrünes Laub gehüllt. Einer der beiden näherte sich dem Busch ein paar Meter vor dem anderen, warf einen Stein und traf den Busch genau in die Mitte des Laubwerks. Was sich nun ereignete, geschah so schnell, daß wir kaum zu folgen vermochten. Der Stein fuhr zwischen die Blätter. Der Busch als Ganzes wippte rückwärts, als wäre sein Stamm eine Stahlfeder. Als der Wipfel ganz nach hinten gebeugt war, fielen drei oder vier kleine Lebewesen heraus und tauchten im hohen Gras unter. Der Busch aber wippte zurück und stand dann wieder so ruhig wie zuvor. Nur seine obersten Zweige schienen noch einen Moment schwach zu zittern. Aber der Mann, der den Stein geworfen hatte, lag jetzt flach auf dem Bauch. Sein Gefährte, drei oder vier Schritte hinter ihm und etwas auf der Seite, war stehengeblieben und gaffte mit offenem Mund und stieren Blickes auf den Busch und seinen Freund. »He?« quakte Brennand betroffen. »Was ist da los?« Der Gefallene regte sich plötzlich und setzte sich auf. Er begann an sich herumzuzupfen. Sein Freund kam zu ihm und half zupfen. Kein Geräusch drang ins Schiff, und so konnten wir nicht hören, worüber sie sprachen oder welche Flüche sie ausstießen. Nach beendeter Zupfarbeit erhob sich der Getroffene unsicher auf seine Beine. Seine Balance schien gestört, und sein Kamerad mußte ihn stützen, als sie zum Schiff umkehrten. Der Busch hinter ihnen stand unschuldig da. Auch das schwache Zittern im Wipfel hatte aufgehört. Auf halbem Weg begann der Steinwerfer zu taumeln und wurde weiß, dann knickten seine Knie ein, und er fiel. Der andere warf einen ängstlichen Blick zurück. Es hätte ihn wohl
nicht überrascht, wenn der Busch sich auf sie gestürzt hätte. Er bückte sich über den Liegenden, lud ihn auf die Schulter und stapfte auf die mittlere Luftschleuse zu. Jay Score kam ihm entgegen, bevor er zwanzig Schritte getan hatte. Mit langen Schritten kam er zu ihm, nahm die Last von seiner Schulter und trug sie mit Leichtigkeit zurück. Wir rasten nach vorn, um in Erfahrung zu bringen, was geschehen war. Jay trug den schlaffen Körper des Unglücklichen in unsere Krankenstation, wo Wally Simcox, Sams Helfer, den Patienten untersuchte. Der zweite Ausreißer blieb vor der Tür stehen und sah ganz krank aus. Sein Aussehen wurde noch erheblich elender, als Kapitän McNulty daherkam und ihn im Vorbeigehen mit einem Blick durchbohrte. Eine halbe Minute später steckte der Skipper ein zornrotes Gesicht aus der Tür und bellte: »Steve soll sofort das Rettungsboot zurückrufen. Sam wird dringend gebraucht.« Ich rannte in die Funkstation und gab den Befehl weiter. Steve hörte mich an, und seine Augenbrauen schienen bis in die Mitte seiner Stirn hinaufzuwandern, dann schaltete er auf Sendung und nahm das Mikrophon an die Brust. Er bekam Verbindung mit dem Boot, gab den Befehl durch, lauschte der Antwort. »Sie kehren sofort um.« Ich ging zurück und sagte zu dem bedrückt dastehenden Mechaniker: »Was ist passiert, Knallkopf?« Er zuckte zusammen. »Dieser Busch schoß einen Haufen Pfeile auf ihn ab. Lange dünne, wie Dornen. Sie trafen ihn überall, im Gesicht und am Hals und durch die Kleidung. Einer ging glatt durch sein Ohr. Zum Glück hat keiner seine Augen getroffen.« »Da kann er sich freuen!« sagte Brennand. »Ein ganzer Schwarm von diesen Dornen zischte an mir vorbei und noch zwanzig Meter weiter; wie wütende Bienen
haben sie gesurrt.« Er schluckte mühsam, scharrte mit den Füßen. »Es müssen hundert oder mehr gewesen sein.« McNulty kam heraus, hochrot im Gesicht. Er sah den Mann, blieb stehen und sagte: »Wir unterhalten uns später!« Der Blick, mit dem er seine Worte begleitete, hätte dem dickfelligsten Lümmel die Hose versengt. Schweigend sahen wir seine rundliche Gestalt durch den Korridor davonmarschieren. Das Opfer seines Zorns verschluckte eine bittere Verwünschung und entfernte sich nach achtern. In der nächsten Minute sahen wir das Rettungsboot einmal über dem Schiff kreisen und mit dünnem Pfeifen niedergehen. Die Mannschaft stürmte an Bord, dann schwenkten die Davits rasselnd aus und hoben den Zwölftonnenkörper in den Bauch des Mutterschiffes. Sam blieb eine Stunde im Behandlungsraum, dann kam er heraus, schüttelte bekümmert den Kopf. »Er ist tot. Wir konnten nichts für ihn tun.« »Tot? Aber…« »Ja. Diese Dornen enthalten ein starkes alkalisches Gift. Wir haben kein Gegenmittel. Es bringt das Blut zum Gerinnen wie Schlangengift.« Er rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Der Skipper wird einen Anfall bekommen.« Wir folgten ihm zur Brücke. Der Skipper explodierte förmlich, als er Sams Meldung erhielt. Seine Stimme dröhnte laut durch die halbgeöffnete Tür. »Kaum gelandet, und schon muß ich einen Todesfall ins Logbuch eintragen… unverantwortlicher Leichtsinn… sträfliche Mißachtung meiner Befehle… mangelnde Disziplin an Bord… andere Saiten aufziehen… meine Verantwortung…« Er ließ die gesamte Mannschaft antreten, schritt erregt auf und ab und hielt uns eine längere Ansprache. Man habe uns für
den Dienst an Bord der Marathon ausgewählt, weil man uns für erfahrene, disziplinierte Männer gehalten habe, sagte er, die den Jahren jugendlichen Übermuts längst entwachsen seien. Um so erstaunter sei er über diesen Beweis infantilen Spieltriebs. Schließlich schrillte ein Telefon und unterbrach seinen Monolog. Drei Telefone standen auf seinem Schreibtisch. Er starrte sie an wie einer, der Grund hat, seinen Ohren nicht zu trauen. Wir blickten einander an, um zu sehen, ob jemand fehlte. Es hätten alle versammelt sein müssen. McNulty beschloß, daß sich das Geheimnis am ehesten lösen ließe, wenn er den Anruf beantwortete. Er packte den Hörer, riß ihn an sein Ohr und gab ihm ein heiseres und ungläubiges »Ja?« Eins der beiden anderen Telefone schrillte wieder und bewies, daß er kein gutes Ohr für Unterscheidungen hatte. Er knallte den Hörer hin, nahm den zweiten auf und wiederholte: »Ja?« Aus dem Hörer drangen quietschende Geräusche. Sein gerötetes Gesicht erging sich in den seltsamsten Verzerrungen. »Wer?« fragte er. »Was?« Seine Augen traten aus den Höhlen. »Was hat Sie geweckt? Jemand klopft an die Tür?« Er warf den Hörer hin, schürzte die Lippen und blieb eine Weile sinnend stehen. Dann sagte er zu Jay Score: »Das war Sug Farn. Er behauptet, jemand hämmere gegen die Luftschleuse steuerbords und störe seine Siesta.« Asthmatisch schnaufend ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Seine Blicke schweiften durch den Raum, entdeckten Steve Gregory. »Um Himmels willen, Mann«, brach er los, »können Sie Ihre Augenbrauen nicht festhalten? Sie machen mich noch verrückt!«
Steve machte ein zerknirschtes Gesicht. Jay Score beugte sich über den Skipper und redete leise auf ihn ein. McNulty nickte müde. Jay richtete sich auf. »In Ordnung, Leute«, sagte er. »Jeder geht auf seine Station zurück. Wir stellen eine Kanone in die Luftschleuse und lassen die Rettungsbootmannschaft dabei Wache halten, weil sie noch die Waffen bei sich hat. Dann öffnen wir die Luke.« Das war ein vernünftiger Gedanke. Im hellen Tageslicht konnte man jeden sehen, der sich dem Schiff von weitem näherte, aber wer unmittelbar am Schiff stand, blieb im toten Winkel und war nur durch die geöffnete Luftschleuse zu entdecken. Keiner war so taktlos, etwas darüber zu sagen, aber der Skipper hatte einen Fehler gemacht, als er die Mannschaft vollzählig antreten ließ, ohne Wachen auf den Stationen zu lassen. Solange sich diejenigen, die dort draußen hämmerten, nicht freiwillig vom Schiff entfernten, konnten wir sie nur sehen, wenn wir uns aus der geöffneten Luftschleuse beugten und unter die Rundung des Schiffskörpers spähten. Wir stellten das Schnellfeuergeschütz so auf, daß die beiden Läufe auf die Mitte der äußeren Luke gerichtet waren. Als wir eben fertig waren, schlug etwas von draußen mehrmals gegen die Tür. Es klang wer eine Salve mit Wucht geworfener Steine. Langsam drehte der Mechanismus die Tür zurück und schob sie zur Seite. Ein heller, grünlicher Lichtbalken fiel durch die sich verbreiternde Öffnung, und mit dem Licht kam ein Strom frischer Luft. Ich sog sie tief in meine Lungen und fühlte mich wie ein gesundes Nilpferd. Gleichzeitig schaltete Andrews’ Nachfolger, Chefingenieur Douglas, die künstliche Schwerkraft aus, und sofort verringerte sich unser aller Gewicht um ein Drittel. Wir blickten mit so gespannter Aufmerksamkeit auf diese lichterfüllte Öffnung, daß es nicht schwierig war, sich einen
automatischen Metallsarg vorzustellen, der plötzlich hereingeklettert kam und uns aus seinen Doppellinsen feindselig und kalt anstarrte. Aber es kam kein Schnurren verborgener Maschinerie, kein drohendes Geklapper von metallenen Armen und Beinen, nichts außer dem leisen Seufzen der erfrischenden Brise in Büschen und Bäumen und einem eigenartigen entfernten Pulsieren, das nicht zu identifizieren war und vielleicht von Dschungeltrommeln ausgehen mochte. Das aber war eine höchst ungewisse Deutung, die außer der Tatsache, daß sie die Phantasie beflügelte, nicht viel für sich hatte. So tief war die Stille, daß ich Jepsons Atem laut hinter mir hörte. Der Kanonier hockte auf seinem Sitz, die Augen hinter dem Visier, beide Zeigefinger an den Abzugshebeln. Rechts und links warteten seine Ladeschützen mit den Reservegurten. Dann hörte ich das leise Tappen von Füßen direkt unter der Luftschleuse. Wir alle wußten, daß McNulty einen Wutanfall bekommen würde, wenn jemand wagte, bis an den Rand der Türöffnung zu gehen. Die Erinnerung an das letzte Mal, als jemand eben das tat und hinausgezogen wurde, war noch zu frisch. So standen wir wie Attrappen da und warteten, warteten. Nach kurzer Zeit erklang unter der Öffnung ein Geschnatter, und im nächsten Augenblick flog ein rundlicher Stein von Melonengröße herein, verfehlte Jepson um einige Zentimeter und knallte gegen die Rückwand. Skipper oder nicht Skipper, mir wurde es zuviel. Ich brachte meine Strahlpistole in Anschlag und schlich geduckt nach vorn, bis ich den Rand erreichte, der etwa drei Meter über dem Erdboden war. Vorsichtig spähte ich hinaus. Molders kam dicht hinter mir. Das ferne Pulsieren war deutlicher zu hören als zuvor, aber auch jetzt entzog es sich jeder Definition.
Direkt unter mir stand eine Gruppe von sechs Wesen, die auf den ersten Blick bestürzend menschlich aussahen. Die gleichen Körperkonturen, die gleichen Glieder, sehr ähnliche Züge. Sie unterschieden sich von uns hauptsächlich durch ihre rauhe und runzlige, schmutziggrüne Haut, und sie hatten ein seltsames Organ wie die Blüte einer Chrysantheme, das aus ihrer Brust hervorwuchs. Ihre Augen waren scharf, glänzend schwarz und ständig wachsam in Bewegung. Bei all diesen Unterschieden war unsere oberflächliche Gemeinsamkeit so erstaunlich, daß ich sie sprachlos anglotzte, während sie ebenso verdutzt zu mir heraufstarrten. Dann schrillte einer von ihnen etwas im Singsang eines aufgeregten Chinesen, schwang den rechten Arm und tat sein Bestes, um mir den Schädel einzuschlagen. Ich duckte mich und fühlte das Geschoß dicht über meinem Kopf wegsausen. Auch Molders konnte noch rechtzeitig in Deckung gehen. Der Stein oder was es war krachte irgendwo in der Schleuse gegen Metall, und ich hörte eine finstere Verwünschung hinter mir, bevor ich, von Molders versehentlich angestoßen, die Balance verlor und aus der Öffnung fiel. Ich purzelte in weiches Gras, wälzte mich zappelnd ein paar Meter seitwärts und sprang auf. Ich rechnete jeden Augenblick mit einem Schauer größerer und kleinerer Steine, aber die Fremden waren nicht mehr da. Sie hatten bereits fünfzig Meter zurückgelegt und rannten mit langen, hohen Sätzen, die ein hungriges Känguruh beschämt hätten, auf den schützenden Wald zu. Es wäre mir ein leichtes gewesen, mit der Strahlpistole zwei oder drei von ihnen zu erlegen, aber McNulty hätte mich dafür gekreuzigt. Nun kam Molders heraus, und hinter ihm drängten sich Wilson, Jepson und Kli Yang. Wilson hatte seine Kamera mit einem Farbfilter versehen und blickte wild vor Erregung umher. »Ich habe sie vom vierten Fenster aus auf den Film
bekommen!« schrie er triumphierend. »Zweimal, gerade als sie türmten.« »Humph!« Molders blinzelte ins helle Licht. Er war ein massiger und phlegmatischer Mann, der wie ein skandinavischer Bierbrauer aussah. »Gehen wir ihnen bis zum Dschungel nach.« »Das ist eine Idee!« stimmte Jepson begeistert zu. Er wäre weniger begeistert gewesen, hätte er gewußt, was ihn erwartete. Er stampfte auf dem federnden Torfboden herum und sog die sauerstoffreiche Luft ein. »Das ist unsere Gelegenheit für einen legitimen Spaziergang.« Wir machten uns sofort auf, denn wir wußten, daß es nicht lange dauern würde, bis der Skipper auftauchen und uns nachheulen würde, wir sollten wieder an Bord kommen. Er war eben schwer zu überzeugen, daß Risiken eingegangen werden müssen und daß Wissen mit Verlusten erkauft werden muß. Am Waldrand angelangt, blieben die sechs Grünen stehen und beobachteten unsere Annäherung. So schnell sie draußen im offenen Gelände Fersengeld gegeben hatten, so zuversichtlich zeigten sie sich im Schutz der Bäume. Einer von ihnen kehrte uns den Rücken zu, bückte sich und machte uns zwischen den Knien heraus Gesichter. Es erschien uns sinnlos, ohne Zweck oder Bedeutung. »Was soll das?« brummte Jepson unmutig, während er kopfschüttelnd das grimassenschneidende Gesicht unter dem runzligen Hinterteil betrachtete. Wilson lachte. »Das habe ich schon gesehen. Eine verspottende Geste. Sie muß von kosmischer Beliebtheit sein.« »Ich sollte ihm den Hintern rösten«, sagte Jepson grimmig, seine Feuerspritze befingernd. Dann geriet er mit dem Fuß in ein Loch und fiel aufs Gesicht.
Die Grünen quittierten dies mit einem Freudengeheul und schleuderten eine Salve von Steinen, die zu kurz fiel. Wir fingen an zu laufen, in mächtig ausgreifenden Sätzen, die ein Vollgefühl der Kraft in uns erweckten. Die geringe Schwerkraft hatte unser Körpergewicht bei gleicher Muskelleistung auf zwei Drittel reduziert, und so galoppierten wir gleich Olympiasiegern über das unebene Terrain. Fünf von den Grünen drehten sich prompt um und schlugen sich in den Wald. Der sechste schoß wie ein Eichhörnchen am Stamm des nächsten Baumes hinauf. Ihr Verhalten ließ erkennen, daß sie die Bäume aus irgendeinem unbekannten Grund als sichere Zuflucht vor allen Angriffen betrachteten. Etwa achtzig Schritte vor dem bewußten Baum blieben wir stehen. Vorsicht schien uns geboten, denn er konnte uns leicht mit einer Riesenladung fliegender Giftdornen überschütten. Besorgt dachten wir an das, was ein vergleichsweise kleiner Busch getan hatte. Dann verteilten wir uns und bildeten eine Art Schützenkette. Jeder von uns war bereit, sich bei der ersten drohenden Bewegung des Baumes ins Gras zu werfen. So arbeiteten wir uns Schritt für Schritt näher an den Waldrand heran. Nichts geschah. Noch näher. Immer noch nichts. Wir gelangten unter die mächtig ausladenden Äste und in die Nähe des dicken Stammes. Von dem Baum oder seiner Rinde ging ein seltsamer Duft aus. Das ferne Pulsieren oder Pochen klang jetzt lauter als zu irgendeiner Zeit vorher. Es war ein imposanter Baum. Sein dunkelgrüner Stamm mit der faserigen Rinde hatte einen Durchmesser von gut zwei Metern und erhob sich wie eine mächtige Walze acht oder neun Meter hoch, bevor er sich verzweigte. An den zahlreichen dicken Ästen saßen lange und starke Zweige, von denen jeder in einem großen, spachtelförmigen Blatt endete. Es war schwer zu sagen, wie der Grüne diesen massiven Stamm erklommen hatte; ein Urwaldaffe hätte es nicht besser machen können.
Wie dem auch sein mochte, wir konnten ihn nicht sehen. Vorsichtig gingen wir mehrere Male um den Baum und spähten zwischen seinen dicken Ästen nach oben, wo hellgrünes Licht in verwirrenden Mosaikmustern durch das Blätterdach einfiel. Nichts war zu sehen. Zweifellos saß er irgendwo dort oben, aber er blieb unseren Augen verborgen. Unmöglich hätte er unbemerkt auf einen benachbarten Baum überspringen können, doch je länger wir starrten, desto unsichtbarer schien er zu sein. »Das ist mir ein Rätsel!« brummte Jepson. Um einen besseren Überblick zu bekommen, trat er einige Meter vom Stamm zurück. Mit einem mächtigen Schwung fuhr ein langer Zweig auf ihn herab. Das große Blatt schlug Jepson klatschend gegen den Rücken, und eine Duftwelle von Ananas und Zimt verbreitete sich im Umkreis. So schnell wie der Zweig heruntergezischt war, schwang er wieder in seine ursprüngliche Position zurück, und er nahm sein Opfer mit. Brüllend vor Schreck und Wut, segelte Jepson mit dem Blatt in die Höhe, wo er wild zappelte, während wir uns verblüfft unter ihm versammelten. Wir konnten sehen, daß er an der Unterseite des Blattes hing und allmählich mit einem dicken gelbgrünen Schleim überzogen wurde, was durch sein verrücktes Zucken noch gefördert wurde. Das Zeug mußte hundertmal klebriger sein als der beste Vogelleim. Zusammen riefen wir ihm zu, er solle sich nicht so wild bewegen, damit er den todbringenden Schleim nicht ins Gesicht bekäme, aber es bedurfte starker Schimpfworte und Beleidigungen, um seine Aufmerksamkeit zu erzwingen. Seine Kleidung war bereits von der schleimigen Masse bedeckt, und sein linker Arm klebte fest am Körper. Er sah furchtbar aus, und wir wußten, daß er hilflos ersticken würde, bekäme er etwas von dem Zeug über Mund und Nase.
Molders machte einen entschlossenen Versuch, den Baum zu erklettern, fand es jedoch unmöglich. Er trat zurück, um besser hinaufsehen zu können, aber dann sah er ein anderes Blatt so über sich plaziert, daß es ihm jeden Augenblick eine Dosis von dem gleichen klebrigen Stoff verabreichen konnte, und mit zwei ängstlichen Sätzen war er wieder bei uns. Der sicherste Ort war unter dem unglücklichen Jepson. Er hing in sieben Meter Höhe, und der Schleim aus dem Blatt kroch langsam über sein Opfer. Ich schätzte, daß er Jepson in einer halben Stunde völlig eingehüllt haben würde – in viel kürzerer Zeit, wenn er weiterzappelte. Unterdessen ging das dumpfe Pochen weiter, einer Uhr gleich, die die letzten Minuten der Verdammten abzählte. Wilson machte eine verzweifelte Geste zur Marathon, die fünfhundert Meter entfernt in der grünlichen Helligkeit des offenen Moores lag. »Je mehr Zeit wir verschwenden, desto schlimmer wird es. Wir holen Seile und Eisenhaken, dann bringen wir ihn herunter.« »Nein«, sagte ich. »Zu umständlich. Wir können ihn viel schneller herunterholen.« Damit stampfte ich ein paarmal im Kreis herum, um die Nachgiebigkeit des Bodens zu prüfen. Befriedigt zielte ich mit meiner Strahlpistole auf den Punkt, wo Jepsons Blatt mit dem Zweig verwachsen war. Jepson geriet in Panik. »Laß das, blödsinniger Teufel!« bellte er herunter. »Willst du mir den Hals brechen?« Der Feuerstrahl schoß hinauf. Das Blatt fiel ab, und der Baum wurde toll. Jepson stürzte, das Blatt auf dem Rücken, mit einem lauten Schrei in die Tiefe und landete im Moos. Während wir alle flach auf den Bäuchen lagen und verzweifelt versuchten, uns in die Erde hineinzugraben, schlug der Baum mit Ästen und Zweigen wie ein Berserker um sich und peitschte die Luft über uns mit seinen klebrigen Riesenblättern.
Ein besonders gefährlicher Zweig schlug sein Blatt kaum einen Meter von meinem Kopf entfernt immer wieder klatschend auf die Erde. Ich bohrte mein Gesicht wie ein Engerling in den Grund, aber mein Körper spürte den Luftzug des unermüdlich niedersausenden Blattes. Ich mußte daran denken, wie meine Lungen kämpfen, meine Augen herausquellen und meine Herzgefäße platzen würden, wenn ich eine Portion von dem klebrigen Schleim ins Gesicht geschlagen bekäme, und die Vorstellung machte mich schwitzen. Lieber ließ ich mich von vergifteten Dornen durchbohren. Nach einer Weile erlahmte die wütende Aktivität des Baumes, und er stand wie ein träumender Riese, der jeden Augenblick von einem neuen Tobsuchtsanfall geschüttelt werden konnte. Wir robbten zu Jepson und schleiften ihn mühselig auf dem Blatt, an dem er befestigt war, aus der Reichweite des Baumes. Er konnte nicht gehen; Stiefel und Hosenbeine klebten fest zusammen und waren überdies an das Blatt geheftet. Sein linker Arm war unlösbar an seine Seite geklebt. Er befand sich in einer mißlichen Lage und jammerte beständig. Bis zu diesem Ereignis hatte niemand ihm eine derartige Beredsamkeit zugetraut. Aber wir schafften ihn in die Sicherheit des Sumpflandes, und dort war es, wo ich die wenigen Flüche aufsagte, die er vergessen hatte. Molders sagte nichts und gab sich zufrieden, Jepson und mir zuzuhören. Molders hatte mir beim Schleppen geholfen, und nun konnten wir beide nicht mehr loslassen. Wir hingen an dem ursprünglichen Opfer, verbunden wie Brüder, aber nicht wie solche sprechend und von nichts erfüllt, was mit brüderlicher Zuneigung Ähnlichkeit hatte. So blieb uns nichts übrig, als Jepson weiterzutragen. Unsere Hände waren fest mit den zum Tragen wohl ungeeignetsten
Teilen seines Körpers verschweißt, was bedeutete, daß wir ihn horizontal und mit dem Gesicht nach unten schleppen mußten, wie einen stockbetrunkenen Seemann. Er war immer noch mit dem Blatt geschmückt. Die Aufgabe wurde uns durch den jungen Dummkopf Wilson nicht leichter gemacht, der glaubte, es sei etwas Komisches an anderer Leute Mißgeschick. Er umsprang uns grinsend und handhabte seine verwünschte Kamera aus allen nur denkbaren Blickwinkeln. Jay Score, Brennand, Armstrong, Petersen und Drake kamen uns entgegen, als wir unbeholfen durch das hohe Gras stapften. Sie betrachteten Jepson neugierig und hörten sein Jammern und Fluchen mit großem Respekt an. Molders und ich warnten sie, ihn nicht anzufassen. Schwitzend und übelgelaunt langten wir im Schatten der Marathon an. Jepson hatte nur zwei Drittel seines Normalgewichts, aber nach fünfhundert Metern glaubten wir die klebrigen Überreste eines Mammuts zu tragen. Unter der offenen Luftschleuse warfen wir ihn ins Gras und setzten uns gezwungenermaßen zu ihm. Das schwache Pochen kam noch immer aus den Wäldern. Jay ging an Bord und brachte Sam und Wally, damit sie ihre Kunst an diesem Superklebstoff erprobten. Das Zeug war inzwischen steif und hart geworden. Seine Hände und Finger steckten wie in Handschuhen aus Harz. Sam und Wally versuchten es mit kaltem, lauwarmem, ziemlich heißem und sehr heißem Wasser, aber alles das nützte nichts. Chefingenieur Douglas probierte es mit einer Flasche Raketentreibstoff, den er als Fleckenentferner, Metallputzmittel, zur Vernichtung von Ungeziefer und als Einreibetinktur gegen seinen Hexenschuß zu verwenden pflegte. Er sei noch für viele andere Zwecke gut, behauptete er. Aber den erstarrten Schleim konnte das Zeug nicht lösen.
Als nächstes versuchten sie es mit gereinigtem Benzin, das Steve Gregory in größeren Mengen für die Feuerzeuge der Besatzung verwahrte. Sie vergeudeten ihre Zeit. Das Benzin konnte Gummi zerfressen, aber nicht dieses Material. Molders saß geduldig mir gegenüber, die Hände in gelblichgrünem Glas. Sam Hignett kam mit Jodtinktur. Sie richtete nichts aus, aber sie brachte die Oberfläche des erstarrten Klebers zum Schäumen und verbreitete einen schwer erträglichen Gestank. Etwas verdünnte Salpetersäure, vorsichtig aufgetragen, erzeugte Blasen an der Oberfläche, aber mehr erreichte sie nicht. Es wäre ohnehin riskant gewesen, damit zu arbeiten. Bedenklich die Stirn runzelnd, machte Sam sich wiederum auf, um in seiner Krankenstation nach anderen möglichen Lösungsmitteln zu fahnden. Jay Score kam aus dem Schiff, um zu sehen, wie es uns erging, und kurz bevor er bei uns anlangte, stolperte er, was angesichts seines übermenschlichen Gleichgewichtssinns sehr merkwürdig war. Sein massiver Körper stieß Wilson zwischen die Schulterblätter, und dieser grinsende Affe fiel prompt über Jepsons Beine, wo der Schleim am dicksten und noch weich genug war, ihn festzuhalten. Wilson suchte sich zu befreien, zappelte und drehte sich und verfing sich nur noch gründlicher. Schnaufend von der Anstrengung, gab er auf. Jepson lachte. Jay bückte sich nach der Kamera, ließ sie von seiner Hand baumeln und sagte trocken: »Ich bin noch nie zuvor gestolpert. Es war ein sehr unglücklicher Zufall.« »Zufall! Von wegen!« heulte Wilson erbittert. »Absicht war es, niederträchtige Absicht!« Da kam Sam zurück, einen Krug in beiden Händen, tröpfelte etwas Flüssigkeit daraus über meine gefangenen Finger, und
sofort wurde der dicke grünliche Überzug zu einem schwachen Schleim. Ich war frei. »Salmiakgeist«, bemerkte Sam überflüssigerweise; ich kannte den durchdringenden Geruch. Das Zeug erwies sich als ausgezeichnetes Lösungsmittel, und bald hatte er uns gesäubert. Danach jagte ich Wilson dreimal um das Schiff. Er hatte den Vorteil, jünger zu sein, und er war zu schnell für mich. Atemlos gab ich die Verfolgung auf. Wir waren im Begriff, an Bord zu gehen und dem Skipper unsere Geschichte zu erzählen, als der Baum von neuem zu toben begann. Man sah seine tödlichen Zweige durch die Luft peitschen und konnte sogar das unheimliche Pfeifen der zuschlagenden Blätter hören. Wir blieben neben der Luftschleuse stehen und beobachteten verwundert das Schauspiel. Dann fragte Jay Score mit metallischer Schärfe: »Wo ist Kli Yang?« Keiner von uns wußte es. Als ich mich zu erinnern versuchte, fiel mir ein, daß er nicht bei uns gewesen war, als wir Jepson zurückgetragen hatten. Zuletzt hatte ich ihn neben mir unter dem Baum gesehen, wo er mit seinen Untertassenaugen zwei Äste auf einmal nach dem Grünen abgesucht hatte. Armstrong verschwand im Schiff und kam mit der Meldung zurück, daß Kli Yang nicht anwesend sei. Mit Augen so groß wie denen des vermißten Marsbewohners, sagte der junge Wilson, er könne sich nicht entsinnen, Kli Yang beim Verlassen des Waldes gesehen zu haben. Darauf rafften wir unsere Waffen an uns und rannten zum Baum zurück, der noch immer wie besessen um sich schlug. Am Ziel bildeten wir außerhalb der Reichweite der Blätter einen Kreis und versuchten auszumachen, wo der unglückliche, vom klebrigen Schleim umfangene Marsbewohner sein konnte.
Wir entdeckten ihn in fünfzehn Metern Höhe, und zu unserem Erstaunen war er den klebrigen Blättern entgangen. Mit fünf Tentakeln hielt er den Stamm umklammert, die anderen fünf hielten den grünen Eingeborenen fest. Dieser kämpfte wild und vergeblich, wobei er ein aufgeregtes Geschnatter ausstieß. Langsam ließ Kli Yang sich am Stamm herunter. Der Gefangene schlug in Todesangst auf Kli Yangs Kopf- und Schulterhelm ein, schrie sein Kauderwelsch und rollte die Augen. Kli ignorierte ihn, erreichte den Ast, der Jepson gefangen hatte, und kroch an dem auf und nieder peitschenden Zweig entlang bis zum blattlosen Ende. Dort wurden er und der Grüne in sieben Meter hohen Schwüngen durch die Luft geschleudert. Als der Zweig wieder einmal ganz unten angelangt war, ließ Kli Yang los und brachte sich und den Grünen eilig aus der Reichweite des rachedurstigen Baumes. Er war kaum bei uns, da kam ein singendes Geheul aus dem Wald, und etwas wie eine blaugrüne Kokosnuß flog aus dem Unterholz und landete vor Drakes Füßen, wo es zerbrach. Das seltsame Geschoß war dünnwandig und zerbrechlich, hatte eine weiße innere Oberfläche und enthielt nichts. Ohne sich um das Geheul oder die Bombe zu kümmern, die keine war, trug Kli Yang seinen zappelnden Gefangenen zur Marathon. Drake blieb etwas zurück, besah sich neugierig die Kokosnuß oder was immer es war und stieß die Bruchstücke verächtlich mit dem Stiefel an. Im selben Moment bekam er etwas in die Nase, das unsichtbar von den Trümmern aufzusteigen schien, sog die Wangen ein, verdrehte die Augen und wich hastig zurück. Dann würgte er und erbrach sich krampfhaft und so heftig, daß er fiel. Wir halfen ihm auf die Beine und transportierten ihn rasch weiter, ohne lange zu fragen, was ihn
gebissen hatte. Er würgte und spie auf dem ganzen Rückweg und erholte sich erst im Schatten des Schiffsrumpfes. »Jesus!« ächzte er, sich den Leib haltend. »Was für ein entsetzlicher Gestank. Stinktiersaft duftet dagegen wie Rosenöl.« Er wischte sich matt die Lippen. »Das hält kein Magen aus.« Wir suchten Kli Yang, dessen Gefangener inzwischen zu einem friedenstiftenden Mahl in die Kombüse gebracht worden war. Kli Yang war in seinem Quartier, wo er sich seines Helms entledigte. »Der Baum war nicht schwer zu ersteigen«, sagte er. »Er schlug herum, als ich hinaufkletterte, aber seinen eigenen Stamm konnte er nicht treffen.« »Wo hast du den Grünen gefunden, Kli?« fragte Brennand. »Er klebte hoch oben am Stamm. Seine Vorderseite paßte genau in eine Vertiefung der Rinde, und sein Rücken war dem Stamm so ähnlich, daß ich ihn nicht gesehen hätte, wenn er nicht unruhig geworden wäre, als ich immer näherkam. Ein bemerkenswertes Beispiel natürlicher Tarnung.« Kapitän McNulty interviewte den Eingeborenen selbst. Großartig hinter seinem Leichtmetallschreibtisch sitzend, beäugte er den unruhigen und verstörten Gefangenen mit einer Mischung aus Herablassung und nachsichtiger Güte. Der Eingeborene stand vor ihm, und seine schwarzen Augen zuckten in schierer Todesangst unaufhörlich hin und her, wie wenn er verzweifelt zu fliehen suchte und auf ein Wunder hoffte, das ihm einen Ausweg eröffnen würde. Aus der Nähe sah ich, daß er einen zur Hautfarbe passenden Lendenschurz trug. Sein Rücken war dunkler als die Bauchseite, rauher, runzliger, mit Knoten hier und dort – eine perfekte Nachahmung der Baumrinde. Seine Füße waren breit, die Zehen so lang wie die Finger. Außer dem Lendenschurz war er völlig nackt und unbewaffnet. Der sonderbare Auswuchs auf seiner Brust erweckte allgemeine Neugier.
»Hat er gegessen?« fragte der Skipper voll väterlicher Fürsorge. »Wir haben ihm eine Mahlzeit angeboten«, antwortete Jay. »Er hat sie zurückgewiesen. Er wollte sie nicht einmal berühren. Soviel ich aus seinen Gesten entnehmen konnte, will er nichts als zu seinem Baum zurück.« »Hmm-mm«, machte McNulty. »Alles zu seiner Zeit.« Dann wandte er sich mit dem Gesichtsausdruck eines wohlwollenden Onkels an den Eingeborenen. »Wie heißt du?« Der Grüne verstand, daß man ihn befragte, schwenkte die Arme und brach in eine unverständliche Tirade aus. Weiter und weiter redete er, wobei er sein Geschnatter mit vielen emphatischen aber für uns sinnlosen Gesten begleitete. »Ich verstehe«, murmelte McNulty, als der Redefluß versiegt war. Fragend blinzelte er zu Jay Score. »Könnte es vielleicht sein, daß dieser Bursche telepathisch ist, ich meine, wie seinerzeit die Hummer?« »Ich bezweifle das sehr. Er hat möglicherweise die geistige Kapazität eines Kongo-Pygmäen – aber vielleicht liegt sie noch darunter. Er besitzt nicht mal einen einfachen Speer, geschweige denn Pfeil und Bogen oder ein Blasrohr.« »Das ist vermutlich richtig. Seine Intelligenz scheint in keiner Weise bemerkenswert zu sein.« In seiner väterlichbeschwichtigenden Art fuhr McNulty fort: »Es gibt keine gemeinsame Basis, auf der wir uns zu diesem Zeitpunkt verständigen können, daher werden wir eine schaffen müssen. Wir werden unseren sprachbegabtesten Mann daransetzen, daß er ein paar Brocken von der Sprache dieses Burschen lernt und ihm gleichzeitig etwas von der unsrigen beibringt.« »Vielleicht sollte ich es probieren«, schlug Jay vor. »Ich habe den Vorteil eines mechanischen Gedächtnisses.« Er ging langsam auf den Grünen zu. Sein riesiger Körper bewegte sich fast lautlos auf den dicken Kreppsohlen. Dem
Eingeborenen gefielen weder seine Größe noch die Lautlosigkeit seiner Annäherung, und die starren, seltsam glühenden Augen kamen ihm ebensowenig geheuer vor. Er zog sich vor Jay zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand, und seine Augen suchten verzweifelt einen Fluchtweg. Jay bemerkte die Angst des anderen und blieb stehen. Dann schlug er sich die Hand vor den Kopf und sagte: »Kopf.« Das wiederholte er vier- oder fünfmal. So dumm hätte der Grüne nicht sein können; er begriff und öffnete den Mund. »Mah.« Jay faßte sich wieder an seine Rübe. »Mah?« »Bya!« sagte der andere, der allmählich seine Fassung wiederfand. »Sieh mal an«, sagte McNulty, sich seiner eigenen linguistischen Fertigkeiten entsinnend. »Das ist ja ganz einfach: Mah heißt Kopf, und bya ist ja.« »Nicht unbedingt«, widersprach Jay. »Es hängt davon ab, wie sein Geist meine Aktion übersetzt. Mah kann vieles heißen, zum Beispiel Kopf, Gesicht, Schädel, Mann, Gott, Geist, Gedanke, Fremder oder auch meine Gesichtsfarbe. Wenn er an den Kontrast zwischen meinem und seinem Gesicht denkt, dann bedeutet mah wahrscheinlich braun, während bya nicht ja, sondern grün heißt.« »Oh, daran hatte ich nicht gedacht.« Der Skipper sah vernichtet aus. »Wir werden mit diesem Ratespiel weitermachen müssen, bis wir genug Wörter beisammen haben, um einfache Sätze zu bilden. Lassen Sie mir zwei oder drei Tage Zeit.« »Also gut. Sehen Sie zu, daß Sie etwas aus ihm herausbringen, Jay. Wir können nicht erwarten, nach den ersten fünf Minuten mit ihm über Gott und die Welt zu diskutieren – das wäre unvernünftig.«
Jay nahm den Gefangenen mit sich in den Aufenthaltsraum und ließ Minshull und Petersen kommen. Die beiden waren sprachkundige Leute und beherrschten Ido, Experanto, Venusisch, Hochmarsisch und Niedermarsisch – besonders das letztere. Sie waren die einzigen an Bord, die unseren Marsleuten in ihrem eigenen Jargon kontra geben konnten. Ich fand Sam Hignett in der Waffenkammer, wo er darauf wartete, die Ausrüstung zurückzugeben, und ich fragte ihn, was er auf dem Erkundungsflug mit dem Rettungsboot gesehen habe. »Nicht viel«, sagte er achselzuckend. »Wir waren nicht lange genug draußen. Kamen kaum hundert Kilometer weit. Wälder, Wälder, nichts als Wälder, dazwischen ein paar Sümpfe, große darunter. Der größte schloß einen langen blauen See ein. Und dann sahen wir mehrere Flüsse und Ströme.« »Irgendwelche Anzeichen für höheres Leben?« »Keine.« Er machte eine Kopfbewegung zum Aufenthaltsraum, wo Jay und die anderen den Eingeborenen verhörten oder es versuchten. »Es scheint, daß höheres Leben existiert, aber aus der Luft kann man nichts davon ausmachen. Alles ist unter dem dichten Blätterdach verborgen. Wilson ist dabei, seinen Film zu entwickeln. Er hofft, daß die Aufnahmen etwas zeigen, das unseren Augen entgangen ist, aber ich bezweifle das.« »Nun ja«, meinte ich. »Hundert Kilometer in einer Richtung sind nichts, wenn man eine fremde Welt beurteilen will.« Mir kam eine großartige Idee. Ich verließ mit Sam die Waffenkammer und eilte in die Funkzentrale. Steve Gregory saß vor seinen Apparaten und versuchte beschäftigt auszusehen, obwohl er nichts zu tun hatte. Ich brannte darauf, ihn mit der Brillanz meines Geistesblitzes zu lähmen. Als Steve sich mit einer hochgezogenen Augenbraue nach mir
umwandte, sagte ich: »Hör mal, wie wäre es, wenn du die verschiedenen Frequenzen durchkämmen würdest?« Er runzelte die Stirn. »Und wie wäre es, wenn du dein Haar durchkämmen würdest?« »Mein Haar ist sauber und ordentlich«, versetzte ich. »Erinnerst du dich an diese unheimlichen Pfeiftöne und Wasserfälle, die wir auf Mechanistria aufgefangen hatten? Nun, wenn es auf diesem Dreckball höher entwickelte Lebewesen gibt, wissen sie vielleicht, wie man solche Geräusche macht. Sie könnten senden, und du könntest die Sendungen empfangen.« »Klar.« Er hielt seine buschigen Brauen ausnahmsweise still, doch der Effekt ging verloren, als er seine großen Ohren zu bewegen begann. »Wenn sie sendeten.« »Warum beeilst du dich nicht und stellst es fest? Es würde uns wertvolle Aufschlüsse geben. Worauf wartest du noch?« »Hör zu«, sagte er bedächtig. »Hast du die Waffen gereinigt, geladen und einsatzbereit?« Ich starrte ihn an. »Darauf kannst du dich verlassen. Die sind immer einsatzbereit. Das ist mein Job.« »Und dies ist meiner!« Er wackelte wieder mit den Ohren. »Anscheinend geht deine Uhr vier Stunden nach. Ich habe den Äther gleich nach der Landung durchforscht und außer einem leisen, ummodulierten Zischen auf zwölf Komma drei Meter nichts gefunden. Das ist Rigels charakteristische Frequenz, und die Sendung kommt aus der Richtung. Denkst du, ich bin wie dieser Schnarcher Sug Farn?« »Natürlich nicht. Tut mir leid, Steve – mir kam das wie ein guter Einfall vor, das ist alles.« »Schon gut«, sagte er freundlich. »Jedem sein Job.« Er spielte mit den Einstellknöpfen, während ich betreten schweigend danebenstand.
Der Lautsprecher seiner Anlage hustete und verkündete in scharfen Tönen: »Pip-pip-wop! Pip-pip-wop!« Nichts war besser geeignet, die ruhige Heiterkeit seiner Brauen zu stören. Ich hätte schwören mögen, daß sie nicht nur bis zu seinem Haaransatz kletterten, sondern über den Kopf und hinten herunter marschierten. »Morsezeichen!« sagte er im jammernden Tonfall eines verletzten Kindes. »Ich dachte immer, Morsezeichen seien ein irdischer Kode, kein fremder«, sagte ich. »Aber wie auch immer, wenn es Morsezeichen sind, kannst du sie ja entziffern.« Ich machte eine Pause, als der Lautsprecher wieder anfing: »Pip-pip-püppüp-wop.« »Das sind keine Morsezeichen«, widersprach er sich selbst. »Aber es sind Funksignale.« Er warf mir einen tragischen Blick zu, griff nach einem Notizblock und begann die Impulse festzuhalten. Ich mußte mich um meine Arbeit kümmern, und so ließ ich ihn allein und kehrte in die Waffenkammer zurück. Er fummelte immer noch an seinen Geräten herum, als es Nacht wurde. Auch Jay und seine Helfer konferierten noch mit dem Grünen, aber nicht mehr lange. Die Sonne ging unter, färbte die langen, grünlichen Streifenwolken orange und violett und verblaßte. Samtiges Dämmerlicht legte sich über Wälder und Sumpfland. Ich schlenderte durch den Korridor zum Speisesaal, als die Tür zum Aufenthaltsraum aufgerissen wurde und der grüne Eingeborene herausstürzte. Sein Gesicht spiegelte helle Verzweiflung, und seine, Beine wirbelten nur so über den Boden. Minshulls Stimme kläffte aus dem Raum hinterdrein, dann flog der Grüne in meine Arme. Er wand sich wie ein Aal, schlug mir ins Gesicht und stieß mir seine bloßen Füße vor die
Schienbeine. Seine rauhe, zähe Haut strömte einen schwachen Geruch von Ananas und Zimt aus. Die anderen kamen ihm nachgerannt, nahmen ihn mir ab und redeten in stockenden Worten auf ihn ein, bis er sich ein wenig entspannte. Die unsteten Augen angstgeweitet, schnatterte er aufgeregt los und schwenkte dazu seine dürren Arme. Jay brachte es fertig, ihn mit einer langsamen aber erstaunlich vokabelreichen Rede zu beruhigen. Sie hatten genug gelernt, um sich einigermaßen zu verständigen. Nachdem er sich die Antwort des Grünen angehört hatte, sagte Jay zu Petersen: »Ich glaube, du solltest dem Skipper sagen, daß ich Kala gehen lassen will.« Petersen lief fort, kam nach einer Minute zurück. »Er sagt, du sollst tun, was du für richtig hältst.« »Gut.« Jay führte den Eingeborenen zur Steuerbordschleuse, sagte ein paar Worte zu ihm und gab ihm dann die süße Freiheit wieder. Der Grüne ließ sich nicht zweimal auffordern; er sprang aus der Öffnung. Wir hörten seine rennenden Füße durch das hohe Gras streifen, dann jagte er wie einer, dem es um Sekunden geht, durch die tiefe Dämmerung dem Waldrand zu. »Warum hast du den Käfig aufgemacht, Jay?« Er drehte sich nach mir um. »Ich habe ihn zu überreden versucht, daß er morgen früh wiederkommen soll. Vielleicht tut er es, vielleicht nicht – das bleibt abzuwarten. Wir hatten nicht genug Zeit und konnten nicht viel aus ihm herausholen, aber wenigstens ist seine Sprache sehr einfach, und wir haben so viel gelernt, daß es sich lohnte. Er nennt sich Kala, vom Stamm der Ka. Alle Mitglieder seiner Sippe haben Namen mit Ka, wie zum Beispiel Kalee, Kanoo oder Kaheer.« »Wie die Marsleute mit ihren Klis, Leids und Sugs.« »Ja, er hat uns auch erzählt, daß jeder Mann seinen Baum und jede Mücke ihr Moos habe. Ich verstehe nicht, was er damit
meint, aber auf irgendeine mysteriöse Weise hängt für ihn das Leben davon ab, daß er während der Dunkelheit bei seinem Baum ist. Das scheint eine absolute Notwendigkeit zu sein. Ich versuchte ihn davon abzubringen, aber seine Not war mitleiderregend. Er wäre lieber gestorben, als von seinem Baum getrennt zu sein.« »Das klingt irgendwie albern.« Ich schneuzte mich und mußte über einen flüchtigen Gedanken grinsen. »Jepson würde es noch weit alberner finden.« Jay blickte gedankenvoll ins tiefe Zwielicht hinaus, aus dem seltsame nächtliche Gerüche hereindrangen. Ich hörte wieder jenes immerwährende Pulsieren und Pochen, das mich an ferne Buschtrommeln gemahnte. »Wir haben auch erfahren, daß es noch andere gibt, mächtigere als die Ka. Sie haben viel ›gamisch‹, sagte er.« »Was haben sie?« »Viel ›gamisch‹«, wiederholte Jay. »Die Bedeutung des Wortes ist mir nicht ganz klargeworden. Er hat es immer wieder gebraucht. Er sagte, die Marathon habe viel gamisch. Ich habe viel gamisch, und Kli Yang ebenfalls. Kapitän McNulty hat anscheinend nur wenig. Die Ka haben überhaupt kein gamisch.« »Ist das etwas, vor dem sie Angst haben?« forschte ich. »Nicht genau. Er betrachtet es eher mit Ehrfurcht. Soweit ich ihn verstehen konnte, hat alles Ungewöhnliche oder Überraschende oder Einzigartige besonders viel gamisch. Alles nur Anomale hat weniger gamisch. Und alles Gewöhnliche hat gar keins.« »Das zeigt wieder mal die Schwierigkeiten der Verständigung. Es ist nicht so leicht, wie die Leute zu Hause sich das vorstellen.«
»Nein, das ist es nicht.« Seine schwach schimmernde Optik richtete sich auf Armstrong, der am Schnellfeuergeschütz lehnte. »Wer hat hier Wache?« »Ich. Bis Mitternacht, dann werde ich von Kelly abgelöst.« Kelly für die Nachtwache einzuteilen, schien mir schlechte Psychologie zu sein. Der Mann war untrennbar mit seinem meterlangen Schraubenschlüssel verbunden und würde ihm in einer Krisensituation vor allen neumodischen Artikeln wie Schnellfeuerkanonen und Strahlpistolen den Vorzug geben. Gerüchte wollten wissen, daß er das Ding sogar bei seiner Hochzeit mit sich getragen und daß seine Frau wegen der Wirkung des Schraubenschlüssels auf ihren Gemütszustand ein Scheidungsbegehren eingereicht habe. Meine private Meinung war, daß Kelly ein Neandertaler war, der sich in der Zeit um viele Jahrtausende geirrt hatte. »Wir gehen sicher und schließen die Schleuse«, entschied Jay. »Frische Luft oder nicht, wir müssen jedes unnötige Risiko vermeiden.« Das war typisch für ihn und ließ ihn zugleich so durchaus menschlich erscheinen – er konnte von frischer Luft sprechen, als ob er sie selbst atmete. Die beiläufige Art seiner Bemerkungen machte einen vergessen, daß er noch keinen richtigen Atemzug getan hatte, seit der alte Knud Johannsen ihn auf die Beine gestellt und in Betrieb genommen hatte. Er kehrte der dunklen Öffnung den Rücken und ging durch die erleuchtete Luftschleuse, um den Verriegelungsmechanismus in Betrieb zu setzen. Eine piepsende Stimme drang aus der Dunkelheit und rief: »Nu baider!« Jay blieb stehen, und im selben Moment sauste etwas Rundes, Glasiges durch den kleinen Raum, verfehlte Jays Schulter um einen Zentimeter und zerbrach an der oberen Rückstoßkammer der Schnellfeuerkanone zu Scherben. Eine dünne gelbe und anscheinend stark flüchtige Flüssigkeit ergoß
sich über Geschütz und Boden, um Sekunden später zu verdampfen. Jay drehte sich auf dem Absatz um und starrte in die dunkle Öffnung. Draußen hörte man Füße tappen. Der verdutzte Armstrong sprang zurück an die Wand und streckte die Hand zum Alarmknopf aus. Er konnte ihn nicht mehr erreichen; plötzlich und wie von einer unsichtbaren Keule getroffen, brach er zusammen. Ich hatte meine Strahlpistole herausgerissen und schob mich vorsichtig nach vorn, wo Jay stand. Das war ein Fehler. Ich hätte sofort den Alarmknopf drücken sollen. Drei Schritte, und das Zeug aus der zerbrochenen Flasche erwischte mich, wie es zuvor Armstrong erwischt hatte. Jays Gestalt schwoll vor meinen Augen wie eine Seifenblase an, mein Gesichtskreis engte sich von außen her durch einen schwarzen Rand ein, der immer breiter wurde, nur noch ein helles Loch in der Mitte ließ und dann alles verdunkelte. Ich merkte kaum noch, wie ich auf die harten Bodenplatten schlug. Ich weiß nicht, wie lange ich ohne Bewußtsein war, denn als ich schließlich die Augen öffnete, geschah es mit der undeutlichen Erinnerung an Geschrei und stampfende Füße rings um meinen liegenden Körper. Während ich wie ein Stück Fleisch herumgelegen hatte, mußte einiges geschehen sein. Nun lag ich immer noch flach. Ich ruhte auf dem Rücken im tiefen, taunassen Sumpfgras, den pochenden Wald nahe zu meiner Linken, und blickte zu den Sternen auf, die gleichgültig zurückblinzelten. Ich war wie eine ägyptische Mumie gebunden und umwickelt und konnte kaum die Hände rühren. Jepson lag wie eine zweite Mumie auf einer Seite, Armstrong auf der anderen. Mehrere andere schienen hinter ihnen zu liegen. Dreihundert oder vierhundert Schritte entfernt störten laute und zornige Stimmen die Nachtstille, komisches, fremdartiges
Gepiepse und recht irdische Flüche in bunter Mischung. Die Marathon lag in der Richtung; alles, was ich von ihr sehen konnte, war der dicke Lichtbalken, der aus der hell erleuchteten Luftschleuse drang. Das Licht flackerte, trübte sich, wurde wieder hell und kurz darauf fast ganz abgeschirmt. Offenbar fand dort im Licht ein Kampf statt. Jepson schnarchte, als ob es ein Sonntagnachmittag in seiner Heimatstadt wäre, aber Armstrong hatte sich erholt und fluchte anhaltend. Dann wälzte er sich auf die Seite und begann Blaines Fesseln zu benagen. Eine Gestalt von schattenhaft menschlichen Umrissen kam aus der Dunkelheit und schlug zu. Armstrong wurde still. Ich schloß meine Augen, öffnete sie nach einer Weile und paßte sie so der Dunkelheit an, daß ich mehrere fremde Gestalten ausmachen konnte, die in der Finsternis herumstanden. Ich blieb still liegen und versuchte nicht durch unvernünftiges Benehmen aufzufallen. Unfreundliche Gedanken über McNulty, die Marathon, den alten Flettner, der das Schiff entworfen hatte, und über die Regierung, die das Vorhaben gefördert und finanziert hatte, gingen mir durch den Kopf. Schon oft hatte ich das Gefühl gehabt, daß sie früher oder später mein Tod sein würden, und nun schien es, daß besagtes Gefühl sich bewahrheiten sollte. Während ich so meinen trüben Gedanken nachhing, schwoll das Gepiepse drüben beim Schiff zum Crescendo an, und die wenigen irdischen Stimmen verstummten. Weitere undeutlich sichtbare Gestalten tauchten auf und brachten neue Körper, die sie in der Nähe abluden, um wieder in der Nacht unterzutauchen. Alle Neuankömmlinge – ich konnte sie in der Dunkelheit nicht zählen – waren ohne Bewußtsein, kamen aber sehr rasch zu sich. Ich hörte Brennands wütende Stimme und des Skippers asthmatisches Schnaufen.
Ein kalter blauer Stern schien durch feine Zirruswolken, deren langsame Wanderung ich beobachtete, weil es nichts Besseres zu tun gab. Auf einmal endete der Kampf. Eine unheimliche Pause folgte: eine bedrohliche, brütende Stille, die nur von den leise streifenden Geräuschen vieler nackter Füße im nassen Gras unterbrochen wurde. Fremde Gestalten versammelten sich in großer Zahl; der ganze Sumpf schien von ihnen zu wimmeln. Hände hoben mich auf, prüften den Sitz meiner Fesseln und warfen mich in eine Mischung aus Weidenkorb und Hängematte. In Schulterhöhe dahinschwankend, wurde ich davongetragen. Ich kam mir wie ein verstorbenes Warzenschwein vor, das nach der Jagd von einer eingeborenen Trägerkolonne weggeschafft wird. Nur Fleisch – das war ich. Ich fragte mich, auf welche Art und Weise man mich zubereiten würde. Die Karawane schlängelte sich in den Wald. Eine zweite Hängematte folgte unmittelbar hinter mir, und sie schien nicht die letzte in der Reihe zu sein. Jepson war die Jagdbeute hinter mir; er jammerte laut, daß er seit der Landung auf dieser verwünschten Welt kaum aus den Fesseln herausgekommen sei. Die Trägerkolonne umging vorsichtig einen kaum sichtbaren Baum, marschierte unbekümmert unter dem zweiten durch, um dem dritten und vierten wieder auszuweichen. Wie diese Leute im Dunkeln einen Baum vom anderen unterscheiden konnten, blieb mir ein Rätsel. Wir befanden uns in tiefster Dunkelheit, als hinter uns eine gewaltige Explosion losbrach und eine Feuersäule in der Richtung des Sumpfes den Himmel über den Baumwipfeln erhellte. Die Kolonne machte halt. Zwei- oder dreihundert Stimmen zwitscherten und gellten durcheinander.
Sie haben die Marathon in die Luft gejagt, dachte ich. Nun, alles nimmt mal ein Ende, auch die Hoffnung auf eine Heimkehr. Das Schilpen und Quietschen wurden ausgelöscht, als das Brüllen der Flammensäule zu einem die Erde erschütternden Donnern wurde. Meine Hängematte schwankte von den Schultern der alarmiert gestikulierenden Träger. Sie legten ein Tempo vor, das man erlebt haben muß, um es zu glauben; ich flog förmlich dahin, umkreiste einen Baum, einen anderen wieder nicht, und wurde manchmal in weitem Bogen um ungesehene Gefahrenquellen getragen, die allem Anschein nach keine Bäume sein konnten. Mein Herz lag unten in meinen Stiefeln. Das Donnern hinten im Moor endete plötzlich mit einem dumpfen Knall, und ein orangeroter Speer fuhr zum Himmel auf und stieß durch die dünne Wolkendecke. Es war ein Schauspiel, das ich oft beobachtet, aber niemals wieder zu sehen geglaubt hatte: ein startendes Raumschiff. Es war die Marathon! Waren diese fremden Kreaturen so talentiert, daß sie ein völlig unbekanntes Schiff erobern, in wenigen Minuten seinen Mechanismus verstehen und damit fliegen konnten, wohin immer sie wollten? Waren dies die Wesen, die von den Ka als ihnen überlegen bezeichnet worden waren? Die ganze Situation erschien mir zu absurd, um es zu glauben. Wieso beförderten in der Kosmonautik so bewanderte Leute ihre Gefangenen in Hängematten aus geflochtenen Zweigen? Außerdem benahmen sie sich, als hätte das plötzliche Erwachen der Marathon sie völlig überrascht. Nein, ich konnte es nicht glauben. Das Ganze war ein unauflösbares Geheimnis. Während der feurige Schweif der Marathon am nördlichen Himmel verglühte, marschierte die Kolonne eilig weiter. Einmal kam es zu einem Aufenthalt, als unsere Entführer sich
versammelten, aber ihr fortgesetztes Piepsen und Pfeifen zeigte, daß der Zweck der Zusammenkunft keine Mahlzeit war. Zwanzig Minuten später entstand vorn am Kopf der Kolonne Unruhe. Der Lärm vieler Stimmen mischte sich mit einem lauten Miauen und dem Schlagen großer Äste. Dann folgten dumpf klatschende Laute wie von fetten Pfeilen, die in nasses Leder schlagen. Das Miauen schlug in ein Quietschen um und endete in Husten. Wir setzten uns von neuem in Bewegung und schlugen einen weiten Bogen um ein ausgedehntes Dickicht. Vergebens suchte ich meinen Kopf zu recken, um den hellgrünen Tiger oder was immer uns aufgehalten hatte, sehen zu können. Wenn diese Welt wenigstens einen Mond gehabt hätte. Aber es gab keinen; nur die Sterne und die Wolken und den bedrohlichen Wald, aus dem das unaufhörliche Pochen kam. Es dämmerte bereits, als die Trägerkolonne vorsichtig einem kleinen Gehölz aus anscheinend harmlosen Schößlingen auswich und ans Ufer eines breiten Flusses gelangte. Hier konnten wir unsere Bewacher zum erstenmal genauer betrachten, als sie die Träger mit ihren Lasten die steile Böschung hinunter geleiteten. Diese Wesen ähnelten sehr den Ka, nur waren sie größer und schlanker und hatten große, intelligente Augen. Auch ihre Haut war rauh und runzlig, aber eher grau als grün, und ihren Brustkästen entwuchsen die gleichen Chrysanthemenblüten. Im Gegensatz zu den Ka trugen sie gewebte Kleider und besaßen verschiedene Holzgeräte wie überaus komplizierte Blasrohre und rundliche Traggefäße mit Proviant oder Wurfgeschossen. Bei einigen sah ich Tragkörbe mit glasigen Kugeln wie der, die mich in der Luftschleuse niedergestreckt hatte. Ich verdrehte meinen Kopf, um mehr zu sehen, aber ich konnte nur Jepson in der nächsten Hängematte und Brennand
in der übernächsten ausmachen. Gleich darauf lud man die meine am Ufer ab, Jepson daneben und so weiter, bis wir alle in einer sauberen Reihe dalagen. Jepson drehte mir seinen Kopf zu. »Die stinkenden Kannibalen!« »Nur mit der Ruhe«, riet ich. »Wenn wir auf sie eingehen, legen sie uns vielleicht an eine längere Kette.« »Und ich«, fuhr er bösartig fort, »kann keine Klugscheißer ausstehen, die zur falschen Zeit witzig sein wollen.« »Ich wollte nicht witzig sein«, fauchte ich zurück. »Jeder kann seine Meinung frei äußern, nicht wahr?« »Hör schon auf!« Er dehnte und wand sich in einem wütenden Versuch, seine Fesseln zu lockern. »Eines Tages werde ich dir das Maul stopfen, ein für allemal.« Ich antwortete nicht. Es hat keinen Sinn, mit einem Mann zu diskutieren, der bei schlechter Laune ist. Das Tageslicht wurde stärker und durchdrang den grünlichweißen Nebel, der tief über dem grauen Fluß hing. Hinter Armstrong sah ich jetzt Blaine und Minshull, und hinter ihnen wölbte sich McNultys stattlicher Bauch. Zehn unserer Bewacher gingen die Reihe ab, öffneten Jacken und Hemden und entblößten unsere Oberkörper. Zwei von ihnen kamen zu mir, fummelten meine Uniformjacke auf, entblößten meine Brust und betrachteten sie. Etwas daran erfüllte sie mit sprachloser Verwunderung, und es war bestimmt nicht der Ersatzbart, den ich dort verwahre. Es erforderte keine übergroße Intelligenz, um zu vermuten, daß sie meine Chrysantheme vermißten und sich nicht vorstellen konnten, wie ich ohne sie durchs Leben gekommen war. Sie riefen ihre Kollegen, und der ganze Haufen debattierte über dieses Phänomen, während ich wie ein Opferlamm entblößt zu ihren Füßen lag. Schließlich gelangten sie zu dem
Schluß, daß sie hier ein neues Forschungsgebiet betreten hatten, und machten sich mit verdoppeltem Eifer über uns her. Sie ergriffen Blaine und den Mechaniker, der um ein Haar den fliegenden Giftdornen jenes verhängnisvollen Busches entgangen war, nahmen ihnen die Fesseln ab, entkleideten sie bis auf die Haut und studierten sie, wie man Zuchtvieh auf einer landwirtschaftlichen Ausstellung studiert. Einer von ihnen stieß Blaine in den Solarplexus, wo seine Chrysantheme sein sollte, und Blaine sprang den Burschen mit einem wilden Wutschrei an und schlug ihn nieder. Der andere Nudist nahm die Gelegenheit wahr und griff ein. Armstrong, der noch nie ein Schwächling gewesen war, zerriß seine Bande mit einer gewaltigen Kraftanstrengung, kam mit dunkelrotem Gesicht hoch und stürzte sich heiser brüllend ins Handgemenge. Teile seiner zerrissenen Hängematte tanzten auf seinem breiten Rücken. Das war ein Signal. Wir alle machten heftige Anstrengungen, um uns der Fesseln zu entledigen, doch ohne Erfolg. Die Grüngrauen warfen sich von allen Seiten ins Getümmel, drängten unsere drei Kämpfer ans Flußufer hinunter und fort von uns. Eine gelblich-glasige Kugel zerplatzte zwischen ihren Füßen. Der Mechaniker und Blaine brachen gleichzeitig zusammen. Armstrong wankte und brüllte, hielt aus und warf zwei Angreifer ins Wasser, bevor auch er zu Boden ging. Die Grüngrauen zogen ihre Kameraden aus dem Fluß, wickelten Blaine und den Mechaniker in ihre Kleider und fesselten alle drei. Darauf begann eine neue Besprechung. Ich wußte nicht, was ihr Vogelgezwitscher zu bedeuten hatte, gewann jedoch den Eindruck, daß sie sich über die Quantität unseres gamisch nicht einigen konnten. Wir blieben liegen. Meine Fesseln begannen zu schmerzen, und ich hätte meine goldene Armbanduhr für einen Trunk Wasser aus dem grünen Fluß gegeben. Plötzlich beendeten die
Bewacher ihr Gespräch und gingen an den Rand des Wassers hinunter. Eine Flottille langer schmaler Boote schoß den Fluß abwärts, steuerte unser Ufer an, und ein Boot nach dem anderen schob seinen eleganten Bug auf den knirschenden Ufersand. Wir wurden an Bord verfrachtet, fünf Gefangene pro Boot. Ich sah zehn Ruderer an jeder Bordwand unseres Bootes, die ihre langen dünnen Riemen wie Stechpaddel handhabten und das Fahrzeug mit rhythmischen Bewegungen vorwärts trieben. »Ich hatte einen Großvater, der Missionar war«, erzählte ich Jepson. »Der hatte auch Schwierigkeiten dieser Art.« »Und?« »Er endete im Topf«, sagte ich. »Ich hoffe aufrichtig, daß es dir genauso gehen wird«, knurrte Jepson. Die Sonne stieg höher, während wir flußabwärts fuhren. Nach der dritten oder vierten Flußschleife erschien eine kleine Insel in der Mitte des Stromes. An ihrem oberen Ende stand eine Gruppe von vier mächtigen, düster aussehenden Bäumen mit schwarzgrünen Stämmen und Ästen. Von jedem Ast ging ein horizontal angeordneter Fächer kräftiger Zweige aus, von denen wiederum jeder ein halbes Dutzend dicker und großer Blätter am Ende trug, die sich wie die Finger einer zugreifenden Hand nach unten bogen. Die Bootsmannschaften legten sich mit aller Kraft ins Zeug. Die Flottille steuerte in den rechten Flußarm, über den ein mindestens vierzig Meter hoher Baumriese seine drohenden Äste breitete. Als der Bug des ersten Bootes in Reichweite kam, zuckten die Zweige hungrig mit ihren Fingern. Es war keine Illusion: Ich sah es so klar, wie ich meine Lohntüte sehe, wenn sie mir über den Mahagoni zugeschoben wird. Dieser mächtige Ast mit seinen Zweigen machte sich bereit, herunterzulangen, und aus seiner Größe und Ausbreitung ließ
sich schätzen, daß er die ganze Bootsladung auf einmal herauspflücken und etwas damit tun konnte, woran ich nicht denken mochte. Aber er tat es nicht. Als das Boot in die Gefahrenzone einlief, stand der Steuermann auf und schrie den Baum in gellendem Kauderwelsch an. Die Finger öffneten und entspannten sich. Der Steuermann des nächsten Bootes tat es seinem Vordermann gleich. Dann der nächste. Dann unserer. Flach auf dem Rücken liegend, hilflos wie ein Leichnam, stierte ich zu diesem gigantischen Halsumdreher hinauf, während er allzu langsam über mir hinwegglitt und zurückblieb. Unser Steuermann wurde still, und hinten ging das Geschrei von neuem los. Mein Rücken war feucht. Fünf Kilometer weiter legten wir am linken Ufer an, aber ich sah die Gebäude erst, als die Bewacher mich samt meiner Hängematte aus dem Boot auf den Strand warfen, mich von dem Ding losbanden und auf die Beine stellten. Ich verlor sofort das Gleichgewicht und setzte mich taumelnd hin. Meine Beine waren vorübergehend gefühllos. Ich massierte sie, um die Zirkulation in Gang zu bringen, und betrachtete neugierig die Ansiedlung, die ebensogut ein Weiler wie eine regelrechte Metropole sein konnte. Ihre zylindrischen Gebäude waren aus hellgrünem Holz, von einheitlicher Höhe und gleichem Durchmesser, und durch die Mitte eines jeden wuchs ein großer Baum. Das Blätterdach eines Baumes reichte weit über den Radius seines Hauses hinaus und schirmte es dadurch vollständig gegen Sicht von oben ab. Nichts könnte besser geplant und verwirklicht worden sein, um die Siedlung gegen eine Bedrohung aus der Luft zu tarnen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Bewohner eine solche Bedrohung zu fürchten hatten. Die Art und Weise, wie Gebäude und Bäume sich in jeweils denselben Standort teilten, machte es unmöglich, die Größe der
Siedlung abzuschätzen, denn hinter den vordersten runden Häusern waren Bäume, Bäume und nochmals Bäume, von denen jeder einzelne eines dieser fremdartigen Bauwerke beschirmen konnte. Ich wußte nicht zu sagen, ob ich auf einen bloßen Kraal blickte oder den Vorort einer Riesenstadt vor Augen hatte, die sich bis zum Horizont dehnte. Kein Wunder, daß unser Rettungsboot auf seinem ersten Erkundungsflug nur Wälder überflogen hatte; seine Mannschaft konnte ein Gebiet mit Millionen von Einwohnern abgesucht und es für unbewohnten Dschungel gehalten haben. Waffenstarrend und wachsam umdrängten uns eine Horde Eingeborener, während andere die eintreffenden Gefangenen aus den Booten holten und ihnen die Fesseln abnahmen. Die Tatsache, daß wir in einem phantastischen Flugapparat wie der Marathon angekommen waren, schien sie nicht im mindesten zu beeindrucken. Meine Beine gehorchten mir mittlerweile wieder. Ich zog meine Stiefel an und blickte umher. In diesem Augenblick durchfuhr mich ein zweifacher Schock. Der erste kam, als ich meine Gefährten im Elend zählte. Etwas mehr als die Hälfte der Besatzungsmitglieder waren versammelt. Die anderen waren nicht da. In einer Hängematte lag eine fahle, schlaffe Gestalt, in der ich den unglücklichen Mechaniker wiedererkannte, der kurz nach der Landung eine Ladung giftiger Dornen aufgefangen hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum die Grünen sich mit einem Kadaver abgeschleppt hatten. Auf zwei zusammengeflochtenen Hängematten ruhte wach, aber träumend und offenbar desinteressiert unser Freund Sug Farn. Aber er war das einzige anwesende Marswesen. Außer seinen Rassegenossen vermißte ich Chefingenieur Douglas, Bannister, Kane, Kelly, Jay Score, Steve Gregory, Wilson und ein Dutzend andere.
Waren sie tot? Es kam mir nicht wahrscheinlich vor, denn warum sollten die Grünen einen Toten transportieren, die anderen aber zurücklassen? Waren sie entkommen? Oder bildeten sie eine zweite Gefangenenkolonne, die anderswohin geschleppt worden war? Ich stieß Jepson an. »He, hast du schon gemerkt…« Ein plötzliches Heulen und Donnern über dem Fluß schnitt mir das Wort ab. Unsere Bewacher spähten in den Himmel und schwangen ihre Waffen. Sie machten Mundbewegungen, doch ihre Laute gingen im Lärm unter. Ich drehte mich um und gaffte mit herabhängendem Unterkiefer, als die Pinasse unserer Marathon im Sturzflug herabstieß, wenige Meter über dem Wasser abfing und wieder aufwärts schoß. Sie verschwand hinter Baumwipfeln und donnerte in die Ferne davon. Aber man konnte das Geräusch verfolgen, wie es über den Horizont wanderte und sich nach einem weiten Kreis von neuem näherte. Sekunden später kam die Pinasse wieder in Sicht. Diesmal jagte sie im Tiefflug den Fluß herauf und berührte einmal die Wasserfläche, daß grüner Gischt hochspritzte. Zum zweitenmal brüllte sie mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei, so schnell, daß unmöglich auszumachen war, ob man uns in der Pilotenkanzel gesehen hatte. Jepson spuckte sich auf die Knöchel und gab den Grünen einen unheilverkündenden Blick. »Jetzt werden wir es ihnen zeigen, den Läusen!« »Sei still!« warnte ich. »Und dir werde ich es auch zeigen«, fügte er hinzu. Weiter kam er nicht, denn ein großer, magerer Eingeborener war aufmerksam geworden. Er kam näher und gab ihm einen verächtlichen Stoß vor die Brust. Dabei quietschte er etwas, das ebensogut als Frage wie als Ermahnung gemeint sein konnte. »Mit mir kannst du das nicht machen!« grollte Jepson und antwortete ebenfalls mit einem Stoß.
Der Grüne stolperte überrascht zurück. Dann stieß er mit dem rechten Fuß zu. Ich dachte, er wollte Jepson einen herzhaften Tritt in den Unterleib versetzen, aber das war ein Irrtum. Die Geste war weitaus tödlicher. Er schleuderte etwas mit dem Fuß, und was er schleuderte, war lebendig, blitzschnell und gefährlich. Ich sah nur ein Ding, das vielleicht eine kleine Schlange sein mochte. Sie war kaum länger und dicker als ein Bleistift und zur Abwechslung nicht grün, sondern hellorange mit kleinen schwarzen Tupfen. Sie landete an Jepsons Brust, biß ihn und schoß an ihm herunter, daß ich den Bewegungen nicht folgen konnte. Am Boden angelangt, jagte es zu seinem Herrn zurück, schlang sich um sein Fußgelenk und regte sich nicht mehr. In diesem Zustand sah es einem harmlosen Schmuckreif zum Verwechseln ähnlich. Wenige andere Eingeborene trugen ähnliche Objekte, die bis auf eins, das gelb und schwarz gefärbt war, alle orange und schwarz waren. Der gebissene Jepson stand mit herausquellenden Augen da, öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut über die Lippen, obwohl er sich anstrengte. Er schwankte, geriet ins Torkeln. Der Eingeborene stand zwei Schritte vor mir und studierte Jepson mit akademischem Interesse. Ich brach ihm den Hals. Das Ding an seinem Bein verließ ihn im Augenblick des Todes, aber so schnell es sich bewegte, es kam zu spät. Diesmal war ich auf den Angriff vorbereitet. Jepson fiel auf sein Gesicht, als mein Stiefel die Pseudoschlange zertrat. Eine wüste Schlägerei begann. Ich hörte McNultys ängstliche Stimme rufen: »Leute! Leute!«, doch niemand kümmerte sich um ihn. Selbst in einer Situation wie dieser dachte der übergewissenhafte Skipper an die Vorschriften über die Behandlung von Eingeborenen. Armstrong warf kurz hintereinander zwei Angreifer in den Fluß. Blasrohre machten plop-plop, und glasige Gaskugeln
zerplatzten zwischen uns. Das Handgemenge wütete hin und her über Jepsons Körper. Brennand rempelte mich an, den Hals eines Eingeborenen mit beiden Händen umklammernd, während dieser ihm die Augen auszudrücken trachtete. Auch ich bekam einen Grünen zu fassen und wollte ihn auseinandernehmen, aber er sprang wie ein Gummiball herum und war schwer zu halten. Mitten im Getümmel sah ich Sug Farn, der vier auf einmal in seinen Fangarmen hatte und sie im hohen Bogen in den Fluß schleuderte. Gerade hatte ich meinen Mann hinterher geworfen, als mehrere Kugeln in meiner Nähe zerplatzten. Als letztes hörte ich Armstrong triumphierend aufheulen, worauf ein lautes Klatschen folgte, dann ging ich zu Boden. Aus irgendeinem Grund wurde ich diesmal nicht sofort ohnmächtig. Vielleicht hatte ich nur eine halbe Dosis eingeatmet, oder vielleicht enthielten diese glasigen Kugeln eine andere und weniger aggressive Mixtur. Ich weiß nur, daß zwei Grüne sich auf mich stürzten, der Himmel über mir zu kreisen begann und mein Gehirn zu kaltem und klumpigem Haferbrei wurde. Als ich aufwachte, waren meine Arme wieder festgebunden. Zur Linken bildete eine Gruppe von Eingeborenen einen tobenden Haufen über einigen Körpern, die ich nicht sehen, aber hören konnte. Armstrong quietschte und grunzte wie ein gefangenes Schwein, und als die Grünen nach mehreren hektischen Minuten zurücktraten, sah ich seinen gefesselten Körper neben Blaine und Sag Farn liegen. Von der Pinasse war nichts mehr zu sehen und zu hören. Unsere Bewacher trieben uns zusammen und fünf Meilen tief in den Wald oder die Stadt hinein, je nachdem, wie man es nennen wollte. Jepsons Körper wurde in einer Hängematte getragen. Auch hier, weit landeinwärts, gab es so viele Häuser wie Bäume. Dann und wann erschienen Einwohner vor den
Türen ihrer Häuser und sahen mit unbewegten Gesichtern zu, wie wir uns vorbeischleppten. Minshull und McNulty kamen in dieser jämmerlichen Parade direkt hinter mir, und ich hörte den Skipper im Brustton tiefer Enttäuschung sagen: »Ich werde mit ihrem Anführer darüber sprechen. Ich werde ihm klarmachen, daß alle diese unseligen Zwischenfälle das unvermeidliche Resultat der irrationalen Feindseligkeit seiner eigenen Leute sind.« »Ohne Zweifel«, antwortete Minshull trocken. »Selbst wenn man die Schwierigkeiten der Verständigung in Betracht zieht«, fuhr McNulty fort, »denke ich, daß wir ein Recht darauf haben, mit einem Minimum an Höflichkeit behandelt zu werden.« »Ganz gewiß«, sagte Minshull ernst. »Und unsere Aufnahme läßt tatsächlich viel zu wünschen übrig.« »Das ist genau, was ich meine«, stimmte der Skipper zu. Nach kurzer Zeit ließen wir die baumumhüllten Häuser hinter uns und kamen in ein Sumpfland, das etwa doppelt so groß sein mußte wie jenes andere, in dem die vermißte Marathon gelandet war. Unter unseren Füßen wuchs weiches und federndes smaragdgrünes Moos. Die Sonne, nun hoch am Himmel, erfüllte dieses barbarische Amphitheater mit hellem Licht, und wir sahen eine erwartungsvoll schweigende Menge Eingeborener ringsum, die uns aus tausend Augen beobachteten. Die Mitte des Moores nahm unsere Aufmerksamkeit gefangen. Dort ragte auf einer schwach erkennbaren Bodenerhebung ein wahrhaftiges Monstrum von einem Baum auf. Wie hoch er war, ließ sich schwer schätzen, aber unsere Vermutungen lagen bei hundertzwanzig Metern. Sein gewaltiger Stamm hatte einen Durchmesser von nicht weniger als vierzehn Metern, und die Spannweite seiner eichenähnlichen Äste sah atemberaubend aus. So enorm war
dieser Baum, daß wir unsere Augen nicht von ihm abwenden konnten. Die Bewacher ließen uns in einiger Entfernung von diesem Riesengewächs anhalten, und ein großer runzliger Eingeborener zeigte auf den Skipper. Sechs Grüne packten McNulty, bevor er Gelegenheit hatte, seine Ansichten über interstellares Recht vorzutragen. Unter völliger Nichtachtung aller Regeln und Gepflogenheiten, die er für heilig hielt, hoben sie ihn an Armen und Beinen und schleppten ihn auf den wartenden Baum zu. Auf halbem Wege traten dem Skipper und seinen Trägern neun Eingeborene entgegen. Die Eskorte ließ McNulty auf die Beine kommen. Die neun, obwohl ihre Kleidung sie in nichts von den anderen unterschied, ließen durch Haltung und Benehmen erkennen, daß sie Wesen waren, die über dem gemeinen Volk standen. Zauberer oder Schamanen, dachte mein erhitztes Gehirn. McNultys Bewacher übergaben ihr Opfer diesen Männern und rannten zurück, als ob ihnen der Teufel selbst im Nacken säße. Aber es war kein Teufel da, nur dieser monströse Baum. Da wir jedoch wußten, welcher Taten die Pflanzen dieser grünen Welt fähig waren, ließ sich unschwer erraten, daß dieser hier, der Großvater aller Bäume, einzigartige und besonders üble Umgangsformen hatte. Ohne Umschweife entkleideten die neun McNulty bis zum Gürtel. Er redete fortgesetzt auf sie ein, doch war er zu weit entfernt, als daß wir seine Ansprache hätten hören können, von der seine unheimlichen Bademeister im übrigen nicht die geringste Notiz nahmen. Wieder nahmen sie eine sorgfältige Untersuchung seiner Brust vor, konferierten miteinander und wollten ihn näher zum Baum zerren. McNulty widerstand mit der ihm eigenen Würde. Als er ihnen die Arme entzog, ließen
sie jedes Zeremoniell fahren, ergriffen ihn an Armen und Beinen und trugen ihn vorwärts. Armstrong sagte mit gepreßter Stimme: »Wir haben immer noch unsere Beine, nicht wahr?« und stieß dem nächsten Bewacher die Füße unter dem Körper weg. Bevor einer von uns seinem Beispiel folgen und eine neue nutzlose Keilerei beginnen konnte, kam eine Ablenkung aus dem Himmel. Über das unaufhörlich pulsierende Pochen des Waldes erhob sich ein durchdringendes Heulen, das gleich darauf zu explosivem Brüllen anschwoll, und die Pinasse stieß silbrig auf den schicksalhaften Baum herab. Etwas fiel aus dem Bauch des Bootes, ein Fallschirm öffnete sich und senkte seine Last in den Baumwipfel. Ich sah eine Gestalt in den Gurten baumeln, aber die Entfernung machte es unmöglich, den Boten des Himmels zu erkennen, bevor er vom Laubwerk der Baumkrone verschlungen wurde. Die neun Eingeborenen ließen McNulty ins Moos fallen und starrten zum Baum hinauf. Seltsamerweise machten solche Erscheinungen in der Luft die Eingeborenen eher neugierig als ängstlich. Der Baum stand unbewegt. Plötzlich schoß ein Feuerstrahl aus dem Wipfel, traf einen dicken Ast, wo er mit dem Baumstamm verwachsen war, und schnitt ihn ab. Der amputierte Ast rauschte krachend herunter. Auf einmal schwollen tausend knospenartige Körper, die zwischen den Blättern versteckt gewesen waren, wie Kinderballons auf, erreichten Kürbisgröße und platzten in einer Kanonade dumpf schmatzender Laute. Sie entließen einen gelben Nebel, der sich so rasch ausbreitete, daß der ganze Baum in weniger als einer Minute davon eingehüllt wurde. Alle Eingeborenen in Sicht heulten und pfiffen durcheinander, nahmen die Beine in die Hand und flohen. Auch McNultys neun Peiniger vergaßen, was immer sie mit ihrem Opfer vorgehabt hatten, und rannten ihren Gefährten
nach. Die Strahlpistole brachte einen zur Strecke; die übrigen acht liefen, was ihre Beine hergaben. McNulty wälzte sich im Kampf mit seinen Handfesseln im Moos, während der gelbe Nebel langsam auf ihn zukroch. Die letzten Eingeborenen räumten das Feld. Der Baum war in seinem eigenen Nebel kaum zu sehen, und die gelben Schwaden waren bis auf zwanzig Meter an den Skipper herangekommen, der nun auf den Füßen stand und fasziniert auf das Schauspiel starrte. Seine Hände und Arme waren fest umschnürt an seinen Seiten. Tief im Innern des Nebels gingen die platzenden Geräusche weiter, aber sie waren nicht mehr so häufig. Wir brüllten dem vernunftlosen McNulty zu, er solle von seinen Beinen Gebrauch machen, und kämpften verzweifelt mit unseren eigenen Fesseln. McNultys Antwort war, daß er ein paar Schritte zurückging. Mit übermenschlicher Anstrengung sprengte Armstrong seine Bande, holte ein Klappmesser aus seiner Hosentasche und fing an, uns zu befreien. Minshull und Blaine, die als erste freikamen, rasten sofort zu McNulty, der wie ein dicklicher Ajax zehn Schritte vor dem andrängenden Nebel ausharrte, vielleicht um der Macht der fremden Götter zu trotzen. Sie brachten ihn zurück. Als wir alle von unseren Fesseln befreit waren, kam die Pinasse im Tiefflug zurück und schoß über die weite Lichtung. Wir jubelten ihr heiser zu. Dann löste sich eine Hünengestalt aus den Nebelschwaden. Es war Jay Score, der einen leblosen Körper nachschleifte. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Radiosender. Er kam auf uns zu, groß, kraftvoll, mit glühenden Augen, ließ den Kadaver los und sagte: »Hier – seht euch das an. Dies werden die Dämpfe auch mit euch machen, wenn ihr nicht sofort verschwindet!«
Wir sahen hin. Der Körper gehörte dem gefallenen Eingeborenen, den Jay niedergeschossen hatte, aber der Feuerstrahl hatte nicht diese furchtbare Verrottung des Fleisches herbeigeführt. Er war schon zerfetzt, daß man kaum noch von einem Leichnam sprechen konnte. Es war leicht zu sehen, was aus Jay geworden wäre, hätte er aus dem gleichen Material bestanden wie wir. »Zurück zum Fluß«, entschied Jay. »Auch wenn wir uns durchkämpfen müssen. Die Marathon wird auf dem Uferstreifen landen. Wir müssen sie unter allen Umständen erreichen.« »Und vergeßt nicht, Leute«, ergänzte McNulty mit offizieller Würde, »ich will kein unnötiges Gemetzel.« Es war ein unfreiwilliger Scherz. Unsere einzigen Waffen waren Jays Strahlpistole, Armstrongs Taschenmesser und unsere Fäuste. Hinter uns, schon gefährlich nahe und sich ständig weiter ausbreitend, war der Todesnebel. Zwischen uns und dem Fluß lag die Stadt der Grünen mit ihrer unbekannten Zahl von Einwohnern, die mit unbekannten Waffen ausgerüstet waren. Wir machten uns auf den Weg, Jay, McNulty und Armstrong an der Spitze. Zwei von uns trugen Jepson, dessen Beine vom Biß der winzigen Schlange gelähmt waren, der aber seine Zunge wieder fleißig gebrauchte. Ohne Zwischenfall kamen wir einige hundert Meter in den Wald und erreichten das Ende der Hauptstraße, durch die man uns auf dem Weg ins Moor getrieben hatte. Hier standen die Häuser und ihre Bäume in geraden Reihen ausgerichtet und weit auseinander. Wir konnten in der Mitte der Straße unter einem Streifen freiem Himmel marschieren und brauchten uns keine Sorgen wegen der kriegerischen Pflanzenwelt dieses Planeten zu machen. Aber die Breite der Straße machte uns gegen Angriff aus jeder beliebigen Richtung um so verwundbarer.
Als wir ein gutes Stück die Straße entlanggetrottet waren, auf alles gefaßt und entschlossen, unsere Häute teuer zu verkaufen, gab Jay das Zeichen zum Halten und fummelte an seinem tragbaren Sender. »Bist du es, Steve?« sagte er ins Mikrophon. »Ja, wir warten ungefähr einen halben Kilometer vor dem Uferstreifen. Nein, bisher noch kein Widerstand. Aber es wird noch dick kommen. In Ordnung. Ja, wir dirigieren euch.« Er schob Kopfhörer und Kehlkopfmikrophon zurück, blickte zum Himmel auf und lauschte angestrengt. Wir alle lauschten. Eine Weile hörten wir nichts als das unablässige Pochen, das uns seit unserer Ankunft auf diesem verrückten Planeten verfolgte, aber dann mischte sich ein fernes Dröhnen hinein, wie das Summen einer Riesenhummel. Jay schob das Mikrophon zurecht. »Wir hören euch jetzt.« Das Dröhnen wurde allmählich lauter. »Die Richtung scheint zu stimmen; wir hören euch gut.« Er wartete. »Jetzt geht ihr zu weit nach Westen.« Wieder eine kurze Pause. Das ferne Geräusch wurde plötzlich stark, wurde zum Gebrüll. »Richtig!« schrie Jay. »Ihr seid gleich über uns!« Er spähte erwartungsvoll in die Höhe, und wir folgten seinem Beispiel wie ein Mann. Im nächsten Augenblick raste die Pinasse über unsere Köpfe und war weg. Doch die Besatzung mußte uns gesehen haben, denn das kleine Boot sauste in weitem, anmutigem Bogen hoch und kam nach einem sauberen Looping zurück, diesmal über der Längsachse der Straße. Wir sahen es alle und brüllten und tanzten wie ein Haufen aufgeregter Kinder. »Habt ihr uns?« fragte Jay ins Mikrophon. »Dann versucht es beim nächsten Anflug.« Wieder schoß die Pinasse hoch in den Himmel, tauchte herab. Aus ihrem Bauch fiel eine Reihe von Gegenständen. Fallschirme öffneten sich, und die Sachen segelten herunter
wie Manna vom Himmel, während die Pinasse längst am Nordhimmel verschwunden war. Wären diese infernalischen Bäume nicht gewesen, hätte die Pinasse landen und uns an Bord nehmen können. Begierig stürzten wir uns auf die Säcke und Behälter, rissen sie auf und zerrten den Inhalt heraus. Raumanzüge für alle, die uns gegen Gase jeder Art schützen konnten. Strahlpistolen mit zusätzlichen Energiepatronen. Eine kleine Kiste, mit Schaumgummi und Baumwolle gepolstert, vier MiniaturAtombomben enthaltend. Ein Verbandspäckchen für jeden. Der Fallschirm eines großen Bündels hatte sich in den oberen Zweigen eines mächtigen Baumes verfangen. Wir beteten, daß es nichts enthalten möge, was uns allesamt in die Luft jagen würde, schossen die Fallschirmseile entzwei und brachten das Bündel herunter. Es enthielt Proviantrationen und Kanister mit Fruchtsaft. Wir legten unsere Raumanzüge an, verteilten die übrige Ausrüstung und marschierten weiter. Die ersten achthundert oder tausend Meter waren einfach. Nur Bäume, Bäume und Häuser, deren Bewohner geflohen waren. Erst jetzt fiel mir auf, daß es immer die gleiche Baumart war, die ein Haus beherbergte. Unter den schleimblättrigen Bäumen des Schlägertyps und anderen, deren Gefahren wir nicht kannten, gab es keine Gebäude. Ob diese Hausbäume völlig harmlos waren, war eine Frage, die zu ergründen keiner das Verlangen hatte, aber hier war es, daß Minshull sie als die Quelle jenes ewigen Pochens entdeckte. Ohne sich um McNulty zu kümmern, der ihm gleich einer erregten Glucke zuschnalzte, schlich Minshull sich auf Zehenspitzen und mit schußbereiter Pistole in ein leeres Haus. Nach ein paar Sekunden kam er wieder zum Vorschein und sagte, daß das Haus verlassen sei, daß aber der Baum in seiner Mitte wie eine Stammestrommel dröhne. Er habe das Ohr an
den Stamm gelegt und das Schlagen seines mächtigen Herzens gehört. Dies regte McNulty zu einer Dissertation über das Thema unseres höchst anfechtbaren Rechts an, die Bäume dieses Planeten zu verstümmeln oder anderweitig zu verletzen. Wenn sie empfindende Wesen waren, hatten sie nach interstellarem Recht den Status von Eingeborenen und waren als solche geschützt. Er erging sich genüßlich in den legalen Aspekten des Problems im allgemeinen und in bezug auf unsere gegenwärtige Situation im besonderen und vergaß dabei völlig, daß er womöglich noch vor Sonnenuntergang in Öl geschmort werden könnte. Als er nach einiger Zeit eine Verschnaufpause einlegte, zeigte Jay Score nach vorn und sagte: »Skipper, ich fürchte, diese Leute haben ihre eigenen Gesetze und sind im Begriff, ihnen Geltung zu verschaffen.« Fünfhundert Meter voraus erwartete uns eine Vorhut von enormen schlangenartigen Wesen, bei weitem dicker als mein Körper und annähernd dreißig Meter lang. Sie bewegten sich eigenartig steif und eher wie Raupen denn wie Schlangen und kamen näher. Hinter ihnen, gleichfalls in langsamer, unbeholfener Bewegung, kam eine kleine Armee harmlos aussehender Büsche. Und hinter diesen kam eine Horde graugrüner Eingeborener. Sie schrien und gestikulierten mit dem lauten Mut von Leuten, die sich in Sicherheit wähnen. Der Vormarsch der seltsamen Streitmacht wurde vom Tempo der schlangenartigen Wesen bestimmt, und diese krochen einher, als mühten sie sich, zehnmal schneller als normal voranzukommen. Wir blieben stehen und glotzten sprachlos auf dieses unglaubliche Schauspiel. Die Kriecher näherten sich nur langsam, doch irgendwie gelang es ihnen, den Eindruck von ungeheurer Kraft hervorzurufen, einer Kraft, die sich für eine
plötzliche Entladung bereithielt. Je näher sie kamen, desto größer und abscheulicher sahen sie aus. Dies waren die wilden Bestien eines dschungelbedeckten Planeten. Ich wußte es instinktiv, und als ich sie schwach miauen hörte, begriff ich, daß sie meine hellgrünen Tiger waren, Rassegenossen jenes Wesens, das unsere Bewacher im nächtlichen Dschungel bekämpft hatten. Offenbar ließen sie sich zähmen, und diesem Stamm war es gelungen. »Ich glaube, ich schaffe es aus dieser Entfernung«, hörte ich Jay Score sagen, als der Abstand auf zweihundert Schritte zusammengeschrumpft war. Nonchalant und ohne hinzusehen, entsicherte er eine kleine Bombe. Seine Hauptschwäche war, daß er nie ein angemessenes Verhältnis zur Zerstörungskraft der Waffen gewinnen konnte, mit denen er umging. So jonglierte er mit dem dicken Ei in einer Weise herum, daß es mich kalt überlief. Dann holte er mit seinem langen Arm aus und schleuderte das Geschoß in hohem Bogen dem Feind entgegen. Wir warfen uns hin. Die Erde hob und senkte sich unter uns. Riesige Klumpen plasmaartiger Masse und Fetzen grüner Haut flogen mit Dreck und abgerissenen Zweigen durchmischt hoch in die Luft, blieben einen Moment hängen und prasselten in weitem Umkreis herunter. Wir sprangen auf, rannten hundert Meter vorwärts und warfen uns wieder hin, als Jay die zweite Bombe fliegen ließ. Die Druckwelle der Explosion drohte mich vom Boden hochzureißen, und ich krallte mich mit aller Kraft fest. Der Aufruhr war kaum vorüber, da erschien die Pinasse, stieß auf die gegnerischen Reihen herunter und ließ zwei weitere Bomben fallen. Neue furchtbare Detonationen folgten, und mir wurde schlecht, als ich sah, was da hoch über die Baumwipfel hinausgeschleudert wurde. »Jetzt!« schrie Jay. Er warf den gelähmten Jepson über seine Schulter und stampfte los, wir hinterdrein.
Unser erstes Hindernis war ein mächtiger Krater aus rauchender Erde, auf dessen Grund sich verstümmelte gelbe Würmer von Armeslänge wanden. Ich umging den Kraterrand und sprang über ein zwei Meter langes Stück eines zerfetzten Schlangenungeheuers, das noch im Tode furchtbar zuckte. Viele andere Teile wanden sich zwischen diesem und dem nächsten Bombentrichter. Alle waren innen und außen grün und mit vibrierenden langen Fühlerhaaren besetzt, die sich immer noch bewegten, als ob sie das Leben suchten, das sie verlassen hatte. Wir legten die hundert Meter zwischen den Kratern in Rekordzeit zurück. Ich schwitzte wie ein erschöpfter Kampfstier und dankte meinem glücklichen Stern für die niedrige Schwerkraft, die es mir ermöglichte, dieses hektische Tempo durchzuhalten. Wir galoppierten um den zweiten Krater und sahen uns plötzlich dem Feind gegenüber, und danach war alles Konfusion. Ein Busch erwischte mich. Rein irdische Gewohnheit verleitete mich in der Eile dazu, das verdammte Ding trotz jüngster Erfahrungen zu mißachten. Ich wollte vorbeistürmen, als der Busch sich plötzlich einen Schritt zur Seite schob, seine Zweige um meine Beine wickelte und mich zu Fall brachte. Ich segelte auf den Bauch und blieb benommen fluchend liegen. Der Busch besprengte unterdessen meinen Raumanzug mit feinem grauen Pulver. Dann griff ein langer, lederartiger Arm über mich weg, riß den Busch von mir herunter und zerfetzte ihn. »Danke, Sug Farn«, röchelte ich, erhob mich und wankte weiter. Ein zweites Gewächs ging in meinem Feuerstrahl in Flammen auf. Sug nahm einen dritten Busch und schleuderte ihn verächtlich beiseite. Das sonderbare graue Pulver schien ihm nichts anhaben zu können.
Inzwischen hatte Jay einen Vorsprung von dreißig Metern gewonnen. Er machte halt, warf eine Bombe, ließ sich fallen und sprang wieder auf, während die Erdbrocken und Pflanzenteile noch herabprasselten. Zu meiner Rechten schlug ein großer Baum wild um sich und stürzte mit einem gewaltigen Krachen über die Straße. Dann wurde Blaine von einer Schlange gepackt. Wie sie zwischen ihren zerfetzten Kameraden in einem Stück überlebt hatte, war ein Rätsel. Er kreischte in sein Helmmikrophon, dann drückte der Schlangenleib seinen Raumanzug zusammen. Blut spritzte aus dem aufplatzenden Gewebe. Der Anblick erschreckte mich dermaßen, daß ich unwillkürlich stehenblieb. Armstrong rempelte mich von hinten an. »Los, weiter!« brüllte er und gab mir einen heftigen Stoß. Sein Feuerstrahl zerschnitt das grüne Ungetüm in drei oder vier wild sich buckelnde Stücke. Wir rannten weiter. Nun hatten wir die Reihe des halb pflanzlichen, halb tierischen Lebens durchbrochen und stürzten auf die Menge der heulenden Eingeborenen los. Sie erschien mir weniger zahlreich als zuvor. Überall zwischen unseren Füßen zersplitterten die glasigen Kugeln, aber unsere Anzüge schützten uns vor dem Gas. Ich sah, wie Jay einen Grünen einfach niederrannte und weiterstürmte. Unsere Feuerstrahlen töteten sieben oder acht der unzureichend bewaffneten Eingeborenen, dann gaben die übrigen ihren Widerstand auf und flohen in den Wald. Der Weg war frei. Ohne unser mörderisches Tempo zu vermindern, rasten wir bis zum Flußufer. Und dort auf dem breiten Uferstreifen erwartete uns der schönste Anblick im gesamten Kosmos – die Marathon. In diesem glücklichen Augenblick jagte Sug Farn uns einen schlimmen Schreck ein, denn als wir voller Freude zur offenen Luftschleuse sprinteten, überholte er uns, hielt den Stumpf
eines Tentakels in die Höhe und sagte: »Es wäre besser, wenn wir noch nicht gleich hineingingen.« »Warum nicht?« wollte Jay wissen. Seine starren Augen sahen den Stumpf, und er fügte hinzu: »Was ist mit dir?« »Ich war gezwungen, den größten Teil eines Armes abzuwerfen«, sagte Sug Farn im beiläufigen Tonfall eines Mannes, dem der Verlust eines Armes nicht mehr bedeutet als das Ziehen seines Hutes. »Es war das Pulver. Es besteht aus Millionen winziger Insekten. Sie kriechen herum und fressen. Meinen Arm hatten sie angefressen. Schaut euch selbst an.« Bei Gott, er hatte recht! Ich sah an mir herunter und entdeckte, daß das graue Pulver auf meinem Anzug Flecken gebildet hatte, die ihre Form veränderten und sich in das Gewebe einfraßen. Früher oder später würden sie die künstliche Haut durchdringen und mit mir anfangen! Noch nie hatte ich mich so durch und durch elend gefühlt. Ohne den nahen Waldrand aus den Augen zu lassen, mußten wir eine unangenehme und schwitzende Stunde damit verbringen, daß wir einander die Raumanzüge mit den schwach eingestellten Feuerstrahlen unserer Pistolen absengten. Obwohl wir mit niedrigster Energie arbeiteten, fühlte ich mich im Inneren meines Anzugs nahezu gargekocht, als die letzte winzige Laus von mir abfiel. Wilson, der sich keine erniedrigende Situation entgehen ließ, nahm die Gelegenheit wahr und erschien mit seiner Filmkamera, um unsere allgemeine Entlausung für die Zukunft festzuhalten. Ich wußte, daß der Streifen eines Tages einer amüsierten Welt vorgeführt werden würde, Leuten in bequemen Lehnstühlen, weit von Rigel und seinen Gefahren entfernt. Insgeheim hoffte ich, daß einige überlebende Läuse irgendwie mit dem Film zur Erde kämen und dem Spaß eine Kostprobe Realismus verleihen würden.
Zum Nachweis seiner Daseinsberechtigung machte Wilson auch noch Einstellungen vom Wald, vom Fluß und den fremden Booten. Dann kletterten wir dankbar an Bord. Die Pinasse wurde eingeholt, und die Marathon startete ohne weitere Verzögerung. Nie habe ich mich wohler gefühlt als in dem Moment, wo das krankhafte Grün aus unseren Gesichtern verschwand und wunderbares gelbweißes Licht durch die Bullaugen strömte. Zusammen mit Brennand sah ich diese unheimliche fremde Welt versinken, und ich kann nicht sagen, daß ich ihr eine Träne nachweinte. Jay kam vorbei und informierte mich offiziell: »Sergeant, wir machen keine weiteren Landungen. Der Skipper hat sich entschlossen, direkt zur Erde zurückzukehren.« »Warum?« fragte Brennand. Er zeigte hinaus, wo der Planet als kleine trübe Scheibe im All hing. »Wir haben praktisch nichts erreicht, was die Reise gelohnt hätte.« »McNulty ist der Meinung, daß wir genug gelernt haben.« Das Dröhnen der Triebwerke füllte sein kurzes Schweigen aus. »McNulty sagt, er leite eine Forschungsexpedition und kein Schlachthaus. Er hat genug und denkt daran, in Pension zu gehen.« »Und was haben wir nach seiner Ansicht gelernt?« forschte ich. »Nun, wir wissen, daß das Leben auf diesem Planeten hauptsächlich auf Symbiose beruht«, erwiderte Jay. »Die verschiedenen Lebensformen ergänzen einander. Diese Menschenwesen, wenn man sie so nennen kann, hängen in ihrer Existenz von Bäumen ab. Das verbindende Organ ist das chrysanthemenartige Brustgewächs.« »Blutübertragung«, sagte Brennand und schnitt ein Gesicht. »Es gibt höher entwickelte Formen als die Ka«, fuhr Jay fort. »Höhere Wesen als alle anderen, die ihre Bäume verlassen können, sei es bei Tag oder bei Nacht. Sie können ihre Bäume
melken, die lebenserhaltenden Säfte transportieren und sie aus Behältern absorbieren. Sie haben sich zu Herren über die symbiotische Partnerschaft gemacht, die ihnen angeboren ist, und sie allein sind für die Begriffe dieses Planeten frei.« »Die Mächtigen sind gestürzt«, orakelte ich. »Das ist nicht so«, widersprach Jay. »Wir haben uns ihrer Gewalt entzogen und unseren Weg freigekämpft, aber wir haben sie nicht besiegt. Die Welt gehört weiterhin ihnen, ihnen allein. Wir ziehen uns unter Verlusten zurück, und wir müssen noch einen Weg finden, um Jepson zu heilen.« Als er sich zum Gehen wandte, fiel mir etwas ein. »He«, sagte ich, »was ist eigentlich nach dem Angriff auf das Schiff geschehen? Und wie habt ihr uns wiedergefunden?« »Es war ein aussichtsloser Kampf, darum starteten wir, bevor sie das Schiff beschädigen konnten. Danach war es nicht schwierig, euren Verbleib festzustellen. Ihr hattet Sug Farn bei euch. Wir hatten Kli Yang und den Rest seiner Mannschaft.« Er tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Die Marsleute haben viel gamisch.« »Natürlich!« schrie Brennand, vor Zorn errötend. »Sie sind untereinander telepathisch. Ich hatte es ganz vergessen. Sug Farn hat kein Wort davon gesagt. Er schlief bei jeder sich bietenden Gelegenheit, der schielende Polyp.« »Nichtsdestoweniger«, sagte Jay unbewegt, »war er ständig mit seinen Kameraden in Verbindung.« Er entfernte sich durch den Korridor. Dann kam das Alarmsignal, und Brennand und ich klammerten uns in unfreiwilliger Verbrüderung aneinander und an eine Rohrleitung, während das Schiff auf Flettnerantrieb überging. Die grüne Welt verlor sich im unendlichen Kosmos und war nur noch Erinnerung. Wir ließen einander los. Brennand ging zum Luftventil für das Mannschaftsquartier steuerbord, öffnete
es mit dem Handrad und sah befriedigt zu, wie die Luftdruckanzeigenadel von drei auf fünfzehn Pfund stieg. »Die Marsleute sind da drin«, sagte ich. »Das wird ihnen nicht gefallen.« »Ich will auch nicht, daß es ihnen gefällt. Ich werde diese Gummikarikaturen lehren, uns hinzuhalten!« »McNulty wird es auch nicht gefallen.« »Wen kümmert es schon, was McNulty gefällt oder nicht gefällt!« brüllte er. Dann kam McNulty plötzlich um die nächste Ecke. Brennand drehte sich geistesgegenwärtig nach mir um und fügte hinzu: »Du solltest dich schämen, so zu reden. Man muß Respekt vor seinem Skipper haben.« Sehen Sie, sollten Sie je in die Lage kommen, den Weltraum zu bereisen, machen Sie sich um das Schiff nicht allzu viele Sorgen – hüten Sie sich lieber vor den Taugenichtsen, die es mit Ihnen teilen!
Originaltitel: SYMBIOTICA Aus MEN, MARTIANS AND MACHINES Übersetzt von Walter Brumm
H. Beam Piper MINISTERIUM FÜR UNRUHE
Die Symphonie ging zu Ende, und jubelnd erhoben sich die Schlußakkorde bis über die Grenze der Hörbarkeit. Als die letzten Töne verklungen waren, saß Paul noch einen Moment reglos da, als ob ein Teil von ihm mit der Musik davongezogen wäre. Dann stand er auf, stellte seine Kaffeetasse hin und drückte die Zigarette aus. Sein Blick fiel durch das große Fenster auf die Stadt unter ihm – Baumwipfel, Türme, Dächer, Kuppeln und die Wölbung der Flugschneisen mit ihrer Unzahl von Luftfahrzeugen, die im Schein der Morgensonne glitzerten. Es gab heutzutage nicht viele, die sich etwas aus Joaos Coelhos Musik machten, und zu allerletzt aus der Achten Symphonie. Es war Musik aus einer Zeit, die tausend Jahre zurücklag. Damals war nach einer langen, dunklen Periode das Reich entstanden, und die Neobarbaren waren nach und nach von den Planeten vertrieben worden. Die Leute fanden diese Musik heutzutage beunruhigend. Er lächelte matt zu dem freien Stuhl hin, der ihm gegenüberstand, und steckte sich noch eine Zigarette an, ehe er das Frühstücksgeschirr auf das Brett des Servierroboters stellte. Nach einer Weile bemerkte er, daß der Roboter noch neben ihm stand und auf Befehle wartete. Er gab ihm die Anweisung, die Putzroboter zusammenzurufen, und entließ ihn. Er hätte sie auch ohne weiteres selbst zusammenrufen oder dies der Wachmannschaft überlassen können, die den Raum kontrollierte. Aber vielleicht sah der Roboter in der Aufgabe,
andere Roboter anzuweisen, einen Vertrauensbeweis und fühlte sich wichtig. Dann lächelte er wieder, doch diesmal selbstironisch. Ein Roboter konnte sich weder wichtig noch sonst irgendwie fühlen. Ein Roboter bestand aus nichts als Stahl, Plastik, Magnetbändern und fotomikropositronischen Kreisen. Ein Mensch hingegen – zum Beispiel Seine Kaiserliche Majestät Paul XVII. – bestand aus nichts als Gewebe, Kolloiden, Zellen und elektroneuronischen Kreisen. Jedermann wußte, daß es da einen Unterschied gab. Leider hatte er noch nie jemanden getroffen – auch nicht unter Physikern, Biologen, Psychologen, Psionikern, Philosophen und Theologen –, der den Unterschied in hinreichend exakten Ausdrücken erklären konnte. Er beobachtete, wie der Roboter auf seinen Gehwerkzeugen wendete und davonglitt, wobei der Dampf aus der Kaffeetasse hinter ihm herzog. Es mochte albern sein, Roboter wie Lebewesen zu behandeln; aber noch schlimmer war es, Lebewesen wie Roboter zu behandeln –, eine Haltung, die sich immer mehr einbürgerte. Wenn sich nur nicht so viele Menschen wie Roboter aufführen würden! Er ging zum Aufzug hinüber und blieb vor ihm stehen, bis ein winziger Elektroenzephalograph sein Gehirnwellenmuster erkannt hatte. Auf der anderen Seite des Raums öffnete sich eine Tür aufgrund der dem Roboter eigentümlichen Wellenstruktur. Er trat in den Aufzug und drückte einen Knopf – es gab immer noch einige wenige Tätigkeiten, die von Hand ausgeführt werden mußten. Die Tür schloß sich hinter ihm, und für einen Augenblick, als der Aufzug vierzig Stockwerke hinabzugleiten begann, hatte er das Gefühl der Schwerelosigkeit. Als die Tür sich wieder öffnete, wartete schon General Dorflay von der kaiserlichen Garde mit einem Captain und zehn Soldaten auf ihn. General Dorflay war im Gegensatz zum
Captain und den zehn Soldaten humanoid. Ihre Helme schmückte das Wappenzeichen des Reiches, die goldene Sonne mit dem Zahnrad. Sie waren mit roten Röcken, schwarzen Halbstiefeln und Waffengürteln bekleidet. Der Captain trug einen mit Goldlitzen verzierten Umhang um die Schultern. Im übrigen waren ihre Körper mit einem schwarzen dichten Haarkleid bewachsen, und ihre Gesichtszüge glichen denen eines Terriers. (Trotz seiner Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht war Captain Dorflays Gesichtsausdruck eher bulldoggenähnlich.) Sie waren Hügelmänner von der südlichen Halbkugel Thors, die ausgezeichnete Söldnertruppen abgaben. Sie bewährten sich als Scharfschützen, als kühne und geschickte Kämpfer, die an politischen Angelegenheiten außerhalb ihres eigenen Planeten nicht interessiert waren. Da sie in einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft aufgewachsen waren, hielten sie unbedingte Treue gegenüber jedermann, den sie als Anführer anerkannt hatten. Paul trat aus dem Aufzug und begrüßte sie alle mit einem Nicken. »Guten Morgen, meine Herren!« »Guten Morgen, Kaiserliche Majestät«, antwortete General Dorflay, wobei er sich gerade so viele Zentimeter verbeugte, wie es seine militärische Würde zuließ. Der thoranische Captain machte seine Ehrenbezeigung, indem er Stirn, Herz (das sich rechts befand) und den Griff seiner Pistole berührte. Paul lobte das schmucke Aussehen seiner Truppe, und der Captain erwiderte, wie es denn bei dem Vorbild und dem Einfluß Seiner Kaiserlichen Majestät anders sein könne. Lob und Antwort hätten Tonbandaufnahmen des allmorgendlich stattfindenden Zeremoniells seiner zehnjährigen Regierungszeit sein können. Das gleiche galt für Dorflays Frage: »Wollen Majestät sich in den Arbeitsraum begeben?« Er hätte gern geantwortet: »Nein, nach Niffelheim damit; wir wollen uns ein Luftfahrzeug nehmen und eine Million Meilen
fortfliegen, irgendwohin«, und sich an der ungläubigen Bestürzung geweidet, die sich daraufhin im Gesicht des Generals ausgebreitet hätte. Er mußte es sich jedoch verkneifen. Der arme alte Harv Dorflay wäre das Opfer eines Herzschlags geworden. Also nickte er langsam. »Bitte, General.« Doflay nickte dem thoranischen Captain zu, der seinen Männern ein Zeichen gab. Vier von ihnen traten zwei Schritte vor, die übrigen verteilten sich mit schußbereiten Waffen über den Korridor, postierten sich am Wegrand und besetzten die Galerie. Der Captain und zwei seiner Leute setzten sich langsam in Bewegung. Nachdem sie zwanzig Schritte gegangen waren, schlossen sich Paul und General Dorflay ihnen an. Zwei Mann bildeten die Nachhut. »Majestät«, sagte General Dorflay mit leiser Stimme, »ich bitte Sie, äußerst vorsichtig zu sein. Ich habe gerade entdeckt, daß ein hochverräterischer Anschlag auf Ihr Leben geplant ist.« Paul nickte. Dorflay hatte es mehr als nötig, einen weiteren hochverräterischen Anschlag zu entdecken. Seit dem letzten Anschlag waren immerhin schon zehn Tage vergangen. »Ich glaube, Sie haben es schon erwähnt, General. Es handelte sich um freies Strontium 90, das in der Polsterung des Throns versteckt werden sollte, nicht wahr?« Und zuvor hatte jemand versucht, in einem Weinfaß eine Kernbombe in den Palast einzuschmuggeln, und davor war es eine Sprengladung im Aufzug, und davor hatte jemand die Absicht gehabt, in den Bildschirm des Arbeitsraums eine Maschinenpistole einzubauen, und davor – »O nein, Majestät, das war vielmehr – nun, die in das Komplott verwickelten Personen wurden gewarnt und verließen den Planeten, ehe ich sie verhaften konnte. Diesmal handelt es sich um etwas anderes, Majestät. Ich habe erfahren,
daß an einem der Kochroboter in Ihrer Privatküche unerlaubte Änderungen vorgenommen worden sind, und ich bin sicher, daß dies in der Absicht geschah, Euer Majestät zu vergiften.« Sie bogen jetzt in die Galerie ein und gingen zwischen den Portraits der früheren Herrscher weiter. Paul und Rodrik, Paul und Rodrik, so wechselte es von Wand zu Wand. Er fühlte, wie sich ein Lächeln in sein Gesicht stehlen wollte, und riß sich zusammen. »War es nicht der Roboter für Fleischsoßen?« fragte er. »Wie – ja, Majestät.« »Tut mir leid, General, ich hätte sie darauf hinweisen sollen. Diese Änderungen sind von Robot-Spezialisten des Sicherheitsministeriums vorgenommen worden. Sie haben eine entsprechend abgewandelte Vorrichtung eingebaut, wie sie in den Kriminallaboratorien benutzt wird, um dadurch einheitlichere Meßdaten zu erhalten. Sie haben die gleiche Vorrichtung schon für Prinz Travann, den Minister, eingebaut, und er hat sie mir weiterempfohlen.« Mit dieser Blamage war Harv Dorflays Warnung vor einem Mordanschlag hinfällig. Es wäre aber auch ein zu schöner Mordanschlag gewesen, den er gewiß freudig vereitelt hätte. Aber irgendwo mußte man eine Grenze ziehen. Sollte er auf der Suche nach Bomben ruhig den Palast auf den Kopf stellen; sollte er ruhig diensttuende Hofdamen belästigen, deren Kavaliere er als gedungene Meuchelmörder verdächtigte; sollte er ruhig Jagd auf Musiker machen, in deren Instrumente er eingebaute Feuerwaffen vermutete; die kaiserliche Privatküche war tabu. Dorflay, der zwar zerschmettert, aber dennoch erleichtert hätte sein müssen, blieb unvermittelt stehen – was eine schockierende Verletzung der Hofetikette darstellte – und starrte ihn entsetzt an.
»Aber Majestät! Prinz Travann durfte so etwas öffentlich und mit Eurer Erlaubnis tun? Majestät, ich bin davon überzeugt, daß Prinz Travann selbst der Anstifter all dieser teuflischen Anschläge ist. Bei der Sache mit dem Aufzug hatte ich einen Mann namens Sammi Ganner, einen von Prinz Travanns Geheimpolizeiagenten, in Verdacht; bei der Sache mit der Maschinenpistole im Bildschirm war es ein Techniker, dessen Schwester dem Hause der Gräfin Yirzy, Prinz Travanns Mätresse, angehört. Bei der Sache mit der Kernbombe – « Die zwei Thoraner und ihr Captain waren noch ein Stück weiter gegangen, ehe sie bemerkt hatten, daß ihnen niemand mehr folgte, und waren daraufhin umgekehrt. Paul legte die Hand auf General Dorflays Schulter und nötigte ihn zum Weitergehen. »Haben Sie zu irgend jemandem darüber gesprochen?« »Kein Sterbenswörtchen, Majestät. An diesem Hof gibt es so viel Verrat und Tücke, daß ich niemandem trauen kann. Wir dürfen nicht riskieren, daß der Bursche von unserem Verdacht Wind bekommt – « »Gut. Bewahren Sie gegenüber jedermann Stillschweigen.« Sie hatten jetzt die Tür zum Arbeitsraum erreicht. »Wahrscheinlich werde ich bis Mittag hierbleiben. Sollte ich schon vorher weggehen, gebe ich Ihnen Bescheid.« Er betrat den großen ovalen Raum, der von der Decke her durch eine große Sternkarte erleuchtet wurde, und ging zu seinem Schreibtisch hinüber, der von Bild-, Lese- und Kommunikationsschirmen umgeben war. Er setzte sich und verwünschte ärgerlich zuerst General Dorflay und nach kurzer Überlegung sich selbst. Er war derjenige, der sich blamiert hatte: Schließlich war ihm Dorflays Hang zum Verfolgungswahn schon seit Jahren bekannt. Er würde in dieser Angelegenheit etwas unternehmen müssen. Jeder Psychiater würde ihm Dorflays Wahn bestätigen. Es war
überhaupt kein Problem, ihn loszuwerden. Aber er wollte verdammt sein, wenn er so etwas täte. Das war nicht die richtige Art und Weise, Treue zu belohnen, auch wenn es sich um krankhafte Treue handelte. Nun ja, er würde schon einen Weg finden. Er zündete eine Zigarette an, lehnte sich zurück und betrachtete den leuchtenden Schwarm von Milliarden und Abermilliarden winziger Lichter an der Decke. Wenigstens vermutete man, daß es Milliarden waren; er selbst hatte sie noch nie gezählt, ebensowenig wie irgendeiner der siebzehn Rodriks und sechzehn Pauls, die schon vor ihm diese Decke betrachtet hatten. Seine Hand glitt zu einem Knopf unter seiner Armlehne, und eine rote Fläche, deren Form einem Schweinekotelett ähnelte, erschien auf der Westseite. Das war das Reich. Zu ihm gehörten dreitausendeinhundertfünfundsechzig bewohnte Welten, anderthalb Billionen vernunftbegabte Lebewesen und vierzehn Rassen – fünfzehn, wenn man die Zarathustra-Filzhaare mitzählen wollte, die man fast zur Klasse der »Sprache-undFeuer-Besitzenden« rechnen konnte. So hatte das Reich ausgesehen, als Rodrik VI. die Karte nach ihrer Fertigstellung betrachtet hatte, als Paul II. den Palast erbaut hatte und als Stevan IV. der Großvater von Paul L, Odin zum Hauptplaneten des Reichs und Asgard zur Hauptstadt erklärt hatte. Es gab so etwas wie eine Entschuldigung dafür, daß der rote Fleck sich seitdem nicht verändert hatte; ein neu errichtetes Imperium muß zuerst für seine innere Festigkeit sorgen, bevor es sich gefahrlos ausdehnen kann. Aber dieser Zustand dauerte nun schon über achthundert Jahre an. Er warf einen Blick auf das wundervoll geprägte Tagesprogramm, das säuberlich unter die Glasplatte seines Schreibtisches gelegt worden war. Mittagessen mit dem Premierminister und den Reichsräten auf den oberen südlichen
Terrassen. Ja, es war wieder mal soweit. Dieses Ereignis fand so regelmäßig und unausweichlich statt wie Harv Dorflays Mordanschläge. Und am Nachmittag eine Plenarsitzung mit Kabinett und Reichsräten. Mußte er den Reichsrat heute gleich zweimal ertragen? Dann wich der Ärger aus seinen Zügen und machte einem strahlenden Lächeln Platz. Reichsrat – das war die Lösung! Man mußte Harv Dorflay einfach in den Stand eines Reichsrats erheben. Dazu war die Einrichtung des Reichsrats schließlich da, ein vergoldeter Abfalleimer zur Beseitigung überalterter Würdenträger. Dort konnte er keinen Schaden anrichten, und eine Spur rechtschaffenen Wahnsinns mochte sich für den Reichsrat sogar belebend und vorteilhaft auswirken. Und am Abend gab es ein Bankett, einen Empfang und einen Ball zu Ehren seiner Majestät Ranulf XIV. Planetenkönig von Durendal, und des Ersten Bürgers Zhorzh Yaggo, Volksverwalter der Planetenvereinigung von Aditya. Handelstag; ein Tag, an dem mit zwei Planetenchefs von Rang Abkommen zu schließen waren. Er fragte sich, um was es diesmal ging, und schloß die Augen bei dem Versuch, sich zu erinnern. Natürlich, Durendal war eine dieser Schwert-Welten, die von Flüchtigen der Verliererseite des großen galaktischen Krieges zur Zeit der alten terranischen Föderation besiedelt worden waren. Die Siedler hatten einige Jahrhunderte später als Raumwikinger in die Geschichte der Galaxis eingegriffen. Diese Planeten besaßen sämtlich monarchistische und pittoreske Regierungsformen. Auf Durendal, glaubte er sich zu erinnern, herrschte eine Art Feudalismus. Was Aditya anbetraf, war er nicht so ganz sicher. Wahrscheinlich irgend etwas Unerfreuliches. Die Bezeichnung der Regierung und der Titel ihres Vorsitzenden wiesen darauf hin. Er steckte sich noch eine Zigarette an und ließ den Leseschirm aufleuchten, um zu sehen, was man heute morgen
für ihn vorbereitet hatte. Er fluchte, als eine graphische Tabelle mit auf- und absteigenden roten, blauen und grünen Linien erschien. Auch noch Tabellentag. Immer kam alles zusammen. Es war eine Graphik über die interstellare wirtschaftliche Situation. Die rote Linie bedeutete Produktion, die grüne Export, die blaue Import, vertikal aufgeteilt nach Vizekönigtümern und mit Unterteilungen für die Präfekturen. Mit Hilfe der Vergrößerung und der Einzelkontrolle konnte er sogar Datenmaterial für die einzelnen Planeten ersehen. Aber das ließ ihn kalt, und er fragte sich, warum er sich denn überhaupt mit den Tabellen befaßte. Das Material hinkte dem neuesten Stand wenigstens zwanzig Tage hinterher. Außerdem war die Verspätung nicht für alle Daten die gleiche, ein Umstand, der für das Auf und Ab der Linien verantwortlich war. Die Zahlen waren vom planetarischen Prokonsulat der Präfektur gemeldet worden, von der Präfektur zum Vizekönigtum und von dort nach Odin weitergeleitet worden – alles auf dem Schiffsweg. Ein Schiff mit Hyperantrieb konnte in einer Stunde mehrere Lichtjahre zurücklegen; Radiowellen erreichten jedoch keine höhere Geschwindigkeit als 300000 Kilometer pro Sekunde. Die Ergänzungskarten für die letzten fünf Jahrhunderte zeigten die Wahrheit – drei vollkommen ebene und parallele Linien. Alle anderen Tabellen boten dasselbe Bild. Eine Bevölkerungsziffer, die im Augenblick leicht schwankte und während der letzten fünf Jahrhunderte unverändert geblieben war. Ein geringer Rückgang der Landwirtschaft, der mit einer steigenden Produktion synthetischer Lebensmittel Hand in Hand ging. Eine Tendenz zur Übersiedlung auf städtisch organisierte Planeten und in die dichter bewohnten Zentren. Eine Abnahme der Beschäftigungsziffer – die nichtarbeitende Bevölkerung wuchs jährlich um etwa 0,001 Prozent an. Nicht etwa, daß bessere Roboter gebaut würden; sie wurden lediglich
schneller gebaut als verbraucht. Alle Tabellen besagten dasselbe – stabile wirtschaftliche Verhältnisse, eine gleichbleibende Bevölkerungsziffer und ein friedliches, ungestörtes Reich. Fünf bis acht Jahrhunderte geschichtlicher Ruhe. Nun, das war doch genau das, was sich jeder wünschte, nicht wahr? Er blätterte rasch die übrigen graphischen Darstellungen durch und kam jetzt zu den Kurzberichten der Ministerien. Das Wirtschaftsministerium hatte ein Gesuch des Bergwerkskartells um Schürfrechte auf einigen unbewohnten Planeten abgelehnt, weil es dadurch zu einer Marktüberschwemmung und Überproduktion kommen könne. Einem Gesuch des Roboterkartells war stattgegeben worden. Ferner lag ein Gesuch der Planetenregierung von Durendal betreffend die Steigerung der Getreideexportrate vor. Man hatte doch hoffentlich nicht die Absicht, es abzulehnen, solange König Ranulf hier zu Besuch weilte. Einem plötzlichen Einfall folgend, drückte er einige Tasten des Kommunikationsschirms und war sofort mit Graf Duklass, dem Wirtschaftsminister, verbunden. Graf Duklass hatte dünnes rotes Haar und ein breites, liebenswürdiges Gesicht. Er lächelte und wartete darauf, angesprochen zu werden. »Tut mir leid, Euer Lordschaft zu belästigen«, begrüßte ihn Paul. »Was für eine Bewandtnis hat es mit dem Gesuch Durendals wegen der Exportrate? Wir haben den König jetzt bei uns. Vermutlich ist er gekommen, um sich für seine Sache einzusetzen?« Graf Duklass lächelte. »Er selbst wird keinen Finger rühren. Haben Sie ihn schon getroffen, Majestät?« »Noch nicht. Die Audienz findet heute abend statt.« »Nun, wenn Sie ihn zu“ Gesicht bekommen – sofern das männliche Fürwort ›ihn‹ angebracht ist – werden Sie sehen,
was ich meine. Dieser Lord Koreff, der Marschall, das ist unser eigentlicher Verhandlungspartner. Er ist geschäftlich hier und mußte den König mitnehmen, damit ihn in der Zwischenzeit niemand entführt. Soviel ich verstanden habe, geht es in der Politik Durendals vor allem darum, der Person des Königs habhaft zu werden. Ich habe eine halbe Stunde lang mit Koreff über den Bildschirm konferiert und bin ihn gerade erst los geworden. Der Planet besitzt eine ausgesprochen landwirtschaftliche Struktur. Die vergangenen Jahre haben sehr gute Ernteerträge gebracht. Das Getreide quillt ihnen zu den Ohren hinaus, und deshalb wollen sie gegen Barzahlung exportieren.« »Und?« »Wir können das nicht zulassen, Majestät. Sie sind in keiner Notlage. Sie machen nur nicht so viel Gewinn, wie sie es gern wollten. Wenn sie ihren Überfluß auf den interstellaren Markt werfen, dann bringen sie dadurch die Wirtschaft auf anderen landwirtschaftlich strukturierten Planeten durcheinander. Zumindest haben die Computer das gesagt.« Und deren Aussage hatte natürlich den Rang eines Evangeliums. Paul nickte. »Warum wandeln sie ihren Überfluß nicht in Whisky um? In fünf oder sechs Jahren taucht er dann in den Tabellen für Luxuserzeugnisse auf, und sie können ihn überall hin verkaufen.« Graf Duklass blickte überrascht auf. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht, Majestät. Nur eine Mikrosekunde; ich will es mir schnell notieren und dann an die zuständigen Stellen weiterleiten. Das ist eine großartige Idee, Majestät.« Schließlich beendete Paul die Unterredung und wandte sich wieder den Berichten zu. Das Sicherheitsministerium hatte wie gewöhnlich einiges zu bieten, das über der Ebene bürokratischen Kleinkrams stand. Der Planetenkönig von
Excalibur war von seinem Bruder und zweien seiner Neffen ermordet worden, und alle drei bekämpften sich jetzt gegenseitig. Da keiner von ihnen über mehr als Kleinwaffen und einige Lichtkanonen verfügte, würde sich eine Intervention erübrigen. Auf Behemoth war es jedoch erforderlich gewesen einzuschreiten. Dort hatte ein ganzer Kontinent versucht, sich aus der planetarischen Republik abzusondern, und die Raumflotte des Reiches war um Entsendung einer Spezialeinheit gebeten worden. Beide Entscheidungen gingen in Ordnung. In Angelegenheiten, die Sache der Planetenregierung waren, sollte nicht eingegriffen werden. Aber auf jedem Planeten durfte nur eine einzige Macht über Atomwaffen verfügen, und nur eine einzige übergeordnete Macht in der Galaxis durfte Schiffe mit Hyperantrieb besitzen. Ferner gab es auf Amaterasu einen Aufruhr, dessen Anlaß der Volkszorn über eine betrügerische Wahl war. Er las die Nachricht mit ungläubiger Freude. Hier auf Odin hatte es seit sechs Jahrhunderten keine Wahl gegeben, die nicht durch und durch betrügerisch gewesen wäre. Nur die nichtarbeitende Schicht war wahlberechtigt. An einem Wahltag war im Umkreis von hundert Metern um ein Wahllokal kein anständiger Mensch zu finden. Die Stimmen wurden gekauft und von Gangsterbossen en gros an Interessengruppen weiterverschachert. Paul rief den Sicherheitsminister an. Prinz Travann war in seinem Alter – sie hatten zusammen die Universität besucht –, aber er sah älter aus. Sein schmales Gesicht war durchfurcht und sein Haar vollkommen weiß. Er saß an seinem Pult, und auf der Wand hinter ihm leuchtete die Reichssonne mit dem Zahnrad. Auf der Vorderseite seines schwarzen Umhangs trug er sein Familienwappen, einen Silberplaneten mit drei Silbermonden. Er wartete nicht wie Lord Duklass, bis er angesprochen wurde.
»Guten Morgen, Majestät.« »Guten Morgen, Hoheit. Es tut mir leid, Sie zu stören. Ich bin in Ihrem Bericht auf eine interessante Sache gestoßen. Ich meine die Vorgänge auf Amaterasu. Was ist das, politisch gesehen, für ein Planet? Ich kann mich nicht entsinnen.« »Sie besitzen eine republikanische Regierung. Der Aufbau ist sehr kompliziert. Man könnte das Ganze am ehesten mit einer Rumpelkammer vergleichen. Wenn irgend etwas nicht klappt, dann bereichern sie die Regierungsform um eine neue Variante, ohne dafür die herkömmliche Regelung aufzugeben. Es gibt einen Präsidenten, einen Premier, ein Exekutivkabinett, eine Gesetzgebung im Dreikammerverfahren und zwei komplette und gesonderte Gerichtsbarkeiten. Premier wird jeweils derjenige Präsidentschaftskandidat, der die zweithöchste Stimmenzahl erhalten hat. Im vorliegenden Fall beschuldigt der Präsident, der das Militär kontrolliert, den Premier, der die Polizeikräfte kontrolliert, des Betrugs bei den Wahlen zum Mittelhaus der gesetzgebenden Gewalt. Jeder von beiden wird durch die Gerichtsbarkeit unterstützt, die er kontrolliert. Praktisch jeder Bürger gehört entweder den Hilfstruppen des Militärs oder der Polizei an. Ich warte auf weitere Berichte von Amaterasu«, fügte er trocken hinzu. »Ich glaube, das wird noch interessant. Senden Sie mir die Berichte ungekürzt und kreuzen Sie sie bitte an, Prinz Travann.« Er wandte sich wieder den Berichten zu. Der des Ministers für Wissenschaft und Technik war besonders lang ausgefallen. Er hatte nur den Fehler, daß alles eine Neuauflage der schon Jahrhunderte zuvor geleisteten Arbeit war. Nein, doch nicht ganz. Ein Dr. Dandrik von der physikalischen Fakultät der Reichsuniversität hier in Asgard führte aus, daß eine endgültige Genauigkeitsgrenze bei der Geschwindigkeitsbemessung beschleunigter subatomarer
Partikel festgestellt worden sei. Die Grenze lag bei der 16,067543333fachen Lichtgeschwindigkeit. Das schien ihm typisch zu sein. Die Grenzen der Wissenschaft drückten sich heutzutage in Dezimalwerten aus. Der Erziehungsminister hatte wenigstens eine Kleinigkeit zu bieten. Paul las gerade über einen neuen Fund von Quellenmaterial, das auf Uller ans Tageslicht gekommen war und aus dem sechsten Jahrhundert des Atomzeitalters stammte, als der Bildschirm für die Tür summte und blinkte. Er schaltete ihn ein und erblickte seinen Sohn Rodrik mit Snook, dem kleinen roten Hund, der sich aufgeregt in den Armen des Kronprinzen hin- und herwand. Im gleichen Augenblick begann der Hund zu bellen, und der Junge rief durch den Lautsprecher: »Guten Morgen, Vater! Hast du gerade zu tun?« »Ach, überhaupt nicht.« Er drückte auf den Türöffner. »Komm rein!« Sofort sprang der kleine Hund aus den Armen des Prinzen, flitzte in das Arbeitszimmer, rannte um den Schreibtisch und sprang auf seinen Schoß. Der Junge kam etwas langsamer hinterher, setzte sich auf einen Stuhl und zog die Beine hoch. Paul begrüßte Snook zuerst – denn Menschen können warten, aber kleine Hunde wollen, daß alles sofort getan wird – und kramte in einer Schublade, bis er einige Waffeln fand, die er Snook hinhielt. Dann bemerkte er, daß sein Sohn kurze Lederhosen und derbe Halbstiefel anhatte. »Gehst du fort?« fragte er mit einer Spur von Neid. »Zu einem Picknick in die Berge. Olva kommt auch mit.« Mit von der Partie waren auch sein Hauslehrer, sein Schildknappe, Olvas Gespielin und natürlich ein Dutzend Soldaten. Sie würden mit dem Palast in ständiger Bildverbindung stehen.
»Das wird bestimmt sehr lustig werden. Hast du alle Hausaufgaben gemacht?« »Physik, Mathematik und Galaktographie«, antwortete Rodrik. »Nach dem Essen haben Olva und ich Geschichtsunterricht bei Professor Guilsan.« Sie unterhielten sich über den Unterricht und über das Picknick. Natürlich kam auch Snook mit. Es war jedoch offensichtlich, daß Rodrik noch etwas auf dem Herzen hatte. Nach einer Weile rückte er damit heraus. »Vater, du weißt, daß ich in letzter Zeit etwas besorgt war«, sagte er. »Erzähl mir’s. Ist es vielleicht etwas mit dir und Olva?« Rod war vierzehn, und die kleine Prinzessin Olva dreizehn Jahre alt. In sechs Jahren würden sie in heiratsfähigem Alter sein. Soweit man es beurteilen konnte, waren beide ganz glücklich über die Hochzeit, die schon vor Jahren für sie arrangiert worden war. »Ach nein, damit hat es nichts zu tun. Aber Olvas Schwester und einige ihrer Hofdamen waren bei einem Psi-Medium, und das hat ihnen gesagt, daß Veränderungen bevorstünden. Große und erschreckende Veränderungen – so hat sie gesagt.« »Hat sie sich nicht genauer ausgedrückt?« »Nein. Genau so: Große und erschreckende Veränderungen. Aber die einzige Veränderung, die ich mir vorstellen kann, wäre… daß dir etwas zustößt.« Snook hatte drei Waffeln verzehrt und versuchte nun, Pauls Ohr zu lecken. Er holte den kleinen Hund auf den Schoß zurück und streichelte ihn sanft mit der linken Hand. »Du mußt nicht auf das Geschwätz der Medien hören, mein Sohn. Diese Psi-Medien besitzen tatsächlich Kräfte, aber sie können sie nicht an- und abstellen wie einen Wasserhahn. Wenn sie keinen Erfolg haben, geben sie es nicht gern zu und
erfinden irgend etwas. Immer sind es Allgemeinplätze wie dieser, und nie etwas Genaues.« »Das weiß ich alles.« Der Junge schien beleidigt zu sein, als hätte ihm jemand zu erklären versucht, daß ihn nicht der Storch gebracht hatte. »Aber sie haben einigen Freunden davon erzählt, und anscheinend sagen andere Medien dasselbe. Erinnerst du dich noch, wie der Haval-Tal-Reaktor in die Luft geflogen ist? Auf ganz Odin haben die Medien schon einen Monat zuvor von einem schrecklichen Unglück gesprochen.« »Ich erinnere mich daran.« Nach Harv Dorflays Ansicht hatte jemand irrigerweise angenommen, daß der Kaiser an diesem Tag die Anlage besichtigen würde. »Diese großen und erschreckenden Veränderungen werden sich wahrscheinlich als eine neue Richtung auf dem Gebiet der abstrakten Bildhauerei herausstellen. Die Leute lassen sich durch jede Veränderung erschrecken.« Nachdem sie sich noch eine Weile über Medien unterhalten hatten, sprachen sie über Luftfahrzeuge, Rennveranstaltungen und über das Wettfliegen um den Kaiserpokal, das in einem Monat stattfinden sollte. Der Kommunikationsschirm begann zu summen und zu blinken, und nachdem er ihn zum dritten Mal mit dem Knopf »Konferenz, nicht stören« zum Schweigen gebracht hatte, meinte Rodrik, es sei jetzt Zeit für ihn zu gehen. Er ging um den Schreibtisch herum, hob Snook auf und verließ den Raum mit der Versicherung, daß er zum Bankett rechtzeitig zurück sein werde.
Der Anrufer war Prinz Ganzay, der Premierminister. Nach seiner Miene zu schließen, litt er unter leichtem Zahnweh, aber das war sein üblicher Gesichtsausdruck. »Bedaure, Eure Majestät zu stören. Es handelt sich um diese Staatsoberhäupter. Der Kammerherr Graf Gadvan hat sich an
mich gewandt, und ich glaube, ich sollte Ihre Entscheidung einholen. Es geht um die Reihenfolge.« »Nun, wir haben feste Regeln. Wer ist als erster angekommen?« »Der Staatschef von Aditya, aber anscheinend besteht König Ranulf oder vielmehr sein Lordmarschall darauf, daß er den Vortritt hat. Dieser Lord Koreff bleibt hartnäckig dabei, daß sein König nicht die Absicht habe, einem gewöhnlichen Sterblichen den Vortritt zu lassen.« »Dann kann er meinetwegen wieder nach Durendal zurückgehen.« Paul spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Alle kleinen Unverträglichkeiten dieses Morgens konzentrierten sich auf einen einzigen Punkt. Er zwang sich dazu, den ärgerlichen Tonfall aus seiner Stimme zu verbannen. »Nach der Hofetikette muß zwangsläufig jemand als erster drankommen, und bei uns geht es nach der Reihenfolge der Ankunft im Palast. Diese Regelung ist eingeführt worden, damit das Prinzip der Gleichwertigkeit aller zivilisierten Rassen und aller planetarischen Regierungen gewahrt bleibt. Wir werden weder für den König von Durendal noch für sonst jemand eine Extrawurst braten.« Prinz Ganzay nickte. Sein Zahnweh schien etwas nachgelassen zu haben, nachdem ihm die Last der Entscheidung abgenommen worden war. »Selbstverständlich, Majestät.« Er lächelte ein wenig. »Doch sollten wir nicht einen Kompromiß machen und abwechselnd dem einen und dem anderen den Vortritt lassen?« »Nur wenn der Erste Bürger Yaggo einverstanden ist. In diesem Falle wäre es eine gute Idee.« »Ich werde mit ihm reden, Majestät.« Das Zahnweh war wieder da. »Noch etwas, Majestät. Beide Herrscher sind eingeladen, heute nachmittag der Plenarsitzung beizuwohnen.«
»Nun, das ist kein Problem. Sie können zu verschiedenen Türen hereinkommen und in Besucherlogen an den gegenüberliegenden Enden der Halle Platz nehmen.« »Nun, Majestät, ich meinte jetzt nicht die Frage des Vortritts. Bei dieser Sitzung finden Ministerwahlen statt – es geht um die Nachfolge des verstorbenen Verteidigungsministers Prinz Havaly und des Ministers für Wissenschaft und Technik, Graf Frask, der in den Stand eines Reichsrats erhoben worden ist. Unter den Ministern und Räten scheinen Meinungsverschiedenheiten zu herrschen. Es ist gut möglich, daß die Sitzung in einen offenen Streit ausartet.« »Schrecklich«, sagte Paul. »Ich glaube jedoch, daß unsere hohen Gäste den Eindruck mitnehmen werden, daß das Reich wegen einiger Meinungsverschiedenheiten nicht gleich untergeht, auch dann nicht, wenn diese öffentlich ausgetragen werden. Aber wenn Sie glauben, daß die Debatte eine nachteilige Wirkung haben könnte, warum verschieben Sie dann nicht einfach die Wahl?« »Nun – sie ist schon dreimal verschoben worden, Majestät.« »Verschieben Sie sie für immer. Schreiben Sie die Posten des Verteidigungsministers und des Ministers für Wissenschaft und Technik für Roboter aus. Wenn sich diese Maßnahme bewähren sollte, können wir unter Umständen einen Roboter zum Kaiser ernennen.« Die Lästerung ließ den Premierminister tatsächlich zusammenzucken und erbleichen. »Majestät belieben zu scherzen«, sagte er fragend, als ob er dafür die ausdrückliche Bestätigung brauche. »Leider ja. Wenn meine Arbeit robotisiert werden könnte, dann wäre es mir endlich mal möglich, Frau, Sohn und Hund zu nehmen und eine Zeitlang angeln zu gehen.« Aber das ging natürlich nicht. Es gab nur zwei Alternativen: das Reich oder die galaktische Anarchie. Die Galaxis war für
die Durchführung allgemeiner Wahlen zu groß. Es mußte einen obersten Herrscher geben und eine genau festgelegte und automatische Nachfolgeregelung – nämlich Erbfolge. »Wessen Meinung scheint sich von wessen Meinung zu unterscheiden und in welchen Punkten?« fragte er. »Nun, Graf Duklass und Graf Tammsan wollen das Ministerium für Wissenschaft und Technik abgeschafft und dessen Aufgabenbereiche und Personalkörper voneinander getrennt wissen. Graf Duklass möchte den Bereich Technik in sein Wirtschaftsministerium eingliedern, und Graf Tammsan will den Bereich Wissenschaft dem Erziehungsministerium unterstellen. Der Vorschlag soll bei dieser Sitzung von Lord Guilfred, dem Gesundheitsminister, ausgehen. Er erhofft sich für sein Ministerium einige der biound psychowissenschaftlichen Teilbereiche.« »Das geht in Ordnung. Duklass bekommt das Fell, Tammsan Kopf und Hörner, und jeder, der mit ihnen auf die Jagd geht, erhält ein Stück Fleisch. Das ist gutes altes Jagdrecht. Ich selbst bin übrigens nicht einverstanden. Prinz Ganzay, ich möchte, daß Sie bei dieser Sitzung General Dorflay für den Reichsrat nominieren. Ich glaube, es ist Zeit, ihn durch eine Beförderung zu ehren.« »General Dorflay? Aber warum denn, Majestät?« »Große Galaxis, können Sie sich das nicht denken? Weil der Mann ein rasender Irrer ist. Man dürfte ihm nicht einmal ein Seitengewehr anvertrauen, geschweige denn fünf Kompanien bewaffneter Soldaten. Wissen Sie, was er heute morgen zu mir gesagt hat?« »Wahrscheinlich, daß jemand einen Sumpfwurm von Nidhog dazu ausbildet, den Oktagonturm hinaufzukriechen und Sie beim Frühstück zu beißen. Aber geht das nicht schon eine ganze Weile so, Majestät?«
»Es ging um eine technische Verbesserung bei den Küchenrobotern, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Er hat mir schließlich die treibende Kraft verraten, die hinter all den Anschlägen steckt. Und wer, glauben Sie, soll es sein? Yorn Travann!« Das Gesicht des Premierministers wurde noch ernster als gewöhnlich. Er sah offenbar Grund zur Besorgnis. »Majestät, ich stimme in der Beurteilung von General Dorflays Geisteszustand völlig mit Ihnen überein. Aber ich muß sagen, daß er, ob verrückt oder nicht, mit seinem Mißtrauen gegenüber Prinz Travann nicht allein steht. Und ich gehöre zur Schar derer, die dieses Mißtrauen teilen – auch wenn man mich deshalb zu den Verrückten zählen sollte.« Paul hob erstaunt die Augenbrauen. »Das ist zu viel und gleichzeitig zu wenig, Prinz Ganzay«, sagte er. »Mit Ihrer Erlaubnis will ich es näher ausführen. Nicht etwa, daß ich Prinz Travann irgendwelcher Narrenstreiche mit Aufzügen, Bildschirmen oder Kochrobotern für fähig hielte«, beeilte sich der Premierminister zu versichern. »Aber ich verdächtige ihn ernsthaft hochverräterischer Absichten. Vermutlich weiß Euer Majestät, daß er seit Jahrhunderten der erste Sicherheitsminister ist, der die Kontrolle der planetarischen und der städtischen Polizeikräfte persönlich übernommen hat, anstatt seine Amtsgewalt zu delegieren. Es dürfte Euer Majestät jedoch nicht bekannt sein, welchen seltsamen Gebrauch er von dieser Machtposition gemacht hat. Weiß Euer Majestät, daß er die Sicherheitstruppen auf mindestens die zehnfache Stärke aufgestockt hat, die zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung auf diesem Planeten nötig wäre? Und daß er riesige Mengen schwerer Kriegsausrüstung gehortet hat – Kanonen bis zu zweihundert Millimeter, schwere Gravitationswaffen, ja sogar Kanonenboote und Raketenschiffe? Weiß Euer Majestät, daß
der größte Teil dieses Waffenarsenals im Umkreis von fünfzehn Minuten um den Palast massiert ist? Oder daß der Prinz gemessen an Kopfzahl und Feuerkraft über die zweieinhalbfache Stärke der auf diesem Planeten stationierten vereinigten planetarischen und Reichsstreitkräfte verfügt?« »Das ist mir bekannt. Es hat meine Billigung. Er versucht, einige junge Leute der nichtarbeitenden Schicht auf Vordermann zu bringen, indem er sie militärischer Disziplin unterwirft. Und wie ich glaube, hat ein großer Teil von ihnen nach der Abmusterung den Planeten verlassen und sich als Söldner verdungen, was eine weit bessere Beschäftigung ist, als Stimmen zu verkaufen.« »Das ist eine vollkommen einleuchtende Erklärung. Prinz Travanns Erklärungen sind immer einleuchtend«, stimmte der Minister zu. »Und weiß Euer Majestät auch, daß die Reichsflotte aufgrund wiederholter Bitten des Sicherheitsministers um Amtshilfe über das gesamte Reich verstreut ist und daß sich im Umkreis von Fünfhundert Lichtjahren um Odin kein einziges Flottenschiff befindet, das größer als ein Aufklärungsboot ist?« Das war absolut richtig. Paul konnte nur zustimmend nicken. Prinz Ganzay fuhr fort: »In seiner Eigenschaft als Polizeichef von Asgard hat er auch ein merkwürdiges Verhalten gezeigt. Da gibt es zum Beispiel zwei mächtige Bosse, die Wahlstimmenblocks der nichtarbeitenden Schicht kontrollieren, nämlich Big Moogie Blisko und Zikko die Nase. Ich versichere Euer Majestät, daß diese Namen nicht meiner Phantasie entsprungen sind. Diese Männer heißen wirklich so. Sie genießen die Gunst und Unterstützung von Prinz Travann. Schon oft sind ihre weniger mächtigen Rivalen, Anführer kleinerer Banden, aus zuweilen nichtigen Gründen festgenommen und in Isolierhaft gehalten worden, damit Moogie oder Zikko in deren Territorium
vordringen und sich deren nichtarbeitende Gefolgschaft einverleiben konnten. Diese zwei Bosse werden nach außen hin durch das Stahl- und Schiffsbaukartell und durch die Union für nukleare und chemische Produkte subventioniert – aber in Wirklichkeit kontrolliert sie Travann. Sie wiederum kontrollieren zusammen etwa siebzig Prozent der nichtarbeitenden Schicht in Asgard.« »Und Sie glauben, daß das alles auf einen Staatsstreich hinausläuft?« »Auf einen Anschlag zur Eroberung des Throns, Majestät!« »Jetzt machen Sie aber einen Punkt, Prinz Ganzay. Sie reden ja schon wie Dorflay!« »Bitte hören Sie mich zu Ende an, Majestät. Seine Kaiserliche Hoheit ist vierzehn Jahre alt; es dauert noch elf Jahre, bis er nach dem Gesetz die kaiserliche Gewalt ausüben kann. Wenn der schreckliche Fall eintritt, daß Sie unverhofft sterben, dann muß für diese Zeitspanne ein Regent eingesetzt werden. Natürlich wären Ihre Minister und Ratsherren diejenigen, die den Regenten bestimmen. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich mit den Bajonetten der Sicherheitstruppen an der Kehle entscheiden würden. Und eine Regentschaft müßte nicht das Ende von Prinz Travanns Absichten bedeuten.« »Sehr einleuchtend, Prinz Ganzay, um mit Ihren Worten zu reden. Das Ganze beruht jedoch auf einer sehr fragwürdigen Voraussetzung – nämlich auf der Annahme, daß Prinz Travann dumm genug ist, den Thron zu wollen.« Er beendete das Gespräch und schaltete den Schirm aus. Das schwindende Bild zeigte Viktor Ganzay, der in ungläubigem Staunen ins Leere starrte. Viktor Ganzay konnte sich nicht vorstellen, daß irgend jemand den Thron nicht haben wollte, nicht einmal der Mann, der darauf saß.
Paul saß eine Weile da und betrachtete besorgt den dunkel gewordenen Schirm. Viktor Ganzay verfügte über einen weit besseren Nachrichtendienst, als er geglaubt hatte. Er fragte sich, was Ganzay noch alles herausgefunden hatte, ohne es zu erwähnen. Dann wandte er sich wieder den Berichten zu. Er war bis zu dem des Ministeriums für schöne Künste durchgedrungen, als der Kommunikationsschirm erneut seine Aufmerksamkeit verlangte. Als er auf den Knopf drückte, erschien das lächelnde Gesicht einer Frau. Sie trug einen Morgenmantel, und ihr blondes Haar war zerwühlt. Ihr Lächeln verstärkte sich, als sie sein Gesicht auf dem Bildschirm erkannte. »Hallo«, begrüßte sie ihn. »Auch hallo! Bist du gerade aufgestanden?« Sie hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. »Ich wette, daß du schon seit Stunden auf den Beinen bist und regierst. Waren Rod und Snook schon bei dir?« Er nickte. »Gerade sind sie wieder gegangen. Rod geht mit Olva zu einem Picknick in die Berge.« Wie lange war es her, seit er und Marris bei einem Picknick mit weniger als fünfzig Leibwächtern und ebenso vielen Höflingen gewesen waren? »Mußt du heute nachmittag viel regieren?« Sie verzog das Gesicht. »Blumenfeste. Ich muß persönlich in dreidimensionalen Live-Sendungen Botschaften für die Liebenden aussprechen. Jeweils drei Minuten lang mit einer Pause von zwei Minuten dazwischen. Heute nachmittag muß ich vierzig Auftritte hinter mich bringen.« »Uff! Also, laß es dir gut gehen, Liebling. Ich muß lediglich mit dem Reichsrat zu Mittag essen und die Plenarsitzung über mich ergehen lassen.« Er erzählte ihr von Ganzays Angst, daß es zu einer offenen Auseinandersetzung kommen könne. »Oh, schön! Vielleicht raufen sie sich gegenseitig die Bärte oder so etwas. Ich komme auch hin.«
Vor ihm leuchtete der Rufanzeiger mit dem Code des Sicherheitsministers auf. »Wir können nur das beste hoffen. Gerade versucht mich Yorn Travann zu erreichen.« »Laß ihn nicht länger warten. Vielleicht sehen wir uns noch vor der Sitzung.« Sie formte die Lippen zu einem Kuß und schaltete ab. Er stellte den Schirm wieder an, und das Bild von Prinz Travan erschien. Der Sicherheitsminister hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Majestät, gerade hat uns ein Bericht erreicht, wonach es auf der Universität zu ernsten Tumulten gekommen sein soll. Fünf- bis zehntausend Studenten versuchen, das Verwaltungszentrum zu stürmen. Sie werfen mit Stinkbomben und drohen damit, Kanzler Khane aufzuhängen. Sie haben die Universitätspolizei bereits überwältigt und entwaffnet. Ich habe daraufhin zwei Brigaden der Aufruhrpolizei entsandt, die unter der Führung eines Offiziers stehen, der eine feste Hand hat und zudem noch intelligent ist. Wir wünschen keinen wahllosen Einsatz von Knüppeln, Tränengas oder Schußwaffen. Es kann jedem passieren, daß der eigene Sohn oder die eigene Tochter in einen Studententumult verwickelt ist.« »Ja. Ich glaube mich an Studententumulte zu erinnern, in die die Söhne der verstorbenen Hoheit Prinz Travann und der verstorbenen Majestät Rodrik XXI. verwickelt waren.« Nach einer Weile der Überlegung fügte er hinzu: »Dies hier sieht jedoch nicht nach einer Auseinandersetzung zwischen Studentenverbindungen oder ähnlichem aus. Wodurch wurden die Tumulte ausgelöst?« »Soviel ich einem ziemlich hysterischen Hilferuf Khanes entnehmen konnte, protestierten sie gegen eine von ihm vorgenommene Entlassung eines Mitglieds der Fakultät. Ich
habe einige Geheimagenten an der Universität und werde versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Noch vor den Polizeitruppen werde ich weitere Agenten losschicken, die sich als Studenten ausgeben sollen, damit wir die Darstellung der Studenten und die Namen der Rädelsführer erhalten.« Er blickte auf den vor ihm stehenden Rufanzeiger hinab, der zu blinken begonnen hatte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, Majestät, Graf Tammsan will mich sprechen. Vielleicht hat er Einzelheiten zu berichten. Ich melde mich wieder, wenn ich mehr weiß.« Derartige Vorfälle hatte es auf der Universität seit Menschengedenken nicht gegeben. Er kannte Kanzler Khane als dummen und arroganten alten Windbeutel, der sich selbst sehr wichtig vorkam. Er wettete darauf, daß Khane an allem schuld war, aber er fragte sich, was wohl dahinterstecken mochte und was dabei herauskommen würde. Winzige Mikroben verursachten oft große Seuchen. Große und erschreckende Veränderungen… Der Kommunikationsschirm meldete sich wieder, und er drückte auf den Knopf. Viktor Ganzay erschien noch einmal. Sein ständiges Zahnweh schien ihn im Moment verlassen zu haben. »Tut mir leid, Sie zu stören, Majestät, aber es ist alles geklärt«, berichtete er. »Der Erste Bürger Yaggo ist damit einverstanden, daß König Ranulf den Vortritt erhält, und Lord Koreff hat alles zurückgenommen. Im Moment sehe ich keine Schwierigkeiten.« »Gut. Wahrscheinlich haben Sie schon von dem Aufruhr an der Universität gehört?« »O ja, Majestät. Eine sehr unerfreuliche Angelegenheit!« »Einfach schockierend! Ist Ihnen etwas über den Anlaß zu Ohren gekommen?« fragte er. »Ich weiß nicht mehr, als daß die Studenten gegen die Entlassung eines Fakultätsmitgliedes
protestierten. Der Mann muß ungewöhnlich beliebt gewesen sein, oder aber er ist von Khane besonders ungerecht behandelt worden.« »Dazu kann ich nichts sagen, Majestät. Ich habe nur gehört, daß alles mit einem Fakultätsstreit in einer der wissenschaftlichen Abteilungen begonnen hat. Als Entlassungsgründe wurden Unbotmäßigkeit und Autoritätsbeleidigung angegeben.« »Ich war immer der Meinung, daß eine Autorität, die sich beleidigt fühlt, keine Autorität mehr ist. Sagten Sie Wissenschaft? Das wird den Plänen von Duklass und Tammsan nicht gerade förderlich sein.« »Ich befürchte nein, Majestät.« Ganzays Miene drückte jedoch kein tiefgehendes Bedauern aus. »Das Zeitungskartell hat davon Wind bekommen und macht von seinen Informationen Gebrauch. Bald wird das ganze Reich davon wissen.« Er sagte das in einem Ton, als ob dieser Umstand von Wichtigkeit sei. Nun, vielleicht war er wichtig. Viele Minister und die meisten Ratsherren verbrachten den Großteil ihrer Zeit damit, sich Gedanken darüber zu machen, was wohl die Leute auf Planeten wie Chermosh, Zarathustra, Deirdre und Quetzalcoatl denken mochten. Sie taten dies in Unkenntnis der Tatsache, daß das Interesse an der Reichspolitik im gleichen Maße abnahm, wie die Entfernung von Odin und das Ausmaß der Korruption und Unfähigkeit der jeweiligen Regierung zunahmen. »Ich sehe gerade, daß Sie auch am Essen mit dem Reichsrat teilnehmen. Möchten Sie unsere Gäste nicht ebenfalls einladen? Wir könnten eine zwanglose Vorstellung vorangehen lassen. Ist das möglich. Gut. Wir sehen uns dort.« Als das Bild verschwunden war, wandte er sich wieder seinen Berichten zu. Er sah sie hastig durch, um sich zu überzeugen,
daß keiner mit einem roten Sternchen dabei war, und beauftragte einen Roboter, den Projektor fortzuräumen. Kurz darauf meldete sich Prinz Travann wieder. »Bedaure Sie zu stören, Majestät, aber ich bin jetzt im Besitz der meisten Einzelheiten über den Aufruhr. Folgendes ist geschehen: Kanzler Khane hat einen Professor aus der Abteilung für Physik unter Umständen entlassen, die bei den naturwissenschaftlichen Studenten Verärgerung hervorgerufen haben. Einige von ihnen verließen den Hörsaal und marschierten zum Stadion, um dort eine Protestversammlung abzuhalten. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer um, und schließlich war die Hälfte der Studenten versammelt. Khane verlor den Kopf und wies die Universitätspolizei an, das Stadion zu räumen. Die Studenten fielen über sie her und überwältigten sie. Ich hoffe im Interesse meiner Männer, daß sich keiner jemals etwas Ähnliches gefallen läßt. Der Mann, den ich hingeschickt habe, Colonel Handrosan, brachte es fertig, die Studenten zur Rückkehr ins Stadion zu überreden, wo sie die Protestversammlung unter Polizeischutz fortführten.« »Scheint ein fähiger Mann zu sein.« »Sehr fähig, Majestät. Besonders was die Handhabung von Unruhen angeht. Ich habe volles Vertrauen zu ihm. Er untersucht auch die Hintergründe der Angelegenheit. Ich teile Ihnen mit, was er bis jetzt erfahren hat. Es scheint, daß der Leiter der physikalischen Abteilung, ein Professor Nelse Dandrik, unter Assistenz eines Professors Klenn Faress ein Experiment durchgeführt hat. Das Experiment hatte den Zweck, die Geschwindigkeit subatomarer Partikel, ich glaube Betamikropositos, genauer zu bestimmen. Nach der Version Dandriks, wie sie Handrosan über Khane mitgeteilt worden ist, war es so, daß sie eine Grenze erreicht hatten, bei der das Gerät unregelmäßige Ergebnisse lieferte.«
Prinz Travann hielt inne und zündete sich eine Zigarette an. »Bei diesem Stand der Dinge ordnete Professor Dandrik die Beendigung des Experiments an, während Professor Faress auf einer Fortführung bestand. Als Dandrik den Abbau des Geräts verfügte, verlor Faress die Beherrschung und stieß laut Dandrik wüste Beschimpfungen und Drohungen aus. Dandrik beschwerte sich bei Khane. Khane forderte Faress auf, sich zu entschuldigen. Faress weigerte sich, und Khane entließ Faress. Gegenwärtig setzen die Studenten den Streik fort. Faress bestätigte die ganze Geschichte und ergänzte sie nur in einem Punkt, den Dandrik nicht für erwähnenswert gehalten hatte. Nach seiner Aussage registrierten sie die Mikropositos bei einer Geschwindigkeit, die etwas über der sechzehnfachen Lichtgeschwindigkeit liegt, am Ziel, ehe sie ihren Ausgangsort verlassen hatten.« »Ja ich – was haben Sie da gesagt?« Prinz Travann wiederholte es langsam, Wort für Wort und ohne seine Stimme zu heben. »Ja, so hatte ich es verstanden. Ich bestehe auf einer umfassenden Untersuchung des Falles und einer Wiederholung des Experiments unter der Leitung von Professor Faress.« »Jawohl, Majestät. Und wenn es soweit ist, möchte ich persönlich anwesend sein. Wenn jemand drauf und dran ist, das Geheimnis der Zeitreise zu entdecken, dann ist das meiner Ansicht nach eine Sache für den Sicherheitsdienst.« Der Premierminister rief zurück und bestätigte, daß der Erste Bürger Yaggo und König Ranulf am Essen teilnehmen würden. Dann kam ein Anruf des Kammerherrn Graf Gadvan, der ein langes und schwieriges protokollarisches Problem, betreffend das Bankett, erörterte. Als es Mittag geworden war, gab Paul schließlich das verabredete Zeichen an General Dorflay durch, wartete fünf Minuten, erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch und verließ den Arbeitsraum.
Draußen in der Halle hatten sich der verrückte General und seine drahthaarigen Soldaten bereits aufgestellt. Auf der südlichen oberen Terrasse standen noch mehr Soldaten. Nach der umständlichen Zeremonie des Gewehrpräsentierens und Salutierens trat der Premierminister vor und geleitete ihn dorthin, wo der gesamte Reichsrat, dreißig Mann hoch und zusammengerechnet zweitausendachthundert Jahre alt, in halbmondförmiger Aufstellung auf die erlauchten Gäste wartete. Der König von Durendal trug zu einem blaßrosa Trikot ein Silberlöwenfell. An einem goldenen Kettengürtel hing ein juwelenbesetzter Dolch, der nicht viel dicker als eine Stricknadel war. Sein Körper war schlank und biegsam, und seine Augen blickten groß und seelenvoll. Der königliche Kosmetiker mußte sich stundenlang mit ihm beschäftigt haben. Marris würde nicht schlecht staunen. Die Gewänder Lord Koreffs stellten wahrscheinlich die Standardbekleidung von Durendal dar. Die bestand aus einer ziemlich langen, kurzärmligen Lederjacke und Schaftstiefeln. Sein Dolch schien nicht nur zur Zierde bestimmt. Lord Koreff machte den Eindruck eines Mannes, der imstande war, mit einer solchen Waffe umzugehen. Sein Gesicht war breit und sein Körper kräftig. Unter dem festen Fleisch spielten harte Muskeln. Der Erste Bürger Yaggo, Volksverwalter der Planeten Vereinigung von Aditya, trug ein einteiliges weißes Gewand, das der Berufskleidung eines Mechanikers ähnelte. Auf der Brust trug er das Emblem seiner Regierung und die Zahl 1. Er führte keinen Dolch bei sich. Wenn er eine Zierwaffe getragen hätte, wäre es vermutlich ein Rechenschieber gewesen. Sein Kopf war kahlrasiert; er hatte kleine blasse Augen und einen schmalen Mund. In seiner Art, die Besucher von Durendal zu betrachten, lag unverhohlener Abscheu.
König Ranulf schien, was die Reihenfolge der Vorstellung betraf, gewonnen zu haben. Er drückte die Hand des Herrschers mit beiden Händen und schaute anbetend zu ihm auf, während er seiner großen Verehrung und Freude Ausdruck gab. Yaggo faltete lediglich die Hände vor dem Emblem auf seiner Brust und hob sie in einer schnellen Bewegung zum Kinn hoch, wobei er sagte: »Im Dienste des Reiches.« Mit sichtlichem Widerwillen fügte er hinzu: »Und Eurer Kaiserlichen Majestät.« Lord Koreff, der kein Staatsoberhaupt war, kam als dritter an die Reihe. Er reichte nur die Hand und versicherte: »Es ist mir eine große Ehre, Kaiserliche Majestät. Ich spreche Ihnen in meinem Namen und im Namen meines Königs den ergebensten Dank für die huldvolle Aufnahme aus.« Nachdem sein Versuch, die Vorrangstellung seines Königs durchzusetzen, gescheitert war, zeigte er sich mehr als bereit, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Vielleicht hing vom Erfolg seiner Bemühungen, den Getreideüberschuß seines Planeten loszuwerden, seine Machtstellung zu Hause ab. Zum Glück hatten die drei Gäste schon die Vorstellungszeremonie mit dem Reichsrat hinter sich. Unmittelbar nach der Begrüßung Lord Koreffs machten sich alle auf den Weg zum zweihundert Meter entfernten Pavillon. Der König von Durendal hing an Pauls linkem Arm, und der Erste Bürger Yaggo stapfte rechts von ihm. Flankiert wurde das Dreiergespann von Prinz Ganzay auf Yaggos Seite und von Lord Koreff, der neben König Ranulf schritt. »Haben Sie die Absicht, für längere Zeit auf Odin zu verweilen?« fragte Paul den König. »Ach, ich möchte am liebsten monatelang hierbleiben. Asgard ist eine so wundervolle Stadt. Im Vergleich zu ihr wirkt unsere kleine Hauptstadt Roncevaux so provinziell. Ich möchte Majestät ein Geheimnis anvertrauen. Ich will versuchen, einige Ihrer wundervollen Ballettänzer nach
Durendal zu locken. Ist es nicht unverschämt von mir, die Theater Eurer Kaiserlichen Majestät auszurauben?« »Gemäß der Tradition Ihres Volkes«, antwortete Paul ernst. »Ihr von den Schwertplaneten habt schon immer geplündert, wo ihr könnt.« »Majestät, ich glaube, diese schlimmen Zeiten gehören längst der Vergangenheit an«, sagte Lord Koreff. »Aber wir von den Schwertplaneten haben uns tatsächlich eine Zeitlang in der Galaxis umgetan. Ja, ich erinnere mich sogar, gelesen zu haben, daß einige unserer Brüder von Morglay oder Flamberge einige Jahrhunderte lang Aditya besetzt gehalten haben. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß wir es heute noch auf Aditya abgesehen haben.« Jetzt war der Erste Bürger Yaggo an der Reihe, mit Vorrang behandelt zu werden. Er erhielt den Platz rechts vom Thron. Lord Koreff saß zur Linken Ranulfs, und zur Wahrung des Gleichgewichts plazierte sich Prinz Ganzay neben Yaggo. Höflich fragte er den Volksverwalter nach der Regierungsstruktur seiner Welt. Die Frage löste bei Yaggo einen Monolog aus, der sich zumindest über die halbe Dauer des Gastmahls erstrecken würde. So mußte sich Paul dem König von Durendal widmen. Er begann mit einem Kompliment über dessen Kleidung. König Ranulf lachte entzückt, strich mit den Fingerspitzen über sein Gewand und sagte, es handle sich nur um ein ganz einfaches Stück, das nach der Tracht der Bauern auf Durendal geschnitten sei. »Sie haben Bauern auf Durendal?« »Ach du meine Güte, ja! Es sind solche putzigen, entzückenden Leute! Natürlich sind sie alle arm, und sie tragen so lustig zerlumpte Sachen und rattern in so alten Luftfahrzeugen daher, daß man meint, sie müßten in der Luft auseinanderfallen. Aber sie sind so beneidenswert glücklich
und sorgenfrei. Ich habe mir schon oft gewünscht, statt König einer von ihnen zu sein.« »Nichtarbeitende Klasse, Kaiserliche Hoheit«, erklärte Lord Koreff. »Auf Aditya«, führte der Erste Bürger Yaggo aus, »gibt es keine Klassen, sondern jeder arbeitet. ›Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.‹« »Auf Aditya«, sagte ein älterer Reichsrat vier Plätze rechts von ihm laut zu seinem Nachbar, »nennt man es nicht Klassen, sondern soziologische Kategorien, und es gibt neunzehn davon. Und auf Aditya heißt es auch nicht ›nichtarbeitende Klasse‹, sondern Berufsreserve, und die ist größer als bei uns.« »Aber natürlich bin ich als König auf die Welt gekommen«, sagte König Ranulf traurig und vornehm, »und ich trage meinem Volk gegenüber eine Verpflichtung.« »Nein, unsere Leute dürfen überhaupt nicht wählen«, teilte Lord Koreff dem Ratsherrn zu seiner Linken mit. »Auf Durendal muß man Steuern zahlen, ehe man wählen darf.« »Auf Aditya existiert das Verbrechen der Besteuerung nicht«, erklärte der Erste Bürger dem Premierminister. »Auf Aditya«, sagte der Reichsrat vier Plätze weiter zu seinem Nachbar, »gibt es nichts zu besteuern. Der Staat ist Alleinbesitzer, und wenn die Reichsverfassung und die Raumflotte es zuließen, würde der Staat auch die Bürger als seinen Besitz betrachten. Erzählen Sie mir nichts über Aditya. Mein erstes großes Schiffskommando hatte ich auf der alten Invictus 374. Sie war jahrelang auf Aditya stationiert, und ich kann Ihnen sagen, ich hätte diese Zeit lieber in einer Kreisbahn um Niffelheim verbracht.« Jetzt erinnerte sich Paul, wer der Alte war: nämlich der Admiral a. D. und Prinz-Rat Geklar. Er und der Prinz-Rat Dorflay würden phantastisch miteinander auskommen. Der
Lordmarschall von Durendal antwortete gerade auf einen Einwurf, den jemand gemacht hatte: »Nein, nichts dergleichen. Wir sind der Meinung, daß jedes zivile oder politische Recht eine zivile oder politische Verpflichtung einschließt. Der Bürger hat beispielsweise ein Recht auf den Schutz des Staates; deshalb ist er verpflichtet, den Staat zu verteidigen. Und das Recht zur Teilnahme an der Regierungsgewalt setzt voraus, daß er den Staat finanziell unterstützt. Wir besteuern nur den Besitz; wenn ein Nichtarbeiter zu steuerpflichtigem Besitz gelangt, muß er arbeiten gehen, um das Geld für die Steuern zu verdienen. Ich darf hinzufügen, daß unsere nichtarbeitende Schicht sehr sorgfältig darauf bedacht ist, den Erwerb von steuerpflichtigem Besitz zu vermeiden.« »Aber wovon leben sie denn, wenn sie keine Stimme verkaufen?« fragte ein Reichsrat höchst erstaunt. »Der Adel unterstützt sie – das heißt die Landbesitzer, die Handelsbarone und die Industrielords. Ihr Prestige steigt mit der Zahl ihres nichtarbeitenden Gefolges.« Und in gleichem Maße steigt natürlich die Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Gewehre, wenn sie mit ihren adligen Nachbarn Streitigkeiten auszutragen haben. »Wenn wir sie nicht so behandeln würden, würden sie sich zu Räuberbanden zusammenschließen, und es ist immer noch billiger, sie zu ernähren, als sie in ihren Verstecken aufzustöbern und aufzuknüpfen.« »Auf Aditya gibt es kein Raubgesindel.« »Auf Aditya gehört das ganze Raubgesindel zur Geheimpolizei, nur daß man es auf Aditya nicht Geheimpolizei nennt, sondern Diener des Volkes, Neunte Kategorie.« Ein Schatten huschte über den Pavillon, und dann noch einer. Als Paul aufblickte, erkannte er zwei lange schwarze Truppentransporter, die das Reichsemblem mit Sonne und
Zahnrad und die gepanzerte Faust des Sicherheitsdienstes zeigten. Sie flogen hinter dem Oktagonturm vorbei und gingen auf den nördlichen Landungsbrücken nieder. Ein drittes Schiff folgte. Er stand schnell auf. »Bitte, behalten Sie Platz, meine Herren, und lassen Sie sich nicht beim Essen stören. Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen wollen, ich bin gleich wieder zurück.« Hoffentlich, fügte er in Gedanken hinzu. General Dorflay hatte sich mit einem Dutzend thoranischer und humanoider Offiziere zu der unteren Terrasse am Fuß des Oktagonturms begeben. Sie hatten eine ganze thoranische Gewehrkompanie bei sich. Als Paul sich ihnen näherte, stürzte General Dorflay auf ihn zu. »Es ist soweit, Majestät!« sagte er, sobald er nahe genug war, um ohne Schreien verstanden zu werden. »Wir sind alle bereit, mit Eurer Majestät zu sterben.« »Oh, ich glaube nicht, daß es so schlimm wird, Harv«, antwortete Paul. »Aber begeben Sie sich vorsichtshalber mit Ihren Herren und diesen Truppen hier in die Berge und schließen Sie sich dem Kronprinzen und seinem Gefolge an. Hier – « Er entnahm seiner Gürteltasche einen Notizblock, schrieb rasch einige Zeilen, versiegelte die Botschaft und überreichte sie Dorflay. »Übergeben Sie dies hier seiner Hoheit und unterstellen Sie sich seinem Befehl. Ich weiß, er ist noch ein Junge, aber er hat einen klaren Kopf. Gehorchen Sie allen seinen Anweisungen aufs Wort, aber kehren Sie unter keinen Umständen in den Palast zurück und erlauben Sie auch ihm nicht zurückzukehren, bis ich Ihnen Bescheid gebe.« »Sie schicken mich fort, Majestät?« entsetzte sich der alte Haudegen. »Ein Herrscher, der einen Sohn hat, ist entbehrlich. Der minderjährige Sohn eines Herrschers nicht. Sie wissen das.«
Harv Dorflay war nur in einer Beziehung verrückt, und im Rahmen seiner Verrücktheit dachte er vollkommen logisch. Er nickte. »Jawohl, Kaiserliche Majestät. Wir werden beide dem Reich nach besten Kräften dienen. Und ich werde auch die kleine Prinzessin Olva beschützen.« Er griff nach Pauls Hand, sagte »Leben Sie wohl, Majestät!« und eilte mit seinem Stab und der ganzen thoranischen Kompanie davon. Einen Augenblick später war er im nächsten Rampenaufgang verschwunden. Der Herrscher verfolgte ihren Abgang und erblickte im gleichen Moment ein großes schwarzes Luftfahrzeug, welches das Emblem Prinz Travanns zeigte, den silbernen Planeten mit den drei Monden. Das Fahrzeug ging auf den südlichen Landungssteg nieder, und ein weiterer Truppentransporter folgte ihm. Vier Männer verließen das Luftschiff – Prinz Yorn Travann und drei Offiziere in den schwarzen Uniformen der Sicherheitstruppen. Prinz Ganzay hatte ebenfalls die Tafel verlassen; er und Prinz Travann bewegten sich aus entgegengesetzten Richtungen auf Paul zu und kamen gleichzeitig bei ihm an. »Was geht hier vor, Prinz Travann?« fragte Prinz Ganzay. »Warum bringen Sie Truppen zum Palast?« »Majestät«, sagte Prinz Travann geschmeidig, »ich hoffe, Sie werden mir diese Störung verzeihen. Ich glaube zwar fest, daß nichts Ernstes geschehen wird, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Die Studenten marschieren vollkommen friedlich und geordnet auf den Palast zu. Sie wollen Eurer Majestät eine Bittschrift überreichen – aber unterwegs sind sie beim Marsch durch ein Nichtarbeiterviertel von einer Gruppe Rowdies angegriffen worden. Die Angreifer gehören zum Wahlstimmenblock eines Bosses mit Namen Nutchy das Messer. Keiner der Studenten wurde verletzt. Colonel Handrosan leitete die Prozession rasch um und setzte dann
einige seiner Truppen, die inzwischen verstärkt wurden, gegen die Schläger ein. Die Kämpfe dauern noch an. Solche Unruhen sind wie Waldbrände; man weiß nie, wann sie umspringen und außer Kontrolle geraten. Ich hoffe, daß die Männer, die ich mitgebracht habe, nicht in Aktion treten müssen. Tatsächlich sollen sie als Reserve zur Bekämpfung der Unruhen dienen. Ich will sie jedoch nicht wegschicken, ehe ich genau weiß, daß der Palast sicher ist.« Paul nickte. »Prinz Travann, wann wird Ihrer Ansicht nach die Studentenprozession hier eintreffen?« fragte er. »Sie kommen zu Fuß, Majestät. Ich gebe ihnen noch mindestens eine Stunde.« »Prinz Travann, einer Ihrer Offiziere soll dafür sorgen, daß der Bildschirm für öffentliche Ansprachen vor dem Palast bereitgestellt wird. Ich habe die Absicht, zu den Studenten zu reden. Und inzwischen möchte ich eine gemeinsame Unterredung mit Kanzler Khane, Professor Dandrik, Professor Faress und Colonel Handrosan abhalten. Und auch mit Graf Tammsan; Prinz Ganzay, wollen Sie ihn bitte anrufen und sofort hierherkommen lassen?« »Jetzt, Majestät?« Zuerst versuchte der Premierminister sein ungläubiges Staunen zu verbergen; dann bemühte er sich, einen Blick des Verständnisses zu unterdrücken. »Jawohl, Majestät, sofort.« Er runzelte die Stirn, als er sah, wie zwei Offiziere der Sicherheitstruppen beim Weggehen vor Prinz Travann salutierten statt vor dem Herrscher. Dann drehte er sich um und eilte zum Oktagonturm. Der Offizier, der sich zum Luftschiff begeben hatte, um von dort aus anzurufen, berichtete, daß Colonel Handrosan den Kanzler und beide Professoren in seinem Kommandofahrzeug mitbrachte. Er hatte schon vermutet, daß man sie brauchen werde. Paul nickte erfreut.
»Sie haben da einen fähigen Mann, Prinz«, sagte er. »Behalten Sie ihn im Auge.« »Ich weiß, Majestät. Um die Wahrheit zu sagen: Er war es, der diesen Marsch organisiert hat. Er dachte, die Studenten täten besser daran, mit einer Bittschrift hierherzukommen, statt weiterhin die Universität unsicher zu machen und noch mehr Unfug zu stiften.« Jetzt kam auch der andere Offizier und brachte auf einem Antigrav-Hebegerät einen großen Bildschirm. Mittlerweile hatten die Reichsräte und die drei Gäste es mit der Angst zu tun bekommen und den Pavillon gemeinsam verlassen. Die Räte schauten unbehaglich drein, als sie die schwarz uniformierten Sicherheitstruppen wahrnahmen, die den Truppentransporter verlassen hatten und sich schwadronweise um den Herrscher gruppierten. Auch der Erste Bürger Yaggo, König Ranulf und Lord Koreff schienen sich unbehaglich zu fühlen. Sie mieden die Nähe Pauls, als ob er den grünen Tod am Leibe hätte. Der Bildschirm leuchtete auf. Man sah das Stadtbild, aufgenommen aus einer Höhe von sechshundert Metern. In der Ferne war der Palast mit dem hochaufragenden goldenen Oktagonturm sichtbar. Das Luftfahrzeug, von dem aus die Aufnahmen gemacht wurden, befand sich hinter der Prozession, die sich auf einer der breiten Straßen auf den Palast zu bewegte. Polizei und Sicherheitstruppen zogen vor, hinter und neben der Prozession mit. Der Zug führte zwar einige Flaggen des Reichs, des Planeten oder von Schulen mit, aber nicht die Unzahl von Fahnen und Spruchbändern, die sonst zu einer geplanten Demonstration gehören. Prinz Ganzay war schon eine ganze Weile verschwunden. Als er zurückkam, zog er Paul auf die Seite. »Majestät«, flüsterte er leise, »ich habe versucht, Armeetruppen zusammenzuziehen, aber es wird noch Stunden
dauern, ehe die ersten hier eintreffen können. Und um die Miliz zu mobilisieren, braucht es mindestens einen Tag. Außerdem stehen auf Odin nicht mehr als fünftausend reguläre Armeesoldaten.« Und die Hälfte davon waren Offiziere und Unteroffiziere von Stammregimentern. Genau wie die Luftflotte war auch die Armee über das ganze Reich verstreut – auf Behemoth und Amida und Xipetotec und Astarte und Jotunnheim – und zwar als Folge von Hilfeersuchen des Sicherheitsministeriums. »Wir wollen diese Aufstände einmal ansehen, Prinz Travann«, sagte einer der weniger altersschwachen Räte, ein ehemaliger General. »Ich möchte sehen, wie Ihre Leute damit fertig werden.« Die Offiziere, die Prinz Travann mitgebracht hatte, fragten kurz zurück, und dann erschien ein neues Bild auf dem Schirm. Es mußte sich um eine normale, für die Öffentlichkeit bestimmte Aufnahme handeln. Man sah die Front eines großen Gebäudes. Es war einige Meilen weiter entfernt. Der Oktagonturm war nur als schwacher Lichtschimmer am Horizont zu erkennen. Ein halbes Dutzend Luftschiffe jagte umher; zwei von ihnen verfolgten ein bewaffnetes Zivilfahrzeug und nahmen es unter Beschuß. Auf Dächern, Terrassen und Straßen waren kleine Einheiten der Sicherheitstruppen in Scharmützel verwickelt; sie huschten von Deckung zu Deckung, und manchmal feuerten einzelne oder kleine Gruppen von Zivilisten auf sie. Es gab auffallend wenig Treffer. »Majestät«, flüsterte der ehemalige General empört, »das ist doch nichts weiter als ein Riesenschwindel! Sehen Sie doch, alle verfeuern nur Platzpatronen. Die Gewehre geben kaum einen Rückstoß, und bei scharfen Schüssen ist die Rauchentwicklung stärker.«
»Ich habe das auch bemerkt.« Dieser scheinbare Aufstand mußte von langer Hand und sorgfältig vorbereitet worden sein. Die Studentenunruhen schienen jedoch spontanen Ursprungs zu sein. Das stellte ihn vor ein Rätsel. Er hätte gern gewußt, was Prinz Travann vorhatte. »Schweigen Sie darüber«, wies er den ehemaligen General an. Weitere große und schwere Luftfahrzeuge trafen ein. Sie trugen die Wappen einiger der angesehensten Familien in Asgard. Als einer der ersten hatte sich Graf Duklass eingefunden, und danach landeten der Erziehungsminister und eine Reihe weiterer Minister. Graf Duklass trat sofort auf Prinz Travann zu, zog ihn von König Ranulf und Lord Koreff fort und redete schnell und ernst auf ihn ein. Graf Tammsan näherte sich im Laufschritt. »Majestät«, grüßte er atemlos, »was geht hier vor? Wir hörten etwas von kleineren Unruhen an der Universität, wegen derer Prinz Ganzay alarmiert worden war. Aber jetzt scheint es in der ganzen Stadt Kämpfe zu geben. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Auf dem Weg hierher mußten wir dreitausend Meter hoch fliegen, um über dem Kampfgeschehen zu bleiben, und in der Straße der Künste ist eine riesige Menschenansammlung, und – « Er bemerkte jetzt die Sicherheitstruppen. »Majestät, was geht hier vor?« Ein blauuniformierter Polizist trat zu Prinz Travann, zog ihn von Graf Duklass fort und sprach kurz mit ihm. Der Sicherheitsminister nickte und ging zum Wirtschaftsminister zurück. Sie besprachen sich etwas länger, reichten sich die Hände, und Travann ließ Duklass mit einem Lächeln in seinem Gesicht zurück. Der Polizeioffizier begleitete ihn. »Majestät, das hier ist Colonel Handrosan, der Offizier, der die Universitätsangelegenheit beigelegt hat.« »Ein sauberes Stück Arbeit, Colonel.« Er schüttelte ihm die Hand. »Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie bei der nächsten
Ehrenverleihung mit dabei sind. Haben Sie Khane und die beiden Professoren mitgebracht?« »Sie befinden sich auf den unteren Landungsplätzen, Majestät. Wir halten die Studenten auf, damit Sie Gelegenheit haben, mit ihnen zu reden.« »Ich will sie jetzt gleich sehen. Mein Arbeitszimmer wird dafür genügen.« Der Offizier salutierte und ging. Paul wandte sich an Graf Tammsan. »Aus diesem Grund habe ich Sie durch Prinz Ganzay herbitten lassen. Die Angelegenheit ist schon zu publik geworden, um übergangen werden zu können. Man muß etwas unternehmen. Ich werde zu den Studenten sprechen. Aber bevor ich mich auf irgend etwas einlasse, will ich erst herausfinden, was wirklich geschehen ist. Also, meine Herren, lassen Sie uns in mein Arbeitszimmer gehen.« Graf Tammsan sah sich mit verstörten Blicken um. »Aber ich verstehe nicht – « Er schloß sich Paul und dem Sicherheitsminister an; eine Schwadron von Sicherheitstruppen setzte sich hinter ihnen in Bewegung. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht«, klagte er. Ein Herrscher, der vom Thron gestürzt werden sollte, und ein Minister, der einen Staatsstreich landen wollte, nahmen sich Zeit, einen unbedeutenden Streit unter Akademikern zu schlichten. Er verstand jedoch das eine, nämlich, daß der Ruf des Erziehungsministers zu einem Zeitpunkt Schaden nahm, wo er dies am wenigsten vertragen konnte. Prinz Travann erzählte ihm von dem Angriff der Schlägergruppen auf die Studenten, und das machte ihm nur noch mehr Kummer. Nichtarbeitende Rüpel handelten auf Befehl der Wahlstimmenbosse. Wahlstimmenbosse handelten auf Befehl der politischen Manipulatoren der Kartells und Interessengruppen. Aktionen, die sich nach unten fortpflanzten, wurden gewöhnlich von Aktionen begleitet, die
sich nach oben fortsetzten und von Kräften getragen waren, auf die Minister empfindlich reagierten. In der Halle vor dem Arbeitszimmer hielten sich ein Dutzend schwarzuniformierte Soldaten der Sicherheitstruppen und ebenso viele rotgekleidete Palastwachen auf. Sie standen friedlich beieinander und unterhielten sich. Bei der Ankunft Pauls mit seinem Gefolge spritzten sie auseinander und stellten sich in zwei gesonderten Reihen auf. Der thoranische Offizier salutierte. In seinem Arbeitszimmer begab sich Paul an seinen Schreibtisch. Graf Tammsan zündete sich eine Zigarette an, paffte nervös und setzte sich vorsichtig hin, als befürchtete er, der Stuhl werde unter ihm zusammenbrechen. Prinz Travann ließ sich auf einen anderen Stuhl sinken und entspannte sich mit geschlossenen Augen. Neben Pauk Stuhl lag ein Stückchen Waffel auf dem Boden, das der kleine Hund am Morgen fallengelassen hatte. Er bückte sich, hob es auf, legte es auf seinen Schreibtisch und saß in seine Betrachtung versunken, bis der Summton und das Lichtsignal des Türschirms ihn aufblicken ließen. Er drückte den Einlaßknopf. Colonel Handrosan führte die drei Universitätsleute herein – Khane, mit einem rosigen, arroganten Gesicht, hinter dessen Arroganz sich jedoch Angst verbarg; Dandrik, grauhaarig, gebeugt und verwirrt; Faress, jung und kampflustig, mit einem struppigen roten Bart. Er begrüßte sie alle zusammen und bot ihnen Platz an. Dann trat ein kurzes, ungemütliches Schweigen ein, und jeder wartete darauf, daß er das Wort ergriff. »Nun, meine Herren«, begann er, »wir wollen die Einzelheiten dieser Angelegenheit der Reihe nach durchgehen. Ich wünsche, daß Sie mir in aller Kürze und Vollständigkeit mitteilen, was Sie darüber wissen.« »Da ist der Mann, der an allem schuld ist«, erklärte Khane und deutete auf Faress.
»Professor Faress hat nichts damit zu tun«, versetzte Colonel Handrosan trocken. »Als es losging, waren er und seine Frau dabei, die Koffer zu packen. Jemand rief ihn an und erzählte ihm von den Kämpfen im Stadion, worauf er sich sofort dorthin begab und seine Studenten aufforderte auseinanderzugehen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation schon völlig außer Kontrolle; er konnte auf die Studenten keinen Einfluß mehr nehmen.« »Ich glaube, wir sollten zuerst herausfinden, warum Professor Faress entlassen worden ist«, schlug Prinz Travann vor. »Es wird nicht leicht sein, mich davon zu überzeugen, daß ein Lehrer, an dem die Studenten so hängen, ein schlechter Lehrer ist oder gar verdient hat, entlassen zu werden.« »Soviel ich weiß«, sagte Paul, »war die Entlassung die Folge einer Auseinandersetzung zwischen Professor Faress und Professor Dandrik wegen eines Experimentes, an dem sie beide zusammen arbeiteten. Es ging meines Wissens darum, die Geschwindigkeit beschleunigter subatomarer Teilchen genauer festzustellen. Es handelte sich um Beta-Mikropositos, nicht wahr, Kanzler Khane?« Khane blickte ihn erstaunt an. »Majestät, davon weiß ich nichts. Professor Dandrik ist der Leiter der physikalischen Abteilung. Er suchte mich vor sechs Wochen auf und sagte mir, daß dieses Experiment seiner Meinung nach notwendig sei. Ich vertraute einfach seinem Urteil und genehmigte es – « »Majestät, Sie haben gerade den Zweck des Experimentes genannt«, sagte Dandrik. »Jahrhundertelang gab es Ungenauigkeiten bei der mathematischen Beschreibung subatomarer Vorgänge, und dieses Experiment wurde in der Hoffnung durchgeführt, diese Ungenauigkeiten auszuschalten.« Er begann mit einer langatmigen mathematischen Erklärung.
»Ja, ich verstehe, Professor. Aber können Sie mir kurz den Verlauf des Experiments in physikalischen Ausdrücken beschreiben?« Dandrik machte für einen Moment den Eindruck der Hilflosigkeit. Faress, der mit dem Lachen kämpfte, mischte sich ein: »Majestät, wir benutzten den großen turbolinearen Beschleuniger, um schnelle Mikropositos durch eine Vakuumpumpe von einem Kilometer Länge zu schießen und ihre Geschwindigkeit mit Hilfe des Lichts, dessen Geschwindigkeit absolut feststeht, zu messen. Dabei haben sich zu keinem Zeitpunkt irgendwelche meßbaren Ungenauigkeiten ergeben, und bis zu einer Beschleunigung auf das 16,067543333fache der Lichtgeschwindigkeit entsprach die Ankunftszeit der registrierten Teilchen den Erwartungen. Jenseits dieser Geschwindigkeit registrierte das Auffanggerät jedoch Beta-Mikropositos, ehe an der Quelle die Aussendung der Teilchen registriert werden konnte. Dabei funktionierte das Auffanggerät einwandfrei. Ich wies Professor Dandrik darauf hin, und er – « »Sie haben ihn benachrichtigt. War er zu dieser Zeit anwesend?« »Nein, Majestät.« »Majestät, ich bin der Leiter der physikalischen Abteilung der Universität. Ich bin mit zuviel Verwaltungsarbeit überlastet, um Zeit an die technischen Einzelheiten eines solchen Experimentes verschwenden zu können«, warf Dandrik ein. »Ich verstehe. Professor Faress war derjenige, der das Experiment tatsächlich durchgeführt hat. Sie haben Professor Dandrik erzählt, was geschehen war. Wie ging es weiter?« »Nun, Majestät, er erklärte einfach, daß die Grenze der Genauigkeit jetzt erreicht sei und ordnete die Beendigung des
Experiments an. Dann verkündete er die letzte Ablesung vor der Beobachtung des Antizipationseffekts als die neueste Genauigkeitsgrenze beim Messen der Geschwindigkeit von beschleunigten Mikropositos und erwähnte den Antizipationseffekt in seinem Bericht mit keinem Wort.« »Ich habe eine Zusammenfassung des Berichts gelesen. Warum, Professor Dandrik, haben Sie in Ihrem Bericht versäumt, diesen etwas ungewöhnlichen Effekt zu erwähnen?« »Nun, weil das Ganze einfach grotesk war, deshalb!« bellte Dandrik, und fügte dann hastig hinzu »Kaiserliche Majestät«. Er wandte sich um und starrte Faress böse an; Professoren können schließlich nicht den Herrscher der Galaxis anstarren. »Majestät, die Genauigkeitsgrenze war erreicht. Danach war nichts anderes zu erwarten, als daß der Apparat unregelmäßige Meßdaten liefert.« »Man hätte erwarten können, daß der Apparat aufhören würde, eine derart beschleunigte Geschwindigkeit am Lichtgeschwindigkeitsstandard zu messen, oder daß er fehlerhafte Angaben machen würde«, sagte Faress. »Aber ich erlaube mir die Bemerkung, Majestät, daß man nicht erwarten konnte, daß die Ankunft der Teilchen vor ihrer Aussendung registriert würde. Und ich muß auf einen weiteren Punkt hinweisen. Nach diesem offensichtlichen kleinen Sprung in die Zukunft nahm der Antizipationseffekt nicht zu, wenn man weiter beschleunigte. Ich wollte den Grund herausfinden. Aber als Professor Dandrik sah, was geschehen war, wurde er fast hysterisch und ordnete die Stillegung des Beschleunigers an, als ob er Angst gehabt hätte, er werde ihm um die Ohren fliegen.« »Ich glaube, er ist ihm bereits um die Ohren geflogen«, sagte Prinz Travann ruhig. »Professor, haben Sie irgendeine Theorie oder Vermutung oder auch nur ungefähre Vorstellung, worauf dieser Antizipationseffekt beruht?«
»Jawohl, Hoheit. Ich vermute, daß die zutage tretende Antizipation einfach eine Beobachtungstäuschung darstellt, ähnlich der Illusion der Zeitumkehrung, die dadurch zustande kommt, daß die Positronen manchmal die Lichtgeschwindigkeit überschreiten – eine Tatsache, die zuerst beobachtet, aber nicht erkannt worden ist.« »Na, davon rede ich doch die ganze Zeit!« unterbrach Dandrik. »Das Ganze ist eine Illusion, die beweist – « » – daß die Grenze der Genauigkeit erreicht ist; ich weiß, Professor Dandrik. Fahren Sie fort, Professor Faress.« »Ich vermute, daß die Mikropositos jenseits der 16,067543333fachen Lichtgeschwindigkeit überhaupt keine Geschwindigkeit mehr besitzen, wenn man Geschwindigkeit als Maß der Bewegung im vierdimensionalen Raum-ZeitKontinuum definiert. Meiner Ansicht nach bewegen sie sich durch die drei Raumdimensionen, ohne sich zugleich in der vierten der Zeitdimension zu bewegen. Sie legen den Kilometer von der Emissionsquelle bis zum Registrierschirm buchstäblich in Nullkommanichts zurück. Gleichzeitigkeit.« Faress war wohl zum ersten Mal damit herausgerückt und hatte es ausgesprochen. Dandrik sprang mit einem Aufschrei auf die Füße, und seine Stimme überschlug sich fast. »Majestät, er ist von Sinnen! Majestät, Sie dürfen ihm nicht… das heißt, äh, ich meine – bitte, Majestät, hören Sie nicht auf ihn. Er weiß nicht, wovon er redet. Er ist wahnsinnig!« »Er weiß ganz genau, was er sagt, und wahrscheinlich erschreckt es ihn noch mehr als Sie. Der Unterschied besteht nur darin, daß er bereit ist, den Tatsachen ins Gesicht zu schauen, und Sie nicht.« Der Unterschied bestand darin, daß Faress ein Naturwissenschaftler und Dandrik ein Lehrer der Naturwissenschaft war. Für Faress hatte sich ein neues Tor
aufgetan, das erste neue Tor seit achthundert Jahren. Für Dandrik bedeutete es eine Bedrohung aller Werte, die er seit seiner ersten Unterrichtsstunde seinen Schülern vermittelt hatte. Er konnte seinen Schülern nicht mehr sagen: »Ihr seid hier, um von mir zu lernen.« Er mußte sich bescheidener ausdrücken: »Wir sind hier, um vom Universum zu lernen.« Schon oft hatte sich ähnliches abgespielt. Man hatte sich das bequeme und festgefahrene Bild eines Universums gemacht, das mit allen bekannten Tatsachen übereinstimmte – bis einige neue Entdeckungen das Bild veränderten. Der dritte Planet des Sonnensystems war einstmals der Mittelpunkt des Universums gewesen – bis Terra, und dann Sol, und schließlich die ganze Galaxis ihrer zentralen Stellung beraubt wurden. Das Atom hatte als unteilbar gegolten – bis es eines Tages von jemandem geteilt wurde. Man hatte eine nebelhafte Substanz angenommen, die das ganze Universum erfüllte und der Weiterleitung des Lichts diente – bis der Nachweis gelang, daß eine solche Substanz unnötig war und nicht existierte. Und die Lichtgeschwindigkeit hatte einst als die höchste aller erreichbaren Geschwindigkeiten gegolten – man hielt sie für unüberschreitbar, wie man auch ein Atom für unteilbar gehalten hatte. Und man hatte geglaubt, daß die Geschwindigkeit des Lichts konstant sei und sich mit der Entfernung von der Lichtquelle nicht verändere – weshalb man zur Erklärung verschiedener beobachteter Phänomene angenommen hatte, daß sich das Universum gleichmäßig in alle Richtungen ausdehnen müsse. Und nicht zu vergessen all die Ereignisse auf dem Gebiet der Psychologie, als die Existenz von Psi-Phänomenen zu offenkundig geworden war, um noch länger geleugnet werden zu können. »Und als dann Dr. Dandrik die Einstellung des Experiments gerade zu dem Zeitpunkt, als es interessant wurde, angeordnet hat, haben Sie sich geweigert?«
»Majestät, ich konnte doch in diesem Moment nicht einfach aufhören. Aber Dr. Dandrik bestand auf dem Abbau und der Verschrottung der Versuchsapparatur, und ich fürchte, daß ich da den Kopf verloren habe. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihm seine dämliche Fresse polieren wolle.« »Sie geben es also zu?« rief Kanzler Khane. »Meiner Ansicht nach haben Sie bewundernswerte Zurückhaltung gezeigt, indem Sie es unterlassen haben. Haben Sie Kanzler Khane die Bedeutung des Experiments erklärt?« »Ich habe es versucht, Majestät, aber er wollte einfach nicht zuhören.« »Aber, Majestät«, wandte Khane ein, »Professor Dandrik ist der Leiter der physikalischen Abteilung und gehört zu den führenden Physikern des Reichs, während dieser junge Mann nur einer der frischgebackenen Assistenzprofessoren ist. Er ist noch nicht einmal richtiger Professor, und er hat seinen akademischen Grad auf der Universität eines weit entfernten Planeten erworben. Es handelt sich um die Universität Brannerton auf dem Planeten Gimli.« »Waren Sie ein Schüler von Professor Vann Evaratt?« fragte Prinz Travann scharf. »Ja, ich – « »Ha, kein Wunder!« erregte sich Dandrik. »Majestät, dieser Mann ist ein Scharlatan durch und durch! Man hat ihn vor zehn Jahren aus der hiesigen Universität ‘rausgeschmissen, und es überrascht mich, daß er selbst bei einer Universität wie Brannerton und auf einem Planeten wie Gimli ankommen konnte.« »Sie verkalkter alter Trottel«, schrie ihn Faress an. »Sie sind als Physiker nicht einmal gut genug, um in Vann Evaretts Laboratorium Roboter zu ölen!« »Da, bitte, Majestät«, sagte Khane. »Da können Sie sehen, wieviel Achtung vor der Autorität dieser Rüpel besitzt.«
Auf Aditya wäre so etwas undenkbar; auf Aditya wird Autorität von jedem respektiert. Ob sie nun respektabel ist oder nicht. Graf Tammsan lachte, und Paul merkte plötzlich, daß er laut gedacht haben mußte. Doch schien sonst niemand seinen Scherz verstanden zu haben. »Und wie war das nun mit dem Aufstand?« fragte er. »Wer hat damit angefangen?« »Colonel Handrosan hat an Ort und Stelle eine Untersuchung durchgeführt«, sagte Prinz Travann. »Ich schlage vor, seinen Bericht anzuhören.« »Einverstanden. Colonel?« Handrosan erhob sich und stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen da, wobei er den Blick auf einen Punkt an der Wand hinter dem Schreibtisch geheftet hielt. »Majestät, Professor Faress’ fortgeschrittene Klasse für subatomare Physik setzt sich aus lauter Studenten zusammen, die dabei sind, ihre Doktorarbeit fertigzustellen. Die Entlassung von Professor Faress wurde ihnen durch ein Fakultätsmitglied mitgeteilt, das die Klasse an diesem Morgen übernommen hatte. Die ganze Klasse stand wie ein Mann auf und verließ den Hörsaal, um sich draußen auf dem Universitätsgelände zu versammeln und die Angelegenheit zu erörtern. Als die Vorlesungen beendet waren, schlossen sich ihnen andere Studenten naturwissenschaftlicher Fächer an, und sie begaben sich zum Stadion, wo eine Stunde später weitere Studenten, die inzwischen von der Entlassung gehört hatten, zu ihnen stießen. Die Versammlung war zu keinem Zeitpunkt ordnungswidrig. Das Stadion wird durch Kameras überwacht, und die Aufnahmen werden aufgezeichnet. Es gibt eine komplette Bild- und Tonaufzeichnung der ganzen Veranstaltung, einschließlich des Überfalls durch die Universitätspolizei.
Dieser Überfall wurde von Kanzler Khane gegen elf Uhr angeordnet. Der Leiter der Polizei wurde angewiesen, das Stadion zu räumen, und als er fragte, welche Mittel er anwenden sollte, sagte ihm Kanzler Khane, er könne alle Mittel anwenden.« »Das habe ich nicht gesagt! Ich habe ihn zwar mit der Räumung des Stadions beauftragt, aber – « »Der Leiter der Universitätspolizei trägt ein batteriebetriebenes Aufzeichnungsgerät mit sich«, fuhr Handrosan unerschüttert fort. »Er besitzt Aufnahmen der Anweisung, auf der Kanzler Khanes Stimme zu erkennen ist. Ich habe mich selbst überzeugt. Die Polizei«, fuhr er fort, »versuchte es zuerst mit Gas, aber die Windverhältnisse waren ungünstig. Dann versuchten sie es mit Ultraschall-Bomben, aber die Studenten fielen über die Polizisten her und überwältigten sie. Wenn ich eine persönliche Meinung äußern darf, Majestät: Ich sympathisiere zwar nicht mit der anschließenden Besetzung des Verwaltungsgebäudes durch die Studenten, aber im Stadion waren sie vollkommen im Recht, als sie sich wehrten. Und es ist schwierig genug, trainierte und disziplinierte Truppen auf ihrem Vormarsch aufzuhalten. Nachdem sie die Polizei in die Flucht geschlagen hatten, wurden sie einfach von ihrem Siegestaumel fortgerissen.« »Wollen Sie damit sagen, daß sich die Studenten im Stadion bis zur Polizeiattacke friedlich und ordnungsgemäß verhalten haben, und daß Kanzler Khane den Polizeieinsatz persönlich befohlen hat?« »Ohne Einschränkung, Majestät.« »Ich glaube, daß jetzt alles klar ist, meine Herren.« Paul wandte sich Graf Tammsan zu. »Das Weitere ist die gemeinsame Angelegenheit von Erziehungsund Sicherheitsministerium. Ich schlage vor, daß Sie in Zusammenarbeit mit Prinz Travann eine förmliche und
offizielle Untersuchung durchführen. Bis die Fakten geordnet, aufgezeichnet und entscheidungsreif sind, sollte die Entlassung von Professor Faress rückgängig gemacht und er wieder in seine frühere Stellung eingesetzt werden.« »Jawohl, Majestät«, stimmte Tammsan zu. »Und ich hielte es für gut, wenn Kanzler Khane inzwischen beurlaubt wird.« »Des weiteren möchte ich vorschlagen, daß dieses Experiment, das bei der ganzen Angelegenheit eine so entscheidende Rolle gespielt hat, wiederholt wird – und zwar unter Leitung von Professor Faress.« »Ich bin darin ganz Ihrer Meinung, Majestät«, sagte Prinz Travann. »Wenn das Experiment tatsächlich so wichtig ist, wie ich annehme, sollte Professor Dandrik einen scharfen Verweis dafür erhalten, daß er Anweisung zur Beendigung des Experiments gegeben und in seinem Bericht den Antizipationseffekt unterschlagen hat.« »Wir werden morgen über das Ergebnis der Untersuchung und des Experiments beraten, Hoheit«, sagte Tammsan zu Travann. Paul erhob sich, und alle erhoben sich mit ihm. »Danke, meine Herren, ich brauche Sie nicht mehr. Die Studentenprozession dürfte allmählich ankommen, und ich will den Studenten unsere Maßnahmen mitteilen. Prinz Travann, Graf Tammsan, wollen Sie mich bitte begleiten?« Auf dem Weg zur mittleren Terrasse vor dem Oktagonturm wandte er sich an Graf Tammsan. »Ich habe bemerkt, wie meine Bemerkung über Aditya Sie zum Lachen gebracht hat«, sagte er. »Haben Sie den Ersten Bürger getroffen?« »Nur auf dem Bildschirm, Majestät. Wir haben heute morgen ungefähr eine Stunde konferiert. Es scheint, daß das Erziehungssystem auf Aditya reformiert werden soll. Auf Aditya wird alles alle zehn Jahre reformiert, ob es nötig ist
oder nicht. Er ist hierhergekommen, um jemanden zu finden, der die Reformen in die Hand nimmt.« Paul blieb unvermittelt stehen und zwang damit seine Begleiter ebenfalls zum Anhalten. Er lachte herzlich. »Wir werden den Ersten Bürger Yaggo glücklich von hier fortschicken. Wir geben ihm den vorzüglichsten Erzieher Odins als Geschenk mit.« »Khane?« fragte Tammsan. »Khane. Ist es nicht wundervoll: Wenn man nur wenige Probleme hat, dann hat man Ärger; aber wenn man gleich einen Sack voll Probleme hat, dann heben sie sich gegenseitig auf. Wir haben jetzt Gelegenheit, Khane loszuwerden, und wir schaffen damit eine Lücke, in die ein geeigneter Mann springen kann. Der Erziehungsminister entgeht einer schwierigen Situation. Und der Erste Bürger Yaggo bekommt, was er sucht – « »Wie ich Khane und die Planetenvereinigung von Aditya kenne, wird es kein Jahr dauern, bis ihn Yaggo erschießen oder ins Gefängnis werfen läßt. Damit ist für die Raumflotte ein Vorwand geschaffen, Aditya einen Besuch abzustatten, nach dem man es nicht wiedererkennen wird«, fügte Prinz Travann hinzu. Die Studenten auf den Rasenflächen vor dem Palast jubelten noch immer, als Paul nach beendeter Ansprache mit seinen Ministern wieder hinabstieg. Die Sicherheitstruppen waren in verdächtiger Weise unsichtbar. Eine Abteilung rotuniformierter Soldaten empfing sie in der Halle vor dem Sitzungssaal. Prinz Ganzay erschien in Begleitung zweier Palastwachen, einem Thoraner und einem Menschen. Graf Tammsan blickte bestürzt von einem seiner Begleiter zum anderen. Es verwirrte ihn, daß alles so war, wie es sein sollte. »Meine Herren«, sagte Paul, »ich vermute, daß Sie sich vor Beginn der Sitzung einen Augenblick mit Ihren Kollegen im
Rundbau besprechen wollen. Ich danke Ihnen für Ihre Begleitung.« Als sie sich auf den Weg zum Saal gemacht hatten, stieß Prinz Ganzay zu ihm. »Majestät, was geht hier tatsächlich vor?« drängte er. »Wer kontrolliert den Palast – Sie oder Prinz Travann? Und wo befindet sich seine Kaiserliche Hoheit? Und wo ist General Dorflay?« »Ich habe Dorflay mit dem Befehl fortgeschickt, sich Prinz Rodriks Picknick anzuschließen. Ehe Sie sich darüber ärgern, stellen Sie sich lieber vor, was er hier angerichtet hätte.« Prinz Ganzay warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Ich habe mir eingebildet zu wissen, was los ist«, sagte er. »Aber jetzt – wie ist die Sache mit den Studenten eigentlich ausgegangen?« Paul erzählte es ihm. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, schaute der Premierminister auf die Uhr und schlug vor, die Sitzung zu eröffnen. Paul nickte, und sie begaben sich in den Rundbau. In der großen halbkreisförmigen Vorhalle war niemand anwesend außer einer Abteilung Palastwachen und der Kaiserin Marris mit ihren Hofdamen. Sie lief herbei, so schnell es ihr weiter Umhang gestattete, und nahm seinen Arm; die Hofdamen formierten sich hinter ihr, Prinz Ganzay zog voran und rief laut: »Verehrte Hoheiten und Lords – Seine Kaiserliche Majestät Paul XVII!« Marris’ Griff an seinem Arm wurde fester, als sie sich in Bewegung setzten. »Paul«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »was soll dieses dumme Gerede, daß Prinz Travann dich vom Thron stürzen will?« »Nicht wahr, ein dummes Gerede! Yorn hat sich viel zu lange in der Nähe des Throns aufgehalten, um nicht zu wissen, was für eine Art von Sitz das ist. Er würde jedes Verbrechen einschließlich Völkermord begehen, um den Thron von sich fernzuhalten.«
Sie machte einen kurzen Hüpfer, um mit ihm in Gleichschritt zu kommen. »Warum hat er dann den Palast mit all diesen Schwarzjacken bevölkert? Geht es Rod gut?« »Rod geht es gut. Er ist irgendwo in den Bergen und hält Dorflay davon ab, Dummheiten zu begehen.« Sie durchquerten den Sitzungssaal und nahmen ihre Plätze auf dem Doppelthron ein. Alle setzten sich wieder, und der Premierminister erklärte nach einigen Formalitäten die Plenarsitzung für eröffnet. Sofort sprang einer der Prinz-Räte auf und bat Seine Majestät um die Erlaubnis, eine Anfrage an die Regierung zu richten. »Ich frage Seine Hoheit, den Sicherheitsminister, nach der Bedeutung all dieser unerhörten Ereignisse im Palast und in der Stadt«, sagte er. Prinz Travann war sofort auf den Beinen. »Majestät, in Beantwortung der Anfrage Seiner verehrten Hoheit – « begann er und erging sich in einem Bericht über die Studentenunruhen, den Petitionsmarsch zum Herrscher und die Zwischenfälle mit den Schlägern der nichtarbeitenden Klasse. »Was die Sache mit der Universität angeht, so möchte ich seiner Lordschaft, dem Erziehungsminister, nicht vorgreifen. Ich kann Seiner verehrten Hoheit jedoch versichern, daß die Polizei- und Sicherheitstruppen die Kämpfe in der Stadt – falls sie überhaupt noch andauern sollten – fest in der Hand haben. Die Rädelsführer sind gefaßt, und mit Einverständnis des Justizministers können wir morgen mit der Untersuchung beginnen.« Der Justizminister versicherte den Sicherheitsminister seiner ungeteilten Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Untersuchung. Dann erhob sich Graf Tammsan und gab eine Erklärung zu den Unruhen auf der Universität ab. »Was ist denn passiert, Paul?« flüsterte Marris.
»Kanzler Khane hat einen Professor der Naturwissenschaften gefeuert, weil er sich zu sehr für Naturwissenschaft interessiert hat. Die Studenten protestierten. Khanes Nachfolger wird das vermutlich in Ordnung bringen. Wie war’s auf den Blumenfesten?« Sie hielt sich den Fächer vors Gesicht, um eine Grimasse zu verbergen. »Ich habe meine Pflichten erfüllt«, sagte sie. »Morgen stehen fünfzig weitere Feste auf dem Kalender.« »Kaiserliche Hoheit!« Der Reichsrat, der sich erhoben hatte, schwieg eine Weile, um sicherzugehen, daß ihm die Aufmerksamkeit des Herrschers zugewandt war. Dann fuhr er fort: »Da dieser Fragenkomplex ein wissenschaftliches Experiment zu beinhalten scheint, ist meiner Ansicht nach auch das Ministerium für Wissenschaft und Technik betroffen. Da das Ministerium gegenwärtig ohne Minister ist, möchte ich beantragen, daß die Diskussion erst nach der Wahl eines Ministers fortgesetzt wird.« Der Gesundheitsminister sprang auf. »Kaiserliche Hoheit, mit Ihrer Erlaubnis gehe ich mit dem Antrag Seiner verehrten Hoheit Hand in Hand und stelle den Zusatzantrag, daß das Ministerium für Wissenschaft und Technik abgeschafft werden möge. Seine Funktionen und sein Personal sollten unter die anderen Ministerien, insbesondere unter das Erziehungs- und Wirtschaftsministerium, aufgeteilt werden.« Ehe er sich wieder hingesetzt hatte, war schon der Minister für Schöne Künste auf den Beinen. »Kaiserliche Majestät, mit Ihrer Erlaubnis unterstütze ich den Antrag von Graf Guilfred und stelle zusätzlich den Antrag, daß der ebenfalls vakante Posten des Verteidigungsministers gleichermaßen abgeschafft wird. Seine Funktionen und sein Personal sollen seiner Hoheit dem Sicherheitsminister Prinz Travann übertragen werden.«
Das war es also. Er hörte Marris neben sich »Aha!« sagen. Er hatte schon seit langem entdeckt, daß sie mit diesem kleinen Wörtchen mehr ausdrücken konnte als ein durchschnittlicher Reichsrat mit einer halbstündigen Ansprache. Prinz Ganzay saß wie vom Donner gerührt da. Sechs oder acht der Reichsräte redeten laut durcheinander. Vier Minister waren aufgesprungen und meldeten sich zu Wort. Graf Duklass schrie am lautesten, und so wurde ihm das Wort erteilt. »Kaiserliche Hoheit, es würde sich für mich nicht ziemen, den Vorschlag von Graf Guilfred zu unterstützen, da ich selbst betroffen bin. Ich habe jedoch keinerlei Bedenken, den Vorschlag von Baron Garatt, dem Minister für Schöne Künste, zu unterstützen. In der Tat halte ich den Vorschlag für ausgezeichnet – « »In meinen Augen ist dieser Vorschlag der teuflischste und gefährlichste, der in den letzten sechshundert Jahren in diesem Saal gemacht worden ist«, schrie der ehemalige Admiral Geklar. »Der Vorschlag läuft darauf hinaus, daß die gesamte bewaffnete Macht des Reiches in den Händen eines einzigen Mannes vereinigt wird. Wer ist in der Lage vorauszusehen, auf welch skrupellose Weise eine solche Machtstellung mißbraucht werden kann?« »Wollen Sie damit ausdrücken, Prinz-Rat, daß Prinz Travann einen derartigen subversiven Gebrauch von seiner Machtstellung plant?« fragte ausgerechnet Graf Tammsan die Versammlung. Jetzt redeten alle durcheinander. Die Hälfte der Anwesenden war sich dessen sicher. Admiral Geklar wich der Frage aus. »Prinz Travann ist nicht der letzte Sicherheitsminister«, sagte er. Graf Duklass setzte seine Ausführungen fort. »Ich wollte sagen, Majestät, daß das Sicherheitsministerium nach Lage der Dinge praktisch den Alleinbefehl über die bewaffneten Kräfte
auf diesem Planeten besitzt. Als die Unruhen, die von Prinz Travanns Männern jetzt unter Kontrolle gebracht werden, in der Stadt ausbrachen, erging nach meinen Informationen der Befehl, reguläre Truppen und planetarische Miliz in Asgard zu versammeln. Es wird Stunden dauern, ehe das Militär da sein kann, und es wird wenigstens ein Tag vergehen, ehe die Miliz mobilisiert ist. Bis das geschieht, gibt es hier für beide nichts mehr zu tun. Ist das richtig, Prinz Ganzay?« Der Premierminister warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Die Erkenntnis, daß noch jemand über einen persönlichen Nachrichtendienst verfügte, der so gut wie sein eigener war, berührte ihn schmerzlich. Doch dann unterdrückte er seinen Ärger und bejahte die Frage. »Des weiteren«, fuhr Graf Duklass fort, »stellt das Verteidigungsministerium einen Anachronismus dar, der zweifellos an den jetzigen Zuständen Schuld trägt. Alle unsere Verteidigungsprobleme sind Probleme der inneren Sicherheit. Deshalb sollten wir die Kontrolle in die Hände desjenigen Ministers legen, der für die Spezialeinsätze verantwortlich ist.« Die Debatte zog sich in die Länge. Paul schenkte ihr immer weniger Aufmerksamkeit. Es wurde deutlich, daß die Opposition gegen den Vorschlag im Schwinden war. Rufe wie Abstimmen! Abstimmen! kamen aus den Reihen der Befürworter. Prinz Ganzay erhob sich und näherte sich dem Thron. »Kaiserliche Majestät«, sagte er leise, »ich bin gegen diesen Vorschlag, aber ich bin davon überzeugt, daß er genug Stimmen erhält, um auch gegen das Veto eurer Majestät durchzukommen. Wünschen Majestät meinen Rücktritt, ehe zur Abstimmung geschritten wird?« Paul stand auf, stellte sich neben den Premierminister und legte einen Arm um seine Schulter.
»Auf keinen Fall, alter Freund«, sagte er deutlich hörbar. »Ich brauche Sie viel zu sehr. Was jedoch den Vorschlag angeht, so bin ich nicht dagegen. Ich halte den Vorschlag für ausgezeichnet. Er hat meine Billigung.« Er senkte die Stimme. »Sobald die Abstimmung vorbei ist, schlagen Sie General Dorflay zur Ernennung als Reichsrat vor.« Der Premierminister warf ihm einen traurigen Blick zu, nickte schließlich und ging an seinen Platz zurück, wo er mit einem Schlag seines Hammers um Ordnung bat und zur Abstimmung aufrief. »Verbünde dich mit ihnen, wenn du sie nicht schlagen kannst«, sagte Marris, als er sich neben sie setzte. »Und wenn sie dich jagen wollen, dann ruf einfach: ›Da läuft er; folgt mir nach!‹« Der Vorschlag wurde fast einstimmig angenommen. Prinz Ganzay schlug daraufhin vor, General Dorflay in den Stand eines Reichsrats zu erheben, und der Herrscher stimmte zu. Sobald die Sitzung vertagt war, schlüpfte Paul durch die kleine Tür hinter dem Thron in einen Aufzug. In seinem Zimmer an der Spitze des Oktagonturms legte er Gürtel und Zierdolch ab. Er öffnete seinen Umhang, setzte sich in seinen tiefen Sessel und rief einen Servierroboter. Es war derselbe, der ihm das Frühstück gebracht hatte, und er begrüßte ihn als Freund. Der Roboter zündete ihm eine Zigarette an und schenkte ein Glas Brandy ein. Er saß lange da, rauchte, schlürfte den Brandy und schaute durch das große Fenster nach Westen hinaus, wo die orangefarbene Sonne die Wolken in feurige Glut tauchte. Er bemerkte, daß er ungewöhnlich müde war. Kein Wunder; war doch heute mehr Reichsgeschichte gemacht worden als in all den Jahren seit seiner Thronbesteigung.
Er hörte ein klickendes Geräusch hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Yorn Travann aus dem geheimen Aufzug treten. Er lächelte und hob ihm grüßend das Glas entgegen. »Ich dachte mir schon, daß du heute etwas später kommst«, sagte er. »Alle haben versucht, sich auf die Seite des Siegers zu schlagen, nicht wahr?« Yorn Travann löste seinen Gürtel und legte ihn zu dem Pauls. Er ließ sich in den gegenüberstehenden Sessel sinken, und der Roboter schenkte auch ihm ein Glas ein. »Willst du sie dafür tadeln? Als was wäre dir die ganze Sache erschienen, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst?« »Als Staatsstreich. War es das nicht auch? Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt, daß du so etwas vorhast?« »Ich hatte es nicht vor; ich bin hineingerutscht. Ich wußte von nichts, bis mich Max Duklass an den Landeplätzen beiseite nahm. Ich hatte die Absicht, dem Antrag auf Trennung von Wissenschaft und Technik zu widersprechen, aber dann brachen diese Unruhen aus und schüchterten Duklass, Tammsan, Guilfred und die übrigen ein. Sie waren sich ihrer Mehrheit nicht allzu sicher – aus diesem Grund wurde die Wahl mehrfach verschoben – aber sie glaubten, daß die Aufstände einige der unentschlossenen Räte gegen sie einnehmen würden. So boten sie mir an, mir den Rücken bei der Übernahme des Verteidigungsministeriums zu stärken, wenn ich ihren Vorschlag unterstützte. Die Gelegenheit war zu günstig, als daß ich sie hätte auslassen können.« »Auch auf Kosten von Technik und Wissenschaft?« »Wissenschaft und Technik waren schon lange tot oder rosteten nutzlos vor sich hin. Die Hauptfunktion der Technik bestand in der Unterdrückung von allem, das den Zustand des wirtschaftlichen Erstarrungstodes bedroht, den Duklass ›Stabilität‹ nennt. Und die Wissenschaft war einigen Schafsköpfen wie Khane und Dandrik vorbehalten, die sich
damit begnügten zu lehren. Das Verteidigungsministerium besitzt seine eigenen wissenschaftlichen und technischen Abteilungen, und wenn es um die Verteilung des Kuchens geht, werden Duklass und Tammsan die größten Stücke auf meiner Platte sehen.« »Und wenn alles aufgeteilt ist, wird man feststellen, daß für die eigentliche Forschung nichts übriggeblieben ist. Aus diesem Grund wird es Meiner Kaiserlichen Majestät belieben, ein Kaiserliches Institut für wissenschaftliche Forschung einzurichten, das unabhängig von den Ministerien arbeitet. Und rate mal, wen ich zum Institutsleiter bestimmen werde?« »Faress. Und über Khane sind wir uns auch alle einig. Der Erste Bürger Yaggo freut sich so sehr, ihn zu bekommen, wie wir, ihn loszuwerden. Warum holen wir Vann Evarett nicht zurück und setzen ihn an die Stelle Khanes?« »Gut. Wenn er vom nächsten Semester an die Sache hier in die Hand nimmt, dann haben wir in zehn Jahren Tausende junger Männer, oder vielleicht zehnmal so viele, die vor neuen Dingen und Ideen keine Angst haben. Aber die Hauptsache ist, daß du das Verteidigungsministerium übernommen hast und der Plan jetzt zügig durchgeführt werden kann.« »Ja.« Yorn Travann holte sich selbst eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Paul schielte nach dem Roboter und hoffte, daß dessen Gefühle nicht verletzt worden waren. »All die Eingeborenenaufstände habe ich aus stammesinternen Messerstechereien aufgepäppelt, und die Bürgerkriege haben meine Leute fabriziert. Es wird noch mehr davon geben, und ich werde immer lauter nach einer angemessenen Raumflotte rufen. Wenn wir die Flotte bekommen haben, werden diese lokalen Unruhen alle aufhören. Und was sollen wir dann tun? Die Schiffe verschrotten?« Sie wußten beide, wofür einige der Schiffe vorgesehen waren. Man würde heimlich vorgehen müssen, unter
Ausschluß der Öffentlichkeit. Einige der Schiffe würden weit über die Grenzen des Reichs hinausfliegen, neue Welten entdecken und das Reich vor neue Probleme stellen. Große und erschreckende Veränderungen. »Paul, wir waren uns schon als Studenten an der Universität darüber einig. Das Reich hat aufgehört zu wachsen, und wenn die Dinge nicht mehr wachsen, gehen sie zugrunde – sie sterben den Versteinerungstod. Und wenn die Versteinerung vollständig ist, dann treten Risse und Sprünge auf, und jede Hilfe kommt zu spät. Aber wenn wir Menschen auf neuen Planeten ansiedeln, wird das Reich nicht sterben, sondern wieder zu wachsen beginnen.« »Die Sache mit der Universität ging nicht von dir aus, oder?« »Nein, der Studentenaufstand nicht; aber der Angriff der Schlägertrupps schon. Das waren einige meiner eigenen Leute. Die wirklichen Schlägertrupps haben erst zu plündern begonnen, als Handrosan die Studenten aus dem Viertel geschleust hatte. Wir haben sie alle einschließlich der Bosse zu fassen bekommen. Zuerst mal Nutchy das Messer; daraufhin versuchten Big Moogie und Zikko die Nase ihr Glück. Wir sind gerade dabei, unter ihnen aufzuräumen. Morgen früh gibt es in ganz Asgard keinen einzigen dieser Stimmen-VerkaufsBlocks mehr, und innerhalb einer Woche wird der ganze Planet sauber sein. Ich habe eine Verschwörung aufgedeckt, und alle sind darin verwickelt.« »Moment mal«, sagte Paul und erhob sich. »Das erinnert mich an etwas. Harv Dorflay versteckt sich mit Rod und Olva draußen in den Bergen. Ich wollte ihn hier nicht im Weg haben, wenn die Ereignisse sich überschlagen. Ich muß ihn jetzt anrufen und ihm mitteilen, daß alles ruhig ist und er zurückkommen kann.«
»Dann mach deinen Umhang zu und leg den Zierdolch an; du siehst sonst aus, als ob man dich festgenommen, entwaffnet und verhört hätte.« »Du hast recht.« Hastig brachte er seine Kleidung in Ordnung, begab sich zum Schirm und wählte die Kombination von Rodriks Picknick. Ein junger Leutnant der Palastwache erschien im Bild und mußte erst mal beruhigt werden. Dann kam General Dorflay. »Majestät! Ist alles in Ordnung?« »Alles ist vollkommen in Ordnung, General, und Sie können Seine Kaiserliche Hoheit ohne weiteres hierherbringen. Die Verschwörung gegen den Thron ist aufgedeckt und zerschlagen.« »Den Göttern sei Dank. Ist Prinz Travann in Haft?« »Ganz im Gegenteil, General. Es war vielmehr unser treuer und ergebener Gefolgsmann Prinz Travann, der die Verschwörung zerschlagen hat.« »Aber – aber – Majestät –!« »Sie dürfen nicht glauben, daß Sie sich mit Ihrem Verdacht blamiert haben, General. Seine Agenten haben in den innersten Verschwörerkreisen mitgearbeitet. Jeder der Männer, den Sie aus gutem Grund verdächtigt haben, arbeitete in Wirklichkeit an der Aufdeckung der Verschwörung. Denken Sie mal zurück, General; der Plan, eine Maschinenpistole in den Bildschirm einzubauen, der Plan, den Aufzug zu präparieren, der Plan gedungene Mörder mit Schußwaffen in den Trompeten in das Orchester einzuschleusen – jeder dieser Pläne kam aufgrund einer scheinbaren Indiskretion der Verschwörer zu Ihrer Kenntnis, nicht wahr?« »Ich – nun, ja, Majestät!« Morgen um diese Zeit würden alle diese Geschichten in Dorflays Erinnerung verankert sein. »Sie meinen, die Indiskretionen waren freiwillig und gezielt?«
»Ihre Wachsamkeit und Treue zwang uns zu diesen phantastischen Umwegen, und Ihre Wachsamkeit vereitelte die Pläne, sobald sie zu Ihrer Kenntnis gelangt waren. Nun, heute haben Prinz Travann und ich zurückgeschlagen. Ich darf Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß alle Verschwörer tot sind. Sie wurden am Nachmittag bei diesen Unruhen, die von Prinz Travann eigens für diesen Zweck inszeniert worden waren, erschossen.« »Dann – dann ist es also vorbei mit den Anschlägen auf Ihr Leben?« In der Stimme des alten Mannes schwang eine Spur von Bedauern mit. »Es ist vorbei, Hoheit.« »Aber – Majestät, wie haben Sie mich gerade genannt?« fragte er ungläubig. »Ich habe die Ehre, Sie als erster mit Ihrem neuen Titel anzureden, Prinz-Rat Dorflay.« Er überließ den alten Mann, der Tränen der Glückseligkeit auf die Schulter des Kronprinzen fallen ließ, seinen Gefühlen. Der Kronprinz stand neben dem General und winkte. Prinz Travann hatte sich inzwischen von dem Roboter zwei weitere Gläser einschenken lassen und reichte eines davon an Paul weiter, als er sich wieder zu seinem Sessel zurückbegab. »Er wird innerhalb von einer Woche den gesamten Reichsrat als einen Abgrund von Landesverrat erkennen«, sagte Travann. »Doch du hast es ganz richtig gemacht. Ein weiterer Fall, der zeigt, daß sich Probleme gegenseitig aufheben.« »Du hast mir von einer Verschwörung erzählt, die du aufgedeckt hast.« »Ach ja. Diese Verschwörung übertrifft Dorflays kühnste Phantasien. Alle Wahlstimmenbosse haben sich miteinander verschworen, einen Bürgerkrieg anzufachen, um dadurch Gelegenheit zur Plünderung des Planeten zu erhalten. Natürlich ist kein Wort davon wahr. Aber es reicht aus, um die
Bosse einige Tage in Haft zu halten. Inzwischen übernehmen meine Agenten die Kontrolle über sämtliche NichtarbeiterStimmen auf dem Planeten. Schließlich haben die Kartelle in jedem anderen Geschäftszweig mit dem Wettbewerb ein Ende gemacht; warum nicht auch ein Wahlstimmenkartell? Dann brauchen wir bei jeder Wahl nur noch nach Angeboten zu inserieren.« »Aber das würde ja absolute Kontrolle bedeuten – « »Kontrolle der Nichtarbeiter-Stimmen, ja. Und ich garantiere persönlich dafür, daß in fünf Jahren die Politik auf Odin so unerträglich korrupt und mißbraucht ist, daß die Intellektuellen, die Techniker, die Geschäftsleute und sogar der Adel in Scharen zur Wahlurne laufen werden. Und wenn auch nur die Hälfte von ihnen ausrückt, können sie die Nichtarbeiter überstimmen. Das bedeutet schließlich das Ende des Stimmenhandels, und die Nichtarbeiter müssen sich nach Arbeit umsehen. Ich denke, wir werden welche für sie finden.« »Große und erschreckende Veränderungen.« Yorn Travann lachte; er erkannte den Satz wieder. Vermutlich war er sogar derjenige gewesen, der ihn in die Welt gesetzt hatte. Paul hob sein Glas: »Auf den Minister für Unruhe!« »Majestät!« Sie tranken einander zu, und Yorn Travann sagte: »Als wir noch Jungen waren, hatten wir eine Menge wilder Träume. Es sieht aus, als ob wir dabei wären, einige davon zu verwirklichen. Du weißt, daß die Studenten zu unserer Zeit nie dasselbe wie die Studenten heutzutage gewagt hätten. Sie haben es noch nicht einmal bei der Entlassung Vann Evaretts vor zehn Jahren gewagt.« »Aber Vann Evaretts Schüler kehrte nach Odin zurück und brachte alles ins Rollen.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich frage mich, was Faress mit diesem Antizipationseffekt entdeckt hat.«
»Ich glaube, ich weiß, was daraus werden kann. Wenn es ihm gelingt, eine Welle herzustellen, die ein ähnliches Verhalten wie diese Mikropositos zeigt, dann sind wir zur Vermittlung von Nachrichten nicht mehr auf Schiffe angewiesen. Wir werden eines Tages über den Bildschirm mit Baldur, Vishnu, Aton oder Thor ebenso leicht in Verbindung treten können wie jetzt mit Dorflay in den Bergen.« Er dachte einen Augenblick schweigend nach. »Ich weiß nicht, ob das ein Vor- oder Nachteil ist. Aber es ist jedenfalls etwas Neues, und das allein zählt.«
Originaltitel: MINISTRY OF DISTURBANCE Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Dezember 1958 und SEVEN TRIPS THROUGH TIME AND SPACE, edited by Groff Conklin Copyright © 1968 by Fawcett Publikations, Inc. Übersetzt von Helmut Axmann
Gregory Benford AUFRUHR IN DER BURTON STREET
Ich stand mit Joe Murphy neben einem unserer provisorischen Kommandoposten und stocherte mir den Rest des Frühstücks aus den Zähnen, als die erste Welle des randalierenden Mobs sich ankündigte. Der Frühling hatte seine Blüten abgeworfen, und es ging auf den Sommer zu. Es war heiß, und die Luft war zum Ersticken. Sie kennen ja diese Art von Sommertagen, an denen einem schon der Schweiß herunterläuft, bevor man überhaupt mit dem Frühstück fertig ist. In solchen Sommern ist es meistens besonders schlimm, aber dieser versprach der schlimmste zu werden, den ich erlebt habe, seit ich bei der Polizei bin. Wir wußten schon lange, daß sie hier in der Gegend waren und langsam näher kamen. Seit einer halben Stunde hatte Scott, unser Nachrichtenmann, alle Hände voll zu tun: Daten über Verlauf und Richtung der Unruhen, Computeranalysen zu unseren Einsätzen – na ja, Sie wissen schon. Ich sah die Straße hinunter. An ihrem unteren Ende war eine Reihe von Behelfsläden und ein schwerer gußeiserner Briefkasten. Über den ärgerte ich mich jedesmal von neuem – völlig sinnlos, daß er da unten stand. Vom anderen Ende der Straße hörte man in unregelmäßigen Abständen das dumpfe Aufbrüllen des Mobs. Während wir uns fertig machten, jammerte Joe in einem fort um das viele Geld für das neue Auto, das er sich hatte aufschwatzen lassen. Mit einem Ohr hörte ich ihm zu und mit dem anderen paßte ich auf das Gejohle der Meute auf.
»Und das ist es ja nicht allein«, jammerte Joe weiter. »Die ganze Nachbarschaft und die Schule und alles um mich herum.« »Natürlich, alles und jeder ist schuld daran, nur Murphy nicht, was?« sagte ich und grinste. »Ach zum Teufel, du kennst mich doch wirklich besser. Es ist einfach so, daß man nicht mehr weiterkommt, man bleibt kleben. Klar, wir haben alle einen Job. Aber was ist denn das für ein Job, nur Routine und mühselige Kleinarbeit. Die anderen Abteilungen sind froh, daß sie diese Arbeit losgeworden sind.« »Für einen richtigen Job mußt du schon etwas gelernt haben«, sagte ich und wollte ihn damit keineswegs kränken. Ich bin nämlich mit meinem Job zufrieden, und er ist besser als viele andere. Aber ich meine, wir sollten uns auch nichts vormachen, daß wir hier großartig etwas mit Technik zu tun hätten. Joe und ich sind ganz normale Burschen. »Wie kommst du denn jetzt auf einmal auf solche Gedanken?« fuhr ich fort. »Du hast dich doch sonst auch nie über etwas aufgeregt?« Joe zuckte mit den Schultern. »Weiß auch nicht. Meine Frau ist dauernd hinter mir her, wir sollen ausziehen, woanders hin, und ich soll mehr Geld verdienen. – Hat dauernd Ärger mit den Nachbarn.« Und jetzt sah er doch sehr kleinlaut aus. »Mehr Geld? Aber zum Teufel, du hast doch alles, was du brauchst. Wir alle haben genug zum Leben. Ein Haufen Leute ist schlechter dran als du. Schau dir doch diese armen Schweine von Afrikanern an, die leben praktisch von gar nichts.« Ich wollte ihm noch viel mehr sagen, vielleicht ihm auch das unter die Nase reiben, daß er ja schließlich verheiratet war und ich nicht, aber dann ließ ich es bleiben. Wie ich schon sagte, während der ganzen Zeit hatte ich mit einem Ohr immer aufgepaßt, was der Mob da unten machte. Ich kann Ihnen
nämlich genau sagen, wann so ein Pack plötzlich die Richtung ändert wie ein Rudel Wölfe, das auf der Jagd ist. Und als es auf einmal so seltsam still wurde, und das dauerte über fünf Sekunden lang, da wußte ich, daß sie jetzt zu uns heraufkamen. »Scott!« schrie ich zu unserem Nachrichtenmann hinüber. »Machen Sie Schluß hier und lassen Sie sich eine Zusammenfassung geben!« Auch Murphy war still geworden und horchte minutenlang auf das Gejohle der Meute, als ob er es vorher gar nicht gehört hätte. Dann drehte er sich um und trabte zu den An-Polizisten hinüber, die wir in einem Lastwagen versteckt hatten. Sie waren schon alle vorgewärmt und sofort für den Einsatz bereit. Aber Joe hatte die Angewohnheit, sie kurz vor einem Einsatz noch ein letztes Mal zu überprüfen und ihnen eventuelle Programmänderungen, die Scott in letzter Minute erhielt, einzugeben. Ich warf den Zahnstocher weg und kontrollierte die Verschlüsse meines kugelsicheren Panzers. Da kam Scott gerannt und brachte die letzten Analysen aus dem Hauptquartier. Der Computerstreifen mit der Aufstellung war sauber gedruckt wie immer, und keiner kannte sich damit so recht aus – auch immer dasselbe. Alles in allem waren es ziemlich grobe Schätzungen über die Zusammensetzung des Mobs, der da auf uns zukam. Nichts als Vermutungen, Freunde, und das ist schon fast mehr als man erwarten kann – ein Haufen Verrückte und Rassenhaß und so – ja, und auch ziemlich viele Arbeitslose. Die werden jetzt immer mehr hier in der Stadt, und für die Polizei sind die das größte Problem. Die sind verrückt genug, daß sie gleich hochgehen. Die hauen alles zusammen. Ich malte mein Okay an den Rand und gab Scott den Streifen zurück. Ich habe mich überhaupt zu lange damit aufgehalten, das Zeug zu lesen. Jetzt konnte ich schon einzelne Rufe hören
und das Splittern von Glas. Ich klappte das Visier an meinem Helm herunter und schaltete den Funk ein. Es würde verdammt heiß da drin werden, aber ich bin doch kein Narr und lasse mir auch noch eine Klimaanlage in den Anzug montieren; der ist sowieso schon schwer genug. Als ich wieder die Straße hinunter blickte, bog gerade ein Haufen von vielleicht hundert Leuten um die Ecke, zwei Häuserblocks von mir entfernt. Sie verbreiteten sich über die Straße wie Brackwasser, das den Strand hinauf leckt. Ich duckte mich hinter einen Gebäudevorsprung und winkte Murphy, er solle mit drei An-Polizisten anfangen. Ich müßte drei Finger hochheben, damit er sah, was ich meinte, denn das Geschrei war schon zu laut, als daß wir uns noch verständigen konnten. Ich sah auf die Uhr. Verdammt nochmal, es war noch nicht einmal neun Uhr. Scott kam die Treppe herunter, die wir provisorisch an die Seitenwand des Hauses gelegt hatten, und ich folgte ihm. Es war nämlich kein guter Platz zum Beobachten, man stellt da oben eine ziemlich gute Zielscheibe dar. Murphy schloß sich uns an; er schleppte die Fernsteuerungen und Kontrollgeräte. Wir bogen alle drei in eine kleine Seitengasse ein und versteckten uns hinter einem niedrigen Zaun, von wo aus wir die Straße ganz gut übersehen konnten. Sie schrien alle aus vollen Lungen, als ob ihnen im Leben noch nie die Luft ausgegangen wäre. In den Händen schwangen sie, was ihnen eben gerade in die Quere gekommen war, und verarbeiteten es schön langsam zu Kleinholz. Die schnelleren von ihnen waren schon bei den ersten Läden. Ein Hüne von Neger kam auf uns zu. Er bewegte sich so gelassen und selbstverständlich, als hätte er nie in seinem Leben etwas anderes getan. Vor der Holzfassade eines Friseurladens blieb er stehen. Er holte blitzschnell aus und warf einen Gegenstand durch die Schaufensterscheibe.
Wumm! Aus dem Fenster schlugen Flammen, die sich schnell über die ganze obere Fassade verbreiteten. Ein älterer Mann bückte sich, hob Steine auf und begann systematisch die kleineren Fenster im Haus nebenan einzuwerfen. Dann kam eine Hausfrau, die auf ihren hohen Absätzen daherschaukelte, als wäre sie zum Einkaufen unterwegs; nur schwang sie statt einer Tasche einen Hammer. Sie ging in den brennenden Friseurladen hinein, kam aber ganz enttäuscht wieder heraus. Der Neger grinste und wies auf das Barbierschild über der Tür. Die Vettel holte mit ihrem Hammer aus und zerschlug es, daß die Glassplitter zehn Meter weit flogen. Ich drehte mich zu Murphy um. »Alles fertig?« Er nickte. »Du mußt es nur sagen.« Das Reisebüro neben dem Friseurladen hatte Betonmauern. Das konnten sie wenigstens nicht in Brand stecken. Fünf Männer warfen sich gegen die Tür. Beim dritten Versuch sprang sie auf. Kurz darauf flog ein großes Reklameschild durchs Fenster heraus, dann ein Stuhlbein. Klar, sie taten, was sie nur konnten, aber ohne geeignetes Werkzeug konnten sie an den Möbeln wenig Schaden anrichten. »Okay«, sagte ich dann, »lassen wir die ersten An-Polizisten los.« Dichter beißender Rauch trieb von der Burton Street zu uns herauf. Unsere Luftfilter würden das schon schaffen, aber gegen das Schwitzen konnten sie nicht viel ausrichten, und wir würden ja wahrscheinlich den ganzen Tag in der Montur stecken. Unser erster Streifenwagen bog um die Ecke; etwas zu schnell, wie mir schien. Ich warf einen Blick zu Murphy hinüber, der den Wagen über Fernsteuerung lenkte, aber der war viel zu sehr damit beschäftigt, den einzelnen Gruppen mitten auf der Straße auszuweichen. Er kam mir heute ein
wenig zu vorsichtig vor; irgend etwas schien ihn bei der Arbeit zu stören. Ich war davon überzeugt, daß der Wagen ins Schleudern kommen würde und uns den ganzen Einsatz versaute. Aber er fing sich Gott sei Dank wieder, und der Fahrer trat voll auf die Bremsen. Durch das schrille Quietschen wurden fast alle auf der Straße aufmerksam und stürmten auf den Wagen zu, noch bevor er in einer Wolke aus Staub und rauchendem Gummi ganz zum Stehen gekommen war. Murphy tastete eine neue Anweisung ein. Der Beifahrer eröffnete das Feuer auf einen jungen Burschen auf dem Gehsteig, der einen MolotowCocktail anzünden wollte. Der An-Polizist benutzte ein Repetiergewehr. Als sich der Junge blitzschnell überzeugt hatte, woher die Schüsse kamen, war er mit einem Satz hinter der Tür eines Eisenwarenladens verschwunden. Inzwischen wurde der Wagen mit allen nur möglichen Gegenständen bombardiert – mit Ziegeln, Teilen von zertrümmerten Möbeln und Waren aus den umliegenden Läden. Ein schwerer Gegenstand durchschlug die Windschutzscheibe, und der Fahrer duckte sich zu spät zur Seite, so daß seine linke Hand von dem Gegenstand, einer Flasche, zerschmettert wurde. Auch auf dem flachen Dach des Eisenwarenladens war jetzt ein Mann aufgetaucht, offensichtlich der Bursche vom Gehsteig. Mit einer weit ausholenden Bewegung warf er etwas auf die Straße hinunter. Man hörte das Klirren von Glas, und genau vor dem Kühler des Streifenwagens schoß eine Stichflamme hoch. Im Nu war der Wagen in Rauch gehüllt, und wir konnten nicht mehr sehen was im Fahrerhaus vor sich ging. Murphy mußte sich auf seine Schätzungen und sein Gefühl verlassen. Aus einem Hauseingang trat ein ziemlich junger Kerl auf die Straße; er hatte eine Flinte mit abgesägtem Lauf in der Hand. Wie ein alter Westernheld beugte er die Knie und gab aus der
Hüfte sehr schnell hintereinander zwei gezielte Schüsse auf das Seitenfenster des Streifenwagens ab. Sie trafen den AnPolizisten, der gerade aussteigen wollte, voll ins Gesicht. Sein Körper wurde von der Wucht der Ladungen zurückgeschleudert und fiel dann vornüber aufs Pflaster. Um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache, die sich rasch vergrößerte und dann in den Rinnstein abfloß. Die Menge wurde fast verrückt vor Begeisterung, und der Junge ging zu dem Erschossenen und riß ihm das Erkennungszeichen von der Uniform. »Als Andenken!« rief er, und ein paar lachten. Ich sah wieder zu Murphy hinüber, und er sah mich erwartungsvoll an. Ich nickte ihm zu, die Feuerwehrleute loszuschicken. Gleichzeitig übernahm ich die Steuerung mit meinem Gerät. Scott hatte damit zu tun, die Vorgänge auf Band zu sprechen und zu kommentieren. Für das spätere Protokoll war das unerläßlich. Murphy stieß ihn kurz an, und Scott schaltete die Fernsteuerung für die Feuerwehrleute ein. Fast die ganze Burton Street stand jetzt in Flammen. Alles, was sich auf der Straße bewegte, war in einem orangefarbenen Schimmer getaucht. Der Mob hatte das Interesse an den Polizisten verloren und schob sich jetzt langsam zu uns herauf. Genauso hatten wir es geplant. Die Feuerwehrleute trabten jetzt mit ihrem typischen schlenkernden Trott auf die Straße. Sie schleppten nur ein C-Rohr mit, das an einem Hydranten in der Seitenstraße angeschlossen war. Um unsere Leiter- und Spritzenwagen einzusetzen, war die Menge ja wirklich zu klein. Aber unsere Feuerwehrmänner trugen die üblichen roten Uniformen und waren von weitem nicht von echten zu unterscheiden. Die Programmbänder mußten schon wieder durcheinandergekommen sein. Anstatt sich dem Friseurladen vorzunehmen oder irgendeinen anderen, der schon brannte, so hatte ich es ja programmiert, richteten sie ihre Spritze auf ein
Schreibwarengeschäft, das noch völlig unversehrt war. Die Menge war etwas zurückgewichen, um zu sehen, was jetzt kam. Dann schoß das Wasser durch den Schlauch. Es durchschlug die große Schaufensterscheibe, und ich konnte hören wie der mächtige dicke Strahl drinnen das Mobiliar durcheinander wirbelte. Die Menge grölte, vielmehr das was von ihr noch da war, denn ich hatte gesehen, daß sich schon einige Gruppen abgesondert hatten und weitergezogen waren. Nach einer Minute etwa hörte das Gebrüll auf. Ein Kerl, der so aussah, als wäre er schon als Verrückter geboren worden, hatte sich von irgendwoher eine Axt geholt. Mit der hieb er jetzt auf den Schlauch ein. Das erste Mal passierte gar nichts, aber die Leute standen um ihn herum und beobachteten ihn, und ich glaube, er fühlte sich irgendwie verpflichtet, es ihnen zu zeigen. Aber wenn so ein Schlauch unter Druck steht, ist das keine einfache Sache. Doch er ließ sich nicht entmutigen, und nach dem vierten Versuch hatte er tatsächlich ein Loch in den Schlauch geschlagen – was für mich übrigens danach ziemlich viel Arbeit bedeuten würde, ihn wieder zu flicken. Auf jeden Fall schoß ein kräftiger Strahl heraus und traf den armen Kerl fast ins Gesicht. Die Leute lachten, als er sich mit einem grotesken Sprung in Sicherheit brachte. Ist nämlich kein Spaß, so ein Wasserstrahl mit diesem Druck. Der Feuerwehrmann, der gar nicht weit entfernt davon die Spritze hielt, hatte den Zwischenfall nicht bemerkt. – Klar, er war ja auch nicht dafür programmiert. Der Kerl mit der Axt sah es, ging hin und hieb sie dem Feuerwehrmann in den Rücken. Die Sache wurde allmählich heiß, aber ich hatte nicht das Gefühl, daß ich das Grundprogramm überzog. Es dauerte nicht lange, da lagen alle drei Feuerwehrmänner niedergestreckt auf
Ich sah ihm nach, wie er in der Seitenstraße verschwand. Er war schon tüchtig. Würde ihn ungern verlieren. Ich ging langsam zurück zu unserer Station. Eine Weile überlegte ich noch hin und her. Dann beschloß ich, Joes Namen auch mit auf die Liste zu setzen. Für alle Fälle. Wäre mir nämlich verdammt unangenehm, wenn er mal auf mich losginge. Er würde sicher wieder fröhlicher werden – und zuverlässiger und ruhiger arbeiten. Mir ist es ja nach dem letzten Mal auch so gegangen. Es ist schon ein guter Job, den ich da habe. So für die Allgemeinheit zu arbeiten – aufzupassen, daß sich die Leute so richtig wohl fühlen. Ich bog um die Ecke am Ende der Straße. Ich dachte, ein Drink würde mir jetzt ganz gut tun und sah wieder den Briefkasten. Der fällt mir jedes Mal auf, wie es einem so mit Dingen geht, die irgendwo absolut fehl am Platz sind. Es sollte ja schon alles so realistisch wie möglich in der Burton Street aussehen, aber auch noch einen Briefkasten dort aufzustellen, erschien mir schon etwas zu dämlich. Wer wollte denn so ein gußeisernes Denkmal schon in Brand stecken. Daran konnte sich doch wirklich niemand abreagieren. Und darüber hinaus war er ja auch völlig sinnlos. Ein Briefkasten in der Burton Street! Es lebt ja kein Mensch dort.
Originaltitel: NOBODY LIVES ON BURTON STREET Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION, edited by Donald Wollheim und Terry Carr Copyright © 1971 by Donald Wollheim und Terry Carr Übersetzt von Jannis Kumbulis