Professor Prochaska hatte es möglich gemacht. Mit der von ihm erfundenen Zeitmaschine konnte man in die Vergangenheit z...
102 downloads
1585 Views
588KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Professor Prochaska hatte es möglich gemacht. Mit der von ihm erfundenen Zeitmaschine konnte man in die Vergangenheit zurückreisen, zum Beispiel in die Kreidezeit, um dort Dinosaurier zu jagen. Billig war dieses Vergnügen zwar nicht, aber es gab genug Leute mit Geld, die sich einen Dinosaurierschädel an der Wohnzimmerwand etwas kosten ließen. Ganz ungefährlich war so eine Urzeit-Safari allerdings auch nicht, besonders wenn Leute mitmachten, die auf alles schossen, was ihnen vor die Flinte geriet, und wenn die Bestie noch so groß und tückisch war ... IN DEN DSCHUNGELN DER URZEIT von L. Sprague de Camp
und weitere Stories von A. E. van Vogt und Damon Knight
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 62 SCIENCE-FICTION-STORIES 63 (Ullstein Buch 3285) Phantastische und utopische Erzählungen von Ray Bradbury SCIENCE-FICTION-STORIES 64 (Ullstein Buch 3298) Erzahlungen von Thomas M. Disch. Colin Free, Edward Maskin und Jack B. Lawson
Ullstein Buch Nr. 3458 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Lothar Heinecke, Thomas Schlück und Leni Sobez Umschlagillustration: Young Artists / Schlück Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-548-03458-6
SCIENCE-FICTION-STORIES 65 (Ullstein Buch 3314) Erzählungen von Algis Budris, Brian W. Aldiss, Fritz Leiber und James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 66 (Ullstein Buch 3323) Erzählungen von H. Beam Piper, Henry Kuttner und Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 67 (Ullstein Buch 3338) 3 Erzählungen von James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 68 (Ullstein Buch 3351) Stories von James H. Schmitz, Frederik Pohl, James E. Gunn und Daniel F. Galouye SCIENCE-FICTION-STORIES 69 (Ullstein Buch 3378) Stories von John Wyndham, Arthur C. Clarke, J. T. McIntosh, Ray Bradbury und anderen SCIENCE-FICTION-STORIES 70 (Ullstein Buch 3404) 3 Erzählungen von James Gunn
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 71. Von L. Sprague de Camp ... – 1978. (Ullstein-Bücher; Nr. 3458: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03458-6 NE: De Camp, Lyon Sprague [Mitarb.]
Science-FictionStories 71 von L. Sprague de Camp, A. E. van Vogt, Damon Knight
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT In den Dschungeln der Urzeit L. Sprague de Camp ..........................................
6
Die Lücke in der Zeit A. E. van Vogt ....................................................
55
Der Überläufer Damon Knight ....................................................
87
L. Sprague de Camp IN DEN DSCHUNGELN DER URZEIT Nein, Mr. Seligmann, ins Mesozoikum kann ich Sie leider nicht mitnehmen. Natürlich nehme ich Sie gern mit auf die Dinosaurierjagd, aber nicht ins Mesozoikum. In jede andere Zeitepoche sofort. Warum? Das will ich Ihnen gern sagen. Was wiegen Sie denn? Hundertdreißig. Na, sehen Sie, viel zu wenig. Einhundertfünfzig ist meine unterste Grenze. Meinetwegen nehme ich Sie ins Tertiär mit. Ich verschaffe Ihnen einen Entelodonten oder einen Titanotheren. Mit diesen Viechern können Sie sich schon sehen lassen. Für Sie will ich sogar eine besondere Ausnahme machen und Sie mit ins Pliozän nehmen, wo Sie ein Mammut oder ein Mastodon erlegen können. Wir können auch ins Trias reisen, wo Sie einen der kleineren Ur-Dinosaurier abschießen können. Aber Jura- oder Kreidezeit kommt unter gar keinen Umständen in Frage. Dafür sind Sie einfach zu klein und zu schwächlich. Oh, ich möchte Sie natürlich nicht beleidigen. Was Ihr Gewicht damit zu tun hat? Ja, mein Lieber. Haben Sie sich schon einmal überlegt, womit Sie eigentlich die Viecher abschießen wollen? Darüber haben Sie sich noch keine Gedanken gemacht, was?
So, da sind Sie ja. Nun, nehmen Sie doch bitte einen Augenblick Platz! Hier, das ist meine eigene Büchse, die ich dazu verwende, eine 14-mm-Continental. Sieht aus wie eine zu groß geratene Schrotflinte, nicht wahr? Keine Angst, sie hat einen gezogenen Lauf. Sie schießt zwei Nitro-Expreß-Patronen, ungefähr so groß wie Bananen, wiegt vierzehneinhalb Pfund und hat eine Mündungsenergie von zweitausend. Sie kostet aber auch vierzehnhundert Dollar. Eine ganz hübsche Stange Geld für ein Gewehr, nicht wahr? Ich besitze noch ein paar von der gleichen Sorte, die ich an die Sahibs vermiete. Eigentlich sind sie für Elefanten bestimmt zum Abschießen, nicht nur zum Verwunden. Ein Schuß aus so einer Büchse wirft sie einfach über den Haufen. Deshalb wird das Ding auch nicht in Amerika hergestellt. Allerdings nehme ich an, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis sie auch hier zu haben ist, wenn weiterhin so viele Jagdgesellschaften durch Prochaskas Zeitmaschine gehen. Ich gehe nun schon seit zwanzig Jahren auf Safaris. Zuerst in Afrika, bis dort schließlich nichts mehr übrig war – außer in den Reservaten natürlich. Und damit war es eigentlich mit der Großwildjagd überhaupt vorbei. Worauf ich hinaus möchte, ist, daß ich in dieser ganzen Zeit niemand von Ihrer Statur gekannt habe, der mit einer Eins-vier-null hätte umgehen können. Es wirft Sie einfach um. Und selbst wenn Sie sich auf den Füßen halten können, bekommen Sie nach ein paar Schüssen eine solche Heidenangst vor der alten Kanone, daß Sie bei jedem Schuß das Zittern anfangen und einen Elefanten nicht mal auf drei Meter Entfernung treffen.
Außerdem würde sie Ihnen auf die Dauer auch viel zu schwer werden, wenn Sie sie in den unwegsamen Dschungeln des Mesozoikums mit sich herumschleppen müssen. Strengt viel zu sehr an. Freilich, eine Menge Leute hat Elefanten mit leichteren Büchsen geschossen, mit der 12-Millirneter oder der 1,075-Doppel zum Beispiel, oder sogar mit dem 0,875-Repetiergewehr. Die Schwierigkeit ist eben nur die, daß man mit einem solchen Gewehr ein lebenswichtiges Organ treffen muß, möglichst das Herz oder das Gehirn, und sich nicht darauf verlassen darf, daß der Schuß allein das Tier umwirft. Ein Elefant wiegt – sagen wir – vier bis sechs Tonnen. Sie möchten nun Reptilien schießen, die etwa zwei- bis dreimal soviel wiegen und ein viel zäheres Leben haben. Aus diesem Grund hat das Syndikat beschlossen, nur diejenigen auf Dinosaurierjagd mitzunehmen, die mit einer Eins-vier-null umgehen können. Ja, wir haben Lehrgeld zahlen müssen. Es hat einige böse Zwischenfälle gegeben ... Ich will Ihnen was sagen, Mr. Seligmann. Es ist jetzt schon nach fünf und höchste Zeit, daß ich das Büro schließe. Wie wäre es? Setzen wir uns doch noch auf ein halbes Stündchen in die Bar nebenan, und ich erzähle Ihnen dort die ganze Geschichte. Ich glaube, es war die fünfte Safari, die ich zusammen mit dem Radscha in die Urzeit unternommen habe. Der Radscha? Das ist mein Partner, der Ayar von Rivers und Ayar. Ich nenne ihn immer den Radscha, weil er der Erbprinz von Janpur ist. Hat natürlich jetzt nichts mehr zu sagen. Ich habe ihn in Indien kennengelernt und dann später in New York wieder-
getroffen wo er das indische Reisebüro leitete. Der dunkle Mann auf dem Foto in meinem Büro, der mit dem Fuß auf dem Säbeltiger. Nun, der Radscha hatte es jedenfalls satt, Prospekte über das Tadsch Mahal zu verteilen, und wollte wieder einmal ein bißchen jagen gehen. Da paßte es gerade wunderbar, daß wir von Professor Prochaskas Zeitmaschine hörten. Wo der Radscha jetzt ist? Auf Safari im frühen Oligozän, auf der Jagd nach Titanotheren. Ich bewache inzwischen das Büro. Jetzt wechseln wir immer ab, während wir früher stets gemeinsam losgingen. Jedenfalls nahmen wir die nächste Maschine nach St. Louis. Zu unserem größten Bedauern mußten wir dort allerdings feststellen, daß wir nicht die einzigen waren, die auf diese glorreiche Idee gekommen waren. Nein, beileibe nicht die einzigen. Wir trafen eine ganze Menge arbeitslose lagdführer und mehr als genug Wissenschaftler, von denen natürlich jeder seine eigene Meinung darüber hatte, wie die Maschine am besten zu verwenden wäre. Die Archäologen und Historiker sind wir Gott sei Dank gleich am Anfang losgeworden. Anscheinend funktioniert die verrückte Maschine erst ab einem Zeitpunkt, der ungefähr 100 000 Jahre zurückliegt. Von da an weiter zurück bis zu einer Milliarde Jahre. Warum? Na, ich bin kein vierdimensionaler Denker, aber soweit ich es mitbekommen habe, ist der Grund dafür einfach der, daß dadurch alle eventuellen Zeitparadoxa verhindert werden. Wenn wir in die unmittelbare Vergangenheit zurückreisen könnten, hätten wir schließlich die Möglichkeit, unsere eigene
Geschichte zu beeinflussen. Was dann passieren kann, können Sie sich leicht ausrechnen. In einem vernünftigen Universum darf schließlich so ein Durcheinander nicht vorkommen. In einer so fernen Zeit wie vor 100 000 Jahren gehen aber die Spuren unserer Expeditionen mehr oder weniger im Strom der Zeit verloren, bevor die menschliche Geschichte überhaupt beginnt. Übrigens, wenn eine bestimmte Periode der Vergangenheit einmal benutzt worden ist – sagen wir einmal der Monat Januar eine Million Jahre vor der Zeitrechnung –, dann kann diese Periode nicht noch einmal besucht werden, indem man vielleicht eine andere Gesellschaft in diese Zeit schickt. Wieder Verhinderung eines Paradoxons. Den Professor kümmert das allerdings nicht weiter. Er hat schließlich eine runde Milliarde Jahre zur Verfügung, und das ist eine Menge Zeit. Ein anderer Nachteil der Maschine ist ihre Größe. Aus technischen Gründen konnte Prochaska die Zeitkammer nur gerade so groß bauen, daß vier Mann mit ihrer Ausrüstung hineinpassen sowie der Techniker, der die Kammer bedient. Größere Gruppen müssen also in Etappen reisen. Und wie Sie leicht verstehen werden, ist es auch unmöglich, Jeeps, Boote. Flugzeuge oder andere Fahrzeuge mitzunehmen. Andererseits kommen Sie in eine Zeit, in der der Mensch noch nicht existiert. Sie können also auch nicht unbeschränkt eingeborene Träger anwerben, die mit Ihrer Ausrüstung auf dem Kopf hinter Ihnen her marschieren. Wir nehmen deshalb gewöhnlich einen Zug Maultiere mit. Allerdings, zu viele dürfen das auch wieder nicht sein. In den meisten Zeitepochen gibt es genug Pflanzen, die sie fressen können.
Wie ich vorhin schon sagte, hatte jeder seine eigene Meinung darüber, wie die Maschine am besten zu verwenden wäre. Die Wissenschaftler natürlich rümpften die Nase über uns Jäger und meinten, es wäre ein Verbrechen, unserem sadistischen Vergnügen auch noch Vorschub zu leisten. Wir hatten allerdings noch einen Trumpf in der Tasche. Die Maschine hatte runde dreißig Millionen gekostet. Soviel ich weiß, hat den größten Teil davon die Rockefeller-Stiftung springen lassen. Aber damit war nur der Bau finanziert, nicht aber die Unterhaltskosten. Und das Ding braucht eine Menge Energie. Die meisten Projekte der Wissenschaftler waren zwar vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bestimmt sehr bedeutend, aber Geld brachten sie keins ein. Wir Führer dagegen hatten Leute an der Hand, bei denen Geld keine Rolle spielte. Und anscheinend gibt es von dieser Sorte hier in den Staaten mehr als genug. Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht auf den Schlips getreten, alter Junge. Jedenfalls konnten es sich diese Leute leisten, eine hübsche Stange Geld zu zahlen, daß man sie mit Hilfe der Maschine in die Vergangenheit brachte. So konnten wir also mithelfen, die Arbeit der Maschine für wissenschaftliche Zwecke zu finanzieren, vorausgesetzt, wir bekämen einen entsprechenden Anteil der verfügbaren Betriebszeit. Ich will mir Einzelheiten ersparen. Jedenfalls schlossen sich schließlich die Führer zu einem Syndikdat zusammen und übernahmen die Aufgabe, die Betriebszeit der Maschine gerecht zu verteilen. Das Syndikat hat acht Mitglieder – eines davon ist die Firma Rivers und Ayar. Gleich vom Anfang an hatten wir alle Hände voll
zu tun. Unsere Frauen – die Frau des Radschas und meine bessere Hälfte – waren natürlich gar nicht begeistert. Als das Großwild zu Ende ging, hatten sie gehofft, daß sie uns in Zukunft nie mehr mit Löwen und ähnlichen Bestien teilen müßten. Na ja, Sie wissen ja, wie Frauen sind. Sie können einfach nicht begreifen, daß die Jagd gar nicht so gefährlich ist, wenn man dabei nur klaren Kopf behält und genügend vorsichtig ist. Auf der fünften Expedition mußten wir für zwei Sahibs zugleich Kindermädchen spielen. Beides Amerikaner in den Dreißigern, beide gesund und zahlungskräftig. Ansonsten so verschieden wie nur irgend möglich. Courtney James war ein ausgesprochener Playboy, steinreich und aus New York. Sein Vermögen war so groß, daß er sich jede Extravaganz leisten konnte. Ein Kerl wie ein Schrank, fast so groß wie ich, und wenn er nicht begonnen hätte, Fett anzusetzen, hätte man ihn fast gutaussehend nennen können. Er hatte zur Zeit seine vierte Frau, und als er in meinem Büro mit einer Blondine aufkreuzte, der man das ehemalige Mannequin auf hundert Meter ansah, nahm ich natürlich an, daß dies die vierte Mrs. James sei ... »Miss Bertram«, verbesserte sie mich und lachte verlegen. »Häschen ist nicht meine Frau«, erklärte James. »Meine Frau ist in Mexiko – ich glaube, sie läßt sich gerade von mir scheiden. Aber Häschen hier möchte gern mitkommen.« »Tut mir leid«, sagte ich, »aber wir nehmen keine Damen mit, wenigstens nicht ins Mesozoikum.«
»Ach, Unsinn«, sagte James, »wenn sie mitkommen will, dann kommt sie auch mit. Sie läuft Ski, ist eine großartige Schwimmerin und fliegt auch meinen Kopter. Warum sollte sie also nicht –« »Tut mir leid, aber das widerspricht den Grundsätzen meiner Firma.« »Sie könnte ja schließlich im Lager bleiben, wenn wir hinter den gefährlicheren Tieren her sind.« »Tut mir leid. Nichts zu machen.« »Ja, verdammt noch mal«, sagte er und lief langsam rot an. »Schließlich bezahle ich einen Haufen Geld und kann dafür mitnehmen, wen ich will.« »Sie können mich nicht dafür bezahlen, etwas gegen mein besseres Wissen zu tun. Wenn Sie das wollen, suchen Sie sich einen anderen Führer.« »Worauf Sie sich verlassen können! Und ich werde allen meinen Freunden erzählen, daß Sie ein ganz verdammter ...« Nun, er hatte einen ganz respektablen Wortschatz, den ich aber hier lieber nicht wiederholen will. Jedenfalls sagte ich ihm schließlich, er solle machen, daß er aus meinem Büro käme, bevor ich ihn hinauswürfe. Nachdem er endlich gegangen war, saß ich da und dachte an den Berg Geld, der für mich abgefallen wäre, wenn ich nur nicht so stur gewesen wäre. Da klopfte es, und mein zweiter Anwärter, ein gewisser August Holtzinger, kam herein. Er war das genaue Gegenteil seines Vorgängers, ein kleiner schmächtiger Bursche, bleich, mit Brille, sehr höflich und formell. Holtzinger setzte sich vorsichtig auf den angebotenen Stuhl, räusperte sich und sagte: »Äh – Mr. Rivers, hoffentlich glauben Sie nicht, daß ich Ihnen etwas vormachen will. Ich bin wirklich kein Sportsmann.
Wahrscheinlich werde ich sogar Blut und Wasser schwitzen, wenn ich einem richtigen Dinosaurier gegenüberstehe. Aber ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, einen Dinosaurierschädel über meinem Kamin aufzuhängen oder bei dem Versuch draufzugehen.« »Beim ersten Mal haben wir alle Angst«, beruhigte ich ihn, und schließlich lockte ich ihm die Geschichte Wort für Wort heraus. Während Courtney James schon immer mehr als genug Geld gehabt hatte, war Holtzinger erst kürzlich zur besitzenden Klasse aufgestiegen. Er hatte ein kleines Geschäft hier in St. Louis gehabt und sich so mit Ach und Krach durchgeschlagen, als eines Tages ein reicher Onkel starb und dem kleinen Augie einen Haufen Geld hinterließ. Holtzinger war noch Junggeselle, hatte aber eine Verlobte. Er baute sich gerade ein großes Haus, und wenn das fertig war, wollten die beiden heiraten. Und seiner Ansicht nach war das Haus erst dann komplett eingerichtet, wenn ein echter Triceratopsschädel über dem Kamin hing. Ein Triceratops ist so ein Biest mit drei Hörnern vorn auf der Stirn, einem Papageienschnabel und einer Halskrause aus Horn. Es erinnert etwas an ein Rhinozeros, nur viel größer und gefährlicher. Ein derartiges Monstrum anzugehen, soll man sich schon gut überlegen. Außerdem – wenn man einen zwei Meter großen Triceratopsschädel in sein Wohnzimmer hängt, kann es leicht passieren, daß in dem Raum für nichts anderes mehr Platz ist. Wir unterhielten uns gerade über dieses Problem, als ein junges Mädchen hereinstürzte. Ungefähr
zwanzig Jahre alt, nicht hübsch und nicht häßlich, Durchschnittstyp. Als sie unseren Augie sah, fing sie bitterlich an zu weinen. »Augie«, sagte sie unter Tränen, »du kannst nicht gehen, du darfst nicht. Du gehst in den Tod.« Sie umarmte ihn und sagte zu mir: »Mr. Rivers, bitte, nehmen Sie ihn nicht mit. Er ist alles, was ich habe. Er hält diese Strapazen bestimmt nicht aus.« »Meine liebe kleine Miss«, sagte ich, »ich möchte Ihnen natürlich keinen Kummer bereiten, aber Mr. Holtzinger muß selbst entscheiden, ob er meine Dienste braucht oder nicht.« »Es hat keinen Zweck, Claire«, sagte Holtzinger, »ich werde gehen, auch wenn mir wahrscheinlich keine einzige Minute davon Spaß machen wird.« »Was soll das heißen, alter Junge?« fragte ich. »Wenn es Ihnen keinen Spaß macht, warum gehen Sie dann überhaupt? Haben Sie gewettet oder so etwas?« »Nein«, antwortete Holtzinger. »Es ist so: Ich bin in jeder Beziehung ein – äh – Durchschnittsmensch. Ich bin kein Geistesriese, ich bin kein Held, und ich sehe auch nicht besonders gut aus. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Geschäftsmann aus dem Mittelwesten. Aber so ganz im stillen habe ich mich immer danach gesehnt, ferne Orte zu besuchen und große Taten zu vollbringen. Ich möchte so gern ein interessanter und vom Hauch des Abenteuers umwehter Mann sein. Ein Mann wie Sie, Mr. Rivers.« »Mein lieber Freund«, protestierte ich. »Ihnen scheint vielleicht der Beruf eines Großwildjägers eine aufregende Sache zu sein, für mich ist es ein Beruf
wie jeder andere.« Er schüttelte den Kopf. »Unsinn, Sie wissen, was ich meine. Nun, jetzt also, nachdem ich die Erbschaft gemacht habe, könnte ich mich zur Ruhe setzen, um für den Rest meines Lebens Bridge und Golf zu spielen und dabei so tun, als ob ich mich nicht langweilte. Aber ich bin felsenfest entschlossen, wenigstens einmal in meinem Leben etwas Großes zu vollbringen. Da das Großwild unserer Zeit praktisch nicht mehr existiert, werde ich einen Dinosaurier schießen und seinen Schädel als Trophäe mit nach Hause bringen. Anders werde ich mich einfach nie ganz glücklich und zufrieden fühlen.« Nun, Holtzinger und seine Verlobte stritten noch eine Weile, aber er gab nicht nach. Schließlich ließ sie mich einen heiligen Eid leisten, auf ihren Augie wie auf meinen eigenen Augapfel aufzupassen, und verabschiedete sich – immer noch leise schluchzend. Als dann auch Holtzinger gegangen war, wer glauben Sie, stand wieder in der Tür? Niemand anders als mein temperamentvoller Freund Courtney James. Er entschuldigte sich, wenn er sich auch nicht besonders dabei anstrengte. »Eigentlich bin ich ein ganz verträglicher Mensch«, sagte er, »nur wenn mir jemand absolut nicht entgegenkommen will, verliere ich manchmal die Geduld. Solange jemand vernünftig ist, kommt er sehr gut mit mir aus.« Unter entgegenkommen verstand er natürlich, das zu tun, was Courtney James wünschte. Na, ich ließ mich auf keine Debatte ein. »Und was ist nun mit Miss Bertram?« wollte ich wissen.
»Ach, wir haben uns verkracht. Für die nächste Zeit habe ich mal wieder genug von den Frauen. Wenn Sie mir also nicht mehr böse sind, können wir es ja noch einmal miteinander versuchen.« »Selbstverständlich«, stimmte ich zu. Geschäft ist schließlich Geschäft. Der Radscha und ich beschlossen, eine gemeinsame Safari 85 Millionen Jahre in der Vergangenheit zu machen, also in die frühe Kreidezeit. In Missouri so ziemlich die beste Zeit für Dinosaurier. In der späten Kreide kann man zwar ein paar größere Arten finden, aber die Zeit, in die wir gehen wollten, bot mehr Abwechslung. Was unsere Ausrüstung betrifft, so hatten der Radscha und ich je eine 14-mm-Continental. Die, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Außerdem noch ein paar kleinere Gewehre. Wir hatten damals noch nicht soviel Kapital und konnten deshalb noch keine Einsvier-null vermieten. August Holtzinger wollte eine Büchse mieten. Das würde sowieso seine einzige Safari sein, und es wäre sinnlos, über tausend Dollar für ein Gewehr auszugeben, das er nur einige Male abschießen würde. Aber da wir keine überzählige 14-Millimeter besaßen, hatte er nur die Wahl, entweder eine solche zu kaufen oder eine unserer schwächeren Büchsen zu nehmen. Wir fuhren auf das Land hinaus, um ihn mit einer Eins-vier-null probeschießen zu lassen. Holtzinger stemmte das Gewehr hoch, als ob es eine Tonne wöge, und drückte ab. Er traf nicht einmal die Scheibe, die wir aufgestellt hatten, und der Rückstoß warf ihn glatt um. Er rappelte sich wieder auf, verdammt blaß um die
Nase, gab mir das Gewehr zurück und sagte: »Ich glaube, ich versuche es lieber mit einem kleineren.« Als die Schmerzen in seiner Schulter abgeklungen waren, ließ ich ihn die kleineren Gewehre ausprobieren. Meine Winchester 70 gefiel ihm besonders. Sie schießt ein 0,875-Magnumgeschoß, ein großartiges Allzweckgewehr. Wie sie gebaut ist? Ein ganz gewöhnliches Magazingewehr mit Mauserverschluß. Gut geeignet für große Katzen und auch für Bären. Für Elefanten etwas leicht, und ganz entschieden zu leicht für Dinosaurier. Ich hätte nie nachgeben sollen; aber ich war in Eile, und es hätte vermutlich Monate gedauert, ihm eine Eins-vier-null zu verschaffen. Sie werden nämlich nur auf Bestellung angefertigt, und James wurde allmählich ungeduldig. James hatte übrigens schon eine Büchse, eine Holland & Holland 12-MillimeterDoppelexpreß. Mit anderthalbtausend Mündungsenergie fast in der gleichen Klasse wie die Eins-viernull. Die beiden Sahibs hatten schon früher manchmal geschossen, und so machte ich mir nicht viel Sorgen wegen ihrer Treffsicherheit. Bei der Jagd auf Dinosaurier kommt es gar nicht so sehr auf einen genauen Treffer an, als vielmehr auf gesunden Menschenverstand und eine gute Zusammenarbeit mit den anderen. Viel wichtiger als die Fähigkeit, aus dreihundert Meter Entfernung einer Fliege ein Auge auszuschießen, ist es, daß man aufpaßt, daß sich kein Zweig im Magazin des Gewehrs verklemmt, oder daß man nicht in ein Schlammloch fällt oder im äußersten Notfall nicht auf einen zu kleinen Baum flüchtet, von dem einen ein Dinosaurier wie eine reife Pflaume
pflücken kann. Leute, die nur gewöhnt sind, Säugetiere zu jagen, versuchen manchmal einen Dinosaurier ins Gehirn zu schießen. Das ist das Dümmste, was man machen kann, weil Dinosaurier kein Gehirn haben. Na ja, sie haben schon eins, aber das ist nicht größer als ein Tennisball – im Vergleich zu ihrer Größe indiskutabel. Und wie wollen Sie das treffen, wenn es in einem zwei Meter großen Schädel eingebettet ist, der sich zu allem Überfluß auch noch bewegt? Der beste und einzige sichere Tip für die Dinosaurierjagd ist: versuche einen Herzschuß anzubringen. Sie haben große Herzen, über hundert Pfund schwer bei den größeren Arten, und nach ein paar 14Millimeter-Geschossen sind sie so tot wie jedes andere kleinere Tier nach einer ähnlichen Behandlung. Das Problem ist nur, wie man seine Kugeln durch diesen gepanzerten Fleischberg hindurch bekommt. An einem regnerischen Vormittag erschienen wir jedenfalls in Professor Prochaskas Labor: James und Holtzinger, der Radscha und ich, unser Maultiertreiber Beauregard Black, drei Helfer, ein Koch und zwölf Maultiere. Die Zeitkammer ist ungefähr so groß wie ein mittelgroßer Lift. Ich schicke grundsätzlich immer zuerst die Leute mit den Gewehren durch, für den Fall, daß ein hungriger Theropod, ein fleischfressender Saurier, gerade in der Gegend herumlungert, wenn die Maschine ankommt. Ein pflanzenfressender Saurier, zum Beispiel der Brontosaurus, heißt übrigens Sauropod. So drängten wir vier – die beiden Sahibs, der Rad-
scha und ich – uns also mit unseren Gewehren und Taschen in die Kammer. Nach uns quetschte sich noch der Techniker herein, der die Kammer bedient. Er beschäftigte sich eine Weile mit seinen Instrumenten und stellte das Ding dann auf den zwölften April des Jahres 85 000 000 vor Christus ein. Dann drückte er den roten Knopf. Das elektrische Licht ging aus, und die Kammer wurde nur noch von einer kleinen batteriebetriebenen Notlampe erhellt. James und Holtzinger sahen ziemlich grün aus, aber das konnte auch von der schlechten Beleuchtung kommen. Der Radscha und ich hatten die Reise schon so oft gemacht, daß die Vibration und die auftretenden Schwindelanfälle uns nichts mehr ausmachten. Die anderen wurden aber schon etwas mitgenommen. Die kleinen schwarzen Zeiger der Skalen drehten sich unentwegt, manche langsam, manche so schnell, daß sie wie ein Schatten über das Zifferblatt huschten. Dann verlangsamten auch sie ihren Lauf und hielten endlich ganz an. Der Techniker blickte auf seinen Höhenmesser, um sich zu versichern, daß die Kammer nicht eventuell unter der Erdoberfläche materialisierte. Dann drückte er auf einen anderen Knopf, und die Tür ging auf. Es ist für mich immer wieder ein aufregendes Erlebnis, wenn ich hinaustrete in die längst vergangene Urzeit der Erde. Der Techniker hatte die Kammer ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden materialisieren lassen, und ich mußte deshalb abspringen – das Gewehr schußbereit in der Hand. Dann sprangen die anderen. Wir blickten uns nach der Kammer um, die wie ein großer schwarzer Würfel unbeweglich
über dem Boden hing. »In Ordnung«, rief ich dem Techniker zu, und er schloß die Tür. Die Kammer verschwand. Wir waren jetzt völlig auf uns selbst angewiesen. Wir blickten uns um. Seit meiner letzten Expedition in diese Epoche hatte sich nichts verändert. Dinosaurier waren nicht zu sehen, nur einige gewöhnliche Eidechsen. In dieser Zeitperiode materialisiert die Kammer auf einer felsigen Anhöhe, von der aus man einen ungehinderten Blick nach allen Richtungen hat. Im Westen sieht man einen Arm des KansasMeeres, das zu dieser Zeit ganz Missouri bedeckt, und den großen Sauropodensumpf. Früher hatte man geglaubt, daß die Sauropoden, also die pflanzenfressenden Saurier, bereits vor Anbruch der Kreidezeit ausgestorben waren, aber das trifft nicht zu. Nur die Häufigkeit ihrer Verbreitung ist eingeengt, weil die riesigen Sumpfgebiete, die bis dahin den größten Teil des festen Landes bedeckt hatten, inzwischen zusammengeschrumpft waren. Aber für den erfahrenen Jäger gibt es noch genug dieser gigantischen Echsen zu finden. Im Norden liegt ein kleiner Gebirgsrücken, den der Radscha die Janpur-Berge getauft hatte, nach dem kleinen indischen Königreich, das seine Vorfahren einst regierten. Im Osten erhebt sich das Land zu einem kleinen Plateau – gut für Triceratops –, während es im Süden flach wie ein Brett ist – mit einer Unzahl Sauropodensümpfe und trockenes Land dazwischen. Außerdem kann man hier auch den vogelhüftigen Sauriern, den Ornithopoden, begegnen, also vor allem dem Anatosaurus und dem Iguanodon.
Das schönste an der Kreidezeit ist das Klima – mild wie auf den Inseln der Südsee und das ganze Jahr über fast gleichbleibend. Nicht so stickig-feucht wie das Klima der meisten Juraperioden. Es war gerade Frühling, und die Zwergmagnolien standen in voller Blüte, aber die Luft ist fast zu jeder Jahreszeit so wie im Frühling. Das ungewohnte an dieser Landschaft ist, daß zwar ziemlich viel Regen fällt, die Vegetation jedoch zum Teil sehr verstreut ist. Die Gräser haben sich nämlich um diese Zeit noch nicht so weit entwickelt und ihren dichten Teppich so über den Boden ausgebreitet wie zum Beispiel in der Savannenlandschaft Afrikas. So ist der Boden zwar dicht mit Lorbeer, Sassafras und anderen Sträuchern bewachsen, dazwischen schaut aber die nackte Erde hervor. Dann allerdings kommen wieder meilenweite Dickichte aus Palmen und Farnen. Die Bäume um unsere Anhöhe herum sind vorwiegend Palmfarne. Die meisten Leute nennen sie Palmen, aber meine gelehrten Freunde haben mir gesagt, daß es keine echten Palmen sind. Weiter nach Westen zu, in der Richtung auf das Meer, häufen sich Zykaden und Weiden, während auf den höher gelegenen Gebieten Gingkos stehen. Nun, ich bin kein Poet – unsere Prospekte schreibt der Radscha –, aber eine schöne Landschaft weiß auch ich zu schätzen. Inzwischen war einer unserer Helfer mit zwei Mulis aus der Maschine gekommen. Ich pumpte gerade noch einmal die wunderbare Luft tief in meine Lungen, als hinter mir ein Gewehr losging – Bäng, Bäng! Ich drehte mich schnell um. Courtney James hatte seine 12-Millimeter in der Hand, und ein Ornithomi-
mus rannte gerade hastig in Deckung. Ein Ornithomimus gehört zur Gruppe der vogelhüftigen Saurier, ein mittelgroßes schlankes Tier mit einem langen Hals und Straußenbeinen. Er sieht auch wirklich aus wie eine Kreuzung zwischen einem Strauß und einer Eidechse. Der Dummkopf war ganz ahnungslos aus einem Dickicht herausgetreten, und James hatte beide Läufe auf ihn abgeschossen. Natürlich nicht getroffen. Ich war ziemlich verärgert. Schießwütige Leute bilden für die übrige Gruppe genauso eine Gefahr wie solche, die die Nerven verlieren. »Sie verdammter Narr«, schrie ich ihn an, »Sie sollen doch nicht schießen, wenn ich es nicht sage.« »Und wer, zum Teufel, sind Sie denn, daß Sie mir sagen wollen, wann ich schießen darf und wann nicht.« Wir stritten hin und her, bis Holtzinger und der Radscha uns endlich beruhigten. Ich erklärte es ihm: »Sehen Sie mal, Mr. James, ich habe meine Gründe. Wenn Sie Ihre Munition nutzlos verballern, bevor unsere kleine Expedition zu Ende ist, steht uns Ihr Gewehr nicht mehr zur Verfügung, wenn wir es vielleicht dringend brauchen. Und Sie haben schließlich die einzige 12-Millimeter. Zweitens, wenn Sie beide Läufe abschießen, noch dazu auf ein unwichtiges Ziel, was machen Sie dann, wenn ein großer Theropod Sie unerwartet angreift, bevor Sie wieder laden können? Außerdem ist es unsportlich, auf alles loszuknallen, was einem vor die Mündung kommt. Ich schieße, wenn ich Fleisch brauche oder eine Trophäe haben möchte, oder um mich zu verteidigen. Wenn es früher weniger schießwütige Leute
gegeben hätte, würden wir heute noch genug Wild in unserer eigenen Zeit finden. Begriffen?« »Na ja, so ungefähr«, sagte er. Der Rest der Gruppe war endlich eingetroffen, und wir schlugen unser Lager in sicherer Entfernung von der Materialisationsstelle auf. Unsere erste Aufgabe war es, frisches Fleisch zu besorgen. Für eine dreiwöchige Safari berechnen wir zwar unseren Bedarf an Nahrungsmitteln so, daß wir im Notfall auch von mitgebrachten Konserven leben können. Aber Frischfleisch ist nicht zu verachten. Die ersten Tage verbringen wir gewöhnlich im Lager, machen dann eine mehrtägige Tour und schlagen an vier oder fünf Stellen Lager auf, um von da aus zu jagen, und kehren dann rechtzeitig vor Eintreffen der Kammer wieder ins Hauptlager zurück. Holtzinger, wie ich schon sagte, wollte einen Triceratops, irgendeinen. James dagegen wollte einen ganz bestimmten Schädel, einen Tyrannosaurus. Dann würde jeder wissen, daß er der gefährlichsten Bestie aller Zeiten gegenübergestanden hatte. Tatsache ist, daß der Tyrannosaurus meist überschätzt wird. Er ist mehr ein Aasfresser als ein Raubtier, obwohl er bei günstiger Gelegenheit einen fetten lebenden Brocken auch nicht verschmäht. Er ist aber bei weitem nicht so gefährlich wie manche anderen Theropoden – zum Beispiel der Saurophagus der Jurazeit oder der etwas kleinere Gorgosaurier der Epoche, in der wir uns gerade befanden. Aber jeder hat schon einmal vom Tyrannosaurus gehört, und der hat ja auch den imposantesten Schädel aller Theropoden. Der in unserer Zeitepoche war noch nicht der Rex. Der kommt erst später, ist noch ein wenig größer und
noch mehr spezialisiert. Hier lebte der Trionyches, bei dem die Vorderbeine noch nicht so verkümmert waren wie bei dem Rex, obwohl er sie auch nur noch höchstens dazu gebrauchen konnte, sich nach dem Fressen damit in den Zähnen herumzustochern. Als das Lager aufgeschlagen war, hatten wir immer noch den ganzen Nachmittag vor uns. Wir führten deshalb unsere Sahibs auf ihre erste Jagd. Eine Karte der Gegend besaßen wir schon von früher. Der Radscha und ich haben uns ein gut funktionierendes System für die Saurierjagd ausgedacht. Wir teilen uns in zwei Gruppen von je zwei Mann, die parallel marschieren, aber etwa acht bis zehn Meter auseinander. Jede Gruppe besteht aus einem Sahib an der Spitze und dem Führer dahinter, der sagt, wo es hingehen soll. Wir sagen unseren Sahibs natürlich, wir lassen sie an der Spitze gehen, damit sie den ersten Schuß haben, was auch stimmt. Ein anderer Grund für diese Reihenfolge ist aber eine Art Selbstschutz auf unserer Seite. Meistens können es die Sahibs nicht lassen, mit entsichertem Gewehr herumzulaufen. Falls sie also mal stürzen oder irgendwo anstoßen, kann es schon vorkommen, daß ein Schuß losgeht und den Führer trifft. Der Grund für die zwei Gruppen ist der, daß die zweite Gruppe einen direkten Herzschuß von der Seite anbringen kann, wenn der Saurier die andere Gruppe angreift. Unseren Weg begleitete das übliche Rascheln und Zischen der Eidechsen, die sich aus dem Staub machten. Es waren meist kleinere Exemplare, schnell
wie der Blitz und in allen Farben schillernd, dann wieder große graue, die wie verrückt zischten und sich nur langsam entfernten. Wir sahen Schildkröten und ein paar Schlangen. Riesige Vögel mit gezähnten Schnäbeln flatterten kreischend davon. Und überall diese herrliche Luft der Kreidezeit. Unsere Sahibs mußten zu ihrem Bedauern bald feststellen, daß das Land des Mesozoikums von unzähligen Trockenrinnen und Schlammlöchern durchzogen ist. Das Gehen ist also mehr ein unentwegtes Klettern. Eine Stunde lang hatten wir uns so auf diese Weise abgemüht – rauf und runter, rauf und runter. Wir schwitzten, und die Kleidung klebte uns am Leibe. Plötzlich pfiff der Radscha leise. Er hatte eine Gruppe Knochenköpfe entdeckt, die Schößlinge der Palmfarne fraßen. Die Knochenköpfe, Troodonten, sind kleine Ornithopoden etwa von Menschengröße, mit einer Schwellung am Kopf, die ihnen ein intelligentes Aussehen verleiht. Hat aber nichts zu sagen. Die Geschwulst ist solider Knochen, und ihr Gehirn ist genauso unbedeutend wie bei allen Dinosauriern. Die Männchen stoßen sich gegenseitig mit den harten Köpfen, wenn sie sich um die Weibchen streiten. Sie bewegen sich wie alle Ornithopoden auf zwei Beinen fort, lassen sich aber auf alle Viere nieder, wenn sie äsen. Es sind sehr mißtrauische Biester, scheuer als alle anderen Dinosaurier, weil sie nämlich die Lieblingsbeute der großen Theropoden sind. Viele Leute glauben, Dinosaurier hätten nur schwach entwickelte Sinne, weil sie ja sonst so wenig Intelligenz zeigen. Das stimmt aber nicht in allen
Fällen. Die meisten haben einen gut entwickelten Geruchs- und Sehsinn und ein scharfes Gehör. Ihr schwacher Punkt ist ihr nur kümmerlich ausgebildetes Gedächtnis, kein Wunder bei dem minimalen Gehirnvolumen. Für sie gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn Sie also einmal von einem großen Theropoden verfolgt werden sollten, dann verstecken Sie sich einfach: Wenn er Sie nicht mehr entdecken kann, wird er sofort vergessen, daß Sie eben noch da waren, und sich trollen. Wir schlichen uns also, immer im Windschatten der Knochenköpfe, hinter ein paar Palmettos. Ich flüsterte James zu: »Sie haben heute schon geschossen. Warten Sie also, bis Holtzinger sein Glück versucht hat. Und dann schießen Sie nur, wenn er nicht getroffen hat oder das Tier verwundet wegläuft.« »Hm«, sagte James, dann trennten wir uns, er mit dem Radscha und Holtzinger mit mir. In dieser Gruppierung gingen wir übrigens von nun an immer. James und ich fielen einander auf die Nerven, der Radscha dagegen war viel verträglicher als ich. Wir krochen um die Palmettos herum, dann richtete sich Holtzinger auf. Holtzinger blickte vorsichtig um sich und hob sein Gewehr. Der Lauf zitterte hin und her, und dann ging plötzlich James' Büchse los, wieder beide Läufe zusammen. Der größte der Knochenköpfe fiel um, schlug noch ein paarmal zuckend um sich und blieb liegen. Die anderen hüpften auf ihren Hinterbeinen wie Känguruhs in großen Sprüngen ziellos in der Gegend herum und bewegten dabei ihre Köpfe ruckartig hin und her. »Sichern Sie Ihr Gewehr«, sagte ich zu Holtzinger.
Als wir die anderen erreicht hatten, stand James schon breitbeinig über seiner Beute und blies beide Läufe seines Gewehres aus. Er sah so zufrieden aus, als ob er gerade eine weitere Million geerbt hätte, und bat den Radscha, doch ein Foto von ihm zu machen. Sein erster Schuß war ausgezeichnet gewesen, genau durch das Herz. Der zweite hatte nicht getroffen, weil der erste das Tier schon umgeworfen hatte. James konnte anscheinend auf den zweiten Schuß einfach nicht verzichten, auch wenn es nichts mehr zu schießen gab. Ich sagte: »Ich dachte, Sie wollten Holtzinger den ersten Schuß überlassen?« »Verdammt, ich habe ja gewartet«, sagte er. »Aber er brauchte so lange, daß ich dachte, irgend etwas wäre schiefgegangen. Wenn wir zu lange herumgestanden hätten, dann hätten sie uns schließlich gewittert.« Das hatte natürlich schon etwas für sich, aber die Art, wie er es sagte, ärgerte mich. Deshalb sagte ich: »Wenn so etwas noch einmal vorkommt, lassen wir Sie das nächste Mal im Lager zurück.« »Aber, meine Herren«, sagte der Radscha. Und zu mir gewandt: »Reggie, denke daran, schließlich sind die Herren hier keine erfahrenen Jäger.« »Was jetzt?« fragte Holtzinger. »Schleppen wir das Tier selbst zurück, oder lassen wir es von den Leuten holen?« »Ich glaube, die Tragstange wird es aushalten«, sagte ich. »Er wiegt allerhöchstens zwei Zentner.« Die Tragstange war eine Aluminiumstange, die sich teleskopartig zusammenschieben ließ, mit schaumgummibelegten Tragehölzern an beiden Enden. Ich führe
sie immer bei mir, da man in jenen Zeiten nicht immer gleich ein genügend starkes Bäumchen findet, das zum Transport geeignet ist. Der Radscha und ich waideten den Knochenkopf aus, um ihn dadurch zu erleichtern, und banden ihn dann an. Tausende von Fliegen begannen sich auf die Abfälle zu stürzen. Es sollen zwar keine echten Fliegen in unserem Sinne sein, aber zumindest sehen sie so aus und sind auch genauso lästig. Den Rest des Nachmittags schwitzten wir unter der Last unserer Beute. Wir wechselten einander ab, je ein Paar trug die Stange, die anderen zwei die Gewehre. Die Eidechsen machten sich bei unserem Nahen auf und davon. Nur die Fliegen umschwirrten uns unentwegt. Als wir das Lager erreichten, ging gerade die Sonne unter. Wir waren so hungrig, daß wir den ganzen Knochenkopf auf einmal hätten aufessen können. Unsere Helfer hatten inzwischen das Lager hergerichtet, und so konnten wir uns gemütlich niederlassen und uns einen wohlverdienten Schluck Whisky genehmigen. Wir fühlten uns einfach großartig, während uns vom Kochfeuer her der Duft der brutzelnden Knochenkopfsteaks um die Nase wehte. Holtzinger meinte: »Wenn ich einen Triceratopskopf erwische, wie bringen wir ihn eigentlich ins Lager zurück?« Ich erklärte es ihm. »Wenn die Bodenbeschaffenheit es zuläßt, nehmen wir einen Schlitten und schleifen ihn her.« »Wieviel wiegt so ein Kopf?« wollte er wissen. »Das kommt auf Alter und Gattung an«, sagte ich. »Die der größten Exemplare wiegen über eine Tonne,
die meisten liegen allerdings zwischen fünfhundert und tausend Pfund. Die Köpfe sind also entsprechend schwer.« »Und der Boden ist überall so uneben wie hier?« »Meistens. Die Ursache dafür ist die Kombination: viel Regen und nacktes Land ohne Grasnarbe. Die Erosion des Bodens geht auf diese Weise unheimlich schnell vor sich.« »Und wer zieht den Schlitten?« »Jeder muß da mithelfen. Bei einem großen Kopf muß jeder zugreifen, und selbst dann ist es kein Kinderspiel.« »Oh«, sagte Holtzinger. Ich merkte, wie er sich überlegte, ob so ein Kopf die Mühe wert wäre. Während der nächsten Tage blieben wir immer im Umkreis des Lagers. Wir fanden jedoch nichts, was uns hätte reizen können, nur eine Herde von ungefähr einem halben Hundert Ornithomimen, die allerdings in gewaltigen Sätzen davonrasten, als sie uns entdeckten. Sonst begegneten uns nur die üblichen Eidechsen, ein paar Flugsaurier und Vögel – und natürlich Insekten. Es gibt da eine Fliegenart, die sich auf Dinosaurier spezialisiert hat. Sie können sich also denken, daß für ein solches Mistvieh die menschliche Haut so dünn wie ein Seidenpapier ist. Holtzinger führte einen wahren Veitstanz auf, als ihn eine durch sein Hemd hindurch anbohrte. James konnte sich nicht verkneifen, den armen Holtzinger entsprechend aufzuziehen. In der nächsten Nacht – während der Wache des Radschas – brüllte James plötzlich so durchdringend auf, daß wir alle mit den Gewehren aus den Zelten stürzten. Dabei war es nur eine Dinosaurierzecke, die
mit ihm in den Schlafsack gekrochen war und sich in seine Achselhöhle einbohren wollte. Da so ein Ding allerdings schon vor der Nahrungsaufnahme daumengroß ist, war sein Schreck verständlich. Zum Glück bekam er sie heraus, bevor sie ihm den üblichen halben Liter Blut abgezapft hatte. James hatte Holtzinger wegen des Fliegenbisses hochgenommen, jetzt konnte sich Holtzinger revanchieren. Endlich packten wir unsere Sachen zusammen und begannen unsere mehrtägige Rundreise. Wir wollten unsere Sahibs zuerst zu den Sauropodensümpfen bringen, mehr allerdings, um ihnen das dortige Leben zu zeigen, als etwas zu schießen. Von unserem Lager aus schien der Weg zu den Sümpfen nur wenige Stunden lang zu sein, in Wirklichkeit war es ein anstrengender Tagesmarsch. Der erste Teil ist nicht so schwierig. Es geht bergab, und der Busch ist nicht dicht. Je näher man aber den Sümpfen kommt, desto dichter stehen Zykaden, Weiden und Palmen, und man muß sich hier teilweise hindurchwinden wie ein Wurm. Am Ufer des Sumpfes zog sich ein Sandstreifen entlang, zu dem ich unsere kleine Gruppe führte. Als wir ankamen, ging gerade die Sonne unter. Ein paar Krokodile glitten ins Wasser. Die Sahibs waren erschöpft und ließen sich wie tot in den Sand fallen. Der Dunst über den Sümpfen war so dicht, daß die Sonne blutrot und ins Riesengroße verzerrt erschien. Weiter oben am Himmel spiegelte sich in einer zweiten Dunstbank das ganze Schauspiel noch einmal in brennendem Rot und Gold. Langsam kreisten ein paar Pterosaurier über uns. Sie ähneln sehr unseren heutigen Fledermäusen, nur daß sie nicht flattern,
sondern im Sturzflug auf die großen Nachtinsekten herunterstoßen. Beauregard Black, einer der Helfer, sammelte Holz und machte Feuer. Wir hatten gerade begonnen, uns mit den Steaks zu beschäftigen, als plötzlich draußen im Wasser ein Brontosaurus ausatmete. Wenn Mutter Erde über die Untaten ihrer Kinder seufzen könnte, müßte das wohl genauso klingen. Die Sahibs sprangen auf und schrien: »Was war das? Wo ist er?« Ich sagte: »Sehen Sie da hinten den schwarzen Fleck im Wasser, dort links, hinter dem vermoderten Baumstumpf?« Sie sprachen aufgeregt miteinander, während der Sauropod seine Lungen mit frischer Luft füllte und wieder untertauchte. »Ist das alles?« fragte James enttäuscht. »Sehen wir nicht mehr von ihm?« Holtzinger sagte: »Ich habe gelesen, daß sie das Wasser nie verlassen, weil sie so schwer sind.« »Das stimmt nicht ganz«, antwortete ich. »Sie gehen auch schon an Land, zum Beispiel, um zu einem anderen Sumpf zu gelangen oder zum Eierlegen. Die meiste Zeit verbringen sie allerdings in der Tat im Wasser wie Flußpferde. Sie fressen pro Tag achthundert Pfund weiche Sumpfpflanzen. So wandern sie also auf dem Grund der Sümpfe und großen Seen umher und fressen und fressen. Nur alle Viertelstunden stecken sie ihre kleinen Köpfe heraus, um zu atmen. Bei diesem Quantum an Nahrung, das sie brauchen, haben sie einfach keine Zeit für längere Spaziergänge. Jetzt, wo es dunkel wird, muß unser Freund übrigens bald auftauchen und sich im Flachwasser schlafen legen.«
»Können wir einen schießen?« wollte James wissen. »Würde ich nicht raten.« »Und warum nicht?« Ich sagte: »Weil es erstens sinnlos und zweitens unsportlich ist. Bei einem Brontosaurus ist das Gehirn noch viel schwieriger zu treffen als bei allen anderen Dinosauriern, weil er den Kopf auf seinem langen Hals ununterbrochen hin und her bewegt. Und das Herz ist so tief im Fleisch vergraben, daß es ein reiner Glücksfall ist, wenn man überhaupt durchkommt. Und wenn Sie einen glücklich erwischt haben, während er im Wasser ist, sinkt er unter, und Sie können ihn nie herausholen. Wenn Sie ihn an Land erwischen, haben Sie als einziges Andenken diesen lächerlich kleinen Kopf. Sie können nicht das ganze Tier mitnehmen, weil es viel zu schwer ist. Es wiegt ungefähr dreißig Tonnen, und wir brauchen ja schließlich keine dreißig Tonnen Fleisch.« Holtzinger sagte: »Das New Yorker Museum hat aber einen.« »Stimmt«, sagte ich. »Das Naturgeschichtliche Museum schickte einen Trupp von achtundvierzig Leuten mit einer Zweizentimeterkanone. Sie stellten das Geschütz am Rand des Sumpfes auf und warteten, bis ihnen ein Brontosaurus vor das Rohr lief. Dann verbrachten sie zwei Monate damit, das Vieh zu häuten, in kleine Stücke zu schneiden und zur Zeitmaschine zu schleppen. Ich kenne zufällig den Mann, der damals dieses Projekt leitete. Er hat jetzt noch manchmal Alpträume, in denen er den Gestank verfaulenden Saurierfleisches zu riechen glaubt. Außerdem mußten sie ein Dutzend große Theropoden erschießen, die der Aasgeruch angelockt hatte und sich nicht
vertreiben ließen. Die lagen dann auch noch herum und verfaulten ebenfalls. Und die Theropoden fraßen drei Mitglieder der Expedition auf – trotz der Kanone.« Am andern Morgen – wir hatten gerade unser Frühstück beendet – schrie einer der Helfer: »Mr. Rivers, sehen Sie dort!« Er zeigte zum Rand des Sumpfes. Im flachen Wasser standen dort sechs Entenschnäbel und fraßen. Es waren Anatosaurier, die ihren Spitznamen von ihrem wie ein Entenschnabel geformten Maul haben. Ziemlich große Biester, die an ihrem Hinterkopf einen Kamm aus Knochenspitzen und Haut tragen. »Ruhig bleiben! Nicht laut reden«, sagte ich. »Die Entenschnäbel sind wie alle Ornithopoden sehr scheu, da sie weder einen Panzer noch irgendwelche anderen Verteidigungswaffen gegen die Theropoden haben. Sie weiden an den Ufern der Seen und Sümpfe. Wenn ein Gorgosaurier sich auf sie stürzen will, flüchten sie ins tiefe Wasser und schwimmen davon. Und wenn hier Phobosuchus, das Superkrokodil, auf sie Jagd macht, retten sie sich wieder an Land. Ein ziemlich aufregendes Leben, nicht wahr?« Holtzinger sagte: »Äh, Reggie, ich habe über das nachgedacht, was Sie über die Ceratopsköpfe gesagt haben. Wenn ich einen von denen dort bekommen könnte, wäre ich auch zufrieden. Er würde für mein Haus groß genug sein, oder?« »Sicher, alter Junge«, sagte ich. »Also passen Sie auf. Wir können einen Bogen schlagen und dort in ihrer Nähe wieder herauskommen. Aber dann müßten wir einen Kilometer Morast und Schlamm durchqueren. Eine sehr mühsame Sache, und vermutlich wür-
den sie uns kommen hören. Oder wir können bis zum Nordende der Sandbank kriechen. Von dort sind es dann nur noch drei- bis vierhundert Meter. Ein schwieriger Schuß, aber nicht unmöglich. Trauen Sie sich das zu?« »Mit dem Zielfernrohraufsatz und im Sitzen – ja, ich will es versuchen.« »Sie bleiben hier«, sagte ich zu James. »Das hier ist Augies Kopf. Ich möchte keinen neuen Ärger haben.« James knurrte nur etwas Unverständliches, während Holtzinger den Zielfernrohraufsatz an seinem Gewehr befestigte. Wir schlichen vorsichtig bis zum Ende der Sandbank, wobei wir uns bemühten, immer in Deckung zu bleiben. Als wir schließlich an eine offene Stelle kamen, krochen wir auf Händen und Füßen langsam weiter. Die Entenschnäbel hatten sich auf ihre Vorderbeine niedergelassen und ästen. Immer wieder erhob sich allerdings einer und sicherte. Holtzinger setzte sich vorsichtig auf, entsicherte sein Gewehr und zielte durch das Teleskop. Und dann ... Bäng, bäng, knallte eine schwere Büchse hinten im Lager. Holtzinger sprang auf. Die Entenschnäbel warfen die Köpfe hoch und rasten auf das schützende Wasser zu. Holtzinger gab noch schnell einen Schuß ab, traf aber nicht. Auch ich drückte ab, traf aber genauso wenig. Enttäuscht machten wir uns auf den Weg zurück ins Lager. Dann aber beschleunigten wir unsere Schritte, denn uns fiel plötzlich ein, daß unsere Gruppe vielleicht von Theropoden angegriffen worden war und Hilfe benötigte.
Tatsächlich war aber nur ein Brontosaurus, wahrscheinlich der von gestern abend, am Lager vorbeigezogen. Ungefähr hundert Meter vor dem Lager wurde der Grund etwas seichter. Der Saurus war daher die kleine Anhöhe langsam und schwerfällig hochgeklettert, bis sein Körper fast ganz aus dem Wasser ragte, wobei er seinen winzigen Kopf auf der Suche nach etwas Freßbarem ununterbrochen hin und her bewegt hatte. James hatte der Versuchung nicht widerstehen können und ihn angeschossen. Als wir endlich im Lager eintrafen, hatte sich inzwischen der Sauropode umgedreht, um wieder im Wasser zu verschwinden, wobei er bei jedem Schritt einen fürchterlichen Schrei ausstieß. Schließlich tauchte er ins tiefe Wasser. Nur sein Kopf und ein paar Meter Hals ragten noch heraus und waren noch eine Zeitlang zu sehen, bis er in den Dunstschwaden verschwand, die über dem Sumpf lagen. James stritt gerade mit dem Radscha. Holtzinger schrie ihn erregt an: »Sie verdammter Idiot! Jetzt haben Sie mich schon zum zweitenmal um einen Abschuß gebracht!« Eine starke Sprache für unseren kleinen Augie. »Reden Sie doch keinen Unsinn«, sagte James. »Ich konnte ihn schließlich nicht ins Lager lassen, damit er hier alles zertrampelt.« »Diese Gefahr bestand allerdings nicht«, widersprach der Radscha höflich. »Wie Sie sehen können, wird das Wasser vor dem Ufer wieder tiefer. Unser schießwütiger Mr. James kann nur kein Tier sehen, ohne gleich zu seinem Gewehr zu greifen.« Ich sagte: »Falls er wirklich zu nahe herangekommen wäre, hätte es vollkommen genügt, ein Stück
Holz oder einen Stein nach ihm zu werfen. Es sind harmlose Tiere.« Das stimmt zwar nicht ganz. Als der Comte de Lautrec einmal einem dieser Riesen nachgelaufen war, um ein besseres Ziel zu haben, hatte der Sauropode sich umgeblickt, einmal mit dem Schwanz gezuckt und dem Comte den Kopf so sauber abgeschlagen, als ob er von der Guillotine geköpft worden wäre. »Wie soll ich denn das wissen?« schrie James und lief purpurrot an. »Ihr seid alle gegen mich. Wozu, zur Hölle, sind wir denn auf diesem gottverdammten Jagdausflug, wenn wir nicht schießen dürfen? Ihr nennt euch alle Jäger, aber ich bin der einzige, der bis jetzt was getroffen hat.« Ich wurde ziemlich wütend und sagte ihm, er sei ein verzogener junger Geck mit mehr Geld als Verstand und daß es mich reute, ihn je mitgenommen zu haben. »Wenn das so ist, dann geben Sie mir ein Muli und etwas Proviant. Dann gehe ich allein zum Stützpunkt zurück. Ich will Ihnen wirklich nicht länger lästig fallen.« »Stellen Sie sich doch nicht dümmer an, als Sie sowieso schon sind!« schrie ich ihn an. »Sie wissen genau, daß das völlig unmöglich ist.« »Dann gehe ich eben so!« Er nahm seine Jagdtasche, warf ein paar Konserven und einen Dosenöffner hinein und machte sich mit umgehängtem Gewehr auf den Weg. Da sagte Beauregard Black: »Mr. Rivers, wir können ihn doch nicht so laufen lassen. Er wird sich verirren, oder ein Theropod frißt ihn.« »Ich hole ihn zurück«, sagte der Radscha und ging
dem Ausreißer nach. Er holte ihn ein, als er gerade zwischen den Palmfarnen verschwand. Wir konnten zwar sehen, wie sie gestikulierten, aber natürlich kein einziges Wort verstehen. Schließlich kehrten sie um. Sie hatten sich untergefaßt wie zwei alte Schulfreunde. Ich verstehe nicht, wie der Radscha das macht. Jedenfalls sehen Sie, in was für ein Schlamassel man kommen kann, wenn man bei der Planung einer solchen Reise einen Fehler macht. In diesem Fall mußten wir wohl oder übel das Beste aus unserer Lage herausschlagen; denn, einmal in der Vergangenheit, sind wir von der übrigen Welt hoffnungslos abgeschnitten, bis wir abgeholt werden. Ich möchte übrigens nicht den Eindruck erwecken, als ob James nur eine Last gewesen wäre. Er hatte auch seine guten Seiten. Er vergaß solche Streitigkeiten schnell und war am nächsten Tag wieder völlig der alte. Er half auch bei allen Arbeiten, die das Lagerleben so mit sich brachte – wenigstens wenn er dazu aufgelegt war. Außerdem sang er ganz gut und besaß einen unergründlichen Schatz an Witzen, mit denen er uns unterhielt. Wir blieben noch zwei Tage in diesem Lager. Wir sahen Krokodile – die kleine Art – und eine Menge Sauropoden, bis zu fünf Stück gleichzeitig. Aber Entenschnäbel ließen sich nicht mehr sehen. Und auch kein einziges der fünfzehn Meter langen Superkrokodile. Am ersten Mai brachen wir das Lager ab und schlugen die Richtung nach den Janpur-Bergen ein. Meine Sahibs wurden langsam ungeduldig. Schließlich befanden wir uns seit acht Tagen in der Kreidezeit und
hatten noch keine einzige Trophäe. Über die nächsten Tage ist nichts Aufregendes zu berichten. Einmal sahen wir ganz kurz und außer Schußweite einen Gorgosaurier, und ein anderes Mal fanden wir die Spuren eines riesigen Iguanodons. Sonst aber auch kein Anzeichen der großen Dinosaurier. Am Fuß der Berge schlugen wir unser Lager auf. Das Fleisch des Knochenkopfes war inzwischen zu Ende gegangen, und so mußten wir zu allererst frisches Fleisch besorgen. Am Morgen des dritten Mai machten wir uns fertig. Ich sagte zu James: »Also, alter Junge, bitte diesmal keinen Ihrer üblichen Tricks. Der Radscha wird Ihnen sagen, wann Sie schießen können.« »Hm, hm«, meinte er, brav wie ein Lamm. Bei dem Kerl wußte man wirklich nie, woran man war. Dann zogen wir zu viert los. Wir hielten besonders Ausschau nach Knochenköpfen, waren aber auch bereit, uns mit einem Ornithomimen zu begnügen. Außerdem standen die Chancen nicht schlecht, Holtzinger doch noch seinen Triceratops zu verschaffen. Ein paar hatten wir schon auf dem Anmarsch gesehen, aber das waren Kälber ohne richtige Hörner. An diesem Tag war es heiß und stickig, und wir schnauften und schwitzten entsetzlich. Wir waren schon den ganzen Vormittag herumgelaufen, ohne etwas anderes zu sehen als hin und wieder eine Eidechse, als mir plötzlich Aasgeruch in die Nase stieg. Ich ließ anhalten und schnupperte. Wir befanden uns auf einer Lichtung, die nur von ein paar Trockenrinnen durchzogen war. Die Rinnen vereinigten sich weiter hinten zu einer anscheinend tieferen Schlucht,
die ein Zykadengehölz durchschnitt. Ich sah mich aufmerksam um und lauschte. Da hörte ich auch schon das Summen der Aasfliegen. »Die Richtung«, sagte ich, »dort liegt irgendwo ein Kadaver – ah – hier haben wir ihn schon.« Und da lag er. Es waren die Überreste eines Triceratops, die dreigehörnte Art der großen Ceratopsfamilie. Der Bursche mußte lebend sechs bis acht Tonnen gewogen haben. Jetzt war allerdings nicht mehr viel von ihm zu sehen, denn irgendein Theropod hatte ihn schon mehr als zur Hälfte aufgefressen. Holtzinger sah ihn bedauernd an und sagte: »Oh, zum Teufel, warum habe ich ihn nicht vorher erwischt. Das wäre ein großartiger Kopf gewesen.« Sie sehen, in seiner Sprache hatte sich Holtzinger uns rauhen Naturburschen schon ein wenig angepaßt. Ich sagte: »Herrschaften, jetzt müssen wir auf der Hut sein. Ein Theropod war an diesem Kadaver, und sehr wahrscheinlich ist er noch in der Nähe.« »Woher wissen Sie das?« fragte James, dem der Schweiß in Strömen über sein rundes rotes Gesicht rann. Er sprach mit unterdrückter Stimme. Ein Theropod ernüchtert selbst einen Bruder Leichtsinn wie ihn. Ich schnupperte noch einmal und bildete mir fast ein, den scharfen Geruch des Raubsauriers wahrzunehmen. Aber der Kadaver stank so durchdringend, daß ich nicht sicher sein konnte. Ich erklärte James: »Selbst die größten Theropoden greifen nur selten einen ausgewachsenen Triceratops an. Diese Hörner sind oft selbst dem Tyrannosaurus zu gefährlich. Aber ein toter oder ein sterbender kann sie schon reizen. Und wenn sie einmal ein solches
Fressen gefunden haben, dann drücken sie sich oft wochenlang in seiner Nähe herum, schlagen sich den Wanst bis oben hin voll, schlafen dann tagelang, um zu verdauen, und kommen wieder. Gewöhnlich schlafen sie untertags sowieso, weil sie direktes Sonnenlicht nur schlecht vertragen. Dann findet man sie in Gebüschen oder bewachsenen Niederungen liegen, überall da, wo Schatten ist.« »Was tun wir jetzt?« fragte Holtzinger. »Wir werden versuchen, ihn aufzustöbern. Wir durchqueren drüben das Zykadengehölz, wie üblich paarweise. Und dann merken Sie sich eins: Was auch immer passiert, keine Panik und keine voreiligen Schießereien.« Bei diesen Worten sah ich Courtney James vielsagend an, aber er gab mir meinen Blick ganz unschuldig zurück und griff nach seinem Gewehr. »Soll ich es noch immer mit offenem Verschluß tragen?« wollte er wissen. »Nein. Verriegeln Sie den Verschluß ruhig, aber lassen Sie es gesichert, bis es so weit ist. Es ist zwar gefährlich, einen Zwilling wie den Ihren im Busch geschlossen zu tragen, aber mit einem Theropoden in der Nähe wäre es noch riskanter, wenn Sie den Verschluß offen haben und dann vielleicht beim Schließen einen Zweig hineinbekommen. Wir wollen dichter als gewöhnlich beisammen bleiben, damit wir uns nicht aus den Augen verlieren. Radscha, du gehst in diese Richtung, aber seid vorsichtig und lauscht ab und zu.« Wir drängten uns in das Zykadengehölz und ließen den Kadaver, wenn auch nicht den Gestank zurück. Die ersten Meter war die Sicht gleich Null, so dicht
stand der Busch. Als wir zwischen die höheren Bäume kamen, wurde er gottlob etwas lichter. Nichts war zu hören außer dem Summen der Insekten, dem Rascheln der Eidechsen und dem Kreischen der Vögel in den Baumwipfeln. Ich glaubte wieder, den Theropoden zu riechen, sagte mir aber, daß das vermutlich nur Einbildung war. Der Theropod konnte irgendwo im Umkreis von einem Kilometer sein. Ich lauschte einen Augenblick und konnte James und den Radscha zu meiner Rechten hören. Ich sah, wie sich die Farnwedel bei jedem ihrer Schritte bewegten. Sie glaubten sicher, sehr vorsichtig zu sein, aber für mich klangen ihre Schritte wie ein Erdbeben. »Ein wenig näher!« rief ich, und schon sah ich sie von der Seite auf uns zukommen. Wir kletterten in einen Graben, der dicht mit Farnen bewachsen war. Als wir auf der anderen Seite wieder herausklettern wollten, mußten wir feststellen, daß unser Weg durch eine engstehende Palmettogruppe versperrt war. »Nehmt ihr diese Seite, wir laufen dort herum«, sagte ich. Nach wie vor blieben wir alle paar Schritte stehen, um zu lauschen und den Geruch zu prüfen. Ich schätze, wir hatten die Palmettos zu ungefähr zwei Dritteln umrundet, als ich vor uns auf der linken Seite ein Geräusch hörte. Holtzinger hörte es ebenfalls und entsicherte sein Gewehr. Ich legte den Daumen auf die Sicherung des meinen und trat einen Schritt zur Seite, um freies Feld zu haben. Das Geräusch wurde lauter. Ich hob mein Gewehr und zielte auf die Höhe, in der sich das Herz eines Theropoden auf diese Entfernung ungefähr befinden mußte. Die Blätter bewegten sich, und ein zwei Meter
großer Knochenkopf trat hervor, schritt mit würdevoller Haltung von links nach rechts, wobei er bei jedem Schritt seinen Kopf ruckweise wie eine Taube bewegte. Ich hörte Holtzinger erleichtert aufatmen und mußte an mich halten, um nicht laut aufzulachen. Holtzinger sagte: »Äh –« »Still«, flüsterte ich, »der Theropod kann immer noch –« So weit kam ich, als das verdammte Gewehr von James wieder losging. »Getroffen!« schrie James, und ich hörte ihn laufen. »Mein Gott, jetzt hat er es schon wieder gemacht«, knurrte ich. Dann hörte ich plötzlich ein Zischen, das nicht von dem sterbenden Knochenkopf kommen konnte, und James brüllte wild auf. Irgend etwas erhob sich aus dem Gestrüpp vor uns, und dann sah ich den Kopf des größten Raubtieres dieser Epoche, ja aller Zeiten, Tyrannosaurus Rex persönlich. Ich konnte sein tückisch blitzendes Auge und die fünfzehn Zentimeter langen Säbelzähne sehen und die große Wamme, die ihm vom Kinn herunter auf die Brust hing. Ein Trockenbett zerschnitt unseren Weg auf der von uns abgekehrten Seite des Palmettogehölzes. Es war ungefähr zwei Meter tief. Darin hatte der Tyrannosaurus gelegen und seine letzte Mahlzeit verdaut. Seinen Kopf hatten die üppig wuchernden Farnkräuter vor uns verdeckt, und erst die beiden Schüsse, die James über seinen Kopf hinweg abgefeuert hatte, hatten den Riesen aufgeweckt. Und dann war James, wie um seiner Dummheit die Krone aufzusetzen, ohne nachgeladen zu haben, weitergerannt.
Noch ein paar Meter, und er wäre der Bestie direkt auf den Rücken getreten. Begreiflicherweise blieb James erschrocken stehen, als dieses Monstrum sich so plötzlich vor ihm in die Höhe reckte. Siedendheiß fiel ihm ein, daß sein Gewehr leer war und daß der Radscha zu weit hinten war, um einen sicheren Treffer anbringen zu können. Anfangs behielt er die Nerven. Er klappte sein Gewehr auf, nahm zwei Patronen aus dem Gürtel und schob sie in die beiden Läufe. Aber in seiner verständlichen Eile klemmte er beim Zuklappen den Finger zwischen Verschluß und Lauf ein, genauer gesagt, die Haut zwischen Daumen und Hand. Es tat sicherlich ziemlich weh, so daß er im ersten Schreck das Gewehr fallen ließ. Das versetzte ihm den Rest, und er gab Fersengeld, das aber genau im ungünstigsten Moment. Der Radscha kam nämlich gerade mit erhobener Büchse angerannt, bereit, sie an die Schulter zu reißen, sobald er einen ungehinderten Blick auf den Tyrannosaurus hatte. Als er James auf sich zurasen sah, stutzte er natürlich. Schließlich wollte er den Rex und nicht James abschießen. Der aber rannte blindlings weiter, und bevor der Radscha zur Seite springen konnte, prallten sie zusammen und fielen beide hin. Der Tyrannosaurus nahm nun sein bißchen Grips zusammen und stampfte hinter den beiden her, um ihnen den Rest zu geben. Und was war mit Holtzinger und mir auf der andern Seite der Palmettos? Nun, im selben Augenblick, als James aufschrie und der Kopf des Sauriers erschien, raste Holtzinger wie ein Hase nach vorn. Ich hatte meine Büchse hochgerissen, um den Tyranno-
saurus durch den Kopf zu schießen, in der Hoffnung, dabei wenigstens ein Auge zu treffen. Aber bevor ich ihn im Visier hatte, war er schon wieder hinter den Palmettos verschwunden. Vielleicht hätte ich einfach abdrücken sollen; aber ich wußte aus Erfahrung, daß Schüsse aufs Geratewohl meistens nicht viel nützen. Holtzinger war inzwischen bereits hinter den Palmettos verschwunden. Wie Sie sehen, bin ich ziemlich kräftig gebaut, trotzdem rannte ich mit einer beträchtlichen Geschwindigkeit hinter ihm her. Da hörte ich schon seine Büchse und das Klicken des Bolzens zwischen den einzelnen Schüssen: bang – klickklick – bang – klickklick. Er hatte den Tyrannosaurus in dem Moment ins Visier bekommen, als die Bestie sich gerade nach James und dem Radscha bükken wollte. Mit der Mündung fünf Meter von dem Koloß entfernt ballerte er los und pumpte ihm 875er zwischen die Rippen. Er hatte schon drei Schuß abgegeben, als der Tyrannosaurus endlich dröhnend grunzte und seinen Kopf herumschwenkte, um nachzusehen, was ihn da piekste. Sein Rachen öffnete sich geifernd, und er machte einen Schritt auf Holtzinger zu. Holtzinger brachte noch einen Schuß an und versuchte dann, zur Seite zu springen. Er stand auf einer schmalen Stelle zwischen dem Palmettogebüsch und der Trockenrinne. Er stolperte und fiel hinein. Der Saurus schnappte ihn auf, entweder noch während des Falles oder kurz nachher. Seine riesigen Kiefer klappten zusammen, und dann kam sein Kopf wieder hoch mit dem armen Holtzinger zwischen den Dolchzähnen. Holtzinger schrie wie eine arme Seele im Fegefeuer.
Gerade in diesem Augenblick war ich in Schußnähe gekommen und zielte nun auf den Kopf des Tieres. Dann kam mir zum Bewußtsein, daß ja mein Schützling zwischen den Kiefern hing und meine Kugel auch ihn treffen würde. Als nun der Kopf hochkam wie der stählerne Greifer eines gigantischen Baggers, feuerte ich einen Schuß auf das Herz ab. Aber der Koloß hatte sich schon wieder umgedreht, und ich vermute, daß die Kugel an seinen Rippen abprallte. Das Tier machte noch ein paar Schritte, als meine zweite Kugel es in den Rücken traf. Es torkelte etwas, ließ sich aber nicht beirren. Noch ein Schritt, und es war schon fast wieder zwischen den Bäumen verschwunden, als der Radscha zweimal feuerte. Er hatte sich endlich aufrappeln können und dem Tyrannosaurus noch eins draufgebrummt. Der Doppelschlag warf das Biest um, und es stürzte in eine Zwergmagnolie. Ich sah, wie eins seiner Hinterbeine zwischen einem Schauer fallender Blüten hin und her zuckte. Aber so ein Biest hat ein zähes Leben. Der Saurus erhob sich wieder und trottete weiter, ohne dabei sein Opfer aus den Fängen zu lassen. Das letzte, was ich sah, waren Holtzingers Beine, die aus dem Maul des Ungeheuers baumelten – Holtzinger hatte inzwischen zu schreien aufgehört. Der lange Schwanz der Bestie knallte gegen die Baumstämme, während er erregt hin und her peitschte. Der Radscha und ich luden wieder und rannten dem Ungetüm nach. Ich stolperte einmal, sprang aber sofort wieder auf und bemerkte erst später, daß ich mir bei dieser Gelegenheit ein großes Stück Haut vom
Ellbogen gerissen hatte. Dann waren wir endlich aus dem Dickicht heraus, aber der Tyrannosaurus befand sich schon am andern Ende der Lichtung. Ich schoß ihm noch nach, wahrscheinlich ohne zu treffen, und dann war er zwischen den Bäumen untergetaucht, bevor ich noch einen weiteren Schuß abfeuern konnte. Wir folgten den Blutspuren, bis wir erschöpft anhalten mußten. Die Bewegungen eines Sauriers sehen langsam und schwerfällig aus, aber mit ihren riesigen Beinen können sie, auch ohne zu rennen, eine ganz ansehnliche Geschwindigkeit entwickeln. Als wir uns endlich etwas verschnauft und uns den Schweiß von der Stirn gewischt hatten, versuchten wir, den Spuren zu folgen. Wir nahmen an, daß er bereits zu Tode getroffen sei und wir daher leicht aufholen könnten. Aber wir verloren die Spur und wußten nicht mehr weiter. Wir gingen noch ein paarmal im Kreis herum, in der Hoffnung, sie wieder aufzufinden, hatten aber kein Glück. Stunden später gaben wir auf und kehrten zur Lichtung zurück. Sie können sich vorstellen, in was für einer Verfassung. Courtney James saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Er hielt sein Gewehr und das Holtzingers. Seine rechte Hand war blau und angeschwollen, er konnte sie aber noch gebrauchen. Seine ersten Worte waren: »Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen? Sie hätten mich nicht hier im Stich lassen sollen. Wie leicht hätte ein anderes Vieh von der gleichen Sorte vorbeikommen können. Langt es Ihnen denn nicht, daß wir durch Ihren Leichtsinn schon einen Mann verloren haben? Soll denn noch ein zweiter draufgehen?«
Ich hatte mir eine Abreibung für James zurechtgelegt, aber diese unerwartete Unverschämtheit machte mich sprachlos, so daß ich nur noch schwach herausbringen konnte: »Unseren Leichtsinn?« »Natürlich! Ihr Leichtsinn!« sagte er. »Sie ließen uns vorausgehen, damit, falls jemand aufgefressen wird, wir das sind. Sie schicken einen Mann mit einem zu schwachen Gewehr gegen diese Bestie los. Sie ...« »Du stinkendes kleines Schwein«, fing ich an und machte in dieser Tonart weiter. Später brachte ich in Erfahrung, daß er beträchtliche Zeit dafür verwendet hatte, eine bis in die kleinsten Details gehende Theorie auszuarbeiten, die beweisen sollte, daß das ganze Unglück unsere Schuld gewesen war, Holtzingers, des Radschas und die meine. Nichts davon, daß James wieder ohne Erlaubnis geschossen hatte, oder daß er die Nerven verloren hatte, oder daß Holtzinger sein wertloses Leben gerettet hatte. Der Radscha war schuld, daß er mit ihm zusammengestoßen war, und so weiter. Nun, ich habe eine rauhe Schule hinter mir und bin aus diesem Grunde in der Lage, mich sehr bildhaft auszudrücken. Der Radscha versuchte eine Zeitlang mit mir Schritt zu halten, seine mangelnden Sprachkenntnisse zwangen ihn aber schließlich dazu, in Hindustani weiter zu fluchen. An der purpurnen Färbung, die James' Gesicht annahm, konnte ich mit Befriedigung feststellen, daß ich genau ins Schwarze traf. Hätte ich allerdings bei meiner Schimpfkanonade auch ein bißchen meinen Verstand benutzt, dann hätte ich es mir vielleicht ein zweites Mal überlegt, einen Mann zu beschimpfen,
der ein Gewehr in der Hand hatte. Folgerichtig legte James Holtzingers Gewehr beiseite, hob sein eigenes und sagte: »Diese Sprache lasse ich mir von keinem Menschen gefallen. Ich werde einfach sagen, daß der Tyrannosaurus auch euch beide gefressen hat.« Der Radscha und ich hatten beide unsere Gewehre mit offenem Verschluß unter dem Arm, und es würde wohl mehr als eine Sekunde dauern, sie zusammenzuklappen, hochzureißen und abzufeuern. Außerdem schießt man eine 14-Millimeter nicht einfach aus der freien Hand ab, wenigstens nicht, wenn man weiß, was einem guttut. In der nächsten Sekunde hob James schon seine Waffe an die Schulter, und ich blickte in die beiden Läufe. Sie waren so groß wie U-BahnTunnel. Der Radscha hatte schneller geschaltet als ich. Während der Kerl seine Büchse hob, sprang er mit einem Riesensatz vorwärts. Hatte als junger Bursche Fußball gespielt, wissen Sie. Mit einem gewaltigen Fußtritt stieß er das Gewehr in die Höhe, und es ging los. Die Kugel schwirrte vielleicht zwei Zentimeter an meinem Kopf vorbei. Der Knall war so laut, daß ich dachte, mir platzt das Trommelfell. Der Radscha ließ sein eigenes Gewehr fallen, griff nach dem Lauf und riß James das Gewehr aus der Hand, wobei er ihm fast die Finger abbrach. Er wollte James eins mit dem Kolben versetzen, aber ich hatte ihm inzwischen schon den Lauf meines Gewehres um die Ohren geschlagen. Dann gab ich ihm einen Stoß vor die Brust, daß er nach hinten überkippte, und begann, ihn systematisch und lustvoll zu verprügeln. Er war nicht gerade schwächlich, aber gegen meine zwei Zentner hatte er nicht die geringste Chance.
Als seine Gesichtsfarbe anzeigte, daß er fertig war, hörte ich auf. Wir drehten ihn um, nahmen einen kurzen Riemen aus seiner Jagdtasche und fesselten ihm die Hände hinter dem Rücken. Wir waren uns einig, daß wir nur dann vor ihm sicher waren, wenn wir ihn jede Minute unter Bewachung hielten, so lange, bis wir in unsere eigene Zeit zurückgekehrt waren. Einem Mann, der einmal versucht hat, einen umzubringen, soll man keine zweite Chance geben. Möglicherweise hatte James vom ersten Mal die Nase voll, aber warum sollten wir ein unnötiges Risiko eingehen? Wir führten James ins Lager zurück und erklärten den Leuten, was vorgefallen war. James verfluchte jeden einzelnen von uns und forderte uns auf, ihn doch zu töten. »Besser, ihr tut es jetzt, ihr Schweinehunde, denn später müßt ihr selbst dran glauben«, schrie er. »Warum getraut ihr euch denn nicht? Weil ihr wißt, daß irgendeiner am Ende doch nicht dichthalten wird. Haha!« Der Rest der Safari war eine trübe Angelegenheit. Drei Tage durchkämmten wir die Gegend nach dem Tyrannosaurus. Hatten aber kein Glück. Vielleicht lag er in einem Schlammloch, tot oder genesend, und wir würden ihn nie finden, es sei denn, daß wir über ihn stolperten. Aber irgendwie fühlten wir, daß wir es Holtzinger schuldig waren, wenigstens den Versuch zu machen, seine sterblichen Überreste zu bergen, falls sie überhaupt noch vorhanden waren. Nachdem wir im Hauptlager angekommen waren, fing es an zu regnen. Wenn es einmal nicht regnete, sammelten wir kleine Reptilien für unsere wissen-
schaftlichen Freunde daheim, und als schließlich die Zeitkammer erschien, stolperten wir fast übereinander, nur um recht schnell hineinzukommen. Der Radscha und ich hatten uns über die gesetzlichen Schritte unterhalten, die wir gegen James unternehmen konnten, und waren zu dem Schluß gekommen, daß es wohl keinen Präzedenzfall für eine Bestrafung von Verbrechen gab, die vor 85 000 000 Jahren begangen worden waren. Sehr wahrscheinlich wären sie bis jetzt jedenfalls verjährt. Wir nahmen ihm deshalb seine Fesseln ab und schoben ihn in die Kammer, nachdem alle anderen außer uns schon hindurchgegangen waren. In der Gegenwart angekommen, gaben wir ihm sein Gewehr, ungeladen natürlich, und seine anderen Habseligkeiten. Wortlos ging er weg. Wir brachten unsere Männer und die Tiere zu dem alten Laboratoriumsgebäude, das die WashingtonUniversität als Sammelplatz für Expeditionen in die Vergangenheit großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Wir zahlten alle aus und mußten dann feststellen, daß wir fast pleite waren. Die Anzahlungen, die sowohl James wie Holtzinger geleistet hatten, deckten bei weitem nicht die Kosten des Unternehmens, und die Aussicht, den Rest unseres Honorars von James oder aus der Erbmasse Holtzingers zu bekommen, war wohl ziemlich hoffnungslos. Und weil wir gerade von James sprechen, wissen Sie, was dieser Bursche unterdessen tat? Er ging heim, holte sich neue Munition und kam zur Universität zurück. Er suchte Professor Prochaska auf und sagte: »Professor, ich möchte, daß Sie mich noch einmal
für eine ganz kurze Zeit in die Kreidezeit zurückschicken. Wenn das sofort möglich ist, zahle ich, was Sie verlangen. Ich möchte am 23. April des Jahres 85 000 000 vor Christus dort sein.« Prochaska antwortete: »Weshalb wollen Sie so schnell wieder zurück?« »Ich habe meine Brieftasche verloren«, sagte James, »und ich habe vor, mich selbst bei der Ankunft auf meiner ersten Reise zu beobachten, und möchte deshalb einen Tag früher da sein. Dann werde ich mich selbst verfolgen, bis ich sehe, wo ich die Brieftasche verliere.« »Fünftausend sind viel Geld für eine Brieftasche.« »Es sind ein paar Dinge darin, die unersetzlich sind. Und außerdem lassen Sie das meine Sorge sein, ob es sich für mich lohnt oder nicht.« »Nun ja«, meinte Prochaska und dachte nach, »die Gruppe, die heute morgen reisen wollte, hat gerade angerufen, daß sie sich verspäten wird. Da kann ich Sie vielleicht einplanen. Ich habe mich schon immer gefragt, was wohl passieren wird, wenn jemand in der gleichen Zeit zweimal vorhanden ist.« James schrieb einen Scheck aus, und Prochaska begleitete ihn zur Kammer. Anscheinend hatte James vor, sich hinter einem Busch zu verstecken und den Radscha und mich bei unserer Ankunft über den Haufen zu knallen. Stunden später, nachdem wir uns umgezogen und noch dies und das erledigt hatten, standen wir vor der Universität auf der Straße und warteten auf unsere Frauen, die uns abholen wollten. Plötzlich war ganz in der Nähe der laute Donnerschlag einer Ex-
plosion zu hören, und keine zwanzig Meter entfernt blitzte ein grelles Licht auf. Die Druckwelle warf uns fast um und zerbrach die Fensterscheiben einer ganzen Anzahl Häuser. Wir eilten auf die Stelle zu und kamen gleichzeitig mit einem Polizisten und mehreren Passanten an. Auf der Straße, direkt neben dem Randstein, lag ein menschlicher Körper, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Er sah aus, als ob jeder Knochen einzeln zerbrochen und jedes Blutgefäß zerplatzt wäre. Die Kleidung der Leiche war zerfetzt, aber ich erkannte eine H & H 12-Millimeter-Expreß-Büchse mit zwei Läufen. Das Holz war angekohlt und der Lauf verbogen, aber es war eindeutig James' Gewehr. Ich will es mir ersparen, auf die folgenden Untersuchungen der Angelegenheit einzugehen. Folgendes war geschehen: Niemand hatte uns erschossen, als wir am 24. April in der Kreidezeit ankamen, und das konnte natürlich auch nicht geändert werden. Aus diesem Grunde wurde James von den Raum-ZeitKräften zurück in die Gegenwart geschleudert, als er sich anschickte, etwas zu tun, was eine sichtbare Veränderung der Welt vor 85 000 000 Jahren hervorgerufen hätte. Dadurch wurde das fällige Paradoxon vermieden. Jetzt versteht man diese Sache ja viel besser, und deshalb schickt der Professor auch niemand mehr in eine Zeit, die nicht mindestens fünfhundert Jahre vor oder hinter der Periode liegt, die schon ein anderer Zeitreisender erforscht hat. Eine ganz harmlose Handlung, beispielsweise das Fällen eines Baumes oder so etwas, könnte die folgende Zeit beeinflussen, und er geht lieber auf Nummer Sicher. Über lange
Zeitläufte hinweg, sagt er, gleichen sich solche Veränderungen wieder aus und verlieren sich im Strom der Zeit. Wir hatten ein paar fürchterliche Monate durchzustehen – schlechte Reklame natürlich für unser Geschäft, obwohl wir unser ausstehendes Honorar noch eintreiben konnten. Inzwischen habe ich eingesehen, daß die Katastrophe nicht allein James' Schuld gewesen war. Ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nachdem ich schon wußte, was für ein verzogener und launenhafter Mensch er war. Und wenn Holtzinger ein schweres Gewehr hätte handhaben können, hätte er vielleicht den Tyrannosaurus niederschießen können, auch wenn er ihn wahrscheinlich nicht ganz erledigt hätte. Jedenfalls hätten wir anderen dann die Möglichkeit gehabt, ihm den Fangschuß zu geben. Das ist also der Grund, warum ich Sie nicht mit in diese Zeitepoche nehmen will. Es gibt eine Menge anderer interessanter Zeiten, und wenn Sie sich die Sache einmal gründlich überlegen, finden Sie sicherlich – Großer Gott! Schauen Sie mal, wie spät es ist! Jetzt muß ich mich aber beeilen. Meine Frau bringt mich sonst um. Gute Nacht!
Originaltitel: A GUN FOR DINOSAUR Copyright © 1956 by Galaxy Publishing Corp. Mit Erlaubnis von Autor und Thomas Schlück. Literarische Agentur, Hannover Übersetzt von Lothar Heinecke
A. E. van Vogt DIE LÜCKE IN DER ZEIT Die hundert Delegierten des ElektronikFachkongresses, die die Vorstellung besucht hatten, verließen den Saal. Die Stimmen der Frauen vermischten sich mit den tieferen Tönen der Männer. Die Geräusche verhallten schließlich in den Gängen des Hotels, doch als Señor Pedro del Corteya von seiner Arbeit aufsah, mußte er feststellen, daß er noch nicht allein war. Er fuhr fort, den Film zurückzuspulen, legte ihn in die Kassette und begann, den Projektor einzupacken. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den anderen mit der neugierigen, grüblerischen Aufmerksamkeit des Lateinamerikaners. Als er seine Arbeit schließlich beendet hatte, wandte er sich um. »Sie wünschen mich zu sprechen, Señor?« Der große Mann zögerte einen Augenblick, ehe er herantrat. Er war ein massiger Mensch in den Vierzigern, mit braunen Augen und schütterem Haar. »Einen komischen Film haben Sie uns da gezeigt.« Corteya bedankte sich für das Kompliment mit einem Lächeln. »Fanden Sie ihn amüsant, Señor?« Wieder ein Zögern, dann: »Woher haben Sie den Film?« Corteya runzelte die Stirn. Diese indiskreten Amerikaner. Glaubte der Mann wirklich, er würde ihm seine Geschäftsgeheimnisse mitteilen? »Denken Sie, ich bin ein Narr, Señor? Vielleicht wollen Sie eine Konkurrenz aufziehen. Vielleicht ha-
ben Sie auch eine Menge Geld, so daß Sie mich leicht unterbieten könnten.« Der Fremde lachte. Er zog eine Karte hervor und überreichte sie Corteya. Walter Dorman Präsident Electronic Company of America Corteya blickte einen Moment auf die Karte und gab sie dann zurück. Er stellte fest, daß Dorman ihn eindringlich musterte. Schließlich sagte der Mann, und seine Stimme klang ein wenig ungläubig: »Sie glauben mir immer noch nicht, daß ich Sie nicht ruinieren will.« Corteya zuckte die Achseln. »Was wollen Sie wissen, Señor?« »Dieser Film?« Corteya hob mißbilligend die Hand. »Nur ein zehnminütiger Unterrichtsfilm.« »Sehr gut gemacht, wenn Sie mich fragen.« »Die ganze Welt weiß, Señor, daß Hollywood wundervoll ist.« »Hollywood hat noch nie einen so guten Film gemacht.« Corteya lächelte. »Wenn Sie es sagen, wird es wohl stimmen.« Zum erstenmal versuchte er jetzt auch, sich die Einzelheiten des eben vorgeführten Films ins Gedächtnis zurückzurufen. Er konnte sich jedoch kaum erinnern. Er hatte es sich angewöhnt, mehr auf das Publikum zu achten als auf den Film. Trotzdem fiel ihm ein, daß von einem automatischen, elektrischen Herd die Rede war, der nur mit den Zutaten zu
versorgen war und dann das fertige Mahl zu jeder gewünschten Zeit warm servierte. Vor zwei Wochen hatte er den Film auf einer Tagung der örtlichen DiätVereinigung gezeigt und erinnerte sich noch an das allgemeine Gelächter über diesen nicht existenten Apparat. Corteya sagte: »Señor, ich beziehe meine Filme von mehreren Verleihern, und über die Quellen dieser Firmen bin ich nicht orientiert. Sie alle werben um mein Interesse, und meine Tätigkeit besteht darin, die Kataloge durchzusehen und die Filme zu bestellen, wenn ich sie benötige.« Er hob die Schultern. »Das ist alles.« »Haben Sie bereits ähnliche Filme gehabt?« »Ein paar. Ich erinnere mich nicht.« »Kommen sie alle vom selben Verleih?« Dormans Hartnäckigkeit wurde langsam lästig. »Ich erinnere mich wirklich nicht, Señor, für mich ist das alles nur Routine.« »Haben Sie im Augenblick einen ähnlichen Film zur Verfügung?« »Sie meinen hier? Nein!« Corteya machte ein unglückliches Gesicht. Er war ein einfacher, aufrichtiger Mann, der wie jeder andere lügen konnte, wenn er mit einer Lüge begonnen hatte. Aber da er einmal die Wahrheit gesagt hatte, mußte er wohl oder übel dabei bleiben. »Beim Empfang des Aero-Klubs werde ich morgen abend einen Film über einen Raumflug zeigen. Er soll sehr lustig sein, sagt der Katalog.« Dorman sagte: »Ich weiß, es ist etwas viel verlangt, aber würden Sie in Ihr Büro hinüberfahren und mir den Film jetzt vorführen?«
»Señor, meine Frau, sie wartet zu Hause auf mich.« Dorman sagte nichts, holte nur seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Zwanzigdollarschein. Wie er erwartet hatte, griff die schmale Hand seines Gegenübers diskret, aber ohne Zögern, nach dem Geld. Sie brauchten nur acht Minuten, um Corteyas Geschäftsräume zu erreichen, und wenig später begann der Projektor des jungen Mannes zu surren. Ein Seepanorama durchbrach die Schatten eines wolkigen, aber strahlenden Horizonts. Das Meer war glatt, eine bewegungslose Wasseroberfläche. Plötzlich jedoch regte sich etwas in den dunklen Tiefen. Ein Wesen kam ins Blickfeld. Es durchbrach die stille Wasserfläche und sprang in die Höhe; zehn, zwanzig, dreißig Meter hoch. Sein gewaltiger ballonförmiger Kopf und großer gähnender Mund schienen fast die Kamera zu berühren. Und dann begann es zu fallen, noch immer kämpfend, noch immer wütend bestrebt, das Opfer zu erreichen, nach dem es gesprungen war. Es hatte jedoch keinen Erfolg. Es fiel und traf mit einer solchen Wucht auf die Wasseroberfläche auf, daß Dorman zusammenzuckte. Er war stark beeindruckt von der Illusion der Wirklichkeit, die hier mit einem künstlichen und offensichtlich mechanisch bewegten Ungeheuer in diesem Ateliersee erzeugt worden war. Aber das Gespritzte sah echt aus. Einen Augenblick später sagte der Erzähler: »Das war ein venusianischer Tintenfisch. Diese Wesen, die in den Tiefen der warmen Venusozeane zu Hause sind, kommen nur zur Nahrungssuche an die Oberfläche. Unser Kameramann stellte sich als Köder zur Verfügung und veranlaßte den Tinten-
fisch, ihn anzugreifen. Es bestand jedoch keine Gefahr, da er von einem elektronischen Schutzfeld umgeben war.« Dorman lächelte verkrampft. Zuerst ein elektrischer Ofen, der kochen konnte, jetzt eine Fahrt zur Venus. Beide Filme waren wundervoll fotografiert, und bei diesem Streifen war es außerdem ein kluger Einfall, nicht von einer Gefahr für den Kameramann zu sprechen. In so manchem Reisefilm über Orte, die es wirklich gab, wurde Spannung bis zum Erbrechen produziert. Er stand auf, und sein Interesse war fast erloschen. Er fühlte sich im Augenblick sehr gleichgültig. Einen kurzen Augenblick lang, während des Filmes über den Herd, war ihm der wilde Gedanke gekommen, daß der ganze Streifen vielleicht nur ein brillanter Werbespot seiner Konkurrenz sein könne. Der Venusfilm rückte jedoch die ganze Angelegenheit ins richtige Licht zurück. Corteya hatte den Projektor gestoppt und schaltete das Deckenlicht ein. »Haben Sie das Gewünschte erfahren?« »Ich glaube schon.« Der junge Mann fuhr fort, den Film zurückzuspulen. Während er wartete, blickte sich Dorman in dem kleinen Raum um. Ein niedriger Ladentisch nahm den vorderen Teil des Zimmers ein. Hinter dem Tresen befand sich ein Stuhl und ein kleines Regal. Das war die ganze Einrichtung. Die weißgekalkten Wände des Büros waren mit Standfotos aus verschiedenen Filmen verziert, auf denen ein kurzer Inhaltsabriß und der Ausleihtarif angegeben waren. Es handelte sich offensichtlich um ein reines Geschäftsunternehmen. Niemand würde sich hier verirren, ohne vorher geworben oder sonstwie informiert worden zu sein.
»Noch etwas, Señor?« Dorman wandte sich um. Der Film befand sich in seiner Kassette, der Projektor in seinem Koffer. »Ich wäre Ihnen für die Mitteilung dankbar, ob diese Filme von derselben Verleihfirma kommen.« »Allerdings, Señor.« Corteya hatte sich nicht bewegt. Er lächelte abweisend. »Ich habe in die Kassette gesehen«, erklärte er, »als wir eintraten.« Dorman machte keine Anstalten zu gehen. Er hatte eigentlich keine Frage mehr, aber er liebte es nicht, etwas Begonnenes abzubrechen. Geh allem nach, dann überprüfe es. Das war seine Methode, und er hatte nicht die Absicht, von seinen Gewohnheiten abzuweichen. Er nahm wieder seine Brieftasche hervor und zeigte eine Zehndollarnote. »Der Katalog dieses Filmverleihs. Ich würde ihn mir gern einmal ansehen.« Corteya nahm den Geldschein, langte unter den Ladentisch und holte mehrere Mappen hervor. »Sie schicken mir jeden Monat einen Katalog. Hier sind die der letzten vier Monate.« Nur die beiden letzten Kataloge enthielten Angaben über die neuartigen Filme. Dormans Blick flog über die Seiten, während sich das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte. Da waren mehrere Reisefilme. Venus, eine Reise durch die Marswüste, eine Raumschiffreise zum Mond, ein Flug über dem Bergland Europas, einer der Jupitermonde, eine Kameraexpedition durch die Saturnringe, eine Bootfahrt auf einem Oxygenfluß Plutos, und schließlich die Größe der Sonne von jedem ihrer zehn Planeten aus gesehen. Dorman warf einen Blick auf die übrigen zwanzig Filme, die in der Rubrik »neuartig« zusammengefaßt
waren, und fand schließlich den Film, nach dem er gesucht hatte. »Lustige Vorstellung eines Herdes, der alles macht.« Er schloß die Mappe, und merkte sich die Adresse: Arlay-Filmverleih, Sunset Boulevard, Hollywood, Kalifornien. »Danke!« sagte Dorman. Er verließ das Haus und stieg in seinen Wagen. Da es bereits kälter wurde, drehte er das Fenster hoch und zündete sich eine Zigarette an. Ohne Eile fuhr er schließlich in sein Hotel zurück. Als er die Vorhalle betrat, rief ihn ein Mann an: »He, Walley, kommen Sie doch auf einen Drink in die Bar! Die Jungens haben schon nach Ihnen gefragt. Wo sind Sie denn gewesen?« Während er es sich eine Minute später in der Bar bequem machte, sagte Dorman: »Ich bin einem Phantom nachgejagt.« Und er gab eine kurze Erklärung. Einer der Männer blickte ihn an. »Walley«, sagte er, »Sie sind ein gründlicher Kerl.« Er nippte an seinem Drink. »Ich meine das jetzt ernster als Sie vielleicht glauben. Einer der Gründe für meine Teilnahme an diesem Kongreß ist die Absicht, einen Mann zu finden, der unser neuer Aufsichtsratsvorsitzender werden könnte. Sie werden zwar etwa eintausend Anteile kaufen müssen, aber Sie sehen den Vorteil bestimmt ein, wenn ich Ihnen morgen die Unterlagen zeige. Wir sind in erster Linie an einem guten Mann interessiert, der sich keine Chance entgehen läßt. Und Ihr Vorgehen heute abend zeugt von Genie. Soweit es mich angeht, sind Sie unser Mann!« »Ober«, rief Dorman, »noch eine Runde.« Die leichte Musik und das Stimmengemurmel
klangen leise durch die Nacht. Zehn Wochen zuvor hatte Mr. Lester Arlay, vom Arlay-Filmverleih, die erste Reklamation erhalten, die er mit zerfurchter Stirn studierte. Der Brief steckte in einer Filmkassette und begann: »Sehr geehrter Mr. Arley!« Bereits hier verfinsterte sich Mr. Arlays Gesicht noch mehr, denn er liebte es nicht, wenn man seinen Namen falsch schrieb. Er las grimmig weiter: »Sehr geehrter Mr. Arley! Der Tonfilm ›Zauberei mit Lebensmitteln‹, den Sie mir geschickt haben, entsprach leider nicht unseren Erwartungen. Weder das Publikum noch ich konnten das geringste damit anfangen. Auf keinen Fall hatte er etwas mit Lebensmitteln zu tun. Mein Programm für den hiesigen Einzelhändlerkongreß mußte völlig umgeworfen werden.« Der Brief war von einem seiner besten Kunden unterschrieben, und Mr. Arlay, der sich an den Zweispuler »Zauberei mit Lebensmitteln« sehr wohl erinnerte, war bestürzt. Es war ein Lehrfilm, der von einer der großen Lebensmittel-Vertriebsorganisationen hergestellt worden war. Und es war eine wirklich einträgliche Sache, denn der Film wurde den kleinen Verleihfirmen kostenlos überlassen. Die aber durften ihn zu einem akzeptablen Tarif weitervermieten. Es war ein Film, der sich für eine solche Einzelhändlertagung entschieden eignete. Ernst schob Mr. Arlay den Brief in die Filmkassette
zurück und legte sie in den Korb mit der unerledigten Post. Er begann, die anderen zehn Kassetten zu öffnen, die an diesem Morgen zurückgekommen waren. Von den zehn Einsendern beschwerten sich vier. »Das ist nicht der Film, den wir bestellt haben.« – »Ich kann nicht verstehen, daß Sie einen derartigen Film schicken konnten.« – »Das ist visueller Quatsch!« – »Ihre sonderbare Art von Humor hat uns den Abend verdorben.« Eine Minute lang starrte Mr. Arlay bleich auf die Briefe, dann raffte er sich auf und untersuchte einen der beanstandeten Filme. Hastig führte er den Film in seinen Projektor ein, machte die nötigen Einstellungen, schaltete das Licht aus und starrte gespannt auf die Leinwand. Es ertönte ein fernes Musikgerumpel. Die Laute näherten sich, aber je näher sie kamen, desto ungewisser klangen sie. Die Violinen spielten eine sanfte Melodie, aber sofort setzte ein härteres Thema ein, grelle Töne des Zweifels. Das Schrillen nahm zu, bis schließlich die Streicher völlig überlagert wurden. Die Musik verklang in der Ferne. Jetzt belebte sich die Leinwand. Farben flammten auf, ein kompliziertes, schwebendes Farbmuster, das sich zu keiner erkennbaren Form verdichtete. Und die vollen, lebhaften Farben wurden immer dunkler, bis die Leinwand fast völlig schwarz war. Aus der Dunkelheit kam eine junge Frau. Sie trat aus dem Schatten ins Licht, mit jener beiläufigen Grazie und wunderbaren Leichtigkeit, die sie sofort als eine ausgesprochen schöne und fotogene Frau kennzeichnete. Mr. Arlay hatte sie nie zuvor gesehen, aber sie lächelte nur kurz, machte eine schnelle Bewegung
mit den Fingern, und schon war sie eine Persönlichkeit. Leider war sie kaum erschienen, als sie auch schon in einem kreisenden Farbmuster verschwand. Dann trat sie wieder hervor und schritt diesmal durch einen tiefblauen Flur in ein Wohnzimmer, wo ein junger Mann lesend an einem riesigen Fenster saß. Mr. Arlay erhaschte einen kurzen Blick auf eine Stadt jenseits dieses Fensters, ehe sich die Kamera wieder auf das Mädchen richtete. Sie stand neben dem Mann. Und während sie noch zögerte, gingen die Einzelheiten ihrer Gestalt in die dunklen Farben des Prologs über, und diese Farben in menschlicher Gestalt bewegten sich vorwärts und küßten den jungen Mann auf die Lippen. Es war ein langer Kuß, und als sie sich trennten, war auch der junge Mann zu einem bunten Muster geworden. Die Farben begannen umeinander zu tanzen und sich zu drehen. Die Leinwand war ein einziges chromatisches Feuerwerk tanzenden Lichts. Die Bewegung verlangsamte sich mit der zurückkehrenden Musik, als Mr. Arlay aus seiner Verwirrung erwachte und den zu diesem Film gehörigen Reklamationsbrief in den grellen Projektionsstrahl hielt. Er las: »Das ist visueller Quatsch!« Also das war der Film! Er legte den Brief auf den Tisch und betrachtete die Kassette, die den Titel »Leben auf einer Kükenfarm« trug. Auf der Leinwand schritt die junge Frau unsicher eine Straße entlang und blickte zu dem Mann zurück, der ihr in einigem Abstand folgte. Mr. Arlay stellte den Projektor ab, spulte den Film zurück und nahm einen anderen Streifen heraus. »Ihre sonderbare Art
von Humor hat uns den Abend verdorben«, behauptete der Schreiber zu diesem Film. Er fädelte den Film ein, und sofort erschien das Bild einer Maschine auf der Leinwand. Es war ein sehr helles und klares Bild, und es war nichts Ungewöhnliches daran, aber Mr. Arlay hatte noch nie zuvor eine derartige Maschine gesehen. Diese Tatsache beunruhigte ihn zuerst nicht. Die Welt war voller Maschinen, die er nicht kannte und von denen er außerdem gar nichts wissen wollte. Er wartete, und ein ruhiger Bariton sagte: »Keinem Raumfahrer wird es schwerfallen, diesen neuen Raumantrieb zu reparieren.« Mr. Arlay seufzte und hob die Kassette ins Licht. Der Titel lautete: »Einführung in den AmericanCogshill-Diesel.« Für Mr. Arlay war es klar, daß ihm jemand eine ganze Serie falscher Filme zurückgeschickt hatte, die in ihren ursprünglichen Kassetten weitervermietet worden waren. Das überaus Dumme an der ganzen Sache war, daß nicht weniger als fünf falsche Filme zur gleichen Zeit wieder hinausgegangen waren. Auf der Leinwand sagte die Stimme: »Jetzt heben Sie bitte die Antriebskammer selbst an. Da das Standardgewicht dieser Kammer acht Tonnen beträgt, ist Vorsicht geboten, wenn Sie sich in der Nähe eines Planetenkörpers befinden, um die Antigravnadeln bei einem Wert von neunundneunzig Gravitons auszubalancieren –« Mr. Arlay schaltete den Projektor ab und verstaute den Film bereits wieder in seiner Kassette, als ihm der Gedanke kam: »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?«
Mit aufgerissenen Augen überdachte er seine Erkenntnis, daß hier ganz entschieden etwas nicht stimmte. Er wurde unterbrochen. Die Außentür öffnete sich, und eine junge Frau trat ein. Sie trug einen Nerzmantel, und kostbare Ringe funkelten an ihren Fingern. »Hallo, Liebling!« sagte sie mit heiserer Stimme. Mr. Arlay verbannte alle müßigen Gedanken aus seinem Kopf und kam hinter dem Tresen hervor. Die Frau wich geschickt seinem Versuch aus, sie auf die Wange zu küssen. »Hast du Geld?« fragte sie. »Ich will einkaufen gehen.« Mr. Arlay sagte: »Gib nicht zuviel aus, Tania, wir sind fast pleite.« Er sagte es sehr liebevoll und versuchte erneut, sie zu küssen. Diesmal gelang es ihm, ihre Wange zu berühren. Seine Worte ließen ihren schlanken Körper ungeduldig erzittern. »Das ist alles, was ich je von dir höre!« sagte sie finster. »Warum verdienst du nicht soviel Geld wie die anderen Leute in dieser Stadt?« Mr. Arlay hätte beinahe erwidert, daß er das ja nun wirklich tue. Aber im letzten Augenblick hielt er sich zurück. Es hatte ja doch keinen Sinn. Er mochte noch soviel verdienen, seiner Frau würde es nie genug sein. Sein Geschäft brachte ihm in der Woche netto dreihundert bis fünfhundert Dollar ein. Das war kein überragender Betrag, aber es kam den Gehältern bekannter Filmschauspieler nahe, die vielleicht in der Woche ein wenig mehr verdienten, das aber kaum zweiundfünfzig Wochen im Jahr durchhielten. Und dieses Einkommen hatte es ihm vor drei Jahren er-
möglicht, diese junge Schauspielerin zu heiraten, ein Persönchen, das rein äußerlich viel attraktiver ausgefallen war, als er sich eines ohne Geld hätte einfangen können. Auf geistigem Gebiet war es eine andere Sache. Unabhängig von den Schwankungen in seinem Einkommen verbrauchte sie Monat um Monat das ganze Geld. Sogar Mr. Arlay war zuweilen über ihre Anpassungsfähigkeit erstaunt. Was er jedoch nicht erkannte, und auch sie wußte weder davon, noch hätte sie sich darum gekümmert, wenn sie es gewußt hätte, war der große Einfluß, den sie auf ihn ausübte. All die schöpferischen Qualitäten, mit denen er sein Geschäft aufgebaut hatte, waren einer vollständigen Abhängigkeit gewichen. Er sah sich selbst als einen praktischen Menschen an und hatte keine Vorstellung davon, daß seine Art, sich selbst im Geiste als »Mister« zu bezeichnen, nur ein Ausgleich für das psychische Dilemma war, in das sie ihn gebracht hatte. Auch hätte er kaum vermuten können, daß er in den Besitz von Filmen gekommen war, die erst in fünfzig Jahren produziert werden würden. Da sie nun einmal hier war, versuchte er sie zu halten. »Ich habe etwas, das dich vielleicht interessiert«, sagte er eifrig. »Da hat mir jemand versehentlich den Film eines anderen Verleihs zurückgegeben. Und das ist eine seltsame Sache, eine Art visuelle Spielerei.« »Liebling, ich hab's eilig, und ...« Sie erkannte daß Widerspruch jetzt unklug war. Er brauchte einen gelegentlichen Brosamen, und er war so völlig ahnungslos. Schließlich wäre sie ja verrückt, ihn mißtrauisch zu machen. »In Ordnung, Liebling«,
flötete sie. »Wenn du meinst.« Er zeigte ihr den Film mit dem Mann und dem Mädchen und den wirbelnden Farben und erkannte in dem Augenblick, als das Mädchen auf der Leinwand erschien, daß er einen Fehler gemacht hatte. Seine Frau erstarrte, als sie die überragende Schauspielerin erblickte. »Hm«, sagte sie beißend. »Was ist denn das für eine Anfängerin?« Mr. Arlay ließ den Film weiterlaufen, ohne eine Bemerkung zu machen. Er hatte vergessen, daß seine Frau anderen Schauspielerinnen, insbesondere Stars, nicht sehr wohlgesonnen war. Und als er den Film verfolgte, stellte er geistesabwesend fest, daß der Grund für die traurige Musik und die dunklen Farben eine unglückliche Ehe des Mädchens zu sein schien, und daß die tanzenden Farben den Wechsel ihrer Gefühle anzeigen sollten, ihre Zweifel und Gedanken. Interessant, dachte er. Wer hat ihn bloß gemacht? Als die Spule zu Ende war, sprang Tania auf die Füße. »Muß mich jetzt beeilen. Ich werde einen Scheck über fünfhundert Dollar einlösen, okay?« »Drei«, schränkte Mr. Arlay ein. »Vier«, sagte seine Frau in freundlichem Gönnerton. Und damit war die Diskussion beendet. Als sie gegangen war, begann Mr. Arlay zu untersuchen, wer ihm die ungewöhnlichen Filme geschickt hatte. Die Karteikarte für den Film »Leben auf einer Kükenfarm« enthielt eine Liste der Personen, Schulen und Institutionen, die diesen Film bisher ausgeliehen hatten. Der zweitletzte Name mußte der Gesuchte sein.
»Tichenor College«, las er. Mr. Arlay runzelte die Stirn, und er veränderte im Geiste den Text des beabsichtigten Protestbriefes. Das Tichenor College war eindeutig einer seiner besten Kunden. Abgesehen davon war der verantwortliche Vorführer, der Lehrer Peter Caxton, ein durchaus erfahrener Mann. Es schien kaum möglich zu sein, daß Caxton der Schuldige war. Hastig untersuchte Mr. Arlay die Karte eines anderen vertauschten Filmes. Der zweitletzte Ausleiher war das Tichenor College. Und dieser Name tauchte auch bei den drei anderen Filmen auf, die nicht zu seinem Verleih gehörten. Mr. Arlay setzte sich an die Schreibmaschine, besann sich darauf, daß Tatsachen in den seltensten Fällen beleidigend waren, und schrieb: »Lieber Mr. Caxton! Einige der Filme, die Sie uns zurückgegeben haben, stammen nicht aus unserem Verleih. Es sind insgesamt fünf Filme ...« Er hielt inne. Fünf? Wie wollte er wissen, daß es nur fünf waren? Mr. Arlay suchte in der Kundenkartei nach der Karte des Tichenor College. Sie war sehr umfangreich und hatte mehrere Fortsetzungen. Der fünfzehnte Titel auf der Karte lautete: »Das Beschneiden von Obstbäumen.« Der Film selbst stellte sich als ein phantastisches Machwerk heraus, in dem ein seltsam geformtes Schiff die Erdoberfläche zu verlassen und zum Mond zu fliegen schien. Der ganze Film war außerordentlich realistisch gemacht und ausgezeichnet fotografiert.
Mr. Arlay unterbrach schließlich die Vorstellung und überlegte zum erstenmal, daß es sich sehr wohl lohnen würde, den unbekannten Hersteller dieser Filme zu vertreten. Aber es gab Arbeit. Langsam ließ er die sechzehn Filme durch den Projektor laufen, die das Tichenor College zuletzt gehabt hatte. Drei weitere Titel waren bereits wieder unterwegs, und über kurz oder lang würde er zweifellos davon hören. Unter den sechzehn Titeln waren sieben Reiseberichte, einzigartige, unglaubliche Schöpfungen, von einem Verrückten aufgenommen. Aber verrückt oder nicht, er war ein Genie und hatte einige der echtesten Ausstattungen geschaffen, die jemals für Phantasiefilme verwendet worden waren. Unter den ersten Filmen, die Mr. Arlay in seinen Projektor einspannte, war der Streifen über die Venus, den Pedro del Corteya zehn Wochen später dem Elektrofachmann Walter Dorman vorführen sollte. Mr. Arlay betrachtete ihn und die anderen Filme über das Sonnensystem mit abschätzendem Blick. Eine derart ausgezeichnete filmische Realisation wissenschaftlicher Vorstellungen hatte etwas für sich, entschied er. Es waren sieben Reisefilme und acht Anleitungsberichte, Filme über den Betrieb und die Reparatur seltsamer Maschinen. Besonders über einen der gezeigten Apparate konnte sich Mr. Arlay nicht schlüssig werden. Er endete in einem vorspringenden starken Gehäuse, das aus kleinen Kammern bestand. Als diese Kammern mit einem feinen, metallischen Puder angefüllt wurden, begann sich die Anlage mit einer Geschwindigkeit zu drehen, die sich auch nicht verlangsamte, als die ganze Vorrichtung mit einer gro-
ßen, komplizierten Maschine verbunden wurde. Ein anderer Film handelte von der Reparatur einer Atomkanone. Auch hier wurde der metallische Puder in kleine Kammern gepumpt, doch gab es einen Umwandlungstunnel, dessen Zweck nicht ersichtlich wurde. Als man die Handwaffe schließlich abfeuerte, verschwand ein ganzer Hügelzug in atomarer Glut. Mr. Arlay wurde unruhig, während die acht Filme vor ihm abrollten. Das ging ein wenig zu weit. Die Reisefilme besaßen einen gewissen wissenschaftlichen Wert, aber diese Maschinenfilme mit ihren unmöglichen Einzelheiten waren entschieden zu unrealistisch. Eine atomar betriebene Maschine und eine Atomkanone. Anleitung zur Reparatur eines Raumantriebs. Wartung und Betrieb eines O-Fliegers und entsprechender Einzelgeräte – ein Apparat aus Gurten und einer Metallröhre, der einen Mann vom Boden abhob und ihn wie den König der Raketenmänner durch die Luft transportierte. Ein Radio, das in ein Armband aus »Empfangsmetall« eingebaut war, wie sie es nannten. Man zeigte die Kristallstruktur dieses Metalls und auch die Radiowellen, die von winzigen Metallbläschen in Töne verwandelt wurden. Dann waren da drei amüsante Filme über Haushaltseinrichtungen. Es wurde ein Licht gezeigt, das in der Luft aufleuchtete, wo immer man es wünschte; Geschirr und Möbel, die niemals schmutzig wurden, und schließlich der automatische elektrische Herd, der einige Zeit später Walter Dormans Konkurrenzinstinkte wecken sollte. Mr. Arlay machte sich sehr schnell klar, daß es eine Menge Interessenten für diese Filme geben würde. Er mußte nur genügend auf das Ungewöhnliche dieser Streifen hinweisen, damit
die Leute vorbereitet waren. Natürlich wäre es das beste, die Quelle dieser Filme ausfindig zu machen und selbst ein paar in seinem Katalog aufzunehmen. Er rief das Tichenor College an und verlangte Caxton. Dieser sagte: »Lieber Mr. Arlay, es ist unmöglich, daß dieses Mißgeschick auf unser Verschulden zurückzuführen ist. Um unsere Buchhaltung zu vereinfachen, habe ich es mir seit langem zum Prinzip gemacht, nur von einem Verleih auf einmal zu beziehen. Während der letzten beiden Monate haben wir unser ganzes Material von Ihnen erhalten und prompt zurückgegeben. Vielleicht sollten Sie Ihre Kartei nochmals durchsehen.« Sein Ton war überheblich und klang nach einem beleidigten Kunden, um Mr. Arlay den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Ja, natürlich. Ich werde selbst nachsehen müssen. Mein Mitarbeiter scheint – äh ...« Mr. Arlay hing auf und ging zu Tisch. Während er aß, verging seine Aufregung, und er machte sich klar, daß die Lage eigentlich gar nicht so schlimm war. Er hatte neunzehn Filme verloren, doch wenn er mit den Lieferfirmen diplomatisch verhandelte, würde er wahrscheinlich sofort Ersatz bekommen. Und als Ausgleich für die nervliche Belastung besaß er jetzt sechzehn, vielleicht sogar neunzehn ungewöhnliche Filme, die ihm einiges einbringen konnten. Und sie brachten Profit. Die Filme wurden mindestens einmal in der Woche ausgeliehen, und wenn sie zurückkamen, lagen bereits weitere Bestellungen vor. Mr. Arlay machte sich keine Gedanken über den wirklichen Besitzer der Filme. Materialmäßig waren
die Streifen nicht viel wert, und der Eigentümer würde wahrscheinlich einen Vertriebsanteil beanspruchen, den Mr. Arlay vorsichtshalber bereithielt. Und für den Fall, daß Zuschauerreaktionen verlangt würden, schickte er vorgedruckte Fragebogen aus, die sorgsam ausgefüllt zurückkamen; Zuschauer: 100, 200, 75, 150. Art der Zuschauer: Einzelhändlervereinigung, Astronomieklassen, Physikalische Arbeitsgemeinschaft, Hochschulstudenten. Reaktion der Zuschauer: »amüsant«, »interessant«, »gut fotografiert«. Eine oft ausgesprochene Kritik war: »Der Kommentar hätte dem Thema entsprechend humorvoller sein können.« Und immer noch kamen weitere Filme hinzu. Nach acht Wochen besaß Mr. Arlay weitere einunddreißig ungewöhnliche Filme, und jeder einzelne stammte aus den Sendungen des Tichenor College. Nach zehn Wochen, gerade als Pedro del Corteya den Film über den Wunderherd vorführte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Mr. Arlay erhöhte die Verleihgebühren für seine ungewöhnlichen Filme, und Caxton schickte ihm einen Brief, in dem er unter anderem schrieb: »Ich habe in Ihren Katalogen Angaben über einige neuartige Filme gefunden. Bitte schicken Sie mir einen solchen Film über einen Planeten für nächsten Mittwoch.« »Jetzt«, dachte Mr. Arlay. »Jetzt werden wir sehen.« Die Kassette kam am Donnerstag zurück. Der Film war ein neuartiger Film. Aber es war nicht derselbe, den er abgeschickt hatte. Auf seinem Weg zum Nachmittagsunterricht im
Tichenor College betrat Peter Caxton den Drugstore an der Ecke und kaufte sich eine Packung Zigaretten. Neben der Tür befand sich ein großer Spiegel, und bevor er wieder auf die Straße trat, hielt er kurz inne und betrachtete seine Erscheinung. Das Bild im Spiegel gefiel ihm. Seine große Gestalt war gut gekleidet, sein Gesicht offen und nicht zu jugendlich, und seine Augen waren von einem lächelnden Grau. Die gepflegte Erscheinung wurde von einem grauen Hut betont. Befriedigt ging er weiter. Caxton hatte keine Illusionen über das Leben. Das Leben war das, was man daraus machte. Und wenn er sich keinen Schnitzer erlaubte, würde er in zwei Jahren Direktor des Tichenor College sein. Die Wartezeit ließ sich leider nicht umgehen, denn der alte Varnish war nicht früher zur Pensionierung fällig und Caxton sah keine Möglichkeit, diesen Vorgang zu beschleunigen. Tichenor war keine Superschule und hatte auch nicht die gewaltigen Summen hinter sich, die manche benachbarten Gemeinden jedes Jahr für die Erziehung aufbrachten. Das Rauchzimmer war ein allgemeiner Treffpunkt des Kollegiums. Caxton ließ sich in einem Sessel nieder und zog hastig an seiner Zigarette. Miss Gregg betrat den Raum. Sie lächelte warm. »Hallo, Peter«, sagte sie. Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll zu den geschlossenen Türen der beiden Umkleideräume und dann zu ihm zurück. »Ist niemand drin bei den Männern«, beantwortete Caxton ihren fragenden Blick. Sie öffnete die Tür zum Raum der Frauen und
blickte hinein. Dann kam sie mit einer gleitenden Bewegung zu ihm herüber und küßte ihn auf die Lippen. »Vorsicht!« flüsterte Caxton. »Heute abend«, sagte sie leise. »Am Ende des Parks.« Caxton konnte einen irritierten Blick nicht ganz unterdrücken. »Ich werd's versuchen. Aber meine Frau –« Sie flüsterte: »Ich warte auf dich.« Die Tür schloß sich leise hinter ihr. Caxton blieb mit gerunzelter Stirn zurück. Es war ein Vergnügen gewesen, Miss Gregg zu erobern. Aber nach sechs Monaten regelmäßiger Zusammenkünfte war das Abenteuer ein wenig langweilig geworden. Sie hatte das Stadium erreicht, in dem sie halb hoffte, er würde irgendwie die Scheidung durchsetzen können, ohne seiner Karriere zu schaden, und alles würde gut werden. Er teilte ihre Hoffnungen und Überzeugungen in dieser Hinsicht nicht. Miss Gregg war, wie er zu spät erkannte, eine sentimentale Närrin. Einen Monat wußte er jetzt, daß er mit ihr brechen mußte, aber bis jetzt war ihm nur eine Methode eingefallen. Sie mußte aus der Schule entfernt werden. Aber wie? Auch diese Antwort hatte er leicht gefunden. Eine Flüsterkampagne gegen sie und Dorrit. Auf diese Weise schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Ancil Dorrit war sein einziger ernsthafter Konkurrent für den Direktorposten, und was schlimmer war, er stand mit dem alten Varnish auf sehr gutem Fuß. Es würde vermutlich gar nicht schwer sein. Jeder, außer Miss Gregg, wußte, daß Dorrit verrückt nach
ihr war, und Dorrit schien nicht zu vermuten, daß sein Geheimnis bekannt war. Die Situation belustigte Caxton. Er, ein verheirateter Mann, hatte Dorrits Traummädchen erobert. Es gab keinen Grund, warum er nicht auch den Direktorposten Dorrit vor der Nase wegschnappen sollte. Er würde nur ein wenig mehr überlegen und mit äußerster Vorsicht vorgehen müssen. Caxton zerrieb seine Zigarette in einem Aschenbecher und begab sich in die Aula. Seine erste Klasse sollte einen Film gezeigt bekommen; eine dumme Unterrichtsmethode. Zuerst hatte er sich dafür interessiert, aber die meisten Filme waren einfach zu schlecht. Außerdem lernten die Tölpel sowieso nichts. Einmal hatte er einige der besseren Schüler über einen eben gezeigten Lehrfilm befragt, und das Ergebnis war beschämend gewesen. Verschiedene Kollegen waren jedoch der Meinung, daß die Filme außerordentlich bildend seien, und außerdem mochten die Kinder diese Filme lieber als anderen Unterricht. In der letzten Woche hatte die Schulbehörde sogar angeordnet, daß sowohl die zehnten als auch die elften Klassen regelmäßige Filmvorführungen haben sollten. Das bedeutete, daß er jeden Vormittag und Nachmittag einen Schwarm fünfzehn- bis siebzehnjähriger Schüler in der dunklen Aula zu bändigen hatte. Wenigstens war es für heute die letzte Vorstellung. Der Film lief bereits eine Minute, als Caxton zum erstenmal richtig auf die Leinwand sah. Einen Augenblick lang starrte er verständnislos. Dann schaltete er den Projektor ab, machte Licht und verließ den Projektionsraum.
»Wer hat sich diesen dummen Trick ausgedacht?« fragte er ärgerlich. Keine Antwort. Die Mädchen sahen ein wenig ängstlich aus; die Jungen machten gekränkte Gesichter. Caxton rief: »Jemand hat in der Mittagspause die Filme vertauscht!« Er hielt inne. Er war aus der Projektionskabine geschossen, ohne weiter zu überlegen, doch plötzlich überkam ihn die Erkenntnis. Zum erstenmal in seiner vierjährigen Tätigkeit am Tichenor College war er das Opfer eines Schülerulks geworden, und er reagierte unmöglich. Nach einer kurzen Pause zwang er sich zur Ruhe, und die Situation war gerettet. Er schluckte. Ein bleiches Lächeln erhellte sein angespanntes Gesicht. »Nun«, sagte er, »wenn ihr diesen Film sehen wollt, bitte sehr!« Am zweiten Tag war sein Lächeln schon grimmiger, und er mußte sich sehr zusammennehmen. »Wenn das noch einmal geschieht«, drohte er, »werde ich dem alten Varn...« Er hielt inne. Beinahe hätte er »alter Varnish« gesagt. »... Mr. Varney Bericht erstatten.« Es war ein sehr verwunderter Caxton, der am nächsten Tag das Büro des Direktors betrat. »Aber woher stammen diese Ersatzfilme?« fragte der alte Mann verwundert. »Das kostet doch schließlich Geld!« Aber die Affäre war noch nicht zu Ende. Als am Donnerstag wieder ein anderer Film im Projektionsraum lag, begab sich Caxton in jede der beiden Klassen und machte ihnen das Unfaire ihres Verhaltens klar. Auch deutete er an, daß die verlorengegangenen
Filme bezahlt werden müßten und die ganze Sache dadurch einen entschieden kriminellen Aspekt gewann. Am fünften Tag, Freitag, hatten die Schüler offensichtlich über die Angelegenheit gesprochen, denn die Sprecher der beiden Klassen lehnten das Mißtrauen des Kollegiums eindeutig als unbegründet ab. »Wie Ihnen sicherlich bekannt ist«, sagte einer der Klassensprecher, »wissen die Schüler meistens Bescheid, wenn etwas in ihren Reihen vorgeht. Aber unsere Klasse als Ganzes hat keine Ahnung, wer der Schuldige sein könnte. Wer auch immer diese Filme austauscht, ist ein Einzelgänger, und wir verurteilen hiermit seine Taten und versagen ihm unsere Unterstützung und Sympathie, die wir einem schuldigen Schüler normalerweise entgegenbringen.« Diese Worte hätten Caxton beruhigen müssen, aber sie bewirkten genau das Gegenteil. Seine erste Überzeugung, daß ihm von den Schülern ein Streich gespielt wurde, war längst einem wilderen Verdacht gewichen, den diese Reden nur noch verstärkten. An diesem Nachmittag machte er den Fehler, seinen Verdacht dem Direktor vorzutragen. »Wenn die Schüler nicht daran schuld sind, muß es einer der Lehrer sein. Und der einzige, der mich nicht leiden kann, ist Dorrit. Ich an Ihrer Stelle würde einmal die Beziehungen zwischen Miss Gregg und Dorrit untersuchen.« Varney entwickelte eine überraschende Initiative. Er rief Miss Gregg und Dorrit zu sich und wiederholte offen die Anschuldigungen. Miss Gregg warf einen scharfen Blick auf Caxton, der wie betäubt dasaß, und verharrte bewegungslos auf ihrem Stuhl.
Dorrit runzelte ärgerlich die Stirn, aber dann lachte er. »In dieser Woche«, sagte er, »sind uns allen ein wenig die Augen aufgegangen. Wir haben Caxton unter der Überzeugung leiden sehen, daß die Schüler ihn nicht mögen. Ich bin schon immer der Ansicht gewesen, daß er ein ausgesprochen neurotischer Typ ist, und in den letzten Tagen sind meine Vermutungen sogar noch übertroffen worden. Wie alle Neurotiker hat er sich nicht einmal die Mühe gemacht, die elementarsten Nachforschungen anzustellen, ehe er seine Anklagen vorbrachte. Seine erste Anschuldigung, zum Beispiel. Ich kann beweisen, daß ich zumindest an zwei Tagen dieser Woche nicht in der Lage gewesen bin, mich in den Projektionsraum zu begeben.« Und er bewies es, denn er hatte den Dienstag und Mittwoch krank in seiner Pension verbracht. »Was die zweite und unentschuldbare Behauptung angeht, so wünschte ich, sie wäre wahr, aber auf eine andere Weise als Caxton angedeutet hat. Ich bin ein sehr schüchterner Mensch, wenn es um Frauen geht, aber unter diesen Umständen will ich nicht verschweigen, daß ich schon seit langem ein Bewunderer von Miss Gregg bin, wenn auch nur aus der Ferne.« Bei diesen Worten zeigte das eisige Gesicht der jungen Frau ein ernstes Interesse. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Dorrit, als sähe sie ihn in neuem Licht. Der Blick währte nur eine Sekunde, ehe sie wieder auf die gegenüberliegende Wand starrte. Dorrit fuhr fort: »Es ist natürlich schwierig, eine derart vage Anschuldigung zu widerlegen, wie Mr. Caxton sie erhoben hat, aber –«
Der alte Varnish unterbrach: »Sie brauchen nichts mehr dazu zu sagen. Ich glaube kein Wort der Anklage und kann nicht verstehen, warum Mr. Caxton derart bösartige Äußerungen aus der verfahrenen Filmaffäre ableitet. Wenn sich die Filmfrage nicht aufklären sollte, werde ich auf der nächsten Sitzung der Schulbehörde Bericht erstatten und eine entsprechende Untersuchung einleiten. Das ist alles. Guten Tag meine Herren. Guten Tag, Miss Gregg.« Caxton verbrachte ein unangenehmes Wochenende. Er war ziemlich sicher, daß der alte Direktor die Situation genossen hatte, aber er selbst konnte sich nur verfluchen, daß er dem Mann eine Möglichkeit in die Hände gespielt hatte, sich von einem unerwünschten Nachfolger zu befreien. Die schlimmste Sorge hatte jedoch nichts mit Varney zu tun. Caxton hatte das entnervende Gefühl, daß etwas hinter seinem Rücken geschah. Und er sollte sich nicht getäuscht haben. Am Montagmorgen ignorierten ihn sämtliche Lehrerinnen des Kollegiums, und auch die Lehrer waren entschieden unfreundlich. Einer der Männer kam herüber und fragte leise: »Warum haben Sie das getan?« »Ich war außer mir vor Sorge«, erklärte Caxton niedergeschlagen. »Ich hatte einfach meine Sinne nicht beisammen.« »Das scheint mir auch so«, sagte der andere. »Miss Gregg hat es den Frauen erzählt. Ich werde natürlich tun, was ich kann, aber ...« Es war zu spät. In der Mittagspause wandten sich die Lehrerinnen geschlossen an den Direktor und erklärten, daß sie nicht mehr zusammen mit einem
Kollegen arbeiten könnten, der solch unwahrer Behauptungen fähig sei. Caxton, der bereits kurz einmal die Möglichkeit einer Entlassung überdacht hatte, sah sich plötzlich vor eine Entscheidung gestellt. Er reichte sein Entlassungsgesuch noch an diesem Nachmittag ein. Eine Woche lang durfte er noch unterrichten. Dieser Schritt reinigte die Atmosphäre. Die Lehrer wurden freundlicher, und auch er selbst beruhigte und entspannte sich langsam wieder. Am Dienstag konnte er wieder über alles nachdenken. »Die Filme! Wenn diese Sache nicht gewesen wäre, hätte ich nicht den Kopf verloren! Wenn ich nur herausfinden könnte –« Es schien ihm, als könne ihn die Aufklärung dieser Frage ein wenig über den Verlust seiner Arbeit hinwegtrösten. Er gab vor, die Schule zu verlassen, kehrte aber durch den Hintereingang in das Gebäude zurück und versteckte sich im Projektionsraum hinter einer dort aufgestellten Ersatzleinwand. Er wartete die ganze Mittagspause. Nichts geschah. Niemand fingerte an den Türen, niemand näherte sich dem Projektor. Und als er dann am Nachmittag die Maschine in Gang setzte, war es wieder ein anderer Film. Noch am Morgen hatte es sich um einen ganz gewöhnlichen Streifen über Milchwirtschaft gehandelt. Dieser Film nun berichtete über die Entwicklung und Anwendung von Chemikalien, die das menschliche Blut verdicken oder verdünnen konnten und den Menschen auf diese Weise über Nacht auf extreme Temperaturschwankungen vorbereiteten. Zum erstenmal beschäftigte sich Caxton eingehend
mit einem der ungewöhnlichen Filme, die er vor zwei Wochen bestellt hatte. Und er fragte sich erstaunt: »Wer macht diese Filme? Sie sind wundervoll, so voller Ideen, daß –« Als die Schule zu Ende war, kehrte er in den Projektionsraum zurück, um sich den Film noch einmal anzusehen. Und er erlitt einen gewaltigen Schock. Es war wieder ein anderer Film! Anders als der vom Vormittag, anders als der vom Nachmittag! Es war ein dritter Film, der vom Sonneninnern handelte. Mit zitternden Fingern legte Caxton die Spule erneut ein. Er begann heftig zu schwitzen, als ein völlig neuer, ein vierter Film, vor seinen Augen ablief. Er verspürte den wilden Wunsch, ins Büro hinunterzurasen und Varney anzurufen. Aber der würde ihn nicht anhören. Der Direktor hatte mehr als einmal seine Meinung zum Ausdruck gebracht, daß sich das Filmproblem in dem Augenblick lösen würde, da Caxton die Schule verließ. Zum erstenmal erinnerte sich Caxton an den Telefonanruf, den er vor über zwei Monaten von Mr. Arlay vom Filmverleih bekommen hatte. Den Gedanken, Arlay anzurufen, gab er jedoch auf, als er sich an die Worte erinnerte, die er damals gebraucht hatte. Er war ziemlich überheblich aufgetreten. Caxton begann, die Verkleidung des Projektors abzunehmen. Er wußte nicht genau, was er suchte, und er fand auch nichts. Die Maschine war in erstklassigem Zustand, und nichts deutete auf etwas Ungewöhnliches hin. Er setzte den Apparat langsam wieder zusammen und ließ den Film erneut durchlaufen. Diesmal war keine Veränderung festzustellen. Es war derselbe Film.
Er ließ ihn nochmals durchlaufen. Es blieb dabei. Caxton sank schwer in seinen Stuhl zurück. Er hatte einen Fehler gemacht. Da war etwas Phantastisches geschehen, aber was immer es auch gewesen war, sein Vorgehen hatte den Prozeß unterbrochen. Jetzt konnte er niemand mehr in seine Entdeckung einweihen. Er wurde ärgerlich. Warum sollte er sich über verlorene Filme Gedanken machen, wenn er die Schule sowieso bald verlassen würde? Immer noch ärgerlich, stand er auf und verließ das Schulgebäude und ging nach Hause. Es war im Jahre 2011, und obwohl der automatische Projektor des Tichenor College feststellte, daß etwas nicht in Ordnung war, funktionierte er weiter. Die Filmverteilermaschine in Los Angeles stellte ebenfalls einen Fehler fest, aber die Störung war nicht groß genug, um die Alarmrelais zu aktivieren. Nicht sofort. Nicht in den ersten drei Monaten. Und dann – Aber hier sind die Ereignisse vom ersten Tag an: Von Tichenor kam eine Order über die üblichen elektronischen Kanäle. Die Orders waren menschlichen Ursprungs. Zuerst wurde die Nummer des Films eingetippt, dann die Nummer der Schule. In diesem Fall war der Film verfügbar. Die Nummer der Schule wurde elektronisch auf dem Filmbehälter vermerkt und auf eine Serie von Registerplatten gestanzt. Diese Platten wurden später von einer Maschine abgetastet, die die vierteljährlichen Leihgebührenrechnungen erstellte. Der Film ruckte aus seiner Halterung und glitt in eine Röhre. Zu Anfang war die Geschwindigkeit nicht groß.
Nach und nach fielen weitere Filmbehälter in die Leitung, und es waren ständige automatische Geschwindigkeitsregulierungen nötig, um Zusammenstöße zu vermeiden. Die Bestimmungsnummer für das Tichenor College war 9-7-43-6-2: Zone 9, Hauptleitung 7, Nebenleitung 43, Bezirk 6, Schule 2. Die Abzweigung zur Zone neun wurde von der Filmkassette automatisch betätigt. Einen Augenblick später befand sich der Film in der Hauptleitung 7. Es war eine Leitung für Päckchen, und sie bewegten sich in einem endlosen Zug, jedes in seinem elektronisch kontrollierten Behälter. Dieser Zug hielt niemals an, aber er wurde beschleunigt oder verlangsamt, als neue Behälter in die Leitung fielen oder andere in ihren Abzweigungen verschwanden. ... 43-6-2. Mit einem Klicken erreichte der Film seinen Empfänger. Eine automatische Vorrichtung führte ihn in den Projektor ein, und zu einer vorherbestimmten Zeit – hier etwa eine Stunde später – öffnete sich die Sehvorrichtung des Projektors und überblickte den Zuschauerraum. Mehrere Schüler hielten sich noch in den Gängen auf. Eine leise Glocke ertönte. Der Projektor wartete noch eine halbe Minute und verriegelte dann die Türen des Saales. Ein einzelner Schüler hatte sich noch nicht gesetzt. Der Projektor ließ eine letzte Warnung ertönen. Als nächstes würde im Büro des Direktors ein Licht aufflammen, zusammen mit einem Fernsehbild des Zuschauerraums, das den widerspenstigen Schüler deutlich zeigen würde. Aber das war nicht nötig, denn der Jugendliche hatte sich bereits in seinen Sitz geworfen. Die Vorstellung begann. Die Automatik des Projektors war nicht darauf
eingerichtet, das nun Folgende zu erfassen. Es erschien zwar der richtige Film auf der Leinwand, aber der Streifen, der anschließend im Behälter verschwand und an den Verleih zurückgegeben wurde, war eine billige Schöpfung mit dem Titel »Zauberei mit Lebensmitteln«, ein Film, der im Jahre 1946 vom Arlay-Filmverleih an das Tichenor College ausgeliehen worden war. Auch der Behälter war nicht in der Lage, die Veränderung festzustellen. Zufällig wurde keine der vom Tichenor College zurückgegebenen und mit Filmen aus dem Jahre 1946 gefüllten Kassetten in den nächsten drei Monaten ausgeliehen. Als schließlich einer in Santa Monica vorgeführt wurde, war es bereits zu spät. Caxton hatte den Projektor auseinandergenommen und die Zeitverbindung unterbrochen. Zeit ist die große Unveränderliche. Zeit ist, wo du bist. Sie ist nirgends gleich. Das Licht eines Sternes durchdringt die Atmosphäre und bringt ein Bild aus der Vergangenheit. Ein Elektron zieht seine Lichtbahn über eine fotografische Platte und bringt uns ein Bild aus der Zukunft. Die Sterne, die Welt des unendlich Großen, sind nur in der Vergangenheit, die Welt des unendlich Kleinen immer nur in der Zukunft. Das ist eine der strengen Regeln des Universums, das Geheimnis der Zeit. Und für eine Sekunde der Ewigkeit verloren zwei Filmprojektoren in verschiedenen Raum-Zeit-Perioden etwas von ihrer Eigenständigkeit und stellten eine beschränkte Verbindung her. Diese Verbindung wurde unterbrochen und war nie mehr.
Señor Pedro del Corteya packte seinen Projektor ein. Er war nicht sehr glücklich wie immer, wenn die Zuschauer nicht ansprachen. Es war spät, als er aus dem Gebäude trat, aber er stand noch einen Augenblick nachdenklich neben seinem Wagen und schaute in die sternenübersäte Nacht hinauf. Blau war der Himmel über ihm und barg das Geheimnis des gewaltigen Universums. Corteya dachte: »Es sind diese Filme. Ich habe zu viele davon in dieser Stadt gezeigt. Sie werden langweilig. Schluß damit.« Und er begann, sich besser zu fühlen, als sei ihm ein Gewicht von der Seele genommen worden. Und er stieg in seinen Wagen und fuhr nach Hause.
Originaltext: FILM LIBRARY Copyright © 1946 by Street & Smith Publications Übersetzt von Thomas Schlück
Damon Knight DER ÜBERLÄUFER 1 1990 Der Presseraum im achtzehnten Stockwerk des Gebäudes der Weltregierung glich einem Tollhaus, aber als der große, sandhaarige Mann ihn betrat, herrschte sofort Stille. »Sie wissen, was wir wollen, Doktor«, rief jemand, »schießen Sie los!« »Das könnt ihr drucken«, antwortete Dr. Kusko. Er sprach klar und deutlich: »Die heutige Verabschiedung der Weltgesetze, vor allem des Gesetzentwurfs, der ein universelles, analoges Behandlungsprogramm anordnet, gibt nicht nur mir und meinen Mitarbeitern das Gefühl einer außerordentlich tiefen Dankbarkeit, sondern sie soll auch ein Grund der Freude für jeden Bewohner der Erde sein. Der heutige Tag stellt den Beginn der Reife dar, der unsere Welt entgegengeht. Wir haben dem Krieg ein Ende gesetzt, den Gewalten, der Verschwörung gegen den Frieden, der Korruption bei den Behörden, ein Ende auch den unzähligen Verrücktheiten, die uns seit den ersten Tagen unserer Geschichte bedrückten, uns uneinig machten. Von nun an gehen wir nur noch vorwärts.« Geschäftige Bleistifte kritzelten noch ein paar Sekunden lang über das Papier.
»Was wollen Sie als nächstes tun, Doktor?« fragte ein Reporter. Kusko lächelte. »Inoffiziell –« Ein Murmeln ging durch die Menge. Das Lächeln des großen Mannes wurde breiter. »Inoffiziell habe ich, bildlich gesprochen, die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, eine Grillenfalle zu bauen. Nun, da sie gebaut ist, werde ich sechsunddreißig Stunden lang schlafen, die nächsten zwölf Stunden dazu benützen, mich wieder an meine Frau zu gewöhnen – und danach kann ich, so glaube ich – Gott sei Dank! – damit beginnen, ein wenig richtige Arbeit zu tun.« »Einige von uns dachten«, warf eine Frau ein, »daß Mr. Haggerty von der Bürgerrechtskommission die Verabschiedung des Gesetzes in der heutigen Sitzung hintertreiben und es vielleicht überhaupt zu Fall bringen könnte. Haben Sie dazu etwas zu sagen?« »Und wie hätte ihm das gelingen sollen?« fragte Kusko. »Haggerty hatte sich selbst vor sechs Jahren der Behandlung unterzogen. Er litt damals – es wurde nie bestätigt – an einer Selbstmordmanie.« Nach einer etwas unsicheren Pause begann die Frau wieder. »Dr. Kusko, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie falsch interpretieren sollte. Wollen Sie damit sagen, daß Sie, als Sie Mr. Haggerty behandelten, es ihm absichtlich und vorsätzlich unmöglich machten, die Verabschiedung dieses Gesetzes zu hintertreiben?« »Das ist genau das, was ich sagen wollte«, antwortete Kusko. »Und genauso wurden Sie alle, die sich hier in diesem Raum befinden, einer Behandlung unterzogen, die Sie davor bewahrt, etwas von dem zu enthüllen, worüber Sie zu schweigen gebeten wurden
– andernfalls hätten Sie meine Erklärungen überhaupt nicht zu hören bekommen. Der einzige Unterschied ist der, daß Haggerty nicht wußte, was mit ihm geschah. Genausowenig wußten es die etwa fünfzig Weltsenatoren, die aus irgendeinem Grund zu uns kamen. Und alles, was ich eben hier gesagt habe, ist – nebenbei erwähnt – nicht offiziell.« Die meisten Reporter lachten. Sie mochten Kusko gern, sie konnten einfach nicht anders. »Der Zweck heiligt die Mittel – das wollten Sie doch damit ausdrücken?« fragte ein kleiner Mann in der vordersten Reihe, der nicht gelacht hatte. »In diesem Fall«, antwortete Kusko ernst, »trifft das zu.« 2035 »Gentlemen«, begann der wuchtige, gepflegte Mann am Kopfende des Tisches, »nun, da wir uns gegenseitig bekannt gemacht haben, werden Sie ohne Zweifel festgestellt haben, daß wir hier eine ziemlich einmalige Versammlung sind. Hier, in diesem Saal, sind Vertreter einiger der größten Repräsentanten der wichtigsten Produktionszweige von Nordamerika zusammengekommen, angefangen von der Nahrungsmittel- bis zur Stahlbranche. Alles in allem gesehen, können die Firmen, die wir vertreten, den durchschnittlichen Verbraucher Nordamerikas nicht nur ernähren, ihm ein Dach über dem Kopf verschaffen, sondern sie können ihm auch alles verkaufen, was er braucht oder auch nur wünscht. Und wir alle sind an diesem Verbraucher interessiert, obwohl wir einander nicht als Konkurrenten gegenüberstehen. Aus diesem Grund« – er räusperte sich – »glaube ich
auch, daß jeder einzelne von Ihnen an dem Vorschlag, den ich Ihnen hier und heute zu machen habe, äußerst interessiert sein wird.« Er ließ seinen Blick über die Doppelreihe der Gesichter gleiten, dann senkten sich seine Augen auf seine Notizen. »Tatsächlich«, fuhr er fort, »habe ich an der Feststellung, die ich soeben machte, eine Kleinigkeit zu ändern. Hier, in diesem Saal, gibt es nicht einen einzigen Vertreter der Werbeindustrie. Den Grund dafür werden Sie sofort verstehen. Meine Firma, Gentlemen, gibt jährlich sieben Millionen für Werbung und Verkaufsförderung aus. Ich glaube, diese Ziffer weicht nicht sehr weit ab von jener, welche die von Ihnen vertretenen Firmen im Jahresdurchschnitt auswerfen. Und nun möchte ich Sie etwas fragen. Wie würde es Ihnen, als den Repräsentanten Ihrer Firmen, gefallen, die Verkaufsziffern Ihrer Produkte und Dienstleistungen zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für Werbung und Verkaufsförderung auf Null zu reduzieren?« Auf seinen Wink hin kamen zwei junge Männer nach vorn, je einer zu beiden Seiten des Tisches, und begannen, große, rechteckige Stücke Plastik auszulegen. Auf jedem Folienstück waren glänzende Pappestücke mit einer dreifarbigen Zeichnung aufgestellt; jede der Zeichnungen zeigte ein junges Paar, das unter einem goldenen Füllhorn stand, aus dem ihm ein Regen von Schmuckstücken, Miniaturautos, Schinken, Füllfederhaltern und Pelzmänteln in die ausgebreiteten Arme fiel, darunter die Schlagzeile: Frei! Für ein ganzes Jahr!
»Das«, fuhr der große Mann nach einer kurzen Pause fort, »ist es, wovon ich sprechen wollte. Es ist die Werbung, die jeder Werbung ein Ende setzt. Wie Sie sicher bemerkten, zeigt dieses Bild die Musterzeichen jeder hier vertretenen Firma und deren Tochtergesellschaften. Sie werden ferner bemerken, daß einige dieser Firmen nur mit einem einzigen Markennamen oder Produkt erwähnt sind, andere aber mit zweien oder mehreren. Das geschah in der Absicht, fünf Prozent der jährlichen Großhandelsverkäufe dieser Firmen darzustellen. Und Sie werden weiterhin feststellen, daß die Gesamtheit der freien Güter und Dienstleistungen, vom Preis her gesehen, den gleichen Prozentsatz ausmacht – fünf Prozent jener Dinge, die der nordamerikanische Verbraucher benötigt oder auch nur wünscht. Mit anderen Worten: Jede Firma wird für die Dauer eines Jahres einen hundertprozentigen Verlust auf fünf Prozent ihrer Produkte auf sich zu nehmen haben, um damit den Verbraucher zu veranlassen, alle Produkte dieser Firma zu kaufen – unter Ausschluß der Konkurrenz natürlich. Ich habe hier« – einer der jungen Männer kam wieder nach vorn und verteilte Stöße von Papier – »eine Zusammenstellung der geschätzten Verdienste und Verluste, die auf dieses Angebot zurückzuführen sein werden. Wir gehen dabei aus von einer Einschreibung von zehn Millionen Familienvorständen, allein im ersten Jahr. Ich glaube, daß die Kapitalreserven jeder einzelnen hier vertretenen Firma es erlauben werden, das Defizit des ersten Jahres zu tragen.« Zum erstenmal bat einer der anderen Männer am Tisch ums Wort. »Ich glaube«, sagte ein älterer Mann
mit schmalem Gesicht, »daß man das sozusagen als eine Gesellschaft zur Beschränkung des Handels bezeichnen könnte, Mr. Dine.« »Unsere Rechtsabteilung hat sich mit dieser Frage sehr eingehend befaßt, Mr. Hoyle, und sie versichert mir, daß dieses Angebot absolut im Rahmen des Gesetzes liegt. Unsere Firmen schließen sich zusammen allein dieses Angebotes wegen. Es wird keine Kapitalzusammenlegungen geben, keine Überschneidungen oder Verflechtung der Geschäftsführung, nichts, überhaupt nichts dieser Art – noch nicht. Niemand ist gezwungen, dieses Angebot anzunehmen, in keiner Weise. Wir verkaufen nur riesige Mengen von Waren und bieten gleichzeitig eine Prämie an – außer dem Vertrag, den der Verbraucher zu unterzeichnen hätte, hat er sich der analogen Behandlung zu unterziehen. Der Vertrag ist kündbar, beziehungsweise er muß jährlich erneuert werden, die Wirkung der einmaligen Behandlung jedoch wird immer anhalten.« Die Herren der Versammlung lächelten jenes Lächeln, das man sich an Pokertischen und in Aufsichtsratssitzungen aneignet. »Eine wesentlich wichtigere Frage wäre die«, warf ein rotgesichtiger Mann mit knappgeschnittenem Schnurrbart ein, »ob Sie überhaupt die für dieses Projekt benötigten Einrichtungen schaffen können? Ich dachte doch, die Apparate für die Analogbehandlung gehören alle dem Staat.« »Nein, Colonel«, antwortete der Vorsitzende, »ich glaube, Sie werden noch darauf kommen, daß das Psychiatrische Institut Kusko eine private, nicht auf Profit bedachte Institution ist, lizensiert und gefördert von der Regierung. Die Benutzung der Analogein-
richtungen wird durch Statuten kontrolliert, aber es ist eine sehr interessante Tatsache, daß das Gesetz für jeden, der sie wünscht, eine Analogbehandlung, gegen Bezahlung natürlich, vorsieht, die ihn davor bewahren wird, irgend etwas zu tun, was er nicht zu tun wünscht. Ausgenommen natürlich das, was das Gesetz zwingend vorschreibt. Gentlemen –« Er breitete seine Hände aus. »Ich habe zu großen Respekt vor Ihrer Intelligenz, als daß ich Ihnen das Selbstverständliche noch weiter erklären möchte. Lassen Sie es mich ehrlich, ja brutal ausdrücken: Es ist doch so. Nehmen wir diese Sache nicht als erste in die Hand, dann wird es jemand anderes tun.« 2130 Unter den zwei dünnen Unterhemden und der schweren Stola, die wie Schalen seinen Körper umgaben, juckte es den jungen Arthur Bass unerträglich. Der Schweiß rann ihm über die Rippen hinab, genau auf das Zentrum des Juckreizes, aber er linderte ihn nicht, sondern machte ihn noch durchdringender. Bass biß die Zähne zusammen und starrte über die Hüte der sonntäglichen Menge hinweg. Unter den Stockfischaugen des Seniorverkäufers Leggett durfte er sich weder kratzen noch die Hand auf die juckende Stelle drücken, oder auch nur eine Miene verziehen. Leise verwünschte er die Empfindlichkeit seines Körpers und wartete, bis Leggett mit seinem Kunden fertig war, dann tippte er den Betrag des letzten Einkaufs auf seiner Maschine, zog die Summe und riß den Streifen, auf dem die Einzelposten aufgeführt waren, zusammen mit der Kundenkreditkarte ab. Die Kundin, eine gelbgesichtige, zusammengeschrumpfte
kleine Frau, streckte eine braungefleckte Hand danach aus, aber Leggetts Stimme ließ sie mitten in der Bewegung einhalten. »Sie haben noch Zeit, Ihren Einkauf zu ändern, meine Dame. Dieser Pullover« – er zeigte auf den Bildschirm hinter sich – »ist recht annehmbar, das garantiere ich Ihnen. Aber dieser hier – (siebenunddreißig-null-neun-fünf, Bass, schnell!) – trägt sich bestimmt in der halben Zeit auf.« Bass entspannte sich ein wenig, schwitzte aber noch stärker. Es war ihm gerade gelungen, mit dem Lochen der Kennzahl fertig zu werden, als Leggett seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Die Kundin sah müde auf das dünne, hellrosa Kleidungsstück, das nun auf dem Bildschirm erschienen war, und murmelte etwas Unverständliches. »Dann nehmen Sie es also«, stellte Leggett fest. »Großartig. Bass, bitte ...« »Nein«, antwortete die Kundin etwas lauter. »Ich kann nicht, Verkäufer. Ich kann einfach nicht. Ich muß meine Waschmaschinenrate bezahlen, die Miete ist fällig, und mein Mann ist schon den ganzen Monat über krumm vor Rückenschmerzen. Und ich kann einfach nicht.« Leggett brachte ein recht bemerkenswertes geringschätziges Lächeln zustande. Er erzeugte es ganz einfach dadurch, daß er seine Rattenschneidezähne noch eine Spur weiter als sonst entblößte. »Ich verstehe Sie sehr gut, meine Dame«, meinte er schließlich, »mir brauchen Sie das nicht zu erklären.« Seine kalten Augen musterten sie und schweiften dann weiter. »Der nächste!« Völlig verstört wandte sich die kleine Frau ab, ohne
die Kundenkarte zu sehen, die Bass ihr hinhielt, und er mußte sich von seiner Plattform hinunterbeugen und sie ihr in die Hand drücken. Als Umhang und Jacke bei der Bewegung von seinem Körper wegschwangen, schob er seine Hand darunter und fuhr mit den Fingernägeln rasch einmal, zweimal über die Rippen, bevor er sich wieder aufrichtete. Jetzt fühlte er sich richtig erleichtert. Der nächste Kunde war ein dicker Mann in glatter, ungesteppter Jacke und Kniehosen, und er hatte kaum ein halbes Dutzend Reifen am Handgelenk. Mit ihm kam ein kleiner, pausbackiger Junge von etwa elf Jahren die Estrade unter Leggett herauf; er war mit Bluse und kurzen Hosen bekleidet, die ihm so sehr zu eng waren, daß er sich kaum bewegen konnte. »Vorwärts, Verkäufer!« grüßte der dicke Mann. »Das ist mein Junge Tom, er soll seinen ersten Männeranzug bekommen.« »Vorwärts!« erwiderte Leggett frostig den üblichen Gruß. »Ist auch höchste Zeit, kann ich nur sagen. Wie alt ist der Bursche?« »Gerade zehn, Verkäufer. Recht groß für sein Alter.« Leggetts Blick gefror. »Und wie lange liegt sein Geburtstag schon zurück?« »Er ist gerade zehn geworden, Verkäufer, gerade erst geworden.« »Wie lange ist das schon her?« Der dicke Mann zwinkerte verlegen. »Nur ein paar Wochen, Verkäufer. Das war jetzt die erste Gelegenheit, ihn hierher zu bringen, Verkäufer, das schwöre ich Ihnen.« Leggett gab einen angewiderten Ton von sich und
sah Bass an. »Siebzehn-acht-null-eins«, befahl er. Bass, der seinen Vorgesetzten kannte, hatte die Nummer schon eingestanzt, bevor Leggett sie fertig ausgesprochen hatte. Der Artikel, der nun auf dem Bildschirm erschien, war der teuerste Burschenanzug, den es im Laden gab. Der Stoff schien ziemlich schäbig zu sein, die Farbe war blaß und nicht waschecht, und die Nähte waren so schlecht genäht, daß sie spätestens nach vier Monaten aufgehen mußten, so daß das Kleidungsstück völlig nutzlos war. Leggett starrte den Mann an; sein Blick verbot jeden Einwand. Der Kunde las den Preis und fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ja, Verkäufer«, sagte er schließlich bedrückt. »Das paßt ausgezeichnet.« Bass tippte den Artikel. »Neunzig-eins-zwei-sieben-drei«, fuhr Leggett fort. Das waren fünf Oberhemden der gleichen Qualität. Als nächstes kamen zehn Unterhemden, dann Unterhosen, Socken, Halstücher und schließlich Schuhe an die Reihe. »Komm herunter, Tom«, sagte der dicke Mann endlich niedergeschlagen. »Vorwärts, Verkäufer!« versuchte er sich zu verabschieden. »Einen Augenblick«, hielt Leggett ihn zurück. Er lehnte sich in seiner Kanzel nach vorn und gab vor, in plötzlich erwachtem Interesse das fuchsienrote Oberhemd des Mannes zu betrachten. »Ihr Hemd ist ausgeblichen, Mann«, erklärte er. »Sie sollten sich lieber ein Dutzend neue kaufen. Fünfzig-drei-eins-null-neun, Bass.« »Entschuldigen Sie, Verkäufer«, sagte der dicke Mann verängstigt, »damit warte ich lieber bis zum
nächstenmal. Ich hab' jetzt so viel für den Jungen gekauft, jetzt reicht's für mich nicht mehr.« Leggett hob nur eine graue Augenbraue. »Das überrascht mich«, antwortete er. »Bass, wie sieht die Kreditkarte des Kunden aus?« Bass drückte ein paar Tasten. »Hundertneunzig Komma dreiundfünfzig, Verkäufer Leggett«, meldete er. Leggett starrte den Kunden an. »Sie sagten, für Sie reicht es nicht mehr.« »Zweihundert sind gesetzlich erlaubt«, antwortete der Mann, und seine Wangen zitterten. »Und es ist noch nicht mal Monatsende. Ich kenne mein Recht, Sie können mich nicht einschüchtern. Ich brauche das Geld zum Leben. Komm jetzt, Tom!« Ein empörtes Murmeln kam aus der Menge. Bass warf, ohne den Kopf zu bewegen, einen Blick aus den Augenwinkeln hinunter und sah, wie der Mann mit seinem Jungen auf eine Barriere abweisender Gesichter zuging. Auch Bass zitterte unwillkürlich vor Ekel. Die Dicklichkeit dieser beiden war aufreizend, diese fetten, aufgedunsenen Wangen, die Nackenwülste über den Kragen, diese walzenförmigen Schenkel. Bass konnte sich nicht vorstellen, wie man bei einer richtigen Ernährung in einen solchen körperlichen Zustand geraten konnte. Sie mußten wie Hamster alles in sich hineinstopfen, essen, bis sie am Platzen waren; alles, was sie verdienten, schoppten sie sich unter die Haut, weil sie ihre Selbstsucht auf keine andere Art auszudrücken wußten. Wofür hielten sie sich eigentlich? Vielleicht für Aktionäre oder Präsidenten? Leggett schwieg. Die Hände über dem rotsilbernen
Umhang gefaltet, blickte er aus halbgeschlossenen Augen über die Menge. Da und dort in den ersten Reihen sah Bass einen Mann oder eine Frau, die sich mit zornrotem Gesicht und erhobenen Fäusten nach vorn drängten, plötzlich aber stehenblieben, als lauschten sie Engelsstimmen, die nur sie hören konnten. Hätten wir noch die alten, schlimmen Zeiten, überlegte er, würde es jetzt einen Aufstand geben. Am Fuß der Estrade angekommen, drehte sich der fette Mann noch einmal um. »Ich kenne meine Rechte«, rief er böse und hob eine plumpe Hand mit dikken Fingern. »Geben Sie mir meine Karte!« Bass blieb bewegungslos stehen und wartete. Mit ausdruckslosem Gesicht antwortete ihm Leggett: »Vielleicht kennen Sie Ihre Rechte, Mann, aber von Ihren Pflichten wissen Sie anscheinend nichts. Sie haben die Wahl: Wollen Sie lieber vor dem Verbraucherausschuß zusammen mit Ihrem Sohn und dessen Geburtszeugnis erscheinen und dort erklären, weshalb Sie ihn nicht rechtzeitig mit Burschenkleidung versorgten, bevor er aus seinen Kinderkleidern herauskippt, oder ziehen Sie es vor, Ihrer Seelenruhe zuliebe diesen zusätzlichen Einkauf zu machen? Elffünf-zwei-sechs, Bass.« Der Artikel, der nun auf dem Bildschirm erschien, war ein vollständiger Anzug aus schwarzem Kunststoff, angefangen bei dem Hut mit den Truthahnfedern bis zu den Schnallensandalen – ein Galagewand, dazu bestimmt, bei einer wichtigen Gelegenheit ein einziges Mal getragen zu werden und dann in Stücke zu fallen. Es kostete 190.50 Cr. »Gut für den alten Leggett!« rief einer. Ein unter-
drücktes Lachen schwoll zum Gelächter an. Nur Leggett lächelte nicht. Gelangweilt und angewidert beobachtete er den fetten Mann, der sich, die Beine gespreizt, gegen das Gelächter stemmte, das ihm in die Ohren gellte. Er hob die beiden Fäuste an die roten, fetten Wangen und ließ sie dann wieder fallen. Leggetts Miene änderte sich auch dann nicht, als der dicke Mann, dem zwei Tränen der Wut über die Wülste der Wangen liefen, seinen unförmigen Mund öffnete und bellte: »Mögest du verrecken wie ein Hund, du verrotteter, verdorbener Sohn eines Bastards!« Die Menge erstarrte in Schweigen, als ob ein Guß kalten Wassers das Einheitsgesicht dieser Gemeinschaft getroffen hätte. Nur das gelegentliche Scharren eines Schuhes war zu vernehmen, als sich die Menge strahlenförmig in verschiedene Richtungen davondrängte. »Ein Dämon!« barst Leggetts Stimme in das nun folgende Schweigen. Im nächsten Augenblick klatschte Leggetts Hand auf die Barriere vor ihm; ein teuflischer Lärm brach aus, in dem die Geräusche der Menge untergingen, die in panischer Angst zu den Ausgängen drängte. Bass sah zu beiden Seiten der Halle ganze Menschenknäuel zu Boden gehen, als schwere Gitter die Tore absperrten. Er sah den dicken Mann, der noch immer die Fäuste geballt hatte; er duckte sich ein wenig, nackte Angst stand in seinem mehlig-blassen Gesicht. Er sah den pausbackigen Jungen, der den Mund zum Schreien öffnete. Vom nächstliegenden Ausgang kam ein Krachen,
dann ein Blitz. Die Menge teilte sich und strebte in grauenvoll verdoppelter Angst auseinander, als die drei Männer mit den schrecklichen schwarzen Masken durch den Saal kamen. In den Händen hielten sie Knüppel, ihre Absätze sprühten Blitze. Als ob er einen Schlag erhalten habe, wandte Bass automatisch den Kopf. Das letzte, was er bemerkte, war der fette Mann zwischen zwei uniformierten Rücken, das blasse Gesicht in einer verzweifelten Frage aufgehoben; und dann schleppten sie ihn weg. Nach einigen Augenblicken hörte er das Rascheln der sich umdrehenden Körper und ein allgemeines Murmeln, das bedeutete, daß die Wächter mit ihrem Gefangenen verschwunden waren. Bass drehte sich wieder dem Saal zu und bemerkte, daß die Kanzel über ihm leer war. Leggett hatte sich zurückgezogen, um seinen Bericht an die Wächter zu machen. Die Kunden hatten sich an vier oder fünf Stellen zusammengerottet, wo offensichtlich einige Menschen ohnmächtig geworden oder von den sich schließenden Schutzgittern verletzt worden waren. Ein weißgekleideter Arzt kam herein, machte einen Rundgang durch den Saal und verließ ihn wieder. Einige Minuten später kam er mit zwei Assistenten und einem Sanitätskarren zurück; die Menschen drängten sich um die Gruppen, bis die Körper aufgeladen und hinausgefahren waren. Das Murmeln der Menge war zu einem lauten, ununterbrochenen Dröhnen angeschwollen. Irgend jemand am Ende des Saales begann eine Hymne zu singen. Andere nahmen die Melodie auf, sie kämpfte eine Weile gegen den Lärm der Masse an und fiel dann, besiegt, in sich zusammen. Ständig
strömten immer noch mehr Menschen durch die beiden Eingänge. Träge schob sich die Masse an der Plattform vorbei und kam dann ins Stocken; es gab einfach keinen Platz mehr, um sich bewegen zu können. Bass fühlte sich unbehaglich. Er hatte, seit er sich erinnern konnte, Geschichten von dämonischer Besessenheit gehört. Fast täglich sickerten solche Neuigkeiten durch die verschiedenen Nachrichtenkanäle; aber das war nicht dasselbe, als wenn man so etwas selbst miterlebte. Er hatte gehört, wie dieser Mann den Verkäufer verwünschte, und er wußte, daß dieser Unselige nicht ein einziges Wort dieser Verwünschungen hätte ausstoßen können, hätte er nicht vorher seinen Schutzengel ausgetrieben; es wäre genausowenig möglich gewesen, wie Selbstmord zu begehen. Bass empfand dieses Erlebnis so, als täte sich plötzlich ein ganz gewöhnliches Tor auf, und hinter diesem Tor stünde eine kohlschwarze, teuflisch grinsende Finsternis. Was war daran falsch gewesen? Jedes Kind mußte im Alter von vier, und dann noch einmal von zehn Jahren in den Bekenntnissaal des Ladens gebracht werden, wo durch die heiligen Maschinen ein Engel in seine Seele kam, und von diesem Zeitpunkt an erschien ihm dieser Engel, wann immer er auch nur seine Hand bewegte, um etwas Unrechtes zu tun, so daß kein Mensch sündigen konnte. Aber manchmal wurden die Engel vertrieben – und dann traten Dämonen an ihre Stelle. Weshalb? Und wie begann das alles? Und wie mochte er sich fühlen – der Mann selbst,
nicht der ihn beherrschende Dämon –, wenn er wußte, daß er von jeder menschlichen Freude hier und im anderen Leben abgeschnitten war; daß er Gegenstand von Abscheu und Furcht in dieser Welt, empfindungsfähige Schlacke in der anderen sein würde? Bass schauderte. Die Tür hinter der Estrade öffnete sich, und Leggett kam herein. Das schon steife Rückgrat von Bass wurde starr. Eine Welle von Schweigen lief von der Plattform bis zur hintersten Ecke des Saales. Bass wußte, daß dies jetzt die passende Gelegenheit zu einer improvisierten Rede war, eine, die neun von zehn Verkäufern wahrnehmen würden. Eine widerwillige Bewunderung durchflutete ihn, als Leggett ganz einfach auf die erste Reihe der Menschen hinuntersah und trokken sagte: »Der nächste!« Das war weit wirkungsvoller als eine stundenlange Rede. Der Vorfall hatte seine eigene Geschichte erzählt, seine eigene Moral gezeigt. Nun war nichts mehr darüber zu sagen. Und obwohl keiner der Kunden im Saal zugegeben hätte, daß er nicht geblieben war, um etwas zu kaufen, sondern um eine grausige, von Haß erfüllte Geschichte mitzuerleben, stand jeder unterwürfig da und wartete, bis er an der Reihe war, und dann nahm er, ohne auch nur im geringsten zu feilschen, das an, was Leggett für ihn ausgewählt hatte. Die Kodenummern, die Bass nun lochte, waren ausschließlich solche von Waren der ersten Qualitätsgruppe; nicht ein einziges Kleidungsstück war darunter, das sich nach dem fünften Tragen nicht in seine Einzelteile auflösen würde. Immer und immer
wieder hatte er zu melden, daß die Kreditkarte eines gedankenverlorenen Kunden überzogen war. Um die Mitte des Nachmittags wurde ihm klar, daß Leggett dabei war, einen Gesamtumsatz zu erreichen, der in der Geschichte der Abteilung Kleidung noch niemals dagewesen war. Um drei Uhr war der Saal noch immer zu drei Vierteln voll. Leggett unterbrach plötzlich das Verkaufsgeschäft und sagte kurz: »Bass!« »Ja, Verkäufer Leggett.« Zu Bass' Erstaunen drehte Leggett sich um, öffnete die Tür hinter seiner Kanzel und schritt hinaus. Bass folgte ihm. Leggett stand wartend im Korridor, einen Schritt jenseits des Ausgangs. Bass schloß die Tür hinter sich. »Bass«, begann der Verkäufer kalt, »Sie sind für Punkt drei Uhr zwanzig zum Report in das Personalbüro, zu Direktor Wooten, Block achtzehn, fünfunddreißigster Stock, befohlen. Jetzt ist es drei Uhr. Bevor Sie gehen, möchte ich, da ich vielleicht später keine Gelegenheit mehr dazu habe, Ihnen sagen, daß Ihr Benehmen und Ihre Haltung heute einfach unerhört waren. Allein in der letzten Stunde hatte ich fünfmal darauf zu warten, daß Sie die Kodenummern lochten. Sie haben sich schlecht gehalten. Sie haben mit den Füßen gescharrt. Sie haben sich sogar gekratzt, als Sie glaubten, ich sähe es nicht.« Betroffen riß Bass den Mund auf. »Ich wünsche keine Entschuldigungen von Ihnen zu hören, Bass«, fuhr Leggett fort. »Geben Sie gut acht. Wenn Sie auch weiterhin keinen Ehrgeiz entwickeln, ein richtiger Verkäufer zu werden – eine Tä-
tigkeit, für die Sie keine Begabung haben –, dann hören Sie wenigstens meinen Rat an: Der Verkäufer ist der direkte Vertreter des Präsidenten dieses Ladens, der wieder den Gebietsausschuß vertritt und dieser wieder in einer ununterbrochenen Kette den Vorsitzenden selbst, der seinerseits der direkte Vertreter des Unendlichen auf dieser Erde ist. Ein Verkäufer ist und muß das lebende Symbol von Rechtschaffenheit sein, ein Beispiel für die anderen, dem sie nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten zu folgen haben. Nicht irgendein Unreifer, der wie ein Laffe herumzappelt.« Er drehte sich abrupt um. »Vorwärts, Bass!« »Vorwärts!« krächzte Bass automatisch. Er würgte ein wenig und fand endlich seine Stimme wieder. »Verkäufer Leggett ...« Leggett blieb an der Tür stehen. »Nun? Rasch, bitte.« »Man schickt also einen anderen her, der an meine Stelle treten soll, nicht wahr? Ich meine, Verkäufer, wenn das nicht getan wird, fällt der Abteilungsumsatz.« »Das«, antwortete Leggett eisig, »geht Sie nichts an«, und Bass sah nur noch einen im Türspalt verschwindenden Streifen seines Rückens. Einen Augenblick lang blieb Bass wie betäubt stehen und ging dann langsam den Korridor zum Umkleideraum hinunter. Er war leer, und die langen Reihen der offenen Schränke sperrten ihre häßlichen Mäuler auf. Widerstrebend nahm Bass Umhang und Kappe ab, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie weg. Mit der gleichen Bedächtigkeit schlüpfte er in seinen Überrock, setzte den Hut auf, nahm seinen Beutel und streifte die Armreifen und Ringe über.
Verzweifelt verließ er den Raum und ging den langen, hallenden Gang entlang zur Treppe. Zwei Stockwerke tiefer kreuzte er eine Rampe, die in das Gewühl von Block neun führte, und betrat die nach Norden führende Rolltreppe. Es waren nur noch ein paar Leute da; nur wenige kamen um diese Zeit zum Laden, da sie fürchteten, ihre Zeit würde um sein, bevor sie noch zu einem Verkäufer gelangten. Und dann war das sonntägliche Abendessen noch einzunehmen, damit man rechtzeitig zur Abendzeremonie käme – Bass riß sich zusammen. Schon jetzt, sagte er sich mit einem Anflug von Bitterkeit, dachte er wieder wie ein ganz gewöhnlicher Verbraucher. Genausogut konnte er schon damit beginnen, sich die kaufmännische Redeweise, die er sich mit soviel Mühe angeeignet hatte, wieder abzugewöhnen. In einer Fabrik oder auf einer Farm würde man sie nicht gern hören. Außerdem sträubte sich sein ganzes Wesen dagegen, zu gehen. Eine Entlassung aus der Lagerverwaltung war unausdenkbar, ein ihm völlig fernliegender Gedanke. Er hatte sich doch immer gut geführt und bestimmt nichts getan, was einen Hinauswurf rechtfertigte. Komisch, das Bild, das ihm nun vor Augen stand, stammte nicht aus seinem eigenen Leben oder aus dem eines anderen, den er liebte oder haßte, sondern es war das jenes besessenen, fetten Mannes in dem Augenblick, bevor er weggesehen hatte: das ängstliche Gesicht des Mannes, das wie zu einer stummen Anklage nach oben gewandt war.
2 »Bass.« Die Sekretärin, deren Haar und Gesicht so blaß waren, daß sie eine teigige, völlig formlose Masse zu sein schienen, öffnete ihren Mund nur zu einer einzigen Silbe, dann schloß sie ihn wieder, so wie eine Falle zuschnappt. Ihre kurzsichtigen Augen sahen ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch auf etwas Unbeschreibbares, das sich in einer nicht zu bestimmenden Richtung und in einer nicht einmal zu vermutenden Entfernung hinter ihm befand. Während der halben Stunde, die Bass zu warten hatte, stand sie zweimal auf, ging zu dem einzigen Fenster hinüber, das sich auf einen Luftschacht öffnete, hob die Hand, um es aufzumachen, und blieb dann wie angewurzelt lauschend stehen, bevor sie sich umwandte, um mechanisch an ihren Platz zurückzukehren. Offensichtlich ein Typ, der zu Selbstmord neigte; in den üblen alten Zeiten wäre sie wahrscheinlich hinausgesprungen. Bass stand auf, ganz steif von der Härte der langen Bank. Er murmelte einige Entschuldigungen und quetschte sich an den Knien seiner Nachbarn vorbei bis zum Ende der Reihe. Die Füße trugen ihn bis zur Ecke. Als er sich der Tür näherte, schob sie sich automatisch auf und schloß sich leise wieder hinter ihm. Das innere Büro war mit weißer Eiche und Ebenholz getäfelt. Gegenüber der Tür, durch die Bass eingetreten war, genau hinter dem Schreibtisch, erblickte er drei große, mehrflüglige Fenster, durch die er die in Sonnenlicht getauchten Hügel von Glenbrook sah;
ihre Hänge waren wie grünüberhauchter, silbriger Damast. An den Zimmerwänden hingen in geschnitzten Ebenholzrahmen einige der üblichen Mottos: Der Kunde ist immer im Unrecht Geiz ist die Wurzel allen Übels Ein gedemütigter Kunde ist unsere beste Werbung Trage es ab; tausche es um; verbrauche es; beginne von vorn! Hinter dem Schreibtisch sah er zwei Männer, die ihn mit ausdruckslosen Gesichtern beobachteten, während er auf sie zuschritt. Der eine, mit einem runden, rosigen Antlitz, das wie das eines Cherubs ausgesehen hätte, wäre nicht Härte in den geschlitzten Augen gestanden, trug das schwarze Gewand mit den weißen Borten eines Direktors. Das mußte Wooten sein. Aber er stand am Tisch und stemmte seine Hände darauf. Der magere, weißhaarige alte Mann, der neben ihm saß, fingerte an einem Bündel roter Aktendeckel herum und trug die gefädelten roten Spitzen eines Oberbevollmächtigten. »Das ist Bass, Eure Exzellenz«, sagte der schwarzgekleidete Mann. »Bass, ich bin Direktor Wooten. Das ist der Oberbevollmächtigte Laudermilk, der mit Ihnen sprechen will.« »Vorwärts, Eure Exzellenz, Euer Gnaden«, grüßte Bass. »Vorwärts«, antwortete Laudermilk mit überraschend tiefer und wohlklingender Stimme. »Setzen Sie sich, Bass. Nun, sehen wir mal –« Er hob ein Blatt des vor ihm liegenden Aktenbündels an, warf einen
Blick auf die darunterliegende Seite und beschäftigte sich dann wieder mit dem ersten Blatt. »Sie sind einundzwanzig«, fuhr er fort. »Braune Augen, schwarzes Haar, Hautfarbe Weiß, Größe mittel, keine Narben oder sonstigen unveränderlichen Merkmale. Ja! Beide Eltern Verbraucher. Beide tot. Nichts Außergewöhnliches in der Herkunft. Nun, das ist genauso häufig gut wie schlecht. Keine überlebenden Brüder oder Schwestern, wie ich sehe. Gut! Sie haben seit Ihrer frühen Jugend bei einer Tante und einem Onkel gelebt, nicht wahr, Bass?« »Ja, Eure Exzellenz. Meine Eltern und Geschwister wurden alle bei einem Unfall getötet, als ich zehn war. Ich bin der einzige, der übriggeblieben ist.« »Ja, ich verstehe. Nun, Bass, erzählen Sie mir etwas über sich selbst. Nicht diese Art Statistik –«, er schloß den Aktendeckel und legte die Unterarme darauf, »sondern irgend etwas, was Ihnen wichtig erscheint. Was Sie lieben, was Sie nicht lieben. Was Sie über dieses und jenes denken.« Sein Blick drückte waches Interesse aus. Bass räusperte sich nervös. »Ja, Eure Exzellenz, ich liebe fast alles. Ich liebe meine Arbeit. Das heißt, ich liebte sie –« Laudermilk nickte, lächelte und zwinkerte ihm freundlich zu. »Und was noch? Was tun Sie, wenn Sie nicht im Laden sind?« »Ich besuche Kurse, vier Stunden täglich, auf der Universität.« »Ja, das stimmt. Das steht hier vermerkt. Was studieren Sie dort?« »Ich besuche die normalen Kurse, Eure Exzellenz. Ich will damit sagen, daß ich keine besonderen Fä-
cher zugeteilt bekommen habe. Handelsgeschichte, Logik, Rhetorik, Philosophie, religiöse Wirtschaft und Verbraucherpsychologie.« »Und lieben Sie dieses Studium?« Worauf steuerte er zu? »Ja, Eure Exzellenz, ich liebe fast – ich studiere alles sehr gern.« Laudermilk überhörte das ihm entschlüpfte Wort. »Und welches sind Ihre Lieblingsfächer?« Bass zögerte ein wenig. »Nun, alle Fächer sind interessant, Eure Exzellenz, aber ich glaube, Wirtschaft und Psychologie: Ich mag sie noch ein wenig lieber als die übrigen.« Laudermilk nickte. »Also eine wissenschaftliche Neigung«, bemerkte er. »Ja, Ihr Dekan berichtet mir, daß Sie sich in diesen beiden Fächern hervorgetan haben, während Sie in Rhetorik und Philosophie etwas weniger gut sind. Das ist verständlich. Ja, Bass, ich habe das Gefühl, Sie sind nicht zum Verkäufer bestimmt.« Er spitzte die Lippen und klopfte mit einem langen, ausgezeichnet manikürten Mittelfinger auf die Tischplatte. Etwas in Bass' Brust verlor plötzlich seinen festen Halt und sank, ohne eine Spur zu hinterlassen, auf den Grund seiner Seele. Er hatte sich zu dem Gedanken durchzuringen versucht, daß ihm nur eine Entlassung bevorstehen konnte, und er hatte gewähnt, es sei ihm gelungen. Nun wußte er es besser. »Nun, erzählen Sie mir etwas, Bass«, forderte Laudermilk ihn freundlich auf. »Angenommen, Sie hätten nun die Gelegenheit, noch etwas anderes zu studieren, Fächer, die nicht in der üblichen Richtung liegen, würden Sie das gern tun? Überlegen Sie sich's. Glauben Sie, daß Sie ausreichendes Interesse daran
hätten? Könnten Sie eine Berufung daraus machen?« Bass hielt einen Augenblick lang den Atem an. Er glaubte, nicht recht gehört zu haben. Die Mysterien studieren – wenn es – unglaublicherweise – das war, was Laudermilk meinte, ein Doktor der Wissenschaften oder ein Lagerdiakon zu werden? Dafür würde er seine Seele hingeben. »Physik«, fuhr Laudermilk fort, »Ingenieur der Elektronik. Das ungefähr war es, woran ich dachte. Lassen Sie sich mit der Antwort Zeit.« Endlich brachte Bass hervor: »Das würde mir besser zusagen, als sonst etwas auf der Welt, Eure Exzellenz.« »Gut, gut! Das glaube ich Ihnen. Nun, ich denke, es ist besser, Ihnen endlich zu erklären, was das alles zu bedeuten hat. Jedes Jahr um diese Zeit, Bass, haben die verschiedenen Institute mit Zulassungsbeschränkung eine neue Schülerklasse zusammenzustellen. Deshalb bin ich hier. Meistens sehen wir uns unter den jüngeren Verkaufskandidaten oder anderen kaufmännischen Rängen um, denn der Typ junger Leute, den wir brauchen, geht meistens aus eigenem Antrieb in den Laden. Nun, die Quote, die ich aufzufüllen habe, ist für das College der religiösen Wissenschaften der kalifornischen kaufmännischen Universität in Pasadena bestimmt. Es handelt sich um ein Studium, das sieben Jahre dauert und das zum akademischen Grad eines SRD führt, eines Doktors der wissenschaftlichen Forschung. In der Regel ist dieser Grad gleichbedeutend mit der Ernennung zum Abgeordneten-Assistenten. Ich möchte Sie allerdings warnen, bevor ich Sie allzusehr in eine Begeisterung hineinsteigere. Es ist ein
langes, schwieriges Studium. Es gibt auch noch andere Nachteile. Sie werden die ganzen sieben Jahre hindurch ausschließlich in der Universitätssiedlung zu bleiben haben, und wenn Sie heiraten, wird das auch für Ihre Frau gelten. Keiner von Ihnen wird bis zur Graduierung – falls es soweit kommt – andere Menschen sehen als solche, die mit dem College zu tun haben. Nicht jedem gelingt es, zu graduieren. Und nachher – ja, da werden Sie finden, daß Sie von allen Menschen, die Sie früher kannten, selbst von Ihrer eigenen Familie, ziemlich abgeschnitten sind. Ich muß Sie warnen – damit ist nicht leicht fertig zu werden.« »Ich weiß das, Eure Exzellenz«, antwortete Bass, so ruhig er konnte. »Ich werde meine Meinung bestimmt nicht ändern.« »Gut. Sehr gut. Nun, sehen wir mal –« Er blätterte die Seiten des Aktenstückes um, eine nach der anderen, überlas etwas auf der letzten Seite und schloß die Akte wieder. »Sagen Sie mir, Bass, wie kommen Sie mit Ihrem Engel zurecht?« Halb und halb hatte Bass diese Frage erwartet, aber er fühlte seine Ohren rot werden. »Ich – ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, Eure Exzellenz.« »Hm, ja! Nun, das ist nichts, dessen man sich zu schämen hätte, Bass. Sie gehören zu den – wie man so sagt – ›innerlich gefestigten‹ Naturen. Die sind ziemlich selten, wenn auch nicht mehr ganz so sehr wie früher, aber das braucht Ihrer Karriere nicht zu schaden. Ganz im Gegenteil. Wir sind immer auf der Suche nach Menschen Ihres Typs, aber das sage ich Ihnen nur im Vertrauen; beim Studium der wissenschaftlichen Fächer machen sie sich immer recht gut. Schön!« Der Oberbevollmächtigte bückte sich,
nahm etwas vom Boden auf und legte es sorgfältig auf den Tisch: es war ein rechteckiger Karton, etwa drei Handbreit hoch, mit gelbem Stoff umwickelt. »Stehen Sie auf, Bass! Kommen Sie ein wenig näher! So ist es recht. Nun, nun, fürchten Sie sich nicht. Tun Sie genau das, was ich Ihnen sage, dann wird alles in Ordnung sein.« Ohne jede Warnung schob Laudermilk den gelben Stoff von dem Karton zurück. Er hatte keine Vorderseite. Drinnen, scharf abgehoben von dem schwarz emaillierten Metall, stand ein roter Plastikbeutel mit gelbem Etikett: Marmons feinste kernlose Riesenrosinen 1 Pfund CR./45 Aber in der oberen rechten Ecke war statt des vertrauten rotweißen »GP« für »General Products« etwas Widerliches: ein gelber Kreis mit einem spinnenhaften schwarzen »U/M« darin. »Nehmen Sie es!« befahl der Oberbevollmächtigte scharf. Plötzlich fühlte Bass seinen Kopf federleicht werden und ins Riesige anwachsen. Besonders Lippen und Zunge schienen sich unheimlich zu vergrößern, vergrößern, als ob sie ein Ballon seien, den jemand aufgeblasen habe. Seine Füße waren weit, weit weg. Er schwankte ein wenig, und es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu halten. »Nehmen Sie es!« befahl der Oberbevollmächtigte wieder.
Bass streckte die Hand nach dem roten Beutel aus. Er schien lange dazu zu brauchen, aber doch wünschte er leidenschaftlich, es möge noch länger dauern. Nun waren seine Finger nur noch zollbreit von dem Beutel entfernt, eine winzige Spanne –. Er schrie auf und zog die Hand zurück. In einer Ekstase von Furcht kroch er über den Boden, er stöhnte und weinte, und Tränen quollen zwischen seinen auf die Augen gepreßten Fingern hervor. »Nein!« schrie er, »ich will nicht, niemals, niemals wieder!« »Nun, mein Sohn, es ist ja schon gut.« Er fühlte Hände unter seinen Achselhöhlen, die ihn aufhoben; er tastete nach einem Stuhl und ließ sich darauf fallen, das Gesicht in den Händen verborgen. »Lassen Sie sich Zeit.« Bass rieb mit den Handflächen über das Gesicht und setzte sich aufrecht hin. Er zitterte noch immer. Seine Lider waren geschwollen, und er konnte seine Umgebung nur verschwommen erkennen. »Sagen Sie mir, mein Sohn, was er zu Ihnen sagte.« Bass schluckte. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie phosphoreszierende Spuren in dunklem Gewässer. Sie bewegten sich zu rasch, als daß er ihnen hätte folgen können, und doch wußte er, daß er nun sprechen mußte. Endlich fand er Worte. »Er – er hatte ein Schwert, von dem Feuer tropfte«, stammelte er. »Aber am schlimmsten war sein Gesicht. Er sagte: ›Wenn du das jemals wieder tust, Arthur Bass, werde ich dich töten.‹« »Wie oft sagte er das?«
»Wie oft? – Dreimal. Dann ging er weg.« Bass zitterte und senkte wieder für einen Augenblick den Kopf. »Schon gut. Nun, es tut mir leid, daß ich Sie dem unterziehen mußte, aber wir müssen ganz sichergehen. Sie werden passen, Bass. Schauen wir einmal – ja, hier ist die Liste. Bass, Arthur D., Dossier TD 93 080 510.« Dann wurde noch etwas von einer Schlußzahlung gesprochen, einer Platzreservierung im Flugzeug, und schließlich schüttelte der Oberbevollmächtigte ihm die Hand; er ging an der teigköpfigen Sekretärin vorbei, an den Reihen der Menschen in dem äußeren Büro, blind für ihr Starren. Als er das Nordportal des riesigen Glenbrooker Lagergebäudes verließ, war es noch immer früher Nachmittag. Die kleineren Häuser, die sich darum scharten, Kieselsteine neben einem Felsblock, warfen kurze violette Schatten, scharf gezeichnet auf den sauber glitzernden Glaskästen und Steinen. Er wandte sich zur High Street, kam an einer Reihe ärmlicher Läden und Büros vorbei, ließ die Distriktsbäckerei hinter sich, in deren Umgebung es nach frischgebackenem Brot roch, passierte die Wachstation und das Kino und kam ins Wohnviertel: meistens zwei- und dreistöckige Fachwerkhäuser, die zwar in frischen Farben glänzten, aber nicht mehr richtig senkrecht standen. Alte Häuser waren es, viele davon zweihundert Jahre alt. Sie strömten einen unbestimmbaren Geruch aus nach Gewesenem, nach Verfall. Er öffnete automatisch seine Tasche und nahm den Regenmantel heraus. Ungeschickt schüttelte er ihn
auseinander, so daß die Naht an der Schulter aufriß. Aber er schlüpfte trotzdem hinein. Besser, man wird mit einem billigen Mantel gesehen als mit einem zerrissenen; besser, man sieht dich mit einem zerrissenen als ohne Mantel –
3 Bass durchquerte das Viertel neuer Wohnhäuser, die den kärglichen Rest des Parks einrahmten, und folgte einem der verschlungenen Pfade, bis er die von Erlenbüschen umstandene Bank erreichte; dort traf er sich manchmal mit Gloria, wenn sie von der Bäckerei nach Hause ging. Jetzt hatte es keinen Sinn, auf sie zu warten; sie gehörte nicht zur Sonntagsschicht. Jetzt würde sie im Laden sein oder, wie alle, zu Hause bei der Vorbereitung des sonntäglichen Abendessens helfen, aber die Bank war durch die überhängenden Büsche geschützt und ziemlich trocken; er setzte sich. Er versuchte, klar über alles nachzudenken. Unglaublich – unglaublich, er hatte seine Hand nach dem Beutel ausgestreckt, und er dachte nur daran, welche Anstrengung es bedeutete, auf das Erscheinen seines Engels zu warten – und dann plötzlich, ohne jeden Übergang, wußte er: Es gab keinen Engel. Der Mann ohne Engel – das Buch, das sie im vierten Schuljahr, in Miss Davenports Klasse, durchgenommen hatten. Sie hatte ein braunes Mal auf der Wange mit zwei Haaren, die daraus hervorwuchsen. Keinen Engel – Aber bis zu diesem Augenblick hatte er, obwohl er
seinen Engel nicht mehr gesehen hatte, seit er neun oder zehn Jahre alt war, daran geglaubt, daß er ihn einfach deshalb nicht sah, weil er niemals versucht hatte, irgend etwas Schlechtes zu tun – war das richtig? Und doch hatte irgend etwas in seinem Geist, etwas, dessen er sich nicht einmal richtig bewußt war, von ihm Besitz ergriffen, sanft, ohne einen Moment zu zögern, hieß ihn sich weinend auf dem Boden winden; und als man ihn fragte, hatte es ihm die Worte in den Mund gelegt: Worte aus einem alten Buch, das er in seines Vaters Schreibtisch gefunden hatte, verstaubt, vor Jahren – »Die Entlarvung der Dämonen«. Irgend etwas in seinem Geist – Ein Dämon! Und so scheint es auch zu sein, sagte er sich betäubt. Aber er fühlte sich nicht anders als vorher: keine unheilige Ekstase, kein prickelndes Bewußtsein des Bösen, das durch seine Nerven rieselte. Er sah seine Hände an, kniff sich in die Wangen. Sie waren noch genauso wie vorher. Aber hier mußte doch ein Irrtum vorliegen. Wenn er einen Augenblick länger gewartet hätte; wenn seine Hand nur den Bruchteil eines Zolls näher an den Beutel gekommen wäre – Nun, das konnte man ausprobieren. Unsicher schaute Bass sich um. Niemand war in der Nähe; niemand auf dem Weg oder auf der Wiese; nichts war um ihn als der schimmernde, perlgraue Vorhang des Regens. Er preßte die Kiefer aufeinander. Widerwillig zwang er sich, die Worte hervorzuquetschen: »General Products – sind nicht gut.«
Und es war so. Er konnte noch Schlimmeres sagen. Er konnte Böses tun – kein Engel würde ihm Einhalt gebieten. Er konnte töten. Er konnte sich in aller Öffentlichkeit entkleiden. Er konnte sich ohne Notwendigkeit einer Gefahr aussetzen. Er konnte eine Frau lieben, ohne sie vorher geheiratet zu haben. Er konnte einen Verkäufer beleidigen oder sogar einen Sachbearbeiter, einen Lagerverwalter. Und böte man ihm wieder ein Säckchen Rosinen, ein Paar Handschuhe, eine Packung Zigaretten mit diesem Zeichen darauf an – er konnte alles kaufen! Er konnte die Rosinen essen, die Zigaretten rauchen, die Handschuhe anziehen – Nun gut, und was jetzt? fragte eine eindringliche Stimme in seinem Innern wieder und wieder. Unglücklicherweise gab es auf diese Frage nur eine einzige offensichtlich richtige Antwort: Er mußte den Hügel hinabgehen zur Wachstation und sich selbst stellen. Das war ihm von Anfang an klar gewesen, aber er hatte es nicht getan. Selbst jetzt konnte er sich vorstellen, wie er zur Wachstation ging und zu dem Wachhabenden in der schwarzen Maske sagte: »Verhaften Sie mich. Ich bin von einem Dämon besessen.« Aber im gleichen Augenblick, als er aufzustehen versuchte, versagten ihm die Beine den Gehorsam; der Gedanke erschien ihm einfach lächerlich. Sein ganzes Leben lang hatte er diese schweigenden Männer gefürchtet, deren Gesichter mit Masken verhüllt waren, weil sie sonst zu schrecklich anzusehen gewesen wären; es waren die Gesichter von Menschen mit halben Seelen, Menschen, deren Engel ihnen Gewaltanwen-
dung erlaubten, die sogar töten durften. Zutiefst unglücklich stellte er sich eine andere Frage: Weshalb? Warum mußte das gerade ihm geschehen? Welche Ungeheuerlichkeiten konnte er – unwissentlich – begangen haben, um das schlimmste Los zu verdienen, das einem Menschen beschieden sein konnte? Vielleicht wäre ihm leichter ums Herz, wenn er das alles verstehen könnte; er konnte sich selbst aufgeben. Und schlimmstenfalls wäre es weniger schmerzlich, sich den Händen eines Freundes auszuliefern als denen der Wächter. Es würde ihm auch nichts nützen, ginge er zu seiner Tante und seinem Onkel. Sie waren gute Leute, aber auch nur Verbraucher mit nicht mehr Verständnis für die kniffligeren Fragen der Theologie, als bei den Verbrauchern üblicherweise zu erwarten war. Niemand würde im Laden sein, der ihn unterweisen konnte, wenigstens nicht an einem Sonntag. Aber da war ja noch Dean Horrock, ein wunderbarer Gelehrter, der immer bereit war, die Sorgen der Leute anzuhören, und der außerdem die schwierigen Theorien besser erklären konnte als dieser Verkäufer. Als er den Hügel hinaufging, stieg ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihm auf. Er wußte genau, daß das reiner Selbstbetrug war, aber es war immer noch besser als gar nichts.
4 Aus dem Nebenzimmer kam der Geruch von kochendem Kohl und Schweinefleisch, und das Klappern von Geschirr war unterbrochen von den Stimmen von Dean Horrocks Frau und Töchtern. Der Dean selbst war in sein bestes Gewand gekleidet, sah rosig-sauber aus und roch nach seinem Sonntagskölnisch, aber sein Benehmen war genauso ohne jede Hast und entgegenkommend wie immer. »Lassen Sie sich Zeit«, meinte er gemütlich. Er stopfte die Pfeife, deren Stiel ein Erinnerungsstück aus seiner Studienzeit war, drückte den Tabak zurecht und zog, bis sie richtig brannte. Seine grauen Augen, wach und aufmerksam hinter einem Bollwerk von Hautsäcken und Falten, sahen Bass freundlich an. Der Dean war allgemein beliebt und geachtet. Es war nicht ganz leicht, mit dem Gehalt eines Pädagogen den Lebensstandard zu halten, den sein Rang von ihm verlangte. Die meisten Universitätsangehörigen waren ein bißchen schäbig gekleidet, und niemand dachte deshalb schlechter von ihnen; aber der Dean sah immer makellos aus. Er hatte acht Kinder und mehr als zwanzig Enkel: ein guter Mann. »Was es auch sein mag«, fügte er hinzu, »wenn ich Ihnen helfen kann – äh – äh, Sie wissen, nichts würde ich lieber tun. Aber wenn Sie es mir lieber nicht erzählen wollen – äh – äh – schließlich, nun ja, dann würde ich es auch verstehen.« »Im Lager sah ich heute einen besessenen Mann, Dean«, begann Bass zögernd. »Er verwünschte den Verkäufer Leggett. Der Wächter kam und nahm ihn mit.«
Horrock nickte. »Eine empörende Geschichte«, meinte er ruhig. »Ja, Dean –« Horrock hörte ihm aufmerksam zu. »Können Sie mir sagen, weshalb der Unendliche es zuläßt, daß Menschen besessen werden?« Horrock verzog das Gesicht. Zwischen den Zähnen stieß er eine Reihe unzusammenhängender Silben hervor, dann brach er plötzlich ab. Seine Züge glätteten sich; er sah an Bass' Schulter vorbei nach oben und lauschte der Stimme eines Engels. Einen Augenblick später war diese Anwandlung vorüber, und Horrock besah ruhig prüfend seinen Pfeifenstiel. »Das ist eine Frage«, antwortete er langsam, »die mitfühlende Menschen durch Jahrhunderte hindurch gequält hat, Arthur. Weshalb läßt der Unendlich Gute das Übel zu? Hm! Ich bin gar nicht überrascht, daß Sie sich so sehr mit dieser Frage beschäftigen. In Ihrem – äh – in Ihrem Alter, und wenn man überhaupt einiges Feingefühl hat – äh – tut man das – äh –, und sogar noch über Ihr Alter hinaus – äh –, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Einige sehr große und sehr gute Menschen – äh – äh – haben ihr Leben lang mit dem Studium dieser Frage verbracht, ohne zu irgendeiner Antwort zu kommen, die – äh – allgemein befriedigend gewesen wäre. In einem gewissen Sinn ist diese Frage das Kernstück aller religiösen Probleme – Gehen wir einmal davon aus«, fuhr er fort. »Kann jemand von uns sagen, daß – wenn es nicht um die wenigen Menschen ging – äh – äh –, denen der Unendliche eine Besessenheit erlaubt – menschliche Eitelkeit – äh – und Halsstarrigkeit nicht so ins Unermeßliche wachsen müßten – äh –, daß wir alle unsere
Engel wegjagen würden?« Bass schwieg. »Ein kleines Übel – äh – bewahrt vor einem größeren«, fuhr Horrock fort. Der Nerv an seiner linken Wange zuckte langsam, regelmäßig. »Das ist nur eine Vermutung, Arthur, eine Überlegung. Hm! Die einzige, endgültige Antwort, die wir geben können, ist – äh – fürchte ich – äh – nur die, daß wir keine haben. Die Wege des Unendlichen sind nicht die unseren. Wie könnten wir, die wir gerichtet werden, selbst richten?« Seine Pfeife war ausgegangen; er zündete sie von neuem an, und seine Finger zitterten dabei. »Ja, das verstehe ich«, antwortete Bass steif. »Ich meine, es ist nicht das Problem an sich, das mich so quält, dieser Mann heute im Lager, zum Beispiel. Was kann er getan haben, um das zu verdienen, was ihm heute widerfuhr?« »Nun« – Horrock lächelte schief – »wer kann das sagen? Eine Unterlassungssünde hier – äh –, eine dort – vielleicht – äh – äh –; im Laufe der Jahre kommen viele zusammen – äh – äh – im Kontobuch des Unendlichen, und das ...« Er zuckte die Schultern. »Ja, das stimmt, er war ein Geizhals«, sagte Bass nachdenklich. Aber ich bin keiner, überlegte er und fühlte sich dabei recht unglücklich. Ich habe weder jemals den Laden um einen Kredit geprellt noch hatte ich einen ungehörigen Gedanken – bis das geschah. Und was ist mit mir? »Dean«, begann er wieder. »Es gibt Menschen, die schlimmere Dinge als das tun wollen, aber ihre Engel gebieten ihnen Einhalt – und sie werden nicht bestraft.« Er schwieg einen Augenblick und kämpfte mit diesem ungewohnten Gedanken. »Ich meine, wie
kann der Engel die Menschen veranlassen, das zu tun, was sie tun sollen, und nicht nur sie davor bewahren, das zu tun, was sie nicht dürfen?« Horrock lächelte gütig. »Nun, diese Frage kann ich auf zwei Arten beantworten, Arthur. Wenn man sie – äh – rein weltlich betrachtet, gibt es dabei einige ausschließlich technische Schwierigkeiten. Die Mysterien liegen – äh – natürlich außerhalb meiner Sphäre, aber ich verstehe die Sache so, daß die heiligen Maschinen uns nur eine bestimmte Fähigkeit geben, unsere Engel wahrzunehmen, die – äh – sozusagen ausbrennen würde, wenn unser Kontakt mit ihnen zu häufig – äh –, zu intensiv wäre. Auf der geistigen Ebene, wo die Antwort in erster Linie gefunden werden muß – äh –, du erinnerst dich doch an dein Kindergebet, Arthur: Wollt eine Sünde ich begehn, so steht ein Engel zwischen ihr und mir. Wollt ich versäumen eine Pflicht führt mein Gewissen mich zurück zu ihr. Wir werden davor bewahrt – äh –, wirkliche Sünden zu begehen, erstens, weil sie dazu neigen, so endgültig zu sein – einen Menschen zu töten, zum Beispiel – äh –, und zweitens, und das ist widersinnig genug, weil sie relativ unwichtig sind. Wenn ich jeden Abend wünsche, einem Menschen die Kehle durchzuschneiden – äh –, und das möchte ich nebenbei gesagt, ganz gern tun, dann ist das eine ziemlich triviale Angelegenheit, wirklich, weil der Impuls nicht auf Dauer ist, und – ahem – auch keine Wirkung auf meinen Charakter hat. Aber wenn ich weniger kaufe, als ich soll, das ist eine ernste Sache. Das betrifft nicht nur einen
einzigen Menschen pro Tag, sondern uns alle, und zwar täglich: durch mich – äh – beeinträchtigt es die wichtigsten Grundlagen unserer Gesellschaft. Der springende Punkt ist doch der, Arthur, daß der Unendliche nicht – ahem – nicht wirklich interessiert ist an unseren – unseren flüchtigen Leidenschaften. – Äh. – Unsere Engel stehen zwischen uns und der Sünde, wie eine Mutter etwa zwischen ihrem Kind und einem Topf, der gerade von einem Regal zu fallen droht. Der Topf hat – äh – nichts zu tun mit der Entwicklung des Kindes, solange er ihm nicht auf den Kopf fällt. Noch mehr: Vom Kind kann man nicht erwarten, daß es sich selbst vor der Gefahr beschützt, es ist zu jung. Aber vom Kind muß man erwarten, daß es – hm – lernt, seine Haushaltspflichten zu erledigen, und die Mutter kann doch nicht gut jede Minute dabeistehen und zusehen, daß es sie auch tut. Hm! Verstehen Sie? Wenn das Kind lieber seine Pflichten vernachlässigen möchte, muß das Gewissen – äh – es an die Arbeit führen, oder es muß – äh – ohne Abendessen zu Bett gehen. Das Gewissen muß auch den Erwachsenen an seine Pflichten heranführen, oder er wird nicht erlöst. Und Erlösung ist – äh –, um es schließlich einmal deutlich auszusprechen, wie eine Speise ohne Salz, wenn sie unverdient ist, Arthur.« »Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte Bass, und seine Kehle war trocken. »Vielen Dank, Dean.« Bass war ein ordentlicher junger Mann ohne andere Erfahrungen als der ordentlicher Gedanken; aber nun lernte er das Gegenteil mit einer Leichtigkeit, die ihn überraschte. Erlösung, hatte der Dean gesagt, sei wie eine Speise
ohne Salz, wenn sie unverdient ist – unverdient. Und Verdammung – unverdient? Sollte die etwa einen erfreulicheren Geschmack haben? Er durchforschte sein Gedächtnis wieder und immer wieder nach einer Unterlassungssünde, und er konnte in seinem ganzen Erwachsenenleben nichts finden. Als Kind natürlich, bis zum Alter von zehn Jahren etwa, hatte er kindliche Fehler begangen. Sollte er dafür verdammt werden? Das erschien ihm unvernünftig. Bass hatte Geschichten gehört von Kindern, die schon fast Heilige waren und den Weg der Rechtlichkeit gegangen waren, kaum daß sie krabbeln konnten, und sie waren mit ihren Engeln nur verkehrt, um von ihnen gelobt zu werden. Er selbst hatte aber niemals solche Kinder gesehen; sie mußten recht selten sein. Dann war es also klar, daß der Unendliche seine Gnade von ihm zurückgezogen hatte, einfach als Warnung, daß die menschliche Eitelkeit und Eigenwilligkeit nicht so stark werde, daß alle ihre Engel verjagten. So wurde also er zum Opfer auserkoren – ebenso wie der Zweig, den der Obstzüchter beschneidet. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß etwas an dem Gedanken nicht stimmte, wenn man sich eine Unendliche Macht ohne Gerechtigkeit vorstellte – und er konnte diesem Gedanken nicht folgen; jenseits dieses Gedankens gab es eine erschreckende Wirrnis von Überlegungen, aber er hatte etwas über sich selbst entdeckt, und daran klammerte er sich. Bass wollte nicht sterben, auch nicht, um dem Unendlichen zu gefallen oder um seine Mitmenschen zu erbauen.
Seine Pläne waren fertig. Jenseits des Pazifik gab es da und dort über die Landkarte verstreut malerische Länder, wo braun- oder gelbhäutige Menschen noch immer im Naturzustand lebten. Der Laden verlangte ständig Spenden für die Missionsarbeit dort. Aber es mußte doch auch Plätze geben, wo selbst die Missionare noch nicht hingefunden hatten. Und Bass hatte eine Flugbuchung für Pasadena, das, wie er aus seinem Schulatlas wußte, ein Stadtteil von Los Angeles war, und dort gab es einen Seehafen. Er konnte nicht aufs College gehen. Er hatte Laudermilk hinters Licht geführt, aber er durfte nicht damit rechnen, auch die Prüfer gerade an jenem Ort zu betrügen, wo die Diakone ernannt wurden. In Glenbrook konnte er aber auch nicht bleiben, nachdem er für das College ausgewählt worden war. Aber nach Pasadena konnte er fliegen, sich vom Flughafen wegstehlen und an Bord eines Schiffes gehen, das nach Thailand oder Timbuktu fuhr. Mit ein wenig Glück konnte er den Atlas loswerden, lange bevor man seine Spur hatte; und den Rest seines Lebens würde er damit verbringen, wilde Tiere zu jagen und Kokosmilch zu trinken. Er rief den Flughafen an und überzeugte sich davon, daß seine Flugberechnung in Ordnung war, und er änderte sie auf den heutigen Tag ab. Dann ging er nach Hause, kündigte an, daß er abreise, und mußte eine halbe Stunde lang die Leiden des Abschiednehmens erdulden: die Tränen seiner Tante, den unangebrachten Stolz des Onkels, die Aufregung seiner Vettern und Basen. Es fiel ihm schwer, sie anzulügen, aber es wäre ihm noch viel schwerer gefallen, die ganze Woche warten zu müssen. Dann packte er drei
Koffer, die er in Pasadena zurücklassen würde, und eine leichte Handtasche, die er mitnehmen wollte, und ließ sich zum Flugplatz bringen. Nun blieb ihm nur noch eines zu tun übrig. Er überquerte den Hof, ging um die dicke, alte Ulme herum am Haus entlang und trat ans Küchenfenster. Drinnen rührte Gloria Andresson heftig in einer Schüssel; ihr Gesicht war gerötet. Eine Strähne ihres goldenen Haares hing locker über ihre Schläfe. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes überzog Mrs. Andresson eben einen Kuchen mit einem Zukkerguß, und die zwei kleineren Töchter sahen ihr zu. Vorsichtig kratzte Bass am Fensterladen. Gloria sah geistesabwesend auf und schob mit dem Arm die Haarsträhne aus der Stirn. Dann erblickte sie ihn; ihre Augen weiteten sich. Sie warf einen Blick hinter sich, legte ihren Kochlöffel weg und verließ die Küche. Einen Augenblick später stand sie neben ihm unter der Ulme. »Willst du nicht hereinkommen, Arthur?« flüsterte sie. »Ich kann nicht, ich habe keine Zeit. Ich bin nur gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.« Ihre Lippen wiederholten leise das Wort, die Brauen hatte sie in Überraschung und Enttäuschung zusammengezogen. »Man hat mich dazu bestimmt, auf die Handelsuniversität Kalifornien zu gehen«, erklärte er, »und heute muß ich noch weg, in einer halben Stunde.« »Oh«, sagte sie langsam. »Das ist aber herrlich für dich, Arthur. Wie lange wirst du denn wegbleiben?« »Sehr lange. Sieben Jahre. Und«, er log schamlos,
»ich darf nicht heiraten vor der Graduierung.« »Oh, Arthur!« »Ich weiß. Ich würde auch lieber hierbleiben, selbst wenn ich zu einer gewöhnlichen Arbeit zurückgehen müßte, aber ich konnte nichts dagegen tun.« Sie ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. »Das darfst du nicht sagen«, mahnte sie mit angestrengter Stimme. »Das ist doch eine großartige Möglichkeit.« Sie hielt den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen; er sah die Tränen, die an ihren dunklen Wimpern hingen. Unwillkürlich trat er einen Schritt näher und atmete den Duft ihres Parfüms ein. An ihrer Kehle klopfte eine winzige Ader. Ihre Brust hob sich unter der dunklen Wolle, senkte sich, hob sich wieder ... »Ich werde dir schreiben«, versprach er matt. »Nein, das wäre zu nichts gut. Nicht für sieben Jahre – ich sage lieber jetzt Lebewohl.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und machte eine plötzliche, ruckartige Bewegung ihm entgegen – und hielt genauso plötzlich inne, während ihre Augen sich etwas Unsichtbarem über seiner Schulter zuwandten. Sie lauschte, lauschte, das wurde Bass bitter klar, lauschte ihrem Engel, der ihr sagte, daß sie ihn nicht berühren dürfe, da sie ja nicht mit ihm verheiratet sei. »O bitte!« flehte sie den unsichtbaren Schatten an, »nur dies eine Mal –« Bass gab einen erstickten Laut von sich und tat einen Schritt vor, als werde er geschoben. Einen Augenblick lang hielt er sie in den Armen; er rieb seine Nase an der ihren, und ihre Zähne knirschten hart aufeinander. Dann waren seine Arme leer.
Sie war einen Schritt von ihm zurückgetreten und starrte ihn offenen Mundes durch eine Strähne ihres verwirrten Haares an. Er tat einen Schritt auf sie zu. »Gloria –« »Geh weg von mir!« sagte sie atemlos. Sie schluckte, holte tief Atem und gab einen lauten Schrei von sich. Dann wandte sie sich um und rannte davon. Bass blieb stehen, wo sie ihn verlassen hatte, hörte das Zuschlagen der Tür und den Tumult im Innern des Hauses, den Glorias Stimme übertönte, laut, aufgeregt und dramatisch. Sie erzählte ihrer Familie in allen Einzelheiten, was geschehen war. Zehn Minuten später rannte er eine Seitenstraße entlang, aus deren Türen ihn erschreckte Gesichter beobachteten. Hinter ihm gellte das Geheul der Sirenen den Hügel herauf.
5 Bass blieb stehen, verschnaufte ein wenig und lehnte den Rücken an eine Mauer. Es war eine Mauer von fast zwei Yards Höhe, rohe Ziegel auf der einen, Putz auf der anderen Seite. Die letzten dreißig Yards war er eine Hecke entlanggekrochen, die zwischen zwei Häusern wuchs; dann hatte er die Mauer erreicht und sie überklettert. Nun war er in Sicherheit, denn er war tot. Jenseits dieser Mauer hatte er einen Namen gehabt, eine Wohnung, Verwandte, Pflichten, Lohn. Diesseits der Mauer war er nichts: Soweit es Glenbrook anging, existierte er überhaupt nicht mehr. In Wirklichkeit hatte er, als er die Mauer überkletterte, Selbstmord
begangen. Es war ihm nichts anderes übriggeblieben, er hatte keine andere Wahl. Er dachte an den kurzen Moment, als Gloria in seinen Armen lag. Das war vielleicht der unbefriedigendste Kuß der Welt gewesen, dachte er bitter, und er hatte sein Leben dafür gegeben. Seine Lippen preßten sich zusammen. Was war mit dieser Welt los, daß es möglich war, so grausam für einen Augenblick der Zärtlichkeit bestraft zu werden? Dafür, daß sie schrie, als er sie küßte, konnte er sie nicht schelten. Jede andere würde es genauso gemacht haben – aber was sollte er denken von dem Ton ihrer Stimme, als sie ihren Eltern sagte, sie sollten schnell die Wachen rufen, weil der arme Arthur besessen sei? Bass wandte sich um und schlug mit den geballten Fäusten gegen die Mauer. Der Schmerz ernüchterte ihn ein wenig. Er rieb sich die aufgeschundenen Knöchel, drehte sich um und warf einen Blick in die Runde. Von der Stelle, an der er stand, dehnte sich ein flaches Ödland etwa fünfzig Yards tief vor ihm aus, eine Wildnis von Hügeln und Steinen, überzogen mit den spröden, schwarzen Skeletten von verbranntem Buschzeug. Zu seinen Füßen und entlang der ganzen Mauer nach beiden Seiten lag kümmerlicher Abfall: nasses, zerknülltes Papier, ein ausgeblichener Gummiball, Reste eines Ballons, Glasscherben, Holzstücke, zerbrochenes Plastik. Bass sah sogar, und er war darüber nicht einmal schockiert, eine Blechbüchse, einen Nagel, wirren Draht. Kinder, die keinen Engel hatten, mußten das alles weggeworfen haben. Das Ödland endete an einem zweiten Mauerring.
Zu beiden Seiten verlief der verbrannte Streifen um die Mauerkrümmung, aber Bass wußte, daß – setzte er sich nach einer der beiden Richtungen in Bewegung – diese Kurve sich nach etwa einer Meile nach der anderen Seite krümmen würde, so daß er vielleicht an seinen Ausgangspunkt zurückkäme. Glenbrook war eine Insel. Auf den Landkarten war Glenbrook mit seinen Vororten von einer Wellenlinie umgeben, die ungefähr die Umrisse einer verformten Niere hatte oder einem dicken Bumerang glich. Rundherum war ein etwa dreimal so großes weißes Gebiet; dann, nach Nordosten zu, kam Norwalk, mit all seinen Flüssen und Straßen genau eingezeichnet, und im Westen White Plains. Die ganze Landkarte des Kontinents sah so aus: Inseln der Zivilisation in einem Meer von Leere, oder gelegentlich auch große zivilisierte Gebiete mit kleinen weißen Flecken darin; sie waren wie Lepramale. Nach Norden und Süden verdünnte sich die Zivilisation immer mehr; die Karte wurde ganz weiß. Hinter der zweiten Mauer war – unbekanntes Land. Es war entmutigend, daß die andere Mauer so nah war. Irgendwo, vor langer Zeit, hatte er eine Geschichte gehört von einem, der einen Blick hinübergeworfen hatte, als die Mauer von Glenbrook einmal ausgebessert wurde; und die Geschichte war die, daß das Ödland weiterging, immer weiter, ins Unendliche. Aber das konnte selbstverständlich nicht richtig sein; jetzt, da er sich daran erinnerte, wurde es ihm klar, daß er oft vom Gipfel des Hügels aus hinüberge-
schaut hatte, und die Phantomdächer der »anderen« waren so nah gewesen, daß er sie fast hätte berühren können. Jedenfalls war aber Glenbrook jetzt größer als damals in seiner Kindheit; drei oder vier neue Straßen waren an der Peripherie dazugekommen, um der wachsenden Bevölkerung Wohnung zu geben. Vielleicht hatten die »anderen« auf ihrer Seite dasselbe getan, denn es war kaum noch Platz dazwischen für einen weiteren Häuserblock. Die »anderen«: diese fledermausflügeligen Ungeheuer, die sich in Kleider aus Eisen zwängten, um sie niemals abtragen zu können; die ihre eigenen Kinder auffraßen; die in Höhlen wohnten, in die Felsen gegraben mit den Zinken ihrer schrecklichen Hände. Bass zögerte, schwankte zwischen einer Bewegung und der anderen. Einen Augenblick lang erschien es ihm unglaublich, daß er überhaupt hier war; was war der ihm wohlbekannte Schrecken, den die Wachen verbreiteten, verglichen mit der tödlichen Leere, die vor ihm lag? Sein Körper hatte sich gespannt, als stünde er an der Kante eines Abgrundes, zum Sprung bereit. Widerwillig tat er den ersten Schritt vorwärts. Dann den nächsten. Graue, flockige Asche stäubte unter seinen Füßen auf, als er dahinschritt. Schwarze Schlacke beschmutzte seine Schuhe und die Aufschläge seiner Hose. Etwa auf der Hälfte des Weges ging die Ödfläche in einen Hügel über; als er ihn hinaufstieg, erschien über der Mauer vor ihm ein graues Dreieck. Je näher er kam, desto mehr wuchs dieses Ding über die Mauer hinaus; er beobachtete es so unausgesetzt, daß er nichts von dem bemerkte, was rechts und links von
ihm vorging, bis er fast die Mauer erreicht hatte. Es waren schräge, braune Flächen, und sie sahen wie Hausdächer aus. Das Dreieck in der Mitte konnte leicht die Rückseite eines Hauses sein; Bass täuschte sich nicht. Das waren sicher Teile einer Scheinanlage, die die »anderen« aufgebaut hatten; offensichtlich waren es aber nicht nur einfache Bilder, die man auf Leinwand gemalt hatte, wie Bass immer halb bewußt angenommen hatte; es konnte irgendein leichtes Flechtwerk sein, so angemalt, daß es aus einer gewissen Entfernung wie Häuser wirkten mochte. Aber das war jetzt nicht weiter wichtig. In wenigen Augenblikken würde er jenseits der Mauer sein, auf dem Gelände dieser Scheinanlage. Und er würde Dinge zu sehen bekommen, die zu sehen keinem Menschen bestimmt waren. Auch am Fuß dieser Mauer war allerhand Unrat verstreut. Bass erlaubte sich nun kein Zögern mehr. Er kletterte, ohne zu ermüden auf die zusammengebrochenen Reste eines Fasses, erklomm die Mauerkrone und ließ sich hinunterfallen. Er stand in einem Hof. Der nackte Boden war mit gelbem Gras bewachsen, das unter einer Wäscheleine zusammengetreten und glatt war. Dahinter stand ein Haus, eine gedeckte Veranda mit Hacken und Rechenstielen, die dagegen lehnten, ein schwärzliches Obergeschoß, fensterlos auf der Giebelseite; ein Gartenschlauch ringelte sich um eine Pumpe in der Ecke. Es war in allen Einzelheiten eine genaue Nachbildung jenes Hauses, das auf der anderen Seite der Mauer in Glenbrook stand. Links und rechts hinter
den niederen Hecken sah Bass andere Häuser, gleich prosaisch, gleich vertraut. Eine gelbe Tigerkatze stand unter einem Busch auf und streckte sich genießerisch. Bass zog sich nervös an die Mauer zurück. Die Katze zögerte einen Moment, hob eine Vorderpfote, kam zu ihm herüber, rieb ihren Kopf an seinen Beinen und schnurrte laut. Bass schaute sie an. Katzen, überlegte er, hatten keine Engel; und es wäre ein bezauberndes Tier, das nicht einmal eine Mauer von zwei Yards Höhe überklettern konnte. Der Gedanke, er habe vielleicht gerade dieses Tier in den Straßen Glenbrooks gesehen, ohne daß er ahnte, woher es gekommen sein mochte, war eigenartig. War es denn wirklich eine Katze? Wenn dieses Haus kein Haus war, dann konnte der Gartenschlauch vielleicht eine Schlange sein, und die Katze ein – Vorsichtig zog er sich zurück. Sie folgte ihm ein paar Schritte weit, setzte sich dann und leckte sich die Brust. Bass schlich leise zur Vorderseite des Hauses und blieb nach jedem Schritt stehen, um zu lauschen. Nichts war zu hören. Er schaute durch ein Küchenfenster und sah einen langen, leeren Tisch mit Stühlen von einem etwas eigenartigen, verwirrenden Stil. Im dunklen Wohnzimmer bemerkte er die rechteckigen Umrisse eines Sofas und etlicher Lehnstühle, den fahlen Schimmer eines an der Wand hängenden Bildes. Kein Schritt, kein Stimmengemurmel. Das Haus war leer. Auch die Straße war leer. Haus stand neben Haus, eines sah wie das andere aus, die ganze Straße ent-
lang, die sich in der Ferne verjüngte. Die eine Straßenseite war vom letzten Sonnenlicht erhellt, im dünnen Zwielicht verdämmerte die andere. Bass wandte sich nach links und folgte dem endlosen Schatten bis dorthin, wo es ganz dunkel war. Es erschien ihm unfaßbar; wenn er immer so weiterginge, dann müßte er doch Glenbrook umrunden, um nach Osten zu gelangen. Dann konnte er sich nach Norden der Küste zuwenden, Nahrung stehlen, in Gräben schlafen, bis er nach Boston kam. Das wäre zwar selbstverständlich nicht so ideal wie Los Angeles, aber sicher konnte er dort auch ein Schiff finden, das irgendeinen mittelamerikanischen Hafen anlief, dann den Kanal passierte und in den Pazifik auslief. In seiner Aufregung vergaß Bass, daß es ja im Land der »anderen« keine Nahrung zu stehlen gab, daß die »anderen«, diese menschgewordenen Dämonen, nur Schmutz, rostiges Eisen und ihre eigenen Nachkommen verzehrten. Er schritt rascher aus auf der menschenleeren Straße. Dunkelheit, Stille und die unbeschwerte Bewegung seines eigenen Körpers verliehen ihm ein solches Gefühl von Sicherheit, daß er, als er das Ende der Straße erreichte, wo sie auf den Mauerbogen traf, alle Vorsicht außer acht ließ. Er wandte sich nach rechts in eine andere dämmrige, leere Straße. Er pfiff sogar, als zwei Dinge geschahen, gerade bevor er die fünfte Straßenecke erreichte: Die Straßenbeleuchtung flammte auf. Drei groteske menschliche Karikaturen kamen aus der Querstraße heraus, warfen einen Blick über die Schultern und sahen ihn – Für eine unbestimmte, unmeßbare Zeit konnte Bass sich nicht bewegen. Unter dem Licht der Straßenlam-
pen sah er die bebrillten Pergamentgesichter der drei, scharf gezeichnet, wie gemeißelt. Er sah ihre Münder, die sich zu großen, schwarzen »O's« formten; er hörte ihre Schreie. Dann rannten, völlig unerwartet, zwei von ihnen weg, Hampelmannfiguren, deren schwarze, ovale Schatten sich die Straße entlang davontrollten, und der dritte lag ruhig auf dem Pflaster an der Ecke. Die zwei laufenden Gestalten waren verschwunden. Bass hörte nur noch ihr Gekreische, das sich immer weiter entfernte, dann war Stille. Er verstand gar nichts. Wie angewurzelt blieb er stehen, er hatte nur ein ganz automatisches, dringendes Bedürfnis, sich umzuwenden und nach der anderen Seite zu verschwinden, aber es gelang ihm doch noch zu überlegen: Weshalb sollten Dämonen vor ihm davonlaufen? Der dritte Dämon lag noch immer dort, wohin er gefallen war. Vorsichtig, schrittweise, nähere Bass sich ihm. Er war wie die anderen beiden in phantastische Kleider gehüllt, in einen grünen, befransten Umhang, und dazu trug er Schuhe mit Kalbslederschäften, plumpes Zeug, das aussah wie ein nach außen getragenes purpurfarbenes Hemd, eine grün und safrangelb gestreifte Hose. Eine Krücke mit einem dick gepolsterten Stützbügel lag neben seiner ausgestreckten Hand auf dem Pflaster. Die Gestalt des Wesens war fast menschlich. Ein Zipfel des Umhangs war seitlich über den Kopf geschlagen und beschattete das Gesicht, aber Bass bemerkte die gebogene Altmännernase und den verkniffenen Mund. Die Augen waren fest geschlossen.
Das Wesen atmete. Bass hörte deutlich das laute, pfeifende Einatmen, dann folgte eine lange Pause und schließlich ein schnarchendes Keuchen, wenn es den Atem von sich blies. Vorsichtig stieß er mit dem Fuß daran. Das Wesen quiekte und zuckte zusammen. Bass sah Augen schimmern, als sie sich für einen Moment öffneten. Also war es wach. Unentschlossen, bereit, davonzulaufen, wartete Bass, bis er bis fünf gezählt hatte, dann stieß er noch einmal zu, diesmal ein wenig nachdrücklicher. Wieder zuckte das Wesen zusammen, und die matte Stimme eines alten Mannes flüsterte etwas. Die Worte konnte er nicht verstehen. Er beugte sich hinunter. »Was?« fragte er. Wieder vernahm er die Stimme, und diesmal glaubte Bass, verstanden zu haben. In einer häßlichen, undeutlichen und verzerrten Parodie des Glenbrookschen Verbraucheridioms sagte der Dämon: »Oh, Unendlicher, hilf uns – ich kann es nicht ertragen –, laß nicht zu, daß das schmutzige Wesen mich berührt.« Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger verstand Bass. Er fühlte ein Prickeln das Rückgrat entlanglaufen, und wieder verspürte er den Wunsch, ganz einfach davonzulaufen, diesmal noch stärker als vorher. Er kämpfte ihn nieder. Das Bewußtsein von Gefahr war nicht abzuleugnen, es war so klar und eindeutig wie die Wahrnehmung von Hitze oder Druck – aber die selbstverständliche, automatische Reaktion konnte falsch sein. Vor einem Feuer oder einem Schlag konnte man davonrennen, aber nicht vor einer Widersinnigkeit. Es wurde Bass plötzlich ganz
klar, daß dieses Gefühl von Gefahr, das ihn beherrschte, zwanzig Jahre zu spät kam. Er war wie ein Blinder gewesen, der sein ganzes Leben lang auf einem dünnen Drahtseil gelaufen war und es erst jetzt bemerkte. Völlig bewußt schob er in einer gewaltigen Anstrengung alle seine Vorurteile beiseite. Er stand auf einem Gehsteig unter einer Straßenlampe, und zu seinen Füßen lag – ein Mensch, der allem Anschein nach halb gelähmt war vor Schreck und Angst. Wieder beugte er sich über die ausgestreckte Gestalt. »Wer bist du?« fragte er. Die schwache Stimme flüsterte: »Oh, Unendlicher, ich kann –« »Beantworte meine Frage«, befahl Bass scharf, »dann werde ich dir nichts tun. Wer bist du?« Eine lange Pause. »Nur der alte George Parsons«, antwortete zögernd die Stimme, »der niemals einem Menschen etwas zuleide getan hat. Nur der alte George ...« »Warum hast du Angst vor mir?« Die Augen des Wesens öffneten sich ungläubig und kniffen sich wieder zusammen. »Du bist ein Dämon«, flüsterte er schließlich matt. Bass fühlte, wie sein Kopf nahe am Zerspringen war. »Woher willst du das wissen?« Wieder begann das Wesen zu plappern. Bass stieß es fest mit dem Fuß an. »Woher weißt du das?« Der alte Mann stieß einen lauten Schrei aus. »An deinen Kleidern. Oh, Unendlicher im Himmel, hilf uns!« Die Zeit schlich dahin, als Bass auf den sich win-
denden Körper hinuntersah. Du wirst einen menschgewordenen Dämon an seinen Kleidern erkennen ... Zögernd, vorsichtig nahm Bass einen Zipfel vom Umhang des alten Mannes zwischen Zeigefinger und Daumen. Er war nicht aus Eisen, es war weiches Gewebe. Für dich bin ich ein Dämon, dachte er bestürzt, und für mich ... Dann hörte er die Sirenen, leise zuerst und weit weg aus der Richtung, in die die beiden anderen Gestalten verschwunden waren; es war fast enttäuschend. Gefahr war kein Ereignis, sie war ein Lebenselement. Sie breitete sich um ihn aus – eine ruhende Strömung, ein lautloser Schrei –, bis zu den entferntesten Grenzen seines Universums. Bass hatte damit nichts zu tun; sein Körper bewegte sich ganz von selbst. Er beobachtete sich mit einer Art unpersönlichem Interesse, während seine Finger dem alten Mann den grünbefransten Umhang abstreiften, die Bänder der kalbsledernen Schuhe lösten, ihm die grün und safrangelb gestreiften Hosen auszogen. Der alte Mann jammerte und zitterte. Die Sirenen kamen näher – zu nahe. Bass rollte die Kleidungsstücke zusammen und klemmte das Bündel unter den Arm. Dann rannte er, so schnell er konnte, die nach rechts führende Straße hinunter, weg von den Sirenen, die immer lauter hinter ihm aufheulten. Etwa auf halber Höhe des Häuserblocks wandte er sich abrupt um und hetzte über den Rasen in die Dunkelheit zwischen zwei Häusern. Er lief weiter, erreichte die Rückseite eines Hauses, wandte sich nach rechts, überquerte einen dunklen Hof, brach durch eine Hecke, durch noch eine und noch eine, bis der Schimmer einer Straßenlaterne ihn aufhielt; er war
am Ende des Blockes angelangt. Einen Augenblick lang blieb er stehen und lauschte. Die Sirenen hinter ihm hatten zu heulen aufgehört; zu seiner Linken, weit weg, glaubte er andere zu hören, die sich aus der wirren Mischung anderer Geräusche abhoben. Vorsichtig tat er einen Schritt, spähte nach links und rechts; er setzte gerade zum nächsten Schritt an, als das rote Aufblitzen von Metall an der Ecke seinen Blick fing. So flach er konnte, drückte er sich an die Hausmauer. Der rote Wagen huschte leise vorbei und verschwand. Irgendwo hinter ihm an den Hecken war ein leise zischender Laut zu vernehmen, dann das unverwechselbare Brechen eines Zweiges. Das Herz klopfte ihm, als wolle es sich von seinen Rippen lösen. Er schob sich um die Hausecke, ängstlich bemüht, nicht mehr Schatten unter dem Licht der Straßenlampe zu werfen, als unbedingt nötig war, tat zwei lange Sprünge nach rechts, und dann rannte er, was er konnte, geradeaus über die erschreckend leere Straße. Vor Erleichterung wurden ihm die Knie schwach, als er die andere Straßenseite sicher erreicht hatte, aber zwei Minuten später mußte er eine weitere Straße kreuzen, dann noch eine. Gerade bevor er die dritte Straße erreichte, huschte einer der roten Wagen an der hellerleuchteten Lücke vorüber. Einen Augenblick später hetzte er über die Straße. Die Frage war nun die, so überlegte er, wann er sich so sicher fühlen konnte, daß er lange genug im Laufen innehalten konnte, um in die Kleider des »Dämons« zu schlüpfen. Und wie lange durfte er noch damit warten?
Er kroch durch zwei Hecken und bemühte sich, jeden Laut zu vermeiden; dann blieb er stehen, hielt den Atem an und lauschte, bis er bis zehn gezählt hatte. Kein Geräusch aus der Nähe, nur ganz in der Ferne das Heulen der Sirenen, vermischt mit anderen Geräuschen, die vom Osten her zu ihm drangen. Er ließ sein Bündel zu Boden fallen; mit fiebrigen Händen zerrte er Tasche, Mantel und Jacke von seinem Körper, streifte seine Armreife und Ringe ab und schließlich – er schämte sich beinahe, es zu tun – seine Hosen. Rasch schlüpfte er in die weiten Beinkleider des alten Mannes, bei deren Berührung mit der bloßen Haut er ein Gefühl von Übelkeit niederzukämpfen hatte, und legte endlich den Umhang um. Er hob einen Schuh auf und kniete nieder, um nach dem zweiten zu greifen. Er fand ihn nicht; irgendwo mußte er ihn verloren haben, ohne es zu bemerken. Nun, das war nicht schlimm. Die Schnürung war sowieso viel zu kompliziert und hätte viel Zeit in Anspruch genommen. Halb unbewußt zog er das Hemd aus dem Hosenbund, so daß es über der Hose hing; das war zwar nur eine recht kümmerliche Nachahmung des lose hängenden roten Kleidungsstückes, das der alte Mann getragen hatte, aber es mußte eben so gehen. Seine auf dem Boden verstreuten Schmuckstücke hob er auf und stopfte sie in seinen Beutel, rollte diesen in Mantel, Jacke und Hosen. Leise schlich er an der Rückwand eines Hauses entlang, fand ein offenes Fenster und warf das Bündel hinein. Nun, das war also in Ordnung. Nach einem Moment des Zögerns zwängte er sich durch die Hecke zu seiner Linken. Sein Instinkt be-
fahl ihm, die zuerst eingeschlagene Richtung beizubehalten, aber dann mußte er ja geradewegs wieder auf die Mauer treffen. Also mußte er sich nach Osten wenden, um aus diesem teuflischen Territorium wieder herauszukommen, denn es war auf drei Seiten von Glenbrook eingeschlossen. Aber gerade aus dieser Richtung waren die Sirenen gekommen – Dieser Gedanke verursachte ihm Übelkeit, aber er bewegte sich so rasch vorwärts, wie er in diesem Dämmerlicht nur wagen durfte. Die nächste Straße war leer; er wartete trotzdem eine Weile, bevor er zum Sprung ansetzte, um sie zu überqueren. Die Adern an seinem Hals klopften heftig. Gerade als er an der Ecke angekommen war, trat ein Mann in roter Uniform aus dem Schatten der anderen Straßenseite. Bass blieb wie angewurzelt stehen, als er den unverständlichen Ruf des Mannes hörte und Metall in dessen erhobener Faust aufblitzen sah. Bass wirbelte herum und versuchte, den Keller des Hauses in seinem Rücken zu erreichen, hielt aber plötzlich, hoffnungslos, ein. Es war zu weit. Das war nun fast eine Falle. Er mußte stehenbleiben, wo er stand, und hoffen, daß sein Bluff, die Dämonenkleidung, ihn retten würde. Mit eigenartig steifen Bewegungen kam der Mann in der roten Uniform auf ihn zu. Die Waffe hielt er starr auf Bass' Körper gerichtet. Mit der anderen Hand nahm er ein winziges Instrument aus dem Gürtel, sprach ein paar Worte hinein und steckte es wieder zurück, ohne auch nur für einen einzigen Moment Bass aus den Augen zu lassen. Zwei Yards entfernt blieb er stehen.
Von der häßlichen Farbe abgesehen, glich die Uniform des Mannes fast aufs Haar jener der Wächter, angefangen von der flachen Mütze mit der Halbmaske bis zu den polierten Schienbeinschützern und den schweren Stiefeln. Bass' Herz tat einen schmerzvollen Schlag, als er den wesentlichen Unterschied erkannte: Auf jedem der glänzenden Köpfe sah er statt des ihm vertrauten »GP« ein anderes Signum, das gleiche, das er schon einmal in Direktor Wootens Büro gesehen hatte: »U/M«. Er hätte gern überlegt, was diese Komplikation zu bedeuten hatte, aber dazu blieb keine Zeit. Das Bewußtsein von Gefahr, vorher schon quälend, war jetzt zu einer unerträglichen Gewißheit geworden, und einen Moment später wurde ihm auch klar, weshalb. Dieser Pseudowächter hatte ihm keine einzige Frage gestellt. Unter der roten Halbmaske waren die Lippen des Mannes zu einer dünnen, blassen Linie zusammengekniffen. Sein ganzer Körper war gespannt, der Zeigefinger lag mit weißem Knöchel um den Abzug. Verzweifelt konzentrierte sich Bass auf die Erinnerung an des alten Mannes Stimme, die undeutlichen Vokale, die harten Konsonanten, den Rhythmus seiner Sprache. So gut es ihm möglich war, ahmte er ihn nach und sagte: »Bitte, Sir, was habe ich denn getan? Ich bin George Parsons, jeder kennt mich –« Der Wächter machte eine scharfe, ruckartige Bewegung mit seiner Waffe. »Mund halten!« schnauzte er ihn an. Ein rotes Auto rollte lautlos um die Ecke, näherte sich bis auf etwa zwölf Yards und hielt dann an. Beinahe im gleichen Augenblick erschien ein weiteres
aus der entgegengesetzten Richtung. Rot uniformierte Männer stiegen aus und bewegten sich übertrieben vorsichtig auf ihn zu, die Waffen in den Fäusten. Jeder einzelne von ihnen starrte, ohne auch nur zu blinzeln, Bass an, nicht einmal dann, wenn sie miteinander sprachen, warfen sie sich einen Blick zu. Einer rief: »Gibt's hier Schwierigkeiten?« Seine Sprechweise war so derb wie die der anderen. Das war für Bass nicht neu, er kannte sie von vielen Gelegenheiten, denn die Wächter von Glenbrook sprachen kaum anders. »Bis jetzt nicht, Sir«, antwortete der erste Wächter. »Es versuchte, mit mir zu sprechen, aber das habe ich ihm schon abgewöhnt.« Der Ring der Männer schloß sich enger um ihn. »Was hat es denn gesagt?« wollte einer von ihnen wissen. Der erste zuckte die Achseln. »Wollte mir weismachen, es sei ein Mensch.« Eine Welle von Abscheu durchlief den Kreis der Männer. Blitzschnell überlegte Bass und entdeckte, daß er sich selbst etwas vorgemacht hatte. Sie vermuteten nicht nur, daß er ein »Dämon« sei, hinter dem sie her waren, sie wußten es. Aber wie konnten sie das wissen? Sein Hemd war völlig von dem grünen Umhang verdeckt; die Schuhe sahen ein wenig anders aus, aber bestimmt war der Unterschied nicht so groß, und unter den Aufschlägen – »Mit dieser Mütze auf dem filzigen Kopf!« sagte der erste mit beklommener Stimme. Automatisch hob Bass die Hand eine Spanne hoch und ließ sie dann sofort wieder sinken. Natürlich, dachte er, und es war
ihm fast übel dabei, das war es. Der alte Mann hatte keinen Hut getragen, aber er erinnerte sich nun daran, daß die beiden anderen, die bei seinem Anblick davongerannt waren, hohe Gebilde auf den Köpfen getragen hatten. Und er selbst hatte noch immer seine flache, achteckige Glenbrooker Mütze auf – er war so sehr daran gewöhnt, daß er sich ihrer gar nicht mehr bewußt, daß sie ein Teil seines Körpers war. Ein weiterer roter Wagen fuhr heran, und dann noch einer. Der Ring der Männer wurde dichter. »Gut, wir können jetzt anfangen«, sagte einer. »McGovern, wir nehmen deinen Wagen. Du und Clintock, ihr beide fahrt dann mit einem anderen zurück.« Sie bildeten ein Spalier, das zur offenen Hintertür eines Wagens führte. Bass gab jede Hoffnung auf, als er die Reihe entlangschritt.
6 Drei Männer kletterten auf die Vordersitze, zwei davon drehten sich sofort nach hinten um. Jeder der beiden legte den dünnen, blauen, stählernen Lauf einer Waffe auf die Lehne des Sitzes und zielte auf Bass. Ein vierter Mann stieg von rechts auf den Rücksitz und lehnte sich an die Seitenstützen. Seine Waffe war anders als die der beiden Männer auf den Vordersitzen, irgendwie vertraut – eine Gas-Schrotpistole mit kurzem Lauf, der aus einem breiten, ovalen Gehäuse hervorragte. Alle vier hatten winzige Sauerstoffpatronen in die
Nasenlöcher gesteckt. Sie gingen kein Risiko ein, überlegte Bass. Die beiden auf den Vordersitzen neben dem Fahrer hatten tödlichere Waffen als Gaspistolen, vielleicht großkalibrige Revolver; er hatte gehört, daß die Wächter von Glenbrook solche Waffen besaßen, wenn er sie auch noch niemals gesehen hatte. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, den Mann auf dem Rücksitz zu überwältigen – der einzige in seiner Reichweite – und ihm die Waffe abzunehmen, würde es ihm nichts nützen. Machte er auch nur eine einzige verdächtige Bewegung zum Fahrer oder zu den anderen beiden auf den Vordersitzen, so würde der Mann hinten ihn unter Gas setzen. Draußen nahm ein Wächter einen Schlüssel vom Fahrer entgegen und kam nach hinten, um die Tür abzusperren, durch die Bass eingestiegen war. Bass wandte den Kopf, um ihn zu beobachten. »Augen nach vorn!« befahl der Mann mit der Gaspistole. »Hände in den Schoß und keine Bewegung!« Bass gehorchte. Ich habe keine Möglichkeit, überlegte er. Drei bewaffnete Männer – die Tür neben mir abgesperrt –, sie verbieten mir sogar, den Kopf zu bewegen oder die Hände zu rühren – Sie haben Angst. Dieser Gedanke war eigenartig erregend. Die Angst und der Respekt der drei bewaffneten Männer um ihn, der unbewaffnet und ohne Verteidigungsmöglichkeit in ihrer Mitte saß, waren fast mit Händen zu greifen. Halb unbewußt zuerst, dann absichtlich, reagierte Bass darauf: Er setzte sich aufrechter hin fühlte, wie seine Muskeln von den Füßen bis zu den Schultern sich spannten; er sah das starre, steinerne
Glitzern ihrer Augen hinter den Masken. Seine eigenen Augen kniffen sich fast unmerklich zusammen, die Lippen kräuselten sich ein wenig wie in spöttischer Belustigung. Sie reagierten so, als habe man sie geschlagen; sie zuckten sichtbar zusammen, die Finger schlossen sich enger um den Abzug der Waffen, und als er das bemerkte, überspülte Bass wieder eine Welle von Hoffnungslosigkeit. Es war ganz gleich, was sie dachten: Tatsache war, daß er hoffnungslos in der Falle saß allein, unbewaffnet, ohne Freund. Und man würde ihn töten. Der Wagen fuhr an. Aus dem Augenwinkel bemerkte Bass zu seiner Rechten einen anderen Wagen, der sich auf gleicher Höhe hielt; vor ihnen fuhr ein weiterer. Das waren schon drei. Der vierte würde wahrscheinlich hinter ihnen dreinfahren. Also hatte er keine Chance. Sie bogen nach Süden ab, dann an der nächsten Ekke wieder nach Osten. Fast unmerklich stieg die Straße ein wenig an, bis sie schließlich einen steilen Hügel hinauffuhren und die Wächter auf den Vordersitzen so auf Bass hinuntersahen, als säßen sie auf einer Leiter. Fünf Querstraßen, zehn, fünfzehn. Die Geräusche, die Bass zuvor gehört hatte, kamen nun näher: Schreie, Fetzen von Musik, alles vermischt zu einem einzigen mißtönenden Lärm. Einer der Männer auf den Vordersitzen gab eine Laut des Ekels von sich. »Fahr über Du-Pont nach Hoyle«, gebot er dem Fahrer. »Sieh zu, daß du außen herumkommst.« Der Fahrer drückte auf eine Reihe von Knöpfen auf dem Armaturenbrett und wiederholte den Befehl. Der vorausfahrende Wagen bog gehorsam nach
rechts um die nächste Ecke. Mit einer Anstrengung, die ihn in ihrer Intensität erschütterte, zwang Bass seinen Geist aus der betäubenden Lähmung frei. Es mußte doch etwas geben, was er tun konnte – jetzt, während er wenigstens noch etwas Handlungsfreiheit hatte. Er mußte sie haben – und wenn auch diese Männer nur dachten, er hätte sie. Von zwei Tatsachen konnte er ausgehen; erstens: unglaublich zwar, aber trotzdem richtig – diese Welt und die, die er verlassen hatte, waren genaue Spiegelbilder. Die Menschen, die angsterfüllt bei seinem Anblick geflohen waren, hatten genauso gehandelt, wie er selbst gehandelt haben würde, hätte er sie in Glenbrook gesehen. Die kleinen Leute einer jeden Welt glaubten, daß die andere von Ungeheuern bewohnt sei; und jede Seite hatte auf schreckliche, tragische Weise unrecht. Das gewöhnliche Volk – nicht die Ausführungsorgane, die Lagerverwalter – dachte so. Es konnte nicht purer Zufall sein, daß Laudermilk in Glenbrook ihm das gleiche Warenzeichen gezeigt hatte, das, wie er bemerkt hatte, auf der anderen Seite benützt wurde. Dieser doppelte Betrug war absichtlich ins Werk gesetzt, absichtlich aufrechterhalten mit all dem ausgefeilten Mechanismus des Ladens und des Staates, aus Gründen, die Bass sich nicht vorstellen konnte. Zweitens: Trotz ihrer ungeheuren Macht waren die Wächter genauso unwissend wie die Verbraucher. Das war logisch, selbst wenn diese Tatsache den Wächtern bei einem Zusammentreffen mit Leuten wie Bass etwas von ihrer Wirksamkeit nahm – und solche Fälle mußten selten bleiben; kein »Dämon«
hatte, soweit ein lebender Mensch sich daran erinnern konnte, die Mauer nach Glenbrook überstiegen. Ein Geheimnis wie dieses mußte gut bewahrt werden, oder es konnte niemals ein Geheimnis bleiben. Weniger wirksam – Das war der Schlüssel, erkannte Bass, und diese Erkenntnis war aufwühlend. Weniger wirksam – wie – und weshalb! Die offensichtliche Antwort darauf war: weil sie sich vor ihm fürchteten. Aber die Überlegung eines Augenblicks genügte, ihm zu zeigen, daß das durchaus keine Antwort war. Sicher, sie fürchteten sich – genau wie ein Löwenjäger einen Löwen fürchten mochte. Es waren mutige, durchtrainierte Leute, stolz auf ihren ererbten Ruf, hart bis zur Gewalttätigkeit. Wenn er sie angriff, eine einzige drohende Bewegung machte, mochten sie vielleicht erschrecken. Aber sie würden ihn jedenfalls erschießen. Und was noch? Bass erinnerte sich plötzlich an das, was sie getan hatten, als sie ihn stellten: keiner von ihnen hatte sich ihm auf mehr als zwei Yards genähert, bis er im Wagen war; und hernach hatte sich der eine Wächter auf dem Rücksitz so weit wie möglich von ihm ferngehalten. Vorsicht – oder Schwäche? Nicht Vorsicht. Sie hätten ihm die Hände hinter dem Rücken fesseln können. Sie hätten ihn bewußtlos schlagen, ihm die Arme und Beine mit soviel Draht umwickeln können, daß es für einen Elefanten gereicht hätte. Sie hätten ihn nach Waffen und anderen Beweismitteln durchsuchen können. All das wäre vernünftig gewesen, und sie hätten es
eigentlich tun müssen; aber sie hatten nichts von alledem getan. Und weshalb? Vielleicht, weil all das sie gezwungen hätte, ihn oder seine Kleidung zu berühren – seine Glenbrooker Kleidung; seine Mütze zum Beispiel, mit dem im Stoff eingewebten Zeichen »GP«. Und das, überlegte Bass und erinnerte sich an einen gewissen roten Kunststoffbeutel, wäre unmöglich gewesen. Schmerzhaft rasch schlug ihm das Herz gegen die Rippen. Wenn es ihm nur gelänge, einen jeden der drei Männer mit irgendeinem Stück seiner Kleidung zu berühren, rasch und gleichzeitig, dann mochte der Schock ihre Reaktionen verlangsamen, wenigstens für die eine Sekunde, die er brauchte, um sich an dem Mann mit der Gaspistole vorbeizudrücken, die rechte, unverschlossene Tür zu erreichen und zu verschwinden. Sie bogen wieder um eine Ecke und fuhren in östlicher Richtung weiter, einen anderen Hügel hinauf. Die Menschenmenge lärmte noch lauter. Zwei Punkte in seinem Programm stimmten nicht, überlegte Bass aufgeregt. War die rechte Tür wirklich nicht abgeschlossen? Er glaubte dessen sicher sein zu können, daß sie wirklich nicht abgesperrt war, und es erschien ihm einfach unmöglich, daß ihm etwas so Wichtiges entgangen sein konnte. Auf eine etwas verdrehte Weise mochte es auch vernünftig sein: Eine Tür hinten mußte unverschlossen bleiben, so daß die Leute aus den anderen Wagen zu ihm gelangen konnten, falls er die vier Männer in diesem Wagen zu überwältigen versuchte. Aber wenn er sich nun irrte – Und dann noch: Die drei Wächter müßten alle zusammen im gleichen Moment bewegungsunfähig
gemacht werden – und das war wenig wahrscheinlich. Selbst wenn sie ihm Zeit ließen, sich in aller Ruhe der verdächtigen Kleidungsstücke zu entledigen und sich die Waffe auszusuchen, die er brauchte – er hatte keine drei Arme – In dieser Überlegung wurde er unterbrochen, als sie den Scheitelpunkt des Hügels erreichten und in das Lärmzentrum hineinfuhren. Am Ende des nächsten Blocks war die Straße von einer ständig hin und her flutenden Masse singender, rufender, schreiender Menschen erfüllt. Bass schluckte krampfhaft. Die Wagen mußten langsam fahren, wenn sie diese Menge durchqueren wollten, sagte er sich in halber Betäubung, und dadurch würde die Aufmerksamkeit der Wächter abgelenkt werden. Das war zwar nicht viel, aber mehr konnte er nicht erwarten. Für Überlegungen hatte er jetzt keine Zeit mehr. Er mußte blitzschnell handeln. Die Sirene des vorausfahrenden Wagens begann erst zaghaft, dann nachdrücklich aufzuheulen; einen Augenblick später fielen die der anderen drei ein. Als der erste Wagen in die Menge hineinfuhr, bemerkte Bass, daß der rechtsfahrende Wagen zurückblieb. Dann waren sie mitten drinnen; widerwillig teilten sich die Massen, um den ersten Wagen durchzulassen, und fluteten dann wieder zusammen. Langsam wurde die Bahn frei. Rote, starrende Gesichter bewegten sich an den Fenstern vorbei, erhobene Arme winkten wie ein Wald schräg-verrückter Banner; feuchte Münder waren weit aufgerissen. Das Getöse war nicht mehr als Lärm wahrzunehmen. Bass empfand es als hartes, schmerzhaftes Vibrieren, verstärkt
von dem Heulen der Sirenen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Den Wächtern ging es um kein Haar anders; ihre Körper waren unnatürlich versteift, die Augen starr hinter den Masken, die Lippen blutleer und verkniffen. Ein unerträglicher Druck lastete auf ihnen – Bass bewegte sich. Sein Körper war zum Sprung nach rechts vorn gespannt, seine Muskeln wölbten sich, um sein Gewicht aufzunehmen, als seine Rechte sich zur Mütze bewegte, sie packte und mit dem Schwung der Armbewegung den beiden Männern auf den Vordersitzen ins Gesicht schlug. Die Zeit schien zu gefrieren. Bass sah die Blitze aus den Mündungen der beiden Waffen und verspürte einen Schlag an seiner rechten Seite, der ihn, halb aufgerichtet, nach rückwärts warf, dem dritten Mann entgegen. Einen Augenblick lang schob sich ein grauer Schleier vor seine Augen, aber er sah das Gesicht des dritten Mannes, die Zähne glitzerten im erstaunt aufgerissenen Mund, bevor die geschwungene Mütze sie verdeckten. Dann stemmte er sich gegen die Tür, und seine Fäuste hämmerten auf den Riegel. Die Tür öffnete sich, und er taumelte auf die Straße hinaus. Der Lärm überfiel ihn wie ein Schlag, Farben stürzten auf ihn ein, und eine betäubende Welle von Schmerz spülte über ihn hinweg. Hustend und rutschend versuchte er vergeblich, sein Gleichgewicht zu halten. Er wand sich durch die Menge, stieß mit einem Körper zusammen, den er nur verschwommen sah, dann prallte er auf einen anderen; seine Hände klammerten sich an Stoff; er hielt sich verzweifelt daran fest, bis ihn die nachdrückende Menge in eine andere Richtung schob.
Hinter ihm röhrte ein dumpfer Ton über die irre Menge. Ein Chor von Schreien brüllte auf: Schreie echter Furcht und Todesangst, nicht Hysterie. Blind schob Bass sich vorwärts und klammerte sich an den enggedrängten Körpern fest, die ihn aufzuhalten versuchten, schob sie zur Seite und quetschte sich an ihnen vorbei. Der Schmerz in seiner Seite war nicht mehr als ein dumpfes, kaum wahrnehmbares Gefühl, aber seine Augen tränten, und der Husten schüttelte ihn so, daß er kaum atmen konnte. Irgend etwas schlug ihm betäubend gegen die Stirn, und er fiel zu Boden, seine Fingernägel kratzten über eine ebene, rauhe Oberfläche, die nur eine Ziegelmauer sein konnte. Dort lag er nun, der Kopf schwirrte ihm, und seine Gedanken liefen in winzigen, quälenden Kreisen von Schwäche und Schmerz, bis ihn ein bohrendes, mahnendes Gefühl wieder auf die Füße trieb. Er lehnte sich an die Wand und holte tief Atem, bis ihm so übel wurde, daß er sich nach vorn beugte und erbrach. Als er sich wieder aufrichtete und die Tränen von seinen Augen trocknete, war sein Kopf klarer, und er konnte wieder sehen. Zweimal hatte man ihn getroffen, erinnerte er sich; einmal mit Gasschrot, das andere Mal mit einer richtigen Kugel. Aber er war zu schnell gewesen, und er hatte von dem Gas nur wenig abbekommen. Auch die Wunde an seiner Seite konnte nicht allzu schlimm sein, denn er spürte sie kaum. Er hatte Glück gehabt ... Aber er mußte in Bewegung bleiben, oder das Glück würde ihn verlassen. Die Menschenmenge wirbelte um ihn herum: Männer in hohen, spitzen Hüten, Frauen mit viereckigen; gefältelte und befran-
ste Umhänge: grün, rosa, orange, lavendelblau; rote glänzende Gesichter und blinde Augen; eine Fahne, die vorüberschwebte. Er konnte einen Blick auf die Inschrift werfen: »Nicht haben? Wünschen!« Im Geist setzte er den Rest des Mottos dazu: nicht sparen, nicht wünschen. Und jetzt, ganz plötzlich, wußte er, was diese Menge antrieb. So hatte er das früher noch nicht erlebt, obwohl er es allein aus der Art des Lärms hätte erkennen müssen; aber er hatte über genug anderes nachzudenken gehabt – der Unendliche weiß, worüber. Außerdem war in diesem Monat kein Gründergedenktag. Es konnte sich also um nichts anderes handeln als um eine Prozession, und sie war der Höhepunkt jeder Gründertagsfeier, dieser unorganisierte, meilenlange Rattenschwanz, der das Ende fast jeder Prozession bildete. Jeder gehfähige Mann, jede Frau des Distriktes mußte dabeisein, schreiend, trunken von den heiligen Weinen, von Predigten, Liedern, Tanz, Scheinkämpfen und gegenseitiger Aufmunterung – die einzige Erholung, die sie hatten, das einzigemal, bei dem sie sich gehenlassen konnten, Jahr und Jahr, solange sie lebten. Er bewegte sich die Straße entlang, möglichst weit weg von der Einmündung der Seitenstraße, und hielt sich so nahe an der Mauer, wie es nur ging. Solange er sich von der Menge mittragen ließ, überlegte er, war er auch einigermaßen in Sicherheit. Schwankte er, so schwankten auch die Feiernden; sah er böse drein, so taten es auch die anderen; war seine Kleidung schmutzig und unordentlich, war es auch die der anderen. Aber der fehlende Hut konnte ihn verraten ...
Dem half er dadurch ab, daß er kurzerhand dem ihm zunächst stehenden Mann den Hut stahl. Bevor dieser noch Zeit hatte, sich umzudrehen, war Bass in der Menge untergetaucht. Hinter sich glaubte er einen ärgerlichen Schrei zu hören, aber in dem Trubel war er dessen nicht sicher. Natürlich konnte er nicht ewig in dieser Menschenmenge mitschwimmen. Er mußte sie verlassen, bevor es den Wächtern gelang, einen Ring um das ganze Gelände zu bilden und ihn so in die Falle zu bekommen. Er konnte aber auch nicht riskieren, den Trubel an einer der nächsten Seitenstraßen zu verlassen. Ihm schien es fast sicher zu sein, daß die Wächter inzwischen Zeit genug gehabt hatten, überall Leute aufzustellen. Aber es gab noch einen anderen Weg. Das hier war wohl ein Geschäftsviertel. In einigen der ebenerdigen Läden mochten noch Menschen sein, die heiligen Wein und Alkohol ausschenkten, die Nachbildungen des Warenzeichens und andere Devotionalien verkauften, aber die meisten mußten verlassen und – natürlich – unversperrt sein. Nur die Wächter brauchten Schlösser auf dieser Erde, wo Engel die Beachtung der Gesetze erzwangen. Er sah eine Metalltafel, die gerade über den sich drängenden Köpfen angebracht war. Von seinem Platz aus konnte er sogar die Inschrift ziemlich gut lesen. S-T-A. In einem großen Bogen schob er sich näher an die Tafel heran, und nun konnte er auch den Rest entziffern: Stamforder Buchauslieferung. Und darunter stand in kleineren Buchstaben: »U/MGenehmigung Nr. 8 402 331.« Eine Buchhandlung – nahezu vollkommen. Wer würde schon am Tag des Gründers ein Buch kaufen?
Bass schob sich an einer Frau mit zerzausten Haaren vorbei, die schwankend und vor sich hingrinsend vor dem Eingang stand, drehte den Türknopf und verschwand in dem dämmrigen Laden. Das Licht, das von der Straße hereinfiel, reichte nicht weiter als bis zu den ersten Tischreihen. Bass blieb einen Augenblick lang hinter der Schattengrenze stehen und wartete, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten. Neben ihm glänzten die Buchtitel in Goldbuchstaben auf einem mit gleichen Büchern vollgepackten Tisch. Das so oft wiederholte Schlagwort fesselte seine Aufmerksamkeit, als er sich gerade wieder zum Weitergehen anschickte: »... Sicherheit und Überfluß für alle.« Ungläubig starrte er es an. Ein Buch gleichen Titels wurde auch in Glenbrook verkauft, und zwar seit Jahren; es war sogar Pflichtlektüre für die Schulen. Sicher, der Einband war anders – er beugte sich hinunter –, auch der Name des Autors. Das erklärte den Zufall. Aber – Er zögerte einen Augenblick und gab dann auf. Die Vernunft sagte ihm, daß jede Sekunde für ihn unersetzlich kostbar war; trotzdem – diese Frage konnte er nicht unbeantwortet lassen. Er griff nach einem der Bücher und schob es mühsam in die breite Tasche auf der Innenseite des gestohlenen Umhangs. Neben der niederen Hintertür des Ladens sprang ihm ein anderer Buchtitel von einem Regal aus ins Auge: Welttaschenatlas. Seine Finger tasteten schon nach dem Band, aber dann schüttelte er den Kopf und schob sich zwischen den Vorhängen hindurch in den unbeleuchteten Raum dahinter. Die einfachsten Entscheidungen, dachte er betäubt, als er sich zwischen Tischen und aufgestapelten Bü-
chern hindurchtastete, schienen unberechenbar schwierig zu werden. Er hatte ein eigenartiges Gefühl von Körperlosigkeit, und sein Geist schweifte ungehemmt in Phantastereien ab: ein flüchtiger Schimmer von Glorias Gesicht – schön und mit roten Wangen; Dean Horrocks stumpfe, bleichhäutige Finger, die Tabak in die Pfeife stopften; das Gesicht seines Vaters mit den schweren, dunklen Brauen, das er jetzt klarer vor sich sah als seit Jahren. Er erkannte, daß die Wunde schwerer sein mußte, als er geglaubt hatte. Wenn es so weiterging, würde man ihn mit Bestimmtheit wieder einfangen. Aber das schien alles im Augenblick unwichtig zu sein. Nun stand er, und daran war nicht zu zweifeln, in einem Durchgang; er hatte sich eine Mauer entlanggetastet, die sich unendlich lang in der gleichen Richtung fortzusetzen schien, aber er hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war und wohin er sich zunächst wenden sollte. Zwar konnte er klar denken, aber sein Geist schien noch immer irgendwie von ihm abgelöst zu sein – eine kalte, dünne Wolke von Bewußtsein, die sich in eine Ecke seines Schädels zurückgezogen hatte. Wäre nicht der Wundschmerz in seiner Seite gewesen, dessen Pein ihn ständig quälte, so wäre er fähig gewesen, ein Gefühl der Körperhaftigkeit überhaupt abzuleugnen. Er blieb stehen und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Nach welcher Richtung war er gegangen, als er in den Durchgang kam? Er wußte es ganz einfach nicht mehr. Alles war wie weggewischt von dem Moment an, als er in der Mitte des Raumes hinter dem Buchladen gestanden hatte, bis vor ein paar Augenblicken.
Ein neuer, erschreckender Schmerzanfall ... Als er wieder denken konnte, drückte er sich von der Wand ab und bewegte sich mit ausgestreckten Händen vorsichtig vorwärts. Zuerst mußte er sich Gewißheit darüber verschaffen, daß er sich wirklich in einem Korridor befand. Vielleicht war er immer nur im Kreis gegangen, immer nur diesen vier Wänden gefolgt, die er nicht voneinander unterscheiden konnte. Vier Schritte, und seine Finger berührten wieder eine Wand. Er machte eine Bewegung nach rechts und tappte weiter. Drei Schritte, und er spürte unter seinen Fingerspitzen einen gewölbten Spalt. Jenseits dieses Spaltes war eine schmale senkrechte Öffnung, durch die ein schwacher Luftstrom zog. Er tastete nach einem Türknopf und fand ihn. Graues Dämmerlicht blendete seine Augen, als er die Tür öffnete. Dort standen drei kleine Tische, deren Politur matt schimmerte. Ablageschränke, Drehstühle, ein Wandkalender aus glänzendem Papier, dessen Ecken sich aufrollten. Es schien keinen Ausgang zu geben. Überrascht und verwirrt ging er weiter. Das graue Licht wurde gelblich, als er sich auf das Fenster zu bewegte, vor dem zwei leuchtende Kugeln sichtbar wurden. Straßenlampen. Es war im ersten Stockwerk. Irgendwann, während der Zeit seiner halben Bewußtlosigkeit, mußte er eine Treppe hinaufgestolpert sein. Jedenfalls war er auf der richtigen Seite des Gebäudes. Vorsichtig spähte er von der Kante aus durch das Fenster, und er sah, daß die Straße unter ihm völlig leer war. Ein Zeitungsblatt, das sich wie ein Lebe-
wesen drehte und herumwirbelte, fegte über den Gehsteig auf der anderen Straßenseite und verschwand dann plötzlich aus seinem Blickfeld. Irgend etwas stimmte nicht. In dem, was er sah, lag eine undefinierbare, unendliche Bösartigkeit – die verlassene Straße, die leeren Fenster gegenüber, die dampfenden, eckigen Umrisse der Kamine und Wetterfahnen, die sich wie dämmrige Schatten vor dem Himmel abhoben. Was war es, das ihn irritierte – der Himmel? Wie lange war er bewußtlos gewesen? Prüfend sah er den Himmel an. Nein, er war nicht viel dunkler geworden, seit er ihn zuletzt gesehen hatte. Vielleicht hatte seine Bewußtlosigkeit nur wenige Minuten gedauert – gerade lange genug, um zur Treppe zu gelangen, sie hinaufzusteigen und einige Yards den Korridor im Oberstock entlangzugehen. Aber sein Herz klopfte schmerzhaft gegen die Rippen, als er einige Augenblicke später durch das tintenschwarze Treppenhaus zur Straße hinunterstieg. Er tastete sich durch den Flur, durch das vollgestopfte Hinterzimmer in einen größeren Raum, in den ein wenig Licht von den Straßenlampen hereinfiel. An zwei Wänden dieses Raumes standen Maschinen mit Treibriemen. In der Mitte sah er einen langen, niedrigen Tisch, auf dem Reihen und Haufen von Schuhen lagen. Er hielt einen Augenblick inne und überlegte: Hier könnte ich doch leicht ein Paar finden, das mir paßt, und es wäre wert, sich die Zeit dafür zu nehmen, denn ... Aber er wußte gleichzeitig, daß er das doch nicht tun würde. Wenn sein Gesicht, seine Bewegungen, seine körperliche Beschaffenheit ihn nicht ver-
rieten seine Schuhe würden es bestimmt nicht tun. Trotzdem wartete er ein wenig, ganz bewußt, denn er fürchtete sich, die leere, helle Straße zu betreten. Soviel wie möglich hielt er sich im Schatten und schlich zur Tür. Er spähte durch die schmutzige Scheibe. Nichts. Niemand war auf der Straße, so weit er sehen konnte. Nichts rührte sich, nur der taumelnde Tanz von Papier und Abfall im Rinnstein. Niemand stand in den dunklen Eingängen auf der Straßenseite gegenüber. Der Messingtürknopf fühlte sich in seiner schweißfeuchten Hand glitschig an. Er drehte ihn und öffnete die Tür einen Spalt breit. Ein Luftstrom drang durch die schmale Öffnung und brachte das Echo des Lärmes aus der nächsten Straße mit. Er biß die Zähne zusammen und trat auf den Gehsteig. Nichts. Nichts, außer Angst, so dicht, daß er sie fast mit Händen greifen konnte. »Ich bin verwundet«, sagte er zu sich selbst, »verwundet, müde und krank, daher kam auch dieses Gefühl, und das war ganz natürlich.« Jedenfalls konnte es nichts Gefährlicheres geben als zurückzugehen – außer, er blieb wie ein Narr hier stehen und wartete auf die Wachen, bis sie zurückkamen und ihn fanden. Er ging weiter, einen Schritt, zwei Schritte, drei. Mit jedem Schritt wuchs das Bewußtsein von Gefahr. Trotzdem blieb er stehen und sah sich um. Die leere, windverblasene Straße, die dunklen Fenster über ihm, die verzerrten Umrisse der Kamine und Wetterfahnen. Und dann wurde es ihm plötzlich klar. Er sah diese rätselhaften Schatten, nicht wie sie ihm jetzt erschie-
nen, sondern wie er sie aus dem Fenster oben gesehen hatte: Zylinder, T-Formen, Würfel und ein spitzzulaufendes V mit weitgespreizten Schenkeln. Die Propeller eines Hubschraubers! In Glenbrook durfte niemand außer den Wächtern mit einem Hubschrauber auf einem Dach landen. Und wenn die Wache Zeit gehabt hatte, einen Hubschrauber dort zu landen, dann würde auch sicher ein Wächter dort unten auf der Straße versteckt sein ... Diese Überlegung dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde; für Bass gab es zwischen dem ersten und dem letzten Schritt keine Pause. Er wirbelte herum und sprang unter das Vordach des Eingangs. Mitten im Sprung hörte er einen Ruf: »Greif zu!« Als sein Fuß das Pflaster berührte, erhob sich hinter ihm ein irrer Lärm. Scharfe, klatschende Echos führten von einer Explosion zur nächsten und vereinten sie zu einem einzigen markerschütternden Krach. Zu Bass' Linken schlug etwas bösartig auf das Pflaster. Irgend etwas anderes fraß schmale, streifige Splitter aus dem Türrahmen vor ihm. Ein rundes, winziges Loch, von dem haarfeine Risse ausgingen, zeigte sich weiter unten im rechten Schaufenster. Bass machte keinen weiteren Sprung mehr. Ein Impuls trug ihn mechanisch vorwärts, kaum, daß er die Füße hob. Als er das zweitemal den Boden berührte, war er mehr als zwei Yards von der Türnische entfernt. Und die Tür verschwand hinter einer trüben Wolke von grauweißem Gas, das den Eingang füllte. Schwaden zogen um den Türrahmen und wurden vom Wind weitergetragen – zu langsam.
Ruckartig blieb Bass stehen; als etwas seinen Schuh mit einem heftigen Schlag traf, zögerte er einen Augenblick, und dann tauchte er mit dem Kopf voran durch das zersplitterte Glas des Schaufensters. Hinter ihm stampfte jemand durch den unbeleuchteten Korridor. Erschöpft, taumelnd schlüpfte Bass aus dem Eingang des Buchladens und mischte sich wieder unter die Menge. Bei jeder Bewegung schmerzte die Wunde in seiner Seite. Zweimal während der ersten zehn Yards sah er den Schimmer einer roten Uniform, und er mußte einen Haken schlagen, um eine andere Richtung zu gewinnen. Wenn er langsamer ging, trug ihn die schiebende Bewegung der Menge mit, und er ließ sich treiben, weil sein übermüdeter Körper sich weigerte, ihn rascher vorwärts zu tragen. Die Menschenmenge hatte sich nun irgendwie verändert; das wurde ihm halb bewußt klar. Die Rufe und Schreie waren so laut und durchdringend wie vorher, aber darunter vernahm er ein eindringliches Summen. Da und dort standen mitten im Trubel bewegungslose Klumpen beisammen, die Köpfe zusammengesteckt. Er kam nahe an einigen solcher Gruppen vorbei und fing einige Wortfetzen auf, die den Lärm übertönten: »... haben sie gestoßen mit diesem – habe ihnen gesagt, daß ich meine Tochter suchen muß – fürchten, wenn nicht ...« Die Klumpen brachen auseinander, formten sich neu, aber immer, so schien es Bass, wurden sie größer, häufiger. Er drängte sich mitten in einen hinein, der sich um einen großen, selbstbewußt schauenden Mann in himmelblauem Umhang gebildet hatte. Er hörte:
»Was ist los hier, Mensch? Was geht hier vor?« »Ich weiß auch nicht mehr als ihr, Freunde. Vorn an der Ecke halten sie jeden auf, sie wollen keinen durchlassen.« »An der anderen Ecke auch!« schrie ein zwergenhaft kleiner Mann. »Ich habe ihnen gesagt, daß ich meine Tochter suche, aber sie lassen mich nicht –« Bass drückte sich erschreckt in den Menschenstrom zurück. Entweder hatte die Wache seit seiner Flucht schneller und nachdrücklicher gehandelt, als er für möglich gehalten hatte, oder seine Bewußtlosigkeit hatte doch länger gedauert und ihnen die Zeit gegeben, die sie brauchten. Jedenfalls war er in eine Falle geraten; an beiden Enden war die Straße abgesperrt, und zweifellos war auch ein Ring durch die angrenzenden Straßen gezogen. Wieder sah er eine der roten Uniformen und tauchte tiefer in die Menge. Sie hatten nun nichts anderes zu tun, überlegte er fieberhaft, als den einen Fisch aus dem Weiher zu angeln, den sie suchten. Vielleicht würden sie hundert, zweihundert Menschen dazu aufbieten – aber nur – wie viele vielleicht? – vier Fahrzeuge mit höchstens sechs Mann in jedem Wagen. Nur vierundzwanzig Wächter, mehr konnten es nicht sein, hatten ihn wirklich gesehen, die anderen, die vor wenigen Minuten auf der Straße auf ihn schossen, nicht mitgerechnet. Er stolperte und bemerkte, als er einen Blick auf den Boden warf, einen langen, sich aufrollenden Kunststoffstreifen, der sich von seiner rechten Schuhsohle gelöst hatte. Er bückte sich und riß ihn ab, wußte aber im gleichen Moment, daß es umsonst war. Er konnte sich vollständig neue Kleider stehlen,
eine Brille aufsetzen, einen falschen Bart ankleben, seine Erscheinung völlig verändern – und sie brauchten doch nichts anderes zu tun, als nach einem Mann mit einer Schußwunde Ausschau zu halten. Vorsichtig drückte er die Finger auf die warme, klebrige Stelle an seiner Seite. Kaum zu glauben, daß man auf ihn geschossen hatte ... Den größten Teil der roten Flecke wischte er mit seinem Oberhemd ab, aber ein wenig davon blieb in den Rillen seiner Fingerspitzen haften. Sie wollten ihn lebend fangen. Das mußte der Grund dafür sein, daß sie nichts unternommen hatten, bis er sich umdrehte, um in das Haus zurückzurennen: Sie wollten, daß er weit genug auf die Straße hinaustrat, so daß sie ihn abschneiden und fangen konnten. Und dann, als sie schossen, hatten sie tief gezielt, auf seine Beine. Noch ein Widerspruch: Obwohl sie ihn für ein erschreckend mächtiges Ungeheuer hielten, behandelten sie ihn, als sei er aus gewöhnlichem, sterblichem Fleisch. Das, überlegte er in halber Betäubung, ließ sich damit erklären, daß die Wache sich aus niedrigeren Rängen, die dem Aberglauben huldigten, und den höheren Offizieren, die nicht daran glaubten, zusammensetzte, und das führte ihn wieder zu einer anderen Erkenntnis: Sein Wissen mußte ihn natürlich gefährlich erscheinen lassen, aber es konnte an sich auf keinen Fall für die Wache oder ein anderes staatliches Organ gefährlich sein. Wenn nicht – Wenn nicht die zwei nebeneinander bestehenden Handelsstaaten in schärfster Konkurrenz zueinander stehen würden, wie ein Handwerker mit einem anderen konkurrieren mochte und manchmal aus diesem
Grund Spione, Werksschnüffler und Unruhestifter in das Gebiet des anderen schickte. Dieses Wissen, daß das Lager Glenbrook mit einem anderen im Wettbewerb lag, brachte Bass' Kopf zum Schwimmen, und nun dämmerte ihm die Erkenntnis, daß diese Tatsache eine ganze Menge Dinge erklärte, für die er früher nie eine Erklärung gebraucht hatte. Das Bestehen auf einem hohen Geburtenzuwachs und die daraus resultierende Übervölkerung; die gesellschaftliche Struktur selbst; die Mauer; die unwahren Geschichten von Dämonen mit eisernen Muskeln ... In plötzlicher verzweifelter Klarheit überlegte er, daß er von hier wegmußte. Wenn sie ihn wieder einfingen und ins Hauptquartier der Wache brachten, würden sie ihn zweifellos zuerst ausquetschen und dann töten. Sie brauchten Informationen über das Spionagesystem von Glenbrook, und sie würden ihm nicht glauben, daß er nichts davon wußte. Sie würden ihn unter Schmerzen am Leben erhalten, solange sie nur konnten. »Leute von Stamford! Achtung!« ertönte plötzlich eine gewaltige Stimme. Bass zuckte zusammen. Um ihn herum waren die Köpfe dem unsichtbaren Lautsprecher zugewandt. Die Geräusche verstummten allmählich. »Unter euch ist ein Mann, der seine Aufnahmefähigkeit für Alkohol überschätzt hat. Dieser Mann hat sich vorübergehend dem Schutz seines Engels entzogen und ist nicht verantwortlich für seine Taten. Ich wiederhole: Sein Zustand ist vorübergehend. Dieser Mann ist nicht besessen, aber er bedeutet eine Gefahr für sich und andere.« Interessiertes Murmeln, neugierige oder enttäuschte Stimmen erhoben sich, als der Lautsprecher
fortfuhr: »Alle Personen, die sich im Bereich zwischen Kusko- und Dinestraße befinden, werden sich nun in völliger Ruhe und Ordnung auf meine Stimme zu bewegen. Jeder von euch wird von den Wachen überprüft werden, und dann ist jeder frei, die Feier fortzusetzen.« Wieder brach die Menge in Lärm und Geschrei aus, diesmal noch betäubender als vorher; aber die riesige, zusammengeballte Masse begann sich langsam die Straße entlang zu bewegen. Bass blieb ein wenig zurück, bis hinter ihm da und dort größere Flecke des konfettibestreuten Pflasters sichtbar wurden, und dann wurde er von der Menschenmenge mitgerissen. Sein Geist arbeitete fieberhaft, fand aber nirgends einen Ansatzpunkt. Die Fischer leerten ihr Netz. Es würde ein langsamer, aber unaufhaltsamer Prozeß werden. Für ihn gab es keinen Fluchtweg mehr. In einigen Minuten, vielleicht und höchstens in einer halben Stunde – Aber zu welchem Zweck hatte die Wache diese faustdicke Lüge verbreitet? Frage und Antwort kamen fast gleichzeitig. Er erinnerte sich des dicken Mannes im Glenbrooker Laden und überlegte: Sie wollen eine Panik vermeiden. Ihm blieb keine Zeit mehr, seine Chancen abzuschätzen. Bass wandte sich an den ihm zunächst stehenden Bürger, einen aufgeschwemmten Mann mit trüben Augen, Hängenase und Hängelippen, und schrie: »Sie sagen nicht die Wahrheit, sie wollen uns nur keine Angst einjagen. Unter uns in der Menge ist ein Dämon!« Der Mann starrte ihn einen Augenblick lang an und sagte dann: »Du bist betrunken, Mann. Laß das sein.«
Verzweifelt rief Bass: »Schau!« Er packte den Umhang des Mannes mit der einen Hand, mit der anderen schob er den seinen zurück und zeigte ihm das blutbefleckte Oberhemd mit dem verdammenswerten, deutlichen Zeichen »GP«. Ruhig schob sich der Mann von ihm weg. Seine Augen sahen ihn kaum an, und Bass bemerkte es nur allzu genau. Es wahr unwahrscheinlich, daß er das Hemd gesehen hatte, noch viel weniger das Warenzeichen darauf. Nun versuchte er es noch einmal bei einer Frau, dann bei einem Jungen mit pickligem Gesicht, überall mit dem gleichen Mißerfolg. Die Menge schob sich weiter. Bass stand wieder neben dem Mann mit den Hängelippen. Plötzlich kam ihm ein Einfall. Er packte dessen Umhang mit beiden Händen und drehte den Mann herum, bis beide sich gegenüberstanden. »Du bist betrunken«, stellte der Mann fest und gab ein gurgelndes Gelächter von sich. »Hör zu«, beschwor ihn Bass, »U/M-Produkte sind nicht gut. Die Lagerverwalter haben alle einen üblen Mundgeruch, und die Sachbearbeiter essen Schmutz. Die Verkäufer –« Der Mann wich zurück, die Augen glotzten ihn plötzlich ernüchtert an. Mitten in Bass' drittem Satz riß er sich los und tauchte laut schimpfend im Trubel unter. Bass drängte sich ein paar Dutzend Schritte weiter nach rechts, griff nach einer nervös aussehenden Frau und wiederholte seine Blasphemie. Ihre Schreie waren, als sie davonrannte, glücklicherweise gut zu hören. Dann fand Bass seinen vierten Kunden, und nun hatte sich das Wort schon verbreitet: Von allen Seiten
hörte er die schrillen Schreie: »Ein Dämon!« In die Menschenmasse kam nun Bewegung. Bass gab es auf, sich noch länger verständlich zu machen, aber er griff nach jedem Menschen in seiner Reichweite. Die Vorwärtsbewegung der Masse beschleunigte sich zu einem Laufen, einem Rennen, zu einer wilden, kopflosen Flucht. Er sah die Überreste einer hölzernen Barrikade, flankiert von schreienden, hilflosen Wächtern, als sich die Menschenflut an der Straßeneinmündung vorbeiwälzte. Trotz des klopfenden Schmerzes in seiner Seite hielt sich Bass in jenem Teil der Menge, der nach Osten floh, direkt dem Hügel entgegen. Sirenen heulten wieder auf, sie waren aus allen Richtungen zu hören, und sie schienen ihm der schönste Ton zu sein, den er je gehört hatte, denn das hieß, daß seine Feinde nicht mehr wußten, wo sie ihn zu suchen hatten. Aber eine halbe Meile weiter strömte die konfuse Menge an ihm vorbei, begann in die andere Richtung zu rennen, als ob ihr Heil davon abhinge. Bass sah auch gleich den Grund dafür. Am Scheitelpunkt des Hügels war eine Barrikade, diesmal eine intakte, mit schwingenden Suchscheinwerfern, nahe beisammenstehenden Wagen und Hubschraubern, um sie herum eine ganze Armee von schwerbewaffneten Männern.
7 Mit einer Schulter lehnte Bass an der rauhen Bretterwand eines Hauses und schaute den Hügel hinunter auf die Straßenlichter der Stadt. Hinter ihm, in der Dunkelheit, raschelte der Wind in der trockenen Hekke und klapperte mit der Dachtraufe des verlassenen Hauses. Die Luft fühlte sich auf seiner schweißfeuchten Haut kalt an, und seine verwundete Seite war ein einziger bohrender Schmerz von der Brust bis zu den Lenden, aber er bewegte sich nicht. Er war die Barrikade entlanggegangen, hatte acht Seitenstraßen gekreuzt, dann war er endlich auf die Mauer gestoßen. Auch hier waren Wächter postiert, je einer in Abständen von hundertfünfzig Yard. Sie standen auf der Mauerkrone und leuchteten mit starken Suchscheinwerfern in das Niemandsland hinunter. Von seinem Platz aus konnte er einen Teil dieser Lichterkette sehen; winzig klein erschien sie aus der Entfernung. Zuerst kamen die Straßenlampen der Wohnviertel, die alle auf die würflige Masse des Ladens zuliefen. Die Spitze des Gebäudes verlor sich in den Wolken, aber die Eingänge im Erdgeschoß waren wie Zahnlücken in einer Kürbiskopflaterne, zwischen denen orangerotes Licht herausquoll. Dahinter führten sauber und ordentlich andere Reihen von Laternen den sanften Gegenhang hinauf. Dann kamen die blinkenden Suchscheinwerfer der Wachen, die die lange Biegung der Mauer mit ihrer Lichterkette ausleuchteten. Und dahinter konnte Bass einen schwachen Lichtschein erkennen, der von der anderen Seite herüberfiel.
Dieser Lichtschimmer war Glenbrook. Wie oft, überlegte Bass, hatte er von der anderen Seite dieses Hügels auf diese Lichter jenseits der Mauer geblickt, die Lichter von Stamford! Und wie oft war sein Blick von der Anhöhe aus an klaren Tagen hinübergeschweift, um das schachbrettartige Muster zu betrachten, das Hausdächern gleichen konnte; er hatte Umrisse gesehen, die wie startende Hubschrauber aussahen, krabbelnde Punkte, die Lastwagen und Busse sein mochten, und das alles waren Beweise einer normalen menschlichen Tätigkeit – für ihn war damals alles nur Illusion. Niedergeschlagen wandte er sich ab und sah den Hügel hinauf. Auch dort waren Lichter, eine lange, gerade Kette von Lampen, winzige Punkte, die vom nächsten Hügel herüberblitzten. Diese Linie war seit der letzten halben Stunde näher gerückt. Die Wachen arbeiteten sich langsam nach Westen zu durch die Stadt, suchten jeden Häuserblock ab, überstiegen die Absperrung zur nächsten Straße, suchten dort weiter. Sie arbeiteten sehr langsam, sehr sorgfältig. Vielleicht blieb ihm noch eine Stunde Zeit, vielleicht konnte er mit zwei Stunden rechnen, bevor sie ihn wieder in das Geschäftsviertel hinunterjagen würden. Die Glocke des Lagergebäudes hatte vor einer halben Stunde zu läuten begonnen. Jetzt mußte jeder Bürger der Stadt, ausgenommen Bass und die Wachmannschaften, in dem riesigen Gebäude sein. Wenn sie erst einmal den Ring um das Geschäftsviertel geschlossen hatten, würde der Rest der Arbeit ein Kinderspiel sein. Er würde sterben. Das war immer noch eine überraschende, bestürzende Feststellung, wenn auch sein
Verstand sie in tödlicher Müdigkeit akzeptierte. Das Unerträgliche dabei war der Umstand, daß er nicht zurückschlagen konnte. Keine Erinnerung an ihn würde zurückbleiben, nicht einmal in den Gedanken seiner Verfolger. Drüben in Glenbrook gab es andere – es mußte sie geben –, die ihm ähnlich waren. Manch einer von ihnen konnte irgendwann einmal in die gleiche grausige Komödie verstrickt werden, durch die er sich nun kämpfte. Das konnte er durch nichts verhindern. Der Moloch würde ihn zerquetschen, ihn ausradieren, um dann weiterzukriechen. Er dachte an die Verbraucher, an die Verkäufer, Diakone und Abgeordneten, die Sachbearbeiter und Lagerverwalter. Er dachte an das Haus, in dem er aufgewachsen war; es war winzig und ein wenig verwahrlost, denn Hausbau und Reparaturen kosteten zuviel Arbeitsstunden und waren für das Lager nicht wirtschaftlich genug; und es war vollgepfropft, denn es galt als Sünde, die Größe der Familien zu beschneiden. Der Laden brauchte Kunden. Er dachte an seinen Vater, der mit vierzig ein alter Mann war; an seine Mutter, die zehn Kinder geboren hatte, bevor sie starb. Er dachte an die dürftigen Mahlzeiten, die vor ihn auf den Tisch gesetzt wurden, an den stets verbleibenden Rest von Hunger, der nie ganz gestillt wurde. Völlerei war eine Sünde, denn ein Verbraucher benötigte nur Muskeln, um richtig arbeiten zu können, kein Fett. Es gab zuviel andere Münder, und sie wurden von Jahr zu Jahr zahlreicher. All das fügte sich zu einem riesigen, einfachen Muster zusammen – die Mauern rund um die Städte der
Menschen – die Mauern um ihren Geist. Er verspürte den Druck des Buches in der Tasche seines Umhangs und dachte an das andere Buch, das er nicht mitgenommen hatte, obwohl es wahrscheinlich hundertmal wertvoller gewesen wäre, falls er durchkäme – den Atlas. Jetzt, im Augenblick, war er gar nicht neugierig; er wußte, was er gesehen haben würde, hätte er die Karte des Kontinents aufgeschlagen. Linie nach Linie, Distrikt nach Distrikt, die Landkarte wäre genau die gleiche gewesen wie die, die er kannte, nur wären die weißen Flecke ausgefüllt gewesen und die ausgefüllten leer. Wie zwei Teile eines komplizierten Zusammensetzspiels, dachte er: Wenn man die beiden Landkarten zusammenfügte, ergäben sie eine fortlaufende Informationsquelle, eine genaue, ungeheuer beruhigende Karte einer Welt, die vollständig bewohnt, vollstündig zivilisiert und ohne Furcht war. Diese Erkenntnis war die wichtigste, die es überhaupt gab – aber er hatte keine Möglichkeit, sie anderen mitzuteilen. Selbst wenn die Stamforder Wächter ihn nicht einfingen, so würde doch nichts, was er vernünftigerweise hätte tun können, auch nur einen einzigen anderen Menschen von der Wahrheit überzeugen können. Wenn man täglich nur einen einzigen Menschen entführte und ihm die Wahrheit zeigte, und wenn auch nur einer von hundert, die die Wahrheit kannten, sich gegen seinen Engel erhob – was unwahrscheinlich war –, und wenn jede der entführten Personen ihrerseits täglich eine einzige andere Person ... Bass stöhnte auf und griff sich ins Haar. Es mußte eine
solche Möglichkeit geben; es mußte etwas geben, was er tun konnte. Konnte er in die Gottesdiensträume schleichen und die Maschinen zerstören? Man würde am nächsten Tag neue aufstellen; und wie oft konnte er das tun, bevor man ihn erwischte? Reiße die Mauern ein – irgendwie – sie sind nutzlos, nur ein Symbol. Nur die Engel hielten die Menschen davor zurück, sie zu übersteigen. Bass begann von vorn und dachte alles noch einmal durch. Wenn seine Überlegungen richtig waren – und sie waren richtig –, weshalb hatte man dann die Mauer aus Ziegeln gebaut, wenn doch einfache Bretter genügt hätten? Er gab zu, daß ein Grund dafür als stichhaltig anerkannt werden konnte: Man fürchtete, daß sich im Ödland Feuer ausbreiten könnte. Das war auch schon vorgekommen – vielleicht hatte man es aber auch vorsätzlich in Brand gesteckt, um es als Ödland zu erhalten. Der Wind wehte nun heftiger, er schob ihn vorwärts und brachte Umhang und Hosenbeine zum Flattern. Aber der Ödlandstreifen war zu schmal, überlegte er. Eine wirkliche Feuersbrunst würde die Lücke ohne weiteres überspringen. Nach welcher Richtung, so fragte er sich, würde ein Mensch rennen, der mit dem Gesicht zur Mauer stand, vor ihm der Engel mit dem Feuerschwert und hinter ihm die brennende Stadt? Einen Augenblick lang stieg ein herzbeklemmendes Bild vor ihm auf und verschwand dann wieder. Nur eine einzige Kleinigkeit stimmte daran nicht: Die Bürger von Stamford waren alle in diesem massiven,
modernen, feuersicheren Gebäude, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie auch noch eine Stunde nach seinem Tod dort sein ... Bass schlich durch das Tor der verlassenen Tankstelle und beobachtete sich selbst dabei, wie er sich an einer Tischkante hielt und dann in den Schatten zurückglitt. Dort saß er mit gesenktem Kopf, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte. Ihm schien eine Stunde oder mehr vergangen zu sein, seit er, rennend zuerst, solange er konnte, dann rasch ausschreitend, als seine steifen Muskeln das Rennen nicht mehr gestatteten, diesen Platz gefunden hatte. Das Aufstehen fiel ihm schwer, aber es gelang ihm schließlich. Er nahm den Telefonhörer ab, drückte auf den Knopf »Vermittlung« und wartete; er versuchte, ruhig zu atmen. »Vermittlung«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Geben Sie mir das Hauptquartier der Wache«, bat Bass. »Ihre Kundenkartennummer, bitte!« »Das ist ein Notruf«, antwortete Bass, »verbinden Sie mich.« »Ja, Sir.« Eine Pause – ein Summen. »Hauptquartier Wache, Sergeant Santos. Sprechen Sie bitte«, hörte er endlich. Bass holte tief Atem. »Passen Sie gut auf, was ich jetzt sage«, antwortete er. »Ich bin der Dämon, den Sie suchen. Ich habe –« Die Stimme des Wächters war nur als ein lautes, unverständliches, zitterndes Gestammel zu vernehmen. »Hören Sie mir doch zu, Sie Narr!« fuhr Bass schar-
fen Tones fort. »Ich habe im Lager einen Zeitzünder gelegt. Er wird, von jetzt an gerechnet, in genau dreißig Minuten explodieren. Wenn ihr damit einverstanden seid, daß ich über die Mauer zurückgehe, dann sage ich euch, wo die Bombe ist. Sagen Sie Ihrer –« Eine andere Stimme fiel ein. »Was ist los? Sagen Sie es noch einmal.« Bass wiederholte. Er schloß: »Ich brauche zehn Minuten, um ein anderes Telefon zu finden. Wenn ich dann sehe, daß ihr eure Wachen von der Mauer zurückgezogen habt, werde ich euch sagen, wo die Bombe versteckt ist. Wenn nicht, dann werdet ihr nichts mehr von mir hören.« Er legte den Hörer auf die Gabel und unterbrach damit den Mann mitten in seiner Antwort. Draußen nahm er die große Fünf-Gallonen-Kanne, die er an der Benzinpumpe füllte. Der Wind war noch stärker geworden und fauchte ihm entgegen, als er den Hügel hinaufging. Am Scheitel des Hügels packte ihn ein Windstoß und warf ihn beinahe um. Sein Hut hob sich vom Kopf und segelte in die Dunkelheit hinein. An seinem Ausgangspunkt angekommen, stellte Bass die Kanne ab; ihr Gewicht schien mit jedem Schritt, den er getan hatte, ins Phantastische gewachsen zu sein, und er lehnte sich an einen Baum, bis Schwäche und Übelkeit nachließen. Nach Osten zu waren die blinkenden Lichter der Straßensperre vor ihm versunken, die Wächter in der Senke zwischen den beiden Hügeln verschwunden. In der anderen Richtung begannen die Lichter auf der Mauer allmählich zu verlöschen, während er sie be-
obachtete. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf die orangefarbenen Lichtbündel, die aus den Türen des Ladens fielen. Einen Augenblick später begannen sie zu flimmern. Die Wächter zogen sich von der Mauer zurück, zweifellos, um eine andere Kette zu bilden, die weniger verdächtig und auffällig war, vielleicht einen Straßenzug oder zwei weiter weg – aber sie schickten auch die Leute aus dem Laden. Bass hob die Kanne und trug sie in das nächste Haus. In der Dunkelheit tastete er sich zwischen den geduckten Massen der Tische, den Spinnenfallen der Metallstühle hindurch; er kam durch eine Tür und ging geradewegs zu dem großen Kleiderschrank, der mit Kleidern, Mützen und Hosen so dick vollgepackt war, daß sie einer kompakten Masse glichen. Er riß einen Armvoll davon heraus, trug sie in den großen Wohnraum zurück und legte den Haufen an eine Innenwand. Dann begoß er ihn mit dem Benzin aus der Kanne. Bevor er ging, schob er ein Fenster im Vorderzimmer und eines in der Küche in die Höhe und riß die Verbindungstür weit auf. Im übernächsten Haus tat er dasselbe, und die ganze, verlassene Straße entlang arbeitete er sich nach Süden vor, bis das Benzin zu Ende war. Schwer atmend stand er schließlich im Wohnzimmer des letzten Hauses. Er hatte lange dazu gebraucht, aber er durfte sich keine Rast erlauben. Bis jetzt würde mehr als die Hälfte der versammelten Leute das Lagergebäude verlassen, sich über die Stadt, über die Straßen verteilt haben. Ihm blieb nur noch wenig Zeit. Er nahm ein Zündholz aus der Schachtel, die er in
der Küche gefunden hatte, strich es an, warf es auf den Haufen Kleider und beobachtete, wie sie aufflammten. Er wartete so lange, bis er sicher war, daß sie wirklich brannten, eilte dann hinaus, die Straße entlang und ins nächste Haus mit offenem Fenster. Wieder ein Zündholz; wieder die gelbrote Blume eines Feuers. Als er das achte Haus verließ, sah er die goldene Zunge einer Flamme über den Dachfirst züngeln, dort, woher er gekommen war. Gerade als er das vierzehnte Haus verließ, hörte er weit entfernt das Aufheulen einer Sirene; dann noch eine. Viel zu früh! Er hatte gehofft, die verstopften Straßen würden sie aufhalten. Verbissen rannte er weiter, das harte Pflaster schüttelte seinen Körper durch von den Füßen bis zur Schädeldecke. Der Atem brannte ihm in der Kehle; er betrat das nächste Haus, strich das Zündholz an, ließ es fallen, lief hinaus, ohne zu warten, ob das Feuer brannte, weiter zum nächsten. Dreiviertel des Weges zurück zu seinem Ausgangspunkt hatte er zurückgelegt, als ihm die Zündhölzer ausgingen. Aufgeregt suchte Bass in der dunklen Küche nach einer anderen Schachtel, gab es aber bald auf; er zog das Buch aus der Tasche seines Umhangs, riß ein paar Blätter heraus, bevor ihm einfiel, daß er sie draußen im Luftzug niemals brennend erhalten konnte, ließ sie und die Überreste des Buches fallen und murmelte verwirrt: »Nun werde ich niemals erfahren, ob es der gleiche Text war –« Er riß ein glimmendes, benzingetränktes Kleidungsstück aus dem Feuer und hetzte damit zum nächsten Haus. So ging es, aber es hielt ihn auf. Als er das letzte
Haus verließ, jaulten die Sirenen schon ganz in der Nähe. Ein Hubschrauber stand in der Straßenmitte. Zwei Männer in roten Masken kletterten heraus und rannten auf ihn zu.
8 Bass wirbelte herum und lief in das Haus zurück, vorbei an den Flammen, die an der Wand hochzüngelten, durch die dunkle Küche. Schritte dröhnten hinter ihm. Er riß die Hintertür auf und überquerte in drei langen Sprüngen den Hof; er hörte die Tür zuschlagen, als er sich durch die Hecke in den dahinterliegenden Hof zwängte. Dann bog er nach rechts ab und wäre beinahe über einen Spielzeugwagen gefallen, der mit den Rädern nach oben auf dem Boden lag. Er hetzte weiter in den tiefen Schatten des nächsten Hauses hinein. Hinter ihm hörte er ein Krachen und einen wütenden Fluch. Die Brust schmerzte ihm, als er die Vorderseite des Hauses erreichte, sich der Tür links näherte, sie lautlos öffnete und hinter sich ebenso lautlos wieder zudrückte. Die verzweifelte Energie der letzten Augenblicke verließ ihn allmählich; er wußte, daß er einer offenen Verfolgung nicht mehr gewachsen war. Er stieg die dunkle Treppe hinauf und stand oben lauschend still, hörte aber nichts mehr als das harte, wilde Klopfen seines eigenen Herzens. Kaum war er vom Treppenabsatz zurückgetreten, flammte Licht in dem unteren Raum auf. Sie wußten, daß er in diesem Haus war. Einer von ihnen mußte von der anderen Seite gekommen sein,
und sie hatten sich vor dem Haus getroffen – Er hörte die Schritte von unten heraufkommen, er hörte, wie eine Tür direkt unter ihm sich öffnete und wieder schloß; dann noch eine, ein wenig weiter weg. Bass zog die Schuhe aus. Er trug sie in der Hand, schlich vorsichtig in das Schlafzimmer an der Straßenseite und schloß die Tür. Die Schuhe stellte er unter das Bett. Das linke Fenster war verquollen, und er durfte es nicht gewaltsam öffnen. Er versuchte es vorsichtig am anderen Fenster, drückte es ganz langsam auf, weil er das Geräusch des Reibens von Holz auf Holz fürchtete. Schließlich war das Fenster weit genug offen, daß er hinaussteigen konnte. Er blickte auf den leeren Hof hinunter, setzte sich auf das Fensterbrett und schwang die Beine hinüber. Unter ihm schlug eine Tür zu, und ein Mann in roter Uniform kam auf den Gehsteig heraus. Er schaute hinauf, nickte und sprach in das Instrument in seiner Hand: »Da ist er, Harry. Auf der Straßenseite im ersten Stock.« Bass zog die Beine wieder halb zurück und hörte gleich darauf rasche Schritte im Zimmer unter ihm. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, forderte der Mann draußen ihn freundlich auf. Verzweifelt warf Bass einen Blick nach oben. Das Dach war genau über ihm, ein eisengrauer Fleck vor dem Himmel. Er zog die Beine unter sich, zwängte Kopf und Schultern durch den Fensterrahmen und stand mühsam auf, das Gesicht dem Haus zugewandt, die Finger um den Rand des hochgezogenen Fensters geklammert. Er schob eine Hand bis zur Oberseite des Fensterrahmens, lehnte sich zurück und griff mit der ande-
ren Hand nach oben. Seine Finger schlossen sich um die rauhen, trockenen Kanten der Schindeln. Krampfhaft klammerte er sich daran, schob die andere Hand nach, um das Dach zu erreichen, und schwang sich hinaus. »Rasch«, sagte der Mann unten drängend. Drinnen wurde die Tür des Schlafzimmers aufgerissen und schlug krachend an die Wand. Mit einem Schwung, der ihn beinahe aus dem Griff an der Dachkante gerissen hätte, brachte Bass das eine bestrumpfte Bein über den Dachfirst, dann das Knie. »Teufel«, rief der Mann unten. »Ping« tat es, und irgend etwas klatschte an die Mauer unter Bass' Kopf. Weißer Rauch wirbelte einen Augenblick lang vor seinem Gesicht und blendete ihn, dann fegte der Wind ihn davon. Plötzlich wurde ihm schwindelig, aber in einer letzten, gewaltigen Anstrengung zog er sich ganz hinauf und über den Dachfirst. Dann lag er etwa auf halber Höhe in einer Mulde des steilen Daches; es schlingerte unter ihm, und ihm war entsetzlich übel, als müsse er sich übergeben. »Das Gas hat nicht geholfen, Harry«, drang eine Stimme zu ihm hinauf, »zuviel Wind. Du steigst besser aufs Dach hinauf.« Eine Hand erschien an der Dachkante, dann die zweite. Bass schob sich wütend darauf zu, griff nach den Fingern, bog sie auf. »Paß unten auf«, bat eine resignierte Stimme; dann verschwanden die Finger, und Bass hörte einen Plumps. Er stand vorsichtig auf; sein Haar flog im Wind, und mit gebeugten Knien hielt er sich auf der Dach-
schräge im Gleichgewicht. Hinter dem Dachfirst war der Himmel ein einziger großartiger Glanz in Gold und Rosa. In der anderen Richtung sah er das Dach des Nachbarhauses. Die Lücke zwischen den beiden Häusern schien nicht mehr als vier Fuß breit zu sein. »Bass!« rief eine Stimme. Einer der Wächter war drunten auf dem Rasen in sein Blickfeld getreten. »Komm herunter, Junge. Wir tun dir nichts.« Bass bewegte sich langsam zur Dachkante. Zu seinen Füßen barst eine weitere Gaspatrone, aber der Rauch wurde sofort davongetragen. Er riß sich zusammen und sprang hinüber, klammerte sich verzweifelt an, damit er nicht von der Kante abrutschte. Er raffte sich wieder auf, hatte die Handflächen voller Splitter, und kletterte zum Dachfirst. Einer der Wächter humpelte um die Ecke des anderen Hauses; der zweite stand noch vorn auf dem Rasen. Bass drehte sich um, überquerte rittlings den Dachfirst und schob sich langsam zurück, bis er von keiner Richtung her mehr eingesehen werden konnte, bevor er sich über die Schräge der anderen Seite hinuntergleiten ließ. Einer der Wächter stand zwischen den Häusern und sah zu ihm empor. »Komm, sei vernünftig, Junge!« sagte er. Bass sprang zum nächsten Dach hinüber. Diesmal fiel es ihm schon schwerer, sich vor dem Abgleiten zu bewahren, wieder aufzustehen. Aber es gelang ihm. Er war sehr müde und reagierte nur noch langsam, aber er wußte, daß sie ihn niemals fangen würden. Immerzu würde er von einem dieser Dächer zum anderen springen, solange es nötig war, und einmal
mußte ja die ganze Stadt niedergebrannt sein. Dann mußten sie verschwinden und ihn endlich in Ruhe lassen. Und nun war er wieder am Dachfirst. »Bass!« rief die Stimme des Wächters von irgendwoher zu seiner Linken. »Hör mir zu, Bass! Kannst du mich verstehen? Es ist wichtig, Bass! Hör zu, wir machen einen Handel mit dir – du kommst herunter, und wir lassen deine Familie in Ruhe. Hast du verstanden?« Seine Familie ... Sein Geist arbeitete einen Augenblick lang ganz klar. Was wußten sie von seiner Familie? Woher kannten sie seinen Namen? Angsterfüllt wandte er sich um und ging ein paar Schritte auf die Vorderseite des Hauses zu. Aber konnte er denn glauben, daß die Wächter ihr Wort auch einem »Dämon« gegenüber hielten? Und außerdem, verflucht, waren das keine Wächter von Glenbrook. Das war Unsinn. Wenn es Stamforder Wächter waren, wie konnten sie dann seiner Familie in Glenbrook etwas zuleide tun? Und waren sie es nicht, wie wußten sie dann, daß ... Zu spät hörte er das anschwellende Röhren hinter sich, und plötzlich fühlte er Wind an seinem Körper entlangblasen. Verzweifelt breitete er seine Arme aus, um sich im Gleichgewicht zu halten. Er drehte sich um. Vor sich sah er ein Ungeheuer aus Glas und Metall, das über ihm schwebte; es war ein Hubschrauber, dessen Unterseite fast den Dachfirst streifte. Er sah gerade noch den Kopf im Rahmen der offenen Tür, das weiße, vom Abendglanz orangerot überhauchte, vom Wind zerzauste Haar. Das Gesicht war zu einer angstvollen Grimasse verzerrt und war
das Seiner Exzellenz, des Oberabgeordneten Laudermilk. »Häng' dich an!« schrie der alte Mann. Dann berührte das Untergestell des Hubschraubers Bass' Brust; automatisch klammerte er sich an, als er fühlte, wie es ihn nach rückwärts schob; und dann baumelte er daran, während das Dach unter ihm wegglitt und die Straße sich sanft hob. Als seine Füße den Grund berührten, waren die Wächter schon da, um seine Arme zu ergreifen und ihn in die offene Tür des Hubschraubers zu schieben. Bass leistete keinen Widerstand. Jemand schloß die Tür und drückte ihn auf einen Sitz, dann hob sich der Hubschrauber wieder ab. »Nun?« fragte Laudermilk ernst, »siehst du jetzt ein, wieviel Mühe du uns gemacht hast?« Bass starrte durch die transparente Bodenplatte des Hubschraubers nach unten. Sie schwebten nun hoch über dem Geschäftsviertel von Stamford. Er sah das Feuer, das von einem Ende des Stadtviertels zum anderen reichte. Es war ein flammender Bogen bis zur halben Höhe des Hügels. Die Flammen schossen steil in die Höhe; sie waren fünfmal so hoch wie die Gebäude. Funken sprühten auf wie Fontänen, wie von einer ganzen Batterie von Geschützen, die Leuchtkugeln abfeuerten. Aber die Flammen hatten die Mauer noch nicht erreicht. Sie näherten sich dem westlichen Ende der Straße; Bass konnte deutlich erkennen, daß sich in den Straßen unzählige Menschen und Wagen drängten, die aus der Gefahrenzone flüchteten und die Fluchtwege verstopften. Hie und da beobachtete er die Klumpen von winzigen grünen Feuerlöschwagen, von denen
dünne Wasserfäden zu den Gebäuden in der Feuerlinie hinaufspielten. Von dem, was im Mittelpunkt des Feuers vorging, konnte Bass nicht viel erkennen, der Rauch war zu dick. Aber er sah die weißen Wolken, die sich aus dem schmutzigen Braun lösten: zuerst eine, dann zwei zusammen, dann eine ganze Reihe. Die Häuser wurden gesprengt, um dem Feuer den Weg abzuschneiden. Das hieß, überlegte Bass, daß der Großteil der Menschen schon geflüchtet war. »Die Leute in Glenbrook«, meinte er bitter, »werden das rote Licht und den Rauch sehen und die Explosionen hören, und sie werden einander erzählen, daß sich die Dämonen eine Gesellschaft geben.« »Ja«, gab Laudermilk zu, »und die Leute von Stamford werden denken, daß die Dämonen von Glenbrook das Feuer gelegt haben. Was hast du denn erwartet?« »Es ist gleichgültig, was ich erwartet habe«, antwortete Bass. »Nein, unglücklicherweise ist es nicht gleichgültig. Siehst du, Arthur, es wäre nichts Gutes dabei herausgekommen, wenn du Erfolg gehabt hättest. Ja, ich weiß, was du tun wolltest. Du wolltest die Bewohner der beiden Städte zueinanderführen und ihnen die Wahrheit übereinander zeigen. So wie es aussieht, fürchte ich, daß dir nur gelungen ist, die Behörden wieder einmal daran zu erinnern, wie gefährlich ein besessener Mensch werden kann. – Und du hast zweifellos einige Menschen getötet, von der Vernichtung von Gütern ganz abgesehen.« »Es tut mir nicht leid, daß ich es getan habe«, ant-
wortete Bass. »Mir auch nicht, wenn ich ehrlich bin«, meinte Laudermilk gutmütig. »Hättest du das nicht getan, dann hätten wir dich wohl nie gefunden. Und das wäre sehr schade gewesen.« Das verstand Bass nicht. Er war verwirrt. Sie hatten ihn eingekesselt, und daß er das Feuer gelegt hatte, war nur dazu gut gewesen, ihn ein wenig früher zu finden; das war alles. »Bist du verwundet?« fragte Laudermilk plötzlich. Finger tasteten seinen Körper ab, drückten ihn nach rückwärts, drehten ihn vorsichtig um, um auch die andere Seite zu untersuchen. »Es ist nicht allzu schlimm«, meinte er, »glatter Durchschuß. Halte dich ruhig.« Etwas Kühles, Pastenartiges wurde über die schmerzende Stelle gestrichen und dann ein Klebeverband um seine Rippen gelegt. »Aber glaubst du nicht auch«, fuhr Laudermilk fort, »daß es zuvor in der Welt schon Katastrophen gegeben hat? Nicht nur eine örtliche Feuersbrunst, nein, richtige Katastrophen, die Millionen von Menschen auf einmal auf die Flucht schickten. Die große Überschwemmung des Missouri zum Beispiel, im Jahre 2097. Die G. P.s und U. M.s waren damals so miteinander vermischt, daß es fünf Monate dauerte, sie wieder auseinanderzusortieren. Oder die Explosion in der Kraftstation im Ural im Jahre 2081. Die Obrods und die Luchuvels erschossen beide eine ganze Menge ihrer eigenen Leute – deshalb gab es hernach im Weltgerichtshof einen großen Stunk –, aber das war schließlich alles nicht notwendig.« Bass sah ihn an. »Weshalb nicht?« fragte er eindringlich.
»Weil die Leute einander anschauten und sahen, was man sie zu sehen gelehrt hatte, plus eine Menge dessen, was sie selbst an Ort und Stelle herausfanden. Und die Geschichten wuchsen ins Ungeheure, je öfter sie erzählt wurden. In Kentucky zum Beispiel behaupteten sie erst gar nicht mehr, daß die anderen Fledermausflügel und Finger wie Greifzangen hätten oder ähnlich Zahmes und Gewöhnliches. Sie sagten, daß die anderen fünfzig Fuß groß seien und Köpfe hätten, die nur aus Knochen und Zähne bestünden, und daß Würmer aus ihren Augen kröchen.« Bass vergrub den Kopf in die Hände. »Wir machen uns nun besser auf den Rückweg, Dave«, meinte Laudermilk, »es ist schon sehr spät.« »Gut«, antwortete dieser. Bass fühlte die Erschütterung und das Schwanken des Hubschraubers, als die Luftschraube sich in Bewegung setzte. Dann zündeten die Düsen, die Rükkenlehne drückte sich hart an seinen Körper, und die Landschaft unter ihnen begann sich majestätisch abzurollen; das Feuer, Stamford und alle die umeinanderquirlenden kleinen Menschen verschwanden aus ihrem Blickfeld. »Nein«, sagte Laudermilk, »was du getan hast, war nur insoweit berechtigt, als es uns half, dich zu finden, bevor die Stamforder Wächter dich fingen. Und jetzt, Arthur, kannst du zweifellos ermessen, in welch schwierige Situation du uns gebracht hast. Ich mußte meinen ganzen Zeitplan umwerfen, und zwar mit einer recht fadenscheinigen Begründung. Ich werde Wochen brauchen, sie zu untermauern. Und dann, als ich dich endlich entdeckt hatte, mußten wir per Rundfunk die Stamforder Wächter in die Irre führen,
um uns die zu deiner Rettung nötige Zeit zu sichern. Wirklich, die Folgen hätten sehr ernst werden können. Du darfst dich glücklich schätzen, junger Mann, daß du für uns so wertvoll bist. Ich meine natürlich deine Erbanlagen. Ja. Sehr wichtig sogar. Wir dachten schon, sie seien verloren.« Viele Fragen wirbelten durch Bass' Kopf; schließlich stellte er eine davon. »Wohin werde ich gebracht?« »Nach Pasadena, Arthur.« »Weshalb?« »Um dich im College einzuschreiben. Nicht als Arthur Bass natürlich, denn du hast deinen Namen in Mißkredit gebracht, fürchte ich. Wie würde dir der Name Martyn gefallen? Das ist ein alter, ehrlicher Name. Arthur Martyn. Ja, vielleicht etwas wohlklingend, aber wenn es dir nichts ausmacht –« Diese dunkle, untergründige Stimme hatte Bass schon während der ersten Unterredung mit Laudermilk erschüttert, und sie schnürte ihm auch jetzt wieder die Kehle zu. »Ich verstehe nicht«, würgte er endlich hervor. »Arthur«, erklärte der alte Mann nun freundlich, »diese Leute im College sind genau wie wir – alle gesund. Wissenschaftler und Studenten. Es gibt unter ihnen keinen einzigen engelsüchtigen Menschen.« Bass klammerte sich erregt an die Armstützen seines Sitzes, als ob er sich dessen vergewissern wolle, daß sie noch da waren. »Dann«, stieß er verzweifelt hervor, »meinen Sie also, wenn ich in Glenbrook geblieben wäre und zu keinem Menschen irgend etwas gesagt hätte –« »Ja«, antwortete Laudermilk. »Ich glaube, Arthur,
den Tadel dafür verdiene ich selbst. Als ich heute nachmittag mit dir den Test machte, war deine Antwort so wohlgesetzt, daß ich deiner nicht ganz sicher war. Und ich vermutete – und das war mein Irrtum –, wenn du mir Theater vorgespielt hast, dann muß dein Vater dir über dich selbst erzählt haben, dich gelehrt haben, diese Engelsreaktion zu bekämpfen. Natürlich hätte er das getan, wäre er noch am Leben gewesen. Er war einer der Unseren, das mußt du jetzt erfahren. Auch deine Mutter gehörte zu uns. Ich habe alle mir zur Verfügung stehenden Unterlagen genau geprüft, und es kann kein Zweifel daran bestehen.« Bass starrte ihn mit offenem Mund an. Ganz plötzlich fielen ihm Dinge ein, die er schon halb vergessen hatte. Dieses Buch im Schreibtisch seines Vaters; die Art, wie beide Eltern ihn manchmal angesehen hatten, als ob sie ein köstliches Geheimnis kannten, das sie ihm jetzt noch nicht verraten wollten. – Und er hatte niemals, so erkannte er plötzlich, den Engel außerhalb des Hauses gesehen, in dem sie lebten. »Ich hatte überhaupt niemals einen Engel«, sagte er laut. »Nein. Deine Eltern, glaube ich, redeten dir das ein, indem sie dir in einem verdunkelten Zimmer einen Lehrfilm vorführten; das ist sehr gefährlich und riskant, aber es gibt keine andere Möglichkeit – Leute wie wir können nicht hypnotisiert werden. Sie hielten dich vermutlich vom Kino fern, so daß du nicht erkennen konntest, wie man dich überlistete.« »Ich habe keinen Film gesehen, bis ich zehn Jahre alt war.« »Ja, siehst du, Arthur, zwanzig Jahre früher waren wir noch nicht so gut organisiert, wie wir es heute
sind; wir konnten weder eine größere Anzahl unserer Leute verstecken und für ihren Unterhalt sorgen, wie wir es heute in den Hochschulen und an anderen Orten tun, noch konnten wir sie vor dem gewöhnlichen Volk angemessen beschützen. So mußten viele von uns, darunter auch deine Eltern, ihre Verbindung mit uns völlig geheimhalten und leben, als wären sie ganz gewöhnliche, rechtgläubige Bürger. Das können wir nun wiedergutmachen – wir sichern uns ihre Kinder. Siehst du, jene, die den Test bestehen, dem ich dich unterzog, werden auf ein College geschickt, wo man sie noch weiteren, schwierigeren Tests unterzieht. Wenn sie diese bestehen, dann gelingt es uns immer, sie durch die Prüfungen fallen zu lassen, und dann werden sie nach Hause geschickt. Jene, andererseits, die schon in den ersten Tests versagen, sind die, hinter denen wir in Wirklichkeit her sind. Wir unterstellen sie sofort einer Betreuung, so daß sie sich nicht selbst verraten können, schicken sie zum College – und sie bleiben. Und das ist es, was ich auch mit dir getan haben sollte.« »Aber ich verstehe noch immer nicht«, sagte Bass. »Sie haben doch die Kontrolle über das College für religiöse Wissenschaften – und das müßte doch heißen, daß alle Diakone zu Ihren eigenen Leuten gehören.« »Das trifft nicht ganz zu«, korrigierte der Oberabgeordnete ihn. »Nur etwas mehr als dreißig Prozent, und es hat uns sehr viel Zeit gekostet, überhaupt so weit zu kommen. Spätestens in fünfzig Jahren werden wir die ›Analogmaschinen‹ – das ist ihr richtiger Name, ganz nebenbei erwähnt – völlig unter Kon-
trolle haben, und etwa die Hälfte der Ausführungsorgane werden zu unseren Leuten gehören; vielleicht auch dreißig oder vierzig Prozent der Wachen, wie die beiden Herren, die mir halfen, dich von jenem Dach herunterzuholen.« »Und dann«, vermutete Bass, »werden Sie mit all dem – dem aufhören.« »Tyrannei ist das richtige Wort, Arthur. Es ist in keinem der Wörterbücher enthalten, die du gesehen hast, aber du wirst es am College kennenlernen und dazu noch viele andere alte Worte. Politik, Demokratie, Freiheit –, aber die Antwort auf deine Frage ist nein. Ich will dir erklären, weshalb; aber zuvor möchte ich dir noch eine Frage stellen. Wenn wir morgen schon Dean Horrocks Engel irgendwie von ihm wegnehmen könnten, wäre er dann noch in der Lage, seine Arbeit zu tun?« »Nein. Er will Menschen töten?« »Genau. Die Gruppe, zu der du nun gehörst, Arthur, unterscheidet sich vom Rest der Weltbevölkerung auf zwei Arten, nicht nur auf eine. Wir sind immun gegen alle Erscheinungsarten von psychischem Zwang – wir verdanken das einer Mutation –, und wir sind gesund. Das ist ein weiteres Wort, das du lernen wirst. Der Handelsausdruck dafür ist ›ererbtes Gleichgewicht‹. Beginnst du nun, zu verstehen? Die Analogbehandlung war ursprünglich als Kontrolle für gefährlich labile Personen – wie deinen Dean – entwickelt worden. Das System arbeitet so gut, daß in den hundertfünfzig Jahren, die seither vergangen sind, die geistige Labilität zur Norm wurde. – Wir können keine exakte Statistik aufstellen, aber wir haben gute
Gründe, anzunehmen, daß drei von zehn Menschen hoffnungslos irre wären ohne ihre ›Engel‹. So ist das einzige, was wir tun können, die Zahl unserer eigenen Leute so schnell wie möglich zu erhöhen, uns selbst zu schützen, unsere Stellung auszubauen und zu festigen, und zu versuchen, das Handelssystem vor der Selbstzerstörung zu bewahren, bevor wir es übernehmen können. Weißt du, es gibt einiges, das selbst ein Engel nicht fertigbringt. Er kann einen Gebietssachbearbeiter nicht von einer unvernünftigen Entscheidung abhalten. Nur ein Beispiel. Erinnerst du dich an die Knappheit an ProteinKonzentraten im vergangenen Jahr? Der Mann, der diesen Fehler beging, wurde selbstverständlich durch einen anderen ersetzt, aber dieser ist auch nicht viel besser. Die Engel können nichts tun gegen krampfartige Schizophrenie oder Fallsucht. Mehr als drei Viertel der Fälle von Besessenheit, von denen du gehört hast, sind keine Menschen wie wir, die man gefangen hat, sondern sogenannte normale Menschen, die im Irrsinn zusammenbrachen. Die Welt unserer Nachkommen wird vielleicht gut sein, Arthur. Keine Hypnose mehr in den Behandlungsräumen, in der Luft oder in den Zeitungen, und ich denke, wenig Irrsinn irgendwelcher Art. Aber wenn der große Zusammenbruch kommt – das wird nicht schön werden, und das erinnert mich an etwas. Ich wollte dir gern das hier zeigen.« Er reichte Bass ein halbes Dutzend Fotos. Bass schaute sie an. Es waren keine Elendsszenen, sondern Bilder von Mädchen seines Alters. »Schön« war offensichtlich das Wort, das Laudermilk daran erinnert hatte.
»Einige deiner Studienkameraden. Alle übrigens unverheiratet. Du hast doch nichts gegen Heirat, Arthur, oder?« Bass sah das Foto eines schlanken Mädchens mit weichem, schwarzem Haar länger an. Etwas an ihrem Lächeln und die Art, wie sie stand, verwirrte ihn. Einen Augenblick lang erschien Gloria Andressons Bild vor seinem geistigen Auge, eigenartig dicklich und dumm. Dann verschwand es wieder. »Nein«, antwortete er geistesabwesend. »Oder gegen Kinder? Aber das kommt ein wenig später. Ich will dich nicht drängen. Nun gut. Ich möchte jetzt doch lieber ein Auge voll Schlaf nehmen, glaube ich. Es war ein sehr arbeitsreicher Tag.« Er drückte den Sitz zurück und schloß die Augen. Nun, da er ruhte, zeichneten sich in seinem Gesicht Linien von Müdigkeit ab, aber darunter lag um die Falten die Andeutung eines Lächelns. Das Flugzeug flog dröhnend weiter, durch die Ausläufer einer Wolke, und verschwand in der unendlichen Nacht unter den ewigen Sternen.
Originaltitel: TURNCOAT Copyright © 1953 by Standard Magazines, Inc. Übersetzt von Leni Sobez