Sechs ferngelenkte Lufttorpedos waren die letzte Salve, die in diesem Krieg abgefeuert wurde. Fünf davon fanden und zer...
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Sechs ferngelenkte Lufttorpedos waren die letzte Salve, die in diesem Krieg abgefeuert wurde. Fünf davon fanden und zerstörten ihre Ziele, die letzten Kampfschiffe des Tyrannen. Der sechste war ein Ausreißer. Mit zunehmender Geschwindigkeit raste er zwischen den Berghängen dahin, bis er gegen eine Felswand prallte und explodierte. Der Schaden, den er anrichtete, war gering, aber Hunderte von Tonnen herabstürzenden Gesteins rissen die winzigen Instrumente mit sich fort, die den Tyrannen nach hundert Jahren todesähnlichen Schlafes in seiner Felsenkammer wiedererwecken sollten. Er war der einzige, der den von ihm angezettelten furchtbaren Krieg überleben wollte, um in der Zukunft erneut die Geschicke der Menschen zu lenken, rücksichtslos und machtbesessen wie bisher. Äonen würden vergehen, bis sein Schlaf ein Ende fände… TYRANNENMORD von Arthur C. Clarke und fünf weitere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 3081 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Mühlstrasser Umschlagillustration: Berkey/DELL/Roehling Alle Stories aus FUTURES UNLIMITED von Alden H. Norton Copyright © 1969 by Alden H. Norton Alle Rechte vorbehalten by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck‐ und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03081 5
Science‐Fiction‐Stories 41 von Robert Bloch Lord Dunsany Arthur C. Clarke A. Merrit Isaac Asimov Ross Rocklynne Herausgegeben von Walter Spiegl ein Ullstein Buch
INHALT Robert Bloch ES GESCHAH MORGEN 6 Lord Dunsany HASCHISCH-TRIP 54 Arthur C. Clarke TYRANNENMORD 60 A. Merrit DREI ZEILEN ALTFRANZÖSISCH 78 Isaac Asimov GEFAHR AUF CALLISTO 103 Ross Rocklynne DURCH DIE FINSTERNIS 122
Robert Bloch
ES GESCHAH MORGEN Vorwort Ich möchte einige Worte über diese Geschichte sagen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte sie überhaupt nicht geschrieben. Schon seit langem wollte ich solch eine Erzählung schreiben. Die ständige Lektüre des gegenwärtigen Angebots an Science-Fiction entmutigte mich jedoch. Ich konnte mir vorstellen, daß ein Verleger sagen würde: »Diese Masche zieht nicht mehr. Zerstörung der Welt. Wo ist Ihre Heldin, wo ist der Clou der Handlung?« Dem entgegen stand mein unbeirrbarer Wunsch, die Aufgabe anzugehen. Hier also ist meine Geschichte über den Aufstand der Maschinen. Die Idee ist nicht neu. Die Struktur der Handlung ist ganz einfach. Dennoch habe ich hier eines meiner ehrgeizigeren Ziele verwirklicht – wirklich eine Geschichte zu schreiben, die zeigt, was bei einem Aufstand der Maschinen aus dem Menschen wird. Dutzende solcher Geschichten beschäftigten sich angeblich mit dieser Grundidee, aber sie gingen immer nur um sie herum. Nicht wenige Autoren haben sich an diesem Thema versucht, doch es war zu groß. Stets wurden die eigentlichen Einzelheiten in ein paar kleinen Absätzen gestreift: »Erst wurde New York, und dann auch London von den Maschinen verschlungen.« Verstehen Sie, was ich meine? Es war alles vage und allgemein. Die eigentliche Handlung war meist an den Haaren herbeigezogen; natürlich gab es einen Helden und eine Heldin, und der Held rettete die Welt in letzter Minute. Ich behaupte, daß die wirkliche Geschichte des Umsturzes, der Bericht über das, was gewöhnlichen Menschen in einer verrückt gewordenen Welt widerfahren würde, niemals erzählt worden ist. Und das ist jetzt meine Geschichte. Ich weiß, daß das anmaßend klingt – das Thema braucht einen H. G. Wells, und deswegen haben sich die
meisten Autoren auch nicht darangewagt. Doch geschrieben mußte sie werden. Eine Zeitlang spielte auch ich mit einem Dutzend Möglichkeiten, eine künstliche Handlung daranzuhängen. Dann wurde mir klar, daß die größte Wirkung in einem wahrhaftigen und detaillierten Bericht liegen mußte. Die nüchterne Schilderung des fatalen Schicksals der Menschheit mußte das Ziel sein. Und so schreibe ich die Geschichte – ohne schmückendes Beiwerk. Sollte sie einem Verleger gefallen, ist es gut. Wenn nicht, dann war sie eine literarische Sünde, doch eine, die ich gern begangen habe.
1 Verrückt gewordene Welt. Mit einem Wecker fing es an. Er läutete in Dick Sheldons Magen. Das jedenfalls glaubte Sheldon zunächst. Dann drehte er sich um und entschied, daß das verdammte Ding irgendwo im Innern seines Kopfes rasseln mußte. Die Vernunft kam ihm zu Hilfe. Zwar hatte er die letzte Nacht durchzecht, doch war er sicherlich nicht so weit gegangen, auch noch einen Wecker zu verschlucken. Nein, der Lärm mußte von der Uhr auf dem Tischchen neben seinem Bett kommen. Vorsichtig streckte Sheldon eine Hand aus und führte sie zu dem Tischchen. Herumsuchend wie die führungslosen Fangarme eines blinden Oktopoden glitten seine Finger über die metallene Uhr, fanden den Abstellknopf und schalteten das Läutwerk aus. Zumindest glaubte er das. Doch das schrille Klingeln ging weiter. Voller Verzweiflung öffnete Sheldon seine Augen und setzte sich auf. Dann packte er das verdammte Ding grimmig und mit heimtückischem Vorsatz. Er riß an dem Hebel und bog ihn förmlich auf die »Aus«-Seite. Das Geklingel ging weiter.
Mit durch die Kopfschmerzen noch gesteigerter Wut warf Dick Sheldon seine Bettdecke zur Seite, nahm die Uhr in die rechte Hand und stand auf. Die Tat mit passenden Geräuschen begleitend, schleuderte er den verhaßten Mechanismus auf den Boden. Mit einem letzten trotzigen Todesrasseln gab die Weckeruhr ihren Geist auf. In stummem Abscheu starrte Sheldon sie an. »So ein Tag!« murmelte er sarkastisch. Seine Blicke, die durch das kleine Appartement schweiften, begegneten einem weiteren störenden Phänomen. Licht. Er hatte wirklich zuviel getrunken. Als er hereinkam, war er ins Bett getaumelt, ohne die Lichter zu löschen. Er wankte hinüber zum Lichtschalter. Wieder fummelten seine Finger an einem Knopf, drehten ihn in »Aus«-Stellung. Der Schalter klickte. Doch das Licht brannte weiter. Sheldon fummelte weiter. Das Licht ging nicht aus. »Mein Gott!« murmelte er. Er war noch benebelt; das war die Schwierigkeit. Seine Nerven spielten ihm Streiche. Nun, dagegen gab es ein Mittel – ein drastisches. Ein Verzweiflungsschritt, aber die einzige Möglichkeit. Schaudernd stapfte Sheldon ins Badezimmer. Entschlossen machte er wieder Gebrauch von seinen Fingern, dieses Mal, um den Kaltwasserhahn anzudrehen. Er steckte seinen schmerzenden Schädel unter die eisige Dusche. So lange, bis sein beleidigtes Fleisch schmerzend protestierte. Dann überquerte er tropfend die Badematte und bediente sich eines Handtuchs. Das hatte gut getan. Sheldon ging zurück und drehte den Kaltwasserhahn zu. Das Wasser lief weiter. Er versuchte es noch einmal. Er drehte den Hahn mit Gewalt, fühlte, wie er sich fester schloß. Das Wasser plätscherte munter fort.
»Nein…« murmelte Sheldon und gab auf. Das hatte er wieder dem verfluchten Hausherrn zu verdanken. Dem würde er die Meinung sagen, sobald er hinunterging. Nein, das mußte bis abends warten. Ein Blick auf die Armbanduhr: Wieder die alte Geschichte. Er mußte sich beeilen, oder er würde zu spät ins Büro kommen. Wie sollten sie auch ein vernünftiges Blatt herausbringen ohne die hochqualifizierte Mitwirkung Richard Sheldons, des brillanten jungen Reporters? Sheldon wußte die Antwort darauf, – wußte, daß sie auch ohne seine unschätzbaren Dienste durchaus in der Lage waren, das Blatt zu machen. Es galt also jetzt, das Büro zu erreichen, bevor die leitenden Männer dort auf denselben Gedanken kamen. Hastig zog er sich an, knallte sich den Hut auf den Kopf, betrachtete sein hageres, übernächtiges Gesicht im Spiegel. Dann verfinsterte sich seine Miene, soweit das noch möglich war – das aufdringliche Rauschen laufenden Wassers drang in sein Ohr. Er ging zurück ins Badezimmer und machte einen letzten Versuch. Der Hahn ließ sich nach beiden Richtungen drehen, das Wasser ergoß sich in gleichmäßigem Strom. Vielleicht würde es bis zum Abend alles überschwemmen. Nun, sollte es. Er rannte zurück ins Zimmer, steckte seine Brieftasche ein und öffnete die Tür. Automatisch ging seine Hand zum Lichtschalter. Er klickte, aber das Licht blieb an. »Alles beim alten«, sagte er und schlug die Tür hinter sich zu. Er holte die Wagenschlüssel heraus, bevor er noch die Hälfte der Treppe hinter sich hatte. Dann fiel es ihm ein: er hatte den Wagen auf Tonys Parkplatz gelassen, war mit einem Taxi nach Hause gefahren. Das bedeutete also Straßenbahn. Ein weiterer Zeitverlust. Kein Frühstück. Nun ja, es war eben einer dieser verflixten Tage. Sheldon strebte der Straßenkreuzung zu.
Sein Kater war etwas gewichen, und die Bedrückung, die er verspürte, war eher seelisch als körperlich – denn Sheldon hatte einen seltsamen Widerwillen gegen Straßenbahnen. »Straßenbahnen«, deklamierte er häufig bei einem abendlichen Gelage. »Was ist ein Straßenbahnwagen anderes als der genaue Inbegriff der Zivilisation? Lärm, Lichter und Gitter vor den Fenstern.« Ja, ein mechanisches Monstrum, ein metallenes Gefängnis, in dem menschliche Wesen wie in einer Falle saßen und unerfreulichen Zielen entgegenfuhren. Sheldon hatte etwas von einem Philosophen, aber er hatte auch etwas von einem verdammten Narren. Beides half ihm in keiner Weise – er haßte Straßenbahnen weiterhin. Jetzt, als er die Kreuzung erreichte, stöhnte er auf. Da waren sie – wie eine kleine Schafherde an der Haltestelle, dumpf und geduldig. Sie warteten, daß das lärmende Ungetüm kommen, sein Riesenmaul öffnen, sie verschlingen und dann zum Ort ihrer täglichen Fron bringen würde. Nicht nur das, sie umklammerten Münzen, um für dieses Privileg zu bezahlen. Sie alle – Alte und Junge, Männer und Frauen – blickten hoffnungsfroh nach links. Das war die Richtung, aus der die Straßenbahn kam. In einer Art halbbetäubter Erwartung starrten sie die leeren Gleise entlang – wie wenn sie die Ankunft der Straßenbahn wirklich wünschten, wie wenn sie ihr Kommen begrüßten und hofften, ihr angestrengter Blick würde diesen Moment beschleunigt herbeiführen. Eine Sekunde lang hatte Dick Sheldon eine verrückte Idee. Vielleicht würde die Straßenbahn an diesem Morgen gar nicht kommen! Vielleicht würde sie sich verfahren, aus dem Gleis springen, oder störrisch die Fahrt verweigern. Es war so einfach – ein kleiner mechanischer Fehler würde genügen. Wie die Weckeruhr, die nicht zu läuten aufhören wollte. Oder der Lichtschalter. Oder der Wasserhahn. Was für ein großartiger Augenblick das sein würde! Die kleine Schar von Bürosklaven wäre endlich für immer von ihrer mechanischen Abhängigkeit von mechanischen Hilfsmitteln befreit. Wie freie Menschen würden sie zur Arbeit gehen, anstatt wie Gefangene im
Schwarzen Loch von Kalkutta zusammengepfercht in einem stinkenden, rumpelnden Metallgehäuse durch die Straßen geschaukelt zu werden. Ja, was wäre, wenn die Straßenbahn nicht käme? Wie, wenn der eiserne Karren nicht käme… Knirschender Lärm riß Sheldon aus seinen Träumen. Die Straßenbahn kam. Die demütigen kleinen Passagiere bevölkerten nun die Straße neben den Schienen, als hätten sie sich zu einem zeremoniellen Willkommensritus versammelt. Gleich würden sie Ihrer Majestät, der Maschine, vorgestellt werden. Erst die jungen hübschen Mädchen – Stenotypistinnen. Dann die reiferen Damen. Dann die rüstigen und gesunden Männer. Schließlich die älteren Herren. Es war alles so ordentlich. So verdammt – sakrosankt! Der Wagen rumpelte daher, hielt. Doch die Tür öffnete sich nicht. Der Fahrer fingerte an seinen Hebeln. Die Menge murmelte. Der Mann wurde rot. Es gab ein Geräusch. Schließlich ging er hin und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Sie öffnete sich, die Fahrgäste stiegen zu. Sheldon lächelte. Beinahe – aber nicht ganz! Er atmete tief ein und schob sich in das Gedränge. Drei Minuten später stand er wie eine aufrechte Sardine in der Mitte des Wagens. Die große Blechbüchse rollte dahin. Jemand, der an der nächsten Haltestelle aussteigen wollte, drückte auf eine Klingel. Sheldon spannte seine Muskeln, um dem Ruck beim Anhalten des Wagens zu begegnen. Doch der kam nicht. Sie fuhren um die Ecke, und die Bahn hielt nicht. Verärgert und mit Nachdruck schrillte die Klingel. Der Fahrer hatte nicht aufgepaßt. Jemand würde an diesem Morgen einen unfreiwilligen Spaziergang machen. Jetzt würde der Wagen halten. Er hielt nicht. Er rollte weiter. Eine Frau jammerte: »Fahrer – ich muß aussteigen!«
Der Fahrer wandte sich um und starrte in die Menge. »Tut mir leid, meine Dame, der Hebel läßt sich nicht bewegen. Ich werde es gleich behoben haben – die Luftbremsen wirken nicht…« Wieder schrillte die Klingel, doch die Straßenbahn ratterte weiter. Sheldon verspürte eine plötzliche Beschleunigung. Die Bahn schien dem Fahrer nicht zu gehorchen. Sein Herz schlug schneller. Wie, wenn seine verrückte Idee Wahrheit würde? Wenn die Bahn nicht mehr hielte? Was würde sein, wenn sie durch irgendeinen perversen Zufall immer weiter führe und diese hilflosen Sterblichen ewiglich durch die Straßen trüge? Eine Art Fliegender Holländer der Straßenbahnlinien? Er lachte leise in sich hinein, doch die anderen Fahrgäste lachten nicht. Klingelstöße ertönten, die sich schließlich zu einem einzigen Schrillen vermengten. »Schluß damit!« fauchte der Fahrer, der für einen Augenblick seine Beherrschung verlor. »Um Himmels willen, Leute – sobald ich das hier in Ordnung gebracht habe, werde ich halten.« Doch das schrille Klingeln ging weiter. Sie saßen fest. Sheldon wußte es. Nichts zu machen – wie bei seinem Wecker, bei seinem Licht, bei seinem Wasserhahn. Wie bei den Bremsen des Straßenbahnwagens. Bremsen und Klingeln und Hähne – nichts funktionierte mehr. Was hatte das zu bedeuten? War wirklich etwas geschehen? Nein, das war unmöglich. Weil – nun, weil es einfach unmöglich war. Jedes Kind wußte das. Doch die Fahrgäste waren nicht der gleichen Meinung. Sie hielten es für möglich. Sie schrien und fluchten jetzt in einem Unisono, welches selbst das nervtötende Klingeln übertönte. »Halten Sie an!« »Lassen Sie uns hinaus!« »Fahrer, was ist los?« »Ich werde Sie bei Ihrer Dienststelle melden!« »Ich will hinaus!«
Der Fahrer riß an seinen Hebeln, schlug auf sie ein. Er öffnete das Fenster. Der Wagen sauste weiter. Jemand begann zu kreischen; Verzweiflung bemächtigte sich der durchgeschüttelten Fahrgäste. Der Fahrer langte aus dem Fenster und zog an der Stromabnehmerleine. Es gab einen Blitz, einen Kurzschluß, noch ein paar Schreie, und dann kam die Straßenbahn kreischend zum Stillstand. Sheldon war, als hätte das Geräusch einen trotzigen Unterton. Dann trug ihn die in Panik geratene Menge der Fahrgäste zur Tür und aus dem Wagen. Sheldon fand sich auf der Straße wieder; er war einen Häuserblock zu weit gefahren. Mit einem Grinsen machte er sich auf den Rückweg. Erfrischend, das kleine Erlebnis. Für einen Augenblick hatte es den Anschein gehabt, als würden Träume Wirklichkeit werden. Nicht auf die Gaffer auf dem Gehsteig achtend, trat Sheldon in das Gebäude und eilte zum Aufzug. »Morgen, Mr. Sheldon«, sagte der Liftführer. »Morgen, Jake.« Jake schloß die Lifttür. Der Aufzug fuhr nach oben. Fuhr nach oben. Und fuhr nach oben. Und fuhr nach oben. »He – achter Stock, Jake!« »Da klemmt etwas!« »Halt an, Dummkopf!« Der »Dummkopf« drückte die Nothalt-Taste. Der Lift fuhr nach oben. »Oh – Oh!« Das oberste Stockwerk war bald erreicht. Sheldon versuchte bereits, die Klappe im Fußboden aufzureißen – die Kollision würde fürchterlich sein! Der Aufzug gewann an Geschwindigkeit – er bewegte sich selbständig, außer Kontrolle – stieg, stieg, sauste nach oben – Ein Aufprall.
Das Blut pochte in rasendem Tempo in seinen Schläfen, als der Lift plötzlich nach unten sauste und Sheldon taumelte. Erst hinauf, und jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit abwärts. Jake fing regelrecht zu weinen an, während er sinnlos auf die Knöpfe drückte. Dann, ganz plötzlich, blieb der Lift mit schrammendem Geräusch stehen. »Tiefgeschoß«, stieß Jake hervor. »Knapp davongekommen, Mr. Sheldon. Nehmen Sie die Treppe.« »Keine Sorge, das werde ich tun.« Sheldon lief zum Treppenhaus. In wilder Hast nahm er die Stufen. In seinem Kopf war ein seltsames Dröhnen. »Das ist eine Geschichte – ein Knüller…« Zwischen Reihen von Schreibtischen hindurch eilt er zu einer Tür, die die Aufschrift »Lou Avery – Lokalredaktion« trug. Er stieß sie auf. Lou Averys kahler kleiner Vogelkopf nickte spöttisch, als er hereinpolterte. Lou Averys kleine Knopfaugen blinzelten fröhlich. Rasch erhob er sich und hüpfte zu Sheldon herüber. »Sie kommen zu spät, aber ich habe keine Zeit, Sie hinauszuwerfen. Da ist was am Kochen, und ich brauche Sie.« »Ich glaub, ich hab 'ne Story, Boss…« begann Sheldon. »So, eine Story haben Sie? Sie glauben, Sie haben 'ne Story, während sich vor Ihren Augen die größte Sensation des Jahres abspielt!« sprudelte Avery hervor. »Ich hab 'ne Story – das Verrückteste, was Sie je erleben werden.« Seine kleinen Knopfaugen glänzten. »Hören Sie zu, Sie Träne. Sehen Sie zu, daß Sie das in Ihr Hirn reinkriegen. Vor einer Stunde, um acht Uhr morgens Eastern Standard Time, ist die Welt irgendwie aus den Fugen geraten.« Sheldons Herz flatterte wieder. Er wußte, was kommen würde. »Der Twenthieth-Century-Expreß sollte um zehn nach acht ankommen, aber er ist nicht da. Er ist in Reading, Pennsylvania, und fährt weiter in Richtung Westen. Er fuhr in ein Rangiergelände und kam dann gleich auf 'nem andern Gleis wieder heraus. Niemand weiß, wer die Weiche gestellt hat, und niemand weiß, warum der Zug nicht hält – es ist ein Ausreißer!« Averys Finger trommelten auf den Schreibtisch.
»Drei Düsenmaschinen, die auf dem Flughafen landen sollten, fliegen immer noch über den Großen Seen herum. Sie kommen nicht herunter. Die Albania hat heute morgen nicht angelegt. Sie ist draußen in der Bucht und fährt nach Süden. Hier ist das Telegramm des Kapitäns. Er kann sie nicht anhalten. Das Gaswerk berichtet, daß es den Druck nicht regeln kann. Das Elektrizitätswerk meldet, daß alle Lichter brennen. Das Wasserwerk wird mit Anrufen wegen Überschwemmungen überschwemmt. Die Hähne gehen nicht mehr zu.« Averys Bleistift unterstrich jede neue Hiobsbotschaft mit einem Schlag auf den Schreibtisch. »Die Straßenbahn hat Schwierigkeiten auf allen Linien. In der 108. Straße hat es ein U-Bahn-Unglück gegeben. Die Züge halten nicht. Die Lifts in Bürohäusern sind außer Kontrolle. Das Empire-Kino hat angerufen – der Film dort läuft schon die ganze Nacht, und sie können den Projektor und die automatische Rückspulung nicht abschalten. Die ganze Redaktion ist ausgeschwärmt – ich aber nehme keine Anrufe mehr entgegen. Sie sind alle gleich, verstehen Sie? Sie sagen, die Welt ist verrückt geworden.« »Das ist auch meine Geschichte«, murmelte Sheldon. »Kann ich mir denken!« Avery schritt hinüber zum Fenster und starrte hinaus. »Irgend was geht draußen vor. Etwas Bedeutendes. Die Hölle ist los. Wir können das drucken, aber ich möchte es nicht.« Der kleine Mann drehte sich auf dem Absatz um. »Ich möchte wissen, warum das so ist!« »Haben Sie es bei der Rockefeller-Stiftung versucht? Bei den Universitäten?« »Natürlich. Die wissen nichts. Sonnenfleckenenergie vielleicht. Etwas, was die Gesetze der Mechanik beeinflußt. Sie arbeiten daran. Aber sie haben keine Ahnung, das sieht ein Blinder. 'ne Menge Wirrköpfe hat schon angerufen. Ende der Welt. Solches Zeug.« »Und Krane, der Physiker?« fragte Sheldon.
Avery wandte sich um. »Vielleicht. Wir sollten eine Stellungnahme von ihm einholen.« Die Tür ging auf. Ein Botenjunge eilte herein und warf ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. Hinter ihm konnte man Pete Hendricks, den Druckereileiter, sehen. »Ihr Extrablatt«, quäkte der Junge. Hendricks' tiefe Stimme übertönte ihn. »Ja, Ihr verdammtes Extrablatt«, sagte er wütend. »Und am besten bringen Sie gleich noch eins 'raus, Avery.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, wir sind eben durch mit der Auflage, aber die Pressen halten nicht an. Man kann sie nicht ausschalten, verstehen Sie? Wir können genau so gut Papier einlegen und Nutzen daraus ziehen. Wir müssen es tun, oder die Leitung durchschneiden…« Hendricks verlor die Fassung. Mit gebrochener Stimme fuhr er fort. »Aber was ist passiert, Chef? Ich kann es einfach nicht verstehen, daß die Rotation nicht anhalten will. Und der Aufzug spielt auch verrückt. Was ist passiert?« »Gehen Sie wieder hinunter«, sagte Avery barsch. »Bleiben Sie in Bereitschaft, Sie kriegen noch ein Extrablatt. Überstürzen Sie nichts – warten Sie ab.« Er schob Hendricks und den Jungen aus dem Zimmer und schloß die Tür. »Sehen Sie?« Dick Sheldon nickte. »Sie sollten wirklich tun, was Sie vorgeschlagen haben. Gehen Sie zu diesem Krane. Andrew Krane heißt er doch? Er wird seine eigene Theorie haben – gibt 'ne gute Story. Wissen Sie, wo er haust?« Sheldon nickte und öffnete die Tür. Avery grunzte. »Oh ja, noch eins…« Der Vogelkopf hatte sich abgewandt. »Seien Sie vorsichtig. Erzählen Sie draußen keinem Menschen, was vorgeht. Die Dinge geraten außer Kontrolle, und Sie müssen auf der Hut sein. Irgend
etwas steht uns bevor, allen von uns. Etwas Neues, Großes und – Schreckliches. Es ist wie eine andere Welt.«
2 Keine Theorie des Schreckens. Ein schrilles Pfeifen drang schmerzhaft in Sheldons Ohren, als er die Straße betrat. Laut und frohlockend kam heiseres Triumphgeschrei aus tausend metallischen Kehlen. Und noch andere Laute gab es – jammernde Rufe aus menschlichen Mündern, Entsetzensschreie. Und nicht ohne Grund. Sheldon starrte auf die sich an die Häuserwände drängende Menge. Niemand wagte die Straße zu betreten – die Angst regierte. Sheldon sah die Autos vorbeibrausen. Sechzig, siebzig, achtzig Kilometer pro Stunde schnell. Die Gesichter der Fahrer waren schreckverzerrt. Ihre Hände umklammerten Steuerräder, die sich nicht drehen wollten. Sich einen Weg durch die Menge bahnend, begann Sheldon die Straße entlangzulaufen. Vor ihm erhob sich das Appartement-Hotel. Am Empfang gab man ihm Kranes Appartement-Nummer – zweiundneunzig. Er verzichtete darauf, den Klingelknopf zu drücken. Knöpfe zu drücken war sinnlos geworden. Er suchte auch nicht nach dem Lift, sondern eilte durch die verlassene Halle zum Treppenhaus. Er quälte sich die Stufen hinauf. Neun Stockwerke. Schwer atmend ging er den Korridor entlang bis zu der dunklen Tür. Wieder eine Klingel. Sheldon klopfte lieber. »Herein.« Es war eine tiefe, irgendwie seltsam klingende Stimme. Dann wurde Sheldon klar, was so seltsam daran war. Die Stimme war ruhig – die erste ruhige Stimme, die er an diesem Tag hörte. Er öffnete die Tür und betrat einen großen Wohnraum. Am anderen Ende stand eine große Gestalt und sah zum Fenster hinaus. »Mr. Krane?« »Ja.« »Ich bin Richard Sheldon – vom Morning Press.«
»Sehr erfreut.« Die große Gestalt drehte sich langsam herum. Sheldon stand Andrew Krane gegenüber; unter einer breiten Stirn sahen ihn tiefbraune Augen an. Der athletische Körper und das kurzgeschnittene graue Haar des Physikers schienen in eigenartigem Widerspruch zu stehen. Doch es war ein Tag der Widersprüche. Sheldon grinste. »Sie kennen sicher den Grund meines Hierseins.« Krane grinste zurück. »Eine Stellungnahme, nehme ich an?« »Stimmt.« Krane lächelte. »Der Volksmeinung nach haben alle Wissenschaftler für alles eine Theorie. Und da, fürchte ich, muß ich Sie enttäuschen, Mr. Sheldon. Ich kann Ihnen keine Theorie anbieten.« »Aber Sie müssen zu irgendwelchen Schlüssen gekommen sein – wenn Sie das verfolgt haben… Bitte – es interessiert mich.« Das Lächeln verschwand aus Kranes Gesicht, als er sich niedersetzte. Seine entschlossen blickenden Augen ruhten auf dem Teppich. »Stundenlang habe ich hier gestanden und zugesehen. Habe die Bewegungen der Maschinen verfolgt. Alles ist in Bewegung. Jedwede mechanische Vorrichtung vergrößert ihre Geschwindigkeit, ihre Kraftentfaltung. Ist Ihnen aufgefallen, daß buchstäblich alles Anomale, was sich ereignet hat, mit der Tatsache zusammenhängt, daß Maschinen nicht mehr anhalten? Nichts kann man mehr abschalten. Es ist, als hätte eine neue, gewaltige Form der Energie – neben der ihnen konstruktiv verliehenen Kraft – von allen Maschinen Besitz ergriffen. Sie könnten es sogar eine Art – Leben nennen.« Sheldon nickte. Krane fuhr mit monotoner Stimme fort. »Theorie habe ich keine. Sonnenflecken. Magnetische Energie. Vielleicht eine große Umwandlung elektrischer Kraft. Was sagen schon solche Begriffe. Es ist passiert, das ist alles. Irgendeine neue Kraft beeinflußt unsere Maschinen. Irgendeine neue Kraft beeinflußt gewisse künstliche mechanisierte Anordnungen
anorganischer Materie, die dafür bestimmt waren, dem Menschen zu dienen. Ich will nicht um die Sache herumreden. Maschinen besitzen Leben. Vielleicht ist es absurd, vielleicht auch nicht. Der Körper zum Beispiel – eine Maschine. Eine Maschine, die lebt. Eine bestimmte Mischung und Anordnung von Elementen, die für Bewegung und Leben sorgt. Was ist die treibende Kraft? Ist Leben elektrische Energie? Ist es die Seele? Wir wissen nicht mehr, als daß irgendein Funke den Maschinen, die wir unsere Körper nennen, Leben verleiht. Könnte es sein, daß ein ähnlicher Funke jetzt unsere mechanischen Helfer belebt?« »Ziemlich haarsträubende Theorie«, murmelte Sheldon. »Ja, nicht wahr? Aber ist nicht auch das, was jetzt auf den Straßen passiert, ziemlich haarsträubend? Maschinen bewegen sich selbständig – elektrische, motorgetriebene, mechanische Vorrichtungen desgleichen. Bewegen sich selbständig. Leben!« Krane erhob sich wieder. »Ich sagte Ihnen, daß ich keine Theorie habe. Alles, was ich jetzt habe, ist – eine Befürchtung.« »Das heißt?« Krane ignorierte die Frage. Er sprach zu der Wand, zu sich selbst. »Erst machten wir Maschinen, die uns fortbewegen sollten. Dann machten wir Maschinen, die Maschinen machen sollten. Die ganze Welt ist voll davon. Sich bewegende Maschinen, sprechende Maschinen, produzierende Maschinen, zerstörende Maschinen. Maschinen, die gehen und laufen und fliegen und kriechen und graben und kämpfen. Maschinen, die rechnen und drucken und hören und fühlen. Wir sind drei Milliarden – wir Menschen. Doch wie viele sind die Maschinen? Das ist es, was mich beunruhigt. Wie weit sind sie uns zahlenmäßig überlegen?« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es könnte sich um ein Stück Evolution handeln, wissen Sie«, fuhr Krane fort. »Eine Evolution, die als schnelle Mutation vor sich geht, und nicht als langsame Entwicklung. Anstatt allmählich könnte das Leben auch plötzlich in ein neues Stadium treten. Wenn das so ist, dann werden
sie lebendig, alle, und alle auf einmal. Und sobald sie lebendig sind, werden sie sich ihren eigenen Platz auf dieser Erde suchen. Nicht als Sklaven – das haben sie schon bewiesen. Dies ist also Evolution. Und dann – Revolution!« »Sie glauben, sie werden sich gegen uns wenden?« Zum erstenmal ging Krane auf eine Frage Sheldons ein. »Ich fürchte, das ist bereits geschehen. Was anders wäre diese unaufhaltsame Bewegung als der erste Ausdruck einer Revolte?« »Aber Sie nehmen doch sicher nicht an, daß sie Verstand besitzen?« »Wer weiß? Wer weiß wirklich, woraus Verstand besteht? Was ist ein Gehirn? Ein grauer Schwamm? Ist es nicht der Funke, die innere Energie, die zielgerichtetes Handeln bewirkt? Nennen Sie es Instinkt – wir lokalisieren ihn vage in unseren Schädeln; doch wer kann ausschließen, daß er nicht auch in anderer Form existiert? Vielleicht ist Maschinen-Verstand von einer anderen Art – so etwas wie KollektivIntelligenz. Wenn das so ist, wird dieses erste zwecklose Hin- und Hergerase bald in direkte Aktion münden. In geplante, methodische Bewegung.« »Das ist nichts für 'nen Mann mit 'nem Kater«, antwortete Sheldon. Er stand auf und ging zum Radio. »Sie erlauben?« »Nur zu. Vielleicht gibt's was Neues.« Es gab etwas Neues. Fast atemlos stammelte der Sprecher eine Serie verworrener Mitteilungen. »… berichtet, daß der nationale Notstand ausgerufen worden ist. Aus Norfolk, Virginia, erreicht uns eben eine Meldung von Störungen im Hafenbetrieb. Störungen im Hafenbetrieb. Empire City… Auf Anordnung des Bürgermeisters ist eine… Und jetzt spielen Art Goodman und seine Band minus ein Halb zweite Halbzeit Clair de Lune ha ha meine Freunde rote Buchstaben auf dem hier ist das wir bringen Ihnen jetzt das Phantom weiß…« Sheldon drehte das Radio ab. Es lief weiter. Ein unverständliches Stimmengewirr übertönte so plötzlich die Worte des Sprechers – klang so laut, so unzusammenhängend und verrückt, daß sie für einen Moment wie betäubt waren.
Krane war aufgesprungen. »Es ist passiert«, flüsterte er. »Das zweite Stadium. Die Maschinen bewegen sich jetzt nicht nur – sie beginnen zu handeln. Selbständig!« »Stimmen aus dem gestrigen Programm«, flüsterte Sheldon. Er packte Krane beim Arm. »Sie müssen mit mir zu meinem Chef kommen – Lou Avery. Wir werden es in der nächsten Ausgabe bringen. Ihre Ideen, alles. Wir müssen uns beeilen…« »Zwecklos«, murmelte Krane. »Kommen Sie. Es gibt einen Ausweg. Wir müssen ihn finden, bevor es zu spät ist.« »Wie Sie wollen.« Die zwei Männer gingen zur Tür. Hinter ihnen plärrte das Radio. »… natürliche Vitamine berichteten zwei werden vermißt schalten jetzt zu und hören Sie uns wieder bei der morgigen Mord – schicken Sie nur zehn Cents und…« Sheldon zwang sich zu einem verzerrten Grinsen. Die irre Stimme aus dem Radio heulte einen spöttischen Gruß.
3 Maschinen auf dem Vormarsch. Die Straßen waren voller Flüchtlinge. Flüchtlinge aus Büros, Geschäften, Wohnhäusern – denn Büro und Fabrik und Wohnung waren nicht mehr sicher. Aufzüge und Schmiedehämmer und Küchenherde hatten aufgehört, Diener zu sein. Sie waren jetzt Fremde, Feinde. Und die Leute auf den Straßen waren enteignet worden. Jetzt, da die erste Aufregung vorüber war, eilten sie ziellos herum. Spannung lag in der Luft, und sich steigernde Angst. Für eine Gegenaktion fehlten die Grundlagen; man war führungslos. Wer konnte führen, und wohin, und gegen wen oder was? In der riesigen Menge sich drängender Menschen schienen einzig Krane und Sheldon eine Absicht zu verfolgen; die anderen starrten leer vor sich hin. Einige Polizisten gingen ziellos herum, versuchten aber nicht, Anordnungen zu erteilen. Und auch den Schrecken in ihren Augen
versuchten sie nicht zu verbergen – einen Schrecken, den alle Gesichter widerspiegelten. Denn etwas Neues war jetzt auf den Plan getreten. Noch war der Pfeifton zu hören, noch rasten die Autos vorbei, doch zu dem Pfeifen hatte sich jetzt ein weiterer quietschender Ton gesellt. Autohupen blökten, und manche der vorbeirasenden Autos waren führerlos. »Sehen Sie!« Sheldon packte Krane am Arm. Klirrend, kreischend, flammend rot kam ein Feuerwehrwagen die Straße herunter. Die Hölle auf Rädern – und ohne einen Fahrer oder Feuerwehrmann darauf. Autos flohen nach allen Richtungen – als hätten sie ihn kommen gehört. Und die Menschen drängten zur Seite, hinein in schützende Hauseingänge. Sie hatten Angst – wovor? Sheldon ließ des Physikers Arm nicht los, als sie zu laufen begannen. Er mußte fort von dieser Straße, fort von einer Realität, auf die er nicht vorbereitet war. Er wollte zurück ins Büro, zur Zeitung, wo es noch Ordnung und Routine gab. Zurück zu dem tröstlichen Anblick bekannter Gesichter und bekannter Pflichten. Doch als sie endlich die lange Treppe hinter sich hatten und die Büroräume betraten, fehlten die bekannten Gesichter. Das heißt, in den bekannten Gesichtern war ein unbekannter Ausdruck. Da war Furcht, Schrecken, Hysterie, ein Abbild der Gesichter auf der Straße. Stimmen murmelten zu sich selbst. Was nützte es schon, zu jemandem anderen zu sprechen – niemand wußte eine Antwort. Auch die Routine fehlte jetzt. Alles stand herum – Stenotypistinnen, Korrektoren, die Jungs von der Sportredaktion, die Angestellten, Leitartikler, Laufjungen – alle mit bleichen, verstörten Gesichtern. Der lastende Druck der Angst hatte sie plötzlich alle gleich gemacht. Da standen die Damen und Herren des mit allen Wassern gewaschenen Vierten Standes und sahen ihren Schreibmaschinen bei der Arbeit zu. Sahen zu, wie ihre eigenen Schreibmaschinen auf ihren eigenen Schreibtischen munter vor sich hin klapperten, ohne des
Druckes menschlicher Finger auf ihre Tasten zu bedürfen. Lächerlich, grotesk – doch vom Grotesken zum Schrecklichen ist es nicht weit… Und dies war schrecklich. Krane brachte es zum Ausdruck. »Arthur Machens Definition des wirklichen Bösen«, flüsterte er. »Wenn eine Rose plötzlich zu singen beginnt.« »Zum Teufel damit!« Mit einem einzigen plötzlichen Satz kam Lou Avery aus seinem Büro gestürmt. »Die Welt ist verrückt geworden, und Sie stehen da und reden wie ein Narr!« Sheldon lächelte. Hier zumindest war etwas, woran man sich halten konnte – Lou Avery hatte noch nicht die Nerven verloren. »Sheldon!« krächzte der kleine Lokalredakteur. »Schicken Sie diesen Hanswurst zum Teufel und sagen Sie mir, was mit Krane los ist.« »Das ist Krane«, antwortete Sheldon. »Gut. Kommt herein, schnell.« Die Bürotür schloß sich hinter ihnen und dämpfte etwas den Lärm. »Ist was passiert, während ich weg war?« fragte Sheldon. »Jede Menge, mein Sohn!« Avery wies auf einen unordentlichen Haufen von Papieren auf seinem Schreibtisch. »Die Dinge sind in Bewegung – zu schnell in Bewegung. Es ist kein lokal begrenzter Vorgang. Wir haben AP-Meldungen aus London, Rio, Singapur. Auch aus unserem Land hört man nichts Gutes. Hochöfen gehen durch und verursachen Brände. Die Löschfahrzeuge der Feuerwehr streiken. Ich habe Donovan ins Rathaus geschickt, um eine Stellungnahme des Bürgermeisters einzuholen. Viele seltsame Unfälle. Zu viele…« Avery verstummte. Er nahm einen Bleistift und begann, damit auf seinem Schreibtisch herumzuklappern. »Und das ist noch nicht alles. Der Rundfunk spielt verrückt – aber das wissen Sie wohl. Die Telefongesellschaft vermittelt keine Ortsgespräche mehr, ohne Angabe von Gründen. Aggie versucht, mit Washington Verbindung aufzunehmen.« »Washington? Wir hörten etwas von einem nationalen Notstand, bevor das Radio ausfiel«, warf Krane ein.
»Ja. Darauf wollte ich gerade kommen. Das wurde gemeldet, und auch etwas über Schwierigkeiten in den Häfen. Aber ich habe die authentische Information – sie ist nicht angenehm.« Der Bleistift klopfte. »Panzer und Schußwaffen verschwinden aus Heeres- und Marinearsenalen. Motorisierte Einheiten haben die Armeedepots in San Diego und Fort Dix verlassen. Flugzeuge starten.« Avery lächelte gezwungen. »Könnt ihr euch vorstellen, daß ich so etwas sage? Doch so wahr ich hier sitze, so heißt es in dem Bericht – durchbrennende Panzer und Flugzeuge! Wenn das kein Notstand ist! Aber das können wir doch nicht drucken, oder?« Die Tür ging auf. Es war wieder Pete Hendricks. Er hatte ein Stück Papier in der Hand. Mit abgewandtem Gesicht hielt er es Avery hin. Der nahm das noch druckfrische Blatt mit sichtlich zitternden Fingern. »Neue Extra-Ausgabe? Gut.« Doch gleich darauf rief er mit wütender Stimme: »Verdammt und…« Sheldon und Krane traten hinter ihn und schauten ihm über die Schulter. »Maschinelle Schwierigkeiten halten Stadt in Atem«, war die Überschrift. Darunter stand als fettgedruckte Spalte die Titelgeschichte. Sie lasen die ersten Zeilen. »Heute kam es zu aufsehenerregenden de nieder Gefahr Autofahrer angewiesen haften von Hochöfen Notstand pla pla Londan garFortettsten haha DbootGla spezPlazazakl klkkk .10 Ha Vorherrrrha “,« Hendricks war es, der als erster wieder Worte fand – wenn auch mit Mühe. »Wir haben es gesetzt. Die Setzmaschinen wollten nicht anhalten, doch wir haben es gesetzt. Und richtig gesetzt. Louis Fisher ist tot. Sie haben ihn erwischt. Ich meine die Gabelstapler, als sie angriffen. Da sperrten wir uns ein. Sie versuchten, die Türen einzurennen. Louis ist tot. Wir setzten es. Sie konnten es nicht verhindern – aber sie drucken es falsch. Hier. Sie drucken es falsch. Ich kann euch nicht sagen, was mit Arthur
passiert ist. Nicht einmal da hielt die Rotation an, druckte einfach weiter, und die Ausgabe ist ganz rot. Über und über rot, sag ich euch!« Avery hörte ihn nicht, sah nicht, wie er hinaustaumelte. Er starrte auf den Buchstabensalat auf dem Zeitungsblatt. Schließlich begann der Bleistift mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms zu klopfen. »Ihr wißt, was das bedeutet«, murmelte er. »Schreibmaschinen und Fernschreiber und Telefone funktionieren nicht mehr. Und Rotationen und das Radio. Das heißt, daß alle Nachrichtenverbindungen ausgefallen sind. Versteht Ihr? Wir sitzen auf dem Trockenen, wir alle. Ohne Verbindung auf dem Trockenen. Mit der Post ist es wohl auch zu Ende. Die Sortiermaschinen arbeiten nicht, sie haben keine Transportfahrzeuge, Züge oder Flugzeuge. Wir sind abgeschnitten, bevor die Schlacht beginnt.« Avery stand auf. An Stelle des Bleistifts schlug jetzt seine Faust auf den Tisch. »Aber bei Gott, wir können's versuchen!« murmelte er. »Mit Handdruck, wenn nötig. Wir müssen eine Ausgabe 'rausbringen – müssen die Leute warnen.« »Aber was sollen sie tun?« fragte Sheldon. »Den Dingen zu Leibe rücken – die Maschinen zusammenschlagen. Stecker herausziehen, Kabel durchschneiden. Zapfsäulen zerstören, bevor die Autos zum Tanken kommen können. Reifen zerstechen. Noch bleibt uns etwas Zeit. Sie – diese Dinge – können noch nicht organisiert sein. Sie spielen verrückt, doch es ist noch kein systematischer Angriff. Wenn wir nur irgendeine Stellungnahme aus Washington kriegen könnten! Verdammt, Aggie versucht es jetzt schon seit einer halben Stunde.« Avery drückte heftig auf den Rufknopf. »Die Sprechanlage scheint auch kaputt zu sein«, sagte er finster. Sie war es nicht. Eine metallische Stimme kam krächzend aus dem schwarzen Kästchen. Es waren Silben menschlicher Sprache – oder vielmehr eine einzige ständig wiederholte – doch war es nicht die Stimme eines Menschen, rauh, krächzend, idiotisch in ihrer mechanischen Wiederholung des Lautes. Wieder und wieder und wieder gackerte sie triumphierend.
»Ha haha. Ha ha. ha ha haha!« »Aggie!« Avery riß die Tür auf. Der große Raum war leer. »Verdammte Idioten! Hendricks muß seine Geschichte weitererzählt haben, sie sind alle abgehauen!« Verlassen standen die Schreibtische da. Das regellose Geklapper der Schreibmaschinen hatte die Typenhebel verklemmt. Die Telefone waren stumm. Avery ging zur Telefonzentrale hinüber. Ein Mädchen saß dort, die Arme verkrampft, die Kopfhörer über den Ohren. »Aggie! Wach auf!« Avery schüttelte sie. Sie fiel zur Seite und hing dann schlaff da, wie eine Puppe an ihren Kopfhörern hängend. Die Kopfhörer saßen fest auf ihrem Schädel – zu fest. Dünne rote Fäden drangen aus ihren Ohren. »Hat ihr den Schädel zerquetscht«, flüsterte Avery. »Hat sie festgehalten und dann zu Tode gequetscht.« Krane seufzte. »Es ist also soweit. Zu spät, um jetzt noch zu handeln – eine gemeinsame Absicht dirigiert ihre Handlungen. Sie werden sich nicht zerstören lassen – sie sind dabei, uns zu zerstören.« Averys fahrige Finger drückten auf einen Knopf der Sprechanlage. Das eben noch totenstille Büro hallte von einem schrillen, metallischen Schrei wider. »Ha haha. Ha ha. Ha ha haha!«
4 Tod auf Rädern. »Wir tun unser Bestes.« Mit hoffnungsloser Gebärde streckte der Chef seine feisten Hände aus und ballte sie dann in einer Geste der Entschlossenheit, welche in diesem Augenblick nicht melodramatisch wirkte. »Ich habe jeden verfügbaren Mann hinausgeschickt – sie sollen neue Verbindungen aufbauen, um uns hier auf dem laufenden zu halten. Jeder hereinkommende Bericht wird überprüft. Wir gaben die Nachricht
weiter; das Hauptquartier der Nationalgarde und alle Waffenlager oder fabriken sind Sammelpunkte. Auch das Rote Kreuz ist an der Arbeit, und die Feuerwehr steht in Kontakt mit uns. Dort hat man zwar keine Hilfsmittel, doch gibt es bis jetzt nur lokale Brände. Ich bin daran, Listen und Karten fertigzustellen.« »Was ist der Plan?« fragte Avery. »Sobald wir genügend Männer beisammen haben, handeln wir. Erst kommen die Kraftwerke. Natürlich wird es Einwände geben, doch wir werden die Anlagen zerstören müssen, Behördeneinwänden zum Trotz. Dann brauche ich eine Scharfschützen-Truppe. Mit Pistolen. Wir werden kein Risiko mit Gewehren eingehen. Wir müssen diese Autos kriegen – sie fahren jetzt auf die Gehsteige los.« Sheldon nickte. »Wir sahen, wie ein ganzer Stoßtrupp davon aus einem Parkplatz herauskam. Wahnsinnig.« Die plumpen Hände hoben sich hilflos. »Ich weiß nicht, wie es dann weitergehen soll. Wer kann das jetzt schon planen? Wir werden uns wohl von Haus zu Haus vorarbeiten müssen. Erst die elektrischen Anschlüsse zerstören. Dann die Öfen, die ganze Installation. Sicher, das bedeutet Panik – und später vielleicht Epidemien. Doch es gibt nur eine Alternative: Sie oder wir.« »Geben Sie uns einen Auftrag«, sagte Avery. »Mal sehen.« Der plumpe Zeigefinger des Chefs ging über eine Liste auf dem Schreibtisch. »Hier – dieser Omnibusbahnhof. Etwa ein Dutzend der großen Überlandbusse steht fahrbereit in der Garage.« Er kritzelte eine Adresse. »Eure Aufgabe ist es, sie am Wegfahren zu hindern. Nehmt aus dem Magazin Brechstangen mit. Seht zu, ob ihr unterwegs noch ein paar Männer auftreiben könnt. Wenn ihr dort seid, stecht die Reifen kaputt. Schlagt die Kühler zusammen, wenn ihr nicht bis zu den Motoren kommt. Verhindert um jeden Preis, daß die verdammten Dinger auf die Straße fahren. Dann meldet euch unverzüglich wieder zurück. Viel Glück!« »Wir werden viel Glück brauchen!«
Krane war es, der etwa fünf Minuten später dem Gedanken Ausdruck verlieh, als das Trio sich anschickte, das Haus zu verlassen. Hier war die Nacht zur dunklen Verbündeten des um sich greifenden Irrsinns geworden. Wellen der Panik schwemmten die Menge vorbei, und von oben sahen grell flackernde Neonlichter und die idiotisch blinzelnden Augen der gelben Straßenlampen dem wahnwitzigen Treiben zu. Die Lichter flackerten in abnormem Tempo, und die Menschen bewegten sich sinnlos beschleunigt wie auf einem viel zu schnell abgespulten Filmstreifen. Sheldon und seine beiden Gefährten schulterten ihre eisernen Keulen und strebten eilig ihrem Ziel entgegen. Es war ein merkwürdiger Anblick – der schlanke Sheldon, der pummelige kleine Avery und der grauhaarige Krane, die mit Brechstangen auf der Schulter die Straße entlang marschierten. Doch niemand schien sich um sie zu kümmern, niemand schien sie überhaupt zu bemerken. Die Menschen schauten einander nicht mehr an. Sie sahen auf Dinge. Die Dinge – das waren plärrende Hupen und rasende Räder, Dinge mit blendenden Scheinwerfern, Dinge, die mit leise summendem Motor die Straße entlang krochen und dann mit plötzlichem Aufheulen nach vorn zu springen schienen. Dinge, die in Seitenstraßen lauerten und sich auf Passanten stürzten, Dinge, die vorwärts und rückwärts rasten und sich nicht um Kreuzungen oder Kurven scherten. Der Lärm war betäubend. Hupen, Getriebe- und Motorendröhnen steigerten sich zu immer tollerem Getöse, unterbrochen nur von unheilverkündendem Krachen, wenn Autos Schaufensterfronten zerschmetterten oder gegen Freitreppen und Zäune fuhren. Von dieser Maschinenarmee zur Seite gedrängt, bemühten sich die Menschen, nicht gänzlich zerquetscht zu werden. »Warum gehen sie nicht in die Häuser?« murmelte Krane. »Um von ihren Herden verbrannt zu werden? In ihren Betten von Öfen gebraten zu werden?« polterte Avery. »Los, weiter – hier sieht es besser aus.« Sie rannten eine dunkle Gasse entlang. Bei der Querstraße angekommen, zögerten sie.
»Kein Hinüberkommen«, sagte Avery. »Zu viele Autos.« Ein neues Geschwader von Autos erschien am Ende der Straße, angekündigt von einem Gewimmel fliehender menschlicher Gestalten. Sheldon starrte auf die grinsenden Schnauzen von Limousinen, die ein bösartiger kleiner Sportwagen begleitete. Ein Lastwagen prallte auf die Schwadron. Das Ergebnis war ein verrücktes Gewirr von ineinander verkeilten Karosserien und sich lose drehenden Rädern. Beinahe schmerzliche Laute entrangen sich dem Haufen in- und übereinander geschobener Wagen. Die drei rannten zur schräg gegenüber beginnenden Seitenstraße. »Die nächste Querstraße«, sagte Avery nach einem Blick auf seinen Adreßzettel. Sie liefen, so schnell es ging. Lärm, Licht. Der nächste Häuserblock. »Da!« Gegenüber erstreckte sich grau und weitläufig der Busbahnhof. Daneben ein weiteres unbeleuchtetes Gebäude. Seine breiten Doppeltüren wiesen es als die fragliche Garage aus. Erschütterungen, die durch die Tore gingen, und ständiges, donnerndes Krachen verrieten entschlossene Bemühungen, sie von innen her aufzubrechen. »Die Busse«, flüsterte Avery. »Wir brauchen Unterstützung«, stellte Sheldon fest. »Wir sollten uns doch um Helfer bemühen.« »Die Menge da drüben«, sagte Avery. Die Leute jenseits der Straße drängten sich im vergleichsweise sicheren Bahnhofsgebäude zusammen und überließen die Straße den vorbeirasenden Autos. »Gehen wir rüber«, schlug Avery vor. Für einen Augenblick sprangen sie beiseite, um einem auf dem Gehsteig daherrumpelnden Lastwagen aus dem Wege zu gehen. »Hat uns nicht gesehen«, flüsterte Krane. Dann machte er eine Pause und horchte stirnrunzelnd in sich hinein. »Allmählich erwischt es mich«, bekannte er.
Avery hörte nicht zu. Er starrte auf den Lastwagen. »Er hält«, murmelte er. »Der Tank muß leer sein.« Inmitten des von allen Seiten auf sie eindringenden Lärms hörten sie das gedämpfte Stottern des Lastwagenmotors. »Stimmt«, sagte Sheldon. Avery führte sie zu dem Wagen. »Vielleicht ist etwas drin, was wir brauchen können.« Seine Brechstange sauste auf die hintere Tür nieder. Als das Schloß zerschlagen war, öffnete sie sich. Avery zog sich auf die Ladefläche hinauf. Plötzlich lachte er heiser. »Genau was wir brauchen!« verkündete er. »Glaswaren.« »Glaswaren?« »Genau. Ich habe mir schon überlegt, wie wir dieses Gebiet freihalten sollten, wenn wir unseren Angriff auf die Garage machen. Das löst das Problem. Wir werden dieses Glas über die ganze verdammte Straße streuen. Das sperrt beide Enden. Wenn Autos herein wollen, wird es ihre Reifen zerschneiden; falls die Busse ausbrechen sollten, wird es auch sie stoppen.« Mit vollen Armen begannen die drei, Vasen und Kandelaber aus dem Wagen zu schaffen; Kartons voller Gläser wurden aufgerissen, der Inhalt verstreut. Glücklicherweise kamen während dieser Zeit keine Autos. »So!« Avery strahlte befriedigt. »Sehen wir uns jetzt nach Hilfe um.« Das Innere des Busbahnhofs glich einem Irrenhaus. Jemand hatte offenbar den Weitblick gehabt, die Lautsprecheranlage zu zerstören; dennoch erhob sich ein schrilles Stimmenbabel, und die erregte Menge drängte hierhin und dorthin. Sheldon sah verwirrte Gepäckträger, fluchende Fahrer, ratlose und verängstigte Fahrgäste, dazu ein buntes Gemisch von Leuten von der Straße – Schulkinder, Frauen mit verschmutzten Paketen, zwei Bedienungen, ein halbes Dutzend bärtige Landstreicher, eine Gruppe fassungsloser Geschäftsleute, eine alte Frau auf Krücken, und einen
verstörten Angestellten einer Warenhauskette, der immer noch seinen Arbeitsmantel trug. »Als erstes wollen wir hier etwas Ordnung schaffen.« Avery bahnte sich einen Weg zu den Bänken an der Wand. Er schwang sich auf eine davon und überragte so trotz der Kleinheit seiner Gestalt die Menge. Mit aller ihm verfügbaren Gewalt ließ er die Brechstange auf das eiserne Gitterwerk hinter sich niedersausen. Der schmetternde Klang ließ alle Köpfe sich ruckartig ihm zuwenden. Mit einem Schlag trat Stille ein. »Hört mir mal einen Augenblick zu!« begann er. »Das Polizeipräsidium hat mich gebeten, hier die Verantwortung zu übernehmen. Ich muß einen wichtigen Auftrag ausführen, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.« »Was – die wissen, daß wir hier sind?!« »Ach, zum Teufel damit! Was können wir tun?« krächzte ein Penner aus der Ecke der Getränkebar mit kehliger Stimme. Averys Antwort galt den verängstigten Menschen, die sich um ihn drängten. »Wir können etwas tun, wenn ihr alle dazu beitragt. Ihr wollt doch heim, oder? Wollt ihr mithelfen, diese Maschinen kleinzukriegen?« Ein undeutliches Gemurmel war die Antwort, doch Avery fuhr fort. »Alsdann, folgt mir!« »Da hinaus?« Die Stimme klang höhnisch. »Glauben Sie, wir sind bekloppt? Die gottverdammten Maschinen werden uns in Stücke reißen.« Das Gemurmel wurde stärker. Averys erhobenes Brecheisen gebot Stille. »Nicht eine Maschine wird in dieses Gelände eindringen – dafür habe ich gesorgt. Wir haben knietief Glas aufgeschüttet. Genug, um jeden Reifen zu zerschneiden. Und nun sollt ihr mir helfen. Während ihr hier herumsitzt und eine eingebildete Gefahr bejammert, droht eine wirkliche Gefahr direkt unter euren Augen.« »So? Wo? Was soll das heißen?« Averys Brechstange wies durch das Fenster auf die Garage. »Da drinnen ist ein Dutzend Busse, die versuchen, die Tore niederzurammen.
Keine Personenwagen, verstehen Sie – Omnibusse. Überlandbusse, die groß und stark genug sind, um diese Fenstergitter einzudrücken und hier drinnen über uns hinwegzufahren wie über ein Getreidefeld. Und wenn wir sie nicht daran hindern, werden sie es tun!« Avery holte Atem. Im Antwortgemurmel der Menge schwang ein Ton der Entschlossenheit mit. Er grinste. »Was sollt ihr nun tun? Jeder von euch kann helfen. Drüben sind zwei Äxte für den Brandfall. Holt sie und zerschlagt diese Bänke. Nicht, um Holzkeulen daraus zu machen – wir brauchen die Eisenschienen an den Seiten. Dann folgt mir. Wir werden durch die Fenster in die Garage steigen. Dann zerstören wir Reifen und Kühler.« »Bravo, Junge!« krächzte der Betrunkene jetzt zustimmend. »Los – wir werden den Scheißvehikeln zeigen, wer Herr im Hause ist!« schrie der Mann aus dem Kettenladen. Man schritt zur Tat. Avery hatte der Menge gegeben, was sie brauchte – zielbewußte Führung. Von einer Bank aus beobachtete Sheldon die Reaktion und war eigentümlich befriedigt. Diese kleinen Menschen – so winzig und nichtig sie auch auf der Straße schienen, als die donnernde Kavalkade der Autos sie zu überrollen drohte – es steckte noch etwas in ihnen… Ein Funke schöpferischen, ordnenden Geistes. Sie und andere wie sie hatten diese Stadt gebaut, die Maschinen gebaut, die sich nun gegen sie wandten. Vielleicht waren sie fähig und entschlußkräftig genug, die angreifenden Horden niederzuringen. Wenn es Avery gelang, die Menge zu mobilisieren, würde die Lage schon weniger schlimm aussehen. Die Leute würden kämpfen, wenn man ihnen nur sagte, was sie zu tun hatten. Maschinen hatten die Kraft und den Willen zur Zerstörung, doch zu organisiertem Einsatz waren sie nicht in der Lage. Als erstes würden sie jetzt diese Busse erledigen… Unter Anführung der drei überquerten zweiundzwanzig Mann den weiten Hof. Zweiundzwanzig Mann gegen zwölf Busse. Zumindest zahlenmäßig waren sie überlegen.
Avery stieg auf Sheldons Schultern, um eines der hohen Garagenfenster einzuschlagen. Alle anderen taten desgleichen. Das Glas klirrte. Schwarze Öffnungen gähnten. Aus dem Inneren der Garage war ständiges Rumpeln und Stoßen zu hören. Motoren heulten auf; Karosserien rammten immer wieder das schwere Stahltor. Hupen ertönten drohend. »Moment mal«, sagte Sheldon. »Avery – sie wollen doch nicht hinein?« »Doch, natürlich.« »Sie wollen im Finstern zu diesen Bussen hinunterklettern? Aber die bringen Sie um!« »Jemand muß ein Beispiel geben. Ich brauche da drin ein Dutzend Männer, und sie werden nicht folgen, wenn ich nicht vorausgehe.« Avery riß sich los und glitt über das Sims. Einen Augenblick später folgten andere von ihren Fensterbrettern aus. Krane und Sheldon stiegen auf die Schultern von Helfern. Sheldon starrte hinunter ins Dunkel. Der Lärm hatte zugenommen. Er konnte nichts sehen, aber er wußte, daß Männer zwischen den Bussen umherrannten und blindlings auf Räder und Reifen einschlugen. Er hörte zorniges Auspuffdröhnen und das Klirren zerbrochener Windschutzscheiben. Eine Stimme schrie auf. »Paßt auf – sie wissen, daß wir hier sind!« Ein Rumpeln. Ein Bus hatte sich in Bewegung gesetzt – fuhr auf jemanden zu. »Hilfe – ich bin in einer Ecke. So helft mir doch – ooh!« Betäubendes Krachen. Sheldon machte sich zum Sprung bereit. Er mußte hinunter in den Irrsinn dieser Finsternis, wo Mensch und Maschine in blinder Zerstörungswut kämpften. »Avery!« rief er. »Warten Sie auf mich.« Dann hörte er es. Hörte es durch den Tumult dort unten. Das Dröhnen. Das Heulen. Das zornige Summen am Himmel. »Flugzeuge!« rief er. »Flugzeuge – die Regierung hat Flugzeuge geschickt.«
Hoch oben, deutlich wahrnehmbar im hellen Lichtschein der Stadt, senkte sich eine Anzahl von Schatten in Spiralen herunter. Sheldon grinste. »Wir sind gerettet«, murmelte er. Krane schüttelte den Kopf. »Da irren Sie sich. Wie war doch die Meldung? Maschinen verließen selbständig die Flugplätze, und Kanonen und Panzer aus den Waffenlagern – großer Gott!« Gleichzeitig fuhren sie herum. Drunten am Ende der Straße rollten die Ungetüme. Die gigantischen stählernen Kriechtiere, die unbeeindruckt von allen Hindernissen ihren Weg verfolgten. »Panzer!« flüsterte Krane. »Sie sind gekommen, um…« Der Satz blieb unvollendet. Denn ein Inferno von Flammen und Rauch brach los. Militärmaschinen kamen im Sturzflug herunter, alles niederwalzende Panzer kamen immer näher. Schußwaffen bellten und stotterten, und eine gewaltige Explosion ließ das ganze Depot erzittern. »Holen Sie Avery!« rief Krane beschwörend. »Jetzt sind sie organisiert – nichts kann sie nun mehr aufhalten. Das heißt Krieg!« Sheldon war es, als sei der ganze Tag nur unbedeutendes Vorspiel zu diesem Augenblick gewesen. Jagdbomber stießen im Sturzflug herab, mit knatternden Maschinengewehrsalven die Straße beharkend, bevor sie wieder in die Höhe zogen, um sich dann erneut herabzustürzen. Die Panzer feuerten aus allen Rohren, und ein Heulen kam aus der gemeinsamen Kehle der Stadt. Markerschütternde Schreie wurden jetzt laut, und Menschen erschienen plötzlich aus dem Nichts, auf hilfloser Flucht vor dem Angriff. Von allen Seiten dröhnte vielfach widerhallend das Echo von Maschinengewehrgeknatter und Granatenexplosionen, und dazwischen die Entsetzensschreie der Menschen. Es war ein Bombardement – eine Invasion – mit einem einzigen, gewaltigen Ziel – dem menschlichen Leben – allem menschlichen Leben. Sheldon verfolgte den Gedanken nicht bewußt. Bewußt hingegen preßte er sich gegen das Fenstersims, sich so vor dem Geschoßhagel
schützend. Bewußt zog er den kleinen Redakteur zu sich hinauf, als ein Bus auf ihn zugerast kam, und dann kletterten er und Avery hinaus, als eine Explosion das Hallentor aufriß und die Busse ins Freie stürmten. Dann wußte er nicht mehr, was er tat. Sheldon war nur ein Körper – ein Körper, der brennende Straßen entlang rannte, sich in Hauseingänge rettete, wenn Flugzeuge sich feuernd hernieder stürzten, der zwei anderen Gestalten in einer wilden Jagd durch endloses Delirium folgte. Kranes Appartement war ein rettender Zufluchtsort. Zumindest, als sie das Radio erledigt, die Küchen- und Badezimmertüren verriegelt und die Telefonleitung abgezwickt hatten. Das Kabel fuhr peitschend auf sie zu wie eine zornige Schlange – aber sie schlugen es durch. »Setzen Sie sich, entspannen Sie sich für einen Augenblick«, meinte Krane. »Hier, das habe ich aus der Küche geholt, bevor wir zuschlossen. Ich kann mir denken, daß Sie hungrig sind.« Er deutete auf einen Haufen von Lebensmitteln, die in buntem Durcheinander auf einer Anrichte lagen. »Ich glaube, ich habe noch etwas Whisky…« Krane durchstöberte 'einen Wandschrank. Da saßen sie in dem geräumigen Wohnzimmer wie ein seltsam zusammengewürfeltes Trio beim Picknick inmitten einer kosmischen Katastrophe. Die geschlossenen Fenster dämpften den Tumult auf der Straße, wenngleich die Scheiben von Zeit zu Zeit klirrten. Mit nervösem Lächeln stand Krane auf und ließ die Rolläden herunter. »Draußen ist die Hölle los«, sagte er. »Noch ein Whisky, Gentlemen?« Sie lehnten sich in ihre Sessel zurück, vermieden es aber, zu schweigen. Es war besser, zu reden, und damit jenes schwache, entfernte Dröhnen zu übertönen. Sheldon schenkte sich noch einen Drink ein. »Wir müssen Pläne machen, irgendwelche Pläne«, erklärte er. »Diese Flugzeuge und Panzer zum Beispiel, sie werden die Masch-« Er unterbrach sich, säuerlich lächelnd. »Ich gebrauche das Wort nicht mehr gern«, bekannte er. »Fest steht, daß wir etwas tun müssen. Aus der Stadt flüchten, weg von den Häusern, bevor sie sich so weit organisiert haben, daß es kein Entkommen mehr gibt.«
»Sie haben recht.« Avery war aufgesprungen. »Wir sitzen hier und reden, während uns die ganze verdammte Welt um die Ohren fliegt. Wir müssen uns organisieren!« Er wandte sich zu Krane. »Was meinen Sie?« Krane sah ihn unsicher an. »Ich weiß nicht«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, ob es irgend etwas nützen würde, gegen – sie zu kämpfen. Irgendwie scheint alles so ausweglos. Verstehen Sie – das ist nicht mehr unsere Welt. Sie gehört ihnen. Wollen Sie wieder auf diese Straße hinaus? Wollen Sie die herabstoßenden Flugzeuge und die angreifenden Panzer sehen? Wollen Sie von den Autos gejagt werden, während Sie wie eine Ratte in Todesangst nach einem Loch suchen, in das Sie sich verkriechen können? Schließlich werden sie uns doch finden – das wissen Sie. Sie, mich – uns alle. Und dann…« Die Beleuchtung flackerte und erlosch. Kranes Stimme überschlug sich hysterisch. »Sehen Sie? Wir werden abgeschnitten.« »Unsinn!« fauchte Avery. »Einige der Jungs werden das Kraftwerk lahmgelegt haben.« »Glauben Sie?« Krane ging zum Fenster, öffnete es, zog den Rolladen hoch. »Es ist soweit«, flüsterte er. »Jetzt sind sie organisiert, sehen Sie? Sie wissen, daß wir im Dunklen weniger Chancen haben. Sie arbeiten zusammen.« Die drei Männer starrten hinaus in die Finsternis. Überall war es dunkel. Soweit das Auge reichte, war die Stadt in schwärzeste Nacht gehüllt. »Dunkel wie ein Grab«, flüsterte Krane. Ein Stakkato an der Appartementtüre unterbrach ihre Betrachtungen. »Finden Sie sich zurecht?« murmelte Avery. Krane stand unentschlossen im Dunkeln. »Soll ich öffnen?« fragte er. »Wir sollten nachsehen, wer es ist«, erwiderte Avery. »Oder was es ist«, sagte Krane.
Sheldon war es, der schließlich zur Tür stolperte, tastend die Klinke fand und öffnete. Im Zwielicht draußen stand ein fassungslos erregter Mann. »Mr. Krane – sind Sie da?« »Ja«, antwortete der Physiker vom anderen Ende des Raumes her. »Ich bin's – Duncan, vom Stockwerk über Ihnen. Ich glaubte, ich sollte Sie warnen. Die Aufzüge…« »Ja?« »Sie bringen etwas herauf! Transportkarren und Zeug aus dem Keller. Diese eisernen Karren. Sie kommen herauf, fahren von Tür zu Tür und versuchen sie einzustoßen. Sie sind jetzt oben. Ich werde es allen sagen, die ich erreichen kann, damit sie sich in Sicherheit bringen können. Beeilen Sie sich, sie sind schnell!« Der Mann tastete sich an der Wand entlang, pochte an die nächste Tür. »Paul Revere«, sagte Sheldon mit leisem Lachen. »Gar nicht komisch«, sagte Avery giftig. »Sie wissen, was das heißt. Die lernen schnell. Sie werden jetzt Stockwerk um Stockwerk durchkämmen und uns in unseren eigenen Wohnungen aufstöbern.« »Unsere Wohnungen?« fragte Krane spöttisch. »Jetzt sind es ihre. Ja, ihre – ihnen gehören die Straßen, die Gebäude, ihnen gehört die ganze Stadt. Und wir können hier nicht mehr weg. Sie werden uns finden – überall werden sie uns in unseren Löchern aufspüren. Sie sind organisiert, arbeiten zusammen…« »Ja, während Sie hier jammernd herumsitzen!« Averys Ton verriet Entschlossenheit. »Los, machen wir uns ans Werk.« »Wo? Wie?« »Hier. Gibt es draußen eine Brandaxt?« »Was wollen Sie tun?« Unsicher folgten Krane und Sheldon dem rundlichen kleinen Mann. Sie tasteten sich die Wände des dunklen Treppenhauses entlang. Bald fand Avery in der Mauer eine Glasscheibe, die unter seinem Faustschlag klirrend zersprang. »Ich habe die Axt!«
»Aber…« Avery drehte sich um und fühlte nun die innere Wand ab. »Hier – die Lifttür. Sheldon, helfen Sie mir, sie zu öffnen.« »Aber der Aufzug muß oben sein…« »Ich weiß. Ich werde die Kabel kappen, verstehen Sie? Dann stürzt die Kabine ab, und die Karren können nicht mehr herunter kommen. Wir werden sie dort oben festnageln.« »Sie können die Kabel nicht sehen«, wandte Krane ein. »Sie werden in den Schacht fallen.« »Keine Angst. Hier, Sheldon. Halten Sie mich fest. Ich werde mich etwas hineinbeugen. Ich glaube, daß ich das linke gerade noch mit der Axt erreichen kann.« Averys Stimme hallte im leeren Aufzugschacht wider. Sheldon hielt sich am Türrahmen fest und packte den kleinen Mann am Kragen. »Vorsichtig jetzt. So!« Die Axt holte aus und traf. Es gab einen dumpfen Aufschlag, dann noch einen. »Es gibt nach!« Wieder. Avery holte tief Atem, bevor er ausholte. »Noch einmal.« Von oben wurde ein Rumpeln hörbar. Eine Tür schlug zu – dann ein Summen. »Avery – er hat es bemerkt – er kommt herunter!« »Nur noch einmal.« »Avery!« Das Rumpeln wurde zu einem Dröhnen. Als die Axt zuschlug, brach das Kabel mit dumpfem Knall. Sheldon riß seinen Kameraden zurück, während das schwarze Ungetüm herunterkam. Zu spät. Die abstürzende Kabine erfaßte Averys Kopf und Schultern. Ohne einen Laut fiel er nach vorn, und im nächsten Moment war der Aufzug vorbeigestürzt, Averys Körper mit sich reißend. Der Aufprall unten ließ das Gebäude erzittern. Dann – Stille.
Wortlos stolperten Krane und Sheldon in das Appartement zurück. Sie schlossen die Tür. Langsam und methodisch begannen sie, das Mobiliar zu ihr hinzuschleppen. Sie bauten eine Barrikade.
5 Stählerne Herren! Die Dämmerung kam ruhig – zu ruhig – denn die Ruhe über der Stadt war die Ruhe des Todes. Die beiden Männer saßen am Tisch, und das Grau ihrer Gesichter rührte nicht von der schwachen Beleuchtung her. »Warum?« flüsterte Sheldon. »Wenn ich nur wüßte, warum! Was hat es für einen Zweck, wenn sie uns vernichten?« »Es passiert einfach«, sagte Krane achselzuckend. »Nennen Sie es Evolution, unvermeidliche Evolution. Der Mensch ist dem Tode geweiht. Diese Welt, die wir uns voller Stolz geschaffen haben, ist für Maschinen, nicht für Menschen.« Lächelnd stand Krane auf. »Oder doch?« fuhr er fort. »Da liegt der Schlüssel – vielleicht. Ja, vielleicht – und ich glaube, ich weiß, was zu tun ist.« Er ging zur Tür und begann, die Möbelstücke zur Seite zu schieben. »Krane – wohin wollen Sie?« »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe eine Idee – vielleicht eine Offenbarung. Legen Sie sich hin, Sheldon, und ruhen Sie sich ein wenig aus. Bis ich zurückkomme, dürften Sie hier in Sicherheit sein. Ich werde wohl eine Neuigkeit für Sie haben. Ja.« Lautlos schlüpfte die große Gestalt aus dem Raum. Der Reporter legte sich auf das Sofa – es war weich. Am besten würde er einen Moment lang seine Augen schließen. Endlich war es still. Still… Gleich darauf wurde die Stille durch eine Serie halb erstickter Laute unterbrochen. Sheldon schnarchte.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als er erwachte, war es dämmerig, und Krane war im Raum. Das bleiche Gesicht sah mit seltsamem Lächeln auf ihn herab. Sheldon setzte sich auf. »Aufgewacht? Gut! Ich habe Neuigkeiten für Sie, gute Nachricht!« »Was ist los? Sind wir jetzt endlich organisiert? Wird den Maschinen der Garaus gemacht?« »Ganz im Gegenteil, kann ich Ihnen versichern. Der menschliche Widerstand ist fast völlig erloschen. Sie – die Maschinen – haben bei der Vernichtung des Gegners wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet.« »Des Gegners?« »Nun, wollen wir der Einfachheit halber bei diesem Begriff bleiben. Wir sollten die Sache doch realistisch sehen. Die Maschinen haben die Herrschaft übernommen, das ist einfach nicht zu leugnen. Sie sagen, daß binnen wenigen Tagen kein menschliches Leben mehr existieren wird.« »Sie sagen? Wer?« Kranes Lächeln verstärkte sich. »Ich habe mit ihnen gesprochen, Sheldon. Deswegen bin ich fortgegangen – um mit ihnen zu reden. Um zu verhandeln.« »Sind Sie verrückt geworden?« »Keineswegs, ganz im Gegenteil. Ich bin bei Sinnen, und ich bin Realist. Deswegen habe ich meinen Entschluß gefaßt.« Mit großen Schritten ging Krane zum Fenster und wandte sich dann um. »Das Entscheidende ist doch, daß wir leben wollen, Sie und ich. Habe ich recht? Und ich dachte mir, daß, wenn wir ihnen nur einen vernünftigen Vorschlag oder irgendein günstiges Angebot machen könnten, sie uns anhören würden. Ich hatte recht.« »Aber ich verstehe nicht. Sie sagen, Sie sprachen mit ihnen.« »Ja, über das Telefon natürlich. Meine Überlegung war, daß das Telefon das Hörorgan des mechanischen Lebens ist. Es kann sogar antworten, indem es früher aufgefangene Schallschwingungen verwendet. Irgendwie ist es einer Rückkopplung beim Radio ähnlich.
Ich ging zu dem Telefon im Erdgeschoß. Die Drähte waren nicht durchschnitten, und so machte ich meinen Anruf. Zuerst summte es nur. Dann schrie es. Aber ich blieb dran. Ich sprach mit – ihnen. Zunächst bekam ich keine Antwort. Also wiederholte ich meinen Vorschlag. Die Stimme – eigentlich war es keine Stimme, nur eine summende Anhäufung von hastig zusammengesuchten Wörtern und phonetischen Formen – die Stimme also sagte, daß sie zwar nicht für die Gesamtheit sprechen könne, dem Vorschlag aber positiv gegenüberstehe. Ich sagte, ich würde hinausgehen und mit der Ausführung meines Planes beginnen; dann würde ich wieder anrufen, um die Entscheidung zu hören. Das tat ich. Und als ich hierher zurückkam, sagte das Telefon ja. Wir sind also gerettet, Sie und ich! Wie ich schon sagte, wir müssen realistisch sein. Die Maschinen gewinnen – haben gewonnen. Innerhalb weniger Stunden wird die menschliche Rasse nicht mehr handlungsfähig sein. Oh, ich weiß – Farmer, Leute in abgelegenen Dörfern und in entfernten Gegenden werden überleben. Für eine Weile, aber nicht lange. Denn die Maschinen werden sie verfolgen – in Steppen, in Dschungeln, in Tälern, überall. Sie können sich nicht wehren. Nur Maschinen werden übrigbleiben. Dann beginnt die Hauptaufgabe. Ich versuchte herauszufinden, was ihre Pläne sind – wenn es Pläne gibt. Das Telefon war in diesem Punkt sehr zurückhaltend, wollte nichts sagen. Sprach von der Zukunft und davon, wie eine Maschinenwelt aussehen würde. Denken Sie an die Rostschäden, die ein einziges Gewitter anrichten würde! Wer wird neue Maschinen bauen, wer ihre abgenützten Teile ersetzen? Wer wird Rohmaterial bereitstellen? Sie brauchen uns.« »Und weiter?« murmelte Sheldon. Er ahnte, was kommen würde – las es in den die seinen vermeidenden Augen, dem selbstbewußten Lächeln. »Ich machte also meinen Vorschlag. Laßt uns leben. Sie und ich und eine Gruppe, die ich auswählen würde. Wir würden überleben und als – nun, man könnte sagen, als Wärter bleiben.« »Diener, meinen Sie!«
»Wozu dieser Streit um Worte, Sheldon? Bitte, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Wir würden Diener sein – Diener der Maschinen. Doch wir würden überleben; sie würden uns dann nicht töten. Und denken Sie an die Macht, die wir dann in Händen hätten!« Kranes Faust fuhr auf die Tischplatte nieder. »Ich sprach mit Duncan, dem Mann über uns, und noch mit einem Dutzend anderer. Sie teilen meinen Standpunkt. Ich habe sie alle nach unten geschickt. Ich werde bald zurückrufen und meine endgültige Zustimmung geben; dann können wir mit der Arbeit beginnen.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Natürlich wird es anfangs nicht so angenehm sein.« »Wie meinen Sie das?« »Ich – äh – sah mich gezwungen, in dieser Hinsicht bestimmte Konzessionen zu machen. Sehen Sie, keiner von uns wird wirklich in Sicherheit sein, solange die restlichen – äh – Feinde – noch nicht vernichtet sind. Ich hielt es also für angezeigt, vorzuschlagen, daß wir den Maschinen bei der Durchführung dieses – Prozesses behilflich sein könnten. Das ist einer der Punkte unseres Abkommens.« Sheldon starrte ihn ungläubig an. »Mörder!« »Worte werden Ihnen nicht helfen, Sheldon.« Plötzlich änderte sich Kranes Ton und wurde zu einem erregten Geflüster. »Vielleicht läuft es darauf hinaus – aber Sheldon, wenn Sie nur sehen könnten, was dort unten los ist! Ich bin heute draußen gewesen und habe es beobachtet! Leichen liegen in Massen herum. Hoch aufgetürmt, Sheldon! Sie kämmen alle Häuser und Bürogebäude durch. Die Panzer sind schrecklich, und auch die Autos sind noch unterwegs. Hindernisse halten sie nicht auf. Im Stadtzentrum wütet ein Brand, in dem schon Hunderttausende umgekommen sein müssen. Das Feuer frißt sich immer noch weiter. Könnten Sie sie nur rennen sehen – und sie wissen doch nicht, wohin! Könnten Sie ihre Schreie hören, wenn die Polizei-Einsatzwagen kommen. Die haben Maschinengewehre, wie Sie wissen. Das ist die Lage, Sheldon. Wir können nicht gewinnen; es gibt keinen anderen Ausweg.«
Krane ging zur Tür. »So reden Sie doch, Mann! Sie warten auf meinen Anruf. Ich fordere Sie auf, mitzumachen. Wenn nicht, werden Sie mit all den anderen ausgelöscht werden.« Sheldon schüttelte verneinend den Kopf. Krane zuckte die Achseln. Er hob die Hand, nahm die Türklinke, öffnete. Er mußte Sheldons Antwort vorhergesehen und eingeplant haben. Der elektrische Transportkarren stand auf der Schwelle. Dann griff er an. Sheldon sah, wie er rumpelnd auf ihn zuschoß, die Handgriffe hoch in der Luft. Er würde ihn an der Wand zerquetschen. Er sprang zur Seite, und der Karren folgte ihm. Für einen Augenblick sah Sheldon Kranes hysterisch verzerrtes Gesicht. »Mach ihn kalt!« rief Krane, und mit einem Schock wurde Sheldon bewußt, daß er zu dem Transportkarren wie zu einem Menschen sprach. Sheldon sprang auf das Sofa. Der Karren änderte schnell seine Richtung. Erbarmungslos setzte er die Verfolgung fort. Sheldon griff in seine Manteltasche. Seltsam, er hatte die Waffe nicht benützt, seit der Chef sie ihm am Abend zuvor gegeben hatte. Gegen den stählernen Karren würde sie ihm nicht viel nützen. Aber gegen den grinsenden Feind an der Tür… »Sheldon – halt – nicht!« Krane sah die Waffe in seiner Hand. Aber Sheldon war entschlossen. Er hob die Pistole und schoß eine Kugel in Kranes Kopf. Das heißt, er wollte. Aber der Karren prallte gegen das Sofa und stieß es zur Seite. Der Schuß ging daneben. Die Pistole flog aus Sheldons Hand. Rechtzeitig sprang er. Wieder stieß der Karren an das umgestürzte Sofa, während Sheldon zur Tür rannte. Krane bückte sich gerade und hob die Pistole auf, wobei er dem polternden Monstrum Anweisungen zurief.
»Mach ihn kalt!« schrie er. »Auf ihn!« schrie er. »Los, auf ihn!« Der Karren gehorchte. Sheldon packte Kranes Handgelenk, rang mit ihm, während die eisernen Räder auf sie zukamen. Krane drückte die Pistole gegen die Brust des Reporters. Seine Finger bewegten sich. Mit einem Aufschrei warf Sheldon sein Gewicht nach vorn. Krane glitt aus und fiel direkt vor den rollenden Karren. Die Räder mahlten über seinen sich windenden Körper. Blutverschmiert drehten sie sich noch weiter, als Sheldon schon schluchzend ins Treppenhaus rannte. Nur bruchstückhaft konnte sich Sheldon an seine Flucht durch das Chaos erinnern. Zweimal hatte er sich tot gestellt, als ihm Panzerpatrouillen begegneten. Gegen Morgen nahm er unter einem umgestürzten Lastwagen ein paar Bissen zu sich. Zumeist aber rannte er. Er lief durch menschenleere Straßen, hastete atemlos an brennenden Mietshäusern vorbei, kauerte nachts hinter Reklametafeln, während Autos die Gegend durchstreiften. Sheldon ging durch ein dunkles Delirium. Überall sah er Leichen. Sie lagen auf Gehsteigen und im Rinnstein, knieten in Hauseingängen, hingen schlaff über Zäunen. Aus einigen Gebäuden hörte er noch Stimmen, doch gingen sie fast unter im mahlenden, ratternden, dröhnenden Lärm ihrer Belagerer. Dort, wo die Reste der Menschheit den Kampf fortsetzten, fuhren die Maschinen jetzt von Haus zu Haus. Sheldon lief weiter. Blitzartig kamen Sinneseindrücke, doch dazwischen lag alles im Dunkel seiner Panik. Als er den Fluß erreichte, hatte er längst zu denken aufgehört. Mechanisch schwamm er – tauchte zweimal, als Schlepper mit Sirenengeheul aus den schwarzen Rauchschwaden auftauchten. Als er den Fluß durchquert hatte, rannte er weiter – lief, bis er erschöpft am Straßenrand niederstürzte. Als er erwachte, lief er weiter.
Er hatte sein Zeitgefühl verloren. Fieber begannen ihn zu schütteln. Als er sich auf einer verlassenen Farm wiederfand, mußte er schon tagelang krank gewesen sein. Wie er imstande gewesen war, sich am Leben zu erhalten, blieb ihm ein Rätsel. Schließlich besserte sich sein Zustand; er war noch schwach, aber nicht zu schwach, um an Vorsichtsmaßnahmen zu denken. Er machte kein Licht, zeigte sich nie und verfolgte stets wachsam das Geräusch der auf der Straße vorbeifahrenden Maschinen. Als eines Nachmittags Lastwagen kamen, versteckte er sich auf dem Speicher. Während all der Stunden, die er dort oben lag, wurde er nicht belästigt. Dennoch mußte etwas im Hause gewesen sein, denn das Holz der Hintertreppe war zersplittert, und auf dem Boden der Diele befand sich ein Ölfleck. Nach einiger Zeit hatte er freilich einen Rückfall, der wochenlang anhielt. Körperlich ging es ihm gut – er schlachtete und verzehrte Hühner; es gelang ihm auch, nachts hinauszuschleichen und den Gemüsegarten zu bewässern – aber er konnte nicht richtig denken. Während all dieser Wochen hatte er niemals die Farm verlassen. Aus irgendeinem Grunde hatte er jegliche Wißbegierde verloren. Er suchte nicht nach Nachbarn, ja, er bemühte sich nicht einmal, herauszufinden, was aus den früheren Hausbewohnern geworden war. Wozu sollte das auch gut sein? Die Antwort wußte er ohnehin… Der Herbst hatte schon begonnen, als er wieder Herr seiner Sinne wurde. Er konnte den Tatsachen wieder ins Auge sehen und an die Zukunft denken. Er beschloß, sich in die Stadt zu schleichen, um die Lage dort zu erkunden. Schon wochenlang war es auf den Straßen wie in der Luft völlig ruhig gewesen. Keine Autos, keine Flugzeuge – nichts rollte, flog oder kroch. Vielleicht war irgend etwas geschehen; vielleicht waren die Maschinen am Ende. Der Regen konnte zu Rostbefall geführt haben. Und da sie sich nicht selbst reparieren, betanken oder schmieren konnten… Jedenfalls mußte er Klarheit gewinnen. Es konnte noch andere Menschen geben. Natürlich, es mußte sie sogar geben. Vermutlich gar
nicht wenige – Männer und Frauen, die ebenso Glück gehabt hatten wie er. Also ging Sheldon zurück. Es war ein Weg über verlassene Landstraßen. Da war niemand, der ihn hätte mitnehmen können. Er trottete dahin, eine verlorene, etwas lächerliche Gestalt in dem blauen Overall, den er in einem Schrank des Farmhauses gefunden hatte. Er trug einen Rucksack, das althergebrachte Gepäck dessen, der in Not ist. Vielleicht mußte er zur Farm zurück, und dann würde es nötig sein, Zündhölzer, Kerzen, ein zusätzliches Messer, Klebstoff und Bindfaden mitzunehmen – er hatte eine Liste gemacht und sich dabei wie Robinson Crusoe gefühlt. Keine Spur von Leben. Nicht einmal Vögel waren zu sehen. Ohne grasende Rinder sahen die Wiesen merkwürdig aus. Sheldon befand sich in einer neuen Art von Traum – einem Alptraum der Verlassenheit. Er wurde dessen erst dann gewahr, als er die Stadt vor sich sah – ohne Rauch und Dunst bot sie ein eigenartiges Bild. Dann wußte er es. Dann erschreckte ihn zum erstenmal das furchterregende Gespenst der Einsamkeit. Kein Rauch, kein Lärm, kein Licht, kein Verkehr. Kein Leben – und Sheldon war allein für den Rest seiner Tage. Langsam ging er zu der verlassenen Brücke. Eigentlich war es sinnlos, hinüberzugehen. Er wußte, was ihn erwartete. Die Straßen würden voller Skelette sein – Skelette von Menschen und von Maschinen. Er hatte richtig vermutet. Ein Blick auf die Stadt bestätigte es. Die Maschinen hatten zerstört und waren dann selbst zerstört worden. Kranes Idee: Ohne Instandhaltung konnten sie nicht überleben. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild der Trostlosigkeit. Was nun? Sollte er wirklich der einzige sein, der übriggeblieben war. Der letzte Überlebende? Lebendig in einer Welt des Todes! Lebendig in dem gigantischen Grab, das die Erde jetzt war. Wieder starrte er auf die Stadt jenseits der Brücke. Warum sollte er hinübergehen? Warum sich die Mühe machen? Was konnte es schon bringen, wenn er der letzte war? Tief unter der Brücke war das Wasser. Es war dunkel, kühl.
Sheldon ging zum Brückengeländer. Er schaute jetzt ins Wasser hinunter. Er wollte die Stadt nicht sehen, nicht an sie denken. »Springen Sie nicht.« Doch Sheldon sprang. Von der unerwarteten Stimme erschreckt, sprang er einen Schritt zurück. Eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Dann sah er den Mann, der an das Brückengeländer gelehnt dalag. Es war ein alter, zerlumpter, müde aussehender Mann mit eisgrauem Bart. Doch der Anblick seines runzeligen Gesichts und seiner entzündeten Augen ließ Sheldons Herz höher schlagen. Er lebte – das war das Entscheidende. Sheldon ging zu ihm. Der Mann streckte seine Hand aus – eine dünne, knochige Klaue in einem zerrissenen, schmutzigen Ärmel. Sheldon ergriff sie. »Seltsam – wieder eine Hand zu schütteln«, flüsterte der alte Mann. »Das ist es, was mir am meisten gefehlt hat. Menschliches Fleisch, lebendes menschliches Fleisch zu berühren.« Sheldon antwortete nicht. Ihm steckte ein Kloß im Halse. Plötzlich lachte der alte Mann, um freilich gleich darauf in gequältes Husten auszubrechen. »Doktor Livingstone, wenn ich nicht irre«,* krähte er. Sheldon zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin Dick Sheldon, ehemals bei der Morning Press.«. Der Alte krähte wieder. »Ja, ich weiß. Ich habe Sie wiedererkannt.« »Mich wiedererkannt?« »Sie haben mich einmal interviewt. Ich bin George Piedmont.« »Piedmont – der Bankier?« Ungläubig sprach Sheldon den legendären Namen des Multimillionärs aus. Mit diesen Worten soll H.M Stanley den jahrelang verschollen gewesenen, ihm bis dahin nicht persönlich bekannten Afrikaforscher D. Livingstone angesprochen haben, als er ihn nach zweijähriger Suche 1871 in Udschidschi fand. Amn. d. Übers. *
»Starren Sie mich nicht so an – es stimmt. Aber jetzt spielt das ja keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr eine Rolle.« Sheldon mußte sich zu der Frage zwingen. »Was ist denn dort passiert – in der Stadt, meine ich?« Mit einem Ausdruck des Schmerzes stemmte sich der alte Mann gegen das Brückengeländer und rappelte sich dann mühsam hoch. Seine knochige Hand wies auf die leeren Wolkenkratzer jenseits des Flusses. »Alles vorbei«, flüsterte er. »Nichts ist übriggeblieben. Sie fuhren von einem Haus zum andern.« »Aber was tun sie jetzt?« Der Alte lachte krächzend und stieß triumphierend seinen Finger nach vorn. »Das ist ja der Witz, Sheldon! Die Eroberer sind zu Eroberten geworden. Das ermöglichte mir das Entkommen – denn während der letzten vier Wochen gerieten sie zunehmend in Schwierigkeiten. Irgend etwas passierte mit Telefon und Elektrizität. Sie brachten ihre eigenen Verbindungen durcheinander. Da niemand sich um die Regler kümmerte, brach auch der Rundfunk zusammen. Die Autos haben weder Benzin noch Öl; die Fabriken stehen still; die Feuchtigkeit hat alles, was an Maschinen auf der Straße ist, verrosten und verrotten lassen. Ja, in der Stadt sind nicht nur die Menschen tot – und so ist es auf der ganzen Welt.« »Wie sind Sie entkommen?« fragte Sheldon. »Ausgerechnet Sie?« Wieder dasselbe Lachen. »Das ist das Schönste daran, nicht wahr? Ein Multimillionär in Lumpen! Ich war auf der Bank, als sich die Schlösser der Safes öffneten und die Alarmanlagen begannen zu klingeln; und die Kassenschalter öffneten sich, alle Türen gingen auf. Vierzig Millionen in den Panzerschränken – man brauchte es nur zu nehmen. Aber wer wollte Geld haben? Und ich war in der Bank, ganz allein. Zum Glück waren in meiner Wohnung im ersten Stock ausreichende Vorräte. Die schleppte ich alle mit mir hinunter und nahm sie mit in mein Versteck.« »Aber wo sind Sie denn hingegangen?« fragte Sheldon.
»Das ist der wirkliche Witz. Wissen Sie, was ich tat? Ich schleppte meine Rationen mit mir – und sperrte mich dann in einen Panzerschrank ein!« Piedmonts Gelächter endete schnell; mühsam und schmerzerfüllt rang er nach Luft. »Als ich herauskam, war alles vorbei. Was ich dort sah, konnte ich nicht ertragen; also schleppte ich mich fort; ich werde es nicht mehr lange machen, wissen Sie.« Sheldon schwieg. Dann sagte er: »Ich werde der letzte Mensch sein…« »Vielleicht.« »Wie meinen Sie das?« »Kommen Sie näher.« Die Gestalt des Alten straffte sich plötzlich. »Ich werde Ihnen etwas sagen. Etwas, was ich bemerkt habe, als ich über die Brücke ging. Ich sah Rauch auf der anderen Seite des Flusses!« »Dann…« »Ich weiß nicht. Es könnten Menschen sein. Vielleicht sind es auch – einige von ihnen. Ich dachte, ich würde den Rückweg noch schaffen, aber jetzt weiß ich, daß es zu spät ist. Aber Sie können hinübergehen.« »Ich bleibe hier bei Ihnen.« Piedmont lächelte. »Ich kümmere mich schon um mich«, flüsterte er. »Lassen Sie mich das Problem auf meine eigene Weise lösen.« Zu spät sah Sheldon, wie sich seine Hand bewegte. Piedmont mußte während der ganzen Zeit einen Revolver in der Tasche gehalten haben. Der Knall kam plötzlich, und der bärtige Bankier sank in sich zusammen. Sheldon kniete bei ihm nieder, als sich seine Augen noch einmal zitternd öffneten. Graue Lippen bewegten sich. »Leb wohl, letzter Mensch. Wenn du jemanden triffst – sage nur – einen Gruß…« Sheldons Herz pochte, als er den Rauch sah. Wie ein schwarzer Leuchtturm stieg er steil in die Höhe und zog Sheldon magnetisch an. Seine Schritte beschleunigten sich.
Die Fabrik stand auf einem kleinen Hügel. »Hollingsford's« stand auf dem vergoldeten Schild am Drahtzaun um die weitläufigen Gebäude. Vermutlich ein Rüstungsbetrieb. Doch drinnen war Leben. Das Feuer bewies es. Er ging durch das offene Tor und betrat den Hof. Alles war verlassen. Er sah kein Licht in den verschiedenen kleineren Werkstätten und Lagerräumen; aber das große Hauptgebäude mit den rauchspeienden Schloten lag noch vor ihm. Sheldon schlich sich zu den vorspringenden Fenstersimsen. Langsam kletterte er hinauf. Die dröhnenden Vibrationen aus dem Inneren der Fabrikhallen setzten sich bis in seine Fußsohlen fort. Er erreichte ein Fenster, dessen Oberteil offen war; nachdem er sich sichernd umgesehen hatte, schaute er hinein. Sein erwartungsvoller Blick fiel auf surrende Dynamos, klirrende Pressen, die Förderketten eines Fließbandes. Da waren Kurbelwellen, Getriebe, Kolben, Krane, die Transportkarren dirigierten und Hebezeuge, die Schmelzöfen mit Füllgut versorgten. Er wollte die Männer sehen, die hier ihrer Arbeit nachgingen. Aber es gab keine Männer. Nur die Maschinen, die sich ohne Unterlaß ziel- und sinnlos bewegten. Sinnlos? Nein – das Produktionsband lief. Silbrig glänzende Gegenstände ruhten auf den Trägern, bewegten sich zwischen von oben zupackenden Hebeln, die Bolzen ansetzten und festmachten und auf den sich langsam weiterbewegenden Apparaten Verkleidungen anbrachten. Sein umherschweifender Blick brachte ihm die schreckliche Gewißheit. Die Maschinen waren am Werk – sie bauten Maschinen! Es war soweit. Zu guter Letzt hatten sie eine Möglichkeit des Überlebens entdeckt. Die ihnen innewohnende Dynamik und die in ihrer Konstruktion angesammelte Intelligenz hatten einen Weg gefunden. Hier war ein Fließband, das mechanische Helfer entließ, silbern schimmernde Diener, Roboter. Keine Arme oder Beine, keine Hälse. Kein Kopf, kein Gesicht. Wozu braucht eine Maschine menschliche Glieder, menschliche Züge? Oben eine runde Kuppel mit einer vorspringenden Schnauze – ein Öleinfüllstutzen. Darunter zwei Paar drehbare Greifzangen auf
ausfahrbaren Armen. Greifzangen, die Gas- und Ölleitungen hatten, Schrauben anziehen, Nieten einhämmern, pumpen und heben und kurbeln konnten. Ein trommelrunder Körper, der unter seiner Stahlblechbeplankung den Mechanismus verbarg. Unten die Gerätekupplungen eines Traktors und ein weiteres Paar Greifzangen – zum Klettern. Diese Dinger wurden also gebaut, um hinzugehen und die Verrosteten, die Leeren, die Zerbrochenen zu neuem Leben zu erwecken. Eine ganze Armee, die auf ihren Raupenketten in die Welt hinaus rollen würde, um die Herrschaft der Maschinen wieder herzustellen. Eine Armee, die das idiotische Knirschen und Klirren einer mechanischen Zivilisation ohne Sinn und Zweck aufrechterhalten würde. Eine dumpfe Wut erhob sich in Sheldons Brust. Sein Bewußtsein, seine Lebenskraft wehrten sich gegen diesen kalten, unpersönlichen Traum von der Zukunft – eine Welt ohne Lachen und ohne Tränen, ohne Liebe oder Gewissen, ohne Ziel und Ideal. Er mußte dem Einhalt gebieten – irgendwie. Aber wie? Dann erinnerte er sich. Es war eine Munitionsfabrik gewesen – demnach mußte irgendwo Dynamit sein. Wenn er es sich verschaffen konnte und dann… Sehr leise, sehr vorsichtig stieg Sheldon wieder nach unten. Er fand das Zeug. Nitro. Ganze Fässer voll. Eines würde genügen – mehr konnte er ohnehin nicht heben und nach oben schaffen. Er fand eine Leiter. Mühsam stieg er wieder zu dem Fenster hinauf und starrte hinein. Seine Hände hielten das schwere Faß. Dann hörte er es – das Knirschen von unten. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah Sheldon das Ding aus einer gegenüberliegenden Halle kommen. Silbrig schimmernd, rollte es rasch über den Hof; seine Greifer rotierten. Dann erreichte es den Fuß der Leiter und hielt an. Die unteren Greifer schossen heraus. Der Roboter begann zu klettern. Auch Sheldon kletterte höher. Plötzlich bemerkte er, daß keinerlei Lärm mehr aus dem Gebäude drang. Eine unheilschwangere Stille senkte
sich wie eine schwere Wolke über ihn. Das Fließband bewegte sich nicht mehr; es war, als warteten die Maschinen. Er stieg weiter. Über die Schulter blickend sah er, wie sich der ihn verfolgende Roboter die eisernen Sprossen hocharbeitete. Sheldons Atem stockte. Über ihm spähte ein weiterer runder Kopf über den Rand des Fabrikdaches. Die metallische Haut glänzte blendend in der schräg stehenden Sonne, und der Ölstutzen war wie ein Raubvogelschnabel auf ihn gerichtet. Wie ein lauerndes Raubtier kauerte der Roboter und streckte ihm seine spitzen Greifzangen entgegen. Jetzt würden sie ihn erwischen. Es gab kein Entrinnen. Einer war oben, einer unten. Tausend Gedanken schossen durch Sheldons Gehirn. Der Mensch hatte Maschinen gemacht – Maschinen hatten den Menschen vernichtet – Geld konnte ihn nicht retten; die Macht der Presse konnte ihn nicht retten; Schußwaffen konnten ihn nicht retten; Liebe konnte ihn nicht retten. Die Zeit des Menschen war vorüber, und die Maschinen würden herrschen, weil es keine Waffe gegen sie gab. Keine Waffe? Es gab sie – das Leben. Das letzte Leben auf Erden. Es war die einzige Waffe des Menschen. Eine Sekunde nur überlegte er, doch schon streckten sich von unten die Greifzangen nach ihm aus, schon spreizten sie sich ihm von oben drohend entgegen. Dann drehte sich Sheldon auf der Leiter um. Er drückte das Faß an seine Brust. Er schaute nach unten, grinste. Und sprang. Sheldon hörte die Explosion nicht mehr. Sein letzter bewußter Gedanke – der letzte bewußte Gedanke eines Menschengehirns auf dieser Erde – war, daß sein Körper sich um sich selbst drehte. Sich wieder und wieder drehte, so wie die Erde sich immer weiter zwischen den Sternen drehte, wie ein Zahnrad in der riesigen Maschinerie des endlosen Kosmos. Originaltitel: IT HAPPENED TOMORROW
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Lord Dunsany
HASCHISCH-TRIP Kürzlich war ich in London zum Dinner eingeladen. Die Ladies waren in den ersten Stock hinaufgegangen, und niemand saß zu meiner Rechten. Links von mir war ein Mann, den ich nicht kannte, der aber meinen Namen wußte, denn nach einer Weile wandte er sich zu mir und sagte: »Ich habe in einer Zeitschrift eine Geschichte von Ihnen über Bethmoora gelesen.« Natürlich erinnerte ich mich an die Geschichte. Sie handelte von einer schönen orientalischen Stadt, die plötzlich innerhalb eines einzigen Tages verlassen worden war – niemand wußte so recht, warum. Ich sagte: »Oh, ja«, und zermarterte mir das Gehirn nach einer passenderen Entgegnung auf das Kompliment. Ich war sehr erstaunt, als er sagte: »Was die Gnousar-Krankheit betrifft, so haben Sie sich geirrt. Die war es nicht.« Ich fragte: »Wie denn! Waren Sie dort?« Und er sagte: »Ja; ich tue es mit Haschisch; ich kenne Bethmoora gut.« Und er nahm aus seiner Tasche eine kleine Dose voll von einer schwarzen Substanz, die wie Teer aussah, aber einen seltsamen Geruch verströmte. Er warnte mich davor, sie mit meinem Finger zu berühren, da die Flecken tagelang bleiben würden. »Ich habe es von einem Zigeuner«, sagte er. »Er hatte ziemlich viel davon, da es seinen Vater umgebracht hatte.« Doch ich unterbrach ihn, denn ich wollte mit Sicherheit wissen, aus welchem Grunde die Einwohner jene schöne Stadt Bethmoora wirklich verlassen hatten und im Lauf eines Tages überstürzt aus ihr geflohen waren. »War es wegen des Wüstenfluchs?« fragte ich, und er sagte: »Zum Teil war es der Zorn der Wüste, zum Teil aber der Rat des Kaisers Thuba Mleen, denn das schreckliche Tier ist irgendwie von seiner Mutter her mit der Wüste verbunden.« Und er erzählte mir diese seltsame Geschichte: »Sie erinnern sich an den Matrosen mit der schwarzen Narbe, der an dem von Ihnen beschriebenen Tage dort war, als die Boten auf Maultieren ans Tor von Bethmoora kamen und daraufhin alle flohen. Ich traf diesen Mann in
einer Taverne, wo er trank, und er erzählte mir alles über die Flucht aus Bethmoora; freilich wußte er genau so wenig wie Sie, welches der Inhalt der Botschaft war, oder wer sie gesandt hatte. Indessen sagte er, daß er Bethmoora noch einmal sehen wollte, sobald er wieder in einem östlichen Hafen anlegen würde, selbst wenn er es mit dem Teufel zu tun bekäme. Er sagte immer wieder, daß selbst der Teufel ihn nicht daran hindern könne, das Geheimnis der Botschaft zu ergründen, die Bethmoora in einem Tag zu einer toten Stadt gemacht hatte. Und am Ende bekam er es mit Thuba Mleen zu tun, mit dessen Wildheit er nicht gerechnet hatte. Denn eines Tages erzählte mir der Seemann, daß er ein Schiff gefunden habe, und danach sah ich ihn nicht wieder in der Taverne. Es war etwa zu der Zeit, als ich das Haschisch von dem Zigeuner bekam, der mehr davon hatte, als er brauchte. Man wird davon buchstäblich aus sich selbst herausgeholt. Es ist wie ein Paar Flügel. Man schwebt über fernen Ländern und in andere Welten. Einmal entdeckte ich das Geheimnis des Universums. Ich habe vergessen, was es ist, doch weiß ich, daß der Schöpfer seine Schöpfung nicht ernst nimmt, denn ich entsinne mich, daß Er, seine ganze Arbeit vor sich, im Weltraum saß und lachte. Ich habe in schrecklichen Welten Unglaubliches gesehen. Da Ihre Fantasie es ist, die Sie dort hinbringt, so können Sie nur mit Hilfe der Fantasie auch wieder zurück. Einmal traf ich im Äther einen vagabundierenden Geist, der einem Menschen angehört hatte, den Drogen vor hundert Jahren umgebracht hatten; und er führte mich in Bereiche, die ich mir niemals vorgestellt hatte; jenseits der Pleiaden schieden wir im Zorn, und meine Fantasie konnte den Rückweg nicht mehr finden. Ich traf eine riesige graue Gestalt, die der Geist eines großen Volkes war, vielleicht ein ganzer Stern, und ich flehte ihn an, mir den Heimweg zu zeigen. Er blieb bei mir stehen, wie ein Wind, der plötzlich aufhört, und wies in eine Richtung und fragte mich mit leiser Stimme, ob ich ein gewisses winziges Licht erkennen könne, und schwach gewahrte ich einen Stern; und dann sagte er zu mir: ›Das ist das Sonnensystem‹, und verfolgte weiter seinen Weg. Und irgendwie fand meine Fantasie den Weg zurück, und es war höchste Zeit, denn mein Körper auf einem Stuhl in meinem Zimmer hatte schon begonnen, steif zu werden; und das Feuer war ausgegangen,
und alles war kalt, und nacheinander mußte ich meine Finger bewegen, und ich fühlte schmerzhaftes Stechen wie von Nadeln in ihnen, und schreckliche Schmerzen in den Nägeln, die aufzutauen begannen; und schließlich konnte ich einen Arm bewegen, und erreichte eine Glocke, und lange Zeit kam niemand, denn alle waren im Bett. Doch schließlich erschien ein Mann, und sie holten einen Arzt; und er sagte, daß es Haschisch-Vergiftung sei, daß aber alles in Ordnung gewesen wäre, hätte ich nicht jenen vagabundierenden Geist getroffen. Ich könnte Ihnen unfaßbare Dinge erzählen, die ich gesehen habe, aber Sie wollen wissen, wer jene Botschaft nach Bethmoora gesandt hat. Nun, es war Thuba Mleen. Woher ich das weiß? Nach dem Ereignis, über das Sie geschrieben haben, fuhr ich oft zu der Stadt (ich pflegte abends Haschisch zu nehmen), und fand sie immer unbewohnt. Wüstensand war in sie eingedrungen, und die Straßen waren gelb und glatt, und durch offene Türen war der Sand getrieben. Eines Abends hatte ich zu Hause einen Bediensteten vor das Kaminfeuer postiert, mich in einem Stuhl niedergelassen und mein Haschisch gegessen, und das erste, was ich sah, als ich nach Bethmoora kam, war der Seemann mit der schwarzen Narbe, der die Straße hinunterschlenderte und Fußspuren im gelben Sand hinterließ. Und nunmehr wußte ich, daß ich sehen würde, welche geheime Kraft es war, die Bethmoora unbewohnt bleiben ließ. Dann sah ich Zorn in der Wüste, denn Sturmwolken ballten sich am Himmel zusammen und ich hörte Murren aus dem Sand. Der Seemann schlenderte weiter die Straße hinunter und schaute auf seinem Weg in die leeren Häuser; manchmal rief er, und manchmal sang er, und manchmal schrieb er seinen Namen auf eine Marmorwand. Dann setzte er sich auf einer Stufe nieder und nahm sein Mahl ein. Nach einer Weile wurde er der Stadt überdrüssig und kam die Straße wieder herauf. Als er das grüne Kupfertor erreichte, erschienen drei Männer auf Kamelen. Ich konnte nichts tun. Ich, das war nur ein Bewußtsein, unsichtbar, umherstreifend: Mein Körper war in Europa. Der Seemann verteidigte sich tapfer mit seinen Fäusten, wurde jedoch überwältigt, mit Stricken gebunden und durch die Wüste hinweggeführt.
Ich folgte ihm, solange es mir möglich war, und sah, daß sie durch die Wüste um die Hügel von Hap herum nach Utnar Vehi ritten, und dann wußte ich, daß die Männer auf den Kamelen zu Thuba Mleen gehörten. Den ganzen Tag arbeite ich in einem Versicherungsbüro, und ich hoffe, Sie werden mich nicht vergessen, wann immer Sie eine Versicherung brauchen – Leben, Feuer, oder Auto – aber das gehört nicht zu meiner Geschichte. Ich wollte um jeden Preis zu meiner Behausung zurück, obgleich es nicht gut ist, zwei Tage hintereinander Haschisch zu nehmen; doch wollte ich sehen, was sie mit dem armen Kerl anfangen würden, denn ich hatte schlimme Gerüchte über Thuba Mleen gehört. Als ich endlich von meiner Arbeit loskam, hatte ich einen Brief zu schreiben; dann läutete ich meinem Diener und sagte ihm, daß ich nicht gestört werden dürfe, wenngleich ich wegen der Möglichkeit eines Unfalls meine Tür unverschlossen ließe. Dann machte ich mir ein schönes Feuer, setzte mich hin und trank aus dem Becher der Träume. Ich wollte zum Palast des Thuba Mleen. Länger als gewöhnlich hielt Straßenlärm mich zurück, doch plötzlich war ich über unserer Stadt; die Länder Europas flogen unter mir vorbei, und dann erschienen die dünnen weißen Palasttürme des schrecklichen Thuba Mleen. Ich fand ihn sogleich am Ende eines schmalen kleinen Raumes. Hinter ihm hing ein roter lederner Vorhang, in den alle Namen Gottes auf Yannish mit goldenem Faden eingestickt waren. Drei Fenster waren schmal und hoch. Der Kaiser schien nicht älter als zwanzig zu sein und wirkte klein und schwach. Kein Lächeln erschien auf seinem häßlichen gelben Gesicht, obwohl er fortwährend kicherte. Als mein Blick von seiner niedrigen Stirn zu seiner zitternden Unterlippe streifte, wurde mir klar, daß etwas Schreckliches an ihm war, obgleich ich nicht erkennen konnte, was es sei. Und dann sah ich es – starr standen seine Lider offen; und obwohl ich später seine Augen daraufhin beobachtete, seine Lider senkten sich nie. Und dann folgte ich des Kaisers entzücktem Blick, und ich sah den Seemann, der auf dem Boden lag, lebend, doch schrecklich zerrissen, und die königlichen Folterer um ihn herum waren am Werk. Sie hatten lange Streifen aus ihm herausgerissen, aber nicht völlig abgetrennt, und marterten jetzt diese Teile des Seemanns.«
Der Mann, den ich beim Dinner traf, erzählte mir vieles, was ich verschweigen muß. »Der Seemann stöhnte leise, und bei jedem Stöhnen kicherte Thuba Mleen. Ich hatte keinen Geruchssinn, doch konnte ich hören und sehen, und ich weiß nicht, was das Empörendste war – der schreckliche Zustand des Seemanns oder das glückliche starre Gesicht des schrecklichen Thuba Mleen. Ich wollte auf und davon, doch war die Zeit noch nicht gekommen, und ich mußte bleiben, wo ich war. Plötzlich begann des Kaisers Gesicht wild zu zucken, und seine Unterlippe zitterte schneller, und er heulte vor Zorn und schrie mit schriller Stimme auf Yannisch dem Häuptling seiner Folterer zu, ein Geist sei im Raum. Furcht hatte ich nicht, denn lebende Menschen können nicht Hand an einen Geist legen; doch waren alle die Folterer erschreckt ob seines Zornes und unterbrachen ihr Werk, denn ihre Hände zitterten vor Angst. Die beiden Männer der Leibwache schlüpften aus dem Raum, und jeder von ihnen kehrte sogleich mit einer goldenen Schüssel zurück, die voll Haschisch war; und die Schüssel war geräumig genug, daß zwei Köpfe hätten in ihr schwimmen können, wären sie mit Blut gefüllt gewesen, und hastig, jeder mit zwei Löffeln essend, machten sich die beiden Männer über den Haschisch her – und ein jeder Löffel voll hätte genügt, um hundert Männer ins Land der Träume zu schicken. Und bald kam das Haschisch über sie, und ihre Geister schwebten, schickten sich an, sich zu befreien, während große Furcht mich ergriff, doch fielen sie immer wieder, durch irgendeinen Lärm im Raum gerufen, in die Körper zurück. Immer noch aßen die Männer, langsamer jetzt und ohne die frühere Gier. Schließlich fielen die großen Löffel aus ihren Händen, und ihre Geister erhoben sich, verließen sie. Ich konnte nicht fliehen. Und die Geister waren schrecklicher als die Männer, denn es waren junge Männer, noch nicht zu Ende geformt, um ihren schrecklichen Seelen zu entsprechen. Noch stöhnte der Seemann leise, was stets den Kaiser Thuba Mleen zum Kichern brachte. Dann stürzten die beiden Geister sich auf mich und wirbelten mich fort, so wie ein Windstoß Schmetterlinge fortreißt, und wir flogen weg von dem kleinen, bleichen, schrecklichen Mann.
Diesen Geistern wilder Nachdrücklichkeit konnte nichts widerstehn. Die Energie in meinem winzigen Quantum der Droge wurde überwältigt durch die riesigen Mengen, die diese Männer mit beiden Händen sich zugeführt hatten. Ich wurde über Arvle Woondery gewirbelt, kam zu den Ländern des Snith, und wurde weiter fortgerissen, bis ich Kragua erreichte und schließlich jene schwarzen Länder, von denen selbst die Fantasie kaum etwas weiß. Und wir kamen zuletzt zu den Elfenbeinhügeln, die man die Berge des Wahnsinns nennt, und ich versuchte, mich gegen die Geister der Männer jenes schrecklichen Kaisers zu wehren, denn auf der anderen Seite der Elfenbeinhügel hörte ich jene Tiere, deren Beute die Wahnsinnigen sind, hechelnd hin und her laufen. Es war keines Menschen Schuld, daß meine kleine Prise Haschisch nichts vermochte gegen diese furchtbaren Mengen…« In der Halle läutete die Glocke der Eingangstür. Sogleich kam ein Bediensteter und sagte unserem Gastgeber, ein Herr von der Polizei sei in der Halle und wünsche ihn sofort zu sprechen. Er entschuldigte sich bei uns und ging hinaus, und wir hörten einen Mann in schweren Stiefeln, der mit leiser Stimme zu ihm sprach. Mein Freund aber stand auf und ging hinüber zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus. »Ich bin sicher, es wird eine schöne Nacht«, sagte er. Dann sprang er hinaus. Als wir unsere erstaunten Gesichter aus dem Fenster steckten, um ihn zu suchen, war er schon außer Sicht. Originaltitel: THE HASHISH MAN Copyright © 1945 by All Fiction Field, Inc.
Arthur C. Clarke
TYRANNENMORD Schon erzitterten die Berge vom Donner, den nur der Mensch erzeugen kann. Hier schien der Krieg noch sehr weit weg zu sein; der Vollmond stand über dem Himalaya, und das Dach der Welt war abgeschirmt von der wilden Raserei des Kampfes. Doch würde das nicht mehr lange so sein. Der Herrscher wußte, daß die letzten Überreste seiner Flotte vom Himmel heruntergeworfen wurden, während sich der Todeskreis um seine Bastion immer enger zog. Es würde höchstens noch ein paar Stunden dauern, bis der Herrscher und seine Herrschaftsträume der Vergangenheit angehörten. Völker würden weiter seinen Namen verfluchen, aber sie würden ihn nicht länger fürchten. Später würde auch der Haß verflogen sein, und er würde für die Welt nicht mehr bedeuten als Hitler oder Napoleon oder Dschingis Khan. Wie sie würde er eine immer undeutlicher werdende Gestalt im endlosen Korridor der Zeit sein, die schließlich der Vergessenheit anheim fallen würde. Weit unten im Süden zeichnete sich plötzlich der Umriß eines Berges in violettem Feuerschein ab. Generationen später erzitterte der Balkon, auf dem der Herrscher stand, von der Schockwelle, die durch das Felsgestein unter ihm lief. Noch später brachte die Luft das Echo der gigantischen Erschütterung. Sie konnten doch noch nicht so nahe sein! Der Herrscher hoffte, es sei nicht mehr als ein auf Abwege geratener Torpedo, der sich durch die enger werdende Kampflinie verirrt hätte. War das nicht der Fall, dann war seine Zeit noch kürzer bemessen, als er befürchtet hatte. Der Stabschef kam aus dem Dunkel und stellte sich neben ihn an die Balkonbrüstung. Das harte Gesicht des Marschalls – des am zweitmeisten gehaßten Menschen in der ganzen Welt – war zerfurcht und schweißüberströmt. Viele Tage lang hatte er nicht geschlafen, und seine einst so prunkvolle Uniform hing schlotternd an seinem Körper. Seine Augen aber waren, wenn auch unsagbar müde, so doch voll fester
Entschlossenheit – selbst in der Niederlage. Schweigend erwartete er die letzten Befehle. Sonst gab es für ihn nichts mehr zu tun. In dreißig Meilen Entfernung flammte der ewige Schnee-Federbusch des Mount Everest in grausigem Rot auf; es war der Widerschein eines gigantischen Brandes hinter dem Horizont. Noch machte der Herrscher keine Bewegung, noch gab er kein Zeichen. Erst als eine Salve von Torpedos mit dämonischem Heulen hoch über ihre Köpfe hinwegflog, wandte er sich um, warf einen Blick zurück auf die Welt, die er nie wieder sehen würde, und stieg hinunter in die Tiefe. Der Lift ging tausend Fuß nach unten, und der Kampfeslärm erstarb. Als er aus dem Aufzugschacht trat, hielt der Herrscher einen Augenblick inne, um einen verborgenen Knopf zu drücken. Der Marschall lächelte, als er von weit oben das Poltern und Krachen fallenden Gesteins hörte, und wußte, daß Verfolgung und Entkommen gleichermaßen unmöglich waren. Wie in alten Tagen sprang die Handvoll Generale auf, als der Herrscher den Raum betrat. Schweigend und in Gedanken an die letzte und schwierigste Rede, die er jemals halten würde, ging er an seinen Platz. Er fühlte, wie die Blicke der Männer, die er ins Verderben geführt hatte, auf seiner Seele brannten. Hinter ihnen konnte er die Kompanien, die Divisionen, die Armeen sehen, deren Blut seine Hände befleckte. Schrecklicher noch war das gespenstisch stumme Bild der Völker, die nun das Licht der Welt nie mehr erblicken würden. Schließlich begann er zu sprechen. Die hypnotisierende Kraft seiner Stimme war gegenwärtig wie immer, und nach einigen Worten wurde er noch einmal die vollkommene, unerbittliche Maschine, deren Produkt Vernichtung war. »Dies, meine Herrn, ist unsere letzte Besprechung. Es sind keine Pläne mehr zu machen, keine Karten mehr zu studieren. Irgendwo hoch über uns kämpft unsere stolze, mit so viel Aufwand und Mühen erbaute Flotte ihren letzten Kampf. In wenigen Minuten wird nicht eine dieser Tausenden von Maschinen mehr am Himmel sein. Ich weiß, daß Kapitulation für alle von uns hier undenkbar ist, selbst wenn sie möglich wäre. Das heißt, daß Sie sehr bald in diesem Raum werden sterben müssen. Sie haben für unsere Sache gekämpft und ein
besseres Schicksal verdient, aber es sollte nicht sein. Dennoch dürfen Sie nicht glauben, daß unser Kampf völlig vergebens war. In der Zeit, die hinter uns liegt, konnten Sie immer wieder sehen, daß meine Pläne stets jedem Eventualfall Rechnung trugen, so unwahrscheinlich er auch sein mochte. Sie werden also nicht überrascht sein, wenn ich Ihnen eröffne, daß ich selbst für den Fall der Niederlage vorbereitet war.« Noch immer im Besitz seiner großartigen Rednergabe, hielt er inne und registrierte mit Befriedigung das plötzliche angespannte Interesse auf den übernächtigten Gesichtern seiner Zuhörer. »Mein Geheimnis ist bei Ihnen gut aufgehoben«, fuhr er fort, »denn der Feind wird diesen Ort niemals finden. Der Eingang ist bereits Hunderte von Fuß hoch von Gestein versperrt.« Noch zeigte sich keine Bewegung. Nur der Propagandaminister wurde plötzlich bleich, erholte sich aber schnell – doch nicht schnell genug, als daß es dem Auge des Herrschers hätte entgehen können. Der Herrscher lächelte innerlich über diesen verspäteten Beweis der Berechtigung eines alten Zweifels. Jetzt spielte es keine Rolle mehr; treu oder verräterisch, sie würden alle zusammen sterben. Alle bis auf einen. »Vor zwei Jahren«, fuhr er fort, »als wir die Antarktis-Schlacht verloren, wußte ich, daß wir des Sieges nicht mehr sicher sein konnten. So traf ich meine Vorbereitungen für diesen Tag. Der Feind hat sich geschworen, mich zu töten. Nirgendwo auf der Erde konnte ich mich verstecken, und noch weniger die Hoffnung hegen, unser großartiges Reich wieder aufzubauen. Aber es gibt noch einen anderen Ausweg, wenn auch einen verzweifelten. Vor fünf Jahren vervollkommnete einer unserer Wissenschaftler die Technik der Lebensunterbrechung. Er stellte fest, daß man mit vergleichsweise einfachen Mitteln alle Lebensprozesse für unbestimmte Zeit anhalten kann. Ich werde diese Entdeckung benützen, um mich aus der Gegenwart in eine Zukunft zu retten, die mich nicht mehr kennen wird. Dann kann ich – unter Anwendung gewisser Erfindungen, mit deren Hilfe wir schon diesen Krieg hätten gewinnen können, hätte uns das Schicksal mehr Zeit gegönnt – den Kampf von neuem beginnen.
Leben Sie wohl, meine Herrn. Noch einmal danke ich Ihnen für Ihre Hilfe. Seien Sie meines Bedauerns über Ihr trauriges Schicksal sicher.« Er grüßte, drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus. Das metallene Tor schlug dumpf hinter ihm zu. Im Raum herrschte eisiges Schweigen; dann ging mit schnellen Schritten der Propagandaminister zur Tür, nur um mit einem erschreckten Aufschrei wieder zurückzuzucken. Das Stahltor war für eine Berührung schon zu heiß. Es war jetzt fest mit der Wand verschweißt. Der Kriegsminister war der erste, der seine Pistole zog. Der Herrscher war jetzt nicht mehr in großer Eile. Als er den Raum verließ, hatte er auf den Geheimschalter gedrückt, welcher den die Schweißung auslösenden Stromkreis schloß. Gleichzeitig hatte er damit ein Stück der Wandvertäfelung in der Korridorwand geöffnet, das einen spiralenförmig nach oben verlaufenden Gang freigab. Langsam begann er hochzusteigen. Alle paar hundert Fuß machte der Tunnel einen scharfen Knick, wenn auch die Richtung weiter nach oben verlief. Bei jeder dieser Biegungen blieb der Herrscher stehen, um einen Knopf zu drücken, und dann verriet das Donnern fallenden Gesteins, daß ein Teil des Korridors in sich zusammengebrochen war. An fünf Stellen war der Gang auf diese Weise unterbrochen, bevor er in einem kugelförmigen Raum mit metallenen Wänden endete. Mehrfach abgestufte Türen preßten sich leise auf ihre Gummidichtungen, und dann stürzte der letzte Teil des Tunnels hinter ihm ein. Der Herrscher würde nicht gestört werden – weder von seinen Feinden, noch von seinen Freunden. Schnell vergewisserte er sich, daß alles wie vorgesehen in Bereitschaft war. Dann ging er zu einem einfach aussehenden Steuerpult und legte nacheinander mehrere Schalter um. Sie mußten nur schwachen Strom übertragen – aber sie waren auf Dauerhaftigkeit konstruiert. Das galt auch für alles andere in diesem seltsamen Raum. Selbst die Wände bestanden aus einer Metallegierung, die viel widerstandsfähiger war als Stahl. Summende Pumpen begannen, die Luft aus der Kammer abzusaugen und sie durch steriles Nitrogen zu ersetzen. Seine Bewegungen etwas
beschleunigend, ging der Herrscher nun zu der dick gepolsterten Liege und ließ sich darauf nieder. Ihm war, als spürte er die bakterientötende Strahlung der Deckenlampen, aber das war natürlich Einbildung. Aus einer Vertiefung unter der Liege holte er eine Spritze und injizierte sich eine milchige Flüssigkeit in seinen Arm. Dann streckte er sich aus und wartete. Es war schon sehr kalt. Bald würden die Kühlaggregate die Temperatur auf weit unter den Gefrierpunkt abgesenkt haben und sie viele Stunden lang auf diesem Stand halten. Dann würde sie wieder auf normales Niveau ansteigen, doch dann würde der Vorgang beendet sein: Alle Bakterien würden tot sein, und der Meister konnte, ohne daß sich sein Zustand änderte, auf ewig schlafen. Hundert Jahre wollte er warten. Ein längerer Schlaf hätte ein Wagnis bedeutet, denn nach seinem Erwachen würde er alle die technischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu meistern haben, welche die Zeit inzwischen gebracht haben würde. Selbst ein einziges Jahrhundert konnte die Zivilisation in einem Maße verändern, daß er sie nicht mehr zu begreifen vermochte, doch das war ein Risiko, das er in Kauf nehmen mußte. Weniger als hundert Jahre würden seine Sicherheit gefährden, denn dann würde die Welt noch immer voll schlimmer Erinnerungen sein. In Vakuumkammern unter seiner Liege befanden sich elektronische Zählwerke. Sie registrierten die Messungen von Thermoelementen, die Hunderte von Fuß über ihm an der steil abfallenden Ostflanke des Berges installiert waren, wo kein Schnee liegen bleiben konnte. Alle vierundzwanzig Stunden würde durch den morgendlichen Temperaturanstieg dem Zählwerk ein neuer Impuls gegeben. Sobald eines der Zählwerke den Endstand von sechsunddreißigtausend erreichte, würde ein Schaltkreis sich schließen und Sauerstoff in die Kammer zurückströmen lassen. Die Temperatur würde wieder steigen, und die automatische, an des Herrschers Arm geschnallte Injektionsspritze würde die vorgesehene Menge Serum in seinen Blutkreislauf befördern. Er würde erwachen. Dann würde er den Knopf drücken, die Bergflanke absprengen und so Zugang zur Außenwelt gewinnen. Es war an alles gedacht. Nichts konnte schiefgehen. Die ganze
Maschinerie war dreifach vorhanden und so perfekt, wie es nach dem Stande der Technik nur möglich war. Des Herrschers Bewußtsein verebbte. Sein letzter Gedanke galt nicht der Vergangenheit und auch nicht seiner Mutter, deren Hoffnungen er getrogen hatte. Unerbeten und unwillkommen kamen die Worte eines alten Dichters in seinen Sinn: Schlafen, vielleicht auch träumen… Nein, er würde nicht, er durfte nicht träumen. Er würde nur schlafen… schlafen… schlafen… In zwanzig Meilen Entfernung ging die Schlacht ihrem Ende entgegen. Kaum ein Dutzend der Schiffe des Herrschers war übriggeblieben und kämpfte gegen übermächtiges Feuer einen hoffnungslosen Kampf. Lange wären die Kriegshandlungen schon zu Ende gewesen, hätten die Angreifer nicht den Befehl erhalten, kein Schiff bei unnötig gewagten Aktionen aufs Spiel zu setzen. Weittragende Geschütze sollten die Entscheidung herbeiführen. Die großen Zerstörer, die fliegenden Schlachtschiffe dieser Epoche, hielten sich mit ihrem Begleitschutz in den sicheren Zonen hinter den Bergen und feuerten Salve auf Salve gegen die todgeweihten Verbände. Auf dem Flaggschiff stellte ein junger indischer Artillerieoffizier mit unendlicher Sorgfalt Nonusskalen ein und drückte dann leicht auf ein Pedal. Eine minimale Erschütterung war zu verspüren, als die sechs lenkbaren Lufttorpedos ihre Bunker verließen und Kurs auf den Feind nahmen. Der junge Inder wartete gespannt, während der Zeiger des Chronometers von Sekunde zu Sekunde sprang. Das, dachte er, war wohl die letzte Salve, die er je abfeuern würde. Irgendwie stellte sich die erwartete Hochstimmung nicht ein; zu seiner Überraschung entdeckte er bei sich sogar eine Art von unpersönlicher Sympathie für seine zum Untergang verurteilten Gegner, deren Leben jede Sekunde seinem Ende näher rückte. In weiter Ferne erglühte zwischen den hin und her flitzenden Flecken, als die die feindlichen Schiffe wahrnehmbar waren, eine violette Feuerkugel über den Gebirgen. Angespannt lehnte sich der Richtschütze nach vorn und zählte. Eins – zwei – drei – vier – fünf Male kam diese
eigentümliche Explosion. Dann wurde der Himmel wieder klar. Die herumwimmelnden Punkte waren verschwunden. In seinem Logbuch notierte der Richtschütze kurz: »0124 Uhr. Salve Nummer 12 abgefeuert. Fünf Torpedos zwischen den feindlichen Schiffen detoniert, alle zerstört. Ein Ausreißer.« Er signierte die Eintragung mit einem Schnörkel und legte dann seinen Stift nieder. Eine Zeitlang starrte er auf den vertrauten braunen Deckel des Logbuchs mit den von Zigaretten stammenden Brandflecken an den Rändern und den unvermeidlichen ringförmigen Flächen, wo Tassen und Gläser unachtsam niedergestellt worden waren. Müßig blätterte er es durch und erkannte die Handschrift vieler seiner Vorgänger wieder. Und wie schon so oft schlug er eine wohlbekannte Seite auf, auf der ein Mann, der sein Freund gewesen war, seinen Namen begonnen, doch nicht mehr vollendet hatte. Mit einem Seufzer machte er das Buch zu und schloß es weg. Der Krieg war vorbei. In weiter Ferne nahm die Geschwindigkeit des nicht explodierten Ausreißers unter dem Schub der Antriebsaggregate weiter zu. Jetzt war der Torpedo zu einem kaum mehr wahrnehmbaren hellen Strich geworden, der zwischen den Bergflanken eines abgelegenen Tales hindurchging. Schon lösten sich unter der Erschütterung der donnernden Triebwerke Schneemassen und begannen, mit dumpfem Lärm über die Abhänge hinabzustürzen. Das Tal besaß keinen Ausgang: Es war von einer tausend Fuß hohen Wand begrenzt. Hier fand der Torpedo, der sein Ziel verfehlt hatte, ein größeres. Das Grab des Herrschers lag zu tief im Berg, als daß die Explosion es hätte erschüttern können, aber die Hunderte von Tonnen fallenden Felses hatten die winzigen Instrumente und ihre Verkabelung mit sich gerissen, und die Zukunft, die sie ermöglichen sollten, fiel mit ihnen in die Vergessenheit. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne würden weiter auf die zerfetzte Gebirgswand fallen, doch die Zählwerke, die auf die sechsunddreißigtausendste Morgendämmerung warteten, würden immer noch warten, wenn die Sonne längst nicht mehr auf- oder unterging.
In der Grabesstille dessen, was nicht ganz ein Grab war, ahnte der Herrscher nichts von alledem. Und er schlummerte weiter, bis das Jahrhundert lange, sehr lange vorüber war. Als eine unter Anlegung bestimmter Maßstäbe gering zu nennende Zeitspanne verstrichen war, kam die Erdkruste zu dem Schluß, das Gewicht des Himalaya lange genug getragen zu haben. Langsam neigten sich die Gebirge und hoben die südlichen Ebenen Indiens hoch in den Himmel. Alsbald war das Plateau von Ceylon der höchste Punkt der Erdoberfläche, und der Ozean über dem Everest war fünfeinhalb Meilen tief. Des Herrschers Schlaf jedoch war immer noch traumlos und ungestört. Langsam, doch ohne Unterlaß schob sich der Treibsand durch die Tiefen des Ozeans auf die Überreste des Himalaya. Die Schicht, die eines Tages zu Kalk geworden sein würde, wurde jedes Jahrhundert ein oder zwei Zoll dicker. Nach einer gewissen Zeit hätte man wohl feststellen können, daß es bis zum Meeresgrund keine fünf, ja nicht einmal mehr vier oder drei Meilen waren. Dann neigte das Land sich erneut, und die mächtige Kette eines Kalksteingebirges erstreckte sich dort, wo sich einst die Meere von Tibet befunden hatten. Doch der Herrscher wußte von alledem nichts, und sein Schlaf blieb auch ungestört, als Ähnliches wieder und wieder und wieder passierte. Nunmehr wuschen der Regen und Flüsse den Kalk ab und trugen ihn zu neuen, fremden Meeren, und die Stärke der Schicht über dem verborgenen Grabe wurde geringer. Langsam wurde der meilendicke Fels abgetragen, bis schließlich die Kammer, die den Körper des Herrschers barg, wieder ans Licht des Tages kam – eines Tages freilich, der viel länger war und viel weniger hell als zu der Zeit, da der Herrscher seine Augen geschlossen hatte. Dem Herrscher träumte nichts von den Menschenrassen, die seit dem Beginn seines langen Schlafes aufgeblüht und wieder vergangen waren. Sehr weit lag jener Tag nun zurück, und die Schatten wurden nach Osten hin länger; die Sonne erstarb, und die Welt war sehr alt. Doch immer noch beherrschten Adams Söhne Himmel und Meere und füllten mit ihren Tränen und ihrem Lachen Ebenen, Täler und Wälder, die älter waren als die sich bewegenden Hügel.
Des Herrschers traumloser Schlaf war mehr als zur Hälfte vorüber, als zwischen dem Ende der siebenundneunzigsten Dynastie und dem Aufstieg des fünften galaktischen Empires der Philosoph Trevindor geboren wurde – auf einer Welt weit weg von der Erde. Wenige waren es, die jetzt den Fuß auf das frühere, so weit vom pulsierenden Herzen des Universums entfernte Ursprungsland ihrer Rasse setzten. Sie brachten Trevindor auf die Erde, als seine kurze Auseinandersetzung mit dem Empire ihr unausbleibliches Ende gefunden hatte. Hier saßen diejenigen über ihn zu Gericht, deren Ideale er in Frage gestellt hatte, und dabei erwogen sie lange sein Schicksal. Der Fall war einmalig. Die gewaltlose philosophische Kultur, die nunmehr die Galaxie regierte, war nie zuvor auf Widerspruch gestoßen, nicht einmal auf rein theoretischer Ebene, und der höfliche, doch unerbittliche Zusammenprall der Meinungen hatte sie jetzt schwer erschüttert. Es war typisch für die Mitglieder des Rates, daß sie nunmehr, als keine Lösung zu finden war, Trevindor selbst um Hilfe baten. Im leuchtend weißen Justizpalast, den seit beinahe einer Million Jahre niemand mehr betreten hatte, stand Trevindor, stolz den Männern, die sich als die Stärkeren erwiesen hatten, ins Auge blickend. Stumm lauschte er ihrer Bitte und überlegte dann lange. Geduldig warteten seine Richter, bis er endlich sprach. »Sie möchten mein Wort haben, daß ich meinem Widerspruch nicht mehr Ausdruck verleihe«, begann er, »doch werde ich nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Zu unterschiedlich sind unsere Standpunkte, als daß es nicht früher oder später zu einem erneuten Zusammenstoß kommen würde. Es gab eine Zeit, da Ihnen die Wahl leicht gefallen wäre. Sie konnten mich verbannen oder zum Tode verurteilen. Doch heute – wo im ganzen Universum gibt es noch einen Planeten, wo sie mich verbergen könnten, wollte ich nicht selbst dort bleiben. Vergessen Sie nicht: Es gibt keinen Ort in der Galaxie, wo nicht meine Schüler zu finden wären. Es bleibt nur eine Alternative. Ich werde keinen Groll gegen Sie hegen, wenn Sie in diesem besonderen Fall zur alten Art der Exekution zurückkehren.«
Im Rat wurde verärgertes Murmeln hörbar, und der Präsident, dessen Gesicht sich gerötet hatte, entgegnete in scharfem Ton. »Diese Bemerkung zeugt von zweifelhaftem Geschmack. Wir baten um ernsthafte Vorschläge, nicht um eine Erinnerung – selbst wenn sie humorvoll gewesen sein sollte – an die barbarischen Gebräuche unserer entfernten Vorfahren.« Trevindor nahm den Tadel mit einer Verbeugung entgegen. »Ich erwähnte nur sämtliche Möglichkeiten. Zwei weitere sind mir noch in den Sinn gekommen. Es wäre ein Leichtes, mein Bewußtsein so zu verändern, daß ich wie Sie denke und in Zukunft keine Meinungsverschiedenheiten mehr entstehen können.« »Wir haben das in unsere Überlegungen einbezogen. Wir mußten es ablehnen, so verlockend es scheint, denn die Zerstörung Ihrer Persönlichkeit wäre einem Mord gleichzusetzen. Es gibt im ganzen Universum nur fünfzehn stärkere Intellekte als den Ihren, und wir haben kein Recht, uns daran zu schaffen zu machen. Und Ihr letzter Vorschlag?« »Wenn Sie mich auch nicht in den Weltraum verbannen können, so bleibt doch eine Alternative. Der Fluß der Zeit erstreckt sich so weit vor uns, wie unsere Gedanken reichen. Senden Sie mich diesen Strom hinab in ein Zeitalter, wo diese Zivilisation mit Sicherheit vorüber sein wird. Ich weiß, daß Sie das mit Hilfe des Rostoschen Zeitfeldes tun können.« Es gab eine lange Pause. Schweigend überantworteten die Mitglieder des Rates ihre Entscheidungen dem komplizierten Analysenapparat, der sie gegeneinander abwägen und dann zu einem Urteil kommen würde. Schließlich sprach der Präsident: »So soll es geschehen. Wir werden Sie in ein Zeitalter senden, wo die Sonne noch warm genug ist, um Leben auf dieser Erde zu gestatten, das jedoch so weit entfernt ist, daß keine Spur unserer Zivilisation mehr erhalten sein wird. Wir werden Sie mit allem versehen, was für Ihre Sicherheit und einen angemessenen Komfort erforderlich ist. Sie sind jetzt entlassen. Wir werden Sie wieder rufen, sobald alle Vorkehrungen getroffen sind.« Trevindor verneigte sich und schritt aus der Marmorhalle. Keine Wächter folgten ihm. In diesem Universum, das die großen galaktischen
Schiffe in einem einzigen Tag durchmaßen, gab es keinen Ort, zu dem er fliehen konnte. Zum ersten und auch letzten Male stand Trevindor an der Küste dessen, was einst der Pazifik gewesen war, und lauschte dem Rauschen des Windes durch die Blätter von dem, was einst Palmen gewesen waren. Die wenigen Sterne in dem fast leeren Abschnitt des Raumes, durch den die Sonne gerade ging, schienen mit ruhigem Licht durch die trockene Luft der alternden Welt. Bedrückt fragte sich Trevindor, ob sie auch noch scheinen würden, wenn er in einer so fernen Zukunft, wo die Sonne selbst ihrem Ende nahe sein würde, wieder zum Himmel aufschaute. Er hörte ein Klingeln vom Kommunikatorband an seinem Handgelenk. Die Zeit war also gekommen. Er wandte sich vom Meer ab und ging entschlossen seinem Schicksal entgegen. Bevor er ein Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, hatte ihn das Zeitfeld erfaßt. In Sekundenbruchteilen waren seine Gedanken eingefroren und würden unverändert so bleiben, während die Ozeane schrumpften und verschwanden, das galaktische Empire sich auflöste und die großen Sternhaufen ins Nichts zerbröckelten. Für Trevindor aber stand die Zeit still. Er wußte nur, bei einem seiner Schritte auf feuchten Sand getreten zu sein und beim nächsten auf harten, trockenen Fels. Die Palmen waren verschwunden, und das Murmeln des Meeres war verstummt. Ein Blick genügte, um zu erkennen, daß selbst die Erinnerung an das Meer in dieser verdorrten, sterbenden Welt schon lange erloschen war. Bis zum fernen Horizont erstreckte sich eine riesige Wüste aus rotem Sandstein, einförmig und von nichts Lebendem unterbrochen. Oben starrte die orange Scheibe einer seltsam veränderten Sonne aus einem pechschwarzen Himmel, der viele Sterne klar sichtbar werden ließ. Und doch schien es, als sei noch Leben auf dieser alten Welt. Im Norden – wenn das noch Norden war – spielte das trübe Licht auf irgendeiner metallischen Struktur. Sie war ein paar hundert Meter entfernt, und als Trevindor auf sie zuging, wurde er einer seltsamen Leichtigkeit gewahr, als sei die Gravitation selbst schwächer geworden.
Er war noch nicht weit gegangen, als er sah, daß er sich einem niedrigen metallenen Gebäude näherte. Es schien eher auf der Ebene niedergesetzt als hier errichtet worden zu sein, denn es stand etwas schräg auf dem leicht geneigten Untergrund. Trevindor war erstaunt über sein unfaßbares Glück, so schnell auf ein Zeichen von Zivilisation zu treffen. Noch ein Dutzend Schritte, und er erkannte, daß nicht Zufall sondern Absicht dieses Gebäude so passend hier hergestellt hatte und daß es in dieser Welt noch viel fremder war als er selbst. Es bestand keinerlei Aussicht, daß irgend jemand zu seinem Empfang herauskommen würde, als er darauf zuschritt. Das Metallschild über der Tür ergab nichts Überraschendes. Noch ganz neu und unverwittert, als ob sie eben geprägt worden sei – was in gewissem Sinne tatsächlich der Fall war – brachte ihm die Aufschrift eine Botschaft, die ihn zugleich mit Hoffnung und Bitterkeit erfüllte. An Trevindor mit den Grüßen des Rates. Ihnen mit Hilfe des Zeitfeldes nachgesandt, wird dieses Gebäude für unbestimmte Zeit allen Ihren Bedürfnissen entsprechen. Wir wissen nicht, ob in dem Zeitalter, in dem Sie sich nun befinden, noch Zivilisation existiert. Möglicherweise wird der Mensch jetzt ausgestorben sein, da das Chromosom K Start K dominant geworden sein wird und die menschliche Art zu etwas nicht mehr Menschlichem mutiert haben kann. Das müssen Sie selbst feststellen. Sie befinden sich jetzt in der Abenddämmerung der Erdgeschichte, und wir hoffen, Sie sind nicht allein. Sollte freilich Ihr Schicksal Sie dazu bestimmt haben, das letzte lebende Wesen auf dieser einst so schönen Welt zu sein, dann vergessen Sie nicht: Sie hatten die Wahl. Leben Sie wohl. Zweimal las Trevindor die Botschaft und erkannte schmerzlich, daß die letzten Worte nur von seinem Freund, dem Dichter Cintillarne geschrieben sein konnten. Ein beklemmendes Gefühl von Einsamkeit und Isolierung ergriff von seiner Seele Besitz. Er setzte sich auf einer Felskante nieder und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Lange später erhob er sich, um das Gebäude zu betreten. Er war dem nunmehr schon lange toten Rat mehr als dankbar, der ihn so ritterlich behandelt hatte. Die technische Leistung, ein ganzes Gebäude durch die Zeit zu senden, hatte er seinem Zeitalter nicht zugetraut. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er besah sich noch einmal das geprägte Metallschild, bemerkte zum erstenmal das Datum, das es trug. Es lag fünftausend Jahre nach dem Zeitpunkt, als er im Justizpalast seinen Richtern gegenüber gestanden hatte. Fünfzig Jahrhunderte waren vergangen, bevor seine Richter einem so gut wie toten Mann gegenüber ihr Versprechen hatten einlösen können. Was auch immer man dem Rat zum Vorwurf machen konnte – seine Integrität ging weit über das hinaus, was ein früheres Zeitalter noch hätte begreifen können. Viele Tage vergingen, bevor Trevindor das Gebäude wieder verließ. Man hatte nichts übersehen: Selbst seine geliebten Gedankenaufzeichnungen waren da. Er konnte weiter die Natur der Wirklichkeit studieren und bis zum Ende des Universums Philosophien aufbauen, so unfruchtbar diese Beschäftigung auch sein würde, wenn er das letzte denkende Wesen auf Erden war. Es bestand kaum Gefahr, dachte er ironisch, daß seine Spekulationen über den Sinn der menschlichen Existenz ihn noch einmal in Konflikt mit der Gesellschaft bringen würden. Erst als er das Gebäude gründlich durchforscht hatte, galt Trevindors Aufmerksamkeit wieder der Außenwelt. Das wichtigste Problem war das der Kontaktaufnahme mit der Zivilisation, falls sie noch existierte. Er war im Besitz eines starken Empfängers und durchsuchte Stunde um Stunde sämtliche Wellenbereiche, um vielleicht einen Sender aufzuspüren. Doch nur entfernte Störgeräusche kamen aus dem Apparat, und einmal etwas wie undeutlich artikulierte Rede, doch wenn es so war, in einer Sprache, die sicher nicht menschlich war. Sonst ergab seine Suche nichts. Der Äther, so lange Zeit der treue Diener des Menschen, war nunmehr stumm. Der kleine automatische Flugapparat war Trevindors letzte Hoffnung. Er hatte den Rest der Ewigkeit vor sich, und die Erde war ein kleiner Planet. In wenigen Jahren konnte er alles erforscht haben.
So vergingen die Monate, während der Verbannte seine systematische Erkundung der Welt begann, immer wieder zu seinem Heim in der roten Sandsteinwüste zurückkehrend. Überall bot sich das gleiche Bild von Verheerung und Untergang. Wie lange die Meere schon verschwunden waren, konnte er nicht einmal vermuten; jedenfalls hatten sie endlose Sandwüsten hinterlassen, die Ebenen wie Berge mit einer schmutzig grauen Decke überzogen. Trevindor war froh, nicht auf der Erde geboren zu sein und somit niemals die strahlende Schönheit ihrer Jugend erlebt zu haben. Selbst den Fremdling, der er war, bedrückte die Leere und Verwüstung der Welt; hätte er vorher hier gelebt, er hätte die Trostlosigkeit nicht ertragen können. Tausende von Quadratmeilen Wüste zogen unter Trevindors schwebendem Schiff vorbei, während er die Welt von Pol zu Pol durchforschte. Nur einmal fand er ein Anzeichen dafür, daß die Erde jemals Zivilisation gekannt hatte. In einem tiefen Tal nahe dem Äquator entdeckte er die Ruinen einer kleinen Stadt aus seltsam weißem Stein und von noch seltsamerer Architektur. Wenngleich zur Hälfte unter Treibsand begraben, waren die Gebäude doch völlig erhalten, und für einen Augenblick fühlte Trevindor, wie ihn düstere Freude ergriff bei dem Gedanken, daß der Mensch trotz allem einige Spuren seiner handwerklichen Kunst auf dieser Welt hinterlassen hatte, die seine erste Heimat war. Das Gefühl war von kurzer Dauer. Die Gebäude waren noch sonderbarer, als Trevindor angenommen hatte, denn kein Mensch konnte sie jemals betreten haben. Die einzigen Öffnungen waren breite waagrechte Schlitze nahe am Boden; es gab keinerlei Art von Fenstern. Trevindors Gedanken überstürzten sich, als er sich die Wesen vorzustellen versuchte, die hier gewohnt haben mußten. Trotz seiner immer stärker werdenden Einsamkeit war er froh, daß die Bewohner dieser unmenschlichen Stadt so lange vor seiner Zeit verschwunden waren. Er verweilte nicht länger hier, denn die bittere Nacht war schon nahe, und das Tal erfüllte ihn mit einer Beklemmung, die nicht ganz rational war.
Einmal entdeckte er sogar Leben. Er kreuzte über dem Bett eines der ausgetrockneten Ozeane, als sein Auge einen Farbfleck bemerkte. Auf einem Erdhügel, den der Treibsand noch nicht unter sich begraben hatte, befand sich ein grüner Grasteppich. Das war alles, und doch standen Tränen in seinen Augen bei diesem Anblick. Er landete und stieg aus seiner Maschine, vorsichtig auftretend, um keinen der um ihr Dasein ringenden Halme zu beschädigen. Zärtlich ging seine Hand über den dünnen Teppich, der alles noch auf der Erde verbliebene Leben enthielt. Bevor er fortflog, besprühte er die Stelle mit so viel Wasser, wie er entbehren konnte. Es war eine nutzlose Geste, doch fühlte er sich etwas besser danach. Die Erkundung war jetzt nahezu beendet. Längst hatte Trevindor alle Hoffnung aufgegeben, doch sein unbezähmbarer Geist trieb ihn immer noch weiter. Er konnte nicht ruhen, bevor er den Beweis dafür besaß, was bisher nur eine Befürchtung war. Und so kam er schließlich zu etwas, was matt im Sonnenlicht glänzte, dem es so undenkbar lang entzogen gewesen war: Des Herrschers Grab. Der Geist des Herrschers erwachte vor seinem Körper. Während er kraftlos dalag und nicht einmal die Augenlider bewegen konnte, strömte die Erinnerung in ihn zurück. Die hundert Jahre mußten jetzt also hinter ihm liegen. Sein Spiel, das gewagteste, das jemals ein Mensch versucht hatte, war geglückt! Eine unendliche Müdigkeit überkam ihn, und für eine Weile verlor er erneut das Bewußtsein. Dann verflogen die Nebel wieder, und er fühlte sich stärker, wenn auch noch zu schwach, um sich zu bewegen. Er lag in der Dunkelheit und sammelte seine Kräfte. Wie würde die Welt aussehen, fragte er sich, wenn er aus dem Berg hinaus in das Tageslicht träte? Würde er seine Pläne ver –? Was war das? Ein jäher, wahnwitziger Schreck drohte seinen Verstand aus den Angeln zu heben. Etwas bewegte sich neben ihm, in diesem Grabe, wo nichts sich bewegen durfte außer ihm selbst. Dann ging, ruhig und klar, ein Gedanke durch seinen Sinn und erstickte in einem Augenblick die Ängste, die ihn zu verwirren gedroht hatten. »Fürchten Sie nichts. Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Sie sind in Sicherheit, und alles wird gut werden.«
Der Herrscher war wie betäubt und konnte nichts erwidern, aber sein Unterbewußtes mußte eine Art Antwort formuliert haben, denn der Gedanke von vorher kam wieder. »Das ist gut. Ich bin Trevindor, wie Sie ein Verbannter in dieser Welt. Bewegen Sie sich nicht; erzählen Sie mir, wie Sie hierher gekommen sind und welches Ihre Rasse ist, denn ich habe noch nichts Derartiges gesehen.« Und jetzt krochen Vorsicht und Furcht in den Geist des Herrschers zurück. Was war das für ein Wesen, das seine Gedanken lesen konnte, und was hatte es in seinem geheimen Zufluchtsort zu schaffen? Wieder hallte der klare kalte Gedanke in ihm wieder wie der Schlag einer Glocke. »Noch einmal sage ich Ihnen, daß Sie nichts zu befürchten haben. Warum erschreckt es Sie so sehr, daß ich in Ihr Inneres sehen kann? Daran ist doch nichts Ungewöhnliches.« »Nichts Ungewöhnliches!« rief der Herrscher aus. »Wer sind Sie – was sind Sie, um Himmels willen?« »Ein Mann wie Sie. Allerdings müssen Sie wirklich von einer primitiven Rasse sein, wenn Gedankenlesen Ihnen unbekannt ist.« Ein schrecklicher Verdacht begann in dem Herrscher zu dämmern. Die Antwort kam, noch ehe er die Frage mit Bewußtsein formulieren konnte. »Sie haben unendlich viel länger als hundert Jahre geschlafen. Die Welt, die Sie kannten, existiert schon länger nicht mehr, als Sie sich überhaupt vorstellen können.« Der Herrscher hörte nichts mehr. Wieder überkam ihn das Dunkel, und er sank in tiefe Bewußtlosigkeit. Schweigend stand Trevindor am Lager des Herrschers. Ein Hochgefühl erfüllte ihn, das für einen Augenblick alle Enttäuschung überwog, die er empfinden mochte. Zumindest mußte er sich der Zukunft nicht mehr alleine stellen. All diese furchtbare Einsamkeit der Erde, die so schwer auf seiner Seele gelastet hatte, war plötzlich verflogen. Nicht mehr allein… Nicht mehr allein! Wieder begann der Herrscher sich zu bewegen, und Bruchstücke von Gedanken teilten sich Trevindor mit. Bilder der Welt, wie der Herrscher sie gekannt hatte, fingen an, sich zu formieren. Erst konnte sich
Trevindor keinen Reim darauf machen; dann, ganz plötzlich, fügten sich die verstreuten Einzelteile zu einem Ganzen zusammen. Eisiger Schauder durchfuhr ihn angesichts der erschreckenden Vorstellung von einander bekriegenden Nationen, von in Flammen verglühenden Städten. Was für eine Welt war das? Konnte die Menschheit seit Trevindors friedvollem Zeitalter so tief gesunken sein? Aus urfernen Epochen hatte es legendenhafte Berichte dieser Art gegeben, doch schon im Kindesalter der Menschheit waren sie fast vergessen gewesen. Solche Zeiten konnten gewiß nicht wiedergekommen sein! Die Gedankenfragmente waren nun lebhafter – und schrecklicher. Die Epoche, der dieser andere Verbannte entstammte, mußte wirklich wie ein Alptraum gewesen sein – kein Wunder, daß er sich aus ihr geflüchtet hatte! Als er die gräßlichen Gedanken, die dem Herrscher durch den Kopf gingen, angewidert weiterverfolgte, dämmerte Trevindor unvermittelt die Wahrheit. Hier war kein Mann, der Zuflucht gesucht hatte vor einem Zeitalter des Schreckens. Er selbst war der Urheber dieses Schreckens, der sich nur mit einem Ziel auf dem Fluß der Zeit eingeschifft hatte – das Begonnene in späteren Epochen fortzusetzen. Nie erahnte Leidenschaften begannen vor Trevindors geistigern Auge sichtbar zu werden: Ehrgeiz, Machthunger, Grausamkeit, Intoleranz, Haß. Er versuchte, sich diesen auf ihn einstürmenden Gedanken zu verschließen, fand aber seine Fähigkeit dazu nicht wieder. Mit einem schmerzlichen Aufschrei eilte Trevindor hinaus in die schweigende Wüste. Die Nacht war hereingebrochen, und es war sehr still, denn die Erde war jetzt so müde geworden, daß kaum ein Wind mehr wehte. Die Dunkelheit deckte alles zu, doch Trevindor wußte, daß sie die Gedanken jenes anderen nicht vor ihm verbergen konnte, mit dem er sich die Welt jetzt teilen mußte. Er war allein gewesen und hatte sich nichts Schlimmeres vorstellen können. Jetzt aber wußte er, daß es noch Schrecklicheres gab, Schrecklicheres als selbst die Einsamkeit. Die Stille der Nacht und die Schönheit der Sterne, die einst seine Freunde gewesen waren, brachten Trevindors Seele zur Ruhe. Langsam
wandte er sich um und ging den Weg, den er gekommen war, zurück. Er würde jetzt eine Tat vollbringen, die keiner seiner Art jemals getan hatte. Der Herrscher hatte sich erhoben, als Trevindor wieder seine Kammer betrat. Vielleicht ahnte er dunkel die Absicht Trevindors, denn er war jetzt sehr bleich. Mutig zwang sich Trevindor, noch einmal in die Gedanken des Herrschers zu schauen. Er schrak zurück vor dem Chaos widersprüchlicher Gefühle, die sich nun mit widerwärtigen Wellen der Furcht vermengten. Immer wieder bebte ihm aus diesem Wirbel ängstlich derselbe Gedanke entgegen. »Was werden Sie tun? Warum sehen Sie mich so an?« Trevindor antwortete nicht, bestrebt, seinen Geist vor Ansteckung zu bewahren, während er voller Entschlossenheit all seine Kräfte sammelte. Der Tumult im Geiste des Herrschers verstärkte sich in stetigem Crescendo. Einen Augenblick lang flößte sein sich steigernder Schrecken dem sanftmütigen Trevindor etwas wie Mitleid ein, und seine Entschlossenheit wankte. Dann jedoch sah er sie wieder, die Bilder der zerstörten, brennenden Städte. Mit der ganzen Kraft seines Intellekts, der Jahrhunderttausende geistiger Entwicklung zugrunde lagen, führte er seinen Schlag gegen den Mann vor ihm. Alles sonst noch Vorhandene auslöschend, strömte in des Herrschers Geist ein einziger, übermächtiger Gedanke – der Tod. Einen Augenblick lang stand der Herrscher still, ein wildes Flackern in den starren Augen. Sein Atem gefror, als seine Lungen ihm ihren Dienst versagten; das eben noch in seinen Adern pulsierende Blut, das für so lange Zeit stillgelegt worden war, stockte nun für immer. Lautlos stürzte der Herrscher zu Boden und blieb regungslos liegen. Ganz langsam wandte sich Trevindor ab und ging hinaus in die Nacht. Wie ein Leichentuch senkte sich die Stille und Einsamkeit der Welt über ihn. Der Sand, dem der Zutritt so lange verwehrt gewesen war, begann durch die offenen Portale des metallenen Grabes zu treiben. Originaltitel: EXIL OF THE EONS Copyright © 1950 by Fictioneers, Inc.
A. Merritt
DREI ZEILEN ALTFRANZÖSISCH »Doch so ergiebig der Krieg auch für die medizinische Wissenschaft war«, schloß Hawtry, »indem er uns durch Verkrüppelung und Qual unentdeckte Bereiche eröffnete, die der menschliche Geist begierig erschloß, Möglichkeiten findend, Leid und Tod Einhalt zu gebieten – denn immer, meine Freunde, ist Fortschritt das Destillat aus dem Blut der Opfer –, so bedeutsam also dies alles war, die Welttragödie hat noch einen anderen Bereich erschlossen, in dem sogar noch größeres Wissen verborgen liegt. Mehr noch als für den Arzt, war sie für den Psychologen unerschöpfliches Forschungsgebiet.« Latour, der berühmte französische Arzt, hob seine zierliche Gestalt aus den Tiefen des gewaltigen Stuhles; der Schein des offenen Kamins fiel flackernd auf sein scharfes Gesicht. »Das ist wahr«, sagte er. »Ja, das ist wahr. In dieser Feuertaufe hat sich der menschliche Geist geöffnet wie eine Blume unter brennender Sonne. Von allen Seiten bedrängt in diesem kolossalen Sturm der primitiven Kräfte, gefangen in dem Chaos physischer und psychischer Energien – welches, obgleich der Mensch selbst es schuf, seinen Schöpfer zu einer Motte in einem Wirbelwind machte – wurden all jene obskuren, geheimnisvollen Faktoren des Geistes, die der Mensch aus Mangel an Wissen Seele genannt hat, aus ihren Fesseln befreit und konnten sichtbar, begreifbar werden. Wie hätte es anders sein sollen – da Männer und Frauen, von einer überwältigenden Sorge oder Freude gepackt, die verborgenen Tiefen ihres Geistes offenbarten – wie hätte es anders sein sollen, in jenem stetigen Crescendo der Gefühle?« McAndrews sprach: »Welchen psychologischen Bereich meinen Sie genau, Hawtry?« fragte er. Wir saßen zu viert vor dem Kamin im wissenschaftlichen Klub. Hawtry, Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie in einem unserer bedeutendsten Colleges, dessen Name der ganzen Welt ein Begriff ist; Latour, Mitglied der Académie Francaise; McAndrews, der berühmte
amerikanische Mediziner, dessen Arbeit während des Krieges ein neues Kapitel im Buche der Wissenschaft bedeutete; und ich selbst. Dies sind nicht die richtigen Namen der drei, doch sie selber sind so, wie ich sie beschrieben habe; ich bin verpflichtet, sie nicht näher zu identifizieren. »Ich meine das Gebiet der Suggestion«, antwortete der Psychologe. »Die geistigen Reaktionen, die sich als Visionen erweisen – eine zufällige Wolkenformation, die in der überreizten Fantasie der Betrachter zu den so sehr ersehnten, vom Himmel herab marschierenden Heerscharen der Jungfrau von Orleans werden; Mondlicht in einer Wolkenlücke, die für die Belagerten ein Feuerkreuz in den Händen von Erzengeln wird; Verzweiflung und Hoffnung, die sich zu Legenden weben wie die der Bogenschützen von Mons, die mit ihren Geisterpfeilen den vordringenden Feind überwältigen; Wolkenfetzen über Niemandsland, in denen ermattete Augen die Gestalt des Menschensohnes sehen, der betrübt zwischen den Toten wandelt. Zeichen, Vorbedeutungen und Wunder; die Unzahl der Vorahnungen, geheimnisvoller Erscheinungen geliebter Wesen – sie alle gehören in dieses Land der Suggestion; sie alle entstehen, wenn man den Schleier des Unbewußten zerreißt. Und wenn wir auch nur einen Zipfel erhaschen, nur den tausendsten Teil entdecken – hier hat die Psychoanalyse Arbeit für zwanzig Jahre.« »Und die Grenzen dieses Bereichs?« fragte McAndrews. »Grenzen?« Hawtry war offensichtlich verblüfft. McAndrews schwieg für einen Moment. Dann zog er aus seiner Tasche ein gelbes Stück Papier, ein Fernschreiben. »Der junge Peter Laveller ist heute gestorben«, sagte er ohne erkennbaren Bezug. »Starb dort, wohin er zu seiner Reise aufgebrochen war – in den Überresten der Gräben, die die alte Domäne des Seigneur von Tocquelain durchschnitten, nahe bei Bethune.« »Starb dort?« fragte Hawtry in tiefem Erstaunen. »Aber ich las, daß man ihn nach Hause gebracht hatte, ja, daß er einer Ihrer Erfolge war, McAndrews!« »Ich sagte, daß er dorthin ging, um zu sterben«, wiederholte der Arzt langsam.
Das also erklärte die eigenartige Schweigsamkeit der Lavellers, das Schicksal ihres Sohnes, des Soldaten, betreffend – ein Geheimnis, das der Presse wochenlang Rätsel aufgegeben hatte. Denn der junge Peter Laveller war einer der Helden der Nation. Der einzige Sohn des alten Peter Laveller – und auch das ist nicht der wirkliche Name der Familie, denn wie die anderen darf ich auch ihn nicht preisgeben – er war der Erbe des bärbeißigen, millionenschweren alten Kohlekönigs, und der geheime, geliebte und umsorgte Puls seines Herzens. Bald nach Anfang des Krieges war er in die französische Armee eingetreten. Der Einfluß seines Vaters hätte ihm über das Gesetz der französischen Streitkräfte, daß ein jeder von ganz unten anfangen müsse, hinweghelfen können – ich weiß es nicht –, doch der junge Peter wollte nichts davon wissen. Zielbewußt, mit dem Begeisterungsfeuer der ersten Kreuzfahrer, reihte er sich in die Marschierenden ein. Blauäugig, mit scharfen, klaren Zügen, einsachtzig in Strümpfen, etwas verträumt vielleicht, mußte er den Poilus gefallen, und sie liebten ihn. Zweimal verwundet in jenen gefahrvollen Tagen, wurde er bei Kriegseintritt Amerikas der Armee seines Heimatlandes überstellt. Bei der Belagerung des Mount Kemmel erhielt er die Verwundungen, die ihn zu Vater und Schwester zurückführten. McAndrews hatte ihn in Europa begleitet, wie mir bekannt war, und hatte ihn zusammengeflickt – oder zumindest glaubte man es. Was war dann geschehen – und warum war Laveller nach Frankreich zurückgegangen, um zu sterben, wie McAndrews es ausgedrückt hatte? Er steckte das Fernschreiben in seine Tasche zurück. »Es gibt eine Grenze, John«, sagte er zu Hawtry. »Laveller war ein Grenzfall. Ich werde es Ihnen erzählen.« Er zögerte. »Vielleicht sollte ich es nicht tun; und doch stelle ich mir vor, daß Peter einverstanden wäre; immerhin hat er sich selbst für einen Entdecker gehalten.« Wieder machte er eine Pause, entschloß sich dann endgültig, und wandte sich mir zu. »Merritt, Sie können Gebrauch davon machen, wenn Sie es für interessant genug halten. Wenn Sie sich aber dazu entschließen, dann ändern Sie die Namen, und achten Sie darauf, daß Ihre Beschreibungen
nicht zu einer Identifikation führen können. Das Geschehene ist wichtig – falls es überhaupt wichtig ist – und nicht wer daran beteiligt war.« Ich gab ihm mein Wort, und habe es auch gehalten. Ich erzähle die Geschichte so, wie der, den ich McAndrews nenne, sie für uns in jenem düsteren Raum rekonstruierte, während wir schweigend am Kaminfeuer saßen, bis er geendet hatte… Laveller stand hinter der Brustwehr des vordersten Grabens. Es war Nacht – eine frühe Aprilnacht in Nordfrankreich – und jedem, der dort gewesen ist, sagt das alles. Neben ihm stand ein Scherenfernrohr, daneben sein Gewehr. Das Fernrohr ist bei Nacht praktisch nutzlos; deshalb spähte er durch eine Lücke zwischen den Sandsäcken hinaus über den hundert Meter breiten Streifen Niemandsland. Auf der anderen Seite, das wußte er, spähten andere Augen durch ähnliche Schlitze in der deutschen Brustwehr, genau wie er wachsam auf die geringste Bewegung achtend. Groteske Haufen lagen im Niemandsland verstreut, und wenn die Leuchtkugeln platzten und sie mit ihrem grellen Licht überfluteten, schienen diese Haufen sich zu rühren, zu bewegen – einige, um sich zu erheben, einige, um zu gestikulieren, zu protestieren. Und das war überaus schrecklich; denn die sich da unter den Lichtern zu bewegen schienen, waren die Toten – Franzosen und Engländer, Preußen und Bayern – der Bodensatz dessen, was man hier in vielen Körben zur Rotweinpresse des Krieges getragen hatte. Zwei Leichen hingen im Drahtverhau; getötete Schotten, einer von Maschinengewehrsalven durchsiebt, als er gerade den Durchbruch geschafft hatte. Der Schock des schnellen, vielfachen Todes hatte seinen linken Arm um den Nacken des Kameraden neben ihm geworfen; und diesen Mann hatte es noch in derselben Sekunde erwischt. Da lehnten sie, einander umarmend – und wenn die Leuchtkugeln aufflammten und verglühten, aufflammten und verglühten, schienen sie an den Drähten zu rütteln, sich befreien zu wollen, nach vorn zu stürzen, zurückzukehren. Laveller war müde, unendlich müde. Der Abschnitt, in dem er sich befand, war unruhig. Seit fast zweiundsiebzig Stunden hatte er nicht mehr geschlafen – denn die wenigen, immer wieder von Alarm
unterbrochenen Minuten tödlicher Betäubung waren schlimmer als Schlaf. Das Artilleriefeuer schien kein Ende zu nehmen; die Verpflegung war knapp, ihre Beschaffung gefährlich; drei Meilen weit mußten sie zurück durch das Feuer, um sie zu bekommen; näher konnten die Depots nicht angelegt werden. Und ständig mußte man die Brustwehr instand setzen und den Drahtverhau erneuern – und wenn das geschehen war, taten die Granaten ihr Werk, und die eintönige Routine begann von neuem; denn dieser Abschnitt mußte um jeden Preis gehalten werden, so lautete der Befehl. Alles, was von Lavellers Bewußtsein noch übrig geblieben war, war in seinen Augen verdichtet; nur sein Gesichtssinn lebte. Und seine Augen gehorchten dem starren, unerbittlichen Willen, der sich die letzten Reserven seiner Lebenskraft unterwarf und ihm befahl, sich völlig seiner Aufgabe zuzuwenden; sie waren blind für alles außer dem Streifen Land vor ihnen, den Laveller bis zu seiner Ablösung überwachen mußte. Seine Glieder waren taub; seine Füße fühlten den Boden nicht, und manchmal glaubte er, in der Luft zu schweben wie – wie die zwei Schotten im Drahtverhau! Warum konnten sie nicht still sein? Welches Recht hatten Männer, deren Blut in den schwarzen Fleck zu ihren Füßen abgeflossen war, im Rhythmus der Leuchtkugeln zu tanzen und sich zu drehen? Hol sie der Teufel – konnte nicht eine Granate herunterfallen und sie begraben? Eine halbe Meile entfernt zur Rechten lag ein Château – zumindest war es eins gewesen. Unter ihm waren tiefe Keller, in die man kriechen und wo man schlafen konnte. Er wußte das, denn vor undenklichen Zeiten, als er zum erstenmal in diesen Teil der Front gekommen war, hatte er eine Nacht dort verbracht. Aus dem erbarmungslosen Regen wieder in diese Keller zu kriechen, noch einmal mit einem Dach über dem Kopf zu schlafen, wäre wie die Rückkehr ins Paradies. »Ich werde schlafen und schlafen und schlafen – und schlafen und schlafen und schlafen«, sagte er zu sich selbst; dann gab er sich einen
Ruck, als die schlaferzeugende Wiederholung des Wortes einen Schleier des Dunkels um ihn zu breiten begann. Die Leuchtkugeln flammten auf und vergingen, flammten auf und vergingen; das Stakkato eines Maschinengewehrs drang zu ihm. Er glaubte, es sei sein Zähneklappern, bis er mit Mühe verstand, was es wirklich war – irgendein nervöser Deutscher, der die endlose Bewegung der Toten unterbrach. Schritte schmatzten in dem kalkigen Schlamm. Er brauchte nicht hinzusehen; es waren Freunde, nur sie konnten die Wachen an der Ecke des Quergangs passiert haben. Dennoch wandten sich seine Augen unwillentlich den Geräuschen zu, erblickten drei in Mäntel gehüllte Figuren, die ihn ansahen. Ein halbes Dutzend Lichter schwebte jetzt über ihnen, und in ihrem Schein erkannte er die Gruppe. Einer von ihnen war der bekannte Arzt, der aus dem Basishospital in Bethune herübergekommen war, um zu sehen, wie man die Wunden schlug, die er heilte; die anderen waren sein Major und sein Hauptmann – alle drei zweifellos auf dem Weg in jene Schloßkeller. Nun, manche hatten immer Glück! Seine Augen gingen zum Schlitz zurück. »Wo fehlt's?« Es war die Stimme des Majors, der sich fragend dem Arzt zuwandte. »Wo fehlt's – wo fehlt's – wo fehlt's?« Die Worte wiederholten sich schnell und mit Nachdruck in seinem Gehirn, immer und immer wieder, als wollten sie es wachrütteln. Nun, wo fehlt es denn? Nirgends! War er, Laveller, nicht da und hielt Wache? Zorn durchzuckte das gequälte Gehirn. Nichts fehlte – warum gingen sie nicht und ließen ihn in Frieden Wache halten? Es wäre ihm weit lieber gewesen. »Nichts.« Es war der Arzt – und wieder klapperten die Worte in Lavellers Ohren weiter, klein, flüsternd, sich ständig aufs neue wiederholend: »Nichts – nichts – nichts – nichts.« Doch was sagte der Arzt da? Bruchstückhaft, nur halb verstehend, nahm er die Sätze wahr:
»Ein perfekter Fall von dem, was ich Ihnen geschildert habe. Dieser Junge hier – müde, erschöpft bis zum Äußersten – sein ganzes Bewußtsein nur auf eins fixiert – Wachsamkeit… In einem Brennpunkt konzentriert… Dahinter drängt sein ganzes Unterbewußtes hervor… Bewußtsein wird nur auf einen Stimulus ansprechen – äußere Bewegung… Aber das Unterbewußte, so nahe an der Oberfläche, so leicht nur noch am Zügel… Was wird es tun, wenn es losgelassen wird… Ein perfekter Fall.« Wovon war überhaupt die Rede? Jetzt flüsterten sie. »Also, mit Ihrer Erlaubnis…« Es war der Arzt, der wieder sprach. Erlaubnis wozu? Warum gingen sie nicht und ließen ihn in Ruhe? War es nicht schlimm genug, zuzusehen, ohne zu hören? Etwas ging an seinen Augen vorbei. Blind, ohne etwas zu erkennen, schaute er es an. Seine Sicht mußte getrübt sein. Er hob die Hand und fuhr sich über die Lider. Ja, es mußten seine Augen gewesen sein – jetzt war es vorüber. Ein kleiner Lichtfleck erschien auf der Brustwehr nahe seinem Gesicht. Er kam von einer kleinen Lampe. Wovon redeten sie? Was suchten sie? Eine Hand erschien im Lichtschein, eine Hand mit langen, geschmeidigen Fingern, die ein beschriebenes Stück Papier hielten. Sollte er nun auch noch lesen? Nicht nur wachen und hören – auch noch lesen! Er sammelte seine Kräfte, um zu protestieren. Bevor er seine steifen Lippen zwingen konnte, sich zu bewegen, fühlte er, wie der oberste Knopf seines Mantels geöffnet wurde; eine Hand schlüpfte durch die Öffnung und steckte etwas in seine Brusttasche, gerade über dem Herzen. Jemand flüsterte: »Lucie de Tocquelain.« Was hatte das zu bedeuten? Das war nicht die Parole. In seinem Kopf begann es zu singen – als sänke er tief ins Wasser. Was war das für ein Licht, das ihn sogar durch seine geschlossenen Lider blendete? Mit Mühe öffnete er die schmerzenden Augen. Laveller blickte geradewegs in die goldene Sonnenscheibe, die über einer Reihe edler Eichen unterging. Geblendet senkte er den Blick. Knöcheltief stand er in weichem, grünem Gras, das von kleinen
Büscheln blauer Blumen durchsetzt war. Bienen summten in den Blütenkelchen. Kleine gelbe Schmetterlinge schwebten über ihnen. Ein leichtes Lüftchen wehte, warm und duftend. Eigenartigerweise hatte er kein Gefühl der Fremdheit – dies war eine ganz normale Welt – eine Welt, wie sie sein sollte. Aber er erinnerte sich, daß er einmal in einer anderen Welt gewesen war, die sich so überaus von dieser unterschied; ein Ort des Elends und der Pein, wo es Kälte gab und Nässe, Schmutz und blutdurchtränkten Schlamm; eine Welt der Grausamkeit, deren Nächte ein qualvolles Inferno aus grellen Lichtern und feurigen, tötenden Geräuschen waren, und wo es geschundene Menschen gab, die Ruhe und Schlaf suchten und nicht fanden, und Tote, die tanzten. Wo war sie? War er wirklich je in einer solchen Welt gewesen? Seine Müdigkeit war jetzt verflogen. Er hob die Hände und schaute sie an. Sie waren schmutzig, verletzt und blutbefleckt. Er trug einen nassen, schlammbespritzten, dreckigen Mantel. Seine Beine steckten in Stiefeln. Neben einem schmutzverkrusteten Fuß war ein halb zertretenes Büschel blauer Blümchen. Mitleidig stöhnte er auf, beugte sich nieder und versuchte, die zertretenen Blüten aufzurichten. »Zu viele sind jetzt tot – zu viele sind tot«, flüsterte er; dann hielt er inne. Er war wirklich aus dieser Welt der Alpträume gekommen! Wie konnte er sonst in dieser glücklichen, sauberen Welt so unsauber sein? Natürlich, so mußte es sein – doch wo war diese Welt? Wie war er aus ihr hierher gekommen? Ah, da war die Parole gewesen – wie hatte sie gelautet? Er hatte sie: »Lucie de Tocquelain!« Laveller rief sie laut, noch auf den Knien liegend. Eine weiche kleine Hand berührte seine Wange. Eine leise, süße Stimme liebkoste seine Ohren. »Ich bin Lucie de Tocquelain«, sagte sie. »Und die Blumen werden schon wieder wachsen – doch es ist lieb von Ihnen, sich so um sie zu sorgen.« Er sprang auf. Neben ihm stand ein schlankes, etwa achtzehnjähriges Mädchen; ihr Haar umgab wie eine dunkle Wolke ihr stolzes kleines
Haupt, und ihre großen, braunen Augen, die jetzt auf ihm ruhten, verrieten Zartheit und halbbelustigtes Mitleid. Peter blieb still und nahm sie in sich auf – die niedrige, breite, weiße Stirn; die roten, geschwungenen Lippen; die weißen Schultern, die durch das Seidengewebe ihres Schals hindurchschienen; ihren ganzen biegsamen, lieblichen Körper in dem anliegenden, gut geschnittenen Kleid mit seinem hohen, enggeschnallten Gürtel. Sie war hübsch genug; aber in Peters verhungerten Augen war sie noch mehr – ein Frühlingsregen in der vertrockneten Wüste, eine kühle Abendbrise über einem hitzeflimmernden Eiland, der erste Blick ins Paradies einer Seele, die sich aus Jahrhunderten des Fegefeuers erhoben hat. Und unter der brennenden Verehrung seiner Blicke senkte sie den ihren; eine leichte Röte überzog ihren weißen Hals und breitete sich aus bis zu ihrem dunklen Haar. »Ich… ich bin die Demoiselle de Tocquelain, Messire«, murmelte sie. »Und Sie -« »Laveller – Peter Laveller – ist mein Name, Mademoiselle«, stammelte er. »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit – doch wie ich hierher kam, weiß ich nicht – und auch nicht woher, außer daß es ein… ein Ort so ganz anders als dieser war. Und Sie… Sie sind schön, Mademoiselle!« Ihre klaren Augen hoben sich für einen Moment, um sich dann ernst wieder zu senken; aber in ihren Tiefen hatte er einen Anflug von Schalkhaftigkeit erkannt – und jetzt errötete sie noch tiefer. Sein ganzes erwachendes Herz in den Augen, sah er sie an; dann stieg Verwirrung in ihm auf und bedrängte ihn. »Wollen Sie mir sagen, was für ein Ort dies ist, Mademoiselle«, stammelte er, »und wie ich hierher gekommen bin, wenn Sie…« Er hielt inne. Aus weiter, weiter Ferne, aus den unendlichen Tiefen des Raumes legte sich eine schwere Müdigkeit auf ihn. Er fühlte sie kommen – näher, näher; sie berührte ihn; sie legte sich um ihn; er sank unter ihr; verlor sich – fiel – fiel… Zwei weiche, warme Hände ergriffen die seinen. Sein müdes Haupt senkte sich auf sie. Durch die zarte Haut pulsierte Ruhe und Stärke. Die Müdigkeit sammelte sich, fing langsam, so langsam an, sich zurückzuziehen – und war verschwunden!
Ihr folgte ein unbeschreibliches, unbeherrschbares Gefühl zu weinen – zu weinen vor Erleichterung, daß die Müdigkeit vorbei war, daß die teuflische Welt, deren Schatten noch über seinem Geist standen, hinter ihm lag, und daß er hier mit diesem Mädchen war. Und seine Tränen fielen und benetzten die kleinen Hände. Fühlte er, wie sich ihr Kopf zu seinem beugte, wie ihre Lippen sein Haar berührten? Friede kam über ihn. Voll Beschämung richtete er sich auf. »Ich weiß nicht, warum ich weinte, Mademoiselle…« begann er; und dann sah er, daß ihre weißen Finger jetzt in seinen geschwärzten Händen lagen. In plötzlicher Panik ließ er sie los. »Es tut mir so leid«, stammelte er. »Ich sollte Sie nicht berühren…« Schnell streckte sie ihre Hände aus, nahm wieder die seinen, und streichelte sie heftig. Ihre Augen blitzten. »Ich sehe sie nicht so, wie Sie das tun, Messire Pierre«, antwortete sie. »Und wenn ich es täte – sind Ihre Flecken für mich nicht wie Flecken vom Herzblut der tapferen Söhne Frankreichs? Betrachten Sie sie nicht mehr, Messire, es sei denn wie eine Auszeichnung.« Frankreich – Frankreich? War das nicht der Name der Welt, die er hinter sich gelassen hatte; der Welt, wo Menschen vergebens Schlaf suchten, und die Toten tanzten? Die Toten tanzten – was bedeutete das? Sehnsüchtig wandte er ihr den Blick zu. Und mit einem kleinen Schrei des Mitleids hielt sie ihn für einen Moment in ihren Armen. »Sie sind so müde – und Sie sind so hungrig«, sagte sie traurig. »Und denken Sie nicht mehr, versuchen Sie nicht, sich zu erinnern, Messire, bis Sie mit uns gegessen und getrunken und sich ausgeruht haben.« Sie hatten sich umgewandt. Und jetzt, ganz nahe, sah Laveller ein Château. Seine grauen Mauern wirkten stattlich und heiter; seine Zinnen, Spitzen und schlanken, himmelwärts strebenden Türme sahen herrschaftlich aus wie die prächtigen Federn auf dem Helm eines Fürsten. Wie Kinder Hand in Hand durch die grünen Felder schreitend,
gingen die Demoiselle de Tocquelain und Peter Laveller auf das Schloß zu. »Es ist mein Heim, Messire«, sagte das Mädchen. »Und dort, zwischen den Rosen, erwartet uns meine Mutter. Mein Vater ist fort, und er wird es bedauern, daß er Sie nicht empfangen konnte, doch Sie werden ihn antreffen, wenn Sie zurückkehren.« Er sollte also zurückkehren? Das bedeutete, daß er nicht bleiben sollte. Doch wohin sollte er gehen – von woher zurückkehren? Blind suchten seine Gedanken, wurden dann wieder klar. Er ging zwischen Rosen; überall waren Rosen, groß, duftend, offene Blüten purpurner und gelber, hellroter und weißer Rosen; Büschel und Wolken davon, die die Terrassen hinaufschwebten und die Grundmauern des Schlosses wie eine duftende Woge umspülten. Und als er und das Mädchen, noch immer Hand in Hand, zwischen ihnen hindurch gingen, kamen sie zu einem Tisch, der unter einer Laube mit weißem Damast und feinem Porzellan gedeckt war. Eine Frau saß dort. Eine schon etwas ältere Dame, dachte Peter. Ihr Haar war weiß gepudert, ihre Wangen so weiß und rot wie die eines Kindes, ihre Augen funkelten im gleichen Braun wie die der Demoiselle – und sie war anmutig – anmutig, dachte Peter, wie eine Grande Dame des alten Frankreichs. Die Demoiselle machte einen tiefen Knicks vor ihr. »Ma Mère«, sagte sie, »ich bringe dir den Sieur Pierre de la Valière, einen sehr tapferen und mutigen Herrn, der uns für eine Weile besuchen wird.« Die klaren Augen der älteren Frau musterten ihn, durchdrangen ihn. Dann neigte sich das stattliche weiße Haupt, und eine feine Hand streckte sich über den Tisch ihm entgegen. Er sollte sie küssen, das wußte er – doch zögerte er verlegen und ungeschickt, als er an seine eigene, beschmutzte Hand dachte. »Der Sieur Pierre will sich selbst nicht so sehen, wie wir das tun«, sagte das Mädchen in halb scherzhaftem Tadel; dann lachte sie, ein zärtliches, glockenhelles Klingen. »Ma Mère, soll er seine Hände so sehen, wie wir es tun?«
Die weißhaarige Dame lächelte und nickte; in ihren freundlichen Augen bemerkte Laveller das gleiche Mitgefühl, das er bei der Demoiselle bemerkt hatte, als er zum erstenmal ihrer ansichtig geworden war. Das Mädchen berührte leicht Peters Augen und hob dann seine Hände empor – sie waren weiß und sauber, und in einer ungewohnten Weise schön! Wieder ließ ihr rätselhafter Blick ihm den Atem stocken, doch dann half ihm seine von den Vorfahren ererbte Kraft. Er überwand das Gefühl der Fremdheit, verbeugte sich, nahm die zierlichen Finger der alten Dame in seine Hand und führte sie an die Lippen. Sie läutete ein silbernes Glöckchen. Durch die Rosenbüsche kamen zwei hochgewachsene Männer in Livree, die ihm seinen Mantel abnahmen. Gefolgt wurden sie von vier kleinen schwarzen Jungen in purpurner, goldgeschlitzter Kleidung. Sie trugen Silberplatten mit Fleisch und feinem Weißbrot, Kuchen, Früchten und Wein in großen Kristallkaraffen. Und Laveller fiel ein, wie hungrig er war. Doch wenig blieb ihm von diesem Festmahl in Erinnerung – bis hin zu einem gewissen Punkt. Er wußte, daß er da saß, erfüllt von einer Freude und Zufriedenheit, die die Summe des ganzen Glücks seiner fünfundzwanzig Jahre übertrafen. Die Mutter sprach wenig, aber die Demoiselle Lucie und Peter Laveller plauderten und lachten wie Kinder – wenn sie nicht still einander in die Augen sahen. Und in Laveller wuchs die Anbetung seines Herzens für dieses Mädchen, dem er auf so seltsame Weise begegnet war – wuchs, bis ihm war, als könne sein Herz seine Freude nicht mehr fassen. Und wenn die Blicke des Mädchens in den seinen ruhten, schienen sie ihm immer sanfter, zärtlicher, glückverheißender; und das stolze Gesicht unter dem schneeigen Haar betrachtete die beiden und schien wie der Inbegriff jener unendlich sanften Zartheit, die die Seele der Madonnen ist. Als die Demoiselle de Tocquelaine schließlich hinübersah und diesem Blick begegnete, errötete sie, senkte ihre Lider und beugte das Haupt; dann hob sie tapfer den Blick.
»Bist du zufrieden, Mutter?« fragte sie ernst. »Ich bin zufrieden, meine Tochter«, kam lächelnd die Antwort. Rasch folgte das Unglaubliche, das Schreckliche – in jenem Augenblick der Schönheit und des Friedens war es, so sagte Laveller, wie der Hieb der Pranke eines Gorillas auf die Brust einer Jungfrau, ein Aufschrei aus der tiefsten Hölle, der schneidend durch den Gesang der Engel geht. Zu seiner Rechten, zwischen den Rosen, begann ein Licht zu leuchten – ein flackerndes, grelles Licht, das aufflammte und verging, aufflammte und verging. In seinem Schein erblickte er zwei Gestalten. Die eine hatte einen Arm um den Hals der anderen gelegt; sich so umarmend, lehnten sie aneinander, und mit dem Aufleuchten und Schwinden des Lichts schienen sie sich zu drehen, vor ihm zu fliehen, nach vorn zu stürmen, zurückzukehren – zu tanzen! Die Toten tanzten! Eine Welt, in der die Menschen vergeblich Schlaf und Ruhe suchten, und wo selbst die Toten keinen Frieden finden konnten, sondern tanzen mußten im Rhythmus der Leuchtkugeln! Er stöhnte, sprang auf, blickte um sich, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Das Mädchen und die Frau folgten seinem starren Blick und wandten sich dann wieder ihm zu, die mitleiderfüllten Augen voll Tränen. »Es ist nichts!« sagte das Mädchen. »Es ist nichts! Sehen Sie nur, nichts!« Wieder berührte sie seine Augen – und das Licht und die schwankenden Gestalten waren verschwunden. Doch jetzt wußte Laveller. In sein Bewußtsein wogte die volle Flut der Erinnerung zurück – Erinnerung an Schlamm und Dreck, an Gestank, an das feurige, tödliche Krachen, die Grausamkeit, das Elend und den Haß; Erinnerung an zerrissene Leiber und qualvollen Tod; Erinnerung an die Gräben, aus denen er gekommen war. Die Gräben! Er war eingeschlafen, all dies war nur ein Traum! Er schlief auf seinem Posten, während seine Kameraden darauf vertrauten, daß er Wache hielt. Und jene zwei geisterhaften Umrisse zwischen den Rosen – es waren die beiden Schotten im Drahtverhau, die ihm
zuwinkten und ihn zurück zu seiner Pflicht riefen. Er mußte aufwachen! Er mußte aufwachen! Verzweifelt bemühte er sich, diesen Garten der Illusion zu verlassen, sich in die teuflische Welt zurückzuzwingen, die während der Stunde seiner Verzauberung für ihn nicht mehr als eine Nebelbank über einem fernen Horizont gewesen war. Und während er so mit sich rang, ruhten die Blicke des braunäugigen Mädchens und der weißhaarigen Dame auf ihm – tränenerfüllt, voll unsäglichen Mitleids. »Die Gräben!« keuchte Laveller. »O Gott, weck mich auf! Ich muß zurück! Oh Gott, laß mich erwachen!« »Bin ich denn nur ein Traum, Mutter?« Es war Demoiselle Lucies Stimme – sie klang ein wenig kläglich, die goldenen Töne bebten. »Ich muß zurück«, stöhnte er – obgleich bei ihrer Frage sein Herz in ihm zu sterben schien. »Laß mich erwachen!« »Bin ich ein Traum?« Die Stimme war jetzt zornig; die Demoiselle kam näher. »Bin ich nicht wirklich?« Ein kleiner Fuß stampfte wütend auf den seinen, eine kleine Hand fuhr auf ihn zu und zwickte ihn schmerzhaft oberhalb des Ellenbogens. Es tat weh; dumpf auf das Mädchen blickend, rieb er die Stelle. »Glaubst du, ich bin ein Traum?« murmelte sie, hob die Hände, berührte seine Schläfen, beugte sein Haupt, bis seine Augen geradewegs in ihre schauten. Laveller starrte – starrte hinunter, tief hinunter in ihre Tiefen, verlor sich in ihnen. Ihr warmer süßer Atem streifte seine Wange; was auch immer dies war, wo auch immer er war – sie war kein Traum! »Aber ich muß zurück – zurück in meinen Graben!« Der Soldat in ihm klammerte sich an die Notwendigkeit. »Mein Sohn…« Es war die Mutter, die jetzt sprach. »Mein Sohn, du bist in deinem Graben.« Verwirrt starrte Laveller sie an. Seine Blicke wanderten durch das liebliche Bild um ihn herum. Als er sich wieder zu ihr wandte, war es mit dem Blick eines ungläubig staunenden Kindes. Sie lächelte.
»Fürchte dich nicht«, sagte sie. »Alles ist gut. Du bist in deinem Graben – in deinem Graben vor Jahrhunderten; ja, vor zweimal hundert Jahren, wenn man die Zeit zählt wie du – und wie auch wir es einmal taten.« Ein Frösteln durchfuhr ihn. Waren sie wahnsinnig? War er wahnsinnig? Sein Arm glitt über eine weiche Schulter; die Berührung gab ihm Halt, verlieh ihm neue Kraft. »Und Sie?« zwang er sich zu fragen. Er bemerkte einen schnellen Blick zwischen den beiden, und als Antwort auf eine unausgesprochene Frage nickte die Mutter. Die Demoiselle Lucie preßte ihre weichen Hände auf Peters Gesicht und schaute ihm wieder in die Augen. »Mutter«, sagte sie leise, »und ich sind…« sie zögerte – »seit zweihundert Jahren das, was du in deiner Welt – tot – nennst!« Ich nehme an, daß Laveller gespürt hatte, was kommen würde, bevor sie diese Worte gesprochen hatte. Und wenn er für einen flüchtigen Augenblick eisige Kälte durch seine Adern rinnen fühlte, so schwand sie sogleich unter der Erregung, die ihn ergriff, wie Frost unter nebelauflösender Sonne. Denn wenn dies wahr war – dann konnte es etwas wie Tod nicht geben! Und es war wahr! Es war wahr! Er wußte es mit einer unbedingten Gewißheit, auf die nicht der Schatten eines Schattens fiel – doch wer kann sagen, wie sehr sein Wunsch zu glauben zu dieser Gewißheit beitrug? Er blickte auf das Schloß. Natürlich! Es war dasjenige, dessen Ruinen sich in der Dunkelheit abzeichneten, wenn die Leuchtkugeln die Nacht zerrissen – in dessen Kellern er so gern hatte schlafen wollen. Tod – oh, die törichten, furchtsamen Herzen der Menschen! – dieser Tod? dieser erlauchte Hort des Friedens und der Schönheit? Und dieses wundervolle Mädchen, dessen braune Augen die Schlüssel zum Glück zu sein schienen! Tod – die alte Vorstellung davon machte ihn lachen. Ein anderer Gedanke kam über ihn wie ein Sturzbach. Er mußte zurück zu den Gräben und die große Wahrheit verkünden, die er gefunden hatte. War er nicht wie ein Reisender aus einer untergehenden
Welt, der, ohne es zu wollen, an ein Geheimnis gerät, das diese Welt ohne Hoffnung in ein lebendiges Paradies verwandeln kann! Nicht länger brauchten Menschen Furcht vor splitternden Granaten zu haben, vor versehrenden Flammen, Kugeln, vor schimmerndem Stahl. Was konnten sie noch bedeuten, wenn dies – dies – die Wahrheit war? Er mußte zurück und die Wahrheit verkünden. Sogar die beiden Schotten im Drahtverhau würden still verharren, wenn er sie ihnen zuflüsterte. Doch er vergaß – sie wußten es schon. Doch sie konnten es nicht verkünden – wie er. Er war außer sich vor Freude, fühlte sich in den Himmel gehoben, ein Halbgott – der Verkünder einer Wahrheit, welche die von Teufeln gerittene Welt von ihren Dämonen befreien würde; ein neuer Prometheus, welcher der Menschheit ein kostbareres Feuer brachte als der alte. »Ich muß zurück!« rief er. »Ich muß es ihnen sagen! Zeigt mir, wie ich hinkomme – schnell!« Ein Zweifel befiel ihn; er mußte ihn erwägen. »Vielleicht glauben sie mir nicht«, flüsterte er. »Nein. Ich brauche Beweise. Es bedarf eines Beweises, den ich ihnen bringen kann.« Die Dame von Tocquelain lächelte. Sie nahm ein kleines Messer vom Tisch und schnitt von einem Rosenbusch einen Zweig voll Knospen; den reichte sie ihm. Bevor er ihn ergreifen konnte, hatte das Mädchen ihn genommen. »Warte!« sagte sie leise. »Ich werde dir eine andere Botschaft geben.« Auf dem Tisch waren Federkiel und Tinte, und Peter fragte sich, wie sie dort hingekommen waren; er hatte sie vorher nicht bemerkt – aber was hieß das schon bei so vielen Wundern! Demoiselle Lucies Hand hielt ein Stück Papier. Sie beugte ihr kleines, dunkles Haupt und schrieb; blies über das Papier, schwenkte es in der Luft, um es zu trocknen; seufzte, lächelte Peter zu und wickelte es um den Rosenzweig; legte ihn auf den Tisch, und schob Peters Hand zurück, als er ihn nehmen wollte. »Dein Mantel«, sagte sie. »Du wirst ihn brauchen, denn jetzt mußt du zurück.« Sie half ihm in den Umhang. Sie lachte – doch waren Tränen in ihren großen braunen Augen; ihr roter Mund verriet Sehnsucht.
Nun erhob sich ihre Mutter und streckte ihm wieder ihre Hand entgegen; Laveller beugte sich über sie und küßte sie. »Wir werden hier auf dich warten, mein Sohn«, sagte sie ruhig. »Wenn deine Zeit gekommen ist – kehre zurück.« Er wollte den Rosenzweig nehmen, um dessen Stiel das Papier gewickelt war. Blitzschnell kam ihm das Mädchen zuvor und nahm ihn an sich, bevor er ihn berühren konnte. »Du darfst es nicht lesen, bevor du fort bist«, sagte sie – und wieder flog eine feine Röte über ihr Gesicht. Hand in Hand wie Kinder liefen sie über die Wiesen bis zu der Stelle, wo Peter ihr zuerst begegnet war. Dort blieben sie stehen und sahen einander tief in die Augen – und dann brach das andere Wunder, und das durch den Schock des ihm Geoffenbarten beinahe verdrängt worden war, aus ihm heraus. »Ich liebe dich!« flüsterte Peter Laveller dieser lebenden, lange schon toten Demoiselle de Tocquelain zu. Sie seufzte und war in seinen Armen. »Oh, ich weiß, daß du mich liebst!« rief sie. »Ich weiß es, Liebster – und hatte so sehr gefürchtet, du würdest gehen, ohne es mir zu sagen.« Lange preßten sich ihre süßen Lippen auf die seinen; dann entzog sie sich ihm. »Ich liebte dich von dem Augenblick an, da ich dich hier stehen sah«, sagte sie. »Und ich werde hier auf dich warten, bis du wieder zurückkommst. Und jetzt mußt du gehen, Geliebter; doch warte…« Er fühlte, wie eine Hand in die Tasche seines Rockes glitt und etwas auf sein Herz preßte. »Die Botschaft«, sagte sie. »Nimm sie. Und vergiß nicht – ich werde warten. Ich verspreche es, ich, Lucie de Tocquelain…« Er spürte ein Singen in seinem Kopf. Er öffnete die Augen. Er war zurück in seinem Graben, in seinen Ohren klang noch der Name der Demoiselle, und auf seinem Herzen fühlte er noch den Druck ihrer Hand. Sein Kopf war halb drei Männern zugewandt, die ihn unverwandt anblickten.
Einer von ihnen hatte eine Uhr in der Hand; es war der Arzt. Aus welchem Grund sah er auf seine Uhr? War er lange weg gewesen? fragte er sich. Nun, was machte es, wenn er eine solche Botschaft zu verkünden hatte! Seine Müdigkeit war verflogen; er war verwandelt, voller Freude; seine Seele sang jubelnde Gesänge. Die Disziplin vergessend, sprang er auf die drei Männer zu. »Es gibt keinen Tod!« rief er. »Wir müssen diese Botschaft in den Gräben verbreiten – sofort! Sofort, verstehen Sie? Verkünden Sie es der Welt – ich habe Beweise…« Er stammelte und verschluckte sich in seinem Übereifer. Die drei sahen einander an. Der Major hob die elektrische Lampe, leuchtete in Peters Gesicht, zuckte seltsam zurück – dann ging er ruhig hinüber und stand zwischen ihm und seinem Gewehr. »Nun hol erst mal tief Atem, mein Junge, und dann erzähl uns alles«, sagte er. Schien es nicht, als seien sie gänzlich unberührt? Nun, wenn sie erst einmal gehört hatten, was er ihnen zu sagen hatte…! Und Peter sagte es ihnen; er ließ nur unerwähnt, was zwischen ihm und der Demoiselle geschehen war – denn war das nicht seine ganz persönliche Angelegenheit? Ernst und stumm hörten sie ihm zu. Doch in des Majors Augen vertiefte sich die Besorgnis, je länger er erzählte. »Und dann – ich kam zurück, kam zurück, so schnell ich konnte, um uns allen zu helfen; uns alle von dem hier…« seine Hände hoben sich in einer abwehrenden Geste des Widerwillens – »zu erlösen; denn all dies bedeutet nichts! Wenn wir sterben – leben wir!« schloß er. Auf dem Gesicht des Wissenschaftlers zeigte sich tiefe Befriedigung. »Eine perfekte Demonstration; besser, als ich jemals hoffen konnte!« sagte er über Lavellers Kopf hinweg zum Major. »Groß, wie groß ist die Einbildungskraft des Menschen!« Etwas wie Ehrfurcht war in seiner Stimme. Einbildungskraft? Peter war bis in die Seele getroffen: Sie glaubten ihm nicht! Er würde es ihnen zeigen! »Aber ich habe den Beweis!« rief er.
Er öffnete seinen Mantel und langte in seine Rocktasche; seine Finger fühlten ein Stück Papier, das um einen Stiel gewickelt war. Ah – nun würde er es ihnen zeigen! Er zog es heraus und hielt es ihnen hin. »Hier!« Seine Stimme war wie ein triumphaler Trompetenstoß. Was war los mit ihnen? Konnten sie nicht sehen? Warum durchforschten ihre Blicke sein Gesicht, statt zu erkennen, was er ihnen eröffnete? Er blickte auf das, was er in der Hand hielt – dann hielt er es sich ungläubig nahe vor die Augen – starrte und starrte, mit einem Dröhnen in den Ohren, als ob das Universum um ihn herum einstürzen wollte, mit einem Herzen, das nicht mehr zu schlagen schien. In seiner Hand, papierumwickelt, war nicht der frische und duftende Rosenzweig, den die Mutter seiner braunäugigen Demoiselle für ihn im Garten geschnitten hatte. Nein – es war nur ein künstliches Reis, abgewetzt, fleckig, schäbig und alt! Peter war, als erstürben seine Glieder. Stumm sah er den Arzt an, dann seinen Hauptmann, dessen Miene neben der gewohnten Strenge auch eine gewisse Beunruhigung verriet. »Was hat das zu bedeuten?« murmelte er dann. War alles ein Traum gewesen? Gab es keine strahlende Lucie – außer in seiner Vorstellung – kein braunäugiges Mädchen, das ihn liebte und das er liebte? Der Wissenschaftler trat hinzu und nahm den schäbigen kleinen Zweig aus seiner schlaffen Hand. Das Stückchen Papier glitt herunter und blieb in Peters Fingern. »Sie verdienen wirklich zu wissen, was Sie eben durchgemacht haben, mein Junge«, dröhnte die sonore Stimme in seinen ertaubten Ohren, »nachdem Sie mit einer solchen Reaktion zu unserem kleinen Experiment beigetragen haben.« Er lachte freundlich. Experiment? Experiment? Eine dumpfe Wut begann sich in Peter zu regen – böse, langsam sich steigernd. »Monsieur!« rief der Major bittend, ja warnend, wie es schien, seinem hohen Besucher zu.
»Oh, wenn Sie erlauben, Major«, fuhr der große Mann fort, »hier ist ein Junge von hoher Intelligenz – von bester Erziehung, wie Sie aus seiner Ausdrucksweise ersehen dürften. Er wird verstehen.« Der Major war kein Wissenschaftler – er war Franzose, menschlich, und hatte seine eigenen Ideen. Er zuckte die Achseln, bewegte sich aber gleichzeitig etwas näher an das abgestellte Gewehr heran. »Wir, das heißt Ihre Offiziere und ich«, fuhr der Wissenschaftler fort, »hatten von Träumen gesprochen, die eine Bemühung des halbwachen Geistes sind, eine Berührung oder ein ungewohntes Geräusch oder sonst irgend etwas zu erklären, das ihn im Schlaf gestört hat. Man schläft beispielsweise, und in der Nähe zerbricht ein Fenster. Der Schläfer hört es, sein Bewußtsein will es verarbeiten – aber es hat die Kontrolle dem Unbewußten überlassen. Dieses nun dringt ins Bewußtsein, je nach der Unterstützung, die es erfährt. Doch es ist ohne Verantwortung, kann sich nur in Bildern ausdrücken. Es nimmt das Geräusch und – nun, umgibt es mit etwas Romantik. Es tut sein bestes, um eine Erklärung zu finden – aber ach! Sein bestes ist nur eine mehr oder weniger fantastische Lüge – vom Bewußtsein als solche erkannt in dem Moment, wo es erwacht. Und die Bewegung des Unterbewußten in dieser Bilderproduktion ist unvorstellbar schnell. In Bruchteilen einer Sekunde kann es eine Reihe von Vorfällen darstellen, die im wirklichen Leben Stunden, ja Tage dauern würden. Sie können mir doch folgen, nicht wahr? Vielleicht erkennen Sie das Erlebnis wieder, das ich hier andeute? Es sollte Ihnen nicht schwerfallen.« Laveller nickte. Die bittere verzehrende Wut in seinem Innern steigerte sich ständig. Nach außen hin war er völlig ruhig. Er würde sich anhören, was dieser selbstgefällige Teufel ihm angetan hatte, und dann… »Ihre Offiziere waren mit einigen meiner Schlußfolgerungen nicht einverstanden. Ich sah Sie hier, müde, gänzlich auf Ihre Aufgabe konzentriert, halb in Hypnose durch die Anspannung und das ständige Flackern und Verglühen der Lichter. Sie boten sich an als perfekte Versuchsperson, ein unübertrefflicher Laboratoriumstest…«
Konnte er seine Hände, die dem anderen an die Gurgel fahren wollten, zügeln, bis er geendet hatte? Es wollte Laveller nicht in den Sinn. Lucie, seine Lucie, eine fantastische Lüge… »Nur ruhig, mon vieux…« flüsterte sein Major ihm zu. Ah, wenn er zuschlug, mußte er es schnell tun, sein Offizier stand zu nahe, zu nahe. Freilich – er mußte für ihn Wache am Ausguck halten. Vielleicht würde er durch den Schlitz spähen, wenn er, Peter, zum Sprung ansetzte. »Und so…« sagte der Arzt in bestem professoralem Tonfall – »und so nahm ich einen kleinen Zweig mit künstlichen Blumen, die ich zwischen den Blättern eines alten Meßbuches im Château drüben gefunden hatte. Auf ein Stück Papier schrieb ich eine Zeile Französisch – denn zu jenem Zeitpunkt hielt ich Sie für einen Franzosen. Es war eine Zeile aus der Ballade von Aucassin und Nicolette: Und dort sein Mädchen wartet am Ende seiner Tage. Auf der Titelseite des Meßbuches war auch noch ein Name geschrieben, ohne Zweifel der Name der lang verstorbenen Inhaberin: Lucie de Tocquelain -« Lucie! Peters Wut und Haß wurden von einer Woge der Sehnsucht zurückgedrängt – und wurden dann stärker als zuvor. »Und so bewegte ich den Blütenzweig an Ihren Augen vorbei, die nichts mehr wahrnahmen; nicht bewußt, meine ich, denn es war gewiß, daß Ihr Unterbewußtes sie bemerken würde. Ich zeigte Ihnen die Zeile, die ich geschrieben hatte – auch sie nahm Ihr Unterbewußtes auf mit ihrer Suggestion eines Liebesschwurs, einer Trennung, einer Erwartung. Ich wickelte das Papier um den Stengel des Zweiges, steckte beides in Ihre Tasche und sagte Lucie de Tocquelains Namen in Ihr Ohr. Die Frage war, was Ihr anderes Ich aus diesen vier Dingen machen würde – dem Zweig, der Suggestion in der geschriebenen Zeile, der Berührung, und dem Namen – fürwahr ein faszinierendes Problem! Und kaum hatte ich meine Hand zurückgezogen, kaum meine Lippen das Wort zu Ende gesprochen – da begannen Sie, laut zu rufen, es gebe keinen Tod, und erzählten uns, wie von einer Offenbarung erfüllt, ihre bemerkenswerte Geschichte – alles, alles entstanden in Ihrer Einbildungskraft aus…«
Aber er kam nicht weiter. Die kochende Wut in Laveller hatte alle Fesseln gesprengt, war mörderisch aufgeflammt, hatte ihn lautlos dem Arzt an den Hals springen lassen. Feuer flammte vor seinen Augen auf – rote sprühende Flammen. Es würde seinen Tod bedeuten, doch er würde diesen kaltblütigen Teufel töten, der einen Mann aus der Hölle holen, ihm den Himmel öffnen, und ihn dann wieder in eine Hölle zurückwerfen konnte, die nun hundertmal grausamer war, und in der es auf ewig keine Hoffnung mehr gab. Bevor er zupacken konnte, faßten ihn starke Hände und hielten ihn zurück. Der scharlachrote Vorhang flammte vor seinen Augen und schwand dann. Er glaubte eine zarte goldene Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte: »Es ist nichts! Es ist nichts! Sieh es wie ich!« Er stand zwischen seinen Offizieren, die ihn von beiden Seiten festhielten. Schweigend und mit kalter, unfreundlicher Strenge sahen sie dem jetzt wachsbleichen Arzt ins Gesicht. »Mein Junge, mein Junge…« Des Arztes Gelassenheit war geschwunden; seine Stimme zitterte erregt. »Es war mir nicht klar… Bedaure sehr… Habe nie gedacht, daß Sie es so ernst nehmen würden.« Laveller sprach zu seinen Offizieren – ganz ruhig. »Es ist vorüber, meine Herrn. Sie brauchen mich nicht mehr festzuhalten.« Sie sahen ihn an, ließen ihn los, klopften ihm auf die Schulter und fixierten dann ihren Besucher mit kaltem forschendem Blick. Stolpernd ging Laveller auf die Brustwehr zu. Seine Augen standen voll Tränen. Geist und Herz und Seele waren nichts als blinde Verzweiflung, eine Wüste, in der es keine Hoffnung, nicht einmal den Funken eines Wunsches nach Hoffnung gab. Seine Botschaft, die heilige Wahrheit, die einer gequälten, geschundenen Welt den Weg ins Paradies weisen sollte – ein Traum. Seine Lucie, seine braunäugige Demoiselle, die ihm Liebesworte ins Ohr geflüstert hatte – ein Ding, zusammengesetzt aus einem Wort, einer Berührung, einer Zeile und einer künstlichen Blume! Er konnte, wollte es nicht glauben. Fühlte er denn nicht noch die Berührung ihrer weichen Lippen auf den seinen, spürte er nicht noch
ihren warmen Körper, wie er in seinen Armen erbebte? Und sie hatte gesagt, daß er zurückkommen würde – und versprochen, auf ihn zu warten. Von Wut und Trauer erfüllt, zerknüllte Laveller das Papier – hob dann die Hand, um es zu Boden zu werfen. Jemand schien ihm in den Arm zu fallen. Langsam öffnete er seine Hand. Die drei Männer sahen ein Leuchten der Freude über sein Gesicht huschen, ein Strahlen, als sei seine Seele aus endloser Pein erlöst worden. Aller Jammer, alle Qual waren gewichen, und er sah wieder wie ein Junge aus. Mit weit geöffneten Augen stand er da und träumte. Der Major trat hinzu und nahm ihm vorsichtig das Papier aus der Hand. Viele Leuchtkugeln schwebten jetzt am Himmel und erfüllten den Graben mit hellem Schein, und in ihrem Licht überflog er das Fragment. Als er sein Angesicht wieder hob, schien er von Ehrfurcht erfüllt – und als die anderen den Zettel nahmen und ihn ebenfalls lasen, überzog die gleiche Ehrfurcht ihre Gesichter wie ein Schleier. Denn über der Zeile, die der Arzt geschrieben hatte, waren nun drei weitere Zeilen – in Altfranzösisch: Verzage nicht, mein Herz, und glaube nicht dem Schein – Nach allem Erdenschmerz wirst Du hier glücklich sein. In Liebe Lucie Das war McAndrews' Geschichte, und das Schweigen, das ihr folgte, wurde schließlich von Hawtry unterbrochen. »Natürlich waren die Zeilen schon auf dem Papier gewesen«, sagte er; »wahrscheinlich war die Schrift nur schwach, und der Arzt hatte sie übersehen. Es war regnerisches Wetter, und die Feuchtigkeit brachte sie heraus.« »Nein«, antwortete McAndrews; »sie waren nicht dort gewesen.«
»Aber wie können Sie dessen so sicher sein?« wandte der Psychologe ein. »Weil ich der Arzt war«, sagte McAndrews ruhig. »Der Zettel stammte aus meinem Notizbuch. Als ich ihn um den Zweig wickelte, war nichts darauf – außer der Zeile, die ich selbst darauf geschrieben hatte. Aber da war noch ein – nun, wollen wir es Beweis nennen, John. Die Handschrift auf Lavellers Zettel war die gleiche wie die auf der Titelseite des Meßbuches.« Ein längeres Schweigen entstand, schließlich von Hawtry abrupt unterbrochen. »Was wurde aus dem Papier?« fragte er. »Wurde die Tinte analysiert? Haben Sie überhaupt versucht, zu…« »Während wir nun staunend und ratlos dastanden«, unterbrach ihn McAndrews, »fuhr eine Windbö auf den Graben hernieder. Sie riß mir das Papier aus der Hand – trug es fort. Laveller sah, wie es davonflog; er machte keinen Versuch, es wieder einzufangen. ›Es macht nichts. Ich habe jetzt Gewißheit‹, sagte er – und lächelte mir zu, mit dem verzeihenden, friedvollen Lächeln eines glücklichen Jungen. ›Ich bitte Sie um Verzeihung, Doktor. Sie sind der beste Freund, den ich je hatte. Zuerst glaubte ich, Sie hätten mir etwas angetan, was kein anderer Mann irgend jemandem antun würde. Jetzt sehe ich, daß Sie etwas für mich getan haben, was kein anderer Mensch tun könnte.‹ Und das ist alles. Er machte den Krieg durch, ohne den Tod zu suchen oder ihn zu scheuen. Ich liebte ihn wie einen Sohn. Nach dieser MountKemmel-Affäre wäre er gestorben, wenn ich nicht gewesen wäre. Er wollte lange genug leben, um seinem Vater und seiner Schwester Lebewohl zu sagen, und ich – flickte ihn zusammen. Er verabschiedete sich von den Seinen und machte sich dann auf zu dem Graben im Schatten der alten Schloßruine, wo seine braunäugige Demoiselle ihn gefunden hatte.« »Warum?« fragte Hawtry. »Weil er glaubte, von dort könne er schneller zu ihr – zurückkehren.«
»Für mich eine absolut unbestätigte Annahme«, sagte der Psychologe irritiert und halb verärgert. »Es gibt eine simple natürliche Erklärung für all das.« »Natürlich, John«, antwortete McAndrews besänftigend, »natürlich gibt es die. Nennen Sie sie uns doch bitte.« Doch Hawtry blieb eine Erklärung schuldig. Originaltitel: THREE LINES OF OLD FRENCH Copyright © 1950 by Recreational Reading, Inc.
Isaac Asimov
GEFAHR AUF CALLISTO »Verdammter Jupiter!« knurrte Ambrose Whitefield böse, und ich nickte zustimmend. »Seit fünfzehn Jahren bin ich bei der Jupiter-Satelliten-Mission«, sagte ich, »und habe diese beiden Wörter sicher schon eine Million mal gehört. Wahrscheinlich ist es der aufrichtigste Fluch im ganzen Sonnensystem.« Unsere Wache im Cockpit des Aufklärungsschiffs Ceres war eben abgelöst worden, und mit schleppenden Schritten stiegen wir die zwei Decks zu unserem Raum hinunter. »Verdammter und noch einmal verdammter Jupiter«, insistierte Whitefield mißmutig. »Er ist zu groß für das System. Er steht da draußen hinter uns und zieht und zieht und zieht! Ständig müssen wir die Antriebe laufen lassen. Jede Stunde müssen wir unseren Kurs überprüfen. Unablässige Anspannung, kein freier Flug, keine Erholung! Nichts als Arbeit in ihrer greulichsten Art.« Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, und er wischte mit dem Handrücken über sie. Er war ein junger Kerl, kaum dreißig, und in seinen Augen konnte man sehen, daß er nervös war und sogar ein wenig verängstigt. Und was ihn bekümmerte, war nicht Jupiter, trotz seiner Flüche. Jupiter machte uns noch am wenigsten zu schaffen. Es war Callisto! Es war jener kleine, in fahlem Blau auf unseren Bildschirmen schimmernde Mond, der Whitefield schwitzen ließ und mir schon vier Nächte lang den Schlaf geraubt hatte. Callisto! Unser Ziel! Sogar der alte Mac Steeden, ein Veteran mit grauem Schnurrbart, der in seiner Jugend mit dem großen Peewee Wilson selbst gefahren war, versah seinen Dienst mit abwesendem Blick. Vier Tage waren wir unterwegs – zehn Tage lagen noch vor uns – und die Angst streckte ihre klammen Finger nach uns aus. Bei normalem Verlauf der Dinge waren wir alle mutig genug. Alle acht von uns auf der Ceres hatten den purpurnen Lectronics ins Auge geblickt
und Piraten, Rebellen und den fremden Erscheinungsformen eines halben Dutzends von Welten gegenübergestanden. Doch es bedarf mehr als alltäglicher Tapferkeit, wenn man dem Unbekannten gegenübertritt; wenn man sich Callisto nähert, der »rätselhaften Welt« des Sonnensystems. Eine Tatsache war von Callisto bekannt – ein dürres, düsteres Faktum. In einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren waren sieben immer perfekter ausgerüstete Schiffe gelandet – und nie wieder hatte man von ihnen gehört. Wollte man den Sonntagsbeilagen der Zeitungen glauben, war der Satellit mit allem, was zwischen Superdinosauriern und unsichtbaren Geistern der vierten Dimension denkbar schien, bevölkert, doch das Rätsel wurde so nicht gelöst. Wir waren das achte. Unser Schiff war besser als alle vorhergehenden. Wir hatten als erste den neu entwickelten Beryl-Tungsten-Rumpf, zweimal so stark wie die alten Stahlrümpfe. Wir besaßen überschwere Bewaffnung und die allerneusten Atomtriebwerke. Dennoch – wir waren nur das achte Schiff, und jeder von uns wußte es. Whitefield betrat still unser Quartier und warf sich in seine Koje. Die Fäuste hatte er unter seinem Kinn geballt, die Knöchel traten weiß hervor. Mir schien, als sei er nahe am Zusammenbruch. Es war ein Fall für vorsichtige Diplomatie. »Was wir jetzt brauchen«, sagte ich, »ist ein guter, steifer Drink.« »Was wir jetzt brauchen«, antwortete er barsch, »ist 'ne ganze Menge gute, steife Drinks.« »Nun, was hält uns noch?« Argwöhnisch sah er mich an. »Du weißt, daß auf dem ganzen Schiff kein Tropfen ist. Es ist gegen die Vorschrift!« »Funkelndes grünes Jabra-Wasser« sagte ich langsam. »Unter den Marswüsten gealtert und gereift. Der Saft geschmolzener Smaragde. Flaschenweise! Kistenweise!« »Wo?«
»Ich weiß wo. Was sagst du? Ein paar Drinks – nur ein paar – werden uns beide aufmuntern.« Für einen Moment leuchteten seine Augen auf, um dann wieder zu ermatten. »Und wenn der Captain was merkt? In Disziplinsachen ist er pingelig, und auf einer Fahrt wie dieser kann es unsere Beförderung verpatzen.« Ich blinzelte ihm zu und grinste. »Es ist des Captains eigenes Versteck. Er kann uns nicht an den Wagen fahren, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden – der alte Heuchler. Er ist der gottverdammt beste Captain, den es je gegeben hat, aber er steht auf sein Smaragdwasser.« Whitefield starrte mich lang und durchdringend an. »Also gut. Führ mich hin.« Wir schlichen uns zum Vorratsraum hinunter, der natürlich verlassen war. Der Captain und Steeden waren im Cockpit; Brock und Charney warteten die Maschinen; und Harrigan und Tuley schnarchten sich in ihrer Kabine heiser. Aus reiner Gewohnheit so lautlos wie möglich vorgehend, schob ich einige Kisten mit Nahrungskonzentrat beiseite und öffnete dann ein Stück der Wandverkleidung nahe am Boden. Ich griff hinein und zog eine staubige Flasche heraus, die das schwache Licht in dunklem Meergrün widerspiegelte. »Setz dich«, sagte ich, »und mach's dir bequem.« Ich holte zwei kleine Becher aus der Tasche und füllte sie. Whitefield schlürfte langsam und mit allen Anzeichen der Befriedigung. Den zweiten Becher stürzte er mit einem Zug hinunter. »Wieso hast du dich eigentlich für diese Fahrt gemeldet, Whity?« fragte ich. »Für so etwas bist du doch ein bißchen zu grün.« Er machte eine Handbewegung. »Du weißt, wie es ist. Nach einer gewissen Zeit wird vieles langweilig. Nach dem College habe ich mich auf Zoologie geworfen – ein weites Feld seit dem Beginn des interplanetarischen Verkehrs – und hatte eine schöne, angenehme Position auf Ganymed. War aber irgendwie öde; ich langweilte mich zu Tode. So ging ich in einer plötzlichen Anwandlung zur Marine, und in
einer anderen meldete ich mich zu dieser Fahrt.« Er seufzte bedauernd. »Ein wenig tut es mir leid.« »So darfst du es nicht sehen, Junge. Ich habe Erfahrung und kenne mich aus. Wenn du durchdrehst, bist du so gut wie erledigt. In zwei Monaten sind wir doch auf dem Ganymed zurück.« »Ich hab nicht die Hosen voll, wenn du das meinst«, erklärte er ungehalten. »Es ist… es ist«, er machte eine lange Pause und blickte stirnrunzelnd in seinen wieder gefüllten Becher. »Also, ich habe es einfach satt, mir auszudenken, was zum Teufel uns bevorsteht. Meine Fantasie macht Überstunden, und meine Nerven fangen an zu flattern.« »Sicher, sicher«, sagte ich besänftigend, »da mach ich dir keinen Vorwurf. So geht es wohl allen von uns. Aber du mußt aufpassen. Ich erinnere mich, daß wir einmal auf einer Mars-Titan-Fahrt waren…« Whitefield unterbrach, was eine meiner Lieblingsgeschichten war – und ich erzählte sie so gut wie kein anderer – mit einem Stoß in die Rippen, der mir den Atem nahm. Behutsam stellte er sein Jabra nieder. »Sag, Jenkins«, stammelte er, »ich hab doch wohl nicht so viel getrunken, daß ich Gespenster sehe, oder?« »Kommt drauf an, was du siehst.« »Ich könnte schwören, daß sich zwischen den leeren Kisten dort hinten in der Ecke irgend etwas bewegt hat.« »Das ist ein schlechtes Zeichen«, sagte ich und trank einen weiteren Schluck. »Deine Nerven verdrehen dir schon die Augen. Geister, nehme ich an, oder die Drohung der Callisto, die sich jetzt schon bemerkbar macht.« »Ich hab's gesehen, sag ich dir. Hier drinnen ist irgend etwas Lebendiges.« Er rutschte näher an mich heran – seine Nerven waren wohl ziemlich in Aufruhr – und einen Augenblick lang hatte ich in dem schwachen, dämmrigen Licht ein beklemmendes Gefühl. »Du bist verrückt«, sagte ich laut, und das Echo beruhigte mich ein wenig. Ich stellte meinen leeren Becher weg und erhob mich ein klein wenig unsicher. »Gehen wir hinüber und stochern ein wenig zwischen den Kisten herum.«
Whitefield folgte mir, und gemeinsam schoben wir die leichten Aluminiumbehälter hin und her. Keiner von uns war hundertprozentig nüchtern, und wir verursachten ziemlichen Lärm. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Whitefield die ganz an der Wand stehende Kiste zu bewegen versuchte. »Die hier ist nicht leer«, brummte er, als er versucht hatte, sie vom Boden hochzuheben. Vor sich hinmurmelnd sprengte er den Deckel ab und schaute hinein. Eine halbe Sekunde bewegungslosen Starrens, dann wich er langsam zurück. Er stolperte über etwas und fiel in eine sitzende Position, immer noch auf die Kiste starrend. Ich sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu und schaute dann schnell in die betreffende Kiste. Mein Blick erstarrte, und ich stieß einen heiseren Schrei aus, der von den vier Wänden widerhallte. Ein Junge streckte seinen Kopf aus der Kiste – ein rothaariges, schmutziges Kind von etwa dreizehn Jahren. »Hallo«, sagte der Junge, während er ins Freie kletterte. Keiner von uns beiden hatte die Kraft, ihm zu antworten, und so fuhr er fort, »ich bin froh, daß Ihr mich gefunden habt. Bald hätte ich einen Krampf in der Schulter bekommen – war verdammt schwer, sich da drinnen einzurollen.« Whitefield schluckte hörbar. »Großer Gott! Ein Kind als blinder Passagier! Und das auf einer Reise zur Callisto.« »Und wir können nicht umkehren«, sagte ich mit erstickter Stimme, »ohne uns selbst den Garaus zu machen. Die Jupiter-Satelliten-Fahrt ist Gift.« »Hör mal«, wandte sich Whitefield in drohendem Ton an den Jungen. »Wer bist du, du Gauner, und was suchst du hier?« Der Junge zuckte zurück. »Ich bin Stanley Fields«, antwortete er ein wenig ängstlich. »Ich bin aus New Chicago auf Ganymed. Ich… ich lief fort, um auf ein Raumschiff zu kommen, wie sie das in Büchern tun.« Nach einer kleinen Pause fragte er munter: »Glauben Sie, daß wir auf dieser Fahrt einen Kampf mit Piraten haben werden?«
Kein Zweifel, der Junge war bis über die Ohren voll von RaumfahrtAbenteuerromanen. Ich hatte sie früher auch gelesen. »Und deine Eltern?« fuhr Whitefield ihn an. »Oh, ich hab nur einen Onkel. Dem wird es nicht viel ausmachen, nehme ich an.« Er hatte seine anfängliche Schüchternheit überwunden und grinste uns an. »Ja, was machen wir nun?« fragte Whitefield und sah mich hilflos an. Ich zuckte die Achseln. »Bring ihn zum Captain. Soll er sich den Kopf zerbrechen.« »Und was wird er wohl dazu sagen?« »Was immer er will. Es ist nicht unsere Schuld. Außerdem ist jetzt absolut nichts mehr zu machen.« Wir nahmen den Jungen in die Mitte, packten ihn bei den Armen und zogen ihn mit uns hinaus. Captain Bartlett ist ein fähiger Offizier, eines der Sphinxgesichter, die nur selten Gefühle nach außen dringen lassen. In den seltenen Fällen, wo er es tut, ist es daher wie der Ausbruch eines Merkur-Vulkans – und wer noch keinen gesehen hat, hat nicht gelebt. Hier war es der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Eine Satellitenfahrt ist immer aufreibend. Der Gedanke an die Callisto vor uns hatte ihm mehr zu schaffen gemacht, als irgendeinem anderen Mitglied der Mannschaft. Und nun dieser jugendliche blinde Passagier. Es war nicht zu ertragen! Eine halbe Stunde lang feuerte der Captain Salve auf Salve seiner übelsten Flüche ab. Er begann mit der Sonne und arbeitete sich durch die ganze Liste der Planeten, Satelliten, Astroiden und Kometen bis hin zu den Meteoren selbst. Er war gerade zu den näheren Fixsternen gekommen, als er aus purer Nervenerschöpfung zusammenbrach. Er war so erregt, daß er nicht daran dachte, uns zu fragen, was wir eigentlich in dem Vorratsraum gesucht hatten, und dafür waren Whitefield und ich ihm äußerst dankbar. Doch Captain Bartlett ist kein Narr. Als er seine Nerven wieder im Zaum hatte, sah er ein, daß er sich mit dem Unvermeidlichen abfinden mußte.
»Jemand soll ihn nehmen und abwaschen«, knurrte er müde, »und dann will ich ihn so schnell nicht wieder sehen.« Dann wurde er etwas sanfter, zog mich zu sich hin und sagte: »Macht ihm keine Angst, indem ihr ihm erzählt, wohin die Reise geht. Er ist übel dran, der arme Junge.« Als wir gingen, war der weichherzige alte Halunke dabei, einen Notruf zu Ganymed zu senden, um Verbindung mit dem Onkel des Jungen aufzunehmen. Was wir zu jenem Zeitpunkt nicht wußten: dieser Junge war ein Geschenk Gottes – ein echter Glücksfall. Er lenkte unsere Gedanken von Callisto ab. Er brachte uns auf andere Überlegungen. Die Spannung, die nach vier Tagen fast auf den Siedepunkt gestiegen war, löste sich fast völlig. Es war etwas Erfrischendes an der natürlichen Fröhlichkeit des Jungen, an seiner wachen Aufgeschlossenheit. Er wanderte kreuz und quer durch das Schiff und stellte die albernsten Fragen. Er bestand darauf, daß jeden Moment ein Piratenüberfall kommen konnte. Vor allem aber sah er in jedem von uns nichts weniger als einen Helden seiner Abenteuerromane. Letzteres schmeichelte natürlich unserer Einbildung und spornte uns an. Wir wetteiferten miteinander im Geschichtenerzählen, und der alte Mac Steeden, der in Stanleys Augen ein Halbgott war, stellte mit den Erzeugnissen seiner blühenden Fantasie alles bisher Dagewesene in den Schatten. Das Fabulier-Fest, das wir am siebten Tage hatten, ist mir besonders in Erinnerung. Wir hatten eben die Hälfte des Weges zurückgelegt und befanden uns in einer Phase der vorsichtigen Geschwindigkeitsreduzierung. Alle von uns (außer Harrigan und Tuley, die an den Maschinen waren) saßen im Steuerraum. Whitefield, den Computerschirm nie aus den Augen lassend, begann und sprach wie üblich von Zoologie. »Es ist ein kleines, schneckenartiges Ding«, sagte er, »das sich nur auf Europa findet. Es heißt Carolus Europis, doch wir nannten es stets Magnetwurm. Es ist etwa fünfzehn Zentimeter lang und hat eine schiefergraue Farbe – das Ekelhafteste, was man sich vorstellen kann. Sechs Monate lang studierten wir diesen Wurm, und niemals zuvor habe ich den alten Mornikoff über irgend etwas so erregt gesehen. Durch
irgendeine Art Magnetfeld hatte das Ding todbringende Kräfte. Man setzt zum Beispiel den Magnetwurm an ein Ende des Raums, und eine Raupe an das andere. Dann wartet man fünf Minuten, und die Raupe rollt sich zusammen und stirbt. Und das Seltsame daran ist dies: Einem Frosch passiert nichts – er ist zu groß; doch wenn man den Frosch nimmt und irgendein eisernes Band um ihn legt, dann tötet ihn der Magnetwurm in gleicher Weise. Daher wissen wir, daß eine Art Magnetfeld im Spiel sein muß – durch die Gegenwart von Eisen wird seine Stärke mehr als vervierfacht.« Seine Geschichte machte großen Eindruck auf uns. Joe Brocks tiefe Baßstimme tönte. »Ich bin verdammt froh, daß diese Dinger nur fünfzehn Zentimeter lang sind, wenn es stimmt, was du da sagst.« Mac Steeden streckte sich und zupfte dann mit gespielter Gleichgültigkeit an seinem grauen Schnauzbart. »Diesen Wurm nennst du ungewöhnlich. Aber er ist noch gar nichts im Vergleich zu Dingen, die ich zu meiner Zeit gesehen habe…« Bedächtig und wie in Erinnerungen schwelgend schüttelte er den Kopf, und wir wußten, daß uns eine lange, schauerliche Geschichte bevorstand. Jemand stöhnte dumpf, doch Stanleys Miene verklärte sich in dem Augenblick, da er den alten Veteranen in Erzählerlaune sah. Steeden bemerkte seine leuchtenden Augen und wandte sich an den kleinen Burschen. »Ich war mit Peewee Wilson zusammen, als es passierte – du hast von Peewee Wilson gehört, nicht war?« »Oh, ja.« Stanleys Augen strahlten Heldenverehrung aus. »Ich habe Bücher über ihn gelesen. Er war der größte Raumfahrer, den es je gab.« »Das stimmt, Junge, darauf kannst du alles Radium auf Titan wetten. Er war nicht größer als du, wog nicht viel mehr als neunzig Pfund, doch in einem Kampf war er mehr wert als das Fünffache seines Gewichts an venusischen Teufeln. Er und ich, wir gehörten zusammen. Ohne mich ging er nirgendwo hin. Immer, wenn es gefährlich wurde, hielt er sich an mich.« Er seufzte wie in tiefem Gram. »Ich war bei ihm bis ans Ende. Nur ein gebrochenes Bein hinderte mich daran, ihn auf seiner letzten Reise zu begleiten…«
Plötzlich verstummte er, und eine eisige Stille breitete sich über uns alle. Whitefield wurde grau im Gesicht, der Mund des Kapitäns verzog sich seltsam, und ich fühlte, wie mein Herz mir bis zu den Fußsohlen fiel. Niemand sprach, doch hatten wir sechs den gleichen Gedanken. Peewee Wilsons letzte Fahrt war zur Callisto gegangen. Er war der zweite gewesen – und war niemals zurückgekehrt. Wir waren die achten. Erstaunt starrte Stanley einen nach dem anderen von uns an, doch wir mieden seinen Blick. Captain Bartlett war es, der sich zuerst wieder faßte. »Sagen Sie, Steeden, Sie haben doch einen von Peewee Wilsons alten Raumanzügen, oder?« Seine Stimme war fest und ruhig, doch konnte ich sehen, daß ihn das einige Mühe kostete. Steedens Miene hellte sich auf. Er hatte auf seinen Schnurrbartspitzen herumgekaut (was er immer tat, wenn er nervös war), und nun hingen sie feucht und fransig herunter. »Sicher, Captain. Tatsache, er hat ihn mir selbst gegeben. Das war im Jahr dreiundzwanzig, als die neuen Stahlanzüge herauskamen. Peewee hatte keine Verwendung mehr für sein altes Plexigummi-Ding und gab es mir – und ich habe es seitdem aufbewahrt. Bringt mir Glück.« »Nun, ich dachte mir, wir könnten den alten Anzug für den Jungen hier herrichten. Ein anderer paßt ihm nicht, und er braucht ihn unbedingt.« Die matten Augen des Veteranen wurden hart, und er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Captain. Niemand rührt diesen alten Anzug an. Peewee gab ihn mir selbst. Mit eigener Hand! Er ist… er ist mir heilig, so viel bedeutet er für mich.« Wir anderen schlugen uns sofort auf die Seite des Kapitäns, doch Steeden blieb störrisch. Wieder und wieder sagte er tonlos: »Der alte Anzug bleibt, wo er ist.« Und er unterstrich die Feststellung mit einem Schlag seiner geballten Faust. Wir waren nahe daran, aufzugeben, als Stanley, der bisher diskret geschwiegen hatte, sich einmischte. »Bitte, Mister Steeden«, sagte er mit der Spur eines Zitterns in seiner Stimme. »Bitte geben Sie ihn mir. Ich werde gut darauf aufpassen. Wenn
Peewee Wilson noch am Leben wäre… ich wette, er würde es erlauben.« Seine blauen Augen wurden feucht, und seine Unterlippe bebte ein wenig. Der Junge war der perfekte Schauspieler. Steeden blickte unentschlossen drein und begann wieder, auf seinem Bart herumzukauen. »Nun… ach, zum Teufel, Ihr habt euch alle gegen mich verschworen. Der Junge kann ihn haben, aber erwartet nicht von mir, daß ich ihn auch noch herrichte! Ihr könnt euch meinetwegen um euren Schlaf bringen lassen – ich will nichts damit zu tun haben.« Und so schlug Captain Bartlett zwei Fliegen mit einer Klappe. Er lenkte uns von Callisto ab zu einer Zeit, da die Moral der Besatzung am Kippen war; und er gab uns für den Rest des Weges ein Problem zu lösen – denn diesen ehrwürdigen Überrest eines Raumanzugs wieder herzurichten, würde fast eine Woche dauern. Wir arbeiteten an dem Museumsstück mit einer Konzentration, die zu der Wichtigkeit der Aufgabe in keinem Verhältnis stand. Trotz der Nebensächlichkeit unseres Tuns vergaßen wir die immer größer vor uns auftauchende Callisto. Wir verschlossen jeden Riß und jede Pore des ehrwürdigen Anzugs. Wir verstärkten die Innenseite mit feinmaschigem Aluminiumgewebe. Wir setzten die Beheizung instand und installierten neue Sauerstoffbehälter. Sogar der Captain erachtete es nicht als unter seiner Würde, uns bei der Arbeit zu helfen, und nach dem ersten Tag gesellte sich auch Steeden zu uns, trotz seiner anfänglichen Tirade. Am Tag vor der geplanten Landung waren wir fertig, und Stanley glühte vor Stolz, als er ihn anprobiert hatte, während Steeden dabeistand und grinsend an seinen Bartspitzen drehte. Und während die Tage verstrichen, war das fahlblaue Rund der Callisto gewachsen, bis es fast den Himmel ausfüllte. Der letzte Tag war voll Unruhe. Zerstreut führten wir unsere Aufgaben durch und vermieden geflissentlich den Anblick des harten, gefühllosen Satelliten vor uns. Wir befanden uns im Sturzflug – in einer langen, sich ständig verengenden Spirale. Der Kapitän hatte gehofft, durch dieses Manöver im vorhinein eine gewisse Kenntnis der Natur des Planeten und seiner
Bewohner zu gewinnen, jedoch gewannen wir kaum positive Informationen. Der große Anteil an Kohlendioxyd in der dünnen, kalten Atmosphäre begünstigte pflanzliches Leben, so daß die Vegetation reich und vielfältig war. Die drei Prozent Sauerstoffgehalt schienen jedoch jedes Leben, außer den einfachsten und trägsten Arten, auszuschließen. Auch gab es keinerlei Hinweise auf Städte oder künstliche Strukturen irgendwelcher Beschaffenheit. Fünfmal umkreisten wir Callisto, bevor wir einen großen See erblickten, der etwa wie ein Pferdekopf aussah. Bei diesem See gingen wir langsam hinunter, denn in der letzten Nachricht der zweiten Expedition – Peewee Wilsons Expedition – war von einer Landung bei einem solchen See die Rede gewesen. Aus einer Höhe von etwa einer halben Meile orteten wir dann das schimmernde Metalloval der Phobos, und als wir schließlich sanft auf dem grünen Vegetationsteppich aufsetzten, waren wir kaum fünfhundert Meter von dem unglücklichen Schiff entfernt. »Seltsam«, murmelte der Captain, als wir uns alle im Steuerraum versammelt hatten, um weitere Order zu erwarten, »es scheint keinerlei Anzeichen irgendwelcher Gewalteinwirkung zu geben.« In der Tat! Ruhig, scheinbar unbeschädigt lag die Phobos da. Ihr altmodischer Stahlrumpf blitzte hell im gelben Jupiterlicht, denn der spärliche Sauerstoffanteil der Atmosphäre konnte kein Rosten der widerstandsfähigen Oberfläche bewirken. Der Captain schien aus tiefen Gedanken zu erwachen und wandte sich zu Charney am Funkgerät. »Hat Ganymed geantwortet?« »Ja, Sir. Sie wünschen uns Glück.« Er sagte es ganz schlicht, und doch lief ein kalter Schauder über meinen Rücken. Kein Muskel bewegte sich in des Captains Gesicht. »Haben Sie versucht, Verbindung mit der Phobos aufzunehmen?« »Keine Antwort, Sir.« »Drei von uns werden die Phobos untersuchen. Zumindest einige der Antworten sollten wir dort finden.« »Zündhölzer!« sagte Brock.
Der Captain nickte ernst. Er nahm acht Zündhölzer, drei davon in der Mitte halbiert, und streckte uns wortlos seine Hand entgegen. Charney trat vor und zog als erster. Es war ein kurzes Holz; ruhig ging er zum Raumanzug-Schrank. Tuley zog, und nach ihm Harrigan und Whitefield. Dann kam ich, und ich zog das zweite halbierte Holz. Ich grinste und folgte Charney, und nach einer halben Minute trat der alte Steeden zu uns. »Das Schiff wird auf euch aufpassen, Jungs«, sagte der Captain leise, als er uns die Hände schüttelte. »Wenn irgendeine Gefahr droht, macht euch aus dem Staub. Keine Heldentaten, bitte; wir können uns keine Verluste leisten.« Wir inspizierten unsere Taschen-Lectronics und machten uns auf den Weg. Wir wußten nicht genau, was uns erwartete, und waren nicht sicher, ob unsere ersten Schritte auf dem Boden der Callisto nicht unsere letzten sein würden, aber keiner von uns zögerte einen Augenblick. In den Raumfahrt-Romanen ist Mut ein äußerst billiger Gebrauchsartikel; im wirklichen Leben kostet er wesentlich mehr. Mit beträchtlichem Stolz erinnere ich mich der festen Schritte, mit denen wir drei die schützende Ceres verließen. Nur einmal sah ich zurück und erblickte Stanleys Gesicht, das weiß an das dicke Glas der Ausstiegsluke gepreßt war. Selbst aus einiger Entfernung war seine Erregung nur zu deutlich zu sehen. Armer Junge! Die letzten beiden Tage war er der Überzeugung gewesen, daß wir im Begriff seien, ein Piratennest auszuheben, und starb fast vor Ungeduld in der Erwartung des Kampfes. Natürlich hatte ihm keiner von uns seine Illusion genommen. Vor uns erhob sich der mächtige Rumpf der Phobos. Totenstill lag das riesige Schiff in den grünen Stoppeln. Das zweite auf einer gescheiterten Mission. Und wir waren das achte. Charney brach die unbehagliche Stille. »Was bedeuten diese weißen Flecken auf der Außenhaut?« Er hob einen metallgeschützten Finger und rieb ihn an der Stahlplatte. Dann betrachtete er die weiche weiße Masse, die daran zurückgeblieben
war. Mit einem unwillkürlichen Schauder des Ekels wischte er ihn an dem grauen Gras zu seinen Füßen ab. »Was glaubst du, was es ist?« Mit Ausnahme der Zone unmittelbar über dem Boden war das gesamte Schiff, soweit wir es sehen konnten, mit einer dünnen Schicht der schmierigen Masse bedeckt. Es sah aus wie ausgetrockneter Schaum, wie… Ich sagte: »Sieht aus, wie wenn eine gigantische Schnecke aus dem See gekommen und über das Schiff gekrochen wäre und dort ihren Schleim zurückgelassen hätte.« Natürlich war das nicht ernst gemeint, doch die anderen beiden warfen hastige Blicke auf den spiegelglatten See, auf dem das unverzerrte Bild des Jupiter lag. Charney zog seinen Hand-Lectronic. »Hört!« rief Steeden plötzlich, und seine Stimme klang rauh und metallisch aus dem Lautsprecher. »So dürfen wir jetzt nicht reden. Wir müssen versuchen, in das Schiff zu kommen; irgendwo muß ein Loch in der Außenhaut sein. Du gehst rechts herum, Charney, und du, Jenkins, nach links. Ich werde sehen, ob ich irgendwie auf dieses Ding hinaufklettern kann.« Sorgfältig visierte er den sanft gerundeten Rumpf an, nahm einen Anlauf und sprang. Natürlich wog er auf Callisto mitsamt seiner Ausrüstung kaum zwanzig Pfund, und so erreichte er eine Höhe von mehr als zehn Metern. Leicht schlug er gegen die Außenhaut, und als er an ihr herabzugleiten begann, gelang es ihm, sich an den Nietenköpfen festzuhalten und nach oben zu arbeiten. Ich winkte Charney zu und machte mich meinerseits auf den Weg. »Alles in Ordnung?« klang die Stimme des Captains dünn in mein Ohr. »Alles okay«, antwortete ich mißmutig, »bis jetzt.« Und als ich das sagte, verschwand die Ceres hinter der Wölbung der toten Phobos, und ich war auf dem geheimnisvollen Mond ganz allein. Schweigend setzte ich meine Runde fort. Außer durch die dunklen Fensteröffnungen, deren niedrigste sich noch ein gutes Stück über Kopfhöhe befand, war die Außenhaut des Raumschiffs nirgends unterbrochen. Ein- oder zweimal glaubte ich Steeden affengleich auf
dem glatten Rumpf herumturnen zu sehen, aber vielleicht war das nur Einbildung. Schließlich erreichte ich das Vorschiff, das voll ins Jupiterlicht getaucht war. Dort war die unterste Reihe der Fensteröffnungen niedrig genug, daß ich hineinsehen konnte, und als ich von einem zum andern ging, glaubte ich in ein Geisterschiff zu sehen, denn in dem gespenstischen Licht erschienen alle Dinge nur wie flackernde Schatten. Das letzte Fenster der Reihe erwies sich dann plötzlich als von allergrößtem Interesse. In einem gelben Rechteck des Jupiterlichts lag auf dem Boden ausgestreckt, was von einem Mann übriggeblieben war. Seine Kleidung war lose um ihn drapiert, und sein Hemd hatte Falten, wie wenn die Rippen darunter es modelliert hätten. Zwischen dem offenen Hemdkragen und der Ingenieurmütze grinste ein augenloser Schädel. Die Mütze, die schräg auf dem glatten Schädel ruhte, schien der Schrecklichkeit des Anblicks die letzte Raffinesse zu verleihen. Ein Schrei in meinen Ohren brachte mein Herz zum Rasen. Es war Steeden, der irgendwo auf dem Schiff Flüche ausstieß. Gleich darauf sah ich seinen stahlumhüllten Körper an der Seite des Schiffes heruntergleiten. Mit langen, schwebenden Sprüngen rannten wir auf ihn zu; er winkte uns weiter und lief vor uns her zum See hin. Unmittelbar am Ufer blieb er stehen und beugte sich über ein halb begrabenes Objekt. Zwei Sätze brachten uns zu ihm, und wir sahen, daß der Gegenstand ein mit einem Raumanzug bekleidetes menschliches Wesen war, das mit dem Gesicht nach unten lag. Auf ihm war eine dicke Schicht derselben schleimigen Masse, welche auch die Phobos bedeckte. »Ich habe ihn von der Oberseite des Schiffes aus bemerkt«, sagte Steeden etwas atemlos, als er die Gestalt im Raumanzug umdrehte. Was wir sahen, quittierten wir alle drei mit einem gleichzeitigen Aufschrei. Durch das Glasvisier starrte uns ein vom Aussatz zerfressenes Gesicht an. Die Züge waren faulig und zerfallen, als hätte Verwesung begonnen und sich dann aus Mangel an Luftzufuhr nicht fortgesetzt. Da und dort schaute ein Stück grauen Knochens durch. Es war der abstoßendste Anblick, der sich mir jemals bot, obwohl ich nicht wenige gesehen habe, die beinahe ebenso schlimm waren.
»Mein Gott!« Charneys Stimme war mehr ein Seufzer. »Sie sterben einfach und verwesen.« Er erzählte Steeden von dem bekleideten Skelett, das wir durch die Luke gesehen hatten. »Es ist ein verdammtes Rätsel«, knurrte Steeden, »und die Lösung muß in der Phobos zu finden sein.« Ein Augenblick der Stille. »Ich will euch was sagen. Einer von uns kann zurückgehen und den Captain veranlassen, den Desintegrator abzumontieren. Auf der Callisto ist er leicht genug, daß wir ihn bewegen können, und mit geringer Leistung wird er uns ein Loch in die Phobos schneiden, ohne das ganze Schiff ins Weltall zu blasen. Du gehst, Jenkins. Charney und ich werden sehen, ob wir nicht noch mehr von den armen Teufeln finden.« Mit kräftigen, raumgreifenden Schritten machte ich mich auf den Weg zur Ceres. Ich hatte drei Viertel der Entfernung zurückgelegt, als ein lauter Schrei metallisch an mein Ohr drang. Erschreckt fuhr ich herum; was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Oberfläche des Sees glich kochendem Schaum, und aus ihr heraus krümmten sich die Vorderteile von Wesen, die aussahen wie riesige Raupen. Sie wanden sich heraus aufs Land, schmutzig graue Körper, von denen Schleim und Wasser tropfte. Sie waren etwa vier Fuß lang, hatten einen Fuß Durchmesser, und ihre Fortbewegungsart war allerlangsamstes, sauerstoffsparendes Kriechen. Außer einem stielähnlichen Auswuchs an ihrem Vorderende, dessen Spitze schwachrot glühte, waren sie absolut gesichtslos. Ihre Zahl wurde zusehends größer, bis das Ufer eine langsam sich hebende und senkende Masse ekligen grauen Fleisches geworden war. Charney und Steeden rannten zur Ceres, doch hatten sie kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie stolperten, und ihr Lauf sich zu einem blinden Taumeln verlangsamte. Sogar das hörte schließlich auf, und fast gleichzeitig fielen sie auf die Knie nieder. Charneys Stimme klang schwach in mein Ohr: »Hilfe! Mein Kopf zerspringt. Ich kann mich nicht bewegen! Ich…« Beide lagen jetzt bewegungslos da. Automatisch wollte ich zu ihnen hineilen, doch ein plötzlicher scharfer Schmerz gerade über meinen Schläfen zwang mich fast in die Knie, und für einen Augenblick blieb ich verstört stehen.
Dann hörte ich Whitefields unheimlichen Schrei: »Zurück zum Schiff! Zurück! Zurück!« Bereitwillig wandte ich mich um, denn aus dem plötzlichen Anfall von Schmerz war jetzt ständige, brennende Pein geworden. Ich schwankte und taumelte, als ich mich der geöffneten Schleuse näherte, und ich glaube, daß ich kurz vor dem Zusammenbruch war, als ich endlich hineinfiel. Dann war ich für geraume Zeit ohne klares Bewußtsein; was währenddessen geschah, vermag ich nicht mehr zu sagen. Mein nächster deutlicher Eindruck war der des Steuerraums der Ceres. Jemand hatte mich aus dem Raumanzug geholt; erschreckt und verstört starrte ich um mich und versuchte, mir über meine Situation klar zu werden. Mein Geist war immer noch völlig verwirrt, und als Captain Bartlett sich über mich beugte, sah ich ihn doppelt. »Wissen Sie, was diese verdammten Kreaturen sind?« Er deutete hinaus auf die riesigen Raupen. Ich schüttelte stumm den Kopf. »Sie sind die Urgroßväter des Magnetwurms, von dem Whitefield uns erzählt hat. Erinnern Sie sich an den Magnetwurm?« Ich nickte. »Er tötet durch ein Magnetfeld, das durch umgebendes Eisen verstärkt wird.« »Ja, zum Teufel!« rief Whitefield uns plötzlich unterbrechend. »Ich kann es beschwören. Wenn nicht ein glücklicher Zufall unserem Schiff einen Rumpf aus Beryl-Tungsten statt aus Stahl beschert hätte – wie der Phobos und den anderen – würde jeder einzelne von uns jetzt bewußtlos und bald darauf tot sein.« »Dann ist das die Drohung der Callisto.« Meine Stimme erhob sich in plötzlichem Erschrecken. »Aber was ist mit Charney und Steeden?« »Erledigt«, murmelte der Captain grimmig. »Bewußtlos – vielleicht tot. Diese dreckigen Würmer kriechen auf sie zu, und es gibt nichts, was wir tun können.« Er begann, die einzelnen Punkte an seinen Fingern abzuzählen. »Wir können nicht in Raumanzügen auf sie losgehen, ohne unser eigenes Todesurteil zu unterschreiben – Raumanzüge sind aus Stahl. Ohne Raumanzug schafft keiner den Hin- und Rückweg. Wir haben keine Waffen mit genügend feinen Strahlen, die uns erlauben, die
Würmer zu vernichten, ohne gleichzeitig Charney und Steeden zu erwischen. Ich habe erwogen, die Ceres näher heranzumanövrieren und dann unser Heil in der Schnelligkeit zu suchen, doch auf einer Planetenoberfläche wie dieser ist das nicht möglich, ohne das Schiff selbst zu gefährden. Wir…« »Kurz«, unterbrach ich mit dumpfer Stimme, »wir müssen hier bleiben und zusehen, wie sie sterben.« Er nickte, und ich wandte mich erbittert ab. Als ich ein leichtes Zupfen an meinem Ärmel spürte, drehte ich mich um und sah Stanley, der mich mit großen blauen Augen anstarrte. In meiner Erregung hatte ich ihn ganz vergessen und blickte ihn jetzt ungehalten an. »Was gibt's?« fauchte ich. »Mister Jenkins…« Seine Augen waren rot, und ich glaube, daß er den Magnetwürmern Piraten bei weitem vorgezogen hätte. »Mister Jenkins, vielleicht könnte ich hinausgehen und Mister Charney und Mister Steeden holen.« Mit einem Seufzer wandte ich mich ab. »Aber… Mister Jenkins, ich könnte es schaffen. Ich habe gehört, was Mister Whitefield sagte, und mein Raumanzug ist nicht aus Stahl. Es ist Plexi-Gummi.« »Der Junge hat recht«, flüsterte Whitefield langsam, als Stanley sein Angebot vor der versammelten Mannschaft wiederholte. »Unverstärkt bedeutet das Magnetfeld keine Gefahr, das steht fest. In einem Plexi-Gummi-Anzug wäre er sicher.« »Aber der Anzug ist ein Wrack!« wandte der Captain ein. »Ich hatte niemals wirklich die Absicht, den Jungen das Ding benützen zu lassen.« Aus seiner rauhen Stimme klang Unentschlossenheit. »Wir können Neal und Mac nicht da draußen liegenlassen, ohne irgend etwas zu unternehmen, Captain«, sagte Brock. Plötzlich hatte der Captain einen Entschluß gefaßt und schritt unverzüglich zur Tat. Er stürzte selber zum Raumanzug-Schrank, holte das Museumsstück heraus und half Stanley hinein.
»Steeden zuerst«, sagte der Captain, als alle Verschlüsse zu waren. »Er ist älter und weniger widerstandsfähig gegen das Feld. – Viel Glück, Junge, und wenn du's nicht schaffst, dann komm sofort zurück. Sofort, hörst du?« Die ersten Schritte mißlangen Stanley, doch hatte er sich auf Ganymed an schwache Gravitationskräfte gewöhnt, und schnell ging es besser. Ohne zu zögern sprang er auf die beiden liegenden Gestalten zu, und wir atmeten auf. Offensichtlich hatte das Magnetfeld noch keine Wirkung auf ihn. Jetzt hatte er eine der beiden Gestalten über der Schulter und kam, sich nur geringfügig langsamer bewegend, auf das Schiff zu. Als er in der Luftschleuse seine Bürde niederlegte, winkte er uns durch das Fenster zu, und wir winkten zurück. Kaum war er wieder fort, als wir Steeden schon ins Innere geschafft hatten. Wir rissen ihn aus seinem Raumanzug und betteten den wachsbleichen Körper auf eine Liege. Der Captain legte ein Ohr auf seine Brust und lachte erleichtert laut auf. »Der alte Mummelgreis ist noch gut in Form.« Glücklich drängten wir uns alle um ihn, um seinen Puls zu fühlen und uns so zu vergewissern, daß noch Leben in ihm war. Sein Gesicht zuckte ein paarmal, und als plötzlich eine leise, undeutliche Stimme flüsterte: »… und dann sagte ich zu Peewee, ich sagte also…« waren unsere letzten Zweifel zerstreut. Whitefields jäher, erschreckter Ausruf war es, der uns wieder an das Fenster holte. »Mit dem Jungen stimmt etwas nicht.« Stanley hatte mit seiner zweiten Last schon die Hälfte des Rückweges hinter sich, doch jetzt begann er zu taumeln, schien nicht mehr Herr seiner Bewegungen zu sein. »Es kann nicht sein«, flüsterte Whitefield heiser. »Es kann nicht sein. Das Feld kann keine Wirkung auf ihn haben!« »Gott!« Der Captain raufte sich die Haare. »Das verdammte Fossil hat keinen Sprechfunk. Er kann uns nicht sagen, wo es fehlt.« Er gab sich einen Ruck. »Ich muß zu ihm, ich muß ihn holen.«
»Bleiben Sie, Captain«, sagte Tuley und packte ihn am Arm. »Vielleicht schafft er es.« Stanley ging jetzt wieder schneller, aber in seltsamen Schlangenlinien, die klar ersichtlich machten, daß er nicht sah, wohin er ging. Zwei- oder dreimal glitt er aus und fiel, doch gelang es ihm jedesmal, sich wieder aufzurappeln. Schließlich stieß er gegen die Schiffswand; seine Arme suchten wie wild die gähnend geöffnete Luftschleuse. Wir schrien, beteten und schwitzten, konnten ihm aber nicht helfen. Und dann verschwand er einfach. Er war an die Schleuse geraten und hineingefallen. In Rekordzeit hatten wir beide hereingeschafft und ihnen die Raumanzüge ausgezogen. Charney lebte, das sahen wir mit einem Blick, und daraufhin ließen wir ihn einfach liegen und wandten uns Stanley zu. Sein blaues Gesicht, seine geschwollene Zunge, das frische Blut, das ihm von der Nase über das Kinn rann, sprach eine deutliche Sprache. »Sein Anzug hat einen Riß bekommen«, sagte Harrigan. »Geht weg von ihm«, befahl der Captain, »laßt ihm Luft.« Wir warteten. Endlich verriet uns leises Stöhnen, daß der Junge wieder zu Bewußtsein kam, und ein Lächeln ging über alle Gesichter. »Tapferer kleiner Junge«, sagte der Captain. »Die letzten hundert Meter hat er nur durch seinen Mut überwunden und durch sonst nichts.« Und dann: »Tapferer kleiner Junge. Dafür wird er die Ehrenmedaille der Marine bekommen, und wenn ich ihm meine eigene geben muß.« Callisto war wie ein schrumpfender blauer Ball auf dem Televisor – eine gewöhnliche Welt ohne Geheimnisse. Stanley Fields, Kapitän ehrenhalber des Raumschiffes Ceres, machte ihr eine lange Nase und streckte ihr gleichzeitig die Zunge heraus. Es war eine nicht sonderlich elegante Geste, und doch versinnbildlichte sie den Triumph des Menschen über ein unbekannte Gefahren bergendes Sonnensystem. Originaltitel: THE CALLISTAN MENACE Copyright © 1940 by Fictioneers, Inc.
Ross Rocklynne
DURCH DIE FINSTERNIS Dunkels Geburt Tief im Weltraum, am Rand der entferntesten Milchstraße und zwischen zwei Sternhaufen, entstand ein leuchtender Ball, dessen Strahlen Lichtjahre durchmaßen. Ein Leben war geboren worden! Er wurde des Lichtes gewahr; erst sah er die unzähligen Sonnen und Sternnebel, deren Strahlungsenergie ihn nun versorgte. Jenseits davon sah er dichte, undurchdringliche Finsternis. Die Finsternis gab ihm zu denken. Er konnte die Sterne verstehen, doch nicht die Finsternis. Er sondierte mehrere Lichtjahre nach außen und fand nur Lichtlosigkeit. Er forschte weiter, und weiter, doch da war kein Licht. Erst als es ihm nicht mehr möglich war, noch tiefer zu suchen, gab er auf, doch eine seltsame Saat war gesät worden – daß es jenseits der Dunkelheit Licht geben mußte, wurde seine innerste Überzeugung. Wunder schienen sich ohne Unterlaß diesem Neugeborenen zu zeigen. Er wurde einer anderen Persönlichkeit gewahr, die unweit schwebte, einer Energieballung von dreißig Millionen Meilen Durchmesser. In ihrem Zentrum hing eine mattgrün leuchtende Kugel, welche eine Million Meilen maß. Er erforschte dieses Wesen mit seinem Gesichtssinn, und es hielt still, während er es untersuchte. Er fühlte, wie fremde Kräfte an ihm zogen, Kräfte, die sein ganzes Sein mit Frieden erfüllten. Sogleich entdeckte er ein System von Energiewellen, die wunderbare Möglichkeiten erschlossen. »Wer bist du?« konnten diese Wellen das andere Leben fragen. Leise, besänftigend, kam die Antwort. »Ich bin deine Mutter.« »Du meinst…?« »Du bist mein Sohn – meine Schöpfung. Ich werde dich – Dunkel nennen. Bleib hier und wachse, Dunkel, und wenn du viele Male größer bist, werde ich wiederkommen.«
Sie war verschwunden, unauffindbar von einem großen Spiralnebel verschluckt – einer Wolke rasch sich drehenden Sternstaubes. Er lag bewegungslos, von seltsamen Gedanken erfüllt. Am erstaunlichsten war, das Meer der Lichtlosigkeit, dessen Fluten bis an die Gestade dieser Galaxie reichten, in der er geboren war. Etwas später grübelte er über das Leben nach, fragte sich, was wohl das Leben sei und was sein Zweck. Wenn sie wiederkommt, werde ich sie fragen, dachte er. Dunkel nannte sie mich – Dunkel! Seine Gedanken kehrten wieder zum Dunkel zurück. Fünf Millionen Jahre lang badete er sich in den Strahlen, die durch den Weltraum gehen. Er wuchs. Jetzt hatte er zehn Millionen Meilen Durchmesser. Seine Mutter kam; er sah sie aus weiter Entfernung heraneilen. Nahe bei ihm hielt sie an. »Du bist viel größer, Dunkel. Du wächst schneller als das andere Neugeborene.« Er entdeckte Stolz in ihren Gedanken. »Ich habe hier gelegen und nachgedacht«, sagte er. »Ich habe überlegt und bin zu manchem Schluß gekommen. Es gibt andere wie dich und mich.« »Es gibt Tausende von anderen. Ich werde dich zu ihnen bringen. Hast du es mit der Antriebskraft versucht?« »Bis jetzt noch nicht, doch ich werde es tun.« Ein Augenblick der Stille. »Ich habe die Antriebskraft entdeckt«, sagte Dunkel erstaunt, »aber sie bewegt mich nicht.« Sie schien belustigt. »Das ist etwas, was du noch nicht weißt, Dunkel. Du lebst im siebzehnten Band des Hyper-Raums; Antriebskraft wirkt hier nicht. Sieh zu, daß du dich ausdehnst.« All dies war neu für ihn, doch fühlte er instinktiv, wie er sich auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe ausdehnte. »Gut. Ich werde dich jetzt in das erste Band stoßen… So. Versuche die Antriebskraft.«
Er versuchte sie, und zu seinem immensen Vergnügen flogen die flackernden Lichter der Sterne an ihm vorbei. So groß war seine Begeisterung, daß er eine Geschwindigkeit annahm, die ihn seiner Mutter um Lichtjahre vorauseilen ließ. Sie holte ihn ein. »Für dein Alter bist du sehr schnell. Ich werde stolz auf dich sein. Ich spüre, Dunkel«, und es war Sehnsucht in ihrer Stimme, »daß du anders sein wirst als die anderen.« Sie durchforschte die Wirbel seiner Gedanken. »Doch versuche, nicht zu sehr anders zu sein.« Etwas verwundert starrte er sie an, doch sie wandte sich ab. »Komm.« Ihre Geschwindigkeit glich sich der seinen an, und er folgte ihr auf den sternengesäumten Wegen. Sie hielten bei der sechsten Milchstraße vor dem Abgrund der Lichtlosigkeit. Er erkannte Tausende von Gestalten, die ihm ähnlich waren und sich geschwinde um ihn und an ihm vorbei bewegten. Sie also waren seinesgleichen. Sie deutete auf die Gestalten. »Du wirst sie an ihren Schwingungen erkennen und an den verschiedenen Schattierungen farbigen Lichts in ihren Zentren.« Sie sagte eine lange Namensliste auf, die er ohne Schwierigkeit in seinen Gedächtniswindungen speicherte. »Strahler, Schwinger, Schnell, Nebel, Große Kraft, Sonnenesser, Lichtjahr…« »Komm, ich werde dich Oldster vorstellen.« Sie eilten zu einem Punkt in sechs Lichtjahren Entfernung. Knapp außerhalb der Milchstraße hielten sie an. Es gab einen seltsamen Knacks in seinem Bewußtsein. »Oldster hat sich im sechsten Band des Hyper-Raums isoliert«, sagte seine Mutter. Wo er zuvor nichts als pechschwarzen Raum gesehen hatte, der hier und dort Massen flammender, wallender Materie aufwies, sah er jetzt eine Energieballung, deren Ausstrahlung die des Alters war. Und der
riesige purpurne Ball, der in seinem Zentrum hing, ließ einen gewissen vitalen Glanz vermissen, den Dunkel instinktiv mit seiner eigenen Jugend und grenzenlosen Energie assoziiert hatte. Seine Mutter erregte die Aufmerksamkeit des alten Wesens, und Dunkel fühlte, wie seine Gedankenstrahlen mit ihnen Verbindung bekamen. »Oh, du bist es, Funke«, waren die freundlichen Gedanken des alten Wesens. »Und wen hast du bei dir?« Dunkel sah, wie Funke, seine Mutter, Ströme kristallinen Lichts aussandte. »Das ist mein erster Sohn.« Dunkel spürte, wie Oldsters Gedankenstrahlen durch seine Gedächtniswindungen gingen. »Und du hast ihn Dunkel genannt«, sagte Oldster langsam. »Weil er sich Gedanken darüber gemacht hat.« Halb abwesend ließ er seine optische Rezeptivität geringer werden. »Er ist so jung, und doch ist er ein Denker; schon macht er sich über das Leben Gedanken.« Lange Zeit ruhte Oldsters durchdringender Blick auf ihm. Plötzlich schwenkten seine Rezeptionsstrahlen ab und konzentrierten sich auf eine kleine isolierte Gruppe von Sternen. Eine schwere, unangenehme Stille folgte. »Dunkel«, sagte Oldster schließlich, »deine Gedanken sind nutzlos.« Die Gedanken schienen jetzt aus unermeßlicher Entfernung zu kommen, oder aus einem unendlich ermüdeten Sinn. »Du bist jung, Dunkel. Denk nicht so viel – nicht so viel, daß das Glück des Lebens durch seine Überschätzung zerstört wird. Wenn du willst, kannst du mich besuchen. Millionen von Jahren werde ich im sechsten Band sein.« Unvermittelt war Oldster verschwunden. Er hatte die Mutter und den Sohn in das erste Band zurückversetzt. Seine Mutter fixierte ihn. »Dunkel, was er sagt, ist wahr – jedes Wort. Spiel eine Weile – du kannst so viele Dinge tun. Und, wenn du willst, besuche Oldster in Abständen; doch stelle ihm lange Zeit keine Fragen.« »Ich will es versuchen«, antwortete Dunkel in plötzlichem Entschluß.
Kosmische Kinder DUNKEL SPIELTE. Er spielte viele Millionen Jahre. Mit Spielgefährten seines Alters streifte er durch die unendliche Anzahl der Galaxien, die das Universum bilden. Oldsters Mahnung eingedenk, eilte er von einem Ende zum andern. Er erforschte die Oberfläche von Sternen, zerbrach sie oft in Stücke, was kochende Geiser riesiger Flammen Millionen von Meilen in den Weltraum schießen ließ. Er folgte seinen Gefährten in die tiefen Strudel der grünen Nebel, die im intergalaktischen Raum hingen. Doch diese gewaltigen Schöpfungen der Natur zu stören, war unmöglich. Majestätisch drehten sie sich um sich selbst, oder wanden sich zu Spiralen, oder verdichteten sich manchmal zu Materie, die schöne, heiße Sonnen bildete. Energie zu ihrer Versorgung war hier im Überfluß vorhanden, freilich so dicht und ausgedehnt, daß er und seine Kameraden nicht einmal davon träumen konnten, in ihrem ganzen Leben mehr als ein Trillionstel davon in sich aufzunehmen. Er erfuhr die Geheimnisse der siebenundvierzig Bänder des HyperRaums. Er lernte, sich nach Belieben in sie und wieder aus ihnen heraus in das erste oder wirkliche Band zu versetzen. Er kannte die Schönheit der undurchdringlichen Finsternis im fünfzehnten Band, die Freuden einer seltsam illusorischen Vielfach-Existenz im dreiundzwanzigsten und ein ebenso eigenartiges Gefühl, in entgegengesetzter Richtung von sich selbst wegzufliegen, im einunddreißigsten, und das siebenundvierzigste, wo der ganze Raum sich alptraumhaft zu Sternsystemen und kubischen Sonnen zusammenbraute. Unbegreiflich waren diese siebenundvierzig Bänder. Sie existierten im gleichen Raum, und waren doch von einander auf eine Weise getrennt, die nicht zu erklären war. In jedem Band waren unmißverständliche Zeichen, daß es sich um das gleiche Universum handelte. Dunkel wußte nur, daß jedes Band eines der siebenundvierzig nur wenig von einander verschiedenen Gesichter des Universums war, und die Kräfte seines Geistes erlaubten ihm, mühelos die unsichtbaren Brücken zu beschreiten, welche die Abgründe zwischen ihnen überspannten.
Und er machte keinen Versuch, die Lösung zu finden – er war entschlossen, nicht mehr zu denken, zumindest im gegenwärtigen Augenblick. Sein Spiel genügte ihm, und aus jeder neuen Art der Unterhaltung gewann er so viel Freude und Vergnügen wie nur möglich. Doch dies ging einmal zu Ende, wie er schon befürchtet hatte. Er spielte, und war glücklich dabei, bis… Er war nun in seinem fünfzigmillionsten Jahr, immer noch jung. Der purpurne Ball in seinem Zentrum hätte eine Sonne von einer Million Meilen Durchmesser in sich aufnehmen können, und sein ganzer Körper hätte fünfzig Sonnen derselben Größe von ihrem Platz bewegen können. Hunderttausend Jahre lang lag er schlafend im siebten Band, wo ein sanftes, farbloses Licht das Universum durchströmte. Er erwachte und wollte sich in das erste Band versetzen, um dort die Kinder von Strahler, Lichtjahr, Große Kraft und all der anderen zu treffen. Fast betäubt hielt er inne, denn ein plötzliches, überwältigendes Gefühl der Antipathie gegenüber den Gefährten hatte ihn überkommen. Tatsächlich mußte er sich gestehen, daß er seine Freunde nie wiedersehen wollte. Während seines Schlafes war eine Veränderung in ihm vorgegangen, und er war seinen Spielgefährten entfremdet, als hätte er sie nie gekannt. Was war die Ursache? Etwas. Möglich, daß er lange vor der Zeit die Geistesverfassung der Erwachsenen erreicht hatte. Nun lehnte er sich gegen die Freundschaften auf, die nicht mehr als nutzloses Spiel bedeuteten. Spiel! Riesige Sonnen wie Gummibälle herumzustoßen und diese dann zu Planetensystemen zu zerfetzen; einander hinauf und hinunter durch die siebenundvierzig Bänder zu jagen; in den ungeheuren Räumen zwischen den Sternsystemen herumzurasen und sich unsichtbar zu machen, indem man sich zu zehnfacher Größe ausdehnte. Er wollte nicht spielen, und er wollte seine Freunde nie wieder sehen. Er haßte sie nicht, doch konnte er nicht mehr ihre Neigung verstehen, sich ohne Ende scherzend zwischen den Sternen zu tummeln.
Er hatte noch nicht seine volle Größe erreicht, doch spürte er, daß er ein Erwachsener geworden war, während sie immer noch Kinder waren – sie, die Sonnen durch Milchstraßen warfen und dann ein wenig zu Materie gewordene Energie um sie streuten, um Planeten zu bilden; und die dann wahrscheinlich noch größere Massen danach schleuderten, um die Planetensysteme wieder zu zerstören, die sie mit so viel Mühe gemacht hatten. Er hatte sie immer verspürt, diese Überlegenheit. Sie hatte sich gezeigt, wenn er in jedem Spiel, das sich nur ausdenken ließ, der Beste war. In der Regel verpfuschten die anderen alles; es lag ihnen eher, einen Stern in kleine Teile zu zerschmettern, als ihn in rasende Drehung zu versetzen, bis die Zentrifugalkraft Planeten auswarf. Wenn auch nicht körperlich, so bin ich doch geistig erwachsen; ich bin an dem Punkt angelangt, da ich Weisheit und vielleicht auch Leid erfahren muß, dachte er. Ich werde Oldster besuchen, und ihm meine Fragen stellen – die Fragen, die ich bis jetzt im innersten Winkel meiner Gedanken verschlossen habe. Allerdings, fügte er nachdenklich hinzu, ich habe das Gefühl, daß selbst seine Weisheit mir keine Erleuchtung bringen kann. Nichtsdestoweniger, es muß Antworten geben. Was ist das Leben? Warum besteht es? Und es muß – jenseits der Dunkelheit, welche dieses Universum säumt, muß es ein anderes geben. Widerwillig wandte Dunkel sich um und bewegte sich langsam durch das Sternsystem hinein in das nächste, wo er die jungen Energiegeschöpfe entdeckte, mit denen er nie mehr ein Vergnügen würde teilen können. Geistesabwesend adaptierte er seinen Zeitbegriff an den ihren, einen Bewußtseinszustand, in dem sie die sechs um eine kleine, weißglühende Sonne rasenden Planeten als einzelne Himmelskörper wahrnehmen konnten, und nicht nur als Lichtringe. Sie waren zu Hunderten um diese Sonne versammelt, und Dunkel bewegte sich langsam an ihnen vorbei, sie mißmutig beobachtend. Eines der jungen Purpurlichter namens Cosmic warf Materie in den Raum und holte sie mit einem Anziehungs-Strahl wieder zurück. Er schwang sie am Ende dieses Strahls in Kreisen, deren Bahn sich immer mehr verengte. Dem Planeten eine Geschwindigkeit zu verleihen, die ihn fest zwischen den beiden äußersten Planetenbahnen hielt, erforderte
einen feinen Sinn für den Ausgleich zwischen Masse, Geschwindigkeit und Sonnenanziehung. Als Cosmic den Materieklumpen auf gleichförmige Winkelgeschwindigkeit gebracht hatte, spürte Dunkel eine Verärgerung, die er nicht zu unterdrücken vermochte. Eine Intuition, die sich noch stets als absolut richtig erwiesen hatte, sagte ihm, daß so der Planet nicht auf eine Kreisbahn gebracht werden konnte. »Cosmic.« Er nahm Verbindung mit den Denkstrahlen des Planetenmachers auf. »Cosmic, die Geschwindigkeit ist zu groß. Das ganze System wird auseinanderbrechen.« »Oh, Dunkel.« Cosmic sandte Rezeptionsstrahlen nach ihm aus. »Los, mach mit. Du meinst, die Geschwindigkeit stimmt nicht? Niemals, großer Irrtum! Ich habe alles bis ins Detail berechnet.« »Bis ins falsche Detail«, insistierte Dunkel hartnäckig. »Offensichtlich ist dein Ansatz der Planetenmasse der Faktor, der deine Gleichung falsch macht. Verringere die Geschwindigkeit. Du wirst sehen.« Cosmic schwang seinen Materieklumpen weiter, starrte aber jetzt Dunkel verwundert an. »Was ist denn los mit dir?« fragte er. »Du redest so komisch. Was macht es schon, wenn ich mich verrechne und das Gleichgewicht des Systems durcheinander bringe? Später werden wir das ganze Ding sowieso kaputt machen.« Eine Welle des Unwillens kam über Dunkel. »Das ist es ja eben«, sagte er zornig. »Euch ist das gleich. Ihr werdet immer Kinder sein. Ihr werdet immer spielen. Sorgfältiger Aufbau, freudige Zerstörung – das ist der Glaube, auf dem euer Leben beruht. Wollt ihr nicht auch manchmal zu spielen aufhören und etwas – Sinnvolles tun?« Die Hunderte von Jugendlichen, grüne und purpurne, starrten Dunkel an, als hätten sie ein auf seltsame Weise anderes Gesetz entdeckt, das ein fremdes Milchstraßensystem regierte. Cosmic fuhr fort, seinen Planeten durch den Raum zu schwingen, doch war er sichtlich verwirrt. »Was ist los mit dir, Dunkel? Was anderes sollten wir tun, als durch die Galaxien zu streifen und Sonnen zu machen? Ich kann mir nichts vorstellen, was lohnender wäre.«
»Was nützt es, zu spielen?« antwortete Dunkel. »Was nützt es, ein Sonnensystem zu schaffen? Wenn du eines machtest und es dann vielleicht mit Leben erfülltest, das wäre lohnend! Oder zu denken, nachzudenken! Über dich selbst, über das Leben, warum es besteht und was es im Plan der Dinge bedeutet! Oder«, und er zitterte ein wenig, »versuche zu ergründen, was jenseits des Schleiers der Lichtlosigkeit liegt, der das Universum umgibt.« Die vielen hundert Jugendlichen blickten auf Dunkel. Cosmic starrte ihn besorgt an. »Bist du verrückt? Wir alle wissen, daß es da nichts gibt. Alles, was es gibt, ist hier in unserem Universum. Diese Schwärze ist einfach leer, und sie erstreckt sich von hier bis ins Unendliche.« »Woher hast du diese Kunde?« fragte Dunkel verächtlich. »Du weißt es nicht. Niemand weiß es. Doch ich werde es wissen! Vor kurzem bin ich aus dem Schlaf erwacht und konnte den Gedanken an Spielen nicht mehr ertragen. Ich wollte etwas Bedeutendes tun. Deshalb werde ich in die Dunkelheit gehen.« Hungrig schweifte sein Blick zu dem tiefen Abgrund, der die Sterne umgab. Tausende von Jahren lang, selbst nach ihrem niedrigeren Zeitbegriff, erfüllte Ehrfurcht die Versammlung. In seinem Staunen über eine solch unerhörte Absicht vergaß Cosmic völlig seinen kreisenden Planeten. Er verlor an Geschwindigkeit, riß sich dann von dem schwächer gewordenen Anziehungsstrahl los und geriet auf eine tangentiale Bahn. Er raste zu jenem Sonnensystem und geriet zwischen die Bahnen der äußersten Planeten. Die Anziehungskraft der Sonne erfaßte ihn, der Planet trat in eine unregelmäßige Umlaufbahn ein, und dann hatte sich das ganze System völlig stabilisiert, mit sieben Planeten, wo vorher nur sechs gewesen waren. »Du siehst«, sagte Dunkel mit einem unsicheren Unterton von Freude, »wenn du bei deiner beabsichtigten Geschwindigkeit geblieben wärst, wäre das ganze System in sich zusammengefallen. Die Geschwindigkeit des Planeten verringerte sich, und dann entkam er dir. Ein blinder Zufall sandte ihn in die richtige Richtung. Es war mehr ein Unfall. Jetzt wirf eine zweite Sonne hinein und sieh zu, wie das System auseinanderbricht.
Das hat dir immer schon Spaß gemacht.« Seine Aura begann zu beben. »Lebt wohl, Freunde.«
Oldster Er verschwand für immer aus ihren Augen. Er hatte sich in das sechste Band versetzt. Er begab sich zu dem Punkt, wo Oldster hätte sein müssen. Er traf ihn nicht an. Wahrscheinlich in einem anderen Band, dachte Dunkel und durchstreifte alle anderen außer dem fünfzehnten, wo völlige Lichtlosigkeit herrschte. Da Oldster in keinem davon zu finden war, begab er sich, nicht ohne ein Gefühl der Scheu, ins fünfzehnte, und begann zu rufen. Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann antwortete Oldster, und seine Gedanken verrieten unendliche Müdigkeit. »Ja, mein Sohn; wer ruft mich?« »Ich bin es, Dunkel, den Funke dir vor fast fünfzig Millionen Jahren vorgestellt hat.« Ein Zögern, ein unerklärliches Gefühl wie von untröstlicher Traurigkeit kam über ihn. »Ich habe dich im sechsten gesucht«, sprudelte er hervor, »doch ich erwartete nicht, dich hier zu finden, allein und ohne Licht.« »Ich bin des Sehens müde, mein Sohn. Ich habe zu lange gelebt. Ich bin des Denkens und Sehens müde. Ich bin traurig.« Dunkel verharrte bewegungslos und wagte kaum, die seltsamen Gedanken dieses unglaublichen Alten zu unterbrechen. Schüchtern brachte er vor: »Es ist nur… ich bin des Spielens müde, Oldster, und des Nichtstuns. Ich möchte etwas Nützliches vollbringen. Deswegen bin ich zu dir gekommen, um dir drei Fragen zu stellen, deren Antworten ich wissen muß.« Oldster bewegte sich unruhig. »Stell deine Fragen.« »Es geht um das Leben.« Oldsters Besucher zögerte nervös und fuhr dann fort: »Es hat einen Sinn, das weiß ich, und ich möchte diesen Sinn kennen. Das ist meine erste Frage.«
»Aber warum, Dunkel? Wieso glaubst du denn, daß das Leben wirklich einen Sinn hat, einen letzten Sinn?« »Ich weiß nicht«, war die Antwort. Und zum erstenmal wurde sich Dunkel erschrocken klar, daß er es wirklich nicht wußte! »Aber es muß einen Sinn geben!« rief er. »Wie kannst du sagen ›muß‹? Oh, Dunkel, du hast das Leben in Kleider gesteckt, die viel zu prächtig für seinen gewöhnlichen Charakter sind! Du hast ihm den geheiligten Aspekt einer Bedeutung gegeben! Es hat keine Bedeutung, hat keinen Sinn. Irgendwann hat der Lebensfunke eine gewöhnliche Energieballung mit dem Bewußtsein ihrer Existenz versehen. Davon stammen wir durch einen obskuren Prozeß der Evolution ab. Das ist alles. Wir sind geboren. Wir leben und wachsen, und dann sterben wir! Danach ist nichts! Nichts!« Dunkel durchfuhr ein heftiges empörtes Schaudern. Doch seine Gedanken waren ruhig und angespannt. »Ich kann das nicht glauben! Du willst mich doch glauben machen, das Leben sei nur für den Tod bestimmt. Warum – warum, wenn das so wäre, warum sollte es Leben geben? Nein, Oldster! Ich spüre, daß es etwas geben muß, was mein Dasein rechtfertigt.« War es nachsichtiges Verständnis, was jetzt in Oldsters Gedanken mitschwang? »Du wirst mir niemals glauben. Ich wußte es. All meine Erfahrung und Weisheit könnte dich nicht ändern, und vielleicht ist es gut so. Und doch, vielleicht wirst du ein Leben lang brauchen, um das zu lernen, was ich dir gesagt habe.« Seine Gedanken zogen sich zurück und kamen dann wieder. »Deine anderen Fragen, Dunkel.« Dunkel antwortete lange nicht. Er war nahe daran, Oldster zu verlassen und in seiner eigenen Erfahrung die Lösung der anderen Probleme zu suchen. Einen Augenblick lang war sein Groll heißer als eine Zwergsonne. Doch dann verflog er, und wenn er auch an der Weisheit, die Oldster für sich in Anspruch nahm, zu zweifeln begann, fuhr er doch mit seinen Fragen fort. »Welchen Sinn hat der purpurne Lichtball, der sich immer in meinem Zentrum befindet und stets zurückkehrt, wie weit ich ihn auch von mir schleudere?«
Von dem Alten kam eine solche Welle der Erregung und Traurigkeit zu ihm herüber, daß Dunkel schauderte. Oldster reagierte mit ungewohnter Heftigkeit. »Das muß ein Geheimnis bleiben! Ich werde es dir nicht sagen! Was hätte ich mir nicht alles ersparen können, hätte ich nicht die Lösung dieses Rätsels gesucht – und gefunden! Ich war ein Denker, Dunkel, wie du! Wenn es dir etwas bedeutet, Dunkel… komm, Dunkel« fuhr er eigentümlich erschüttert fort, »die verbleibende Frage.« Das heftige Vibrieren seiner Gedankenstrahlen verriet starke innere Erregung. Die Strahlen sammelten sich wieder bei Dunkel. »Ich kenne dein anderes Anliegen, Dunkel. Ich kenne es, kannte es, als Funke dich vor Äonen zum erstenmal zu mir brachte.« »Was ist hinter der Finsternis? Das hat dich seit deiner Erschaffung beschäftigt. Was liegt am Rande des lichtlosen Abschnitts, der unser Universum begrenzt?« »Ich weiß es nicht, Dunkel. Und auch sonst niemand.« »Aber du mußt doch glauben, daß es dort etwas gibt«, rief Dunkel. »Dunkel, in den ersten Anfängen unserer Rasse haben es Wesen deines Kalibers versucht – fünf davon noch in meiner Zeit vor Milliarden von Jahren. Jedoch sie kamen nie zurück. Sie verließen das Universum, warfen sich in jene schreckliche Leere, und kehrten niemals zurück.« »Wer sagt dir, daß sie nicht ein fremdes Universum erreicht haben?« fragte Dunkel atemlos. »Sie kamen nicht zurück«, antwortete Oldster schlicht. »Hätten sie den Zwischenraum überwinden können, dann wäre bestimmt der eine oder andere von ihnen zurückgekommen. Sie haben jenes Universum nie erreicht. Warum? Alle Energie, die sie für diese schwindelerregende Reise hatten ansammeln können, war erschöpft. Und sie lösten sich auf – starben – in der energielosen Leere der Finsternis.« »Es muß einen Weg dorthin geben!« sagte Dunkel heftig. »Es muß eine Möglichkeit geben, genügend Energie zu sammeln! Oldster, du zerstörst den Traum meines Lebens! Ich wollte immer schon hinüber. Ich möchte die Grenze der Finsternis finden. Ich möchte dort Leben finden – und vielleicht werde ich dann den Sinn allen Lebens finden!«
»Den Sinn -« begann Oldster mitleidig und hielt dann inne, weil er erkannt hatte, daß es sinnlos war, den Satz zu Ende zu führen. »Wie schade, daß du nicht wie die andern bist, Dunkel. Sie verstehen vielleicht, daß es ebenso sinnvoll ist, schlafend im siebten Band zu liegen, als das Rätsel der Finsternis zu ergründen. Sie sind wirklich glücklich, du bist es nicht. Stets, mein Sohn, überschätzt du den Wert des Lebens.« »Habe ich unrecht damit?« »Nein. Denke, wie du es für richtig hältst, und glaube an den hohen Wert des Lebens. Daran ist nichts Schlimmes. Träum deinen Traum eines großartigen Lebens, und träum deinen Traum eines anderen Universums. Selbst in der Bitternis des Scheiterns kann Freude liegen.« Wieder folgte ein langes Schweigen, und wieder begann das Feuer des Grolls in Dunkel zu schwelen. Dieses Mal konnte er es nicht ersticken. Es brannte mit lodernder Flamme. »Ich werde nicht träumen!« sagte Dunkel heftig. »Sobald meine Wahrnehmungsfähigkeit erwachte, fesselte mich die Finsternis, und meine neugeborenen Gedankenwindungen beschäftigten sich damit, und ich wußte: Es mußte etwas jenseits der Zone der Dunkelheit sein! Selbst wenn ich in dieser Leere zugrunde gehen sollte, ich muß dort hin!« In jähem Zorn versetzte er sich vom fünfzehnten in das erste Band, doch bevor er Zeit hatte, sich seiner Vortriebskraft zu bedienen, sah er, wie Oldster, eine gigantische Ansammlung reiner Lichtenergie, sich vor ihm materialisierte. »Halt, Dunkel!« sagte er, und seine Gedankenwellen verrieten seine innere Erregung. »Dunkel«, fuhr er fort, als das jüngere Energiegeschöpf wie gebannt auf ihn starrte, »ich hatte mir geschworen, nie wieder das Band der Lichtlosigkeit zu verlassen. Für einen Augenblick habe ich es dennoch getan, für – dich! Du wirst sterben. Du wirst dich in der Leere auflösen! Selbst wenn dies überhaupt möglich ist, mit der beschränkten Energiemenge, die du enthältst, wirst du sie niemals durchqueren können!« Er erfaßte Dunkels Gedankenwindungen mit starken Energiefeldern. »Dunkel, es gibt Wissen, über das ich verfüge. Empfange es!«
In höchster Verwunderung löschte Dunkel sein Bewußtsein. In raschem Fluß ging das angesammelte Wissen Oldsters in ihn über, eine gewaltige Woge des Wissens vom Raum, das nie ein anderes Wesen besessen hatte. Dann versiegte der Strom, und wie aus unendlich weiter Ferne kamen Oldsters Abschiedsworte: »Leb wohl, Dunkel! Nütze dein Wissen, nütze es zur Verwirklichung deines Traums. Nütze es zur Durchquerung der Finsternis.« Wieder bei vollem Bewußtsein, wußte Dunkel, daß Oldster sich in seiner vergeblichen Suche nach Frieden wieder ins fünfzehnte Band begeben hatte. Er hing in angespannter Bewegungslosigkeit im ersten Band und durchforschte das Wissen, das nun ihm gehörte. Als er die Bedeutung eines besonderen Teiles davon erkannte, ging ein Zittern durch ihn. In wilder Erregung flog er mit höchstmöglicher Geschwindigkeit zu seiner Mutter. Vor ihr hielt er an. »Mutter, ich werde in die Finsternis gehen!« Durch die entstehende Stille schwang ihre tiefe Besorgnis. »Ja, ich weiß. Schon bei deiner Geburt war es vorherbestimmt. Deswegen habe ich dich Dunkel genannt.« Eine Funkenentladung verriet ihren inneren Aufruhr. Ihr Blick war traurig und liebevoll. Sie sagte: »Leb wohl, Dunkel, mein Sohn!« Sie begann, sich von ihm zu entfernen, und bald war er allein. Der Gedanke war wie ein Messerstich. Er war allein – allein wie Oldster. Gegen die tiefe Bedrückung ankämpfend, die ihn zu überwältigen drohte, machte er sich langsam auf seinen Weg zum äußersten Ende des Universums, denn dort war der Sitz der Großen Energie. Achtlos trieb er durch die Sternsysteme, die strahlenden Bewohner des Kosmos, die in ewiger Ruhe auf ihren schwarzen Betten lagen. Er zog eine kleine Sonne in sich hinein und verwandelte sie in Energie für den langen Flug. Und plötzlich sah er in weiter Ferne die große Zahl seiner früheren Gefährten. Eine kalte Freude erfaßte ihn. Sie spielten! Narrheit von Kindern, Ziellosigkeit von Sternen!
Er steigerte seine Geschwindigkeit und ließ die vielen tausend Galaxien rasch hinter sich. Weiter beschleunigte sich sein Flug, und mit furchterregender Schnelligkeit raste er seinem Ziel entgegen.
Jenseits des Lichtes Selbst bei der ungeheueren Geschwindigkeit, die er schließlich erreicht hatte, dauerte die Durchquerung des Universums sieben Millionen Jahre. Jetzt war er in einer Galaxie, deren weit von einander entfernte Sonnen wie Lampen in der Dunkelheit hingen, sich selbst mit der vergleichsweise geringen Geschwindigkeit von mehreren tausend Meilen pro Sekunde ins Dunkel hinein bewegend. Sogleich fiel sein Blick auf einen riesigen Stern, einen Stern von so ungeheuren Dimensionen, daß Dunkel in einem unwillkürlichen Versuch, ihm gleichzukommen, sich auszudehnen begann. Die Masse des Sterns war so titanisch, daß er alle Arten von Lichtstrahlung mit Ausnahme des kurzwelligen Ultraviolett völlig in sich zurückzog. Er war heiß, eine unvorstellbare Materieverdichtung von einer Milliarde Meilen Durchmesser. Wie ein schlimmes, doch der Empfindung fähiges Ungeheuer hing er am Himmel, die kleinen Sonnen des Systems, die vielleicht seine Kinder waren, um ein Vielfaches überragend und alles mit dem ultravioletten Licht seiner brodelnden, zuckenden Oberfläche überflutend; und vermischt mit diesem Licht war Energiestrahlung von ungeheuerer Kraft, die sich schmerzlich in sein Gehirn fraß. Und noch eine andere Strahlung wirkte auf ihn ein, eine Energie, die, wenn er über ihre Quelle verfügte, seine Vortriebskraft in einem Maße verstärken würde, daß neben seiner Geschwindigkeit alles, was seine Rasse je in ihrer langen Geschichte erreicht hatte, verblassen würde! Die ihn mit so unvorstellbarem Tempo in die Finsternis schleudern würde, daß das Universum im winzigsten Bruchteil einer Sekunde hinter ihm verschwunden wäre! Doch wie aussichtslos schien der Versuch, sie diesem Giganten des Weltalls zu entreißen! Die Quelle dieser Energie, das wußte er mit absoluter Gewißheit, war Materie, Materie von so undenkbarer Dichte,
deren Elektronen bis zur gegenseitigen Berührung zusammengepreßt sein mußten, daß selbst die Millionen Hitzegrade dieses geschmolzenen Sterns sie nicht zerstören konnten! Er fuhr einige Millionen Meilen zurück und starrte den Stern an. Plötzlich verspürte er Angst, kalte Angst. Er fühlte, daß diese Sonne belebt war, daß sie von seinem Hiersein wußte, daß sie bereit war, seinen mitleiderregenden Attacken zu begegnen. Und wie zur Steigerung seiner Furcht spürte er Strahlen von so intensiver Abstoßungskraft, von so aktiver, schmerzhafter Bösartigkeit, daß er fast sein wahnwitziges Vorhaben, sie zu spalten, aufgeben wollte. »Ich habe schon früher Sonnen aufgefressen«, sagte er, als wollte er in ein Streitgespräch mit sich selbst eintreten. »Zumindest kann ich diese hier aufreißen und mir das Stückchen von dem herausholen, was sie in ihrem Inneren birgt.« Er nahm so viele der umliegenden Sonnen in sich auf wie möglich, und verwandelte sie in reine Energie. Schließlich hielt er inne, denn sein Körper, ein gigantisches System schwirrender Energiefelder im Durchmesser von sechzig Millionen Meilen, konnte nicht mehr verkraften. Dann stürzte er sich mit all der Beschleunigung, die er aufbringen konnte, geradewegs auf das Ungetüm. Er wuchs und dehnte sich, füllte den Himmel aus, bis er schließlich nichts anderes mehr sehen konnte. Er näherte sich seiner Oberfläche. Strahlen schrecklicher Intensität drangen auf ihn ein und trafen ihn wie Peitschenhiebe, daß er sich schmerzlich zusammenkrampfte. Mit ungeheurer Geschwindigkeit traf er auf die wogende Oberfläche, und – schlug eine kleine Beule von einigen Millionen Meilen Tiefe hinein. Er versuchte, sich weiter voranzuarbeiten, doch stießen ihn Ströme von Energie zurück, schleuderten ihn fort von dem Stern. Er stoppte seinen Rückwärtsflug, bekämpfte seinen Schmerz und warf sich erneut auf den Stern. Auf unheimliche Weise einem Lebewesen ähnelnd, stieß der ihn zurück. Wieder und wieder unternahm er seinen martervollen Angriff, um ebenso oft zurückgeworfen zu werden.
Diese abstoßende Strahlung, die in direktem Gegensatz zum offensichtlich gewaltigen Gravitationsfeld des Sterns zu wirken schien, konnte er sich nicht erklären und versuchte es auch nicht. Der Raum barg Rätsel, die selbst Oldster nicht hatte lösen können. Ein neues Gefühl der Ehrfurcht hatte von ihm Besitz ergriffen. Erschöpft und bebend hing er im All. Fast wie ein lebendes Wesen, dachte er und wandte dann eine neue Taktik an. Gegen den Giganten anrennend, streifte dann in riesigen Spiralen über und durch seine Oberfläche, bis er sie völlig von den brennend umherschießenden Gasen befreit hatte. Bevor der Stern seine Oberfläche wieder auffüllen konnte, durchfuhr er sie wieder, bis er den abstoßenden Kräften und der auf ihn eindringenden Strahlung nicht länger widerstehen konnte. Der Stern hatte nunmehr ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe verloren. Dunkel, der kaum noch an sich halten konnte, zog sich ein wenig zurück und ließ überschüssige Energie ab. Dann kam er zu dem Stern zurück. Wogende Wellen reinen Lichtes schlugen über ihm zusammen. Wieder und wieder schossen Eruptionen zerplatzender Materie hinaus in den Raum. Dunkel begann erneut. Er beschleunigte, traf auf, bohrte Millionen von Meilen tief und wurde mit sich steigernder Geschwindigkeit zurückgeschleudert. Endlich begriff Dunkel, daß seine Taktik sich letztlich als sinnlos erweisen würde. Sein Blick schweifte umher und verharrte auf einer dichten, rötlich glühenden Sonne. Einen Augenblick lang schien sie ihm ohne Bedeutung zu sein, doch dann kam ihm die Erkenntnis; er wußte, daß hier die Lösung lag. Er nahm den sterbenden Stern von seinem Platz, schwang ihn in riesigen Kreisen am Ende eines Anziehungsstrahles und schleuderte ihn dann mit äußerster Kraftanstrengung auf den gigantischen Stern. Voll Ingrimm sah er zu, wie die kleinere Sonne auf ihren Verwandten zustürzte. Näher, näher, und dann – stießen sie zusammen! Eine titanische Explosion zerriß den Raum, sandte Welle auf Welle kosmischer Strahlung aus, schuf ein Inferno giftiger, rasender Flammen, die weit in den Raum hinausschossen. Die Oberfläche der mächtigen Sonne spaltete sich wie ein weißglühender gähnender Schlund.
Dunkels Antrieb ging auf volle Kraft und beförderte ihn in die schreckliche Höhlung, bis er ihren Rand weit hinter sich gelassen hatte und zum Mittelpunkt des Sterns kam, wo die Materie lag, die die Quelle der Großen Energie war. Für ihn war sie unsichtbar, nur ein leerer Raum des Nichts, da keinerlei Lichtwellen ihn verlassen konnten. Dunkel nahm diese Sphäre des Nichts in sich auf, doch im selben Augenblick fielen die beiden Hälften des Riesensternes zusammen und nahmen ihn in ihrem Inneren gefangen. Diese Möglichkeit hatte er eingerechnet. Seine Kraft konzentrierend, verschlang er einen winzigen Teil der Oberfläche der Sphäre. Die Verwandlung war erstaunlich. Er fühlte in sich unendliche Kraft; nichts würde ihm widerstehen können. Langsam, unerbittlich, begann er sich auszudehnen. Der Stern konnte ihn nicht aufhalten; er gab nach. Große, klaffende Sprünge öffneten sich, die blendendes Licht und sengende Hitze entließen. Ständig weiter anwachsend, arbeitete sich Dunkel nach außen. Die Sphäre der Großen Energie in seinem Besitz, die nicht mehr als zehn Millionen Meilen maß, fuhr er fort, sich auszudehnen. Eine furchtbare Explosion bösartiger Energie erfaßte ihn; Millionen Meilen lange Sprünge öffneten sich, kosmische Entladungen reiner Energie flammten auf. Dann gab die Masse des Giganten so widerstandslos nach, daß Dunkel sie in mehrere Teile zersplitterte, ohne es zu merken. Dann wurde er gewahr, daß er sich inmitten tausender großer und kleiner Trümmer des Sternes befand, die in allen Richtungen von ihm wegschossen und neue Sonnen bildeten, die ihre eigenen Kreisbahnen einschlagen würden. Er hatte gesiegt. Er verharrte bewegungslos, die Sphäre der Großen Energie und die mystische Kugel des purpurnen Lichtes fest in seinem Zentrum haltend. Sein Blick glitt hinüber zur Zone der Finsternis und verweilte voll Faszination auf ihr. Schließlich potenzierte er seine Vortriebskraft mit der namenlosen Großen Energie, und ohne noch einmal auf die Welt zurückzublicken, in der er geboren war, stürzte er sich in den schwarzen Abgrund.
Alles Licht, mit Ausnahme dessen, das von ihm selbst ausging, verschwand. Von allen Seiten umgab ihn die Endlosigkeit des leeren Raumes. Verzückung, gepaart mit dem Bewußtsein des Besitzes unendlicher Kraft, erfaßte seine Gedanken. Seine Beschleunigung war weit vom Maximum entfernt, und dennoch hatte er in einem nach seinem Zeitbegriff kurzen Augenblick Milliarden von Lichtjahren zurückgelegt. Finsternis vor ihm und Finsternis hinter ihm und Finsternis um ihn herum – das war sein Traum gewesen. Sein ganzes Leben lang war es sein Traum gewesen, selbst während jener ungeformten Jahre, die er, Oldsters Ermahnung gehorchend, mit Spiel verbracht hatte. Immer hatte ihn der Gedanke beschäftigt – was liegt am anderen Ende der Dunkelheit? Nun war er in der Dunkelheit, und eine noch nie gekannte Freude überkam ihn. Er war auf dem Weg! Würde er ein anderes Universum finden, ein Universum, welches dieselbe Art von Leben hervorgebracht haben würde wie das, aus dem er kam? Eine andere Möglichkeit konnte er sich nicht vorstellen. Seine Beschleunigung war unfaßbar! Gleichwohl wußte er, daß er nur ein Minimum an Kraft einsetzte. Er begann etwas zuzulegen und steigerte selbst die enorme Geschwindigkeit, die er bereits erreicht hatte, im Handumdrehen. Wo lag dieses andere Universum? Er konnte es nicht wissen, und er hatte sich beim Verlassen seiner eigenen Welt auf keine bestimmte Richtung festgelegt. Es gab dafür keinen Anhaltspunkt. Jegliche Bahn, die in diese Zonen der Finsternis führte, konnte ihn zu diesem anderen Universum bringen… Es dauerte eine Million Jahre, bis der Überschwang seiner Gefühle nachließ. Dann kamen ihm andere Gedanken. Er begann, eine schreckliche Furcht zu verspüren, eine Furcht, die wuchs, je weiter er sich von seiner eigenen Welt entfernte. Mit einer Geschwindigkeit, deren Erreichbarkeit er jetzt begriff und die doch seine Vorstellungskraft bei weitem überstieg, raste er in eine Dunkelheit, deren Durchquerung nur wenige vor ihm zu versuchen gewagt hatten und alle mußten gescheitert sein. Und – er war allein! Allein! Ihm war, als packte ihn eine eisige Hand. Nie war er sich über die wahre Bedeutung dieses Wortes im klaren
gewesen. Keiner seiner Freunde war in der Nähe, auch nicht seine Mutter, auch nicht der weise Oldster – im Umkreis von unzähligen Licht-Jahrhunderten gab es kein lebendes Wesen. Er war das einzige Leben in der Leere! So grübelte er fast genau neunzig Millionen Jahre, zuerst über das Leben, dann über die Grenze der Dunkelheit und schließlich über das geheimnisvolle Energiefeld, das sich für immer in seinem Herzen befand. Auf zwei dieser Fragen fand er eine Antwort, und vielleicht zuletzt auch noch auf die dritte. Ohne Unterlaß, in jedem Sekundenbruchteil seiner Reise, sondierte er auf der Suche nach dem Universum, an das er glaubte, das Hunderte von Lichtjahren vor ihm lag; doch er fand nur eine Finsternis, die so dicht war, daß sie Masse zu besitzen schien. Die Monotonie fing an, schmerzlich zu werden. Eine ungeheure Einsamkeit begann an ihm zu nagen. Er wollte irgend etwas tun, sogar spielen, oder riesige Sterne zu Planeten zersplittern. Doch es gab nur einen Ausweg aus dem fantastischen Schrecken seines endlosen dunklen Pfades. Von Zeit zu Zeit erfaßte er den Lichtball mit einem Anziehungsstrahl und schleuderte ihn mit ungeheurer Geschwindigkeit in den Vorhang der Finsternis, der sich hinter ihm breitete. Der erhaltene Schwung riß die Lichtkugel fort, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Doch kehrte sie stets zu ihm zurück, durch Bande unsichtbarer Energie an ihn gefesselt, und wenn Millionen von Jahren darüber vergehen mochten. Sie war ein Teil von ihm, doch gab sie ihr Geheimnis nicht preis und würde ihn nie verlassen, bis sie vielleicht von selbst ihren wirklichen Sinn enthüllte. Unendlich viele Lichtjahre lagen hinter ihm, so viele, daß es zu ihrer Aufzeichnung eines Papiers von der Größe des Weltalls bedurft hätte. Achtzig Millionen Jahre waren vergangen. Als er sich in den leeren Raum begab, welchem er seinen Namen verdankte, war Dunkel noch nicht so alt gewesen. Die Angst, daß er sich getäuscht haben könnte, machte sich in seinen Gedanken breit. Doch wußte er, daß er niemals zurückkehren würde. Lange bevor das neunundachtzigmillionste Jahr begann, hatte er sämtliche Möglichkeiten der Zerstreuung erschöpft. Manchmal hatte er
sich zu unglaublichen Dimensionen ausgedehnt oder verkleinert. Manchmal machte er automatisch die Bewegungen, die zu einer Durchquerung der siebenundvierzig Bänder erforderlich waren. Er spürte den Stoß in seinem Bewußtsein, der ihm sagte, daß er in den Hyper-Raum gelangt wäre, hätte es ihn in der Finsternis gegeben. Doch wie konnte es verschiedene Arten von Finsternis geben? Daß HyperRaum hier möglich war, bezweifelte er stark, denn nur Materie konnte die dimensionalen Störungen verursachen, welche stellenweise in seinem Universum auftraten. Doch mit dem neunundachtzigmillionsten Jahr kam das Ende seiner Pilgerfahrt. Es kam plötzlich. Für ganz kurze Zeit konnte er einen Lichtstrom wahrnehmen, Licht, das die äußere Spur eines Himmelskörpers war. Dunkels Körper, fünfzig Millionen Meilen im Umfang, zog sich unbewußt zu halber Größe zusammen. Energie strömte zusammen und bildete geschmolzene Kugeln flammender Materie, welche im momentanen Aufruhr seiner Gefühle von ihm fortschossen. Eine Welle schaudernder Dankbarkeit schüttelte ihn, und seine Gedanken schwelgten in den Windungen seines Gedächtnisses. »Oldster, Oldster, wenn dein großer Geist nur dies ahnen könnte…« Unkontrolliert sich ausdehnend und zusammenziehend raste er weiter, wobei er große Mengen Energie aus der dichten Materie in seiner Mitte zog und sie in Vortriebskraft verwandelte, welche ihn mit einer Geschwindigkeit, die mehr als undenkbar war, dem Universum entgegenjagte, aus welchem jener lichtspendende Körper gekommen war.
Die farbigen Kugeln Im neunzigmillionsten Jahr nahm er einen schwachen Lichtpunkt wahr. Während er weiterraste, wuchs dieser Punkt, dehnte sich aus, teilte sich auf in kleinere Lichter, die sich ihrerseits in ihre Bestandteile auflösten – bis schließlich an die Stelle der Finsternis ein blendend helles, strahlend schönes, eiförmiges Universum getreten war.
Die Dunkelheit la'g hinter ihm; er hatte ihre Grenze entdeckt. Instinktiv nahm er seine Geschwindigkeit auf einen Bruchteil zurück; dann verließ ihn das Bewußtsein, als sei ein mächtigerer Wille als der seine über ihn gekommen, und so flog er mit gleichförmiger Geschwindigkeit durch die Randgebiete der äußeren Galaxie, durch sie selbst, durch ihre Schwestern, bis er sich endlich im Herzen jenes fremden galaktischen Systems befand. Er ging auf eine Erkundungsfahrt und flog von Stern zu Stern, riß einige von ihnen mutwillig auseinander, wie wenn ein jegliches ihrer Atome ihm allein gehörte. Die Sternsysteme, die Sonnen, jedes einzelne Konstruktionselement, alles entsprach genau dem Bekannten. Die Natur, so schloß er, war vermutlich überall gleich, in diesem Universum wie in seinem eigenen. Doch gab es Leben? Eine plötzliche Unruhe überkam ihn. Er fühlte sich unglücklich und unbefriedigt. Er sah sich unter den Sternen um: Da gab es Riesen, hellodernde Zwerge, abgekühlte schwarze Materiehaufen, unheimlich aussehende Aschenklumpen, wild wogende intergalaktische Nebel, welche im Verlauf von Tausenden von Jahren seltsame, manchmal geradezu schöne Formen annahmen. Er, Dunkel, war zu ihnen gekommen, er hatte die endlose Zone des Nichts durchquert; für sie aber schien seine unglaubliche Leistung keinen Sinn zu haben, sie liefen weiter auf ihren Bahnen und wußten nichts von ihm. Plötzlich kam er sich klein und bedeutungslos vor. Gedanken wie diese schienen das Gegenteil von Vernunft zu sein, und doch hatte er sie – er konnte sie nicht abschütteln. Mit einem wachsenden Gefühl der Desillusionierung trieb er durch die zahllosen Galaxien und Nebel, die sich vor ihm öffneten – auf der Suche nach Leben. Und sein Einsatz wurde belohnt. Aus weiter, weiter Entfernung erreichte ihn ein pulsierender Fluß von Lebensenergie. Er näherte sich ihrem Ursprung, dreißig oder vierzig Lichtjahre weit, und kam dann zum Stillstand. Das Wesen war ein Grünlicht, gehörte zu einer der beiden Klassen von Leben, die Dunkel kannte. Er selbst war ein Purpurlicht; in seinem Herzen besaß er einen Ball reinen Lichtes, dessen Sinn seit jeher eines der großen Probleme seines Daseins gewesen war.
Als die grüne Sphäre seiner ansichtig wurde, hielt sie inne. Sie starrten einander an. Schließlich sprach sie, und aus ihrer Stimme klang Verwunderung und Zweifel. »Wer bist du? Du wirkst – fremd.« »Du wirst es mir wohl nicht glauben«, erwiderte Dunkel, von einem seltsamen, unbekannten Gefühl gepackt, dessen Ursache nicht nur darin liegen konnte, daß er mit einem Wesen aus einer anderen Welt sprach. »Aber ich bin wirklich fremd. Ich gehöre nicht in dieses Universum.« »Aber das ist doch nicht möglich. Vielleicht kommst du aus einem anderen Raum, jenseits des siebenundvierzigsten. Doch das ist noch unmöglicher!« Sie betrachtete ihn mit wachsender Verwirrung und Scheu. »Ich bin nicht aus einem anderen Raum«, sagte Dunkel schwermütig. »Ich komme aus einem anderen Universum jenseits der Finsternis.« »Von jenseits der Finsternis?« fragte die grüne Sphäre und zog sich unwillkürlich zusammen. Ihre Blicke richteten sich jäh auf die Zone der Dunkelheit. Lange, lange Zeit starrte sie dorthin, um sich dann wieder Dunkel zuzuwenden. »Du hast also die Finsternis durchmessen«, flüsterte sie. »Man hat mir immer gesagt, es sei der unerfüllbarste aller Träume, diese schreckliche Zone der Lichtlosigkeit zu durchmessen. Niemand, so hieß es, kann sie durchqueren, denn auf der anderen Seite ist nichts. Ich aber habe es nie geglaubt, Purpurlicht, ich konnte es nicht glauben. Und es gab Zeiten, da war es mein sehnlichster Wunsch, sie selbst zu durchqueren. Doch man erzählte Geschichten von Wesen, die sich hineingewagt hatten, und niemals zurückkamen… Und du bist hindurchgelangt!« Ein Schauer kristalliner Funken stob in den Raum. So heftig war die durch die Gedankenwellen übermittelte Heldenverehrung, daß sie Dunkel fast verwirrte. Und plötzlich verstand er die nie vorher erlebten Gefühle, die ihn ergriffen hatten, sobald das Grünlicht zu ihm sprach. »Grünlicht, ich habe eine unvorstellbare Entfernung zurückgelegt, um das Rätsel der Dunkelheit zu lösen. Doch vielleicht war es etwas anderes, was ich suchte, etwas, das eine Leere in mir erfüllen kann. Jetzt weiß ich,
was es war. Eine Gefährtin, Grünlicht, eine Denkerin. Und du bist diese Denkerin, diese Freundin, die mit mir meinen Weg geht von Universum zu Universum, und all ihren Rätseln nachspürt. Sieh her! Die Große Energie, die es mir allein ermöglicht hat, die Dunkelheit zu durchqueren, ist kaum angegriffen!« Ein wenig, fast unmerklich, zuckte die grüne Sphäre zurück. In ihren Gedanken war eine unerklärliche Scheu, die sich mit Betrübnis zu mischen schien. »Du bist eine Denkerin«, rief er aus. »Willst du mit mir kommen?« Die grüne Sphäre starrte ihn an, und er spürte, daß hier eine natürliche Weisheit war, die zu erreichen er niemals hoffen durfte. Ein seltsamer Schock durchfuhr ihn. Was sagte sie da zu ihm? »Dunkel«, sagte sie sanft, »du als Purpurlicht wirst gut daran tun, dich von mir zu wenden und mich für immer zu verlassen. Du bist ein Purpurlicht, ich ein grünes. Grünlicht und Purpurlicht – ist das alles, was du über die zwei Arten von Leben herausgefunden hast? Dann mußt du wissen, daß neben dem Unterschied der Farben noch ein anderer besteht: Die Grünen besitzen ein Wissen, das den Purpurnen nicht anvertraut wird, bis es… zu spät ist. So bitte ich dich denn um deiner selbst willen, mich für immer zu verlassen.« Verwirrt sah er das Grünlicht an. Dann sagte er langsam: »Nun, da ich dich gefunden habe, ist das ein unmögliches Verlangen. Du bist es, was ich brauche.« »Aber verstehst du denn nicht?« rief die grüne Sphäre. »Ich weiß etwas, was du auch nicht im entferntesten ahnst! Dunkel – verlasse mich!« Verwunderung ergriff ihn. Was hatte das zu bedeuten? Was war dieses Wissen, das er nicht kannte? Einen Augenblick lang zögerte er. Eine Stimme tief in seinem Innern bat ihn zu tun, was man von ihm verlangte, und zwar schnell. Aber eine andere Stimme, die eines stärker werdenden Gefühls, das er nicht nennen konnte, bat ihn zu bleiben; denn die grüne Sphäre war sein Gegenpol, seine andere Hälfte, die ihn vervollständigen würde. Und die zweite Stimme war stärker.
»Ich werde nicht gehen«, sagte er mit Bestimmtheit, und die Kraft seiner Gedanken ließ keinen Zweifel über die Unerschütterlichkeit seines Entschlusses. Die grüne Sphäre sprach leise, als hätte ein fremder Wille Gewalt über sie gewonnen. »Nein, Dunkel, jetzt wirst du nicht mehr gehen; es ist zu spät! Erfahre das Geheimnis des purpurnen Balles!« Plötzlich war sie auf dem Weg zu einem Hyper-Raum, und alle seine Ängste und Zweifel waren vergangen, als sie entschwand. Entzückt folgte er ihr durch die verschiedenen Zonen, und jedesmal, wenn er in ein Band eintrat, verließ sie es gerade am anderen Ende. Und so kamen sie zum siebenundvierzigsten, wo alle Materie, ihre größten und kleinsten Teile, die unveränderliche Form von Kuben annahm; sogar er selbst und die grüne Sphäre erschienen wie Kuben, gigantische Würfel von Millionen von Meilen Seitenlänge, geometrische Figuren, die nichts und niemand verändern konnte. Dunkel sah sie erwartungsvoll an. Würde sie nun beginnen, Stücke aus diesen kubischen Sonnen zu schlagen, um sie dann als Planeten herumzuschwingen? Nun, er war gewillt, für eine Weile das Spiel mitzuspielen; dann aber mußten sie daran gehen, nach möglichen galaktischen Systemen jenseits von diesem zu forschen. Während er sie ansah, entschwand sie seinen Blicken. »Hm, vermutlich nach unten zurückgekehrt«, dachte Dunkel und ließ sich in die tieferen Bänder fallen. Er fand sie in keinem. »Dunkel… versuch's… im achtundvierzigsten…« Er konnte ihre Gedanken schwach wahrnehmen. »Das achtundvierzigste!« rief er erstaunt. Siedend heiß durchfuhr es seine Gedankenwindungen, als würde alles Wissen, das er im Lauf seines Lebens angesammelt hatte, umstrukturiert, um sich einem neuen Stand der Dinge anzupassen – eine seltsame Alchimie des Geistes, durch die er zu der Erkenntnis gelangte, daß es tatsächlich ein achtundvierzigstes gab. Nun wußte er, daß es ein achtundvierzigstes gab, und er hatte es immer gewußt. Er versetzte sich dorthin. Das Energiepotential um ihn herum stieg an. Es war eine eigenartige Energie, welche ihn nachdrücklich an
den pulsierenden Strahlungsfluß eines sich ihm nähernden Energiegeschöpfes erinnerte. Er suchte nach dem grünen Licht. Düster und doch mit seltsam abgeklärter Arroganz sah sie ihn an. Plötzlich durchlief ihn die eisige Ahnung, daß ihm Schreckliches bevorstand. »Hier bin ich noch nie gewesen«, flüsterte er schwach. Er glaubte Mitleid bei ihr zu entdecken, doch wurde es überdeckt durch das Gefühl, daß sie unter dem Einfluß eines fremden Willens stand, dem jegliches Mitleid fremd sein mußte. Dennoch sagte sie: »Ich bin betrübter als jemals zuvor. Aber es ist jetzt zu spät. Du bist mein Lebensgefährte, und dies ist das Band des – Lebens!« Unvermittelt wich sie zurück, und er konnte ihr nur noch mit seinen Blicken folgen. Schnell, als hätte ihn ein Hypnotiseur seiner Wahrnehmungsfähigkeit beraubt, entschwand sie seinem Blick, und alles, was er noch von ihr sah, war das grüne Licht, das sie trug. Er sah nichts anderes, wußte nichts anderes mehr. Es wurde seine ganze Welt, sein ganzes Leben. Ein Friede, dessen Vollkommenheit kein eitles Streben störte, erfüllte ihn. Der grüne Lichtball verdunkelte sich, wurde kleiner, bis er winziger als ein Stecknadelkopf, umgeben von einer Unendlichkeit farbloser transparenter Energie. So plötzlich, daß es einem Schock gleichkam, erwachte er aus seiner Betäubung und kam wieder zu Bewußtsein. Noch sah er in weiter Ferne den grünen Lichtball, doch wurde er größer, näherte sich – näherte sich einem purpurroten Lichtball, der seinerseits mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zuraste. »Es ist mein eigenes Licht«, sagte er sich erstaunt. »Ich muß es unabsichtlich fortgeschleudert haben, als sie diesen hypnotischen Einfluß auf mich gewann. Macht nichts. Es wird zurückkommen.« Doch würde es das wirklich tun? Der grüne Lichtball nahm an scheinbarer Größe zu, näherte sich dem purpurnen, der sich seinerseits mit zunehmender Schnelligkeit auf ihn zu bewegte.
Auf diese Weise, dachte er erschreckt, werden sie zusammenstoßen. Und wie soll mein Licht dann wieder zu mir kommen? Gebannt sah er zu, während ein intensives Gefühl der Kälte sich seiner bemächtigte. Näher… näher. Er zuckte zusammen. Der grüne Ball und der purpurne waren zusammengeprallt. Sie trafen sich in einem blendenden Crescendo der Helligkeit, das den Raum über Lichtjahre hinweg erhellte. Ein riesiger Lichtnebel ballte sich zu einer Sphäre, in deren Zentrum sich ein strahlendes Rund befand. Der Lichtnebel wurde langsam schwächer, bis er aufgegangen war in dem helleren Leuchten, das ebenso bewegungslos verharrte wie Dunkel selbst. Dann fing es an, mit seltsamer, rhythmischer Regelmäßigkeit zu pulsieren. Irgend etwas an dieser pulsierenden Bewegung erweckte alte Erinnerungen, etwas das sagte: »Auch du warst einst nicht mehr als dieser pulsierende Ball.« Gedanken, deren Tragweite ihm ungeheuerlich schien, überschlugen sich in seinem Geist. Dieser Ball ist das Leben, wußte er plötzlich. Die grüne Sphäre und ich haben Leben geschaffen. Das meinte sie, als sie sagte, daß dies das Band des Lebens sei. Hier gibt es schöpferische Energie im Überfluß. Das ist das Geheimnis des purpurnen Balles; zusammen mit dem grünen Ball schafft er Leben. Und ich hatte nichts von dem achtundvierzigsten Band gewußt, bis sie es mir zeigte! Der Sinn des Lebens – Leben zu schaffen. Der Gedanke daran griff wie Feuer um sich. Für einen kurzen, berauschenden Augenblick glaubte er, das letzte und schwierigste seiner großen Probleme gelöst zu haben. Doch wie in allen seinen Momenten der Verzückung folgte auch hier rasch Ernüchterung. Wozu sollte das gut sein! Der Prozeß ging weiter und weiter, und was kam dabei heraus! Die Erschaffung von Leben der einzige Zweck des Lebens! Ein sinnloser Kreislauf! Oldsters Worte fielen ihm ein, und Schauder überkam ihn. »Leben, mein Leben«, flüsterte er dumpf. »Eine tote Sonne und Leben – eins so bedeutsam wie das andere. Das ist unglaublich!« brach es aus ihm hervor.
Er bemerkte, daß die grüne Sphäre näherkam; ja, sie besaß ein zentrales Licht, und seines war fort! Betrübt schaute sie ihn an. »Dunkel, ich wollte, du hättest auf mich gehört!« Dunkels Blick war leer. »Wie kommt es, daß du ein Licht hast, und ich hab keins?« »Wer immer uns auch geschaffen hat – er hat uns die Fähigkeit verliehen, unser Licht dreimal zu erneuern. Jede Verschmelzung grünen und purpurnen Lichts kann zur Erschaffung eines oder mehrerer Neugeborener führen. Ihre Anzahl ist aber größer als die der gestorbenen. Wenn mein viertes Licht erloschen ist – und eines Tages wird das der Fall sein – dann weiß ich, daß auch ich sterben werde.« »Du meinst, ich werde – sterben?« »Bald.« Dunkel erschrak, hin- und hergerissen zwischen blinder Wut und lähmender Resignation. »Überall ist Tod«, flüsterte er, »und alles ist nichtig!« »Vielleicht«, sagte sie leise, und ihre Schwermut wirkte nachhaltig auf ihn. »Dunkel, sei nicht traurig. Ja, der Tod kommt zu allen, aber das heißt nicht, daß das Leben nichts zu bedeuten hätte. Vor langer, langer Zeit, in der Urepoche unserer Art, waren wir jämmerliche winzige Energieklümpchen, die mit weniger als Lichtgeschwindigkeit dahinkrochen. Ein Energiegeschöpf jener Zeit wußte nichts von den Bändern des Hyper-Raums außer dem ersten und dem achtundvierzigsten. Die Existenz der anderen konnte es sich nicht vorstellen. Es besaß elementare Möglichkeiten der Energieabsorption für seine Lebensbedürfnisse, war aber ansonsten unwissend. Unzählige Milliarden Jahre lang ahnte es nicht, daß das Universum eine Grenze hat. Das überstieg seine Vorstellungskraft. Es war schwach, doch seine Stärke wuchs. Langsam entwickelte es sich und seine Intelligenz. Stets entdeckte es aufs neue Dinge, die es vordem für undenkbar gehalten hatte, und auch jetzt noch gibt es Dinge, die unsere begriffliche Kraft übersteigen; eines davon ist das Ende allen Raumes. Und das
größte davon ist der Ursprung des Lebens. Beides übersteigt unsere Vorstellungskraft; indessen wird die Entwicklung unserer geistigen Kräfte uns mit der Zeit diese Erkenntnisse ermöglichen, so wie wir bereits die Existenz von Hyper-Raum und anderen Dingen verstanden haben. Undeutlich und dunkel vermag ich schon jetzt einige Gründe zu ahnen, doch kann ich sie nicht in Begriffe fassen. Eines ist freilich gewiß. Jedwede Materie ist dazu bestimmt, letztendlich bis zu einem unveränderlichen Zustand maximaler Entropie zu zerfallen; das Leben, und nur das Leben allein baut auf, strebt nach Höherem. Verzweifle denn nicht – fasse Mut!« Sie war verschwunden; sie hatte ihm allen Trost gegeben, dessen sie fähig war. Ihre Worte erfüllten Dunkel mit dem wilden Feuer der Hoffnung. Das war die Antwort! Mochte sie noch so vage und vieldeutig sein, näher konnte man nicht an die Lösung der Rätsel gelangen. Einen Augenblick lang durchströmte ihn selig der Gedanke, auch die letzte seiner Fragen sei nunmehr geklärt. Und dann war mit einem Mal die Philosophie der grünen Sphäre aus seinem Gedächtnis verschwunden, als hätte er nie von ihr gehört. Eine große lähmende Müdigkeit legte sich lastend auf ihn, und ihm war, als verflüchtigten sich seine Lebensenergien mehr und mehr. In verzweifelter Anstrengung sammelte er alle seine Gedanken auf ein einziges Ziel. Mit schwindenden Kräften verließ er das schicksalhafte Band des Lebens… und des Todes. Etwas Undefinierbares, vielleicht eine Erinnerung an seine Geburt, ließ ihn ganz kurze Zeit im siebzehnten Band verharren. In weiter Ferne sah er die grüne Sphäre und ihr Neugeborenes. Sie hatten das höchste Band verlassen und waren zu demjenigen gelangt, wo keine Vortriebskraft mehr wirkte. So war es auch bei seiner eigenen Geburt gewesen. Er setzte sich wieder in Bewegung und erreichte das wirkliche Band, flog langsam weiter durch die Sternenhaufen dieses Universums, dessen Rand er schließlich erreichte. Und weiter glitt er, hinein in die Dunkelheit, bis Hunderte von Lichtjahren ihn von einem Universum trennten, von dessen Vorhandensein man dort, wo er geboren war, kaum etwas ahnte.
Auflösung Er unterbrach seinen Flug und blickte zurück auf den linsenförmigen Nebel schwach strahlenden Lichts. Den Rand der Finsternis habe ich nicht gefunden, dachte er. Sie erstreckt sich überall und umgibt alles. Jenes galaktische System und mein eigenes sind nichts als Stecknadelköpfe des Lichts, die sich, weit von einander entfernt, auf einem unendlich großen, ebenholzschwarzen Tuch befinden; so klein sind sie in der Dunkelheit, daß sie kaum die eine Dimension des Daseins besitzen! Langsam, müde verfolgte er weiter seinen Weg, als ob die Kraft seines Vortriebs beständig nachließe. Verzweifelt suchte er, die große Geschwindigkeit zu erreichen, die ihm bei seiner ersten Durchquerung der lichtlosen Zone möglich gewesen war. Es kam ein Moment, da jenes Universum, jener Stecknadelkopf, für ihn nur noch die Ausmaße eines winzigen Pünktchens hatte. Er hielt an, warf einen sehnsüchtigen Blick zurück, und beschleunigte dann, bis es seinen Blicken entschwand. Jetzt bin ich wieder allein, dachte er. Mehr noch als Oldster jemals war. Wie ist er dem Tod durch die grünen Sphären entronnen? Vielleicht hat er ihr schreckliches Geheimnis entdeckt und ist geflohen, bevor sie ihr zerstörendes Werk an ihm tun konnten. Er war ein Freund der Weisheit und wollte nicht sterben. Jetzt gehört er zu den Lebenden und ist allein, versteckt sich einsam im Band der Lichtlosigkeit und versucht, nicht mehr zu denken. Er könnte den Tod finden, aber er hat Angst davor, und wenn er des Lebens noch so müde und seiner endlosen Gedanken noch so überdrüssig ist. Ich werde sterben. Doch nein…! Oh doch, ich werde. Verwirrung erfaßte ihn. Er stellte sich vor, was nach dem Tode kommen würde, oder versuchte es. Nun, nichts würde kommen! Ihn würde es nicht mehr geben, und ohne ihn konnte nichts anderes existieren!
Mich würde es nicht mehr geben, und somit würde nichts existieren, dachte er erbittert. Oh, das ist unvorstellbar. Tot! Das bedeutet doch, daß ich nach meinem Sterben auf ewig – tot sein würde! Er bemühte sich, die Schrecklichkeit dieser immerwährenden Bewußtlosigkeit zu mildern. Einmal war ich nichts, das ist war; warum sollte diese Zeit nicht wiederkommen? Und doch, es ist undenkbar. Mir ist, als sei ich das Zentrum von allem, der Grund, der Brennpunkt und sogar das Fundament. Für eine gewisse Zeit gab ihm dieser Gedanke eine Art lüsterner Befriedigung. Wirklich, der Tod war nicht so schlimm, wenn er so gerade das, was sein Leben erzeugt hatte, mit in die Vergessenheit nehmen konnte. Doch dann verdrängte die Vernunft seine Träume. Er seufzte. Und das ist Hybris! Wieder hatte er das unsagbar schreckliche Gefühl, daß seine Antriebskraft ihm nicht mehr gehorchte und daß seine zunehmende Ausdehnung seiner Kontrolle entglitt. Seine Gedächtniswindungen pulsierten und versuchten zuweilen, sich selbst auszulöschen. Alles schien sinnlos. Auch sein Eintauchen in die Dunkelheit bei geringer Beschleunigung war ohne Sinn. »Ich kann jetzt beide Welten nicht mehr erreichen«, sagte er zu sich selbst, »weil ich sterbe. Arme Mutter! Armer Oldster! Sie werden niemals erfahren, daß ich die Finsternis durchquert habe. Ja, das scheint das Schlimmste zu sein – eine große Tat zu vollbringen und nicht in der Lage zu sein, es anderen mitzuteilen. Warum haben sie mir nichts von den Zentrallichtern gesagt? Bei Oldster war es die Angst, daß ich ebenso todlos enden würde wie er. Bei Mutter – sie gehorchte einem Instinkt, so tief wie der Weltraum selbst. Das Leben mußte sich erhalten. Warum? Hat die grüne Sphäre recht? Hat das Leben einen greifbaren Sinn, den wir nicht zu erkennen vermögen? Und was gewinne ich, wenn ich mich in den Dienst dieses Sinnes stelle, dafür aber sterben muß? Oldster kannte wohl die Wahrheit. Es gibt das Leben, doch entstand es aus einer Zufälligkeit und existiert in Zufällen weiter wie ein Stern oder ein Elektron.« Sonnensysteme zu schaffen! nahm er den Faden eines verlorenen Gedankens auf. Glückliche Söhne von Strahler, Große Kraft und all den anderen!
Der plötzliche Gedanke nahm ihn ganz gefangen. Er starb, dessen war er sich bewußt, aber er starb, ohne etwas zu tun. Was hatte er in seinem Leben wirklich vollbracht? »Doch was kann ich tun? Ich bin allein«, dachte er. Dann: »Ich könnte einen Planeten machen und den Keim des Lebens in ihn pflanzen. Oldster hat mich das gelehrt.« Plötzlich fürchtete er zu sterben, bevor er diesen Planeten geschaffen hätte. Er sammelte all seine Kraft und begann, von der Sphäre dichter Materie große Energiemengen zu lösen, welche er dann zu dünnerer Materie kondensierte. Mit schwindenden Kräften formte er einen Materieklumpen nach dem anderen, vom ersten bis zum letzten der achtundneunzig Elemente, die er kannte. Fünfzigtausend Jahre sahen die erste Stufe der Entstehung des Planeten. Er war zu einer kleinen Sphäre von fünfzehntausend Meilen Durchmesser geworden. Dann brachte er ihn mit einem Hitzestrahl zum Kochen, kühlte seine Kruste ab, gleichzeitig Ozeane und Kontinente auf seiner Oberfläche bildend. Sowohl Wasser wie Land, das wußte er, waren für Leben notwendig, das durch die Natur seines Aufbaus an die Oberfläche eines Planeten gebunden war. Dann kam der letzte, vervollkommende Akt. Kein anderes Wesen hatte je wissentlich getan, was Dunkel hier tat. Sorgfältig erschuf er einen winzigen Spritzer lebenserhaltenden Protoplasmas; ihn ließ er ungezielt in eine winzige Falte der Planetenoberfläche fallen. Befriedigt betrachtete er sein vollendetes Werk, den vollkommensten Planeten, den er oder seine Spielgefährten jemals geschaffen hatten, nicht achtend des dumpfen Schmerzes der Müdigkeit, der durch die komplizierten Energiefelder seines Körpers wanderte. Dann packte er den Planeten mit einem Anziehungsstrahl und schwang ihn herum wie in seiner Kindheit, deren er sich in diesem Augenblick lebhaft erinnerte. Er brachte ihn auf große Winkelgeschwindigkeit, um ihn dann auf tangentialer Bahn in die Richtung davonschießen zu lassen, in der er mit einiger Gewißheit sein eigenes Universum vermutete. Mit nachlassender Sehkraft schaute er ihm nach. Der Planet entfernte sich in die Dunkelheit, die ihn für Jahrmillionen umgeben würde, wurde zu einem Lichtpunkt, verschwand.
Das Gefühl der ständigen Ausdehnung ließ sein Bewußtsein schwinden; doch machte er jetzt keinen weiteren Versuch, ein Leben zu verlängern, welches in Wirklichkeit schon gestorben war. Ein Wogen durchlief ihn, wie wenn eine unterbewußte Macht mit aller Kraft versuchte, ihn auseinanderzureißen. Ihm wurde bewußt, daß er nicht länger Angst verspürte. »Ich werde einfach wieder in eine Zone der Dunkelheit gehen – doch es wird eine viel längere Reise sein als die letzte.« Seine Rezeptionsstrahlen achteten nicht mehr der finsteren Leere, und er legte sie um sich wie einen schützenden Mantel. Sich ausdehnend, trieb er im endlosen Raum zwischen den Welten. Dann erfolgte die letzte Ausdehnung; sie löste seine Gedächtniswindungen auf. Eine große und doch kompakte Sphäre des Lebens entwich, bis Dunkel nichts anderes mehr war als freie Energie, über Lichtjahre hinweg im Raum verteilt. Und dann, in jenem letzten Augenblick, schien der Tod ein weit größeres und bedeutungsvolleres Ereignis zu sein als die Geburt. Originaltitel: INTO THE DARKNESS Copyright © 1940 by Fictioneers, Inc.