Schriften zum Internationalen Redat Band 176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in d...
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Schriften zum Internationalen Redat Band 176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den CSA un d der F.lJ
Von
Knl-Theodor Frhr. zu Gurtenberg
Duncker & llum blot · ßerlin
KARL-THEODOR FRHR. ZU CUTTENBERG
Verfassung und Verfassungsvertrag
Schriften zum Internationalen Recht Band 176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU
Von
Karl-Theodor Frhr. zu Cuttenberg
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ldnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Satz: werksatz · Büro für Typografie und Buchgestaltung. Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin Printed in Germany
© 2009 Duncker &
ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-12534-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem {säurefreiem) Papier
entsprechend (50 9706@ Jnternet: http://\VVi'W.duncker.humblotde
Vorwort Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in s ich. Manche kleine wie epochale Erschütterung fUhrt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht der Nostalgie. Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Prozesse. Trotz gelegentlich zweife lhafter Verfassung unserer Gesellschaften gab es selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung. So pionierhaft sich diesbezüglich der amerikanische Pfad zu gestalten wusste, so eklektisch eigen wurde der europäische beschritten. Letzterer befindet sich wiederkehrend am Scheideweg. Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch e rleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen? Zumindest verpasste Europa in den Jahren 2007 und 2008 zum wiederholten Male den .:mp6~ (Kairos) und ließ die notwendige Unbedingtheit des Gestaltungswillen nur schemenhaft erkennen. Es ist indes müßig zu debattieren, ob es die -letztlich nie eingeräumte- Furcht vor der eigenen Courage oder lähmender Pragmatismus war, der aus einem hart erkämpften Ve1fassungsvertrag schließlich einen "Vertrag von Lissabon" werden ließ und selbst diesen in vermeidbare Warteschleifen drängte. Gleichwohl bildet auch diese Zäsur e in lebendiges wie traditionell paradoxes Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist. Demzufolge hätte die vergleichende Beurtei lung zweier Verfassungsprozesse mit einem gewissen Optimismus beijeder "europäischen Krise" enden können. Die Betrachtungen und Bezugnahmen dieser (2006 eingereichten) Monographie gehen nunmehr bis in das Jahr 2007 -abgesehen von einigen punktuell aktualisierten Gedanken.
••• Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfallen. Oder nach anderem- im obigen Sinne untypischem- Verständnis der vereinzelten Wahrnehmung eines "Kairos".
6
Vorwort
Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste. Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teilnehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht "legendär" zu nennende "Häberle-Seminar", das dem von Konrad Hesse geprägtem Vorbild längst weit enteilt ist- ohne den "akademischen Enkeln" Erinnerungen und Berufungen auf e ine Leitfigur der Verfassungslehre zu entwinden. Der Gedanke an die Te ilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft - und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels. Von Herzen Danke meinem großen Lehrer Prof. Dr. Dres. mult. h.c. Peter Häberle für Unzähliges, das kein Vorwort angemessen abbilden könnte. ln besonderer Verbundenheit danke ich einem weiteren tatsächlich bedeutenden Europäer, Prof. Dr. Rudolf Streinz. Wie oft wurde der Kairas der Fertigstellung durch freiberufliche wie später parlamentarische "Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen Faktums e iner bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte. Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen und ich bin allen überaus dankbar flir unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl: Wirkliche Besserung ist kaum absehbar. Me iner Frau und meinen Töchtern sei diese familienunfreundliche Lektüre in tiefer Dankbarkeit zugedacht. Sie sind der unerreichte wie dauerhafte ,,rechte Augenblick" meines Lebens. Berlin, im Winter 2008
Kari-Theodor Frhr.
~~~
Cuttenberg
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung
15
B. Verfassungset·weckung und Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Ent· wicklungslinien in den USA und der Europäisch en Union I. Eckpunkte der OS-amerikanischen Verfassungsentwicklung
19 20
I. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen EinHusses
20
2. Die "Declaration of lndependence"- eine Abkehr von Europa? . . . . . 3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatliche r Verfassungen
22 23
4 . Die Entstehung des Verfassungsstaates- der "Vorabend" der Bundesverfassung 24 a) \Vege zur Emanzipation- von den "Fundamental Orders of Connecticut" z ur Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) \Vege z.um Konsens- von den .,Articles ofConfede ration~· zum "Great Compromise" . . . . . . . 27 c) Der Verfassungskonvent d) Ratifizierung und ,,Federalists" gegen "Antifederalists" e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin de r Menschenrechte; konstitutionelle "Morgendämmerung"' - die Bill of Rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. "We, the People"- Souveränität (in) der US· Verfassung . . ... .. . . . . 6. Eine (ge)z.eitenfeste Verfassung .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . . 7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte- Strukturierungsansätze . .
29 33
35 38
40 41
8. Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbst"erwirklichung . . .. 45 9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses 47 I0. Eine dynamische Verfassung- "living constitution" . . .. . .. . .. . .. . .. 48 I I. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates 49 II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . I. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses . . . . . 2. Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses a) Von Paneuropa zur Europa-Union ( 1923-1944) b) Verfassungsentwürfe nach 1945 aa)
Hertensteiner Programm (1946)
. . . . .. . .. . . . .
SI 52 53 53 59 59
8
Inhaltsverzeichnis bb) cc)
Entwurf e iner fOderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa ( 1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948) . . . . . 60
dd)
Entwurf e iner e uropäischen Bundesverfassung ( 195 I)
c ) Wege zum Europarat d) "Verfassungsentwürfe" ab 1952 aa) bb)
cc)
61 61 64
Die Europä ische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ( 1952) 64 Entwurf e ines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft- Entwurf de r ad-hoc Versammlung der EGKS ( 1953) . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . 65 Römische Verträge (1957) .. . .. . .. . • . . • . . • . . • . . • . . • . . .. 67
68 e ) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre f) Stationen zur Europäischen Verfassung- eine Auswahl aus 40 Jahren 69 aa) Der Entwurf von Max lmboden ( 1963) . . .. . .. . .. . .. . .. . .. 69 bb)
Die Verfassungsdiskussion 1984- Das Europä ische Parlament a ls Akteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (I) Ausgangspunkte de r Debatte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion . . . . • . . . . . . . . . . 74
cc) dd)
Die Einheitliche EuropäischeAkte ( l 986) . . .. . .. . .. . .. . .. 75 Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten von F.Cromme ( l987) .. . .. . .. . .. . .. . . 76
ee) ff)
Der Vertrag von Maastricht (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verfassungsdiskussion 1994- der Herman-Bericht (I) Ausgangspunkte de r Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . .
gg) hh) ii)
jj )
Der Vertrag von Amsterdam ( 1997)
77 79 79 80 82
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwende . . . . . . . . . 84Konstitutionelle ,,Morgendämmenmg" in Europa- die Grund87 rechtecharta .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . (I) Die Sachlage vor dem Herzog-Konvent . .
88
(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents
90
Mit "Humboldt" nach Nizza?
.. . .. . .. . .. . .. . .. . . . . . . . .. 94
(I) Griinde fUr e in Debatten-Crescendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
(2) Die polirische Dimension der Verfassungsdebatte . . . . . .
I00
(3) Le itbilder und europä ische Ideale in der politischen Ause inandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 02 (a) Das Ideal e iner "Föderation von Nationalstaaten" . . . 103
Inhaltsverzeichnis (b) Das Ideal eines "Europas der Nationen"
(c) Das Ideal eines "Europas der Regionen" (d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz (e) Zwischenfazit
9 106 108 109 110
(4) Das \Vechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und politischer Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II I
(a) Die Legitimationsfunktion als Gradmesser der (politischen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild? 111 (b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Ver-
fassungsdebatte
kk)
II)
114
(c ) Integrations- und ldentifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe, EU-Skepsiskultivierung 116 118 Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung
Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge 120 ( I) Ausgewählte Verfassungsattribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH -ein "europäisches Marbury vs. Madison" 124 (3) Völkerrechtliche Qualifikationen (4) Konstitutionelle Defizite der Verträge
mm) Aus der Nizzastarre zum Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 13 1 135
(I) Der Post-Nizza-Prozess - parlamentarische Einflusssphären 135
(2) Die Erklärung von Laeken - eine ,,stille Revolution" der nn)
Integrationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 lnkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis 140 ( I) Das Verfassungsverständnis-allgemeineÜberlegungen
14 1
(2) Der "europäische" Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 142 (a) Zwei Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 (b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbegriffes 145 (c ) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen . . . 147 (d) Staat und Verfassung im .,wechselseitigen Korsett"? 149
(e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern 154
oo)
pp)
(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung 159 (b) Das Vorverständnis von Demokratie, Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung 160 Begle itend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Ent~~ . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . IM
Der Europäische Konvent
.. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . 166
( I) Auftrag und Zusammensetzung- das innovative Konvents-
moment .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . 166
Inhaltsverzeichnis
10
qq)
(2) Die Gestaltung der Konventsarbeit
167
(3) lnkurs: Der Konvent als Zentralis ierungsplattform?
169 172
(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit? . . .. . (5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des e inzelnen Mit~~............. (6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme) im Europäischen Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents . . .
I~
175 180
( I) Systematische Ergänzungen z.ur Frage: Verfassung oder Verfassungsvertrag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Inhaltliche Anmerkungen, Präambel und "Leitmotto", Plädoyer für eine ,,Europäische Gesprächskultur" . . . . . . . . . 185
rr)
Elemente einer Ratifi kationskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
3. Drei Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 111. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische Rechtskultur(en). Rechtskulturzusammenhänge . . . 194
I. Die Vereinigten Staaten von Amerika - ein Faktor des europäischen Einigungsprozesses
197
2. Die konkrete Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess . . . . . . 199 a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten \Veltkrieg? 199 b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . 204
c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d ) Die 80er Jahre: Konfl ikt und Kooperation . .
207 210
e ) Die Folgejahre nach 1989/90 sowie ein Ausblick . . 213 3. Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken- Schlaglichter . . 215
4. lnkurs: Teilaspekte einer Europäischen Rechtskultur, Europaverständnis 217 5. Ein historisch gewachsenes "transatlantisches Verfassungsfundament" 2 I 9 IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates (USA) bzw. de r Verfassungsgemeinschart (EU) durch Verfassunggebung. Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . I. Gebundene Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung . . a) USA: Die Amendments als Abbilder e iner Verfassungsergänz.ung- Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte . . .. . .. . .. . . aa) Artikel V der Bundesverfassung -ein Faktor der Stabilität und Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) cc)
22 1 222 222 223
"Self-Restraint" in der Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . 226 Initiative und Ratifikation- das Verfahren . . .. . .. . .. . .. . . 229 ( I) Das Modell "congressional proposal"- der Regelfall
.. . 229
(2) Das Modell "constitutional convention'' - Option zur Totalrevision? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1
Inhaltsverzeichnis (3) Ve rsuche zur Begrenzung von ,,amending power" (4) Ratifikationserfordernisse und Problemlagen-das Kuriosum 27. Amendme nl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Beendigung des Amendment-Verfahrens dd) Möglichkeil de r Interpretation von Amendmenls . . . . . . . . . . ee) Die generellen Wirkkräfte des Amendment-Ve rfahrens b) Europäische Union: von der Vertragsänderung z.ur Verfassungs(vertrags)änderung . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union .. . .. . .. . . bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts cc) Die Ab..1nderbarkeit der Europäischen Verträge dd) Verfassungsänderung nach dem Verfassungsvertrag -die neuen Ve rfahren . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ( I) Das Fünfstufenmodell des Verfassungsvertrages (2) Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung betreffend einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung .. . .. . .. . 2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere d ie Rolle der Obersten Gerichte a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation b) Der US-Supreme Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - Marbury vs. Madison .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. .
bb) cc)
Anmerkungen z.um Wesen des ,Judicial review" .. . .. . .. . . Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels . .. . .. . . . ( I) Momentaufnahmen einer Verfassungsgerichtshistorie .. . (2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik - Anmerkungen zur "politica1 question doctrine~· . .. . .. . .. . (3) lnkurs: "counter-majoritarianism'' . . . . . . . .. . .. . .. . c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit- Richtwerte für den EuGH? . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . aa) Verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat- Ent\vicklungsstufen und Komponenten . .. . .. . bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit d) Der EuGH als Verfassungsgericht, Verfassungsrechtsprechung aa) Das RollengeHecht des EuGH .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . bb) Der EuGH als "Motor der e uropäischen Integration"? . . cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild eine r offenen Gesellschaft . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .
II 235 236 242 243 245 248 249 25 1 252 256 256 260 260 262 27 1 27 1 277
279 279 285 289
290 29 1
297 301 303 308 311
312
Inhaltsverzeichnis
12
f) Vergleichende Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz
der Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft (Europäische Union) 317 a) Konzeptionen der Repräsentation -die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Die Kompetenzverteilung zwischen de r Union und den Einzelstaaten aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus . . . . . . . . . . ( I) Charakte r eines Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Funktionsweise des US-Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . (3) lnkurs: Der institutionelle Aspekt auf e inzelstaatlicher Ebe-
318 318 321 322
ne . . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . 323
bb)
Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte . . .. . • . . • . . • . . Ergänzungen aus vergleichender S icht . . . . .. . .. . . . .
324
cc) 329 c) Das Prinzip der Gewaltenteilung . . • . . • . . • . . • . . . 331 aa) Vorbemerkung .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . . . 331 bb) Die Ausgestaltung in den USA . . . . . cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union d) Identität und der Begri ff der Nation
. . . . .. . . . .
332 335 338
e) Das Demokratieprinzip-Anmerkungen f) lnkurs: Verbreitung direktdemokratischer Elemente g) Das Verhältnis zwischen Recht und "Moral''. Souveränitätsverzicht h) Finalität- die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung
343 349 350 353
i) Ausgewählte institutionelle Aspekte 354 j) Europäische Grundrechtecharta-B ill of Rights 356 k) \Vertegemeinschaft Europa und USA- "ever closer union" und "ever strenger union" 357
V. Zvlei Verfass unggebungsprozesse: e in Resümee I . Vergleichende Anmerkungen zum Konventsverfahren
358 359
2.
364
Vergleichende Anmerkungen z.u den Konventsergebnissen
3. Lehren fU r die Europäische Union aus dem Vergleich der Verfuss unggebungsprozesse . . 369 C. Der G ottesbezug in d en Verfassungen E uropas und der USA
I. Einleitung II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas . . I. Bisherige Regelungen im Primärrecht de r Europäischen Gemeinschaft 2. Die Europ..1ische Grundrechtecharta a) Gottesbezug b) Kirchen und Relig ionen 3. Der Entwurf des Europäischen Konvents
a) Änderungsanträge
..
373 373 374 374 375 375 376
377 379
Inhaltsverzeichnis
13
b) Die Beratungen der Regierungskonferenz 381 c) Bewertung 381 4 . Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) de r Europäischen Union sowie in den deutschen Bundesländern . . 382 a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lll. Gottesbezug und US-Verfassung; d ie Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . . I . Die Frage nach einem "Gottesbezug" in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika a) Entstehung und Entwicklung der ,,Establishment C lause" b) lnhaJt und Re ichweite der "Establishment Clause'' nach der Rechtsprechung des Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Vertreter einer Trennung und einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Re lig ionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zusammenfassender Überblick über die Rechtsprechung des Supreme Court 2. Gottesbezug in den bundesstaatliehen Verfassungen IV. Das US-Modell ein Vorbild ftir Europa?
383 388 388 391 393 393 395 395
396
399 402
Nachwort
403
Zusammenfassung
405
Anhiinge . .
408
Literatun·erz.e.ichnis
4 16
Sachwort,-erze.i chnis
465
,.Es wirdein Tag kommen, wo manjene beiden ungeheuren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Vereinigten Staaten von Europa einander gegenüberstellt, sich die Hände über den Ozean hinüber reichen wird f... ] jene beiden unendlichen Gewalten: die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes, miteinander verbinden wird sehen." 1 VictoT Hugo
A. Einleitung "E pluribus unum", "Aus vielem eines"- so lautete das Motto, unter dem vor über 215 Jahren die amerikanischen' Staaten zur Union zusammenfanden. Ein Motto, das programmatisch zu verstehen ist. Das Land, das wie kein anderes den Pluralismus auf seine Fahnen geschrieben hat, eröffnet erst auf dieser einheitli chen, gemeinsamen Bas is den Spielraum fiir die Entfaltung von Vielheit. Sich zu e iner Nation zu vereinigen, die ursprüngliche autonome Vielfalt gegen einen von einer Zentralregierung gewährten Pluralismus einzutauschen bedeutete indes Verzicht; die bisher unter losem Konföderationsdach weitgehend selbständigen Einzelstaaten mussten um des Gemeinsamenwillen den Anspruch auf das Eigene zurückschrauben und Souveränitätsrechte abgeben. 1
V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach der Proklamation der Z\veiten Französischen Republik, wurde e r 1849 in die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt). im Internet abrufbar unter http://www .exameneuropaeum.com/EEEI EEE2003/24ldeen.htm. 2 "Amerika" und ,,amerikanisch'' beziehen sich nach aUgemeinem Sprachgebrauch im Folgenden a uf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontinentsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlenveile ist jedoch geklärt, dass d ie Namensgebung auf zwei Deutsche zurückzufUhren ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann begeisterte sich für den Entdecke r und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete Kosmograph M. Waldseemütfe,. nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen a uf der seiner "Cosmographiae lntroductio"" beigegebenen \Veltkarte von 1507 für den neuen und erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen, Vespuccis Vomamen Ame,.igo (der sich von lmre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater heiliggesproche nen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der Kontinente der .,Alten \ Velt", Europa, Afrika, zu feminisieren und in dieser Form a ls ,,America" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontine nt nach Amaf,.ich, de m Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten Stadt Maraca.ibo benannt worden sei, sind e inwandfrei widerlegt. Vgl. F. L.aubenberger, Ringmann oder Waldseemliller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika, in: Archiv flir \Vis.s. Geographie. Bd. XIII , H. 3; A. Ronsin, Decouverte et bapteme de I' Amerique, 2. Auß. 1992.
16
A. Einleitung
Wie schwer e in solcher Verzicht fallt, w ie nahe das Eigene und wie fern das Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt s ich in aller Deutlichke it in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung, der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeiste rung zu erwecken vermag. Geradeangesichts dieser Schwierigke iten erscheint es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte. Szenenwechsel: Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union e inigten s ich auf den Text des europäischen Vetiassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick dmi s ich keineswegs auf Dezember 200 I beschränken, in dem sich ein pluralistisch zusammengesetztes IOS-köpfiges Gremium an die Ausarbeitung einer "Verfassung für Europa" machte. Am 28. Februar2002 versammelten sich in Brüssel die Vertreter von Regierungen und Parlamenten aus ganz Europa zu der ersten Sitzung des EU-Konvents. Einheit in der Vielfalt: Die Verfassung einer freiheitlichen Gemeinschaft gab Anlass zu intensiven Debatten innerhalb des Konvents. Als der e uropäische Verfassungskonvent seine Beratungen aufnahm, war dies von allgemein verbreiteter Skepsis begleitet. Die Erwartungen wurden von allen Bete iligten heruntergespielt. Bezeichnenderweise schien (zumindest in der Anfangsphase des Konvents) nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Ve rfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen .3 Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als "Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten "Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis der europäischen Konventsberatunge n, das landläufig als "EU-Verfassung" bezeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen. Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft flir Kohle und Stahl (EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationsprozess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsan1 zu wissen, welche Perzeption die fortschreitende e uropäische Integration und das Projekt "europäische Verfas-
3 Vgl. M. Rosenfe/d, lbe European Convention and Constitution Making in Philadelphia, in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.
A. Einleitung
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sung" in den USA erHihtt, um im sich wandelnden transatlantischen Verhältnis' für Verständnis zu werben und um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Die konstitutionelle Fortentwicklung Europas betrifft die USA als wichtigsten Partner der Europäischen Union unmittelbarer a ls dies in manchen Kreisen der amerikanischen Administration und einzelner Think Tanks wahrgenommen werden will. Die Annahme, die USA würden das europäische Interesse teilen, den Prozess der europäischen Integration dauerhaft in e ine " transatlantische Partnerschaft der Gleichen" einzubetten, führt ( mittlerwei le) a llerdings zu weit.' Allerdings gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin e ine Vielzahl verknüpfender Aspekte, die freilich einer ständigen Neudefinition unterworfen sind. Eindrucksvoll waren in diesem Kontext die Worte von Präsident J. F. Keunedy, der am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1962 in der Hall of Jndependence in Philadelphia seine transatlantische Rede mit dem Wunsch beendete, das sich einigende Europa und die Vereinigten Staaten dereinst in einer " Declaration of Jnterdependence" verbunden zu sehe n. Selbst wenn die transatlantische Atmosphäre wiederkehrend e inigen Turbulenzen unterworfen ist, sollte das feinsinnige Worts piel mit der amerikanischen .,Declaration of Jndependence" vom 4. Juli I776 nicht in Vergessenheit geraten. Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas zukünftige Rolle in der Welt mit historischen Argumenten untetfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik oder- im Gegenteil -auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte s ich ein kurzer Rückblick auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozesse und demzufolge auf einige Kapitel aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfeldern, kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurtei len, Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage zu versetzen, angemessen auf neue Heraus forderungen zu reagieren. Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissenschaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt und kursorisch
" Mit "transatlantisch'" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten jenseits und diesseits des Atlantiks. 5 So aber G. Burghanlt, Die Europ..1ische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6.Juni 2002, im Internet unter www.rewi.hu-berlin.de/WHI/deutsch/fcelfce402/burghardt.htm, S. I.
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A. Einleitung
vorgenommen• und zum Teil in seiner Berechtigung verneint', zum Teil eingeschränkt bejaht'. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die amerikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum Ausfluss einer Idee zu machen, die die Wirklichkeit umgestalten sollte.• ln Kraft gesetzt nämlich wurde das amerikanische Verfassungssystem buchstäblich ohne wirkliche Vorstellung von einem Staat. Überspitzt ließe sich der Gedanke anschließen, das revolutionäre Amerika kam erst über den Umweg der praktischen Erfahrung zu seinen Verfassungsprinzipien. 10 Europa musste, vielleicht durfte einen anderen Weg beschreiten, bediente s ich allerdings ähnlicher Mittelund fand viele inhaltliche Bezugspunkte im an1erikanischen Verfassungsstaat
0 Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbsr, Legitimation durch Verfassunggebung. Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003, der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechtsvergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hölscheid1, Europäi-
scher Konvent, Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005), S. 429 ff. 7 Vgl. etwaS. Hohe, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht1 Heft I, 2003, S. I ff., 12. s W Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Jntegrationsmethode, in: Inte-
gration, 2/2002, S. 83 ff., 93. 9
Ähnlich auch D. Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, Frank-
furt a. M. 200 I. 10
Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war, wie der Staat zu gestalten sei, um das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichs\veise gering.
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung- konstitutionelle Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikani· sehe Verfassung als Vorbild.' Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der Ähnlichkeit pluralistischer Beeinflussung fast geboten.' Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch e ine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung aud1 e ine ameri kanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zurückblicken, die andere fertigt sich angesichts der we itaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklungen außer Acht zu lassen. Europa steht in vie lerlei Hinsicht bereits auf festen Füßen, die jedoch e iner dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen. Diese Voraussetzungen zu Grunde gelegt soll ein Begriffs paar gebi ldet werden, das den unte rschiedlichen Status der Verfassungsentwicklung widerspiegelt, die kulturelle Bas is jenseits der Verfassungskultur allerdings fast umkehrt: Verfas sungsbestätigung und Verfassungserweckung. Die Kultur ist flir beides Impulsgeber, kontrastiert jedoch in ihrer Ursprünglichkeit. Während in den Vereinigten Staaten der Einfluss und die Kombination eigentlich fremder Kulturen der Verfassung erst zu ihrer Genese verhalfen, kann Europa auf ein j ahrhundertelanges Nebeneinander, und - aus gewissen Blickwinkeln, etwa dem des christlichen Abendlandes - auf Verschmelzunge n zurückblicken, die Grundlage aller Verfas sungsbildung und damit auch ihrer Erstarkung sind.' Gewiss, auch die Einflüsse auf die erste Fassung der amerikanischen Verfassung waren europäische, jedoch 1
Vgl. unten lU . und IV. sowie ll .2.f)jj)(4)(a).
2
Auch im Sinne einer "kulturellen Verfassungsvergleichung", vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S . 252ff. unter Bezugnahme auf die "Verfassungsvergleichung als ,fünfte' Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders., Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ I989, S. 9 I3 ff.). 3
Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch
angesichtsder bislang zu konstatierenden Verfassungsfortschritte-von ,.Verfassungserstarkung" zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus sich selbst. Dem \Vort "Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken, die die "Gründungsväter" und bis heute g roße Denker (aber auch gelegentlich allein die Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde "Europa~· zuteil werden lassen,
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und mehr autarken amerikanischen Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Europa noch steht: Verfassungsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusstsein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge e inander bedingt, wird auch von der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der Demokratie verpfl ichtete Verfassung entwickelt und bestätigt s ich nicht zuletzt durch die Bevölkerung.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses Europa und die Vere inigten Staaten einem Vergleich zu unte rziehen bedeutet auch immer, die wechselseitigen kulturellen Impulse mit einzubeziehen. Die Vereinigten Staaten, ihr Selbstverständnis, die heutigen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente wären ohne die englische Prägung, begonnen durch die Gtiindung von Kolonien Anfang des 17. Jahrhunderts• (Jamestown und die Kolonie Virginia 1607 5) an der nordamerikanischen Ostküste, nicht denkbar. Insbesondere brachten viele dieser Siedler ein in England ausgebildetes Grundverständnis der Möglichkeiten und Errungenschaften eines Rechtsstaats mit auf den neuen Kontinent. Die tie fe Verwurzelung der Fre iheit in ihren "status negati vus, activus und positivus"• tiihrt bereits aus dieser Ze it. Einen hohen Stellenwert nahmen alsbald die Menschenrechte nach der Bill ofRiglus von 1689, die Beteiligung der wohlhabenden Bürger an Gesetzgebung und Rechts prechung, die Traditionen
Anwendung finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der Erweckung nach Ansicht des Verf noch fortdauert. " Es würde freilich zu weit führen>spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf die großen Entdecker wie C. Columbus oderA Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika; dies gelang wohl ers-t J 512 dem
spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas. Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische \Vurzeln in den südlichen Staaten wie Kalifornien, New Mexico, Texas oder Aorida durch einen hohen hispanischen, lateinamerikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert, nachdem F1orida erst 1819 von Spanien erworben, Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische Gebiete wie Kalifornien 1845 "einverleibt'" wurden. s Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswertenveise. 1577 von F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion). • ln Anlehnung an G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Auft. 1905, S. 81 ff.; siehe auch ders. , Allgemeine Staatslehre, 3. Auft. 1914 (Neudr. 1960), S. 41 8 ff.; D. P. Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR 111 (1986), S.230ff.; G. Radbmcli, Rechtsphilosophie, 3. Auft. 1932 (Studienausg. 1999), S. 67 ff.; R. Zippe/ius, Allgemeine Staatslehre, 13. Auft. 1999, S. 344 ff.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf "habeas corpus" bei Inhaftierung ein. 7 Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen gemeinen Recht (Conmwn Low), auf den von der Krone gewährten verfassungsähnlichen Kolonialcharten•, auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungs körperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London. Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden engl ischen Potentials, das sich weiterhin durch die (Amts-}Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand im Zeichen europäischer Großmachtri valitäten, die sich durch die Bemühungen der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande • und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren Jassen. Insbesondere wird der französischen Gestaltungskraft oftmals e in allzu geringer Stellenwert eingeräumt. 1 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763 spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispielsweise wird die Zahl der Deutschen I775 auf200 000 geschätzt) durch kulturelle Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordameri ka zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht- Puritaner, Quäker, Hugenotten, englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende "Western Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im Wesentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen Phi losophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen
°
7 Vgl. auch M. Berg, Die Vereinigten Staaten von Amerika - Teil II. Historische und Politische Entwicklung, in: Staatslexikon, Sechster Band, 7. Aufl 1992, S. 373 ff.; K. Loewenste;n, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 3. s Es gab drei Rechtstypen der Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in den einzelnen Bundesstaaten spürbar ist: die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerkolonie (lvlaryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Haven in Connecticut); hierzu a usführlich K. Loewenstein ( 19 59), S. 2 f. ; II' Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Auflage 200 I, S. I. • Die Ho lländer ka uften 1626 die Insel Manhatlan fiir 24 Dollar den Indianern ab und gründeten dort New Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New York. 10 Während des I6. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontinents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren \Vesten gelangten (beispielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Sal/e 1643-1687, der "patron saint" von Chicago); erst 1699 wurde die französische Ko lonie von Louisiana an der Mündung des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Ko lonialperiode in der US-amerikanischen Geschichte K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. I ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft tragen e ine unverkennbar europäische Kennzeichnung. 11 T. Jeffersous 12 Zeit von 1784 bis 1789 als Gesandter in Paris darf zu den Marksteinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich am englischen Recht, am antiken Republikanis mus und am Individualismus der Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. ln seine Präsidentschaft fallt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich ( 1803). Die Vertreter "seiner" politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Republikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle Einflussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betätigte er sich auch als Architekt und orientierte s ich bei seinen für die amerikanische Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen Antike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten.
2. Die " Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa? Dahingegen die berlihmte Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als Abkehr von Europa zu bezeichnen wäre unzutreffend. Unabhängigkeitserklärungen können Wirkungen in zwei Richtungen entfalten: e inerseits wird dem Neuen, Innovativen ein hohes Gewicht eingeräumt, andererseits bilden traditionelle Elemente den notwendigen, kontrollierenden Gegenpol. " Konservative und moderne Gedankengänge, mit e iner vordergründigen Betonung des Fortschrittlichen, treffen 11
So gibt es ein schöpferisches Musikleben nach europäischem Vorbild seit etwa 1800. Als frühester Komponist gilt der aus Mähren stammende A. P. Heinrich. Die Komponisten der sog. "Neuenglandschule" (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) wie J. K. Paine/H. Parker und E. McDoK'eiJ sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason und C.M. Loefjler, g riffen später a uf C. Debussy und M. Ravel zurück: vgl. zur amerikanischen Musikgeschichte H. \V. Hitchcock, Music in the United States, 2. Auflage 1974. Die amerikanische Kunst wurde stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der Architektur W: Gropiusl L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts M. Emst I L. Moholy-Nagy oder N. Gabo, siehe umfassend M. Baige/1, A History in American Painting, 1971. 12 S iehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Mal01te, Jefferson and his Time, 6 Bde. I 948- 198 I sowie R. M. Jo/11tstone, Je fferson and the Presidency, 1978. 13 Dies offenbart sich in jüngster Zeit beispiels\veise in Kroatien, Slowenien oder in den baltischen Ländern, die nach dem Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser ~·'ves-tliche'' Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brnuchtumpftege nachgehen, die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung in Osteuropa T Schweisfunh IR. AtleweMt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteuropa, in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transfonnation in Osteuropa,
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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s ich auch im Streben nach Souveränität. Ein veränderten Umständen angepasstes Staatswesen würde ohne die Rückbesinnung auf grundsätzlich staatstragende Elemente in Kürze zusammenbrechen. Der Text der von Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung ist Spiegelbild dieses Phänomens. Er besteht aus drei Teilen, wobei einer Autlistung der Demütigungen und Ungerechtigkeiteil Englands eine Rechtfertigung der Revolution und schließlich e ine Darstellung der Grundlagen des neuen anterikanischen Gemeinwesens folgt. Und selbst dieses ,,neue" Gemeinwesen folgt tief ausgetretenen europäischen Spuren. Da eine Bezugnahme der Kolonien auf das englische Recht über Jahre fruchtlos blieb, greift man auf die Gedanken der Aufklärung und damit auf Elemente das Natur- und Vernunftrechts zurück. So wurde unter anderem wie folgt formuliert: "We hold the.se truths to be self-eviden~ that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just pov;ers from theconsent oflhe governed, - That whenever any Form of Government becomes destructive of lhese ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness." "
3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen Auch die Verfassungen der Einzelstaaten ",die teilweise den Anregungen des 2. Kontinentalkongresses •• 1775176 folgten, umfassten indes Grundrechtserklärungen, die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in e inigen ihrer Basis- und
2. AuH. 1997. S. 45 ff.; H. Roggemamr, Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteurupa, in: Recht in Ost und West 1996, S. 177 ff. ; rechtsvergleichend H. Roggemamz (Hrsg.). Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999; G. Brwmer, Verfassunggebung in Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1995, S.258ff.; R.Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, in: JöR 43 ( 1995), S. 258 ff. " Zitiert nach P. KurlandIR. Lenzer, The Founders' Constitution, Voll, 1987, S. 9 ff.; ko mplett abgedruckt bei R.D. Rotwzda, Modern Constitutional law, 6"' ed. 2000, Appendix A, S. 524 ff.; siehe zum Inhalt der Unabhängigkeitserklärung auch \V. Brugge,., Einflihrung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl. 2001 , S. 2f., ausführlich J. Heidekitzg, Die Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: I787- I79 I, I988; K. Loewe11steitr, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 5 ff. 15 1780 hatten sich bereits elf von 13 Staaten eine Verfassung gegeben. South Carolina und New Hampshire griffen dabei als erste noch nicht einmal auf die Anregungen des Kontinentalkongresses zurück. 16 Dazu K. Loewe11stein (1959), S. 6.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Programmideen 17 ihre ersten kodifizierten, staatstragenden Bewährungsproben auf dem nordamerikanischen Kontinent. Die nachfolgende Bundesverfassung erfuhr eine nachhaltige Prägung durch die Neuerungen in den Einzelverfassungen, die neben der umfassenden Betonung der Gewaltenteilung von einer Stärkung der gesetzgebenden Körperschaften als Mittelpunkt der Staatsgewalt über die eingeschränktereil Rechte der gewählten Gouverneure als Inhaber der ausfUhrenden Gewalt bis zu e iner gesteigerten religiösen Toleranz und einer Intensivierung der demokratischen Grundsätze der Volkssouveränität reichten. Sogar im Hinblick auf den momentanen Zustand der Entwicklung Europas erweist sich die Vetfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1774 und 1788 als aufschlussreich. Das Ergebnis der Kontinentalkongresse waren die 1777 beschlossenen und 1781 ratifizierten Ariicles of Confederarion, die erste Verfassung der Vereinigten Staaten. Diese Konföderationsartike l etablierten e inen Staatenbund, den K. Loewensrein "als historisch übliche und wohl auch zweckmäßige Übergangsstufe ( ... ) von gesonderten Einzelstaaten zum echten Bundesstaat"" qualifizierte. Inwieweit diese Erscheinungsform mit der europäi schen Wirklichkeit vergleichbar ist, wird noch zu zeigen sein. 19 An dieser Stelle nur so viel zur Ausgangslage: In Europa wie in den Vereinigten Staaten existierten Einzelstaaten beziehungsweise wie in Deutschland Länder vor der Schaffung eines übergeordneten "Bundes". Gemeinsam ist beiden Entwicklungen die Urheberschaft der Grlindungsinitiative, die nicht "dem Volk", sondern den Vertretern der Einzelstaaten zuzubilligen ist. 4. Die Entstehung des Verfassungsstaates - der "Vorabend" d er Bnndesverfassung
a) Wege zur Emanzipation - von den .. Fundamemal Orders of Cormecricur" zur Unabhängigkeitserklltrung Knüpfte man die ameri kanische Verfassungsgeschichte an das Vorhandensein eines Textes, der zumindest einige der heute allgemein angelegten verfassungstheoretischen Kriterien erflillt, so ließen sich bereits die 1638 in Hartford erlassenen Fundamental Orders of Connecticut heranziehen, um das frühe Aufkeimen konstitutioneller Strukturen abzubilden. 20 Tatsächlich sollte es aber fast 140 Jahre 17
N. Himke, Aufklärung, in: Staa!Slexikon, Bd. I, 7 . Auft. 1992, S. 391 ff. klassifiziert die tragenden Ideen der Aufklärung in "Programm-, Kampf-und Basisideen". 18 K. Loewensrein ( 1959), S. 7. Jn Art. II der Konfoderntionsartikel heißt es: "Each State retains its sovereignty, freedom, and independence, and every Power, Jurisdiction and right, which is not by this Confederation expressly delegated to the United S tates , in Congress assembled." 19 Siehe unten JV.3.b). 20 Sie gehen damit sogar dem engliehen " Instrument of Government" von 0. Cromwe/1
aus dem Jahr 1653 vor.
I. Eckpunkte de r US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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dauern, bis e in Dokument einer Bewegung entsprang, die allgemein unter dem Begriff "American Revolution" resümiert wird. 21 Vorangegangene Einigungsbemühunge n unter den Kolonien wie etwa B. Frank/ins Plan eines Bundes aus dem Jahre 1754 oder die bereits 1743 geschlossene "New England Confederation" konnten ke ine stabile, gemeinhin akzeptierte Ordnung etablieren. Auf die Einzelheiten der amerikanischen Revolution ist an dieser Stelle nicht ausschweifend e inzugehen.22 Beweggründe und Resultat sollen jedoch nicht gänzlich verschwiegen werden, nachdem auch sie geistiger Ausgangspunkt der folgenden Verfassungsbewegung waren. 23 Ein vergleichsweise trivialer Auslöser, der Versuch des britischen Parlaments, die Kolonien durch Zölle und Besteuerung an den Kosten des Siebenjährigen Krieges zu bete iligen, entflammte ab 1763 eine 21
Die amerikanische UnabhängigkeilSbewegung wird - in Analogie zur Französischen Revolution - ta tsächlich überwiegend als "Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zumindest das Selbstverständnis der Gründungsväter der Vereinigten Staaten ist damit aber keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einerneuen Gesellschaft, nicht um die Umwälzung bestehende r Staats- und Machtverhältnissei sondern- wie bereits an lässlich des ersten Kontinentalkongresses J774 in Philadelphia zum Ausdruck gebracht - um die \Viedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763, um die Restauration der durch die englische Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opo/ka, Politische Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen Revolution, in: E. Braun/F. He ine/U. Opolka (Hrsg.), Politische Philosophie, 6. Auft. 1998, S. 183 f. Insbesonde re hat aber bereits T Paine, einer der publizistischen \Vegbereiter so\Vohl der amerikanischen Unabhängigkeit wie dann später der Französischen Revolution, in seinem We rk d iesen restaurativen Aspekt deutlich betont, a uch wenn er einer de r ersten war, die das damalige amerikanischeGeschehen als Revolution bezeichneten. So he ißt es in Paines berühmter Schrift " Die Rechte des Menschen" a us den Jahren I79 I /92, die Revolution in Amerika sei "eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die \Vahrheit und die Existenz des Menschen und die Moral mit politische r Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet'', zitiert nach einer Übe rsetzung von D.M. Forke/, hrsg. von T. Stemm/er. 1973, S. 173. Bemerkenswert in diesem Kontext is-t auch eine rückblickende Äußerung von J. Adams in einem Brief an T. Jefferson vom 24. August 1815: "Die Revolution fand im Herzen des Volkes statt, und diese wurde bewirkt von 1760 bis J775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen Blut in Lexington vergossen wurde", vgl. J. Adams, in: L.J. Cappon (Hrsg.), The AdamsJefferson Letters. The Complete Correspondence between T. Jefferson and A. and J. Adams, II , 1959, S.455. Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der "Revolution" der Klassiker von H. Arendt, Über die Revolution, I 965 (eng). Originalausgabe I963) sowie K. Gl'ie-.vank1 Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, 3. Auflage 1973 ; C. Lindner, Theorie der Revolution, 1972; H. \Vas.m umd, Revolutionstheorien, 1978; K.Lenk, Theorien der Revolution, 2. Auflage I 982. 22 Detaillierte Darstellungen der ,,American Revolution~· finden sich be i C. Bomvick, The American Revolution, J991 ; D. Higginbotham, The War of American Independence, 1977 ; H.-C. Schröder, Dieamerikanische Revolution, 19&2; H. Dippel, Dieamerikanische Revolution 1763-1787, I 985; S. E. Morison 11. a., The Growth of the American Republic, 2 Bde., 7. Auflage, 1980; F. Freidei (Hrsg.), Harvard Guide to American History, 2Bde., Cambridge (Mass) I 974; A.M. Sc/rlesinger, The Cycles of American History, Boston I 986. Siehe a uch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, I 959, S. 4 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte- nach der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt- schließlich zur bereits erwähnten Erklärung der Unabhängigkeit durch die "dreizehn vereinigten Staaten von Amerika" am 4. Ju li I776."' In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher Souve ränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe von e iner " Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt: "We, THEREFORE, the Re presentatives of the UNITED STATES OF AMERICA [ .. . ], do, in the Name, and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare, That these United Colonies are, and of Right ought to be FREE AND INDEPENDENT STATES ( .. .]"" .
Die Erklärung ermöglichte den Amerikanern die völkerrechtliche Anerkennung als Krieg führende Partei und punktuelle Hilfe durch andere Mächte. Erst im Pariser Frieden von 1783 fand die Unabhängigkeit nach einem wechselvollen Krieg unter Beteiligung Frankre ichs, Spaniens und der Niederlande ihre tatsächliche Anerkennung durch das englische Mutterland. Die Declaration of lndependence wurde zu einem der bedeutenden Dokumente der Menschheitsgeschichte, in Sprache und Anspruch gelegentlich (allzu pathetisch) mit den Geboten der großen abend ländischen Religionen verglichen. Ihr Gedankengerüst formte das Fundament der folgenden Verfassungsentwürfe. "' Inhaltlich bildet s ie die communis opinio der aufgeklärten Naturrechtslehre. Der Ein fluss J. Lockes ist überall dort spürbar, wo von Konsens und Widerstand die Rede ist."
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Im transatlantischen Kontext bedeutsamdie Dissertation von 0 . Vossler, Dieamerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an Thomas Jefferson, 1929. 24 An der Erklärung waren folgende bisherigen Kolonien beteiligt: Connecticut, Delaware, Georgia, Maryland, Massachusett.s, New Hampshire, New Jersey, New York, North Carolina, Pennsylvania, Rhode lsland, South Carolina und Virginia. Umfassend zur Unabhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole, The Decision o f American lndependence, 1975. Eine heute ,,klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung liefert C.L Becker, The Declarntion of lndependence. A Study in the History o f Political ldeas, I922 (Neudr. I960). 25 Zitiert nach D. W Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of American History, 1983, S. 280f. 26 Hierzu lv. P. Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassung und politische Ideen der amerikanischen Revolution, 1973; B. Bailyn, The ldeological Origins of the American Revolution, Neuausg. 1992. 21 Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Abrechnungmit dem englischen König George II/. überlagert. Dort wird das archaische Motiv des \Viders-tands gegen einen Tyrannen aufgegriffen. Insoweit steht die Erklärung durchaus in gewisser Rechtstradition der Monarchomaclren, der Absetztmg Plri/ipps 1/. 1581, der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Rights von 1689. Diesen Aspekt heben auch
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
27
Die vielfältigen europäischen Einflüsse auf Staatsphilosophie und verfassungspolitisches ldeengut, der spürbare Impuls der großen e nglischen Juriste n Cocke und Blackstone2' sowie nicht zuletzt das gestärkte Selbstbewusstsein nach über 20 Jahren erbittertem Ringen aus dem als Klammergriff e mpfundenen Beharren der englischen Krone verdichteten sich schließlich zu dem, was man den "amerikanischen Konsensus am Vorabend der Bundes\•erfassung" genannt hat. 29 Wie auch J. Ellis in seinem Werk "Founding Brothers" in sechs Episoden über die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einigke it über Jeffersons UnabhängigkeitserkläJUng vom 4. Juli 1776 zunächst nicht über den Willen, das Joch der engl ischen Krone loszuwerden, hinaus. "The tirst founding ( 1776) declared American independence; the second ( 1787), American statehood".JO In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war zwischen "Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstritten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeits felder der Tages politik eine Spannung zwischen den damals von Hamitton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der Einfluss derjenigen, die in den USA auf den "state rights" bestehen, nimmt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu.
b) Wege zum Konsens- von den " Articles of Confedermion" ;;um "Great Compromise" Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch. Er umfasste neben der Unabhängigkeitserklärung auch e inzelstaatliche Yerfassungsbemühungen, die teils den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grundrechtserklärunge n und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Anicles of Conjederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauerW. Reinhard , Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. Frenske/0. Mertens/W. Reinhard /K. Rosen (Hrsg.), Geschichteder politischen Ideen, aktualisierte Ausgabe 1996, S. 241 ff., 369, sowie E. Angermmm, Ständische Recht-
stradition in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200 ( 1965), S. 6 1 ff. he rvor. Der Rückschluss Reinlwrds ( 1996), die Unabhängigke itserklärung
sei damit nicht von Rousseau abhängig, geht allerdings fehl, da mit Roussetms Idee des "volonte generale" gerade die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht gegenüber Spanien und Großbritannien begründet wurde. 28 Siehe umfassend mit Blick auf das englische "Erbe" das klassische \Verk von C. E. Stevens, Sources of the Constitution of lhe United States - Considered in Relation to Colonial and English History, 2'' ed . 1894, reprint 1987. 29 Vgl. auch H. Ste;nbugeJ~ 200 Jahreamerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen
des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung; Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellscha ft zu Berlin am 4. Juni 1986, 1987, S. 6 ; umfanglieh C. Rossiter, The Political Thought of the American Revolution, J963; C. L Becker, The Declaration of lndependence, A Study in the History of Political ldeas, 1922 (Neudr. 1960). 30 J. Ellis, The Founding Brothers. The Revolutionary Generation, 2002, S. 27.
28
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
haften Verfassung. Beachtenswert s ind in diesem Bezugsrahmen Connecticut und Rhode Island, deren Verfassungen erst I819 bzw. 1842 folgten, nachdem sich ihre bisherigen königlichen Charters nach leichten Modifizierungen längerfristig als zweckdienlich e rwiesen hatten. Die Einzelstaatsverfassungen waren sogleich Experiment und Impulsgeber für die nachmalige Bundesverfassung. Von e inem sanften Anstoßen s päterer Verfassungsprinzipien kann hingegen nicht gesprochen werden. Gegenüber den ursprünglichen königlichen Charters erhielt die Legislative einen höheren Steilenwert, unter anderem durch möglichst gleichmäßige Repräsentation. Der Gedanke der Volkssouveränität e rfuhr stabi le Grundlegungen. 31 Die Repräsentanten der Exekutive - von Versammlungen gewählte Gouverneure - musste n beschränkte Rechte hinnehmen. Von überragender Tragweite war schließlich die nachhaltige Etablierung der Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten. 32 Ferner galt das Zweikammersystem (mit der Ausnahme Pennsylvanias) als unentbehrliches Instrument zur Balancierung und Entschärfung unvermeidlicher Konflikte zwischen Exekutive und Legislative. Die Brückenfunktion vom ungeordneten Nebeneinander der Einzelstaaten zum letztlich errichteten Bundesstaat nahmen die Arricles of Confedemrion e in, die einen Staatenbund zu begründen wussten, der aus de facto souveränen Staaten bestand, deren verbindendes Element ein Kongress sein sollte, in dem jeder Staat eine Stimme besaß. Die Begriffe Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit fanden erstmals zusammengehörig im Hinblick auf Einzel- oder Mitgliedsstaaten Berücksichtigung: " Each State retains
its souvereignty, freedom, and independence, and every Power,
Jurisdiction and right, which is not by this confederation expressly delegated to the United States, in Congress as.sembled."JJ
Inhaltlich wurde für Verfassungsänderungen Einstimmigkeit gefordert. Der Kongress, der ursprünglich nicht als Zentralregierung gedacht war und lediglich marginale Zuständigkeiten vereinnahmte" , dehnte seine Rechte in der Folgezeit sukzessiv aus. Eine permanente zentrale Exekutivgewalt fehlte in den Arricles aber ebenso wie eine Regelung der Gerichtsbarkeit, des zwischenstaatlichen Handels und der Steuererhebung:" Das Fehlen einer Finanzhoheit und von Zwangsbe31
Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten
und lediglich in Massachusetts erfolgte eine Befragung des Souveräns zur Verfassung. 32
33
Zum Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c).
Art. II. Zitiert nach R. D. Rorunda u. a., Modern Constitutional Law. 6 111 ed. 2000, Appendix B. 34 Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten. 35 Vgl. zu Einzelheiten K. Loewenstdn, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959 , S. 7 f. Siehe auch W Bmgger, Einflihrung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aunage 2001, S. 2 f.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
29
fugnissen ließ nach dem Wegfall der äußeren Bedrohung das Unvermögen zur e inheitlichen Willensbildung klar zu Tage treten, was s ich äußerst negativ auf die Handels- und Finanzpolitik niederschlug. Letzte re musste nach der Einbuße der durch das britische Merkantilsystem gesicherten Handelsbeziehungen neue Verbindungen gewinnen, in der auswärtigen Politik galt es Verstimmungen mit England und Spanien geschlossen zu begegnen,. und zwischen den Staaten kam es zu förmlichen Handelskriegen aufgrund rigider Zollschranken und mangelhafter Zusammenarbeit.
c) Der Verfassrmgskonvent" Den Schwächen der Ar1icles of Confedera.rion sollten schließlich die ab Mai I787 in Philadelphia versanunelten 55 Delegie rten der Einzelstaaten" - aus-
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Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolitischem Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach, seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 17&4- nach London reiste, um der Großbritannien einen Handelsvertrag vorzuschlagen, musste erunverrichteter Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten, ob er eine Nation oder einen der J3 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien eine Klärung der Grenze zu Aorida zu erzielen, war der Kongress ebenso erfolglos wie bei der angemessenen Begleichung der enormen Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch K. Loewe11srein (1 959), S. 7 f. 37 Auf die Details des Konvents, Verfahrensbesonderheiten, dessen Zusammensetzung und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf g rundlegende Betrachtungen verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideki11g, Die Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: 1787- 179 1, 1988; A. Adams I W P. Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution und die Verfassung: 1754- 179 1, 1987. Zudem die historischen Darstellungen von D. J. Hauprly, A Convention of Delegates - the Creation of the Constitution, 1987;
D. G. Smirh, The Convention and the Constitution. The Political ldea.s of the Founding Fathers, 1987; LW Levy (Hrsg.), The Framing and Ratification of the Constitution, 1987; J.D. Elau~r, The American Constitutional Tradition, 1988. Siehe auch C. Wolfe, On Understanding the Constitutional Convention of 1787, in: The Journal of Politics, 39 ( 1977), S. 97 ff.; C. C. Jil/son, Constitution-Making: Alignment and Realignment in the Federal Convention of 1787, in: The American Political Science R.-•iew, 75 (1981), S. 598 ff.; A. H. Kellyl WA. Hm·biso11f H. Beiz (Hrsg.), The American Constitution- its Origins and
Development, 7th ed. 1991. Klassische Standardwerke sind \Veiterhin: N. C. Towle, History and analysis of the constitution of the United States, 3113 ed. 187 1, reprint I987; C. van Dom1, The Great Rehearsel. The Story of the Making and Ratifying o f the Constitution o f
the United States, 1948. 33
Rhode lsland war nicht vertreten. Einige r.tdikale Republikaner wie P. Henry und S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den "Nationalists", sich gegen die Befürworter einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washingtoll bis Mitte September andauerten, waren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nahms los Vertreter der bürgerlichen und landbesitzenden Schicht - durch die Schaffung eines zentralen Regierungssystems entgegenwirken. Die genannten Delegierten werden verbreitet als "Verfassungs- oder Gründerväter" ("founders") bezeichnet. Tatsächlich ist hierbei aber e in differenzierterer Blick angebracht. Der Historiker J. Ellis hat die amerikanischen "Verfassungsväter" im Anschluss an die "Gründerväter" der Unabhltngigen Vereinigren Sraaren "founding brothers" und die Verfassunggebung elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung "the second founding" genannt. ,. Neben den klangvollen Namen der Konventsmitglieder rückten in Jlmgerer Vergangenheit weitere Verfassungsväter ins Blickfeld der Verfassungshistoriker. Dies ist insbesondere auf die erneut aufgeflammte Debatte um die Bedeutung der "original meaning" in der Verfassungsinterpretation zurückzuführen. Im Zuge dieser Diskussion erscheinen eigentliches Konzept und Zusammensetzung der Gründer immer weniger fassbar. Das Spektrum der "Founders" schließt im eng-
lischen Sprachgebrauch "drafters'\ "framers'' \ "ratifiers", "adopters" und selbst "we the people" ein. Neben den Konventsdelegierten selbst werden verbreitet auch die zahlreichen Teilnehmer an den einzelstaatlichen Ratifizierungskonventen genannt. Einige erweitern diesen Ansatz um die Zahlall derer, die die öffentliche Debatte mn die Ve tfassung zu prägen verstanden. Allerdings ist die Kategorie "public debate" selten z itierfahig und kaum konkret genug, um den Vorwurf einer gewissen Willkür in der Auswahl zu e ntkräften.'" Die dan1alige Entscheidung zu einem völligen verfassungstheoretischen Neubeginn markierte den entscheide nden Wendepunkt zur konstitutionellen Moderne. Federführend fiir diese Entwicklung war e in damals 36-jähriger Delegierter aus Virginia, J. Madison''. Er schlug eine radikale Abweichung vom ursprünglichen der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite. vgl. dazu J. Heideking, Revolution, Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: \V. P. Adams u. a. (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika, Bd. I , S. 32 ff., 43. \Veitere bekannte Delegierte waren
A. Hamittoll (New York), der S I-jährige B. Fra11kfi11 und J. Wi/son (beide Pennsylvania), G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesa.ndter in Paris weilte, später "the Cato o f his country without the avarice of the Ro man" nennen sollte) sowie J. Dickinson (Delaware). 39 Vgl. J. E/Jis, The Founding Brothers. The Revolutionary Generation, 2002. 40 Vgl. zu der Diskussion um die Auswahl der "Founders" neuerdings S. ComeJt, The Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenring Tradition in America, J788- 1828, J999; zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbildung in der einzelstaatlichen "public debate'': 8. McConville. These Daring Disturbers of the Public Peace: The Struggle for Property and Power in Early New Jersey, 1999 sowie W Holron, Forced Founders: Ind ians, Debtors, Slaves, and the Making of the American Revolution in Virginia. 1999. 41 Zur Person J. Madison und dessen E~nftuss auf die Verfassungswerdung siehe die bemerkenswerte Studie von J. N. Rakove, James Madison and the Creation o f the American Re public, 1990; zu dessen späterer Pr'.isidentschaft ( 1809-18 17 ) R.A. Rutland, The Presidency of James Madison, 1990.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, sondern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungs form ersetzt werden. Madisons Vorstellungen basierten auf e inem eigenen Entwurf, der als "VirginiaPlan" bekannt werden sollte." Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte. Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da s ich die Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jewei ligen Bundesstaates richten sollte. Vi rginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt. An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der lnteressenkontlikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren e inerseits die "Nationalisten"- Befürworter e iner starken Zentralregierung (die s ich entgegen dem heutigen Sprachgebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Namen Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung unautlöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet. Schließlich konnte ein fiir die Konvents mitglieder akzeptabler Kompromiss (ehrfurchtsvoll "The Grea.t Compromise" genannt) erzielt werden: im Repräsentantenhaus war nunmehr eine Vertretung nach der Bevölkerungszahl vorgesehen, der Senat bot hingegen ungeachtet der Größe jeweils zwei Sitze für die einzelnen Staaten." Der Souveränität der Einzelstaaten wurde durch das innovative Prinzip des Föderalismus« und durch die Entscheidung über ein neues Wahlrecht" Rech2
Der Verfassungsdebatte lagen drei "Plans" zugrunde. Der Vorschlag von New Jersey (,,New Jersey-Plan''), der eine Ko llektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i. Ü. auch P. Widrner, Der Einfluss der Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 38 ( 1988), S. 359 ff.), der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten "Plan" legte A. HamitTOll vor; darin wurde ein System bevorzugt, das dem "British Government" als laut HamitTOll "the best in the world"1 frappierend ähnelte. 43 Aktualität erlangten diese Frage und die Argumente der früheren Auseinandersetzung bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 und der knappen (letztlich gerichtlichen) Entscheidung für den Wahlsieger G. II' BusIi. "' Dazu ausführlicher unten 1V.3.b). 45 Für die \Vahl zum Repräsentantenhaus, dem einzigen Bundesorgan, das nach der ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste, galt die Bestimmung, dass die Qualifikationen für die \Vähler nicht höher angesetzt werden dürften als für das "populäre" Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I § 2 par I der Verfassung). Dem Kongress wurde lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten "Zeiten, Orte und "
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nung getragen. Der Bundes regierung wurde die Befugnis e1teilt, Einfuhrzölle und Steuern zu erheben, eine Flotte und ein Heer zu unterhalten, die Milizen der Staaten zu beaufs ichtigen (und nötigenfalls militärisch einzusetzen) sowie den Handel zwischen den Staaten und dem Ausland zu regulieren. Den Gipfel der Machtflille bildete die berühmte Bestimmung, die es dem Kongress ermöglichte, alle Gesetze zu beschließen, die notwendig und angemessen ("necessary and proper") seien, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen wahrzunehmen (Alt. I § 8 par. I8 der Verfassung). Eine weitere Beschränkung der Einzelstaaten bildete das Verbot der Münzprägung und Papiergeldausgabe. A llerdings wurde damit erst ein gemeinsamer Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Außenhandelspolitik ermöglicht. Kompensation für den Verlust der einzelstaatlichen Souveränität sollte der Senat bieten, über den die Staaten Einftuss auf die Gesetzgebung, den Abschluss von Verträgen und die Ernennung hoher Amtsinhaber nehmen konnten. Nicht mehrheitsfähig waren Anregungen, ein Organ ("Council of Revision") zu schaffen, das Gesetze der Einzelstaaten und I oder des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen würde. Auch die Zuweisung dieser Funktion an den in der Verfassung vorgesehenen Obersten Gerichtshof fand keine Zustimmung. Essentiell flir die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerkennung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent in drei Klauseln deutlich. Nach A1t. I § 2 par. 3 der Ve1fassung sollten bei der Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zutei lung von Sitzen im Repräsentantenhaus "other persons" (womit Sklave n gemeint waren) als DreiFünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß A1t. IV § 2 par. 3 der Verfassung ein ftüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er geftüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von Sklaven vom Kongress bis zum Jahre I 808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von nicht mehr als 10 Dollar auf jeden importierten Sklaven erhoben werden (Art. I § 9 par. I der Verfassung). Die einzelstaatlichen Verfassungen dienten , wie bereits erwähnt, als wegweisender Erfahrungsschatz für die Inhalte der Bundesverfassung. Vorbilder etwa für die Gestaltung der Bundesgewalt mit e iner Zweikammerlegislative, einer Einmannexekutive und einem obersten Gerichtshof waren insbesondere die Verfassungen von New York und Massachusetts.•• Art" der Wahlen zu ändern (Art. I § 4 par. I der Verfassung). Vgl. auch K. L Sire//, Die Verfassung von 1787~ in: W.P. Adams u. a. (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika, Bd. I , I990, S. 277 ff., 280 f. 46 Zum Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W.P. Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution, 1973. Siehe zu deren Einfluss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller, Die Quellen der amerikanischen Verfassung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 16 (1953), S. 107 ff.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Die am 17. Sept. 1787 verabschiedete Verfassung spiegelte letztlich den mühselig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in e ine m materiell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder e ines ausgeprägten Zentralismus offenbarten.
d) Rarifiziertmg rmd ,.Federa.lisrs" gegen ,.Amifederalisrs" Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifizierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechts lage schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipie ll Einstimmigkeit vor, welche angesichtsder zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien. So beschloss man, die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den einzelnen Staaten zu überlassen." Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungsentwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese Taktik zahlte sich aus, denn am 2. Juli 1788 wurde durch die Zustimmung des zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina und Rhode Island zögerten mit der RatifizieJUng noch bis zum 2 I. November I789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände gegen den Verfassungsentwurf zu brechen! ' Wie unte r einem Brennglas prallten dort die herausragenden Vertreter von Federa.lisrs und Amifederalists aufeinander, die in e iner geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Fundament der Revolution in zwei Varianten des Republi kanismus zu spalten wußten. Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Amifedera.lisrs befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den ,.Articles of Confederation" vorgesehen war. •• 47
Gleichzeitig wurde. dem Beispiel aus Mass.."lchusetts folgend. allmählich das Volk als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht. "' Hierzu a usfUhrlieh L. G. de Pauw, The Eleventh Pillar: New York and the Federal Constitution, 1966; R. Brooks, Alexander Hamilton, Melanchton Smith and the Rarification of the Constitution in New York, in: William and Mary Quarterly 24 (I 967), S. 339 ff. 9 " Unter Berufung auf Momesquieu widersprachen die Amifederalists der Auffassung, ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Republik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete man als potentieJJe Gefahr für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den Argumenten und Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main, The Antifederalists. Critics of the Constitution 1781 - 1788, 1961; C.M. Keii)'OII, Men of Little Faith: The Antifederalists on the Nature of Representative Govemment, in: William and Mary Quarterly I 2 ( I955), S. 3 ff. Neuerdings S. Corne/J, The Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer "Bundesrepublik" mit einer e ffektiven Zentralgewalt sowie fiir eine Stärkung und Expansion der Wirtschaft e intraten. Den theoretischen und intellektuellen Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem gemeinsamen Pseudonym "Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen s ie die Bedeutung und Vortei le der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter dem Titel "Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht a ls eines der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten im Verfassungsleben"', ' ' ielleicht sogar in literarischer Hinsicht. " ln deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals geführte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwerfen. Zudem ist e ine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der ,,Papers"bedenkt: Sie waren zunächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ei n Jahr lang, nämlich I787/88, in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor s ie zusan1mengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass flirdiese eifrige Publikationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatliehen Verfassung zu werben. Es war nicht vorgesehen, die Vetfassung per Volksentscheid zu ratifizieren, vielmehr oblag diese Aufgabe gewählten Konventen. Dennoch richteten sich die Artikel der Autoren ebenso wie die Artikel und Pamphlete der Verfassungsgegner unmittelbar an die interessierten Bürger; es wurde argumentiert, polemisiert, mit zahlreichen Mitte ln der politischen Rhetorik um Zustimmung gerungen. Offenbar fand diese öffentlich gefiihrte Kontroverse um die künftige Gestalt der Union auch die erwünschte Resonanz; sie erweckte Leidenschaften. Gerade mit Blick auf in America, 1788- 1828, 1999. Siehe auch d ie Textsammlung von H.J. Srori11g l M. Dry (Hrsg.), The Complete Anti-Federalist, 7 Bde, 1977. so Die Begrifflichkeil "Klassikertexte im Verfassungsleben" prägte P. Häberle. Siehe ders. , Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981 sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auß. 1998, S. 48 1 ff. 5 1 J. Geblwrdr spricht in diesem Zusammenhang von einem "Iivre de circonstance, das dank des Formats seiner Autoren und des Erfolgs de r vertretenen politischen Position schließlich einen hervorragenden Platz einnehmen sollte im literarischen c01pus der amerikanischen Ziviltheologie", vgl. ders., The Federalist (1787/88), in: H. Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd.ll, 5. Auß. 1987, S. 58 ff., 58. Textausgaben wurden u. a. he rausgegeben von J. E. Cooke (Hrsg.), The Federalist, I96 I; C. Rossiter (Hrsg.), The Federalist, 1961; B. F. \Vright, The Federalist, I 96 I - mit oft zitierter Einle itung; I. Kramtliek (Hrsg.), The Federalist Papers, 1987. Deutschsprachige Übersetzungen editierten u. a. A. und IV P. Adams (Hrsg), Hamilton/Madison/ Jay: Die Federalist Artikel, 1994 sowie F. Ermacom (Hrsg.), Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, Der Föderalist, 1958. Zur politischen Inte rpretation der Federalist Paper vgl. D. F. Epstein, The Political Theory of the Federalis.t, I984. Siehe auch K. VOll Oppen-Rrmdstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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den europäischen Einigungsprozess ist es erhellend, wie eine von Leidenschaft getragene Einigung andere Kräfte freisetzt als ein Zusammenfinden, das auf mühsamen, kleinteiligen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen beruht Gleichwohl: Über die unmittelbare Bedeutung der Federalist Papers in der Auseinandersetzung um die Verfassung sind die Meinungen geteilt; New York jedenfalls wählte einen anti-federalistischen Konvent Nachdem jedoch mit Virginia als zehnter Staat nach Massachusetts e in anderer großer Schlüsselstaat die Verfassung ratifiziert hatte, stand der Staat New York vor der Wahl, der Union fernzubleiben und eine Sezession der Stadt New York zu riskieren oder sich dem Druck der Umstände zu beugen. Der Konvent entschloss sich schließlich mit knapper Mehrheit flir die Ratifizierung. Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis e in wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher. Der Verdienst der Federalist Papers lag weniger in deren tagespolitischem Erfolg als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis der an1erikanischen Republik . Der Schritt zu einer neuen, die nationale Willensbildung und Entscheidungstindung vereinfachenden Fasson staatlichen Zusammenlebens hatte sich zuletzt trotz oder gerade aufgrundder langatmigen Ratifikationsauseinandersetzung vollzogen. Einige der Staatsversammlungen hatten die neue Verfassung allerdings nur unter der Prämisse ratifiziert, dass G. Washington als erster Präsident den Beschluß eines Grundrechtekatalogs im Kongress durchsetzen würde.
e) Die Schillsseirolle der Verfassung Virginias-Pionierinder Menschenrechte; konstillltioneffe "Morgendämmerung" - die Bill of Righrs ln ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776 kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Ve1fassung sein, die den Schritt von traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit zu meistern vermochte, als s ie erstmals Regeln der Staatsorganisation ("Consti tution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog ("Virginia Bill of Rights" 52) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen 52
In Art. I der Erklärung heißt es: "Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte ( ... ] und zwar auf Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Übersetzung von W P. Adams, im Internet unter http://chnm.gmu.edu/declaration/german.html). Hinzu kamen unter anderem Gewährleistungen der Pressefreiheit (Art. 12) und der freien
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Menschenrechten und die Rechtsentwicklungen in England bi ldeten den geistigen Unterbau, um die bedeutendsten Freiheiten als allgemeine Bürger- oder Menschenrechte in e inem Grundrechtskatalog zu konzentrieren und als positives Gesetz zu verkünden." Es mag der damaligen Mental ität der Siedler, ihrem ausgeprägten Unabhängigkeitssinn und deren gewachsenem Streben nach Glaubensfreiheit zuzuschreiben sein, dass s ich eine beispiellose Offenheit für zeitgenössische Staatsphilosophie beobachten ließ, die schließlich in deren konkreter Umsetzung mündete. Laut 0. Vossler sieht der Amerikaner "im Mayftower Compact, in den Covenants von Connecticut ( ... ]wirklich durch Vertrag Staaten entstehen, ihm ist in allen diesen Punkten das Naturrecht gar nicht Theorie und Literatur, sondern fassbare, s ichtbare, lebendige Wirklichkeit."" Zwar steht die Menschenrechtserklärung von Virginia noch außerhalb, also formal getrennt von der "Constitution or Form of Government". Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis es zu der Verschmelzung beider Bestandtei le kam . In der Verfassung Pennsylvanias vom 28. 9. 1776 wurde erstmals diese fiir das spätere Verfassungsverständn is wesentliche Verbindung formuliert: "We [ ... ) do ordain, dedare and establish the following Dedaration o f Rights and Frame of Government, tobe the constitution of this commonwealth....ss
Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass Grundrechte dauernde Berücksichtigung fanden. 56 So kam es schließlich, dass Religionsausübung (Art. 16). Siehe zu den ersten amerikanischen Entwürfen von Grundrechtskatalogen bereits H. Hägermatm, Die ErkJärung der M enschen- und Bürgerrechte in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen, 19 JO. Vgl. auch B. Schwanz. The Great
Rights o f Mankind. A History of the American Bill o f Rights, 1977; R. A. Rutl<md, The Birth o fthe Bill of Rights, 1776-1791, 1955. 53 Bereits das Massaclmseus Body of Liberties von 1641 enthielt e in detailliertes Bekenntnis zu lndividualrechten. In den General Fundamemals von New Plymouth aus dem Jahre I67 I wurde die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Rechtsprechung, die Achtung von Leib. Leben, Freiheit, g utem Namen und Besitztum sowie die Glaubens-, Gewissensund Kultusfrreiheit für unverletzlich erklärt, vgl. dazu R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, I 3. Aufl. I 999, S. 329; J. Hatschek, Allgemeines Staatsrech~ Bd. li, I909, S. I 33 f. 54 0. Vossler, Studien zur Erklärung der Menschenrechte. in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1964 (2. Aufl . 1974), S. 166ff.,J80 f. ss Vgl. "The Constitution of Pennsylvania". zitiert nach S. E. Morison (Hrsg.), Sources and Documents lllustrating the American Revolution 1764- 1788, 2. Aufl. 1929, Neudr. 1953, S . 162f. 56 Bis I780 schufen lediglich sechs Staaten Grundrechtserklärungen (Virginia, Delaware. Pennsylvania, Maryland, North Ca.rolina, Massachusetts). Inhaltlich gab es hierbei erhebliche Differenzen. So war die Frage nach dem konkreten Inhalt von "Freiheit" nicht eindeutig im Sinne einer allgemeinen Übereinstimmung zu beantworten. Freiheit als politische Partizipation war nicht gleichmäßig verwirklicht; in flinf Staaten waren beispielsweise nur Protestanten amtsf:ihig. Das Gleichheitsprinzip der Unabhängigkeitserklärung war
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Herrschaftsordnung und Grundrechte in der westlichen Vetfassungstradition seit der Einbeziehung der Ten Amendments als "Bill of Rights" in die amerikanische Verfassung im Jahre 1789" (ratifiziert 179 1) eine untrennbare Einheit bilden und nicht hinweg zu denkender Bestandte il moderner Verfassungen sind." Selten wird darauf verwiesen, dass im Prozess der amerikanischen Verfassunggebung 1787/88 die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte eintraten. 59 Hamilron, Madison und Jay, betonten in den gemeinsam von ihnen verfassten Federalisr Papers, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche AbwehJTechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freihe it in der Bürgerschaft, der s ich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: "Hier müssen wir ( ... ) letzten Endes das e inzige solide Fundament flir alle unsere Rechte suchen."60 Be kanntlich konnten s ich die Föderalisten mit diesem Ansatz nicht durchsetzen. Auf DJUck der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme e in Grundrechtskatalog entworfen, die Bill of Rig/us, flir die die amerikanische Verfassung berühmt geworden ist. Der "Vorabend" der Bundesverfassung nahm unter dem Gesichtspunkt der Verknüpfung dieser heute untrennbar erscheinenden Elemente also durchaus den Zeitraum bis 1789 in Anspruch. Das Jahr 179 1 mag als die "Morgendämmerung" einer modernen Verfassung bezeichnet werden, die der englischen Tradition von der Magna Cha.rra 1215 über die PeTition of Righr 1627, die Habeas Corpus Acr 1679 und die Bill of Righrs 1689 folgend strukturell und inhaltlich schon ein Stück in die Zukunft enteilt war. vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren Umsetzung bestimmt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Beriicksichtigung. Vgl. hierzu W. P. Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und po litischen Ideen der Amerikanischen Revolution, 1973. 51 Der Kongress verabschiedete am 25. Septemberzunächst zwölf Verfassungszusätze {Amendmems). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den Amendments unten ausführlich IV. I. a) Zur Geschichte der amerikanischen "Bill of Rights" vgl. aus neuererZeitdas sehr umstrittene Werk von L \V, Levy Origins of the Bill of Rights, 1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung bespricht A. Reed Amar, lbe Bill of Rights: Creation and Reconstruction, 1998. Siehe auch C. R. Smitlt, To form a more perfect union. The ratification of the Constitution and the Bill of Rights, 1787- 179 1, 1993. ,. Vgl. auch K. Srem, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I , 1984, S. 65; \II Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 26. 9 ' Anders freilich \II Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 3/1994, S. 22 ff. "' Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilron). 1
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik- der Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rechte des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten s ich entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwortung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte. Der entstandene Verfassungsstaat auf der Grundlage des Dokuments von 1787 war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformiette Staat, der s ich e igentlich erst jetzt als in s ich geschlossene Nation betrachten konnte, weit deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man e inen Ve rgleich mit 1776 an, so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings Verwaltung und Staatsverständnis lediglich Moditizierung erfahren durften. 1787 wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abgegeben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen Selbständigke it der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde. 5. "We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche Verfassung der Welt. 61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel 62 manifestieren sich Herkunft, Fundament und Auftrag dieses Werkes. "We the People( ... ]" ist mehr a ls lediglich der Ausdruck des Demokratiegedankens, der freilich zu den Säulen amerikanischen Verfassungsde nkeils zu zählen ist!' Das Volk wird als 01
Profunde Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa
R. lv. Bland, ConstitutionaJ Law in the United States: a Systematic lnquiry into the Change and Relevance of Supreme Court Decisions, 1992, S. I ff., 7 ff.; D. P. Currie, Die Ve rfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988, S. l l ff.; J. E.Nowak/R. D. Romnda,
Constitutional L1w, 6•ed. 2000, eh. I ,2,3, 12,20; L. H. Tribe, American Constitutional Law, 3"' ed. 2000. 02 Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend erläute rt von M. Adlerl W. Gorman, The American Testament, 1975, S. 63 ff. Den Zweck, Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsvergleichend P. Hiiberle, Verfassungslehre a ls Kulturwissenschaft, 2 . AuH . 1998, S. 920 ff.; vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J. Listl/ H. Schamheck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für J. Broermann, 1982, S.211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People 1: Foundations, 199 1. 63 Zum Demokratieprinzip ausfUhrlicher unter JV.3.e).
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Träger der verfassunggebenden Gewalt festgeschrieben."' Diese Bezugnahme, die in dieser Form e rstmalig Einzug in e ine moderne Verfassung hielt"', impliziert aber auch die Billigung und Prägung durch die Bürger eines Landes, in diesem Fall sogar den Hinweis auf die revolutionäre Vorgeschichte, und entfaltet schließlich identitätsstiftende Wirkung. Gleichzeitig wird der Schaffende zum Adressaten. Wobei der Begriff des "Schaffenden" weit zu verstehen ist: e ine Legitimation durch eine Volksabstimmung gab es nämlich ebensowenig wie zu den meisten folgenden Verfassungsentwürfen anderer Länder. 66 Die Volkssouveränität fand zwar von Beginn an in der amerikanischen Verfassung ihre theoretische Verankerung;67 s ie entfaltete sich hingegen inhaltlich und in der Wahrnehmung e rst eine Generation später, da die Verfassungsväter keine Demokraten im eigentlichen Sinne waren. Sie zlihlten zu der konservativen Oberschicht, die von einem tiefen Misstrauen gegen jegliche Volksherrschaft gekennze ichnet war. 68 Dennoch stand b4 So hat auch der US-Supreme Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war, vgl. McCul/och v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.} 3 16, 403 ( 1819}; Chisholm v. Georgia, 2 U. S. (2 Dall.} 4 I9,47 1 (1793}; Marrin 1'. Humer's Lessee, 14 U. S. ( I Wheat.} 304, 324
( 1816}. 05 Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der "Verfassung" die unterschiedlichsten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, \VOlle er nicht in Anarchie verfallen, sich an bestimmte Ordnungsvorstellungen halten müsse. Freilich handelte es sich hierbei oftmals lediglich um die Fixierung real vorhandener Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines Herrschers oder vertraglichen Absprachen bemhten. Es konnte weder von einer Ordnung des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher Prinzipien die Rede sein. Diesbez-üglich war Verfassung alleine "institutio'' und nicht "constitutio", vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.Aunage 1914 (Neudr. 1960}, S. SOS, 52 1; K. Srern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: G. Müller u. a. (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktion im
Wandel, Festschrift für Kurt Eicheoberger zum 60. Geburtstag, 1982, S. 197 ff., 200. Zum Verfassungsbeg riff unten ausführlich unter B.ll .2. f}nn}. 66
Eine Ausnahme bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe allgemein aus dem deutschspr.tchigen Schrifttum H. Schneider, Volksabs-timmung in der rechtsstaatliehen Demokratie, in: 0. Bachof/ M. Drath /0. Gönnenwein/E. Walz (Hrsg.}, Gedächtnisschrift fUr Walter Jellinek, 1955, S. 155 ff.: K. Hemekamp , Formen und Verfahren direkter Demokratie, 1979; J. Geblwrdt, Direkt-demokratische Institutionen und
repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991, B 23, S. 16 ff.; W Scflmiu Gl<~eser, Die Antwort gibt das Volk, in: P. Badura/ R. Scholz (Hrsg.}, Festschrift fUr Peter Lerche, 1993, S. 315 ff. Vgl. auch H.K. Heußner, Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland, 1994 sowie R. Grore, Direkte Demokratie in den Staaten der Europäischen Union, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1996, S. 317 ff. 67 Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses C. Rossirer, The Political Thought of the American Revolution, 1963, S. J70ff., 185ff.; siehe auch J. Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen und Prozesse gliedstaatlicher Interessenwahrung in den Vereinigten Staaten von Amerika, I 992, S. 26 m. w. N. bS Vgl. K. Loewensrein (I 959}, S. 8 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrachtung, Anwendung und Gestaltung der Ve1fassung. Bestätigt und gestärkt durch die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus. 6. Eine (ge)zeitenfeste Verfassung Ursprünglich für einen Agrarstaat mit einer Gesamtbevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen konzipiert, gilt die Verfassung mittlerweile in einem Staat, dessen Bevölkerung sich seit 1789 mehr als versechzigfacht hat69 und der selbstbewußt flir sich den Standort der Wiege des Fortschritts in Anspruch nimmt. Tatsächlich entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu e iner hochindustriali s ierten, beherrschenden Weltmacht - und dies mit einer in ihren Kerngehalten wenig revidierten Verfassung. Die Grundentscheidung der Verfassungsväter, nur die fundamentalen Grundsätze durch die Verfassung selbst zu regeln 70, hat sich möglicherweise auch angesichts dieser Entwicklung bewährt. Menschen, Institutionen, Organe und Machthaber mussten - vielleicht durften- sich mehr als zwei Jahrhunderte an einem nahezu unveränderten Verfassungstext ortientieren. Veränderungen des Wertebewußtseins, Systemwechsel, außenund innenpolitische Neuordnungen fanden gerade nicht ihren Niederschlag in gänzlich neuen Verfassungsentwürfen. Die Flexibilität eines konzentrierten, gestrafften Werkes ist demzufolge Ursache und Messlatte der Dauerhaftigkeit dieser Verfassung, die lediglich 4400 Worte umfasst und damit die kürzeste aller geschriebenen Verfassungen ist. Im Zuge der Verfassungsbestätigung der vergangeneo 200 Jahre hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika e in mitunter ritualisierte r Verfassungspatriotismus ausgebildet. Neben idealisierten Darstellungen des Grundkonsenses von 1787 und der darauf beruhenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen des historischen Verfassungsgebers ist wohl auch dies auf die Knappheit des Textes zurlickzuflihren. Nach Currie hat diese Entscheidung "erheblich zur gesunden und weit verbreiteten Auffassung beigetragen, dass die Verfassung ewige und heilige Vorschriften enthält, an denen man nicht ohne zwingenden Grund rütteln sollte. 71 " Auch in England als Wunderwerk menschlichen
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D ie Vereinigten Staaten von Amerika hatten z.um Zeitpunkt der letzten Volksz..1hlung
im Jahr I990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alleneueren Daten sind e in Ergebnis der Fortschreibung derStatistik. Der Fortschreibung zu folge ist die Bevölkerung aJiein bis zum I. 7. 1998 auf270 Mio. angestiegen. 70 So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCuJ/.och v. Maryland, 17 U.S. 316 ( 18 19). 71 D. P. Currie, Die Verfassung der Vere inigten Staaten von Amerika, 1988, S. 78. Vgl. auch J. Anna/reim (I 992), S. 24.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Geistes gerühmt71, wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut Fraenkel mehr und mehr zum "Objekt eines irrationalen Staatskults"73 •
7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strnkturierungsansätze Bei aller myth ischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie erbittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die heutige Zeit: e ine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist freilich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfe lds und nicht oder nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar erscheinende amerikanische Vetfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompromisse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip oder als politische Lebensform" das amerikanische Verfassungsdenken in erheblichem Masse beeinftusst hat. 75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Vetfassung gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesellschaftlicher, vielleicht kultureller Veränderungen,. waren. Der Versuch, die amerikanische Verfassungsgeschichte einer Strukturierung zu unterziehen wurde mehrmals unternommen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen, die freilich differierenden Grundausrichtungen der jeweiligen Forschungsvorhaben entspringen. 77 Der vergleichende Blick auf die Verfassungsentwicklung Europas soll eine Auseinandersetzung mit den verfassungsbezogenen Wendepunkten in den Vereinigten Staaten rechtfertigen. Verfassungsbestätigung erfahrt damit 71
So bezeichnete \IIE. G/adstone, in: The North American Review, Sept. 1878, S. 179 die Verfassung als .,( . .. ]the most wonderful instrument ever struck off at a g iven time by the brain and purpose of man."' Vgl. auch E. S. Corwin, Some Lessons from the Constitution of 1787, in: R. Loss (ed.), Corwin on the Constitution, Vol.l 1981, S. I 57 ff., 164 f. 73 E. Fmmkel, Dasamerikanische Regierungssystem, 3. Aufl. 1976, S. 2 1. Siehe auch C. M. KielTe, Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976, S. 8. 74 Diesen Tenninus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, R. Zippe/ius in seiner "Allgemeinen Staatslehre", 13. Auflage 1999, S. 233 ff., 432. 75 Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betr.tchtung des amerikanischen "Verfassungscharakters"'. vgl. unten 8.1. 9. 76 In diesem Zusammenhang von .,kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der Gefahr der Widersprüchlichkeil verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus der Kraft immanenter Veränderung. n Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte stammt von K. L Hall, A Comprehensive Bibliography of American Constitutional and Legal History, 1896- 1979, 5 Vol. 1984. Siehe a uch E.M. McCarrick, U.S. Constitution: a Guide to Information Sources, 1980; A. T. Mason, American Cons-titutional Development, 1977; S.M. Milieu, A Selected Bibliography of American Constitutional History, 1975.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
sowohl eine Begrenzung als auch e ine ErkläJUng hinsichtlich ihre r Abhängigkeit von .,verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in e inigen verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob s ie letztlich ihre Entsprechung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein."' Lassen s ich nun allgemein verfassungsgeschichtliche Wenden konstruieren, die sich in allen rückblickenden Betrachtungen moderner Verfassungen zwangsläufig einstellen müssen, sobald eine gewisse gesellschaftspolitische, soziale oder kulturelle Veränderung Platz gegriffen hat?
K. Loewenstein teilt die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten von der Gründung der Union bis zu den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in drei Abschnitte, wobei sich der erste von der Etablierung der Republik bis zur Rekonstruktionsperiode nach Abschluss des Sezessionskrieges erstrecken sollte, der zweite von diesem Zeitpunkt bis zur großen Depression 1929 reichte und schließlich der dritte die Zeitspanne vom Roosevelt' sehen New Deal bis zur Gegenwart umfasse. 79 Eine andere Einteilung nimmt J. Annnheim unter dem Aspekt der Entwicklung des amerikanischen Föderalismus vor. 80 Dieser Ansatz soll aufgrund der bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken Berücksichtigung fi nden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart eine grobe DreigliedeJUng vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen .,dual federalism" und .,cooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der "neueren Entwicklung"" ausrichtet. Der "dual federalism" e rfährt noch ei ne abgestufte Betrachtung, indem zwischen .,Aufbau" ( 1789-1861) und .,Bewährung" ( 1861-1933) unterschieden wird. Ähnlich wi rd der "cooperative federalism" in "Grundlegung" ( 1933- 1941) und "Ausdifferenzierung" ( 194 1- 1960) sowie die .,neuere Entwicklung" in .,präsidentiellen Reformföderalismus" (1960- 1980) und "Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Aufgliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt A. 8. Gunlieks vor. 82 71
Hierz.u unten B. II. und zusammenfassend unter B. V. I. K. Loewensrein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 16. 80 Siehe J. Annoheim ( 1992), S. 38 ff. 8 1 Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte "devolution revolution"; vgl. hierzu A. 8 . Gun./icks, Föderative Systeme im Vergleich: Die USA und Deutschland, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Föderalismus- hält er noch, was er verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte ausländischer Erfahrungen, 2000, S. 41 ff., 55 ff., J. Kincaid, Oe Facto Devolution and Urban Defunding: The Priority of Persons over Places, in: 2 1 Journal of Urban Affairs ( 1999) no. 2 , S. 135 ff. 2 ' Vgl. hierzu A. B. Gunlieks (2000), S. 41 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen Föderalismus, in: P. Kirchhof/D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz: Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993, S. 99 ff. 79
I. Eckpunkte de r US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Der Nachteil einer lediglich an den Erscheinungsformen des Föderalismus orientierten, gegliederten Verfassungsgeschichte wird offensichtlich, wenn man eine Einbeziehung des ersten Adressaten der Verfassung in diese Konstellationen anstrebt. So gibt es verfassungsspezifische Wendemarken, welche die Bevölkerung, letztlich die Gesellschaft tatsächlich aufzuwühlen und zu prägen vermochten, die von anderer Qualität waren als solche, die s ich nur am Zusammens piel der Kräfte des Bundes und der Einzelstaaten ausrichteten.
D. P. Cr.rrie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts.83 Demnach soll es in der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs "große Wenden" gegeben haben: "die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einerneuen Nation . Die zweite war die Verstärkung des Bundes durch die Annahme der jetzigen Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court während der Amtszeit des großen Chief Justice John MarshalL Die dritte war die Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments' nach dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen den Sozialstaat. Die flinfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während der ,New Deal' Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechsten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen Prozesses e ingesetzt - wie Chief Justice H.F. Stone schon 1938 voraussagte."8 ' Eine "siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand, dass seit 1969 vier republikanische Präsidenten zehn neue Richter zum Supreme Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, e ine konservative Wende herbeizuführen.115 Obgleich s ich über die Auswahl der e inzelnen "Wenden" trefflich streiten lie ße, zeigt Cr.rries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfas sungsentwicklung wurde und wi rd im Wesentlichen durch die Entscheidungen des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu ausgerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf 83
D. P. Currie, Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: JÖR 46 (1998), S. 51 1 ff. 84 D. P. Currie ( 1998), S. 511 f. 115 Vgl. D. P. Currie ( 1998), S. 5 12 , 524., der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich angedeutet sehen will.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden. B. Ackerma11n hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei "U.S. constitutional regi mes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende "transformations" hinzunehmen hatten.•• Das e rste "Regime" sei mit der Gründung der Union geschaffen worden, das zweite in der Phase der "Reconstruction" und das dritte während des "New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann flir sich beanspruchen, im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste "Regime" ist Teil e ines Rahmens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts transatlantisch um die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschenrechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt. 87 Die Periode der "Reconstruction" (1865-77) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre 1848 verglichen.., wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfristig s ubstantie lle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des "New Deal" lassen sich durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada ziehen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die Wirtschaftsmisere. •• Die Vetfassungskrisen in Argenlinien und Weimar führten freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen.
Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Verfassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur Entwirrung des "Wendengetlechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewährenden Verfassung soll den sich stets e meuernden Bedeutungszusammenhang von Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.
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B. Ackermann, We the People, Vol. 2: T ransformations, 1998. Siehe dazu das klassische \Verk R. R. PaJmers, Age of Democratic Revolutions, 2Bde. 1959. 88 Vgl. nur M. Tuslmel, The Possibilities of Comparative Constitutional Law, in: 108 Yale Law Journal ( 1999), S. 1225 ff. •• Vgl. M. Tuslmer ( 1999), ebenda. 37
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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8. Konstitutionelle Selbsttindung nnd kulturelle Selbsherwirklichung Dieamerikanische Verfassung hat, neben der Unabhängigkeitserklärung als das wahrscheinlich wichtigste, definitorische Element der amerikanischen res publica, im Laufe der eigenen, an1erikanischen Geschichte kontinuierlich als Bezugspunkt gedient. Etwas Analoges hat es beispielsweise in Deutschland nicht gegeben.'"' Greift man das oben angeführte Bild der verfassungshistorischen "Wenden" wieder auf, so lassen sich die beschriebenen Schritte von den e inzelstaatlichen Verfassungen zu einer bundesstaatlich ausgerichteten, übergeordneten Verfassung in der Gestalt von 1787 sowie die anschließendetfolgte Einbettung der Grundrechte als erste Wendepunkte markieren. Dabei soll die Wegstrecke konstitutioneller Selbsttindung vom Mayjlower Compact91 bis zur Verfassung Virginias als eigentlicher Ausgangspunkt dienen. Die kühne Feststellung der "konstitutionellen Selbstfindung" geht Hand in Hand mit der kulturellen Selbstverwirklichung einer Bevölkerung, die s ich die Unabhängigkeit 1776 nicht nur auf dem Papier, sondern im Herzen erstritten hatte. Amerikanische Kultur beginnt demzufolge nicht erst mit der Declamtion oflndependence oder den letztlich erfolgreichen Bemühungen um eine Verfassung. Sie findet vielmehr hierin ihre ersten Höhepunkte. Die Asomnie amerikanischen Verfassungsdenkens und -Iebens über mehr als zweihundert Jahre ist ebenso Zeugnis positiven Auslegungsgebarens wie gelegentliches Abbild eines herausgeforderten Aktionismus. Verfassungsgeschichte muss in den Vereinigten Staaten als Verfassungsgegenwart angesehen werden. 91 Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bi ldeten das "supreme Iaw of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen 90
ln den mehr als zweihundert Jahren der amerikanischen Verfassung, hat Deutschland das Ende des Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, den Deutschen Bund, 1848, sptiler den Norddeutschen Bund, die Bismarck'sche Reichsverfassung von 1871, die
\Veimarer Verfasssung, die Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft des Dritten Reichs, die Besatzungszeit, zwei Verfassungen der DDR und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser Gegenüberstellung G. Ctuper, Die Karlsruher Republik, Rede beim Staatsakt zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichtsam 28. September200 1 in Karlsruhe, http://www.bverfg.deftextefdeutschfaktuellfCasper.html. 91 Vor der Landung des berühmten Segelschiffsam 21. I I. 1620 bei Cape Cod schlossen 41 Männer aus den Reihen der Pilgerväter den Mayjlower Compac t, in dem sie sich
zur Aufrichtumg einer gesetz-lichen Ordnung in der zu gründenden Siedlung Plymouth verpflichteten. 92 Ähnlich K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. VII. Frederick \II Tumer l/1 sagte 1971in einem Vorwort zur Neuauflage von C.A. Eastmanl E. Easmum, Indian Boyhood, 1902: "Die Geschichte existiert für uns nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird die Vergangenheit lebendig, oder, akuraterausgedrückt, dann wird deutlich, was Geschichte schon immer gevlesen ist- ein Teil der Gegenwart."
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und Gesetzen hatte. Dies e rmöglichte der Zentralregierung die nötige coercive power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madis on und Hamitton als
unabdingbar flir die innere Stabilität der Union erachteten. Auch P. Häberle93 verdeutlichte, in einer Verfassung seien nicht lediglich blanker juristischer Text oder normatives "Regelwerk", "sondern auch Ausdruck e ines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" zu sehen. Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft ihrer Nation . Sie waren sich bewußt, dass die Re gierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausgerichtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis. 94 Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhunderts stehen_.' Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition w ie im ähnlichen Maße regulierende Barriere für a llzu modernistische Bestrebungen. Zusammenfassend wäre es also verwegen zu behaupten, die amerikanischen Verfassunge n nach 1776 faßten lediglich in Worte, wie man in Amerika glaubte, dass die britische Verfassung hätte geraten müssen. In fortwährendem Rückgriff auf ihre Wurzeln und Ursprünge erlangte die amerikanische Nation mit der Verfassung neben einem Instrument der Selbstinterpretation e ines der (kulturellen) Selbstverwirklichung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1787 zunächst e in grundsätzlich neuer Verfas sungsbegriff am Ende einer Entwicklung und am Anfang eines Siegeszuges eines in sich wachsenden "Exportartikels" stand. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die amerikanische Vetfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt s ie zum Aus fluss einer Idee zu machen, die die Wirklichkeit umgestalten sollte. 96 Dieamerikanische Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung und nationalen Einheit des Landes und verobjektivierte den Willen ihrer "founding fathers". Sie kann in ihrer ursprünglichen Gestalt als Resultat einiger wesentlicher Einflussfaktoreil betrachtet werden : als Erwiderung der vorhersehbaren Schwächen des amerikanischen Staatenbundes unter den Arricles of Cmifederarion; als An•3
Siehe P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. Berlin 1998, 5. 83 . .. Hierzu ausführlich unter B. lV.I.a)aa). •s Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht, München 2000, S . 18 in Fn. 5. 96 Ähnlich auch D. Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, Frankfu rt a. M . 200 I.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
47
passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen Einzelstaaten vertraut waren97 und a ls Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen und politischen Ideen.
9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses Die offensichtlichen Grundprobleme, etwa der Ausgle ich zwischen Zentralgewalt und Einzelstaaten wurde durch Kompromisse gelöst. So erlangte die neue Bundesverfassung einen pragmatischen und verg leichsweise undoktrinären Chamkter. Der philosophische Schwung der Unabhängigkeitserklärung von 1776 mag verloren gegangen sein - die entsprechend nüchtern ausfallende Verfassungs Präambel legt hierfür bereits klares Zeugnis ab. Dennoch gewährt die Bundesverfassung erheblichen Spielraum zur Deutung und, im j uristischen Sinne, zur Auslegung. Das nordamerikanische Vetfassungsverständnis ist wesentlich durch die Vorstellung von Konsens geprägt. In der Praxis bewies sich diese Bewandtnis erstmals anlässlich des Verfassungskonvents von 1787 in derbereits geschilderten Einigung zwischen den kleineren Staaten und Madiso11 hinsichtlich des Proporzes im Zweikannnersystem . Gleichwohl war die Gesellschaft der Vereinigten Staaten bereits seit langem an die selbstverständliche Praxis einer bestimmten Art von Staatlichkeil und Konsensherstellung gewöhnt. Kein anderes postkoloniales Staatswesen sollte über diese Grundlage einer politisch geschulten Zivilgesellschaft verfügen.•• Insgesamt ist die Perzeption vom "Kompromiss als politischer Lebensform" 99 ein Ankerpunkt des amerikanischen Verfassungsverständnisses. Individuelle Interessen sollen auf der Basis persönlicher Entfaltungsfreiheit, Meinungs- und Glaubensfreiheit organisiert und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bundesstaates zur Durchsetzung ihrer Ziele in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden. Aufgrund einer ausgeprägten "Partikularisierung" der Politik ergibt es sich nicht selten, dass die Kompromisse kein ausbalanciertes Resultat berücksichtigenswerter Interessen sind, sondern unter erheblichem- zuweilen unverhältnismäßigem- Einftuss partikulärer Kräfte erwachsen oder scheitern. 97 So auch K.LShell, Die Verfassung von 1787, in: W.P.Adams u.a. (Hrsg.), Die VereinigJen Staaten von Amerika, Bd. I, Frankfurt/New York 1990, S. 277ff, 277. 9S Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in L1teinamerika und später in Afrika oder sie waren nur wenige Jahrzehnte alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der außereuropäischen \Velt in \V. Re;nhard, Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, 1999, S. 480 ff. 99 Vgl. zu dieser Bezeichnung R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Auft. 1999, S. 233 ff. m. w. N.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der dauernde Zwang zu Koordination und Kompromiss erzeugt allerdings auch Reibungsverluste und gefahrdet nicht selten Klarheit und Kontinuität amerikani scher Politik. Die verfassungsrechtlich gewollte "Langsamkeit" der Politikprozesse in den USA ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig durch das Phänomen des "divided government" verstärkt worden. Der Umstand, dass häufig der Präsident und die Kongressmehrheit nicht derselben Partei angehören, hat zusätzlich Entscheidungsprozesse gehemmt. ln der zweiten Amtsperiode von G. IV. Bush offenbarte sich jedoch auch ein umgekehrtes Phänomen immanenter Schwächung, nämlich bei klaren Mehrheiten der ,.Präsidentenpartei" in den beiden Häusern des Kongresses. Auch wenn es paradox klingen mag, fUhrt dies umso e her zu Lähmungserscheinungen. Auf den zweiten Blick wi rd deutlich: das System der .,checks und balances" wird hiermit unelegant, aber effektiv ausgehebelL 10. Eine dynamische Verfassung- "living constitntion" Dieamerikanische Verfassung wird weithin als .,living constitution" bezeichnet und begriffen. 100 Zwar könnte sie für den kontinental-europäischen Juristen anges ichtsfehlender scharfer Kompetenzabgrenzungen sowie begrifflich schwammig umrissener Tatbestände, die demzufolge kaum als Obersatz eines Subsumtionsschlusses dienen können, als Aufruf zur Rechtsunsicherheit verstanden werden. Ihre Kürze und inhaltliche Unbestimmtheit gereicht ihr hingegen zur Stärke. Es liegt daher nahe, die Verfassung der Vereinigten Staaten eben nicht als dauerhaft unberührbaren, in einem Flechtwerk von Kompetenznormen fassbaren Zustand, sondern als dynamischen Evolutionsprozess zu begreifen. Letztere Annahme könnte die Schlußfolgerung nach s ich ziehen, das amerikanische Verfassungsrecht habe nie eine hohe Stufe dogmatischer Durchbildung erreicht. 101 Diese Feststellung ist jedoch nur im Hinblick auf dogmatische Grundsätze nachzuvollziehen, die ihren Ursprung in zuweilen engen Maßstäben (kontinental-)europäischen Rechtsdenkens haben. Das amerikanische Faktum einer gewissen Scheu vor starren Be grifflichkeiten und abstrakten Systematisierungen bedeutet nicht die Abkehr von jeglicher Dogmati k. Im Gegenteil, der Charakterzug der amerikanischen Verfas sung als .,living constitution" erfordert gerade e ine dogmatische Einbettung, die in über 200 Jahren erprobt und bestätigt wurde. Die Notwendigkeit ergibt sich bereits aus der Gefahr der Konturlosigkeit höchsten, verbindlichen Rechts, verbunden mit einem a llzu offenen Spielraum richterlicher Interpretationstätigkeit 100 Vgl. statt vie ler R. lV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic lnquiry into the Change and Relevance of Supreme Court Decisions, Revised Edition, 1992, S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padm'er, The Living U.S. Constitution, 3113
rev. ed. J995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen M enschenrechtskon-
vention (EMRK) als "living instrument". 101 So C.M. Kleue, Zur EinfUhrung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976, S.8ff., 9.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
49
Dieamerikanische Verfassung soll die festen, abstrakten Grundbedingungen des Staates festlegen und ist nicht- wie in der Schweiz über die Volksinitiative-auch eine stete "Plattform der politischen Auseinandersetzung". Sie ist der Z usanlmenhalt einer sonst sehr heterogenen Gesellschaft, und bi ldet so e inen e igentlichen "dignified part" des amerikanischen Staatsrechts (Verfassungspatriotismus), ohne aber nur noch repräsentative Funktion zu haben. Die grundsätzliche Flexibilität der an1erikanischen Verfassung, ihre Beständigkeit und Kürze können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechtsordnung der USA einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aufzuweisen hat. Vielleicht sind es gerade die genannten Charakteristika der Verfassung, die zu diesem differenzierten Erscheinungsbild mit beizutragen wissen. Beispielsweise beinhaltet die Willensbildung zwischen Union und Bundesstaaten, zwischen den Bundesstaaten und innerhalb eines Bundesstaates sowie schließlich die Assoziation dieser einzelnen Umstände ein vergleichbares Maß an Problemstellungen wie die gegensätzlichen Interessen und weitgehend fehlende Homogenität zwischen den Regionen und den Bundesstaaten. 102 Die Schwierigkeiten, die sich aus dem steten, durch das Enteilen der Technik hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Wandel ergeben haben und werden, seien an dieser Stelle nur angedeutet.
11 . Einige Grundgedanken und Strukturelem ente des amerikanischen Verfassungsstaates 103 Die Vereinigten Staaten von Amerika s ind eine präsidialdemokratische Republik mit bundesstaatlicher Verfassung. Sie verzichtet auf die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft, um den ehernen Prinzipien Gewaltenteilung und gegenseitige Gewaltenhemmung stärkere Geltung zu verleihen. Die Furcht vor einer allzu starken Machtkonzentration ebnete den Weg zu einer Bundesverfassung, deren Handhabe gegen jegliche einseitige Machtposition ein vielverzweigtes System der Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung sowie föderativer Gewaltenbalance erfordert. Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb angelegten Wahlen, am Konftiktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bi lden die Messlatte des Umgangs. Unter der Alleinherrschaft eines von einer demokratischen Mehrheit gewählten Parlaments und e iner von einem demokratischen Parlament abhängigen Regierung 101 Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, I 995, S. 75; LLJaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S.69. 103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden .,transatlantischen Vergleichs"
e ingegangen (vgl. unter B.JV.3. und B. V.).
so
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der re ligiösen Se kte n, sondern auch die Eigentumsrechte der (eine dünne Oberschicht bildenden) ökonomischen Elite flir gefahrdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung der USA. Der Rousseau'sche Gedanke eines a priori gliltigen Gemeinwohls ist ihr ebenso fern wie die Vorste llung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unterdrlickung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann ambestengedient sei, wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einze linteresse einen dominierenden Einfluss auszuliben in der Lage sei. Die Ablehnung einer "dire kten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen " Republik" wird mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mitte ls einer Repräsentativverfassung nicht nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermögl icht werde.104 Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigte n Staaten von Amerika nach dem Gesetz, nach dem s ie angetreten s ind: der Bere itschaft, den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation zusammengesetzt ist, e ine freie Entfaltungsmöglichke it und den Gruppen selber e in freies Betätigungsrecht zu gewähren. Nach E. Frae11kel garantiert das naturrechtlich legitimierte amerikanische Verfassungsrecht nicht nur die Existenz dieser Gruppen, sondern legt auch die Spielregeln fest, nach denen s ie im Gesamtgeflige der nationalen Einheit zu operieren berufen s ind und normiert zugleich die Beschränkungen, die einer jeden dieser Gruppen und der Gesamtheit auferlegt s ind. 10' Beides sei zur Pflege des Gemeinwohls e iner Nation unerläßlich, die sich gerade deshalb als politische Einheit flihle, weil die autonome Entwicklung der Parti kulargruppen gewährleistet ist, aus der s ie s ich zusammensetzt.
104
Siehe aber a uch E. Fmenkel, Das amerikanische Regierungssystem, I960, S. 39 f.: "Es wäre allzu einfach, den Drang und den Glauben nach einem einheitJichen ,Gemeinwillen' lediglich als ,falsches Bewußtsein' abzutun; und es wäre allzu beque m, die Existenz und die Betätigung der Gruppenwillen lediglich als soziale Verfallserscheinungen abzulehnen. Besteht doch die Gefahr, dass ohne den Glauben an das Vorhandensein e ines
Gemeinwillens das Gemeinwohl gefährdet, wenn nicht gar beeinträchtigt wird, weil sich sonst herausstellen mag, dass ein Gruppenkompromiss entweder unmöglich oder lediglich unter einseitiger Berücksichtigung der Interessen der stärksten dieser Gruppen zu erreichen ist. Wie denn andererseits die Gefahr besteht, dass ohne die Gewährung eines freien Betätigungsrechts die Minoritätsgruppen sich vernachlässigt, \venn nicht gar vergewaltigt fOhlten, und der amerikanischen Nation niemals hätten eingegliedert werden können bzw. ihr wieder entfremdet worden wären." sowie ders.~ S. 343 ff. 105 E. FraenkeJ, Dasamerikanische Regierungssystem, 1960, S. 343 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
5I
Es ist richtig: Der stärkste Integrationsfaktor der Vereinigten Staaten von Amerika ist die Anerkennung des pluralistischen Charakters der amerikanischen Nation .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverstiindnisses Europa a ls Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, an1 Ende dieser Stufenleiter angelangt und auf de m Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen Konservatismus 106 und Moderne werde n, der weder die Option der Gradwanderung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag. Beides bedarf e iner stützenden Konstante, e iner organisierten "Seilschaft", die in Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu tinden sein dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf romantischer Ve rklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Integrationsdefizits zugefUhrt werden. Emotionale Bindungen s ind der oftmals von einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt wesenseigen, jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane e ine bedeutsamere Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen.107
lOb Der Konservatismus is-t angesichtsseines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit der Französischen Revolution zum Sammelbegriff fUr politische Strömungen und Ideen; in England erscheint der Begriff erst 1830, als J. W Croker die Tories als "conservative party"' bezeichnet) vom Traditionalismus oder vom sog . .,natürlichen Konservatismus"' zu unterscheiden (vgl. dazu ausfUhrlieh K. Man11heim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soz.iologie des \Vissens, 1927). Während der Traditionalismus die ,,allgemein-menschliche Eigenschaft" bezeichnet, .,dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf Neuerungen eingehen'', ist der Konservatismus ein erst in der Moderne möglich gewordenes
Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und d ie Spaltung der Ideenwelt
in Gegner und Befürworterdes "Fortschritts'' voraussetzt, vgl. A1annheim, ebenda. Hiersoll der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung z.ur Moderne bestimmt werden; ein lebensf..ihiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur Mcxlerne als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden>vgl. auch H. Otmrann, Konservatismus, in: Staatslexikon, Bd. 3 , 7 . Aufl. 1985, S. 636 ff. 107 Vgl. im \veiteren Sinne auch R. Strcdnz, Europäische Integration durch Verfassungsrecht, in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einereuropäischen Wissensgesellschaft, Heft VIII, April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.J. Blanke/S . Mangiameli (Hrsg,), Governing Europe under a Constitution, 2006, S. I ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
I. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses
Die Debatte um die Verfasstheil der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union 10• ist so alt wie diese selbst. ln ihr spiegelt s ich von Anfang an die Intention der Europäischen Grlinderväter, mehr als lediglich ein loser Zusammenschluss gle ich gesinnter Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele und auch mehr als nur e in Binnenmarkt zu sein. Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbunden ist, gab es Vorläufer einer Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden Mittelalter. "" Eine Verfassungsgeschichte Europas bedürfte freilich des Blickes bereits in die Antike. Allerdings würde selbst die Beschränkung auf e inzelne Wegmarken europäischer Verfassungsgenese den Rahmen dieser Untersuchung s prengen. Die Dezimierung auf Aspekte, die ihren Ursprung im 20. Jahrhundert finden, ist daher ei n dürftiger Ansatz, jedoch gleichzeitig die Bändigung eines der Ausschweifung gefaludeten Blickwinkels, der seinen Ausgangspunkt aber im Versuch des Verständnisses einer Jahrtausende währenden Entwicklungslinie "europäischen Denkens" zu fi nden sucht. 110 Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamythos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Du.bois und bildlicher Darstellungen wie RembmndJs "Raub der Europa". Gedanklich e inzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rorrerdam, die Erwägungen Sullys im 17 ., des Abbe de Saim-Pierre im 18. oder von Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert. "' Auch würde "Die Christenheit und Europa" des 103
Z.u den BegrifHichkeiten "Europäische Gemeinschaften" und "Europäische Union" und deren substantieller Unterfütterung U. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C. D. Classen u. a. (Hrsg.), "In einem vereinten Europa dem Frieden der \Velt zu dienen . .. ". Liber amicorum Thomas Oppermann, 200 I, S. 163 ff. 109 Ein guter Überblick findet sich bei R. Srreinz/ C. Ohler/C. Herrmann, Die neue Verfassung für Europa. Einfiihnmg mit Synopse, 2005, S. I ff. Siehe auch A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfezur Gründungeiner Europ..1ischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000,2001. Vgl. auch R. Streinz, Dereuropäische Verfassungsprozess - Grundlagen, \Verte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der Akademie flir Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung1 2008, S. 6 f. 110 Siehe aber ausführlich beispielsweise lV. Sclrmale, Geschichte Europas, 2002 sowie M. Zuleeg, Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: ZNR 1997, S. 270 ff. Vgl. auch U. Everting, Unterwegs zur Europäischen Union, 200 I; R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 199 t; H. Hauenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. AuH. 2004; H. \l'ehberg, Ideen und Projekte betreffend die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren, 1984. 111 Man müsste Dames Idee einer ,.Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die Gedanken von Podiebmd, Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Dichters Novalis größere Beachtung verdienen, ebenso "Vordenker" Europas wie C. F. vo11 Schmidt-Phiseldeck, G. Ma{.Zini oder V. Hugo.
2. Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses
a) Von Paneuropa zur Europa-Union (1923-1944) Der "Ve1iassungsprozess" der Europäischen Gemeinschaften - bis hin zur Europäischen Union - ist vielschichtiger als oftmals dargeste llt'"(- allein aus der Zeit 1939-1984 hat W. Lipgens nahezu 150 Texte mit Verfassungsvorschlägen vorgelegt"'-) und soll in dieser (eingegrenzten) Untersuchung seinen Ausgangspunkt in der "Pan-Europa-Bewegung" des Grafen Coudenhove-Kalergi finden, die fre ilich bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre Geburtsstunde eliebte und damit erheblich früher als die Gründung der Europäischen Gemeinschaften anzusetzen ist. Bereits im November 1923 hatte R. N. GrafCoudenlwve-Ka.lergi, geboren 1894 in Tokyoals Sohneines k. u. k. Diplomaten und einer Japanerin, ein schmales Buch veröffentlicht'". in dem er seine Neigung, in Erdteilen zu denken und die Welt nach seinem persönlichen Ermessen zu formen, erstmals e iner größeren Öffentl ichkeit der Folge auch J. Bemham, F. Gemz und selbst Napoleon 801wparte (er schreibt 18 16 auf seiner Verbannungsinsel St. He lena in sein "Memorial de Sainte HeHme'": ~.Eine meiner Lieblingsideen war die Zusammenschmelz.ung, die Vereinigung der Völker. die durch Revolution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, e ine "association europeenne" zu venvirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und G lück gebracht, nicht zuletzt a uch ein gleiches System in ganz Europa: "un code europeen, une cour de cassation e uropeenne"). Vgl. a uch die wichtigen Impulse von /. Kam (er betont in seiner Schrift ,.Zum ewigen Frieden" ( 1795) die Notwendigkeit, e inen Bund de r Nationen zu schaffen und entwirft ein " Bundes-Europa"), G. F. Hege! und F. W Scllelling. Weitergesponnen wurden diese Gedanken (von der Übe rlegenheit Europas) etwa von A. Comte. Siehe sodann auch d ie Schriften von J. K. Blwusc/rli, K. Fmmz, aber auch K. Marx (er teilte e twa die Überzeugung Hegels, dass \ Vesteuropa der fortgeschrittenste und begabteste Teil der Welt sei, also der e inzige, der reif wäre 1 die Zukunft der Menschen z u formen. Marx begrüßte die freiheitliche n Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch unterdruckten Polen a ls "dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen Gesellschaft. Freilich war e r überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom liberalen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbe igefUhrt werden könnte, sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burr:klwrdt und B. von Swmer verwiesen. 112 Die .,europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen betrachtet vertiefend auch \V. Loth, Entwürfe e iner europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz, 2002. tu W Lipge11s (Hrsg.), 4 5 Jahre Ringen um d ie Europäische Verfassung. Dokumente 1939- 1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, 1986. 114 R.N. GrafCoudenhove-Kalergi, Paneuropa, 1923.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
verriet. Der Titel "Pan-Europa" stand flir ein Programm mit weit re ichenden Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapita le, eine gemeinsame Währung und Armee, schließl ich die Verabschiedung einer Verfassung für die Ve reinigten Staaten von Europa. "Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert", propheze ite Coudenlwve-Kalergi im Vorwort'", und die europäische Integration wurde flir de n gerade 29-j ährigen Ari stokraten zur Lebensaufgabe : "Durch Agitation in Wort und Schrift soll die europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentlichen Meinung aller Vö lker aufgerollt werden, bis jeder Europäer s ich gezwungen s ieht, zu ihr Stellung zu nehmen." 116 Im Frühjahr 1924 gründete er in Wien die Paneuropa-Union 117, e ine- nach heutigem Sprachgebrauch - Nichtreg ierungsorganisation, welche zunächst die Öffe ntlichke it mobil isieren sollte. Unter maßgeblicher Beteiligung IV. Heiles formierte s ich indessen innerhalb der Friedens- und Völkerbundbewegung eine Gegenströmung. Als Antwort auf die Gründung der Paneuropa-Union hoben deutsche und französische Parlamentarier im Frühling 1924 ein "Komitee für die Interessengemeinschaft der e uropäischen Völker" aus der Taufe, später umbenannt in "Bund für Europäische Cooperation". Ähnlich wie die Paneuropa-Union verstand s ich das Komitee als "pressure group" flir Europa in den Parlamenten, RegieJUngskreisen und in der politischen Publizistik. Grundlegend war dabei die Orientierung am Völke rbund , der de n institutionellen Rahmen für die europäische Integration darstellen sollte. Im Unterschied zur Paneuropa-Union betrachteten die Mitglieder des Komitees Großbritannien a ls einen Teil Europas, dessen Einbeziehung als e lementar galt. Ähnlich waren dagegen die langfristigen Ziele: eine weit reichende politische und wirtschaftliche Integration der Staaten Europas, die ihren Abschluss in der Schaffung supranationaler Institutionen, e ines Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung finden sollte. Damit standen sich seit 1924 zwei politische Organisationen gegenüber, die unterschiedliche Europa-Konzepte verfochten : europäische 115
R.N. GrafCoudenJwve-Kalergi, Paneuropa, 1923. R.N. GrafCoudenhove-Kalergi, Paneuropa, 1923. 117 Umfassend zur Paneuropa-Union beispielsweise ihr langjähriger Präsident 0 . von Habsburg, Die Paneuropä ische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit, 1999; vgl. auchjüngst A. Ziegerhofer-PrettemhaJer, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 116
und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, 2004. Als Gründer, Präsident und Chefprogrammatiker der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung entwi-
ckelte Graf Coudenhove-Ka/e,.gi eine Strategie persönlicher Lobbyarbeit - im Dialog mit Kanzlern und Königen, Unternehmern und Geistesgrößen. Formen der Kommunikation, die heute zum einen angesichts der "europäischen Lähmung•• weiter Kreise der europäischen lntellektualität (deren sporadisches und allzu spätes Eingreifen, wie etwa seitens
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Integration innerhalb des Völkerbundes, unter Einbeziehung Großbritanniens und der UdSSR - oder Paneuropa als kontinentaleuropäisches Bündnis mit losen Verbindungen zur internationalen Staatengemeinschaft. 118 Gemeinsam war beiJ. Habermas, und J. Derrida. Nach dem Krieg: Die \ Viedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003, auch in: Blätter fiir deutsche und internationale Politik, Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff. hierüber nicht himvegtäuschen kann), zum anderen hinsichtlich des lnfonnationsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen Teilen der europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je, wenigstens dringend geboten ersche inen. Im Lichte der aktuellen Zurückhaltung europäische r Intellektueller innerhalb der Verfassungsdebatte (ausgenommen juristischer Fachkreise) sowie in der Diskussion um Gestalt und Zukunft Europas schlechthin, sei beispielhaft - im Rahmen eines fUr jede Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an e inige Beiträge nach dem ersten Weltkrieg e rinnert. Im Frühjahr des Jahres J9 19 erscheinen in der renommierten Londoner Zeitschrift AtheiUeum zwei "Letters from France", verfaßt von dem französischen Dichter P. VaJery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe, die VahSry noch im seihen Jahr als Essay unter dem Titel "La c rise de l'esprit" im französischen Original veröffentlicht.), von der Er fahrung des erst \Venige Monate zuvor zu Ende gegangenen Weltkrieges und von dem klaren Bewußtsein, dass d ieser Krieg einen epochalen Einschnitt in der Geschichte Europas markiert (die Schrift ist abgedruckt in: J. Hytier (Hrsg.), P. Valery, OEt~vres, 1957, T. I, S. 988 ff). Va/ery begreift dabei die Krise Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Dimension. Diese Krise Europas sei in erste r Linie eine Krise des Geistes, jenes "esprit europeen", der die e igentliche Essenz Europas a usmache und seine Zi vilisation von allen anderen unte rscheide. Für den Cartesianer Valiry ist dieser europäische Geist nichts anderes als der Geist der \Vissenschaft, wie er sich auf dem Kontinent seit der griechischen Antike herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L. da Vinci exemplarisch verkörpert wurde. VaJery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer \ Veise ein a usgeprägtes Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch be i anderen europäischen Schriftstellern in den Jahren nach dem Ende des I. \ Veltkrieges zu finden ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus dem deutschen Sprachraum nur H. v. Hoftmuulsthal mit seinem Essay des Jahres J922 mit dem Tite l "Blick a uf den geistigen Zustand Europas" angeflihrt (Der Text finde t sich bei P. M. Liitze/er (Hrsg.), "Hoffnung Europa". Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994, S. 258 ff.) Vergleichbare Belege fUr e in ausgeprägtes e urop..1isches Krisenbewußtsein aber finden sich a uch bei 0. Spengler in seinem "Untergang des Abendlandes" (I 9 I 8/22), bei S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie "Die Welt von gestern. Erinnerungen e ines Europäers." (postum 1944), in Spanien bei J. Onega Y Gasset in seinem ~,Aufstand der Massen" ( 1929) oder später in England bei A. Toynbee in seiner UniversaJgeschichte .,A Study of History" ( 1934-61). Va/erys Schrift " La crise de J'esprit" kann als der e rste bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, d ie in den zwanz.iger Jahren a uf dem gesamten Kontinent~ mit besonderer Intensität aber in Frankreich und Deutschland geführt worden ist. Europa wird in beiden Ländern zum Thema e iner kaum zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar z um Gegenstand von zumeist allerdings ehe r zweitrangigen Romanen, Novellen und Gedichten (einen Überblick mit zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Uitzeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, S. 272 ff. sowie V. Stdnkamp, Die Europa-Debatte deutsche r und französischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg, ZEI -Discussion paper, 1999. 113 Unterschiedlich sah man auch die Modalitä ten der Finanzierung: Der Bund für Europäische Coope ration konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer europäischen Annäherung sein mussten."• Wenig später glaubte sich Coudenhove-Kalergi indes am Ziel. Am 5. September 1929 schlug der französische Außenminister (und zeitweilige Ministerpräs ident) A. Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf vor, die europäischen Staaten durch eine föderale Verbindung enger zusammenzuftihren. Vorste llungen, die- auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Einigung- vieles von dem vorbereiteten, was nach 1945 geplant oder begonnen wurde. Sein deutscher Amtskollege G. Stresema1111 lobte in einer Antwortrede die wirtschaftliche Seite der Idee, doch er verhehlte nicht die Skeps is des Realpolitikers gegenüber der Aussicht auf eine politische Integration Europas. 120 De nnoch - Briands Initiative setzte das Thema flir einen Moment auf die Agenda der Weltpolitik. So geht aus e inem Dossier der französischen Botschaft in Washington hervor, dass in der amerikanischen Öffentlichkeit der Europaplan Briands so aus fUhrlieh diskutiert wurde wie selten ein Thema der europäischen Politik. 111 Doch Briands Auftritt kam zu s pät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Monate später nachgelegten Europa-Memorandum 122 die nationalen Interessen und Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite- um die Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jenseits des Rheins. Das Memorandum fordert, die Zusammenarbeit dereuropäischen gierungen zurückgreifen, die das Anliegen einer europäischen Verständigung unter dem Dach des Völkerbundes unterstützten. Dagegen suchte und fand Graf Coudenhove-Kafe,.gi finanzielle Unterstützung in einem Kreis von Unternehmern und Bankiers, die sich unter der Leitung R. Boschs zu einem Paneuropa-Förderkreis zusammenschlossen. 119 Die deutsch-französische Europa-Debatte hat -und das verleiht ihr eine zusätzliche Dimension - ihren Ausgangspunkt in der nach dem ersten \Veltkrieg zeitgleich in beiden Ländern einsetzenden Diskussion über die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen. Beide Themenkreise sind natürlich nicht identisch, aber auch schon deshalb nicht voneinander Z-ll trennen, weil in der Wahrnehmung so,vohl der Franzosen wie der Deutschen beide Länderaufgrund ihrer Größe, ihrer zentralen Lage, ihrer Vergangenheit sowie ihrer politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ihrer kulturellen Bedeutung \Vegen den eigentlichen Kern Europas bilden - eine Konzeption, die sich im übrigen schon im friihe n 19. Jahrhundert bei dem in Paris lebenden deutschen Sc hriftste ller L Böme findet, der von einem .,Nukleus-Europa" spricht, und wenig später auch in \~ Hugos Vision von den "Vereinigten Staaten von Europa" wieder auftaucht und die bis in die Gegenwart unter Berücksichtigung vielerlei berechtigter Kritik in der Vorstellung von einer "deutschfranzösischen Achse" oderdem Bild von der deutsch-französischen Freundschaft als Motor des europäischen Einigungsprozesses fortwirkt. 120 Die Debatte mit den Reden Brümds und Stresematms findet sich abgedruckt bei IV. Lipgms, Europäische Einigungsidee 1923-1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: HZ203 (1966), S. 46 ff., 78 f., 80 ff.; vgl. auch C. Navari, The Origins of the Briand Plan , in: Diplomacy and Statecraft 3, 1 (1992), S. 74 ff. 121 Vgl. C. Navari (1 992), S. 99; vgl. im weiteren Kontext auch S. Kneeshaw. In Pursuit of Peace: the American reaction to the Ke llogg-Briand Pact, 1928-29, 199 1. 121 Vgl. a usführlich IV. Lipgens (1 966), S. 82f.; C. Nawwi (1992), S. 99 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Staaten zu institutionalisieren, e ine Europäische Konferenz auf Regierungsebene einzurichten sowie einen Ständigen Politischen Ausschuss als europäisches Exekutivinstrument. Überdies regt ein Zusatz an, die Grenzgarantien des LocarnoPaktes auf die osteuropäischen Staaten auszudehnen. Ein solches Ost-Locarno aber war der deutschen Außenpolitik nicht abzuringen, denn diese zielte trotzaller Verständigungsbereitschaft langfristig darauf an, das Re ich wieder als Großmacht zu etablieren. So zeugt das Memorandum der französischen Regierung gleichermaßen von Briands Glauben an die Gemeinschaft Europas wie von der Hilflosigkeit einer Außenpolitik, die Deutschlands erneutem Griff nach der Weltmacht nur noch wenig entgegenzusetzen vermochte. Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und nationalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen Verhältnisse j ener Jahre und die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war endgültig der Weg zu einer nochmaligen gewaltsan1en Explosion des Nationalismus beschritten. Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucksvolle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - aktuelle, grundlegenden Ideen und Pläne fiir eine Neuordnung Europas vor allem in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spektnun demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahlmaßgeblicher Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souveränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egois mus und Gegeneinander der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemeinschaft Europas nach föde ralistisch-bundesstaatliehen Prinzipien fiir notwendig hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichke il in Europa gegenüber totalitären Kräften gesichert und die fiir Wiederaufbau und Wohlstand hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden. 123 So heißt es etwa in e iner Erklärung von Vertretern wichtiger Widerstands bewegungen Frankreichs, die im Juni 1944 e in Franz/Jsisches Komilee für die europäische F/Jderation gründeten: 123
Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W Lipgens, Europa-Föde-
rationspläne der Widerstandsbewegungen I 940- I 945, I968. Die Europaideen des Wider-
stands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen, nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten "Europaideen" des Nationalsozialismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung "Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und fried liches Europa wieder aufzubauen, wenn es bei der z usammengewürfelten Existenz nationaler Staaten bleibt. [ .. . ] Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und Frieden entwicke ln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem europäischen Bundesstaat fo lgende Zuständigkeiten überant\vorten: d ie wirtschaftliche und handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaffneten Streitkräften und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime, die Leitung der auswärtigen Angelegenhe iten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die Schaffung einer europäischen Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische Bundesregie rung muss das Ergebnis nicht einer \Vahl durch die Nationalstaaten, sondern einer demokratischen und dire kten Bestimmung durch d ie Völker Europas sein." 1~
Die Soz ialistische Partei Italiens veröffentlichte 1942 aus dem Untergrund folgende Erklärung: .,Die Grundforderung hinsichtlich der zukünftigen Ordnung in Europa [ . . . j muss darin gesehen '"erden, dass d ie bereits bestehende Einheit der e uropäischen Gesellschaft durch politische Zusammenfassung sichergeste llt werden muss. [ ... ) Die europäische Föderation darf keine in ihren Vollmachten eingeengte Union sein, der ständig von den souveränen Staaten her Gefahr droht."m
Bemerkenswert neben a llzu vielen Unerwähnten auch der deutsche Widerstandskämpfer H.J. Grafvon Moltke, hingerichtet 1945 in Plötzensee, der 1942 an einen Freund in England schrieb: .,Für uns is-t Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europanach dem Kriege is-t die Frage: \Vie kann das Bild des Menschen in den He rzen unserer Mitbürger aufge richtet werden'r' 126
Unter den während der Kriegsjahre 1939- I 945 formulierten Studien und Manifesten befanden sich auch einige Vetiassungsentwürfe. Zu ihnen zählten beispielsweise A. Spinellis Flugschrift "Gii Stati Uniti d'Europa e le varie tendenze politiche" vom Oktober 1941 und der Ansatz der Sektion Basel der schweizeri schen Europa-Union, die I942 unter der namhaften Mitwirkung von IV, Hoegner und H. G. Ritzel mit der Ausarbeitung einer "Verfassung flir die Vereinigten Staaten von Europa" begonnen und bis I944 zu diesem Zweck 80 Sitzunge n abgehalten und, wie w: Lipgens feststellt, einen ausgereiften Verfassungsentwurf mit etwa 90 Artikeln nach dem bekannten Haager Kongress von I 948 veröffentlicht hatte. 127
124 12 '
Z itiert nach W Lipge11s ( 1968), S. 244 ff.
Z itiert nach W Lipgms ( 1968), S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf de r ita lienischen Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. SpineJti und E. Rossi berühmt gewordene Manifest von Ventotene. 12• H. J. Gmf '" " Moltke, Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel, I0 . Auflage 1965, S. 20 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die " United States ofEurope", der im Rahmen der Paneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde.'" b) Vetfassrmgseurwiirfe uaclr 1945 129 aa) Hertensteiner Programm ( 1946) Zahlreiche dieser und ähnlicher Vorste llungen fanden e inen ersten gemeinsamen Niederschlag nach dem Kriege im historischen Treffen von Persönlichkeiten des Widerstandes und europäischer Föderalisten vom 14. -21. September 1946 in Bern und am Vierwaldstätter See. 130 Dabei einigten sich Vertreter aus zwölf europäischen Lände rn 131 und den USA auf den Z usammenschluss aller europäischen Einigungsbewegungen in einer "Aktion Europa-Union". " 1 Das Aktions programm hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte befassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen Protektionis mus s ignalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte (u. a. föderativer Charakter der Union, ke ine neue Weltmacht, gemeinschaftliches Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von GJUnd- und Freiheits rechten, Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden s ich s päter in den Gemeinschaftsverträgen bzw. im Unionsvertrag wieder."' bb) Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (1948) Wenige Tage zuvor hatte IV. Clwrchill in einer Aufsehen enegende n Rede in Z ürich dazu aufgerufen, e inen "Europarat" als ersten Schritt zu den "Vereinigten 127 Der Entwurf fiel durchaus "schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie, sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings mehr "Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. lv. lipgens (1 968), Text 22). 123 Texte mit kurzer Einflihrung bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200 I. 129 Vgl. vertiefend G. Brunn, Die europäische Einigung von 1945 bis heute, 2002; M.-T Bitsch, His-toire de Ia construction europeenne de 1945 a nos jours, 1999. Siehe auch F. Knipping, Ro m, 25. März 1957. Die Einigung Europas, 2004. 130 Das Treffen und den Text dokumentiert u. a. die Quelle unter http://www.jefniedersachsen.de/hertenstein.html. 131 Belgien, England, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Liechtenstein, Polen, Österreich, Schweiz, Spanien, Ungarn. 131 Am 17. 12. 1946 erfolgte dann der Zusammenschluss zur "Union Europeenne des
Federalistes~·. 133 Abdruck bei A. Seitäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200 I, II. 14 .
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Staaten von Europa" zu bilden '"'; die Aussöhnung und Partnerschaft Deutschlands und Frankreichs müsse hierfür die Grundlage bilden. Im Mai 1948 erneuerten Pol itiker und Vertreter privater europäischer Verbände aus fast allen Staaten Westeuropas den Appell für e ine Einigung Europas und die Errichtung eines "Europarates" auf ihrem Haager Kongress, aus dem einige Monate s päter die Gründung der "Europäischen Bewegung" hervorging."' Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis I0. Mai I948 veranstalteten "Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der "Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Memlwn erarbe itete im Juni I948 einen Entwurf flir eine Versammlung von Abgeordneten der nationale n Parlamente in Interlaken (im September I948), der erstmals e indeutige Regeln für die doppelte Konstituierung (Völker und Staaten) e iner europäischen Föderation enthielt. " • M emhon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das s ich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Daneben würden ein Exekutivrat und e in Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus den Reihen des ersteren jeweils flir ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt we rden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat Die Föderation sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NATO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur Schaffung eines e inheitlichen Wirtschaftsgebiets und der "Vereinheitlichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föde ration und Mitgliedstaaten. cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung ( 1948) Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer F/Jderalisle/1 e inen Vorentwurf einer europäischen Verfassung, der am I I. Novem'" Die Rede C/wrchil/s findet sich unter andere m bei IY. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939- J984. Von den Schriften
der \Viderstandsbe,vegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, 1986, S. 2 14 ff. 135
Es war die Zeit der großen Hoffnungen und entsprechenden Ambitionen, über einen
Europäischen Verfassungsrat in einem \ Vurf und m it einem Vorg riff auf eine ohnehin in
diese Richtung \\'eisende Zukunft ein Vereinigtes Europa herzustellen. lm März 1948 wurde immerftin von 190 Abgeordneten des britischen Unterhauses und von 169 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung die Einberufung einer Europäischen Verfassungsgebenden Versammlung gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen Möglichkeiten>die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten. 130 Vgl. W L01h, Entwürfe einereurop..1ischen Verfassung. Eine historische Bilanz, 2002, S. 49 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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ber 1948 verabschiedet wurde. 137 Der Entwurf eines einheitlichen europäischen Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeitsverlagerung, Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (besti mmt durch nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte ei nen Kanzler ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwlllf enthielt eine Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen, Gruppen von Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Subs idiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an e iner klaren Abgrenzung der Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaate n. Vorgesehen war, dass sich e inzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen konnten. dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (195 1) 72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich unte r dem Vorsitz des bereits oben benannten Präsidenten der Paneuropa Bewegung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um e in "Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu rufen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg e inen sehr knappen ( 18 Artike l) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundesverfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden, Verfassungsrevisionen). Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kompetenzvertei lung. Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten sollten genau festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung (,.Bundesrat") und Bundesgericht vorgesehen. '"
c) Wege ;;um EuroparaT Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch e in ansehnlicher Teil der politisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren ,,Erbfeind Iändern" '" Vgl. W Loth (2002), S. 55 ff. Ein Abdruck dieses Verfassungsentwurfes findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/ I. Comiades (Hrsg.}, Die Verfassungen Europas, 1966, S. 63 1ff.; vgl. auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfezur Gründungeiner Europ..1ischen Union, Herausragende Dokumente ''On I930 bis 2000, 2001 , 11.20. 133
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Frankreich und Deutschland- in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurliekhaltende und Gegenkräfte , die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gmtlle.'" Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der grundsätzlichen Auffassungen zur Zukunftsgestaltung Europas, wie sie die politischen Diskussionen und Entscheidungen der Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wesentlich bestimmten, ist hier nur stark vereinfacht möglich. Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit mancher Argumentationslinien zur Verfassungsdiskussion der jüngsten, vergangeneo Jahre. Die ,,zeitlosigkeit" der "europäischen Debatte" ist folglich gleichermaßen Ausdruck von stabilisierender Stringenz und ermüdender Stagnation. Den damaligen Beflirwortern einer " Neuordnung Europas" zufolge war das System der souveränen Nationalstaaten in Europa unfähig, zwischenstaatliche Konflikte gewaltlos zu lösen und damit implizit den Frieden zu sichern ; auch wäre im "Schrebergartensystem" seiner Volkswirtschaften eine optimale Entfaltung der Produktionsfaktoren und damit des Wohlstandes kaum zu ermöglichen gewesen; schließlich stellte sich nicht nurangesichtsder Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte die Frage, wie die gemeinsamen Interessen Europas in der Weltpolitik einschließlich seiner Verteidigung angemessen zu vertreten wären. Konsequenterweise hätten diese Aufgaben in den Augen jener "Europäer" die Schaffung einer über den Nationen stehenden ("supranationalen") gemeinsamen politischen Ordnung in Form eines föderalistischen Bundesstaates erfordert, zu dessen Gunsten die Einzelstaaten auf Teile ihrer Entscheidungsbefugnisse hätten verzichten müssen. Demgegenüber wurde vertreten, Grundlage der politischen Identität der europäischen Völker und des durch sie legitimierten staatlichen Handeins seien nach wie vor die Nationalstaaten. Die zur Lösung der gemeinsamen europäischen Probleme und Aufgaben erforderlichen Schritte könnten nur so weit reichen, wie jeder betei ligte Staat aus eigener Entscheidung zu gehen bereit sei. Europäische 139
Für Großbritannien hatte Clwrchi/J bereits in seiner Züricher Rede ein anderes
Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber
selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre, dem britischen Commonwealth of Nations (vgl. IY. Clwrchi/J, a. a. 0 .). Mit der tatsächlichen Gestaltung Europas nach J945 auf der Grundlage der alten nationalstaatliehen Ordnung (die, zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage gestellt wurde). war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit zunehmender Entfernung vom Kriege und wachsendem Selbstbewusstsein der Staaten nach dem Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Zusammenarbeit sei somit - zumindest vorerst - nur möglich in den Formen herkömmlicher internationaler Zusammenarbeit oder eines Staatenbundes der unabhängigen (,,souveränen") Einzelstaaten, nicht aber durch deren Unterordnung unter Entscheidunge n supranationaler Organe. Die unterschiedlichen Vorstellungen in Europa über die Zukunftsgestaltung, insbesondere den Grad der Einigung des Kontinents, waren mit Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch vielfältigen Einwirkungen der politischen Entwicklung unterworfen, in e rster Linie dem beginnenden, bald alles überschattenden Ost-WestKonflikt. Nach 1945 sah es trotzaller Einigungspläne für Europa zunächst so aus, als werde sich am wiederhergestellten System der unabhängigen Nationalstaaten kaum etwas ändern. Mit der Teilung Europas, das heißt der Eingliede rung der osteuropäischen Staaten und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Machtbereich der UdSSR, ergaben sich jedoch bald völl ig neue Interessenkonstellationen und Impulse zur Einigung (nunmehr) Westeuropas. Sie waren bestimmt vom Bedürfnis der USA und Westeuropas nach Sicherheit, wirtschaftlicher Stabilität und Eindämmung des Kommunismus. '"' Vor dem Hinte rgrund des bestimmenden Einflusses der beiden Supermächte über Europa war der erste Schritt zu e iner von den Europäern selbst ausgehenden organisierten Zusammenarbeit, zu der sich bald die Mehrzahl der westeuropäi schen Staaten bereit fand, geprägt vom Kompromiss. Der am 5. Mai 1949 von zunächst zehn Staaten in Straßburg gegründete Europarat erhielt e inerseits keine supranationalen Be fugnisse, wie vor allem die Europäische Bewegung es forderte. Andererseits bedeutete er das Äußerste dessen, was die zurückhaltendere n Staaten an Einigung akzeptieren konnten. Der Kompromiss spiegelt sich auch in Gestal140
Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer Gründung 1949 unter ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenatter ebenfaJis für den \Veg der \Vestintegration und der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleichberechtigten Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft, zum wirtschaftlichen \Viederaufbau und zur Sicherung der jungen Demokratie gegenüber dem Ko mmunismus wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung flir die Wiedervereinigung Deutschlands gesehen. Im GG wird neben dem Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille ausgedrückt, .,in einem vereinten Europa dem Frieden der \Velt zu dienen" (Präambel); in Art. 24 Abs. I GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen, dass der Bund .,durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" könne. "Der Bund kann sich zur \Vahnmg des Friedens einem System gegenseitiger ko llektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern de r We lt he rbe iführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuro-
paswaren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage- sei es wegen auferlegter oderselbst gewählter Neutralität wie bei Finnland1 Österreich, Schweden und der Schwei~ aufgrund autoritärer Regime wie in Spanien und Portugal oder aus einer historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere durch seine Bindungen im weltweiten Commonwealth) und den skandinavischen Staaten, die im 195 1 gegründeten Nordischen Rat eine engere Zusammenarbeit einleiteten.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
tung, Zusammensetzung und Wirkkraft der wichtigsten Organe des Europarates wider. 141 Auch wenn dem Europarat supranationale Entscheidungsbefugnisse fehlen, s ind seiner freiwil ligen Zusammenarbeit nicht unbedeutende Erfolge zu verdanken. Sie betreffen die Angleichung von Politik und Gesetzgebung der Mitgliedstaaten in Te ilbereichen von Erziehung und Bi ldung, Rechtswesen, Sozialpolitik und Umweltschutz, kulturelle Initiativen sowie nicht zuletzt die Europäische Menschenrechtskonvention (EM RK) 142; s ie bietet die Mögl ichkeit, wegen Menschenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof flir Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage zu erheben. Eine verfassungsgeschichtliche Betrachtung Europas (wie der Europäischen Union) wäre ohne einen Blick auf die Errungenschaften des Europarates unvollständig.
d) "Verfassrmgsemwllrfe" ab 1952 aa) Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ( 1952) 1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am 18. April l951 den- in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaffenen - EGKS-Vertrag 143 und hoffte, dass dies "automatisch" auch die engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit s ich bringen würde. Dieser Gedanke war auch in der Organisation der EGKS e nthalte n, die e ine Versammlung (d. h. e in Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Ministe rrat vorsah. Bemerkenswert ist, dass Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl der Delegierten zur Versammlung benannte. Die gegenseitige Abhängigkeit und Überwachung der Organe sollte eine rechtsstaatliche Legitimation gewährleisten. 141 Vgl. aus der umfang reichen Lit. zum Europarat K. Cm·stens, Das Recht des Europarates, 1956; 1.-L Burbtm, Le Conseil de I' Europe, 1985 (2eme oo. 1993); A. Gimbal, Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Po litik 12/ 1997, S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: SO Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre Europara I. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000, S. 17 ff.; M. Wittinger, Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der "europ..1ischen Verfassungs\verte", 2005. 141 Hierzu beispielsweise G. C. Rodriguez JgJesias, Die Stellung der EMRK im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt, 1995, S. 1269 ff.; M. Hilf, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, S. 1193 ff. ; C. Busse, Die Geltung der EMRK für Rechtsakte der EU, in: NJW 2000, S. 1074 ff.; H. \l'a/dock, Die Wirksamkeit des Syste ms der EMRK, in: EuGRZ 1979, S. 599 ff. 143 Vgl. etwa bereits K. Carsrens, Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Atomgemeinschaft und Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: ZaöRVR 18 ( 1958), S. 459 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Der EG KS-Vertrag kann als erste "Vertragsverfassung" bezeichnet werden, die konkrete und wirksame Schritte in Richtung e iner gemeinsamen politischen Union einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus. bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft- Entwurf der ad-hoc Versammlung der EGKS ( 1953) Kontrastierend zur "pragmatischen lntegrationsmethode" ist die Verfassungsidee Teil eines permanenten Dis kussionsprozesses über Reform und Gestaltung der europäischen Einigung gewesen und rückte immer dann auf die Tagesordnung, wenn die Integration in eine neue Phase trat oder in eine Krise geriet. 144 Der erste politisch bedeutsame Entwurf flir eine konstitutionelle Neugründung Europas entstand im Nachkriegseuropa 1953 im Zusammenhang mit den Plänen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Dieser Ansatz ist auch in klarer Abgrenzung zu den Verfassungsentwürfen der benannten Gruppen der Europabewegung während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, deren Pläne meist die Umwandlung Europas in einen föderalen Bundesstaat mit e igener Haushaltskompetenz, gemeinsamer Armee und weitreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen implizierten. '" Während sich 1950 die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass "Europa sich nicht mit e inem Schlage" herstellen lassen könne, sondern mit der EGKS nur eine "erste Etappe der europäischen Föderation"'"' auf wirtschaftlichem Gebiet zu verwirklichen war, gewann die Gründung einer umfassenden politischen Gemeinschaft während des Koreakriegs und der damit verbundenen deutschen Wiederbewaffnung erneut an Bedeutung. Analog zum Modell des Sclwma11-Pians schlug Frankreich eine frühzeitige Einbindung Deutschlands in e in supranational organisiertes europäisches Sicherheitssystem vor. Letztlich beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anregung von J. M01me1 (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und P.H. Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versamm lung des Europarates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte "ad hoc" -Versammlung zu beauftragen, einen Ve1tragsentwurf flir eine Europäische Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese "verstärkte" Versammlung der EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwlllf 147 ausar-
1" Vgl. W \Ve;denfe/d, \Vie Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union, 1991,S.76. 145 Hierzu die Dokumente in \V. Upgens, 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung, Sonn 1986. 14 & "Erklärung zur Montanunion", 9. Mai 1950, in: \V. Lipgens, 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung, Bonn 1986, Dok. 67, S. 293 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
beitete. Diesen Entwurf legte die Versammlung am 9. März I953 vor. Er wurde vom Rat der sechs Außenminister der EGKS am I 0. März gebilligt. Zwar war der " Ad-hoc-Entwurr' vorsichtiger formuliert als die Pläne der föderalistischen Bewegung ("Verfassung" oder "Bundesstaat" tauchten als Begriffe nicht auf), doch inhaltlich richtete sich der Plan weitgehend am Leitbild eines europäischen Bundesstaates aus. Einige "Verfassungsfunktionen" '••, wie die Legitimations 149- und Organisationsfu nktion '"'der vorgelegten Konzeption gestalteten s ich ähnlich den Entwürfen der Europabewegung: eine demokratisch legitimierte, föderale Organisationsstruktur mit einer weitgehend gleichberechtigten Völkerund Staatenkammer (Senat) nach amerikanischem Modell (Art. I I und 16), welche auch die Hoheit über den Haushalt erhalten sollte (Art. 75). Zudem sollte das Parlament den "Europäischen Exekutivrat" mit Präsident und Ministern kontrollieren (Art. 3 1). Gemeinschaftsrecht sollte Verfassungsvorrang gegenüber den Mitgliedsstaaten erhalten (Art. 4) und einklagbar bei einem Gerichts hof sein (Art. 38 -49). Der Entwurf verfügte über keinen Menschenrechtskatalog, sah aber 147
Abdruck bei A. Seitäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Heraus ragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200 I, II. 23. b). 143 Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grundzügen C. \Valter, Die Folgen der Globalisierung fli r d ie europäische Verfassungsdiskussion, in: DVBI 2000, S. I ff., 5 r. entlehnt. 149
Indem sie die Macht dem subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich a uf
den Willen eines souveränen Volkes stützt. hat d ie Verfassung zunächst die Funktion, Machta us übung zu legitimieren. Indem sie sich auf d ie Volkssouveränität als poto'Oir constimam beruft, schafft sie die Grundlage fli r die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt: V/eil nur d ie Verfassung aus den vorrechtliehen Gegebenheiten der verfassungsgebenden Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ, Gesetz und jeder Rechtsakt auf d ie Verfassung z urückführen lassen. Sie is-t damit der Maßstab allen rechtlichen und politischen Handelns. Weil d ie Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Ste lle steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese Durchsetzbarkeil kommt üblicherweise e inem Verfassungsgericht zu. Es verfügt a ußerde m über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt Unvollständigkeilen in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfahig?, in: DÖV 1998, S. 268 ff., 272. 150 Die Verfassung legt die Organisations- und Verfahrensregeln fest, die eine den Legitimationsprinzipien konforme Handhabung der ö ffentlichen Gewalt garantieren. Desha lb e ntha lte n Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsgewalt, die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exe kutive, Legislative und Judikative die Kompetenzen der einzelnen Organe verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm, BrauchtEuropa e ine Verfassung?, in: JZ 1995 ( 12}, S. 58 1 ff., 584. Der enge Zusammenhang von Organisations- und Legitimationsfunktion zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im Namen des souveränen Volkes d ie Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch das Vertrauen entziehen, d. h. sie a bsetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgesta ltung gesellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrume nt der Herrschaftsausübung.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
67
die Aufnahme der EMRK als "integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompetenzen der Gemeinschaft waren allerdings begrenzter als in den Verfassungsplänen der Europabewegung. Der "Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der Montanunion und EVG entsprechen sollte, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebiete der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber "durch einstimmigen Beschluß" des Ministerrats (Art. 69). Diese zögerlichen Formulierungen lassen ei ne Deutung auf den Wandel der europapolitischen Interessen zu Ungunsten e ines verfassungspolitischen Integrationssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs flihrte. Das Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG und EPG. Vor allem Frankreich e rschien der Preis e ines nationalen Souveränitätsverlustes zugunsten e iner europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsentwurf scheiterte zusammen mit der EVG in der französischen Nationalversammlung (30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bundesstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Bereich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein rhetorische Figur. Leitbilder wie "Vereinigte Staaten von Europa"'" wirkten "wie der Aufputz \'On Sonntagsreden" 152 • cc) Römische Verträge ( 1957) Die von der Regierungskonferenzder sechs Gründungsstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von P. -H. Spaak verfassten Verträge liber die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen - anders als bei der EGKS- die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Verträge"' übernahmen im Wesentlichen die institutione lle Gestaltung der EGKS und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert. '"
151
Siehe aber T. R. Reid, The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005. 152 H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderation- oder was sonst?, in: Integration, 3/2000, S. 171 ff., 17 1; siehe auch W IVeidel!fe/d, Europäische Verfassung für Visionäre?, in: Integration, II 1984, S. 33 ff., S. 38. 153 Abdruck bei A. Seitäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Herausragende Dokumente von I 930 bis 2000, 200 I , II. 24. b}. 154 Im Einzelnen z. B. W: Loth, Entwürfe e iner europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz, 2002, 16ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungs fahigkeit (Einstimmigkeit im Rat) und an parlan1entarischer Kontrolle konstatiert. e) M ythos und Ergebnis der 1950er Jahre
Geradeangesichts der gelegentlich romantisierenden und den Vergleich zu den USA suchenden Bezeichnung "GJiinderväter der Europäischen Gemeinschaften" (bzw. überaus gewagt der " Europäischen Union") ist zu fragen, ob sich die Beteiligten in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunde1ts auch über die Ausgestaltung der hoheitlichen öffentlichen Gewalt der Europäischen Gemeinschaften überhaupt Gedanken gemacht haben bzw. machen mussten. Aufgrund der Qualifizierung der Gemeinschafte n als lediglich "funktionelle Zweckverbände wirtschaftlicher Integration""', die vordergründig keine wie immer gearteten "verfassungsrechtlichen" Probleme aufwerfen konnten -soll auch im Hinblick auf die "Verfassungsdebatte" im Rahmen des "Europäischen Konvents""6 dieser Fragestellung nachgegangen werden. Tatsächlich haben sich die "europäischen Gründungsväter" sehr intens iv mit der Thematik der Ausgestaltung und Strukturierung der hoheitlichen öffentlichen Verbandsgewalt beschäftigt, die sie den drei Europäischen Gemeinschaften mitzugeben beabsichtigten. Sie fanden hierbei auch umfassende Unterstützung durch die Lehre, wie die Fülle e inschlägiger Gutachten belegt, die in der zweiten Jahreshälfte 1952 von führenden deutschen Staatsrechtslehrern verfasst wurden. "' Auslöser war die vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland auf die geplante EVG und Gegenstand der Auseinandersetzung war die von H. Kraus erhobene Forderung nach "struktureller Kongruenz und Homogenität" der hoheitlichen, öffentlichen Verbandsgewalt der EVG im Verhältnis zur Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten, im konkreten Fall jener der Bundesrepublik. ISS
"' Vgl. H. -P.lpsetJ, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196. 156 Hierzu unten B. IV.2.f)oo). 157
Gesammelt in den Veröffentlichungen des ltJstimts fiir Staatslehre und Politik e. V. in Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbei trag, Bd. 2 , 2. Halbband: Das Gutachtenverfahre n (30.7.-15.12. 1952), 1953. 153 Nach der später "Lehre" genannten These von der notwendigen "strukturellen Kongruenz und Homogenität" durften gem. Art. 24 Abs. J GG deutsche Hoheitsrechte nur an solche zwischenstaatliche n Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur dem staats -
rechtlichen, rechtsstaatliehen Aufbau des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen Staatswesens "kongruent" ist. Die jüngste "Verfassungsdebatte" in der Europ..1ischen Union nahm dabei Überlegungen auf, die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu W Hummer, Eine Verfassung fUr die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in: H. Timmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion, 200 I).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
69
Der Ansatz von der notwendigen "strukturellen Kongruenz und Homogenität" der Verbandsgewalt internationaler I supranationaler Organisationen im Allgemeinen und der EVG im Spezie llen in Bezug auf die Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten wusste sich- wie soeben beschrieben- aber nicht durchzusetzen. Im Ergebnis erscheint es nicht vermessen, die Europäischen Gemeinschaften konzeptionell als e ine "inkongruente" und "inhomogene" Verbandsgewalt "sui generis" zu bezeichnen - und zwar nicht nur ohne Gewaltentei lung, sondern sogar "gewaltenfusionierend" (mit einem exekutiv rekrutierten Rat als Hauptlegislator), ohne GJUndrechtskatalog, ohne vertikale Kompetenzverte ilung, mit einem Europäischen Parlament ohne Legislativbefugnisse etc. -,die sich bewusst vom staats rechtlichen Modell ihrer Mitgliedstaaten abhob. 1"' Hervorzuheben ist, dass die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in keiner der Ratifikationsdebatten in den sechs Gründungsstaaten verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten, und die parlamentarischen Genehmigungsverfahren mit großen Mehrheiten erfolgten. 160 f) Starionen zur Europ/lisdle/1 Ve1jassung- eine Auswahl aus 40 Jahren
aa) Der Entwurf von Max lmboden (1963) Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den Fouchet-Pl/111en (Februar 1961) 161 und dem Davignon-Bericht ( 1970) 11>2 sowie dem Tindemnns-Bericht (1975) 163 insbesondere der Entwurf von M. lmboden164 159 So auch \V. Hummer, "Verfassungs- Konvent'' und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent -Strategien und Argumente, Sonderheft 1/2003, S. 53 ff., 55. 160 Vgl. etwa H. ~. Küsters, Die Gründung der Europäischen \Virtschaftsgemeinschaft, 1982, S. 472 ff.; S. Gril/er I F. MaisfingerI A. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundlagen einer EG-Mitgliedschaft, 1991, S. 236 ff. 161 HierLu u. a. Nie
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
hervorzuheben. Er hielt den "funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll, für unzulänglich. ln Anlehnung an die Verfass ungen der USA, der Schweiz und das deutsche Grundgesetz (GG) wollte lmboden versuchen, "den noch schwer fassbaren konkreten funktionellen Inhalte n ein festes politisches Gefaß zu geben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft "über s ituationsbedingte Erfolge und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigke it sichern." ' 6' Er sah die Organe " Rat" (als Regierung), "Europäische Versammlung"- bestehend aus Abgeordnetenhaus ( Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie e inen Gerichtshof vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 22-25 ist ausdrücklich eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten enthalten . 166 Seit Gründung der EWG ( I 958) standen Erfolge und Rückschläge im Einigungsprozess in e inem dynamischen Wechsels piel. Bereits I 968 war die Zollunion verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen wurde jedoch zwei Jahre vorher ein e ntscheidendes Instrument supranationaler Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich . bb) Die Ve rfassu ngsdiskussion I984 Das Europäische Parlament als Akteur ( I ) Ausgangspunkte der Deba.rre
Es zählt zu den bemerkenswerten, wenngleich verfass ungstheoretisch stringente n Begebenheiten, dass die ersten umfassenderen und inhaltlich kohärenteren Verfassungsentwürfe parlamentarischen Ursprungs s ind. Das trifft sowohl auf den Verfassungsentwurf I984 als auch auf den Verfassungsentwurf I994 zu, die jeweils vom Europäischen Parlan1ent vorgelegt worden sind. Aufgrund offensichtlicher Parallelen zum jüngsten Verfassungsvertrags-Entwurf soll die Darstellung der Ansätze von 1984 und 1994 entsprechend umfassender ausfallen. Union" empfahl eine durchaus föderale Gestaltung der Union, ein "Europa der Bürger", deren Grundrechte zu schiitzen seien, die Stärkung der Sozial- und der Regionalpolitik, erhöhten Verbraucher- und Umweltschutz. Die schrittweise \Veiterentwicklung der Union könne, wenn einzelne Staaten noch nicht zu \Veiterer Integration bereit seien, auch mit verschiedenen Geschwindigkeiten verwirklicht \Verden. Die Vorschläge fanden Zus-tim-
mung, verschwanden aber in den Schubladen und wurden zum Teil erst viele Jahre später umgesetzt. 164 Abdruck bei A. Seitäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200 I , II. 26. 165
Zitat nach R. Streinz!C. Ohler!C. Hernuann, Die neue Verfassung fUr Europa. Ein-
führung mit Synopse, 2005, S. 4. 166 P. Hiiberle, Europä ische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, 33 (Fn. 132) ordnet lmbo-
dens Entwurf als "Bauteil innerstaatliche[n) Europaverfas.sungsrecht[s]" ein.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
71
Vergleichbare Initiativen innerhalb des Europäischen Parlaments gewannen bereits nach dessen erster Direktwahl im Jahre I979 an Schubkraft. Einflussre iche Kreise hielten es nach der ersten Direktwahl für eine historische Pflicht, als erstes von den europäischen Bürgern direkt gewähltes Parlament einen Entwurf für e ine Union vorzulegen, de r anschließend den Mitgliedsstaaten zur Ratifizie rung vorgelegt werden sollte. Hervorzuheben ist vor allem der italienische Abgeordnete A. Spine/li, der vehement für diese Initiative kämpfte. Einen ersten Erfolg und Höhepunkt konnte Spinelli mit dem Beschluss des Plenums des Europäischen Parlaments vom 9. Juli I98 I erzielen, welcher vorsah, e inen Institutionellen Ausschuss im Europäischen Parlament einzurichten, der Vorschläge flir die Verwirklichung einer Europäischen Union erarbeiten sollte. Im September I983 legte der Institutionelle Ausschuss den Vorentwurf eines Vertrages vor. Unter Mitwirkung der so genannten Juristenkommission (vertreten durch die Professoren Hilf, Jacobs, Jaqui und Capmori) entstand schließlich ein endgültiger Entwurf, den das Europäische Parlament am I 4. Februar I984 mit großer Mehrheit verabschiedete.'67
(2) Grundgednnken des Verfassungsemwurfs des Europäisd1e11 Parlamems Von anderen vorherigen und auch nachfolgenden Textentwürfen unterscheidet s ich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre I984 sowohl hinsichtlich seiner Legitimation als auch in Bezug auf seine inhaltliche Architektur und Geschlossenheit. Die Initiative des Europäischen Parlaments war als Akt echter Verfassunggebung intendiert, der sich mit anderen bisherigen Entwlilf en nicht vergleichen ließ. Laut Spinelli verstand s ich das erste dire kt gewählte Europäische Parlament als "ve1fassungsgebende Versammlung", die den Unionsbürger legitim vertritt, gegenüber dem Ministerrat trotz zahlreicher Initiativen aber weitgehend machtlos geblieben war. 168 A. Peters charakterisiert den Verfassungsentwurf I 984 (wie auch den aus de m Jahre 1994) a ls "in dem Sinne revolutionär", als er sich als normativ dis kontinuierlich zum geltenden Verfassungsrecht auffasste.''" Festzuhalten ist, dass dieser Entwurf ausschließlich eine Initiative des Europäischen Parlaments darstellt. Die Regierungen hatten zur Ausarbeitung dieses Verfassungsentwurfs weder einen Auftrag erteilt noch waren s ie an den Verhandlungen über die Formulierungen des Textes beteiligt. Das Europäische Parlament hat sich diesen Aufgaben vielmehr mit dem selbst gesetzten Anspruch eigener Legitimation und unter lnanspruch-
167 Vgl. ABI. Nr. C 77/1984, S. 33, abgedruckt auch in: Ausschuss fUr die Angelegenheiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe für die Europäische Union, Texte und Materialien, Bd. 35 (2002), S. 3 f f. 163 Vgl. A. Spinetti, Das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments, in: J. Schwarze (Hrsg.), Eine Verfassung fU r Europa. Von der EG zur EU, 1984 , S. 231 ff., 242. 169
A. Perers, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 492 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nahme e ines konstitutionellen Initiativrechts unterzogen. Insgesamt ein Vorgang, der von einem beachtlichen parlamentarischen Selbstbewusstsein zeugte. Der Verfassungsentwurf ist in vielerlei Hinsicht als bemerkenswert zu bezeichnen. Er legt zwei Aktionsweisen der Union fest, die im weiteren Sinne auch noch heute deren Funktionieren zu bestimmen wissen: Einmal die vom Europäischen Parlament so genannte gemeinsame Akrion und zum anderen die Zl•sammenarbeit. Unter gemeinsamen Aktionen versteht der Verfassungsentwurf Rechtshandlungen, die von den Institutionen der Union ausgehen und sich entweder an diese selbst, an die Staaten oder an Einzelne richten, unter Zusammenarbeit werden die Verpflichtungen subsumiert, die die Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Rates eingehen. Ausdrücklich vorgesehen ist, dass Gegenstände, die bisher der Zusammenarbeit zwischen den Staaten unterliegen, Gegenstand gemeinsamer Aktionen werden können, im Interesse der Erhaltung des europäischen Integrationsgrads jedoch nicht umgekehrt. Bezüglich der Politiken der Union wird in dem Verfassungsentwurf unter jeweils enumerativer Benennung zwischen "ausschließlicher, konkurrierender und potentieller Zuständigkeiten" unterschieden. Die Gewaltenteilung erscheint durch die Differenzierung in supranationale, .,gemeinsame Aktionen" und bloße ,,Zusammenarbeit" gewährleistet (Art. I0). Auch berief man sich bekräftigend auf das Subsidiaritätsprinzip. in die ausschließliche Zuständigkeit sollten etwa Bestimmungen über den Binnenmarkt und die Freizügigkeit sowie den Wettbewerb, in die konkurrierende Zuständigkeit die Konjunktur- und Kreditpolitik, aber auch weite Bereiche der Gesellschaftspolitik fallen. Hinsichtlich der internationalen Beziehungen der Union sollte die Union te ilweise durch gemeinsame Aktionen, te ilweise im Wege der Zus ammenarbeit agieren können. Zentral ist die ausdJiickliche Festlegung, dass im Falle e iner ausschließlichen Zuständigkeit der Union allein die Institutionen der Union handlungsbefugt sein sollten. Im Falle der konkurrierenden Zuständigkeit waren die Mitgliedsstaaten nur insoweit zur Handlung befugt, als die Union nicht tätig geworden wäre. Einen gewissen Innovationsgrad bes itzen in dem Verfassungsentwurf vor allen Dingen die Bestimmungen über die gesetzgebenden Organe und das GesetzgebungsveJfahren. Nach Art. 36 des Entwurfs sollten nämlich das Europäische Parlament und der Rat der Union gemeinsan1 unter aktiver Beteiligung der Kommission die Gesetzgebungsbefugnis ausüben. Unter bestimmten Voraussetzungen wurde auch dem Europäischen Parlament Gesetzesinitiativrecht eingeräumt. Die zur Aus führung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Beschlüsse sollten von der Kommission erlassen werden, die s ich dabei an die im Gesetz vorgesehenen Ve1fahren zu halten hatte. Neu war das Instrument der so genannten Organgesetze, die den organisatorischen Aufbau und die Funktionsweise der Institutionen regeln sollten (Art. 34 II). Dieses Verfahren würde es der Union erlauben, wichtige Modalitäten über das eigene Funktionieren selbst zu regeln, ohne auf die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente angewiesen zu sein. Bezüglich
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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der Mehrheitserfordernisse ist festzuhalten, dass für Abstimmungen im Rat die Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit, das heißt mit der Mehrheit der abgegebenen gewogenen Stimmen ohne Berücksichtigung der Enthaltungen, die Regel sein sollte. Beachtlich ist, wie sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments zu den Grundrechten verhielt. So sollte auch die Begrenzungsjunkrion ""europäischer Hoheitsgewalt gegenüber dem Unionsbürger mittels einer Verfassung etweitert werden. Ausdrücklich erwähnt wurde in Art. 4 I nur die Menschenwürde. Ansonsten verwies der Verfassungsentwurf auf die Grundrechte und GIUndfreiheiten, "die sich insbesondere aus den gemeinsamen Grundsätzen der Verfassungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben". Der Entwurf sah jedoch neben dem Be itritt der Union zur EMRK vor, dass innerhalb einer Frist von flinf Jahren die Union nach dem in dem Entwurf vorgesehenen Vertragsänderungsverfahren "ihre eigene Grundrechtserklärung" verabschieden solle. 171 Allerdings hatte der Entwurf angesichts der Organisarionsjunkrion auch Defizite. Gerade die Kompetenzabgrenzung wurde als unzureichend kritis iert. Weder war der rechtliche Status der Begriffe "Zusammenarbeit" noch der "gemeinsamen Aktion" genau definiert, noch das Verfahren der "Europäisierung" einzelner Bereiche eindeutig festgelegt. Diese Fülle unscharfer Festlegungen schien so kaum praktikabel. Kritiker vermuteten, Spine/li habe eine außerordentliche Ausweitung der Kompetenzen auf die supranationale Ebene vorzunehmen gewollt, so dass 170 Unter Begrenzungsfunktion ist in diesem Kontext (vgl. auch C. WaJter, Die Folgen der Globalisierung fUr die e uropäische Verfassungsdiskussion, in: DVBI, 2000, S. I ff, S) zu verstehen, dass die Verfassung neben ihrerAufgabe. Herrschaft zu legitimieren und zu organisieren. die Rechte des Einzelnen vor der von der Mehrheit errichteten Herrschaft schützt. Sie schreibt verbindliche Grund- und Bürgerrechte fest, die die Freiheit des Einzelnen garantieren und bewahren sollen und die zu diesem Zweck nicht von einer Mehrheit widerrufbar sind. Dabei ist essentiell, dass wesentliche Grundrechte wie etwa die im Grundgesetz festgelegte Menschenwürde, Art I I GG, ein "unaufgebbares Naturrecht" (vgl. W Rudzio, Das po litische System der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auft.l996, S.44) darstellen. Diese von der Gesellschaft wechselseitig zuerkannten Rechte schützen somit die Minderheit vor der "Tyrannei der Mehrheit'' und begrenzen andererseits die Freiheit des Einzelnen, wenn er den in der Verfassung festgelegten Grundkonsens der Gesellschaft gefahrdet. Die jeweilige Ausgestaltung der Grundrechte hängt stark von den Entstehungsbedingungen der Verfassung selbst ab. Beispielsweise bekennen sich jene Verfassungen, \Velche nach Diktaturen entstanden sind, ausführlicher zum Demokratieprinzjp und den Menschenrechten (wie die deutsche, italienische. spanische und portugiesische) als andere (wie etwa die französische), s. dazu A. Kimme/, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Verfassungsstrukturen, in: 0 . \V. Gabriel/F. Brettschneider, (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Inhalte, 1994, S. 23 ff., 24. 171 Nahezu 20 Jahre später sollte der umgekehrte Weg beschritten \verden, indem man zuerst eine Grundrechte-Charta erarbeitete, um sich erst anschließend mit deren Einfügung in eine Verfassung auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu unten 8 .11.2. t) ii).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den ,,Mitgliedsstaaten kaum noch Hoheitsgewalt bleibt". Hinter der Fassade der gemäßigten FormulieJUngen, mit der nationale Empfindlichke ilen geschont werden sollten, verbarg s ich also nicht die FOrtsetzung der alten Gemeinschaft, denn organisatorisch wurde beim Nullpunkt ange fangen. 112 Insgesamt tritt in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1984 jedoch der Verfassungscharakter des Vertrages sehr stark hervor. Er ist als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens konstituiert, als Rahmenordnung politischer Einheitsbi ldung der Union, einer Ordnung, in der Hoheitsgewalt begründet, begrenzt und zugeordnet, ihre Ausübung legitimiert und organisiert wird. Der Vertrag beinhaltet schließlich einen umfassenden "Zielekatalog", unterstreicht aber eben auch gleichzeitig den Grundsatz der Subsidiarität. Der Verfassungsentwlllf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984 wurde vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen .
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion Das am 17. Juni 1984 neu gewählte Europäische Parlament wurde in der dem Verfassungsentwurf beigefügten Entschließung aufgefordert, alle geeigneten Kontakte und Treffe n mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere dienliche Initiative zu ergreifen, um die Haltungen und Standpunkte der nationalen Pmiamente zu berücks ichtigen. Dieses Verfahren war erforderlich, weil es s ich bei dem Vertragsentwurf ja gerade nicht um einen nach völkerrechtlichen Grundsätzen von den Regierungen erarbeiteten Text handelte, derden Parlamenten automatisch und zwingend zur Ratifizierung zugeleitet werden musste. 173 Offe ns ichtlich hatte Spine/li die Strategie veifolgt, von der traditionellen Methode des Völkerrechts abzuweichen. Bereits eine Zwei-Drittel-Mehrheit der EGBevölkerung sollte den Vertrag ratifizieren können, während die Regierungen lediglich das Datum des lnkrafttretens beschließen sollten (Art. 82). Dementsprechend beflirchteten die Regierungen eine "natürliche Koalition der Parlamente gegen die Exekutiven"'". Letztlich waren jedoch die zentralistischen Tendenzen ausschlaggebend flir das Scheitern der Entwurfes. Sobald die Beteiligten nämlich den "Unterwerfungscharakter der supranationalen Beschlüsse" erkannten hatten, rückte der erforderliche Vgl. nur U. E~·erling, Zur Rechtsstruktureiner Europäischen Verfassung, in: Integration, I11 984, S. 12 ff., 13 sowie 23. 173 Die Diskussion, die zum Verfassungsentwurf geführt hatte, hat wesentlich dazu bei172
getragen, die Fronten zwischen denj enigen, die vertragsimmanente Reformen für vordring-
lich hielten und denjenigen, die auf einen vollständigen Neuansatz flir die Fortentwicklung der Integrationen eintraten, z.u klären. 174 M. Garthe. \Veichenstellung zur Europäischen Union? Der Verfassungsentwurf des
Europäischen Parlaments und sein Beitrag zur Überwindung der EG-Krise, 1989, S . 87.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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europäische Konsens in unerreichbare Ferne. 175 So lehnte etwa das dänische Parlament die Spinelli-lnitiarive mit der Begründung ab, das Vetorecht und die bisherige Kompetenzverteilung müsse erhalten bleiben. Ein wesentlicher Grund für die Ablehnung war die Absicht, die Union mit einem eigenen Haushalts recht zu versehen. Der deutsche Bundestag kritisierte den Entwurf wegen der "Tendenzen zur Auszehrung nationalstaatlicher Finanzautonomie". 176 Zudem: Das Ziel, staatliche Verfassungsstrukturen auf die europäische Ebene zu übertragen, musste auch an der damals unüberbrückbar- heute banal - scheinenden Beobachtung scheitern, dass die Union bereits aus Staaten mit eigenen Verfassungen besteht. So wurden die Verfassungsbestrebungen des Europäischen Parlaments dem apostrophierten dualen Charakter der Gemeinschaft - supranational und intergouverne mental -nicht gerecht. Besonders deutlich wird dieses Realis ierungsdefizit eben an der (gescheiterten) Strategie des Europäischen Parlaments, die Exekutiven der Mitgliedsstaaten möglichst wenig mit e inzubeziehen. 177
cc) Die Einheitliche Europäische Akte ( 1986) Trotz der letztlich fehlenden Umsetzung wirkt der Spine/li-Entwurf bis in die heutige Zeit nach. "" Selbst wenn im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 wichtige 175
G. Zel/emin, Überstaatlichkeil statt Bürgernähe, in: Integration, 1/ 1984, S. 45 ff.,
5 . 47. 176 Vgl. W \Vesse/s, Die Debatte um die Europäische Union- Konzeptionelle Grundlinien und Optionen, in: W. \Veidenfeld/ W. Wessets {Hrsg.), Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986, S. 37 ff., 50. 177 W Weidenfeld, Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft: )Bundesrepublik Europa' als Perspektive?) in: W. Weidenfeld l W. Wessels (Hrsg.), \Vege zur Europäischen Union: Vom Ve rtrag zur Verfassung?, Bonn, 1986, S. 28 ff., 29. 173 Vgl. auchM. Fuchs/S. Harrleif I V. Popovk, Einleitung, in: Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent, 2002, S. 2 1 ff., 32-: "Noch heute ist der Enthusiasmus und die Aufbruchstimmung der Verfassungsväter für denjenigen spürb..1.r, der sich der Lektüre des Verfassungsentwurfs unterzieht. Der Entwurf verfügt über den großen Vorteil, dass er aus einem Guss und ohne Scheuklappen formuliert ist. Schon daraus, aber auch aus dem Entwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1994, konnte entnommen werden, zu welchen integrationspolitischen Leistungen und zu welchen konstitutionellen Taten parlamentarisch zusammengesetz-te Gremien im Verg leich zu exekutiv zusammengesetzten Organen in der Lage sind." Diese Erkenntnis sollte bei der 20 Jahre später stattfindenden Vetfassungsdiskussion noch eine wesentliche Rolle spielen. Denn die Erarbeitung der Grundrechte-Charta und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 durch einen mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent ist auch aus der Einsicht entstanden, ein europäischeres, demokratischeres, transparenteres und nicht zuletzt effizienteres Verfahren der Vertragsänderung bzw. -fortentwicklung zu etablieren.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Vertragsfortentwicklungen, die immerhin zur Gründung der Europäischen Union fiihrten, im Wege de r herkömmlichen, schrittweisen und regierungsseitig zu Stande gekommenen Vertragsergänzung erfolgt sind, kann doch nicht übersehen werden, dass der Verfassungsentwurf den Prozess, der zur Unterzeichnung der Einhe itlichen Europäischen Akte geflihrt hatte, ins Rollen gebracht hat. Die Einheitl iche Europäische Akte hatte bekanntlich eine nennenswerte Anzahl von Vorschlägen aus dem Spi nelli-Entwurf übernommen (und etwa die Ste llung des Europäischen Parlaments durch die Einführung des Verfahrens der Zusamme narbeit bei der Rechtsetzung deutlich verbessert).179 Zudem hat der Verfassungsentwurf - wie der Entwurf aus dem Jahre I994- die trivialen, aber nicht minder bedeutsamen Funktionen erfüllt, den Staats- und Regierungschefs wiederkehrend konstitutionelle Desiderata vor Augen zu fUhren und den Unionsbürgern deutlich zu machen, dass die Konstitutionalisierung der Europäischen Union und damit ihre zunehmende Demokratisierung und die Erhöhung ihrer Legitimation und Transpare nz grundsätzlich nicht an1 Parlament und seinen Mitgliedern scheitert und auf keinen Fa ll an den Parlamenten vorbei erfolgen kann.180 Bis zur Umsetzung dieses ehrgeizigen Anspruches in die Wirklichkeit sollte es jedoch noch ein langer und steiniger Weg sein - auch des Interessenabgleichs zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Eine bedeutungsvolle Etappe auf diesem Weg bi ldete die Verfassungsdiskuss ion des Jahres I994. dd) Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten von F.Cromme ( 1987) Bevor die Debatte von I994 ins Blickfeld rückt, verdient allerdings der auf Eigeninitiative von F. Cromme e ntstandene Entwurf eines .,Verfassungsvertrages der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten"'" Aufmerksamkeit. Er 179
Die EEA bereitete letztlich die Europäische Union vor. Eine Union wird bereits als Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge bestanden in einer Verankerung der Europäischen Po litischen Zusammenarbeit und des Europäischen Rates, einer Änderung des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnenmarkt~ der Einführung neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz, Forschung und Technologie. Allerdings wurden andere Ziele noch nicht erreicht: Auf das Einstimmigkeitsprinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten dieses noch nicht z.u einem "klassischen" Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten unterzeichneten d ie EEA I 986; am I. Juli 1987 trat sie in Kraft. (Abdruck bei A. Schäfer {Hrsg.). Die Verfassungsentwürfezur Gründungeiner Europ..1ischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200, II. 30). 180 Eine eingehende und umfangreiche - auch empirische - Analyse liefert auch A. Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. 2002. 181 Abdruck bei A. Seitäfer {Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union, He rausragende Dokumente von 1930 bis 2000,200 1, 11.3 I. Vgl. für die
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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basierte auf den bestehenden Gemeinschaftsverträgen, auf dem eben beschriebenen Spine/li-Entwurf ( 1984) und der Einheitlichen Europäischen Akte und legte Schwerpunkte auf die Kompetenzvertei lung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie auf eine präzise Festlegung der Kompetenzen der Organe. Er erweiterte zwar die Befugnisse des Europäischen Parlaments (im Vergle ich zum Stand der Gemeinschaftsverträge von 1987) wesentlich, normierte aber trotzdem den Rat als zentrales und e ntscheidungswesentliches Gemeinschaftsorgan. Die syste matische Gliederung wurde für eine zukünftige Europäische Verfassung als vorbildlich gewertet. ee) Der Vertrag von Maastricht (1992) Am 1. November 1993 ist schließlich der in Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union (vom 7. 2. 1992) in Kraft getreten. Über die ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft hinaus wollten die Mitgliedstaaten mit dieser neuen Reformübereinkunft die Integration weiter vorantreiben. Kernpunkte sind die angestrebte Währungsunion, der Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und S icherheitspolitik und die engere Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der Innenpolitik. Die vorhergehenden Debatten lieferten e in Musterbeispiel "europäischer Polyphonie", e ine den "Federa list Papers" wenigstens nahe kommende intellektuelle Begleitung war in der sich weitgehend spiegelbildlich erweisenden wissenschaftlichen Diskussion nicht e rkennbar. 182 80er Jahre auch den Verfassungsentwurf von R. Lusrer/G. Pfennig/ F. Fugmann, Bundesstaat Europäische Union. Ein Verfassungsentwurf, 1988. 181 Die ZU\veilen gez,ielte lnstrumentalisierung von Hoffnu~_gen und Befürchtungen spaltete die öffentliche Meinung. Frankreich befürchtete eine Ubermacht des größeren Deutschland, die Deutschen lehnten den drohenden Verlust der DM z.ugunsten eines ECU ab, Großbritannien sträubte sich gegen eine gemeinsame Sozialpo litik. Spanien, Portugal und Griechenland erwarteten mehr Geld aus dem Kohäsionsfonds, Dänemark plante sich von der gemeinsamen Außenpolitik femzuhahen, Deutschland und die Benelux-Staaten begrüßten allerdings den weiteren Schritt hin zu engerer Zusammenarbeit. Die Kontroversen spiegelten sich in drei Volksbefragungen wider. \Vährend die Dänen erst nach einigen Kompromissen in einer zweiten Abstimmung knapp mehrheitlich zustimmten und auch Frankreichs Referendum mit hauchdünner Mehrheit positiv ausfiel, erreichte die Mehrheit in Irland 69 Prozent. Vgl. insgesamt zum Maastrichter Vertrag aus der ausufernden Literatur: P.M. Huber, Maastricht- ein Staatsstreich?, 1993; /. Pemice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 ( 1993), S. 449ff; P. Lerche, Die Europäische Staatlichkeil und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender (Hrsg.)> Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 13 1 rr.; H. ..J. Bla11ke> Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein schritt auf dem \Veg zu einem europäischen Bundesstaat, in: DOV 1993, S. 4 12 ff.; Zum "Maastricht Urteil" des BVerfG: R. Steinberge1~ Die Europ..1ische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Oktobe r 1993, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt, 1995, S. 1313 ff.; R. Streinz, Das MaastrichtUrteil des Bundesverfass ungsgerichts, in: EuZW 1994, S. 329 ff.; IC Götz, Das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. I 081 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Gründe für einen neuen Vertrag waren offensichtlich: Bereits in der Präambel des EGV von 1957 ist als Ziel angegeben, einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen. Mit der Einhe itlichen Europäischen Akte ( 1986) und der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes (1993) waren erhebliche Fortschritte e rreicht. Mit dem Zerfall des Ostblocks und der Öffnung der Grenzen in Europa stellten s ich neue Anforderunge n an die Zwölfergemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewann die Gipfelkonferenz im Dezember 199 1 in Maastrichl entscheidende Bedeutung. Der nun gültige Vertragstext tu ruht auf drei "Säulen", die hier nur kursorisch wiedergegeben werden sollen: Die erste Säule umfasst den allen EGV und entwickelt ihn weiter. Statt von "Wirtschaftsgemeinschaft" sollte nunmehr von einer "Europäischen Union" die Rede sein. Zu den alten Bereichen Zollunion, Binnenmarkt, Agrarmarkt und Hande lspolitik traten neue Felder der Integration: e ine Währungsunion, Verbraucher- und Umweltschutz, Gesundheitswesen, Bildung und Sozia lpolitik, wobei die Zuständigkeiten der Europäischen Union in den einzelnen Politikbe reichen sehr unterschiedlich ausgestaltet waren. Dazu wurde eine "Unionsbürgerschaft"t" eingeflihrt. Neu aufgenommen wurden die Verpflichtungen zu größerer Bürgernähe, zur Bildung eines Regionalausschusses sowie zur beschränkten Stärkung der Rechte des Europäischen Parlame nts. Die zweite Säule bezieht sich auf die Außen- und Sicherheilspolitik . Auch hier lagen bereits Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der "Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) vor. Der Vertragstext spricht zurückhallend davon, in Zukunft eine Gemeinsame Außen- und Sicherheilspol itik (GASP) zu erarbeiten und zu entwickeln. Dabe i sollten auch die vorhandenen Strukturen der Westeuropäischen Union (WEU) genutzt werden. Entscheidungen sollten e instimmig getroffen werden. Die drille Säule sieht e ine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik vor, nennt Stichworte wie Asyl- und Einwanderungsfragen, Kampf gegen Drogen und Kriminalität und empfiehlt engere polizeiliche Zusammenarbeit. Dabei bleibt der Einfluss bei den Mitgliedstaaten . Die Regierungen erklärten sich aber dazu bereit, s ich gegenseitig abzusprechen und gemeinsame Regelungen zu suchen. Diese stark tu Abdruck BGBI. Nr. 47 v. 30. 12. 1992, S. 1254 ff. tu Vgl. a us dem Schrifttum P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4 . Auft. 2006, S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabirz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Markt bürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970; S. Magiera, Die Europäische Gemeinschaft auf dem \Veg zu einem Europa der Bürger?, in: DÖV 1987, S. 22 1 ff.; später ders., Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.}, Weltinnenrecht, Liber amicorum lost Delbrück, 2005, S. 429 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union, in: DÖV 1993, S. 749 ff. ; A. Rande/z/rofer, Marktbürgerschaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. Randelzhofer/ R. Scholz/ D. Wilke (Hrsg.}, Gedächtnisschrift fur Eberhard Grabitz, 1995, S. 581 ff.; N. Kota/akidis, Von de r nationalen Staatsangehörigkeit z.ur Union.sbürgerschaft, 2000.
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geraffte, aber für den gesamten- auch rechtsvergleichenden- Kontext notwendige Zusammenfassung lässt kaum etwas ahnen von den überaus komplexen und (nicht nur) flir den Laien schwer verständlichen Vertragsformulierungen. Der Vertrag brachte die Gründung der Europäischen Union- nicht als supranationale Konstruktion mit eigener Rechtspersönlichkeit, sondern als völkerrechtliche Einrichtung, der die Mitgliedstaaten der Gemeinschafte n angehören. Er wird durch das "Säulenmodell" veranschaulicht: Die erste, supranational geprägte Säule beinhaltet die Gemeinschaftsverträge, während die zweite und dritte Säule völkerrechtlich ausgerichtet s ind. ff) Die Verfassungsdiskussion 1994- der Herman-Bericht (I) Ausgangspunkte der DebaTTe
Bereits im Hinblick auf die Regierungskonferenz zum Maastricht-Vertrag hatte das Europäische Parlament mit den Entschließungen vom II. Juli 1990 und vom 12. Dezember 1990 Leitlinien für einen Verfassungsentwmf vorgelegt. Dieser wurde im federfUhre nden institutionellen Ausschuss fortentwicke lt, im Februar 1994 finalisiert und anschließend dem Plenum vorgelegt. '" Dieser neuerliche Entwurf einer europäischen Verfassung - benannt nach dem Berichtersta tter des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, F. Herman-war gewissermaßen eine von vielen Antworten auf die Erkenntnis neuer Strukturen und e iner etwaigen Modernisierung Europas, die nach den Umbrüchen von 1989/ 1990, den wahrhaft "e uropäischen Momenten", deutlich geworden war. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands hatten innerhalb der EG die gelegentlich im Stolpern begri ffenen Schritte in Richtung auf eine politische Union beschleunigt, jedoch noch nicht unbedingt stabilisiert. Bereits zu dieser Zeit waren Wirtschaft und Politik in Europa immer stärker von der Globalis ierung geprägt, gleichzeitig aber gewannen die Regionen Europas 186 zunehmend an Bedeutung. Während nationalistische Kämpfe den Balkan erschütterten, griffen im Westen Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft um sich . Die Erweiterungspläne der Union auf 16 oder mehr Mitgliedsstaaten und die damit verbunde nen Ängste offenbarten die Notwendigkeit e ines institutione llen Umbaus der Union im Hinblick auf ihre Organisation und ihre Entscheidungsverfahren. Auch der offensichtliche Krisenzusta nd, in dem sich die europäische Wirtschaft, vor allem nach dem Zusammenbruch des EWS, befand, zeigte, dass der Zeitpunkt gekommen war, das europäische Aufbauwerk erneut mit "Schwung" zu versehen. Doch der Weg, der mit Maastricht beschritten wurde, stieß insbesondere in den Paria' " Vgl. ABI. Nr. C 6 1/1994, S. 155, abgedruckt auch in: Ausschuss für d ie Angelegenheiten de r Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe für die Europäische Union, Texte und Materialien, Bd. 35 (2002), S. 26 ff. 180 Zum Regionalismus in Europa vgl. insbesondere P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auß. 2006, S. 43 1 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
menten nicht zuletzt aufgrundder übermäßigen Komplexität des Vertragswerkes auf unverhohlene Skepsis. "' Nach Maastricht sollte sich auch das Legitimationsproblem intensivieren. Die Politik der Union betraf immer mehr Lebensbereiche unmittelbar, entzog sich aber zunehmend der demokratischen Kontrolle, da Kompetenzen sich von den nationalen Parlamenten zur Kommission, Ausschüssen und den Exekutiven ve1iagerten. Obgleich das Europäische Parlament mit dem Mitentscheidungsrecht in einigen Bereichen gestärkt und bei der Einsetzung der Kommission ein Bestätigungsrecht erhielt, blieben seine gestalterischen und kontrollierenden Kompetenzen eher gering. Die Angst vor einem Souveränitätsveliust spiegelte sich in den knappen Referenden zur Ratifikation des Maastrichter Vertrages wider. Als weitere Argumente für den Verfassungsbedarf der Union galten die durch den Maastricht-Vertrag eingeflihrte Unionsbürgerschaft und die erforderliche Stärkung gemeinsamer Werte sowie die Bi ldung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Schließlich strebte man an, bis Ende der 90er-Jahre endlich Aufschluss über die Finalität der Europäischen Union und ihren Teilnehmerkreis zu erhalten. Die Ve1fassungsinitiative vom Februar 1994 hatte daher zum Ziel, die zunehmend komplexen EG-Strukturen zu systematisieren, damit neue Impulse flir den Fortgang der europäischen Integration gesetzt und ein einheitlicher verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden konnten ....
(2) Grundgednnken des Verfassungsenrwurfs des Europäisd1e11 Parlnmems Im Wesentlichen sollte die "Verfassung" von 1994 die Ziele der Europäischen Union präzisieren, die Effizienz, Transparenz und demokratische Ausrichtung der Organe verbessern, die Entscheidungsverfahren vereinfachen und veranschaulichen bzw. eine stärkere demokratische Legitimierung des Entscheidungsverfahrens gewährleisten sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantieren. Zu den wichtigsten Axiomen des Verfassungsentwurfs zählten demzufolge u. a. die Einführung e ines Zwei-Kammer-Systems (Parlament und Rat), eines Gesetzgebungsverfahrens sowie die transparente Definition einer Rechts hierarchie. Darüber hinaus die Abschaffung von Einstimmigkeitsentscheidungen. Im Hinblick auf die Begrenumgsfunkrion hatte das Europäische Parlament bis 1994 auf dem Gebiet der Grund- bzw. Menschenrechte bereits so viele Vorarbeiten geleistet, dass im Herman-Entwurfein separater Menschenrechtekatalog etablie1t werden konnte. Weiter versah der Textentwurf den Unionsbürger mit 187
Vgl. nur die Beschlussempfehlung des Sonderausschusses "Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drucks. 12/3895. Der verwirrende und unverständliche Vertragstext hatte nur mit Mühe die Nagelprobeder Referenden in Dänemark und Frankreich bestanden. 183 Vgl. auch T. Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union, in: Integration, 2/ 1994, S. 204 ff., 205.
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einer direkten Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 38), und der Verstoß eines Mitgliedsstaates gegen Menschenrechte sollte von Rat und Parlament sanktionierbar sein (Art. 44). Wie im Entwurf von I984 nahm die Legirimmionsftmktion eine zentrale Stellung ein. Die Legitimität der Legislative sollte durch eine echte Beteiligung der gewählten Volksvertreter gewährleistet sein, und das Europäische Parlament als Zweite Kammer e ine gleichberechtigte Rolle neben dem Ministerrat erhalten bzw. das Mitentscheidungsrecht auf alle Verfahren ausgeweitet werden (I 984: Art. 37; 1994 : Art. 17-24). Das Europäische Parlament sollte das Programm des Kommissionspräsidenten billigen, sowie- ähnlich wie im Ad-hoc-Entwurf- e in Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten aussprechen können (I 984: Art. 29; I994: Art. 22 tri). Auch die Judikative sollte stärker demokratisch legitimiert werden, indem die Richter des EuGH zur Hälfte vom Europäischen Parlament ernannt werden sollten (I 984: Art. 30, I994: Art. 25). Im Gegensatz zu I984 verstand sich das Europäische Parlament I994 aber nicht als alleinige verfassungsgebende Versammlung, sondern betonte stärker die doppelte Legitimitätsgrundlage der Europäischen Union: laut der Entschließung zur Verfassung sollte e in "Verfassungskonvent" aus nationalen und europäischen Parlamentsabgeordneten, der Zi viigesellschart und den Regierungsvertretern auf Grundlage des Entwurfs eine endgültige Version ausarbeiten (Art. 2). Der Verfassungsentwurf vermochte einerseits das bisherige EG-System mit einer ganzen Reihe von Elementen anzureichern, die auf eine künftige Staatlichkeil der Union wenigstens hinzudeuten wussten. Gleichzeitig sollte aber das politische System der Union weiterhin auf der Grundlage föderaler Strukturen ausgebaut werden, wie es in der Etablierung des Zwei-Kammer-Systems zum Ausdruck kam . Allerdings wies der Verfassungsentwurf nicht unerhebliche Defizite auf. Beispielhaft seien etwa das Fehlen einer klaren Aufteilung und Benennung der Zuständigkeiten sowie unklare Integrationsziele genannt. Zu erheblichen Diskuss ionen führte die geplante Aufnahme eines Rechts auf Arbeit oder auf Gründung einer Familie in den Gnmdrechtekatalog. Ebenso das damals bereits erwogene Prinzip der doppelten Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat. Wie im Spinelli-Emwurf fehlte auch I994 eine genauere Festlegung des Subsidiaritätsprinzips. Die bisherige Aufteilung der Kompetenzen in gemeinschaftliche und intergouvernementale Bereiche blieb zwar bestehen, konnte aber durch das Verfahren der Verfassungsänderung überwunden werden. Unklar blieb, wie e ine Verfassungsänderung vor s ich gehen sollte. Es erschien denkbar, dass gemäß Art. 3 I e in "Verfassungsgesetz" gemeint war, wonach lediglich eine Zweidrittelmehrheit im Europäischen Parlament nötig wäre. Über die Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte zudem schon nach fünf Jahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden werden (Art. 42). Mit seinen nur 47 Artikeln e rweckte der Entwurf den Eindruck, wesentlich gestrafft zu sein und damit allen Anforderungen an Transparenz und Klarheit
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
gerecht zu werden. ln dieser Hinsicht stand der Verfassungsentwurf von 1994 der Verfassung der Vereinigten Staaten am nächsten. Allerdings konnte die geringe Anzahl von Artikeln nur durch den fast vollständigen Verzicht auf eine nähere Kompetenzbeschreibung der Union sowie durch die Verschiebung des Katalogs der Menschenrechte in den abschließenden Schlusstitel VIII erreicht werden. Die Verweise auf den ,.gemeinsamen Bes itzstand" der bisherigen Verträge standen mit dem Gebot der Transparenz nur bedingt im Einklang.
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion Anders als 1984 verfügte das Europäische Parlament 1994 über keine eindeutige Strategie zur Durchsetzung des Verfassungsentwurfs. Dies lag unter andere m daran, dass der Entwurf auch in den eige nen Reihen umstritten war. Am 10. Februar 1994 wies das Europäische Parlament mit einer Mehrheit von 155 Stimmen flir die Entschließung bei 46 Stimmenthaltungen und 87 Gegenstimmen (von insges amt 5 18 Mitgliedern des Europäischen Parlaments) den bereits zweiten Entwurf an den Institutionellen Ausschuss zurück, u. a. mit der Begründung, dass es kurz vor der Europawahl und der Auflösung des Parlaments nicht ausreichend Zeit gebe, zu einer mehrheitsfähigen Fassung des Verfassungsentwurfs zu kommen . 189 Dabei enthielt der zweite Entwurfbereits weniger ehrgeizige Ziele als ursprünglich festgelegt. Mit der Entschließung erging jedoch die Forderung an das aus der vierten Direktwahl hervorgehende Parlament, diese Arbeiten
189
Zum Verlauf der Diskussion vgl. ausführlich: M. Fuchs I S. Hartleif I V. Popovic Ein1
leitung, in: Deutscher Bundestag, Re ferat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EUVerfassungskonvent, 2002, S. 2 1 ff., 36 ff. In seiner Sitzung am 2 ./3. Dezember 1993 hatte der Institutionelle Ausschuss den ersten, so genannten Hermtm-Emwurf einer Verfassung angenommen. Die Behandlung des Dokuments erfolgte in der Plenarsitzung vom 9. Fe-
bruar 1994 und wurdeangesichtsder fehlenden Sachdebatte von einigen Abgeordneten als Farce bezeichnet. Auch \venn sich die wichtigsten politischen Akteure im Europäischen Parlament an der Debatte beteiligten, so beschränkte sie sich dennoch (anders als die Debatte um den Maastricht-Vertrag) auf einen relativ kleinen Zirkel von Fachleuten und Politikern. ln der kontrovers gefUhrten Aussprache wurde zwar das Ziel, die Verfassungsgrundlagen der Europäischen Union zu verdeutlichen, generell akzeptiert. Dennoch standen viele dem Text eher skeptisch gegenüber. Die spürbare Zurückhaltung lag wohl vor allem daran, dass der Entwurf weder dem neuen Erwartungshorizont an die Wertentscheidungs- und Regelungskrafteiner europäischen Verfassung entgegenkam noch inhaltlich den aktuellen Stand der politischen Diskussion widerspiegelte. Teilweise wurde bemängelt, dem Entwurf fehle es an einer schlüssigen Vision, die über die bestehenden Vertragsgrundlagen hinaus reiche. Die Diskussion konzentrierte sich zu stark auf institutionelle Reformen und schwierig zu lösende Legitimationsfragen. Der Entwurf wurde am 9. Februar gemäß Art. J29 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments an den Institutionellen Ausschuss zurück überwiesen. Der Institutionelle Ausschuss prüfte seinen Entwurf erneut in seiner Sitzung vom 9. Februarund beschloss, einen zweiten Entwurf vorzulegen. in der g leichen Sitzung nahm er den entsprechenden Entschließungsantrag an und reichte den Text dem Plenum ein.
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zu einem Entwurf der Verfassung der Europäischen Union unter Berücksichtigung der Beiträge der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit fortzusetzen. So sollteeine breitere Basis ftir die Ausarbeitung e iner Verfassung für die Europäische Union vorgefunden werden, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Zugleich beauftragte das Europäische Parlament seinen Präsidenten, für die breitestmögliche Verbreitung des Entwurfs zu sorgen. Damit war die ö ffentliche Ause inandersetzung angestoßen und e in Signal vom Europäischen Parlament gesetzt, auch wenn es sich selbst noch nicht auf eine konkrete Verfassungsperspektive festgelegt hatte. Es wird gelegentlich übersehen, dass der Entwurf von I994 nicht das Zie l hatte, an die Stelle der bestehenden Verträge zu treten, sondern diesen ei nen Verfas sungs rahmen zu geben, der über seine Symbolkraft hinaus auch Erneuerungen von großer Tragweite bringen sollte. 190 Mit seinem Text ist es dem Institutionellen Ausschuss gelungen, klar, kurz und prägnant darzulegen, wie die Be fugnisse der Europäischen Union aufgebaut und verteilt werden könnten, aber auch zu beweisen, dass sich die Europäische Union in allgemein verständlicher Form organisieren ließe. Insgesamt stellte der noch nicht ausgereifte Entwurf durchaus eine solide Ausgangsbasis ftir die Diskussion dar, die in den darauf folgenden Jahren, insbesondere bei der Regierungskonferenz 1996, geflihrt werden sollte. Dennoch zeigt das Schicksal des Entwurfs, dass die Mitgliedsstaaten noch nicht bereit waren, sich auch nur ansatzweise die Verfassunggebung aus der Hand nehmen zu Jassen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bereits in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom I0. Februar I994 vorgeschlagen wurde, dass "vor der für I996 vorgesehenen Regierungskonferenz ein europäischer Verfassungskonvent aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitgliedsstaaten der Union zusammentritt, der auf der Grundlage eines im Europäischen Parlament vorzulegenden Verfassungsentwlllfs Leitlinien für die Verfassung der Europäischen Union verabschiedet und dem Europäischen Parlament den Auftrag zur Ausarbeitung eines endgültigen Entwurfs erteilt." 191 Es bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsentwürfe von I984 und I994 nicht folgenlos blieben, sondern im pos itiven, inspirierenden Sinne die Funktion "symbolischer Politik" ' 9' erfiillten. R. Bieber bezeichnete die Verfass ungsdebatte als "integralen Bestandteil der institutionellen Dynamik" der europäischen Einigung: 190
Die beiden Entwürfe von 1984 und 1994 sahen explizit keine völlige Neugründung
der EG bzw. EU vor. Die I984 zu gründende "Europäische Union" sollte lediglich als Dach
für die EG, das Europäisches Wirtschaftssystem und EPZ gebildet werden. 1994 rückte das Ziel in den Vordergrund, dem technokratischen Geflecht der weiter geltenden Verträge einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, deren Ziele zu präzisieren und .,Effizienz, Transparenz und demokratische Ausrichtung zu verdeutlichen", sowie Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten, vgl. F. Cromme, Der Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des e uropäischen Parlaments von 1994, in: ZfG 1995 (3), S . 256 ff., 257. 191 Vgl. F. Cromme (I 995), ebenda.
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als Gegengewichte zur Politik der kleinen, pragmatischen Schritte dienten sie als Orientierungs- und Kristallisationspunkt, an denen "die politischen und gesellschaftlichen Kräfte ihre Erwartungen und Beflirchtungen aus richten konnten". 193 gg) Der Vertrag von Amsterdam ( I 997) Eine weitere Revision der Gemeinschaftsvelträge führte die stufenweise Inte gration der Unionsbürger nochmals voran. Der Amsterdamer Vertrag 194 wurde am 2. Oktober I 997 unterzeichnet und trat nach Abschluss der Ratitizierungsvetfahren in den Mitgliedstaaten am I. Mai I999 in Kraft. Eine wesentliche Neuerung war die Verankerung des "Europas der mehreren Geschwindigkeiten", d . h. eine Regelung über die Flexibilität der Union. Sie ermöglicht eine individuelle engere Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten unter genannten Voraussetzungen und unter Nutzung der gemeinschaftlichen Organe und Verfahren. '" hh) Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwe nde ln der Konstitutionalis ierungsdebatte um die Jahrtausendwende tinden sich viele der den bisherigen Entwürfen innewohnenden Argumentationslinien wieder. Erneut versprach man sich von einer europäischen Vetfassung die U>sung struktureller und substanzieller Probleme wie die mangelnde Handlungsf
194
Abdruck bei A. Seitäfer {Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-
päischen Union, Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 200 I, II. 37. 195 Ausführlich zum Vertrag von Amsterdam: M. Hilf I E. Pache, Der Vertrag von Amsterdam, in: NJW 1998, S. 705 ff.; U. Kmpensrein, Der Vertrag von Amsterdam im Lichteder Maastricht-Entscheidung des BVerfG, in: DVBI. 1998, S. 942ff.; N. K. Riede/, De r Vertrag
von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBI 1998, S. 545 ff.; J. Hecker, Souveränitätswahrung durch Einstimmigkeit im Rat: Der Conseil Constitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, in: JZ 1998, S. 938 ff.; H. H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JZ 1998, S. 2 13 ff.; R. Streim, Der Vertrag von Amsterdam, in: EuZW 1998, S. 137 ff.
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gesehen, als Mittel, der europäischen Einigung eine neue Vision zu geben und damit auch die- damals von vielen bereits als erschöpft bezeichnete- Erörterung der Ungewissheit ihrer Finalität zu beantworten 196• Schon nach dem Beschluss über die Währungsunion im Jahr 1998 hatten Juriste n und e inzelne Politiker den Gedanke einer europäischen Verfassung verstärkt aufgegriffen. 197 Mit der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union bestätigte nun erstmals die Regierung e ines Mitg liedsstaates diesen Gedanken. Außenminister J. Fiselzer konstatierte am 12. Januar 1999 vor dem Europäischen Parlament, dass s ich nach Maastricht und Amsterdam die Frage nach einer e uropäischen Verfassung viel eher stellen würde. Eine Diskussion über die Verfasstheil Europas werde neue Impulse für die Integration bringen und wichtige Zukunftsfragen klären.198 Auf ihrem Parteitag in Erfurt im April 1999 forderte die CDU e inen europäischen "Verfassungsvertrag" flir ein "werteorientiertes, bürgernahes Europa". Am 3. Mai 1999 stellten der damalige CDU-Vorsitzende IV. Schltuble und der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion K. Lamers in Anknüpfung an ihr Papier von 1994 e in Strategiepapier zu einem "europäischen Vetfassungsvertrag" vor. 199 Auf Länderebene forderte der Ministerpräsident Baden-Württembergs E. Teufel e ine "europäische Charta, einen e uropäischen Verfassungsvertrag". 200 Am 18. Oktober 1999 schlug ei n Expertenkomitee unter der Ägide von R. von Weizsäcker, dem ehemaligen belgischen Premierminister J. -L. Dehaene und dem früheren britischen Minister Lard Sinwn of Highbury vor, die europäischen Verträge zu te ile n. Im ersten Teil würde der konstitutionelle Gehalt dargestellt, im zweiten die detaillierten Bestimmungen aufgelistet. 201 190 Die wiederkehrende Diskussion um die Finalität Europas widerspiegeln exemplarisch die Beiträge im Sammelband von H. Marlwld (Hrsg.), Die neue Europadebatte. Leitbilder für das Europa der Zukunft, 200 1; vgl. aber auch H.M. Enzmsberger, Ach, Europa!, 1990; E. Morin , Penser l'Europe, 1990; T. R. Reid, The United States Of Europe: The New Superpower and the End of America.n Supremacy, 2005; J. Rijkitl The European Dream, 2004; A. Szczypiorski, Europa ist unterwegs. Essays und Reden, 1996. 197 Vgl. nur den wenig bekannten Vorschlag der Arbeirsgemeitlschafr sozialdemokrarischer Jurisletl vgl. daz.u Süddeutsche Zeitung, I0. August 1998, S. 4: "Wie wär's mit einem Brüsseler Grundgesetz?". 193 Vgl. J. Fischer, Die Sch\verpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft, Rede vor dem EP in Straßburg, 1999, abrufbar unter www2.hu-berlin.de/linguapolis/ConslV98-99 /Cons98-99.htm. Bevor Fischer zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft erneut vor dem Europäischen Parlament am 2 1. Juli 1999 an diese Fonnulierungen anknüpfte, hatte das Thema bereits zunehmende Bedeutung erlangt. 199 Vgl. den Beschluss des 12. Parteitages 1999 in Erfurt: "Europa muss man richtig machen" sowie W Schäuble, K. Lame,.s, Europa braucht einen Verfassungsvertrag, in FAZ vom 4.5. 1999. 200 Vgl. E. Teufel , Regierungserklärung: Die Einheit Europas - Chance und Aufgabe flir Baden-Württemberg und Deutschland, 28. April l999 (dazu auch J. Schwarze, Auf dem \Vege zu einer europ..1ischen Verfassung- Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfass ungsrecht, in: DVBl 1999, S. 1677 ff., 1679). 1
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Vorfeld von Nizza ist die Diskussion über eine europäische Verfassu ng durch verschiedene Diskuss ionsbeiträge und vorgelegte VerfassungsentwliJfe erneut angereichett worden. Hervorzuheben s ind im Wesentlichen die verschiedenen Beiträge von B undespräsident J. Rau, 202 ferne r die Reden von J. Fischer vor der Humboldt-Universität 203 , von J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag"" und von T. Bfair in Warschau 105 Ebenso z u nennen sind der Beitrag von A. Kwasuiewski"'• und schließlich der gemeinsame Arti kel von G. Sehröder und G. Amarow . Ferner haben bis Ende 2000 verschiedene e uropäische Parteien Verfassungsentwürfe '""
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R. v. Weizsäcker!J.-L. Dehaenel L. Simon of Highbury, The Institutional lmplications of Enlargement. Report to the European Commission, J8. Oktober 1999. Dieser Vorschlag löste e ine Reihe von neuen Forderungen a us. Bundespräsident J. Rem sprach sich flir eine ,.fin: FAZ vom 2. 12.2000. 107 G. Schröder!G.Amato, V/eil es uns Ernst ist mit der Zukunft Europa.s, in: FAZ, 2 1. 9. 2000. 203 Lediglich beispielhaft und auf die e rgänzende Darstellung P. Häher/es (Europäische Verfassungslehre 1 4. Aufl. 2006, S. 600 ff.; vgl. auch ders.>Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: DÖV 11/2003, S. 429 ff.) verweisend: Entwurf der französischen Neogaullisten (RPR) J. Toubonl A. Juppe, Constitution de I'Union Europeenne. Contribution 3 une reftexion sur les institutions futures de l'Europe , vom 28. 6. 2(}(X) (abrufbar u. a. unter www.mic-fr.o rg/proposition-mic-ce.rtf); Entwurf der französischen UDF: "Projet pour une Constitution de !'Union Europeenne", Oktober 2000 (vgl. www.udf-europe .netlmain/visu_doc.jsp?path=lnotreprojetlprojet_constitution.xhtml); Positionspapier der CDU/CSU-Fraklion im Deutschen Brmdestag: ,.Europa vereinigen. Chancen und Herausfordenmgen der EU-Erweiterung"; Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik vom 13. I I. 2000, Nr. 39, sowie \II Schäuble, Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8. 6. 2(}(X). Zu den Gründen, warum von sozia ldemokratischer bzw. sozialistischer Seite bis dahin keine Entwürfe vorlagen, vgl. H. de Bresson, France-Ailemagne: difficiles relationsentre PS et SPD, in: Le Monde vom 7. 12.2000. Allenfalls kann bis zu d iesem Zeitpunkt auf den Antwortbrief von H. Vidrine auf die Rede von J. Fiselter
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oder zumindest Positionspapiere zur künftigen Entwicklung Europas vorgelegt. Und auf einer Konferenz in Berlin im Januar 2001 hat Sclrr/Jder den Appell für e ine europäische Verfassung prononciert wiederholt. 209 Auch die Kommission hatte eine europäische Forschungsgruppe 210 mit der Ausarbeitung e ines Entwurfs beauftragt, dessen Inhalte schließlich den Ve1trag über die Gründung der Europäischen Union e rsetzen sollten. Der im Mai 2000 vorgelegte Entwurf sah vor, die Substanz der bestehenden Verträge weitgehend zu erhalten und nur zusammenzufassen bzw. neu zu gruppieren. Den Unionsbürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil grundsätzliche Bestimmungen (d. h. eine "Staatsve1fassung") und der zweite Teil die Ausftihrungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem vorgelegten Basisvertrag'" ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration zu schaffen, das - im Sinne einer "Verfassung" -mit einer noch auszuarbeitenden Grundrechtecharta e ine Einheit bilden sollte. Diesem Vorschlag zum Tei l frappierend ähnlich kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Polirik den Basisvertrag und veröffentlichte (ebenfalls) im Mai 2000 ihren Entwurf eines Grundvertrages für die Europäische Union. Der Textm entspricht in seinem einfachen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und flir den Bürger verständ lichen Grundsatzvertrag. ii) Konstitutionelle "Morgendämmerung" in Europa- die Grundrechtecharta Insgesamt verstand man es, mit kleinen, gleichwohl ausdruckstarken Schritten aus dem Schatten inhaltsleerer Rhetorik herauszutreten. Die auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 proklamierte Grundrechtecharta bezeichnete der Vors itzende des Grundrechtskonvents R. Herzog als "einen Teil einer Verfassung von morgen" 213 • Nicht nur deshalb bedarf es im Rahmen einer entstehungsgeschichtlichen Betrachtung europäischer Konstitutionalisierung e iner kurzen Betrachtung jener Grundrechtecharta. Auf die vorangegangene Betrachtung der amerikanischen Verfassungsgeschichte und die Bedeutung der "Bill of Rights" sei an dieser Stelle erinnert. verwiesen werden, vgl. IP1 8/2000, S. I08 ff. 1 bzw. auf das Streitgespräch zwischen Fischer und J.-P. C/revimeme/11, in: Die Zeit vom 21 . 6. 2000, S. 13.
w•
Vgl. dazu elwa Financial Times vom 20./21. I. 2001.
110
Vorgelegt vom Europäischen Hochschulinstitut, Robert Schuman Centre for Advan-
ced S!udies, Mai 2000. 111
Abgedruckt in Ausschuss fiir die Angelegenheiten de,. Europäischen Union (Hrsg.),
Verfassungsenlwürfe fUr die Europäische Union, Texte und Male rialien, Bd. 35 (2002). m Abgedruckt ebenda. 1 ll
Zitiert nach Die Welt, Herzog schlägt Volksabstimmung über EU-Verfassung vor,
in: Die Welt, 14. Seplembe r 2000, S. 5.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft beschloss der Europäische Rat am 4. Juni 1999 in Köln, dass .,im gegenwärtigen Entwicklungszustand der Europäischen Union die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in einer Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollten""'· Der Beschluss sah vor, "auf der Grundlage der zahlreichen Vorarbeiten [ ... ] der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments, sowie vieler [ ... ] wissenschaftlicher und politischer Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten [ ... ] die heute schon geltenden Grundrechte [zu] systematisieren, in einem Dokument zusammenzufassen und inhaltlich [zu] erweitern"215 • Die Entscheidung zur Grundrechtscharta fiel unter dem Eindruck des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags im Mai 1999: Der Vertrag institutionalisierte zwar neue Grundrechte und intensivierte den Grundrechtsschutz, blieb aber ohne Systematisierung dieser Rechte. Während der folgenden finnischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres blieb die Grundrechtecharta auf der Agenda. Am 15. und 16. Oktober 1999 beschloss der Europäische Rat von Tampere die Zusammensetzung eines "Konvents"216, welcher die Charta ausarbeiten sollte, und am 17. Dezember 1999 nahm dieses Gremium aus Vertretern der nationalen Regierungen, der nationalen Parlamente, des Europäische Parlament und der Zivilgesellschaft unter Vorsitz von R. Herzog seine Arbeit auf. 217 (I) Die Sachlage vor dem Herzog-Konvenr
Zum Zeitpunkt der Einsetzung des .,Konvents" existierte noch kein eigener Grundrechtskatalog der Europäischen Union bzw. der drei Gemeinschaften. Es gab zwar Bestrebungen in dieser Hinsicht, etwa die gemeinsame Erklärung der EG-Organe vom 05. 04. 1977218 , die Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. 04. 1989219 und den Grundrechtsteil im 214
Europäischer Rm in Köln, 3. und 4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes,
vgl. europa.eu.int/council/offlconclufjune99fjune99_de.htm. 215
Siehe Europäischer Rm in Köln, 3. und 4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, ebenda. Vgl. auch H. Däubler-Gmelin, Sch\verpunkte der Rechtspolitik in der neuen
Legislaturpe riode, in: ZfR 311999, S. 79 ff., 84. ll& Freilich gab es bereits verschiedene Expertengremien zur Ausarbeitung von Vertragstexten. Neu war die gleichberechtigte Teilnahme von gewählten Volksvertretern, die bis dato auf Beratung und auf nachträgliche Zustimmung beschränkt waren. Erstmalig sollten die Parlamente schon bei der Entstehung einer Vertragsänderung als Vermittler demokratischer Legitimation und Multiplikatoren in die politische Mitverantwortung genommen werden. Vgl. auch \V. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/200 I, S. 34 ff. 217 Zudem beauftragte der neue Kommissionspräsident R. Prodi am I. September 1999 eine Reftexionsgruppe, ein Gutachten über die institutionellen Auswirkungen der EUOstenveiterung zu erstellen, deren Verhandlungen nach dem Entschluss des Kölner Rates bereits mit Beginn der Regierungskonferenz im Februar2000 aufgenommen werden sollten. 218 ABI. 1977 C 10311 219
Abgedruckt in E.uGRZ 1989, 205.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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bereits oben benannten Verfassungsentwurf des Europäischen Parlan1entes vom 14. 02. 1994. 220 Außerdem ist auf Art. I Abs. 2 EUV hinzuweisen, wonach "die Union die Grundrechte, wie s ie in der EMR K gewährleistet s ind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgmndsätze ergeben", achtet. Vor der Europäischen Grundrechtecharta wurden europäische Grundrechte deshalb hauptsächlich aus den Rechten der EMR K221 sowie aus den so genannten "Gemeinschaftsgrundrechten" 222 abgeleitet.
220
Vgl. auch C. 0. Lenz, Ein Grundrechtskatalog flir die Europäische Gemeinschaft. in: NJW 1997,S.3289f. m.w.N. 221 Die EMRK (mit Zusatzprotokollen) ist im \Vesentlichen von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden und damit verbindlich; in Deutschland hat die EMRK \Vegen Art. 59 Abs. 2 S. I GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (zur "Gesetzeskraft" vgl. Gesetze über d ie Konvention (BGBJ. 1952 II 685, 953)). Trotz des formell niederen Rangs der EMR K im Vergleich zum Grundgesetz ist heute in Rspr. und Lehre anerkannt, dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK zu berücksichtigen sind, vgl. nur H. Dreier, vor Art. I, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I (Art. 1-19), 2. Aufl. 2004, Rdn. 22m. w. N. auf die Rspr. des BVerfG; P. Kirchllof, Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte, Konkurrenz oder Ergänzung?, in: EuGRZ 1994, S. 16 ff., 25f; E. Staebe, Die e uropäische Menschenrechtskonvention und ihre Bedeutung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: JA 1996, S. 75 ff., 81 m.w. N.;Sächs. VerJGHLKV 1996,273 (275). Außerdem ist auchdie Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) z u beachten (BVCJjG, NJW 1987, 24 (27); Stichs. l'erfGH ( 1996), e benda). Zur streitigen Bindungswirkung von Urteilen des EGMR flirdas BVerfG vgl. Art 53 EMRK und EuGH, EuGRZ 1997, 83ff("Kranzow"); BVerfGE 92,9 1, 108 ("Feuerwehrabgabe"); A. 8/eckmtmll, Bundesverfassungsgericht versus Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: EuGRZ 1995, S. 387 ff. 221 Die "Gemeinschafts-Grundrechte" ergeben sich teilweise (ausdrücklich) aus dem primären GemeinschaftS-recht. teilweise aus (ungeschriebenen) aUgemeinen Rechtsgrundsätzen im Range von primärem Gemeinschaftsrecht, vgl. u. a. EuGH S lg. 1969, 4 19 (425) ("Stauder") - unter Berufung a uf Art I 64, 2 15 Abs. 2 EGV; S lg. 1970, I I 25 ("Handelsgesellschaft"); Slg. I 974 , 49 I ("Nold"). Abgeleitet werden diese "allgemeinen Rechtsgrundsätze" aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Menschenrechtsverträgen, speziell der EMRK in der Auslegung ihrer Organe, z. B. Entscheidungen der EKMR oder des EGMR; vgl. Art. F Abs. 2 EUV (Erweiterung durch Amsterdamer Vertrag vom 16. 06. 1997). Siehe auch EuGH Slg. 199 1 I, 2925 ("EIIiniki"); 1975, 1219 (1232) ("Rutili"). Die materielle Kompetenz des EuGH zur Entwicklung der "Gemeinschaftsgrundrechte" ergibt sich aus Art. 164 EGV. Zur Bindungswirkung von Urteilen des EuGH vgl. EuGH Slg. 1981, I 19 I ( 12 I 5); Slg. I985, 7 I9 (747) und statt vieler 8. Beutler I Bieber/J. Pipkom/J. Streit, Die Europäische Union, 4. Auflage 1993, Rdnr. 7.3.3.7 . Zum EG-Grundrechtsschutz vgl. T Jürge11senl I. Schlii11der, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, in: AöR 1996, S. 200ff.; Übersicht bei J. Kokou, Der Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: AöR 1996, S. 599 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Es ließen s ich letztlich vier Argumente herauskristallisieren, die Charta als Teil einer Verfassung von morgen rechtsverbindlich (und von jedem Einzelnen vor dem EuGH einklagbar zu machen223) : - Die wachsende Macht der EU-Organe in Brlissel sollte einer Kontrolle unterwerfen werden, die es bislang nicht ausreichend gab. - Die Komplexität der Verträge erzeugt ein Gefühl der Rechtsunsicherheit Dem einzelnen Bürger sollte das Geflihl genommen werden, dieser Macht hilf- und schutzlos ausgeliefert zu sein. - Die Defizite des bisher durch die Verträge und den EuGH gewährleisteten Grundrechtsschutzes sollten beseitigt werden. - Die deutlichere Darstellung bereits bestehender Rechte, um etwa den Beitrittskandidaten die Werte, wofür die Union stehe, klarer zu machen. (2) GestalTung und Erfolg des ersten Konvems
Der Konvent sollte schließlich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, 16 Mitgliedern des Europäischen Pm1aments, 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente - zwei aus jedem Mitgliedstaat - sowie einem Beauftragten des Präs identen der Europäischen Kommission bestehen. 22" Von den nationalen Parlamenten konnten nicht nur die Regierungsparteien, sondern - als stellvertretende Mitglieder - auch die jeweilige Opposition beteiligt werden. Jeweils e in Vertreter des Europarats, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union sollte als Beobachter teilnehmen . Einzelheiten seines Verfahrens und der Aus legung seines Mandats 123
Anerkanntermaßen gewährleistet die Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg seit
Jahrzehnten weitgehenden Schutz gegen die Hoheitsgewalt der Union. Der Gerichtshof prüft die Rechtsakte der Europäischen Union auf ihre Vereinbark.eit mit den Grundrechten, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ergeben (vgl. Art. 6 Abs. 2EUV). Selbst Rechtsakte der Mitgliedstaaten unte rliegen dieser Prüfung, soweit sie Unionsrecht anwenden und umsetzen. Dagegen bleiben die Mitg liedstaaten in den rein nationalen Bereichen der Gesetzgebung nur ihren eigenen Grundrechtsregelungen unterworfen. Darin lässt sich auch schon im geltenden Unionsrecht ein fdderatives Element erkennen. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass der EuGH einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet. Vgl. zu alledem mit weiteren Nachweisen zu den relevanten Etscheidungen des EuGH und des BVerfG N. Rekh, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: ZRP 2000, S. 375 ff. m. w. N. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während das Grundgesetz wie die meisten staatlichen Verfassungen die Grundrechte detailliert regelt, findet sich in Art. 6 EUV nur der Verweis auf die vorgenannten Rechtsquellen. Für den Bürger ist dies wenig transparent und voraussehbar, zumal in dem gemeinsamen Rechtsraum der Union mehr als 27 verschiedene Rechtstraditionen zusammenwachsen sollen. 124 Zu Verfahren, Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses .,Konvents" vgl. W: Dix, Grundrechtecharta und Konvent- auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 11200 I, S . 34 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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sollte das Gremium nach eigenem Ermessen entscheiden. Von diesem Vorgehen versprach man sich eine ständige aktive Teilnahme des institutionellen Sachverstandes und aller großen politischen Richtungen in den Mitgliedstaaten und auf Unionsebene. Die Parlamente akzeptierten diese Ein ladung. Das Gremium e inigte sich in seiner konstituierenden Sitzung am 17. Dezember 1999 auf den früheren Bundespräsidenten R. Herz,og als Vorsitzenden und auf e in Arbeitsprogramm. Auch über die Benennung als "Konvent" und über das Recht der stellvertretenden Mitglieder, an den Beratungen teilzunehmen, entschied die Versammlung durch Abstimmung selbst. Die europäischen und die nationalen Parlamentarier wählten jeweils e inen Sprecher in das Präsidium. Die gesellschaftlichen Gruppen und die Öffentlichkeit wurden arbeitsteilig konsultiert: auf Unionsebene durch das Präsidium des Konvents, auf nationaler Ebene durch Anhörungen der jeweiligen Parlamente. Die Sitzungen des Konvents und seine Diskus sionsgrundlagen waren ständig ö ffentlich und über Medien und Internet zugänglich. A lle Interessierten konnten s ich direkt gegenüber dem Konvent oder mittelbar über seine Mitglieder zu Worte melden. Das Beratungsverfahren des Konvents war parlamentarisch geprägt: freie Debatte unabhängiger Persönlichke iten nach strikten parlamentarischen Regeln, die sich der Konvent nach Bedarf selbst auferlegte. Bei aller Schärfe der sachlichen Auseinandersetzung stand die Suche nach e inem möglichst breiten Konsens im Vordergrund. Abstimmungen über den Entwurf, die im Interesse e ines möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden konnten, wären zwar möglich gewesen, jedoch hätte der Konvent die Modalitäten selber festlegen müssen. Überdies hätte ein Ergebnis, das unterden Regierungsbeauftragten im Konvent stre itig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und wegen der dort e rforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage gestellt. Andererseits musste n auch die Regierungsbeauftragten e in Höchstmaß an Kompromissbereitschaft aufbringen, um isolierte Positionen im Rat und vor allem auch gegenüber ihren eigenen Parlamenten zu vermeiden. Damit bestanden auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten beste Voraussetzungen für e ine breite öffentliche Diskuss ion. Die Öffentlichkeit hatte es allerdings nicht leicht, dem raschen Verhandlungsgang im Konvent und der teilweise erheblichen Weiterentwicklung der Vorentwürfe zu folgen. So brachte auch noch die letzte Verhandlung am 26. Septemberwesentliche Veränderungen und hat die fast e inhellige Bi lligung des Textes durch den Konvent e rst ermöglicht. Anlässlich des Europäischen Rates in Nizza am 7. Dezember2000 hatten die Unionsorgane die e rarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union feierlich proklamiert. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde naturgemäß in der wissenschaftlichen Literatur, durch die Medien und Politik unterschiedlich bewertet."' Während manche nach der Notwendigkeit dieser Charta fragten, 225 Einen Überblick bieten N. BemsdorffI M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte, 2002; /. Pemice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVBJ. 2000,
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
zumal doch die Grundrechte in der Union und ihren Mitgliedstaaten umfassend gewährleistet wären, stärkte für die Gegenansicht die Charta den Schutz der Grundrechte, weil sie die gemeinsamen Grundrechte für alle Unionsbürger in einer gemeinsamen Sprache klar und verständlich formuliert und damit Vertrauen in die gemeinsame Rechtsordnung begründet hätte. Für Andere stellte die Charta und vor allem das neue Konventsverfahren, in dem sie entstanden war, ein Modell für künftige Vertragsänderungen dar. Sie erhofften sich eine grundlegende Reform der Union unter breiter Mitwirkung der Parlamente und der Öffentlichkeit. Einige sahen in der Charta sogar den e rsten Schritt zu e iner föderativen Verfassung der Union. Die Debatte über die gemeinsame Wertebasis der Europäischen Union erreichte im ersten Halbjahr 2000 unter dem Vorzeichen der Wahl der rechtspopulistischen FPÖ in ÖsteJTeich ihren (unrühmlichen) Höhepunkt. Im Zusammenhang mit den juristischen Problemen, auf welche die Sanktionen der Europäischen Union gegen Österreich stießen, forderten viele Politiker geeignetere Mechanismen, bei möglichen Verstößen gegen Grundrechte auch schon vorbeugend tätig zu werden. Vor diesem Hintergrund verlagerte sich die Dis kussion auf den Gehalt und die Verbindlichkeit der Grundrechtscharta. Hier zeichneten sich zwei Positionen ab: Die Minimalisten plädierten für die Unverbindlichke it der Charta (dies forderten vor allem die Briten und Skandinavier), die Beschränkung auf klassische Abwehrrechte und gegen die Aufnahme sozialer Ans pruchsrechte. Die konservativen Parteien und Wirtschaftsverbände flirchteten, dass die Aufnahme dieser Rechte zu einer Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen könnte. 22• Für den maximalistischen Ansatz, welcher neben einem umfassenderen Katalog vor allem die Verbindlichkeit und Einklagbarkeil der Rechte als ersten Schritt zu e iner Verfassung einforderte, setzten sich Sozialdemokraten und die Grünen, das Europäische Parlament und die Kommission ein. Auf dem Gipfe l von Feira am 19. und 20. Juni 2000 entschloss der Europäische Rat sich dann aber - gegen den Willen von Deutschland und Frankreich- unter dem Einftuss der "Minimalisten" für die Unverbindlichkeit der Charta . ln Frankreich wurde zeitgleich der Vorschlag des ehemaligen Kommissionspräsidenten J. Delors vom 19. Januar 2000 diskutiert, e ine Kerngruppe der sechs S. 847 ff.; P. J. Teuinger. Die Charta der Grundrechte der EU, in: NJW 200 I, S. I0 I0 ff. Siehe auch J. Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 634 ff. Vgl. auch
W Dix>Eine europäische Charta der Grundrechte, in: Vertretung der Europäischen Kommission, Berlin (Hrsg.), Europäische Gespräche, Berlin Heft 2/ 1999. S. 90 ff.; ders., Grund-
rechtecharta und Konvent- auf neuen \Vegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001, S. 34ff. 22 • Vgl. J. Meyer, Will Europa sein Modell opfern? Die EU-Grundrechtecharta belebt die alte Debatte über die Notwendigkeit sozialer Rechte neu, in: Frankfurter Rundschau
vom 28. 4. 2000.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Gründungsstaaten in der Integration schneller voranschreiten zu lassen, die durch ei nen "Vertrag im Vertrag" - nicht e iner Verfassung - eine "R>deration der Nationalstaaten" bilden sollten. "' Die ehemaligen Regierungschefs H. Schmidr und - im Hinblick auf sei ne spätere Rolle nicht ohne Pikanterie - V. Giscard d' Esrai11g stimmten diesem Vorschlag zu .228 Die Proklamation der Grundrechtecharta ist im Rückblick, jedoch teil weise auch im damaligen Verständnis lediglich als Vorstufe zur vertraglichen Regelung oder Verfassung zu sehen. Sie war notwendig, weil in einige n Mitgliedstaaten weiterhin starke Vorbehalte gegen eine vertragliche Verankerung der Charta bestanden. Grund hierflir war zumeist das Festhalten an e inem Verfassungs- und Souveränitätsverständnis, das die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta als we iteren Schritt zu e inem staatsähnlichen Zustand der Union ablehnte. Das rechtsstaatliche Gebot, die Grundrechte als Beschränkung von Hoheitsrechten möglichst klar und verbindlich zu regeln, sollte sich letztlich als das stärkere Argument erweisen. Das gilt in besondere m Maße für eine überstaatliche Gemeinschaft, die ihre zwangsläufig größere Bürgerferne überwinden und um Vertrauen und Zustimmung ihrer Bürger werben muss. Dennoch offenbarten s ich auch in dieser Debatte die zu e rwartenden Widerstände, die sich regelmäßig im europäischen Kontext an Begriffen wie "Verfassung", "Föderation" und "Souveränität" heraus kristallisieren. Freilich wurde n zu diesem Zeitpunkt-trotz gelegentlich aufflammender Tendenzen Unionskompete nzen zu renationalisieren - der Union bere its zahlre iche "souveräne" Hoheitsrechte übertragen, weshalb ihre Organe allein schon deshalb zu einem gewissen Grade handlungsfähig, demokratisch und rechtsstaatlich "verfasst" sein müssen 229• Die Mitgliedstaaten haben sich vertraglich verpflichtet, diesen "Acquis" zu erhalten und seine Funktionsfähigkeit s icherzustellen. Demzufolge hat bislang noch jede Vertragsänderung die gemeinschaftlichen Elemente der Union weiterentwickelt. Als Korrektiv und Grenze dieser Entwicklung wurden zugleich die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Grundsatz der Subsidiarität zu fundamentalen Prinzipien der Union erhoben . Dabei gab es immer schon die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vertiefung der Union, zwischen "lntegrationisten" und "Souveränisten", die jedoch zumeist pragmatisch überbrückt werden konnten.
227
Vgl. nur das Interview mit J. De/.o,.s in Le Monde vom 19. I. 2000. Vgl. J.. L Amaud, Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei Eröffnung der französischen Ratspräsidentschaft Studien und Forschung Nr. I0, Notre Europe, Groupement d'~tudes e t de Recherches, Paris, Juli 2000, S. 3 . Die CDU hielt an ihrem Konzept des Verfassungsvertrages fest, was sie auf ihrem Parteitag im Jahre 2000 in Essen deutlich machte, vgl. Essener Erklärung, Beschluss des 13. CDU- Parte itages, April 2000. 229 Vgl. /. Pemice. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (200 1), S. 148 f f. 223
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Grundrechtekonvent hat die Frage, ob ein Schritt zu einer quasi-staatlichen Verfassung der Union vollzogen worden wäre, bewusst offen gelassen. Sie spielte für seine Aufgabe letztlich auch keine fundamentale Rolle. Entscheidend war allein, wie die Union dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeil ihres Handeins am besten gerecht werden konnte. Die strikte Beschränkung auf dieses Ziel ermöglichte schließlich auch die Einigung auf e ine entsprechend umfassende Grundrechtecharta und die Genesis e ines Textes, der in Klarheit und Verständlichke it den Grundrechtskatalogen der staatlichen Verfassungen vergleichbar ist, über die EM RK hinausgeht und für e ine spätere Aufnahme in e ine Vetiassung grundsätzlich geeignet war. 230 Im Ergebnis erwies sich aber insbesondere das Konventsverfahren als zukunftstauglich . jj) Mit "Humboldt" nach Nizza?
Mit der (mittlerwei le vom Protagonisten selbst grundlegend revidierten) Rede des deutschen AußenministersJ. Fischer an der Berliner Humboldt-Universität am 12. Mai 2000 begann eine weitere Phase der Debatte, in der zahlreiche Spitzenpolitiker aus verschiedensten Mitgliedsstaaten dem Drang nachgaben, sich zu Wort zu melden und individuelle Verfassungskonzepte der europäischen Öffentlichkeit vorzuste llen."' Aus den Reihen der Staats - und Regierungsschers eröffnete der französische Staatspräsident J. Chirac den Reigen derer, die sich zu einer weiter Hätte man sich auf einen Streit um Verfassung und Staatlichkeil der Union eingelassen, so wäre diese Einigung zu dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gefährdet gewesen, so auch W Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/200 1, S. 34ff, 36. Für Dix, ebenda, ist die .,Charta ein 'veiteres Beispiel, dass sich die Union auch ohne Berufung auf staatsrechtlich geprägte Zielvorstellungen pragmatisch und schrittweise weiterentwickeln kann. Hierfür genügen ihr die schon immer anerkannten funktionalen Grundsätze der Integration: die Handlungsfahigkeit der Organe, die demokratische Legitimation, die Rechtsstaatlichkeil und die Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten.'' 231 Drei Tage vor dem SOjährigen Jubiläum des Schuman-Pians legte Fischer seine "Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" als "Privatmann" dar, in der er nicht nur ausdrücklich eine "Verfassung•• bzw. einen "Verfassungsvertrag" forderte1 sondern durchaus konkrete Inhalte und Realisierungschancen nannte, vgl. Fischer, Vom Staatenverbund zur Rkleration. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Rede 230
vor der Humboldt-UniversiJäJ Berlin am I2. 5. 2000, abgedruckt u. a. in: Integration 2000,
S. 149 ff. Die Rede fand nicht nur innerhalb Deutschlands Zustimmung von den Regierungsund Oppositionsparteien (siehe u. a. die Darstellungen in der deutschen Tagespresse: etwa Frankfurter Rundschau, I 3. 5. 2000: "Mit der Schwerkraft zum Zie l"; Frankfurte r Allge-
meine Zeitung, 13. 5. 2000: Fischer greift nach dem europäischen Rettungsring"-'; sowie Süddeutsche Zeitung, I7. Mai 2000: "Schäuble lobt Fischers Europa-Jdee"), sie provozierte
vor allem auf französischerSeite die unterschiedlichsten Reaktionen. Sowohl in derSonderrolle der Ratspräsidentschaft als auch im Hinblick auf die ,Kohabitation ' wollte Frankreich keine Spaltungen durch provokante Visionen hervorrufen und die für Nizza vorgesehenen
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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reichenden "Antwort" auf die Gedanke n Fischers aufgerufen flihlten. Mit seiner Rede vor dem Reichstag am 27. Juni 2000 setzte er sich über die Kohabitation hinweg und bestätigte, in einigen Jahren werde man über einen Text befinden, den man dann als e rste Europäische Verfassung proklamieren könne. 232 Ähnlich argumentierte am 6. Juli der italienische Staatspräsident Carlo Ciampi an der Universität Leipzig. Es folgte der belgisehe Premierminister G. VerhofstadT mit e iner Rede vor dem European Policy Center in Brüssel (21. September 2000)."' Kurz darauf legte Tony Blair vor der polnischen Börse seine Vision flir Europa dar und sprach s ich gegen ei ne Verfassung aus (6. Oktober2000). 234 Zu den Gegnern ei ner Verfassung zähl(t)en neben Blair der spanische Ministe rpräsident J. M. Aznar, die (später ermordete) schwedische Außenministerin A. Undh, sowie e ine Minderheit im Europäischen Parlament. Eine nicht unerkleckliche Anzahl französischer Spitzenpolitiker wie der Sozialist J.-P. Cheven.ement, der damal ige französische Innenminister H. Vedrine und der ehemalige Kommissionspräsident J. Deiars sprachen s ich zwar ftir grundsätzliche Reformen des Systems aus, hatten aber bekanntlich gegen die deutschen Vorschläge einer Konstitutionalis ie rung argumentiert. institutionellen Reformen nicht gefahrden, vgl. allgemein J.-L. Arnaud, Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei Eröffnung der französischen Ratspräsidentschaft Studien und Forschung Nr. 10, Notre Europe, Groupement d'i::tudes et de Recherches, Paris, Juli 2000, S. 3. Konservative wie sozialistische Parteien bekundeten in der französischen Öffentlichkeit ihre Zustimmung zu Fischers Konzept. Der Präsident der konservativen UDF, F. Bayrou, legte- wie bereits erwähnt - mit dem grünen Europaabgeordneten D. Colm-Bcmdil sogar einen eigenen Verfassungsentwurf vor (dazu J.-L. Amaud, ebenda), kurz darauf folgten die Neogaullisten A. Juppi und J. Taubon mit einem ausgea.rbeiteten Konzept ("Constitution de l'Union Europeenne", 28. Juni2000, abrufbar u. a. unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf). Dagegen mündete die skeptische Haltung des damaligen französischen Außenministers J.-P. Che~'enement in ein offenes Streitgespräch mit Fischer (dokumentiert in Die Zeit, Dossier, 7. Juni 2000). Nach dem deutsch-französischen Gipfel in Mainz, auf dem der französische Staatspräsident Chirac sich positiv zu Fischers Visionen geäußert hatte, veröffentlichten der britische Premierminister T Blair und der spanische Staatschef J. M. Aznar am 13. Juni einen gemeinsamen Artikel in der Financia/ Times und EI Mundo>in dem sie sich ebenfalls skeptisch zu Fische,.s Rede äußerten und ein gemeinsames Auftreten in der Wirtschaftspolitik signalisierten. Auch das Europ..1ische Parlament und die Kommission reagierten ambivalent. 'Nährend Kommissionspräsident R. Prodi die Ideen der Rede begrüßte, befürchteten Kollegen>er wolle mit seinen Verfassungsplänen die Kommission abschaffen; ähnliche Befürchtungen äußerten einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments (siehe Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2000, S. I: "Prodi lobt Fischers Rede zu Europa"; sowie Süddeutsche Zeitung, 18. Mai 2000, S. 5: ,,Beifall fUrs Ganze, Kritik am Detail"). 231 J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am Tl. Juni 2000, in: FAZ vom 2&.6. 2000, S. I0 f. 233 G. Verlwfnadr, A Vision for Europe. 2J.September2(X){), abrutbar unter www .theepc.be. 23' T. 8/air, Speech to the Polish Stock Exchange, Warschau 6. Oktober 2000, abrufbar unter users.ox.ac.uklbusch/data/blair_warsaw. html.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Wenig später folgten Reden des finnischen Premierministers P. Lipponen ( 10. November2000)m und- wie bereits oben e rwähnt- von Bundespräsident J. Rau, der sein konstitutionelles Konzept in Zeitungsarti ke ln und e iner Rede am 19. Oktober 2000 w iederholt vorstellte.'"' Das Europäische Parlament und die Kommission legten in diesem Zeitraum mehrere Stellungnahmen zur Verfassungsdebatte vor. m Zahlreiche Anregungen und Stellungnahmen aus der Wissenschaft begleiteten diesen Prozess.'"' Mit dem Vertrag von Nizza239 (Inkrafttreten am I. Februar2003) bere itete s ich die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungs phasen stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspol itik, die polizeiliche und j ustizielle Zusammenarbeit, die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. Insgesamt sollten Legitimität, Effizienz und Transparenz der Geme inschaftsinstitutionen verbessert werden. Indirekt war damit die Frage nach der politischen, d . h. der demokratischen "Verfasstheit" der Union gestellt. 240 Oder anders fonnuliert: es ging (und geht
235 P. Lipponm, Speech at the College o f Europe, Brügge, 10. November 2000, abrufbar unter www.m.filenglish/speech/2000 1110e.htm. 23• J. Rau, Rede beim Vlll Kongress der Eurochambres Berlin, 19.0ktober2000; vgl. ders, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4. I I. 1999; ders.,Une Constitition pour l' Europe, in: Le. Monde vom 4. I I. 1999; ders. , Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die We lt vom 15. 9. 2000. 2..37 So etwa der Bericht des konstitutionellen Aussc/wsses des Europäischen Par/amems über die Konstitutionalisierung der Verträge vom J2 . Oktober2000; sowie der Vorschlag der Kommission z.ur Neuordnung der Verträge vom 14. Juli 2000. 233 Vgl. auch H . Wagner, Die Rechtsnaturder EU. Anmerkungen z.u einerin Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS 2006, S. 287 ff., insbesondere zu de n kontraprodunktiven \Virkungen der Rede J. Fischers. 239 Vgl. etwa die Aufs.'itze in: M. Jopp/B. Lippert/ H. Schneider (Hrsg.), Das Ve rtrags\Verk von Nizz..'l und die Zukunft der Europäischen Union, 2001 sowie in: D. Melissas/ I. Pernice (Hrsg.), Perspectives of the Nice Treaty and the lntergovernmental Conference in 2004, 2001 ; K.H. Fischer, Der Vertrag von Nizza, 2001; R. Gnan, Der Vertrag von Nizza, in: BayVBI. 2001, S. 449 ff.; E. Brok, Die Ergebnisse von Nizza. Eine Sichtweise aus dem Europäischen Parlament, in: Integration 1/200 J, S. 86 ff.; J. Schwarze, Europäische Verfassungsperspe ktiven nach Nizza, in: NJW 2002, S. 993 ff.; T. Bender, Die verstärkte Zusammenarbeit nach Nizza, in: ZaöRV 200 I, S. 729 ff.; R. Streinz, (EG-)Verfassungsrechtliche Aspekte des Vertrages von Nizza, in: ZÖR 58 (2003), S. 137 ff.; A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union- der Vertrag von Nizz.a auf dem Prüfstand, in: EuR 200 I, S. 143 ff.; P. Schäfer, Der Vertrag von Nizza- seine Folgen für d ie Zukunft der Europäischen Union, in: BayVBI. 200 I, S. 460 ff.; H .-G. Fmnzke, Das weitere Schicksal des Vertrages von Nizza, in: ZRP 2001, S. 423 ff. 140 Vgl. U. Guir01, Eine Verfassung flir Europa- Neue Regeln für den alten Ko ntinent?, in: IP2/200 1, S. 28ff.
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we iterhin) um die Frage der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung innerhalb der Europäischen Union.
(I) Grllndeftlr ein Debarten-Crescendo Vor allem zwei politische Entwicklungen von historischem Ausmaß haben die neuerliche Verfassungsdiskussion entfacht und befördert. Zum ei nen die "Wiedervereinigung Europas" als historische Aufgabe der Erweiterung der Europäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zyperns. 241 Als zweites politisches, im besonderen Maße auch- ungelöstes - gesellschaftspolitisches Ereignis, das die gegenwärtige Verfassungsdis kussion in der Europäischen Union entscheidend befördert hat, sticht der I I. September2001 hervor. Neben zahlreichen anderen Konsequenzen hat dieses schreckliche Ereignis maßgeblich die Einsicht geförde1t, dass innerhalb der Europäischen Union eine offensichtliche Diskrepanz nicht mehr länger hinnehmbar ist: nämlich ei ne rseits die Verantwortung einer Weltmacht, andererseits jedoch das evidente Unvermögen auf Grund ihres institutionellen Geftiges- vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Bereich der Zusammenarbeit Inneres und Justiz- derzeit dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dieses Missverhältnis ist innerhalb e iner "europäische n Grundsatzdebatte" kaum den "europäischen Bürgern" zu vermitteln, es untergräbt auch und vor allem die Glaubwürdigkeit und den eigenen Ans pruch der Union und trägt damit im Ergebnis mit dazu bei, die Entfernung- zuweilen Entfremdung- zwischen den Bürgern und der Union zu vergrößern anslall zu verringern. Frei lich traten weitere Elemente und Überlegungen hinzu, die Jetztendlich die Auffassung manifestierten, dass die Zeit für die formale Konstitutionalisierung der Europäischen Union überreif sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen"', die zu einer politischen Auf-
LU Siehe zur EU-Os-terweiterung angesichts ausufernder Literatur die Bibliographie im "Dresdner Internetportal zur EU-Ostenveiterung'", abrufbar unter dipo.tu-dresden.de/ browse.php?topic=Literature. Mit g rundsätzlichen Envägungen H. Roggemam1, Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West, 1996, S. 177 ff.; A. Stolz/ 8. \Vieser (Hrsg.), Verfassungsverg leichung in Miueleuropa, 2000. Zu den einzelnen osteuropäischen Staaten vgl. den Literaturhinweis bei P. Häbede, EuropäischeYerfassungslehre, 4 . Auft. 2006, S. 2 17 Fn. 93. Ygl. zu de n jüngslen Erweiterungs- und Fortschritten der L..1.nder des westlichen Balkans K.-T. zu Gurrenberg, Vorsichtig in die Unabhängigkeit, in: Die \Velt vom 8. 10. 2005 sowie del's. , Eine Lösung für den Kosovo, in: Berliner Zeilung vom 18. 2. 2006. 242 Dazu aus der neueren Lit.: M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU, 2004, S. 58 ff.; M. Neuesheim, Kompetenzen, in: A. von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 4 15 ff.; C. Triie , Das System der EU- Kompetenzen, in: Z1öRY 64 (2004), S. 39 1 ff. ; vgl. auch /. Pemice, Kompetenzregelung im Europäischen Verfassungsverbund, in: JZ 2000. s. 866 rr.
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wertungder Union führten, die Einflihrung ei ner Unionsbürgerschaft'" und die Herausbildung e ines europäischen Bewusstseins sowie die an Resonanz gewinnende Überzeugung, dass mit zunehmender Ausweitung des demokratischen Defizits Vertragsänderungen nicht mehr wie bisher durchgeführt werden konnten. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit e iner verfassungsgestaltenden und letztlich verfassungsmäßigen "Generalliberholung" der Union sowie die Erkenntnis, die Union sollte den Geboten von Transparenz, Effizienz und Demokratie wahrhaftig genügen, reifte in den vergangenen Jahren über die Ebene einzelner Staats- und Regierungschefs hinaus auch in der Wahrnehmung einer beträchtlichen Mehrheit der Bürger in der Europäischen Union ""'. Es ist müßig darüber zu debattieren, ob eine solche, mit aller Konsequenz geführte Verfassungsdiskussion bereits zu Beginn der europäischen Einigung zu einer Blockierung des Integrationsprozesses geftihrt hätte, noch bevor er richtig begonnen worden wäre. G leichwohl war die schrittweise Integration in der Gründerphase der europäischen Einigung, die oftmals so apostrophierte "Monnet-Methode"'", während dieses Abschnittes der europäischen Integration insgesamt die adäquate Methode. Es wäre allerdings ein allzu offensichtliches Versäumnis, die in diesen evolutionären Entwicklungsschritten bereits enthaltenen verjass11nggebenden Elemenre zu \'erschweigen"'•, weshalb in den vorangegangenen Kapiteln entspre243 Siehe den 3. Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft v. 7. 9. 200 1 ( KOM (200 I) 506) sowie aus dem Schrifttum P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 353 ff. Siehe bereits E. Gmbit<., Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970; S. Magiera. Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: DÖV 1987, S. 221 ff.; später ders., De r Rechtsstatus der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht, Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, S. 429 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union, in: DÖV 1993, S. 749ff.; A. Randelvwfer, Marktbürgerschaft-Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. Randelzhofer/ R. Scholz/ D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift fiir Eber!tard Grabitz, 1995, S. 58 1 ff.; N. Kotafakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, 2000. Ll4 Von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung überzeugt zeigten sich 2002 nach der 56. Ausgabe des Eurobarometers 2/3 der Bevölkerung, vgl. Bulletin Quotidien Eurape Nr. 8 I 92 v. I 5.1 I 6. 4. 2002, S. 7 und Nr. 8 194 v. I 8. 4. 2002, S. 6. us Ein Vorgehen, das die Union schrittweise, orientiert am jeweils Machbaren und ohne die Beteiligten zu überfordern, fortentwickelt, aber umgekehrt auch zu derjenigen Unübersichtlichkeit des Vertragswerks beigetragen hat, die zu einem weiteren ernst zu nehmenden Argument für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion wurde. Vgl. zur sog. .,MonnetMethode" u. a. IY. IVesse/s, Jean Monnet- Mensch und Methode, 200 I. u& Neben den grundlegenden Erwägungen und in dieser Hinsicht Pionierwerken P. Höberies (vgl. nur ders., Europäische Verfassungs lehre, 4. Aufl. 2006, S. 36 ff.) hebt diese verfassunggebenden Elemente etwa auch A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 200 I hervor, die Züge einer "Kontinuierlichen Verfassungsgebung" konstatiert und eine "Konstitution durch Evolution'' (S. 375 ff.) sowie eine "Legitimation durch Bewährung'' (S. 580 ff.) postuliert. Grundsätze, nach denen der Union bereits heute unstreitig Verfassungsqualität zukommt; vgl. dazu lediglich noch I. Pemice l P.M. Hu 4
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chende Hinweise zu geben waren. Der zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem späteren Verfassungskonvent zugrunde liegende Dis kussionsstand ist anges ichts der e inzelnen und bereits wie im Folgenden angerissenen "verfassungshistorischen" Stufen als bislang konkretestes und entsprechend erfolgversprechendes Szenario zu erachten gewesen'" (das vorübergehende Scheitern und Ausseizen des Verfassungsvertrages im Dezember 2003 sowie des Vertrages von Lissabon läuft dieser Beobachtung nicht entgegen- vielmehr hat sie durch die Intensivierung der inhaltlichen Auseinandersetzung eine Manifestierung erfahren). Insgesamt gestaltet sich spätestens seit dem Vertrag von Nizza die Diskussion sehr viel politischer als zuvor und steht unter einem sehr viel größeren- nicht nur zeitlichen- (Erwartungs-) Druck. Im Vorfeld der erneuten Verfassungsdebatte rückten vier qualitativ unterschiedliche Herangehensweisen zur Reform der Vertragsstruktur ins Blickfeld : - Redaktionelle Vereinfachungen, wie sie in Amslerdam'"' begonnen wurden. - Fusionsmodelle, die die wichtigsten Verträge (EUV, EGV, EGKSV, EAGV) in einem Vertrag zusammenführen und dabei weniger wichtige Bestandteile z. B. Protokolle ausgliedern. - Grundvertrags modelle, die eine rechtsqualitative Zweiteilung in einen Kernvertrag mit den konstitutionellen Bestandteilen der Gemeinschaftsverträge sowie in einen oder mehrere Ausftihrungsteile vorsehen, deren Revision dann auch unterschiedlich strengen Anforderungen genügen muss. - Schließlich Verfassungsmodelle, die e inen neuen Text generieren, der in der Rege l von einer verfassungsgebenden Institution (z. B. Konvent) e rarbeitet wi rd- wobei allerdings unterschiedliche Leitmoti ve zu unterschiedlichen Lösungsmodellen fUhren. Diese vier Optionen sahen s ich auch um die Jahrtausendwende mit Überlegungen konfrontiert, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder minder hoher Intensität in der Diskussion standen. So sollten redaktionelle Vereinfachungen oder eine reine Fusion der vorhandenen Vertragstexte nicht ausreichen, um das notwendige Maß an Vereinfachung und Trans parenz zu schaffen . Verfassungsmodelle oder sogar eine damit verbundene ,,Neugründung" der Europäischen Union ber IG. Liibbe-Wolf! I C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (200 I) und H. Steinherger I E. Klein! D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 ( 199 1). 247 Zutreffend diesbezüglich auch J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2(X){), S. 13, 182, de,.s., Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, in: NJW 2002, S . 993 ff.; ein wenig zu skeptisch bezüglich des politischen Willens flir "konstitutionalisierende europ..1ische Verträge'' : W Graf Vitztlwm, Die Identität Europas, in: EuR 2002, S. I ff., 16. us Im E~nzelnen U. Karpensrein, Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maastrichtentscheidung des BVerfG , in: DV BI 1998, S. 942 ff.; R. Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, in: JURA 1998, S. 57 ff.
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hätten sich hingegen stets an der politischen Durchsetzbarkeil zu messen. Dies würde grundsätzlich bedeuten, den notwendigen, eigenen Befindlichke iten folgenden Ratifikationsprozess bereits im Vorfeld im Auge zu behalten und den Mehrwert gegenüber den bestehenden, in fünfzig Jahren ausgebi ldeten Vertragsgrundlagen der "europäischen Bevölkerung" verständlich darzustellen.
(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte Der Weg zum Verfassungsvertrag ist - ebenso wie das amerikanische Vorbild- neben allen \'erfassungsrechtlichen Aspekten- ein höchst politischer, weshalb dieser - gerade auch angesichts des Wechselspiels zwischen Politik und Verfassungsrecht,... - wenigstens in Ansätzen aufgezeichnet werden soll. Die Diskussion, ob Europa tatsächlich einer Verfassung bedarf und was deren Vor- und Nachteile sein könnte n, wurde erschöpfend geführt. 250 Aus politischer Sicht ist allerdings hervorzuheben, dass mit e inem abgeschlossenen Verfassunggebungsprozess auch eine Manifestierung der "Politis ierung" der Europäischen Union einherginge2" und dass dadurch ihre Legitimität e rhöht würde, entsprechend 249
Dazu auch unter B. ll .2. f)jj) (4) sowie unter B. JV.2.b)cc)(2). Die Lit. ist Legion : vgl. e twa D. Grimm, Braucht Europa e ine Verfassung?, in: JZ 1995, S. 581 ff.; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, in: EuR 2000, S. 3 11 ff.; T. Srei11, Europas Verfassung, in: Festschrift Krause, 2000, S. 233 ff.; G. Hirsch, Ke in Staat, aber e ine Verfassung, in: NJW 2000, S. 46 f.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; W Herrel, Suprantionalität als Verfassungsprinzip, I999. Siehe auch G. C. Rodriguez lglesias, Zur "Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, in: EuGRZ 1996, S. 125 ff.; ders. , Gedanken zum Entstehen einer Europäischen Rechtsordnung , in: NJW 1999, S. I ff.; /. Pemice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996, S. 27 ff.; T. Schilli11g, Die Verfassung Europas, in: S taatswissenschaften und Staats praxis 1996, S. 387 ff.; A. von Bogdandy IM. Neueshebu, Die Europäische Union: Ein eineheitJicher Verband mit eigener Rechtsordnung, in: EuR 1996, S. 3 ff.; P.M. Huber, Differenzierte Integration und Flexibilität als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996, S. 347 ff.; R. Hrbek (Hrsg.), Die Re fonn der Europäischen Union, 1997; H. Heberlei11, Regierungskonferenz 1996: Eine Neue Verfassung fü r d ie Europäische Union? (Tagungsbereicht}, in: BayVBJ. I 997, S. 78 ff. Vgl. auch /. Pemice, Vertragsrevision oder Verfassunggebung?, in: FAZ vom 7 .7 . 1999; J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999. Siehe auch die Sammelbände von J. Schwarze (Hrsg.), D ie Entstehung einer euopäischen Verfassungsordnung, 2000; J. Schwarze/ P.-C. Miiller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung, EuR Be ihe ft I , 2000; R. Herzog I S. Hobe (Hrsg.), Die europäische Union auf de m Weg zum verfassten Staatenverbund: Perspektiven der europ..1ischen Verfassungsordung, 2004; A1. Jopp, S. Matt (Hrsg.), Der Vertrng über eine Verfassung für Europa - Analysen zur Kons-titutionalisierung der EU, 2005. Von manchen als ~,klass isch"' bezeichnet: P. Pescarore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht -ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Perspektive des Europäischen Gerichtshofs, in: W. G. Grewe/ H. H. Rupp, H. Schneider (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher, 198 1, S. 3 19 ff. 251 Vgl. auch S. Goulard, C. Lequesne, Une constitution europeenne, si et seulement si .. . , in: Politique etrangere, n° 21 200 I, S. I ff. 250
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der Maßgabe, dass dort, wo (europäisches) Recht gilt und durch- bzw. umgesetzt wird, auch der (verfassungsmäßige) Ursprung dieser Rechtsetzung offensichtlich sein muss. 251 Zudem bedeutet die Realisierung der e uropäischen Wirtschafts- und Währungsunion e inen qualitativen lntegrationsschritt, der steter politischer Begleitung bedarf. Und drittens ist zu betonen, dass eine e uropäische Verfassung der Europäischen Union, die s ich als Staaten-, aber auch als Bürgerunion versteht, den europäischen Bürgern die Souveränität über den europäischen Integrationsprozess zurückgeben würde. Denn eine europäische Verfassung bedeutet im Gegensatz zu den bestehenden Europäischen Verträgen insofern eine qualitative Veränderung bezüglich der Legitimität, als dass e ine Verfassung normalerweise Ausdruck von Volkssouveränität und damit, in der besten Tradition von J. Bodin und T. Hobbes, AusdJUck e ines freien Volkswi llen ist."' Idealiter würden nicht mehr seine Hoheit, der König von Belgien, ihre Majestät, die Königin von Dänemark, noch der deutsche Bundeskanzler oder der französische Staatspräsident dann ein Vertragsdokument unterzeichnen, sondern die europäischen Bürger, ähnlich wie es in dem fiktiven Verfassungsentwurf ("We, the people o f Europe ... "), den der britische Economist veröffentlichte'-", zum Ausdruck kam. Eine bewusst gesetzte Analogie zum amerikanischen Verfassungstext Politisch sprach (und spricht) indes dagegen, dass die Dis kussion über eine Europäische Verfassung vor allem von den Gegnern einer tie fer gehenden Integration dazu genutzt werden konnte, indirekt, insbesondere über die Frage der Kompetenzabgrenzung, e ine versteckte Renationalisierungsdebatte zu führen.2" An dieser Stelle soll nunmehr ein vertiefender Blick aus der politischen Praxis die w issenschaftlichen Schilderungs- und Gestaltungsversuche ergänzen. Manche (wissenschaftlichen) Protagonisten gehen in selten o ffe ner Selbstbetrachtung gar soweit, den Beitrag der Wissenschaft zur Verfassungsentwicklung als eher gering e inzuschätzen. D. Freiburg/wus stellte lakonisch fest, d ie Wis252
Vgl. J. Rau, Die Quelle der Legitimationdeutlich machen, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung, 4. I I. 1999; ders.,Une Constitition pour I'Europe, in: Le Monde, 4. I I. 1999; ders. ~ Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die \Velt, 15. 9. 2000 sowie A. von Bogdandy. A Bird•s Eye View on the Scienceof European Law, in: European Law Journal, Bd . 6, Nr. 3, September 2000, S. 208 ff., 2 15 ff.; vgl. auch die "MaiIänder Erklärung zur Europäischen Verfassung" von DGAP, ifri und ISPI , 28. II. 2000, abrulbar über: www .dgap.org~ Stichwort: "European Constitution Watch". 253 Siehe auch U. Guüot, Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: lP 2/2001 , S. 28 ff. '-" A Constitution for the European Union, in: The Economist, 28. I 0. 2000, S. 22. 255 Der Iuxemburgische Premienninister J.-C. Jwzcker formulierte in der Financial Times Deutschland vom 16. I. 2001 : " Die Regierungskonferenz 2004 darf keine Abbaukonferenz werden~·.
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senschaft begleite diese Prozesse wie e in Chor in der griechischen Tragödie, habe jedoch auf die Handlung kaum Einfluss."" Gleichwohl: Die Juristen haben auch unter praktischen Aspekten fraglos am meisten beigetragen. Die Ökonomen gelegentlich. Die Pol itikwissenschaft leidet darunter, dass s ie eigentlich nicht Wissenschaft von der Politik, sondern zunehmend Wissenschaft des modernen Staates ist. Soweit ,,Europa" (in klaren Grenzen) staatsähnlich ist, erwuchs und erwächst freilich überaus konstruktive Begleitung.
(3) Leitbilder rmd europäische Ideale in der politischen Auseürmrdersetzrmg Es überrascht kaum, dass unterschiedliche Vorstellungen über die endgültige Gestalt Europas auch die politische Debatte prägten. Sie sollen in der Folge systematisiert werden. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass zuerst das Ziel der Integration feststehen musste, an dem s ich die verfassungsmäßige Organisation europäischer Macht folglich ausrichten sollte. "Man kann ( ... ] keine institutionelle Architektur [ ... ] vorschlagen, ohne zuvor über den politischen Sinn, den man Europa zu verleihen wünscht, nachgedacht zu haben" (L Jospin)257• Mit derselben Stoßrichtung äußerte s ich auch K. Biedenkopf: ,,Man kann keine Verfassung schaffen, ohne zu wissen, was verfasst werden soll".'-" Alle genannten Akteure verfolgten letztlich die - banale - Absicht, e inen "KläJUngsprozess darüber einzuleiten, wozu die Einigung Europas überhaupt gut ist"" 9• Neben dem deutschen Außenminister J. Fische1; der in einfachen Worten betonte, die Integration sei jetzt "an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger genauer wissen wollen, wohin die Reise geht und wie das Ziel aussieht"""' und deshalb eine Antwort auf die Frage "quo vadis Europa?" vonnöten sei "''. stellten andere politische Protagonisten die Frage nach einer europäischen Vision, welche '-'• D. Freiburghaus, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag de r Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium an lässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 66, 2003, S. 60 f., 60. Anders allerdings S. Vo/kmtllm-Scltluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung, CAP-Werking Paper, 200 I. 257 L Jospin , Rede zur ,,Zukunft des erweiterten Europa.s'", 28. 5. 200 1> abrufbar unter www. franco-allemand.com/de/de-traite-jospineurope200 l.htm.
m K. Biedenkopf, Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven, Aufgaben und Herausforderungen, Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität. Berlin, 4. De-
zember2000, S. 3. 259
H. Schneider> Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderati-
on- oder was sonst?, in: Integration 3/2000, S. 17 1 ff., 171. 260 J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union, Rede vor der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999, im Internet abrufbar unter www .auswaertigesamt.de/\\'Ww/delinfoserviceldownload/pdf/reden/1999/r990 120a. pdf. 261 J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der
europ..1.ischen Integration, in: Integration 3/2000, S. I49 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), ln welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?, 200 I, S. 299 ff.
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beantworten soll, "in welchem Europa wir leben wollen", und die zu "weiteren Anstrengungen veranlass! und diese rechtfertigt"262 • Weitergehende Gedanken über die "Finalität" der europäischen Einigung machte n s ich auch die Vetfassungsskeptiker wie etwa T. Blnir: "Wenn wir uns nicht zuersl die grundlegende Frage nach der Richtung stellen, welche Europa einschlagen soll, verirren wir uns im Dickicht des institutionellen Wandels." 263 Die Überlegungen zur endgültigen Gestalt Europas richteten die unterschiedlichen Akteure letztlich an differierenden Leitbildern aus. Leitbilder oder "europäische Ideale", die nicht nur die Erwartunge n der Betei ligten an die Entwicklung der Integration ausdrückten; sie sollten auch die Rolle der Institutionen im Prozess der Gemeinschaftsbildung ausdrücken helfen und den Grad der Kohärenz des jewei ls erreichten Entwicklungsstandes mit den jeweiligen politischen Erwartungen der Bürger widerspiegeln.2"' (a) Das Ideal einer "Föderation ' 'on Nationalstaaten" Mit dem Leitbi ld einer "Föderation von Nationalstaaten" suchten u. a. J. Delors, J. Fischer, J. Rau und L Jospi11 e inen Abgleich mit ihren Vorstellungen über die Finalität der Integration. Der Begriff "Föderation" e rscheint zunächst als Tabubruch, denn er erweckt den Eindruck, als würde der aus der Europapolitik verbannte Gedanke eines Europäischen Bundesstaates als Gegenstand politischer Gestaltungsperspektiven wiederbelebt.,., Tatsächlich zeigte s ich Fischer, der den Begriff in seiner Humboldt-Rede aufwirft, inspiriert von der bundesstaatliehen Rhetorik der Nachkriegszeit. Er bezieht s ich auf die "Europäische Föderation, die R. Seimman bereits vor 50 Jahren gefordert hat" 266 • 262 So J. C!Jirac, Zum zehnte n Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober2000 in der Semperoper in Dresden, 3. Oktober 2000, abrufbar unter http://www.sachsen.de/de/bf /reden_und_interviews/reden00/ 10-C.htm. 263 T. 8/air, Speech to the Polish Stock Exchange, Warschau, 6. Oktober2000, ebenda. 264 Vgl. dazu auch J. Janning, Leitbilder der europäischen Integration, in: W. Weidenfeld lW. Wessels(Hrsg.), Europa von A-Z. Taschenbuchder Europäischen Integration, 1997, S. 253 ff., 258. 265 So P.-C. Miiller-Graff, Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäischen Verfassungsraum?, in: Integration, 3/2000, S. 157 ff., 157. l6b J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Integration 3/2000> S. I49 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), ln welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung flir Europa?, 200 I, S. 299 ff. Dieser Logik folgend, fordert F;scher zunächst staatsähnliche Merkmale für diese Föderation: "Ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und exekutive Gewalt ( ... ]ausüben". Im Laufe der Rede mac ht Fischer jedoch deutlich, dass er mit "Föderation" schließlich etwas anderes meint: "Die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, enveist sich als ein Konstrukt jenseits der gewachsenen
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Fischers Leitbild ist in seiner Berliner Rede vom Interesse geprägt, den Nationalstaat auch bei ei ne r verstärkten Integration zu erhalten: "Die Nationalstaaten werden fortexistieren und in der Föderation e inen stärkeren Rang haben als die Bundesländer". Vor diesem Hintergrund wird erklärbar, dass etwa Abgeordnete des Europäischen Parlaments Fischer vorwarfen, das von ihm entworfene Europa sei keine Föderation, sondern eine "lockere Konföderation von Nationalstaaten im Sinne von de Gaulle" 267 • Fischer bemühte s ich mit seiner unorthodoxen Verwendung des Begriffs "Föderation" um e in vermittelndes Leitbild, das über "Entweder-Oder-Sichtweisen hinausfUhrt"""'. Bereits im Januar I 999 hatte er darauf hingewiesen, es gehe ihm "nicht darum, eine neue Föderalismus-Debatte zu entfachen. Europa ist bereits zu weit entwickelt, um sich in Kategorien wie Staatenbund und Bundesstaat ein-
politischen Rea litäten". Statt dessen definiert Fischer den Föderationsbegriff jenseits der althergebrachten Begriffsbestimmungen, die hinter jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die Zielsetzung der Buropapolitik standen, vgl. auch H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderation - oder was sons-t?, in: Integration 3/2000, S. 171 ff., 172. Seine "Föderation der Nationalstaaten" beruht auf dem Prinzip der ,,Souveränitätsteilung" zwischen Mitg liedsstaaten und Europäischen Union nach dem Subsidiaritätsgrundsat~ die sich aus e iner doppelten Legitimation ableitet: Eine Bürgerkammer mit direkt gewählten Abgeordneten vertritt d ie Bürger dire kt, eine Staatenkammer wahrt die Inte ressen der Nationen. Damit diese Dualität gewährle istet bleibt, baut Fischer "Unitarisierungsbremsen'' e in, die "bundesstaatlichen Tendenzen einen Riegel" vorschie ben sollen, z. B. mit e iner klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedsstaaten und EU-Organen. Dabei tendierte er teihveise sogar zu e iner stärkeren lntergouvernementalisierung: Fischer konnte sich im Streitgespräch mit seinem fran zösischen Amtskollegen C/ievimemem (vgl. DIE ZEIT, 7. Juni 2000, S. 13 ff., 18), "sehr gut vorstellen, dass bestimmte Aufgaben wieder (auf die Nationalstaaten] rückübertragen werden". Die von Fiselter erwogene Alternative, den Ministe rrat als "echte Regierung"' der Europäischen Union zu etablieren, würdedie Kommission allerdings zu e iner bloßen administrativen Körperschaft degradieren. Vgl. dazu die vergleichsweise intellektuell klare, wenngleich durchaus streitbare Re plik auf Fischers " Humbo ldt-Rede" von C. Leben, A Federation of Nation States or a Federation o f States?, in: C. Joerges/ Y. Meny/J. H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000, S. I 00 ff., insb. 103: "The Commission would become only an ad ministrative body". Fischers ursprüngliches Konzept des Doppe lmandats in der ersten Kamme r stellt in der Konsequenz e inen Rückschritt zu den Zeiten dar, a ls das Europäische Parlament noch a us De legierten der Mitgliedsstaaten zusammengesetz t war. Des weiteren erwähnt Fischer entscheidende f6derntionsqualifizierende Merkmale nicht, wie etwa die Übertragung des Haushaltsrechts auf d ie europäische Ebene (s. auch T.A. Börzei/T. Risse, Who is afraid of a Europeon Federation? How to ConstitutionaJiz.e a Multi-Level Governance System, in: C. Joerges/Y. Meny/J. H.H. Weiler (Hrsg.) (2000), S. 45 ff., 48). 267 So beispielsweise in einem Vortrag J. Voggenhubet~ Das Europäische Parlament und die konstitutionellen Reformen der Europäische n Union, 2000, Bericht von M. 0 . Pahl abrufbar unter www.rewi.hu-berlin.de/WHUenglish/fceJfce600/bericht-voggenhuber.htm. 263 Vgl. H. Schneider, Alternativen de r Verfassungsfinalität Föderation, Konföde ration- oder was sonst?, in: Integration, 3/2000, S. 17 1 ff., 173.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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zwängen zu lassen. Europa ist und bleibt eine Konstruktion sui generis" 26•. Im Streitgespräch mit Chevenemenr erklärte Fischer, warum e r dennoch den ideologisch belasteten Begriff "Föderation" gewählt hatte: "Wir haben versucht, e in neues deutsches Wort zu finden an statt , Föderation' . Wenn man es übersetzt, kommt ( . .. ] immer wieder federation oder federation heraus. Sodass wir am Ende aufgegeben und gesagt haben: Wir müssen akzeptieren, dass dies das Wort ist". "'0 Gleichwohl ist Fischer mit dieser Wortwahl seiner (wiederholten) Intention gerecht geworden, zu provozieren."' Dass er aber nicht gänzlich hinter dem Begriff stand, lässt sich anhand der Tatsache vermuten, dass Fischer seinen Verfassungsgedanke n zwar weiterhin an den Vorstellungen der "Souveränitätsteilung" ausrichtete, das Leitbild der Föderation in seinen späteren Europareden und Stellungnahmen aber nicht mehr nachhaltig verfolgt hat. 272 Trotz der begrifflichen Probleme haben einige weitere Politiker dieses Leitbild aufgegriffen. Bundes präs ident J. Ra.u wies darauf hin, dass eine "Föderation von Nationalstaate n" das Gegenteil eines Superstaates bedeuten würde, und schon gar nicht e in Europa "a Ia Bundesrepublik Deutschland".273 Der Bundespräsident betonte, dass "die wirtschaftliche Globalis ierung die Souveränität der Nationalstaaten gravierend aushöhlt". Die Föde ration sei "darauf die Antwort, wei l s ie Souveränität [ ... ]wiedergewinnt, die die e inzelnen Staaten, auf s ich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung, längst verloren haben". Eine föderale Vetfassung gebe "Europa eine Gestalt, wie wir sie uns ftir morgen wünschen können: ein Zusammenschluss von Staaten, dieeinen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Hande ln Souveränität zurtickgewinnen können"' 274 .
269 J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union, Rede vor der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999. Umfassend zum Föderalismusbegriff in rechtsvergleichender Pe rspektive unten B. IV. 3. b). 270 Siehe Die ZEIT, ?.Juni 2000, S. 13 ff., S . 17 f. 211 Siehe a uch das Interview mit Fiselter in DIE ZEIT, 20. Juli 2000, S. 3, "Europas Vierte": "Dass meine Rede Ans-toß erregen würde, davon ging ich aus, das sollte sie". Zur durchaus kontraproduktiven Wirkung der Rede Fischers vgl. auch H. Wagner, Die Rechtsnatur der EU. - Anmerkungen zu einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS 2006, S. 287 ff., 288 ff. 271 In der Rede vor dem belgischen Parlament, in der Fischer seine Konzepte der Humboldt-Rede noch einmal fast wortgetreu wiederg ibt, ersetzt er das V/ort "Föderation'' durch "Europa~': "\Vichtigster Ansatzpunkt muss eine klare Souveränitätsteilung zwischen ,Europa' und den Nationalstaaten sein" 213 SieheJ. Rau, Plädoyerflireine Europ..1ische Verfassung" Rede vordem Europäischen Parlament am 4. April 200 I, S. 3. 274 J. Rau, Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000. Widersprüchlich ist allerdings, dass Rau den Ministerrat in eine zweite Kammer neben einem gleichberechtigten Europäischen Parlament umwandeln und das nationale Vetorecht aufgeben wollte und noch betonte, diese Kammer ,,wahre die Souveränität der Nationalstaaten",
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auch auf französischer Seite ist das Konzept aufgegriffen worden, wo in ähnlicher Diktion L. Jospin für e ine "Föderation von Nationalstaaten" plädie1te. Wie Fischer und Rau distanzierte sich der französische Premier von einer zentralistischen Auslegung: "Dieses Wort [ .. . ) deckt in Wirklichkeit vielfältige Inhalte ab"."' Ein Gefiige, in dem die derzeitigen Staaten lediglich den Status eines deutschen Bundeslandes e rhielten, könne Frankreich nicht akzeptieren. Verstehe man dagegen unter "Föderation" eine "schrittweise und kontrollierte Teilung von Befugnissen und deren Übertragung auf die Union", stimme er dem Begriff "ohne Wenn und Aber" zu. Der Terminus traf außerdem Jospius Vorstellung des konstitutiven Spannungsfeldes der europäischen Integration: die Nationalstaaten seien "Realität", die Föderation bleibe ein "Ideal". Damit "starke und lebendige Nationen, die ihre Identität wahren wollen", bestehen bleiben, solle die Union ,jeden Einzelnen stärker machen". Auch J. Delors, der einer Verfassung grundsätzlich skeptisch gegenüber stand, verfolgte dieses Leitbi ld gleichfalls in der Annahme, "dass die Nationalstaaten bleiben müssen"m . (b) Das Ideal eines "Europas der Nationen" Der Vorstellung eines "Europa der Nationen" lassen sich die Verfassungs konzepte von J. Chirac und A. luppe mit J. Tou.bon zuordnen. Im Gegensatz zu J. Fischer benannte Chirac nicht explizit ein "typisches" Leitbild im Spannungsfeld von Föderation oder Konföderation. Indem er auf seine damalige Rolle als Ratspräsident und die Kohabitation Rücksicht nahm, wich er der von Fisd1er aufgeworfenen Frage der Finalität aus und gab in seiner Berliner Rede "den Pragmatiker", um nicht zu provozieren, sondern auszugleichen.m Dennoch lässt sich herauskristallis ieren, wie er Europasehen wollte, nämlich als "Zusammenschluss von Nationen , vgl. ders.. Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede vor dem Europäischen Parlament am 4. April200 I, S. 5. 215 L Jospin, Rede zur "Zukunft des erweiterten Europas", 200 1, ebenda, S. 7. 21& Vgl. das Interview mit J. Delors in: Le Monde vom 19. Januar2000. 277 Vgl. J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000, abgedruckt in: FAZ vom 28. 6. 2000, S. I0 f. Fischers Vorschlag sorgte a uch in d iesem Kontext für nahezu reflexartige Abwehrreaktionen. So etwa des bereits benannten .,Souveränisten"'
Chevl!nemem auf das empfohlene Leitbild der Föderation: .,Weil Deutschland immer noch die Nation diabolisiert, neigt es zur Flucht ins Postnationale und findet sich wieder im \Vehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst regional zusammenhält"'. ChevCnemem sah den wichtigs-ten Bezugspunkt der Bürger in der Nation und hielt deshalb den Begriff des "Verfassungspatriotismus" für "oberHächlich". Gleichzeitig verdächtigte er Fischers Verfassungskonzept als "verkappten deutschen Hegemonieanspruch"' (zitiert nach K. v. Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/Y. Meny/J. H. H. Weiler (Hrsg.}, What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000, S. 61 ff., 6 1) Einerseits neige Deutschland dazu, "die Nation zu verteufeln" (vgl. DIE ZEIT, 7. Juni 2000, S. 13), andererseits habe Fischer aber genau verstanden, dass die Nation ein .,unentbehrlicher Rahmen der demokratischen Auseinandersetzung"-' sei. Hinter diesen ,:Zweideutigkeiten"'
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäische n Verfassungsentwicklung
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die jeweils ihre Seele und Identität bewahren möchten, aber beschlossen haben, ihre Interessen und vor allem ihre Werte gemeinsam zu verteidigen"271 • Konkreter bekannten sich luppe und Toubon zu e inem Leitbild der "Nationalstaaten und der Bürger". Als ehemaliger Premier und Vorsitzender von Chiracs Sammlungsbewegung RPR stand luppe dem Präsidenten nicht nur nahe, sondern er hatte auch seinen Verfassungsentwurf im Auftrag desselben ausgearbeitet. Zielsetzung des Verfassungsentwurfes war unter anderem, den Bürgern eine ernstzunehmende Stimme zu verleihen und Rechte der Mitgliedsstaaten zu garantieren. Den Verfassern ging es mit der Abschaffung der Kommission, der Aufwertung witterte Che~·enemem offe nsichtlich den Versuch, Fischer wolle den anderen "ein Konzept aufzwingen, das ihm e ntspricht, aber nicht uns' 1• In diesem Kontext ist auch das Zitat zu verstehe n, Deutschland müsse sich "von de n Entgleis ungen des Nationalsoz.ialis mus'' erholen. Dass die De utschen den anderen einen europäischen Bundesstaat nach deutschem Vorbild überstülpen wollen, schien auch J. Delors anzude uten, wenn er hinter der Diskussion um e ine Verfassung "eine Arglist" vennutete (so in seiner Rede bei einem Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung, " Die Europäische Avantgarde" in Paris, 2001, S. 1). Obwohl er die Position Che~·enemems ablehnte, meinte a uch H. Vidrine: "Niemand kann behaupte n, e ine ,Patentlösung' für Europa z u haben''. Er betonte wiederholt, die Antwort au f Herausforderungen könne "nur das Ergebnis einer wirklichen, loyalen [ ... 1Diskussion sein" (vgl. H. Vidrine, Schreiben an den deutschen Außenminister J. Fischer, vom 8. Juni 2000, abrufbar unte r ig.cs.tu-berlin.de/ o ldsta tic/ w2001/eu I/dokumente/). Nicht allein, weil er sich in der Position des Ratsvorsitzes zu diesem Zeitpunkt um kurzfristigere Ziele kümmern musste , s tand Vidrine der Verfassungsidee s keptisch gegenüber. Auch bei ihm rief das Sc hlagwort " Föderation" Souveränitätsverlustängste hervor: ,,Wenn man die Direktwahl des Präside nten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheits politik unter der Kontrolle des Parlaments umz usetzen hätte, in Erwägung zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben dann dem Nationalstaat? [ .. . 1Wie lange gäbe es in Frankreich noch e inen Präsidenten [ . .. ]und in Deutschland noch e inen Bundeskanzler?" (vgl. Vedrine , ebenda). Auch T. Blair sah in Fischers Konzept ein etatistisch gepr.igtes Leitbild, welches e r dem konföderalen Modell de r britischen Konservativen gegenüberste llte: "Zwe i Modelle wurden bis jetzt vorgeschlagen: Europa a ls e ine bloße Freihandelszone, und das klassische föderalistische Mode ll, in dem Europa seinen Ko mmissionspräsidenten wählt und das Europä ische Parlame nt e ine echte Legislative und Europas wichtigste de mokratische Kontrollinstanz wird". Europa dürfe aber nie e in "Superstaat'' werden, denn die wichtigste Quelle demokratischer Legitimität seien die dire kt gewählten nationalen Parlamente und Regierungen: "Europa ist e in Europa freier, unabhängiger souveräner Nationen, die frei wählen, ihre Souveränitä t in ihrem e igenen Interesse und zum gemeinsamen Gut zusammenschließen" (vgl. ders. Speech to the Polish Stock Exchange, 2000, S. 5 ff.) Außerdem sei es fUr die Brite n aufgrund ihrer e igenen Ver fassungstradition "einfacher z u verstehen" , dass e ine kons-titutionelle Debatte nicht unbedingt in e inem einzigen Dokument enden müsse, schon gar nicht bei einer so "dynamischen und komplexen Einheit wie der EU''. Auch fiir 8/air war das von Fischer vorgeschlagene "Gravitationszentrum" mit eigenen Institutionen nicht akzeptabe l. Statt e ines "Superstaates" sah (und sieht) ßllli1· Europa als "Supermacht" und "wirtschaftliches Kraftwerk" (vgl. ders. (2000), S. 7) . 213 J. Chirac, Rede zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000. S. auch ders., Rede vordem Deutschen Bundestag: "Unser Europa" , 27. Juni 2000, wonach die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker "auch in Zukunft die Nationen darstellen"' würden.
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des Rates, der Beschränkung europäischer Kompetenzen und der übergeordneten Position der "Staatenkammer" letztendlich um eine weitgehende Renationalisierung. 279 (c) Das Ideal eines "Europas der Regionen" Neben den deutschen Bundesländer verfolgten gerade die Regierungschefs kleinerer Staaten das Leitbild eines "Europa der Regionen". Es gab frei lich Differenzierungen. So setzte sich der sächsische Ministerpräsident K. Siedenkopf bewusst von Fischers "Föderation der Nationalstaaten" als "Endpunkt der Integration" ab. Die vom Außenminister geforderte Souveränitätsteilung zwischen Nationen und Europäischer Union sei "instabil": Die "Größenunterschiede der Mitgliedsstaaten erlaubten keine dauerhafte Struktur", da "die Idee des Nationalstaates ( ... ] mit e iner demokratisch legitimierten Föderation ( .. . ) kaum vereinbar" sei. 280 Eine "Föderation der Nationalstaaten" befördere die Behauptung und Durchsetzung nationaler Interessen und die Reaktivierung der Nationalstaaten im Falle von Krisen". Bei "Fortdauer der Nationalstaaten" seien der "Steigerung der Verbunds intensität dauerhaft Grenzen gesetzt". Fischers Föderation sei ke in "Neubeginn, der es rechtfertigen würde, durch e ine europäische Verfassung ratifiziert zu werden, weil s ie die Tendenz e iner durch die nationalen Exekutiven dominierten Regierungsform" verstärke. Ein "Europa der Regionen" könnte, so Siedenkopf, die De mokratisierung und Effizienz europäischer Politik besser gewährle isten. "Grenzüberschreitende Euroregionen" erlaubten die Bildung "selbstverwalteter Einheiten", die "als Keimzellen der Integration" Menschen auch "über nationale Grenzen hinaus verbinden". Die Dominanz größerer über die kleineren Mitgliedsstaaten würde so aufgehoben und die Union würde handlungsfähiger. Während Siedenkopf die Absicht verfolgte, "in einem Prozess der Regionalisierung ( ... ) die Länder auf Kosten der nationalen Parlamente über die Regionalpoliti k der Europäischen Union zu stärken""', hielt der glücklose niedersächsische Ministerpräsident S. Gabriet den Erhalt des Nationalstaates fiir eine Vorraussetzung, "wi rklich ernsthaft eine Revitalisierung des Föderalismus in Deutschland durchzusetzen" 282• Deshalb sah Gabriet auch keinen Widerspruch 219
Siehe A. Juppi/J. Toubon , Constitution de !'Union Europeenne. Contribution 3 une
reftexion sur les institutions futures de I'Europe~ vom 28. 6. 2(X){), abrufbar unter www
.mic-fr.orglproposition-mic-ce.rtf. Clüracs Leitbild ist zwar moderater, doch erwähnt er beispielsweise die Kommission auch nicht. 280 Vgl. K. Biedenkopf, Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven, Aufgaben und Herausfordenmgen", Rede am \Valter-Hallstein-lnstitut der Humbo ldt Universität, Berlin, 4. Dezember2000. 181 So K. \'0/l. Beyme, Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/ Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000, S. 6 1 ff., 70. 282 S. Gabrief, Regierungserklärung am 2 1. Juni 2000 in Hannover. abrufbar unter www .eiz-niedersachsen.de/uploads/media/ef-2000- l.pdf.
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zwischen dem Erhalt der Nationalstaaten und der Stärkung der Regionen: Ein "Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzvertei lung zwischen Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt", sol lte nämlich gleichzeitig "den Regionen und Ländern Spielräume verschaffen, auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verfassungen die Kompetenzen mit ihren Nationalstaaten zu regeln". Allen Konzepten der Bundesländer isl die zentrale Forderung nach einer verfassungs mäßigen Kompetenzabgrenzung zwischen den Regionen und der Europäischen Union gemeinsam, um der "Erosion regionaler Handlungsspielräume" '" durch immer weilere Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene entgegenzuwirken und diese wiederzugewinnen. So forderle im trivialen Duktus der rheinlandpfalzische Ministerpräsident K. Beck: "Die Rechte der Bundesländer müssen in die EU-Verfassung".,.. (d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz ln diese Kategorie fallen jene Akteure, die in ihren Reden und Äußerungen keinem fest definierten Muster folgten, aber mit einer Verfassungdie Einbeziehung der supranationalen Institutionen garantieren wollen. Dazu sind die Kommission, das Europäische Parlament (bereits aufgrundder Heterogenität der immanenten Ansätze), sowie G. Verhofsradr (bis 2005) und P. Upponen als Vertreter kleinerer Mitgliedsstaaten zu zählen. Auch C. Cinmpi wollte s ich nicht an "starre Schemata gebunden fühlen".,., Die Kommission, Upponen und Verlwfstadt richteten ihr Leitbild im Wesentlichen am Gemeinschaftsmodell aus. So zeigte sich Kommissionspräsident R. Prodi fest davon überzeugt, dass die "Gemeinschaftsmethode" unter der Prämisse ihrer "Rationalisierung, Vereinfachung und Erweiterung die Zukunft der Union" wäre. Der Gipfel von Nizza hätte die Schwächen der zwischenstaatlichen Methode
283 So der damalige Ministerpräsident Nordrhein-\Vestfalens W C/emem, Europa ges talten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizz.a, Rede in Berlin, J2. Febr. 200 I, abrufbar unter www .pressearchiv.nnv.de/0 l_textdienstl l2_reden/200 I
/mskr2001 02 12_ 1.htm. 284 Interview mit K. Beck in der FAZ, 2. Juli 2000, S. 5. Auch E. Stoiber sah den Kempunkt eines Verfassungsvertrags Europas in der Frage: "\ Velche Kompetenzen be-
halten die Nationen und Regionen?", vgl. de,.s., Rede am 13. November 1999 in München, abrufbar unter www.bayem.de/Presse-lnfo/Regierungserklaerungenlpdf/reg_000322.pd f ?PHPSESSID. 285 C. c;ampi, Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig, 6. Juli 2000, abrufbar unter www.quirinale.it/ex_presidenti/CiampiJDiscorsi /Discorso.a.sp?id= J271 8, mit dem weiteren Himveis, dass "( .. . ] die Begriffe Bundesstaat, Staatenbund oder Staatenverbund unterschiedliche Hypothesen fverkörpern], die in neuen, kombinierten Formen allesamt brauchbar sind'·.
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gezeigt Nur e inheitliches Handeln, welches auf dem institutionellen Dreieck der Gemeinschaftsmethode beruhe, würde auch in Zukunft zu Ergebnissen fuhren. ,.. Das Parlament verfo lgte wohl eine ähnliche Absicht, als es e in Leitbild der "Union der Staaten und Bürger" benannte, die den Ministerrat und das Parlament als wirklich gleichberechtigte Legis lativen vorsehen sollte. 287 Gleichzeitig betonten die meisten der genannten Akteure, dass s ie damit weder für die "Staatswerdung Europas" noch etwa für einen "europäischen Superstaat" plädierten."" Einmal mehr sollte der Hinweis folgen, die Europäische Union sei eine Rechtsordnung sui generis. (e) Zwischenfazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keiner der benannten Spitzenpoliti ker- unabhängig von seiner Meinung zur Konstitutionalis ierung der Europäischen Union - einen ,Superstaat Europa' errichten wollte. Zu mal die vehementesten Beflirworter einer Verfassung wie Fischer oder Rau s ich ausdrücklich von e inem Europa a Ia Bundesrepublik distanzierten und mittels der Staatenkammer und dem Kompetenzkatalog Zentralisierungshindernisse in ihr Konzept mit einbaute n bzw. sogar die Renationalis ierung einzelner Pol itike n befürworteten.,.. Die Bedeutung des Begriffs "Föderation" wurde vor diesem Hinte rgrund nicht mehr ausschließlich von Verfassungsbeflirwortern benutzt, sondern beispielsweise auch von kritischen Stimmen wie J. Delors. Die Ablehnung des Verfassungsbegriffs ist
280 R. Prodi, Rede vor dem Europäischen Parlament am 17 . Januar200J, abrutbar unter europe.eu.intlcomm/igc2000/dialogue/info/offdoc/index_de.htm. Nach G. l'erhofsradr, Welche Zukunft fUr welches Europa? Rede am 24. Juni 200 I, abrufbar unter www.europadigital.de/aktuell/dossier/ reden/verhofstadt.shtml, könnten "Transparenz, Effizienz, Legitimität"' nurmit der Gemeinschaftsmethode gewährleistel werden. "Eine ,starke Kommission'
müsse ihre Kraft aus einem ,neuen Verhältnis mit den anderen Institutionen' schöpfen, mit einem Rat, der die Prioritäten der Union festlege und zusammen mit dem Parlament als Gesetzgeber fungiere (vgl. ders. AVision of Europe, Rede vom 21. 9. 2000, abrufbar unter www .theepc.be/About_The_EPCJEPC_Documents/Communications_Doc/305.asp ?10=305). Für P. Lippo11e11, Speech at the College of Europe, Briigge, 10. November2000, abrufbar unter www. vn.fi/english/speech/2000 I I IOe.htm., war die Kommission von .,ausschlaggebender Bede utung"-'~ damit in Zukunft nicht mehr die größeren über die kleineren Staaten dominieren könnten. Dies würde auch die Gleichberechtigung jedes Mitglieds im Ministerrat nötig machen. 287 So im Bericht des Europäischen Par/amems zu der Konstitutionalisierung der Verträge, 2000, S. 17. 281
Vgl. G. Verhofswdt AVision of Europe, Rede des belgischen Ministerpräsidenten 1
v. 21. 9. 2000, e benda sowie K. Hii11sch, Ziel und Zukunft der Einigung Europas, Rede auf
der Landestagung der Europa-Union Hessen, 3. Juni 2000, abrufbar unter www.europaweb.de/europa/O llvkvjfll 02L V/haensch.htm. 289
Vgl. umfassend auch S. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Ver-
fassung, CAP-Working Paper, 200 I, S. 30 f.
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daher zum Teil durch "institutionalis ierte Wirklichkeitskonstruktionen"290 bedingt: Gerade euroskeptische Regierungen verbanden mit den Begriffen "Verfassung" und "Föderation" immer noch die althergebrachte Vorstellung e ines europäischen Superstaates. Andererseits forderten die meisten Verfassungsbefürworter die Vertiefung der politischen Integration, während die Verfassungsskeptiker die Europäische Union vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft sahen.
(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassrmgsfimktionen und polilischer Diskussion Maßgeblich ftir diese Untersuchung ist die Feststellung, dass bisher alle pol itischen Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte gescheitert sind, sich aber gleichzeitig die juristische Auffassung durchsetzen konnte, der rechtliche Rahmen der Europäischen Union habe s ich bereits weitgehend zur Verfassung entwickelt. Um diesen Widerspruch zu erklären, si nd vier essentielle Funktionen und Merkmale e iner modernen Verfassung anzusetzen und auf den europäischen Kontext zu übertragen, nämlich die Legitimmionsfimktion (Berufung auf e ine verfassungsgebende Gewalt und Garantie von Partizipationsrechten), Organisationsfi.mktion (vertikale und horizontale Gewaltenteilung), Begrenzrmgsfimktion (individuelle Bürger- und Menschenrechte) sowie die lmegmrions- und ldemijika.rionsfwrkrion (klare Festlegung ''on Normen und Werten). (a) Die Legitimationsfunktion als Gradmesser der (politischen) Verfassungsdebatte- das US-Modell als Vorbi ld? A lle Beobachter und Politiker betonten während der Debatte um eine künftige Verfassung, dass die Legitimationsquelle der Europäischen Union nicht alle in aus dem bisherigen Europäischen Parlament entspringen könne. J. Fischer griff hier- wenn auch nicht explizit - die These auf, dass das Europäische Parlament nie die Rolle der nationalen Parlamente übernehmen könne, denn ein "Faktum der europäischen Realität sind ( ... ] die unterschiedlichen politischen Nationalkulturen und deren demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch die auffälligen Sprachgrenzen" 291 • Ähnlich argumentierte auch J. Chirac: Wegen ihrer "politischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen" würden "auch in Zukunft die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker darstellen". "'' Laut C. Ciampi sollte e ine europäische Verfassung erforderlich sein, um zu "de290 K. v. Beyme, Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/ Y. Meny/J.H.H. Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000, S. 6 1 ff., 67. 191 J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Rede an der Humboldt-Universität Berlin, 12. Mai 2000. 292 J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2()(X), in: FAZ Nr. 147 v. 28. 6. 2000, S. I0 f.
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monstrieren, dass die letztliehe Quelle für die Legitimität der Institutionen der Europäischen Union bei den Bürgern liegt", ohne dass sie dabei "die Identität der einzelnen Nationen auslöscht". 293 Eine europäische Verfassung sollte deshalb die Souveränität der EU-Bürger auf beiden Ebenen, der europäischen wie der nationalen, garantieren. Fischer folgerte daraus: "Ein europäisches Parlament muss deswegen immer e in Doppeltes repräsentieren: Ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Bürger".,.. Diese "Souveränitätsteilung" sollte sich in einem Zwei-Kammer-System manifestieren, von dem eine Kammer die Bürger und die andere die Staaten vertritt. Das US-Vorbild des Kongresses schimmerte hierbei erst schüchtern hindurch. Lediglich wenige Politiker- wie Ciampi, Upponen und Chirac- erwähnten das Zwei-Kammer-System indes nicht ausdrücklich. Andere Beflirworter e iner Verfassung hatten ihre Ideen über die Zusammensetzung dieser beiden Kammern im Laufe der Debatte wiederholt modifiziert. So auch J. Fischer, der in seiner Humboldt-Rede das Zwei-Kammer-System nach e igenen Angaben als erster aus der politischen Szenerie auf die Agenda gebracht haben wollte 295 und diesen institutionellen Ansatz gle ichwohl bald zu relativieren wusste, nachdem dieser Vorschlag auf heftige Kritik in vielen Fraktionen des Europäischen Parlaments gestoßen war. Zahlreiche Abgeordnete warfen Fischer vor, e r stelle die Eigenständigkeit des Europäischen Parlaments in Frage. 296 Dem entsprang schließlich ein weiteres Konzept Fisd1ers, welches er vor dem Europäischen Parlament am 6. Juli 2000 darstellte. Ähnlich wie in den USA sollten in der ersten Kammer die direkt gewählten Europa-Abgeordneten sitzen, die Zweite Kammer daftir aus Delegierten der nationalen Parlamente bestehen. 297 293
C. Ciampi, Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig, 6. Juli 2000. 194 J. Fischer (2000). 195 Tatsächlich hatte J. Rau in den Namensartikeln in Le .Monde und der FAZ schon im November 1999 für dieses System plädiert, es fand aber nicht ein vergleichbares Echo; vgl. FAZ, 4. November 1999, S. 8: "Die Quelle der Legitimation deutlich machen". Nach Fischers ursprünglicher Auffassung sollten die A bgeordneten der ersten Kammer zunächst "zugleich Mitglieder der Nationalparlamente"' sein, denn nur so sei gewährleistet, dass das EP die "unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeilen tatsächlich zusammenfUhrt", vgl. ders. ln seiner Humboldt-Rede (2000), ebenda. 190 Da es zeitlich nicht möglich sei, gleichzeitig zwei Mandate "auch nur annähernd sachgerecht auszuüben", führe ein solches Doppelmandat zu einer "Schwächung des Europäischen Parlaments und seiner Ko ntrollfunktion", vgl. dazu den Bericht überdas Diskussionsforum am \Valter-Hallstein-lnstitut vom 22. Juni 2000 mit Johannes Voggenhuber, MdEP und Vorsitzenderdes Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Grüne): "Umfassende Demokratisierung gefordert. Gegenposition zu Joschka Fischer aus dem Europäischen Parlament". 197 Dazu SZ, 7. Juli 2000, S. 8: "Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: Fischer fordert Entscheidungen über die Zukunft der EU''. Das Redemanuskript des Auswärtigen Amtes entspricht der im Wesentlichen frei gehaltenen Rede nur in Grundzügen.
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Hatte Fischer in seiner Humboldt-Rede noch zwei Alternativen zur Stimmenvertei lung dieser "Staatenkammer" vorgeschlagen- das Senats- und Bundesratsmodell - setzte sich ersteres in der Debatte durch. Auch Andere beflirworteten in s päteren Reden das Senatmodell mit je zwei Abgeordneten pro Mitgliedsstaat. ,.. Vor allem die kleineren Länder wie Belgien und Finnland warben aus offensichtlichen Gründen flir das US-Modell. Die Kommission äußerte sich nicht explizit zu diesem Modell, betonte aber mehrfach, die kleinen Staaten müssten gleichberechtigt mit den großen Staaten repräsentiert werden. Während Fischer weder e in konkretes Rollenverhälmis zwischen beiden Kammern de finierte, noch deutlich machte, ob die zweite Kammer den Ministerrat e rsetzen würde, hatten s ich die Positionen zwischen de n Vetfassungsbefürwortern mittle rweile polarisiert: Am e inen Ende der Skala standen die Beflirworter von mehr Supranationalität Am anderen Ende waren die lntergouvernamentalisten auszumachen, die dem Europäischen Parlament nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Ministerrat zuweisen wollten. Diese Vorschläge kamen vor allem von französischer Seite.199 Im Zuge von Nizza plädierten auch Regierungschefs verstärkt dafür, den Rat und das Europäische Parlament zu den Kammern e iner einzigen Legis lative zu e ntwicke ln, wobei e in ständiger Rat als Beauftragter der Mitgliedsstaaten fungieren sollte, und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen Völker.300 Ein drittes Modell z ielte darauf ab, die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger durch mehr Mitspracherechte der Regionen auszuweiten. 301 193
So beispiels\veise J. Rau, der für die gleichbe rechtigte Repräsentation mit einer "gleichen Anzahl von Stimmen" in der zweiten Kammer warb (vgl. deTs., Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000). 299
Verfechter von mehr Supranationalität forderten ein Zwei-Kammer-System, in dem
das Europäische Parlament und der Ministerrat gleichberechtigt Gesetze erlassen könnte. Teile des Europäischen Parlaments sahen vor, dass die "Komposition, das Funktionieren und die Balance zwischen den Institutionen der Union" die "doppelte Legitimität als eine Union der Völker und eine Union der S taa ten~· reflektieren müsse, und zwar durch den "Ministerrat und das Europäische Parlament"' (KonsrinuioneJier Ausschuss: Bericht über die Vorschläge des Europäischen Parlaments ti.ir die Regierungskonferenz, Dok. Nr.: AS -0086/2000, 27. März2000, S. 5: "An overall equilibrium must be struck between the small and !arge State.s [ ... ) therefore [ ... ] the constitutional principle that the Union of Peoples is represented by the Europea.n Parliament and the Union of the States is represented by the Council''). Zahlreiche Abgeordnete forderten in Anlehnung an die früheren Verfassungsentwürfe aus der Mitte des Europäischen Parlamentes ein "echtes Zwei-Kammer-System~', in dem "aJie Gesetzgebung doppelt legitimiert sein muss: Durch eine Mehrheit der gewichteten Stimmen der Mitg liedsstaaten im Rat und durch eine Mehrheit im Parlament'' (Vgl. dazu etwa die Rede von K. Hä11sclt auf der Landestagung der Europa-Union Hessen, 3. Juni 2000; sowiedas Papiervon \Y. Görlach IJ. LebJen IR. Linkohr, Europa als demokratischer Staat, in: H. Mahrhold, Die neue Europadebatte, 2001 , S. 298 ff.). Der konstitutionelle Ausschuss modifizierte diese Forderung, indem er die "Aufteilung in zwei Gruppen von Rechts..1.kten" verlangte, "in denen das Parlament oder der Rat das letzte Wort haben" sollten (eben da, S. 17). 300 Laut G. \lerltofstadr sollte im Rat die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, und das Europäische Parlament ein generelles Mitentscheidungsrecht erhal-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Verfassungsdebatte Die wissenschaftliche und politische Debatte um die Berücksichtigung der
Organisa.rionsfunkrion ist zwar mit Blick auf die Wechselwirkungen dieses Prinz ips eher dürr.m, gleichwohl haben sich zahlreiche Beiträge mit der Frage nach
lwrizomaler Gewaltenteilung zwischen den Institutionen, der verrikalen Gewalremeilung, somit auch bezüglich der Stichworte "Europäische Regierung" und "Kompetenzkatalog" befasst:"" ten ( vgl. ders., Rede in Göttweig am 24. Juni 200 I, S. 9). Das gleiche Konzept schlug auch J. Rau vor: ~.Der Ministerrat soll z ur Staatenkammer werden, in der jeder Staat, vertreten
durch seine Regierung, abs-timmt"'. Das Europäische Paralment würde zur ~,Bürgerkam mer" werden. Beide Kammern sollten "gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden"' (J. Rau, Plädoyer fUr e ine Europäische Verfassung, Rede vor dem Europäischen Parlament am 4 . April200 I, S. 5). Auch IV. Clemem fo rderte, dass das Europäische Parlament "aJs Bürgerkammer in allen Bereichen mit dem Rat g leichberechtigt entsche iden" sollte (vgl. ders, Europa _gestalten- nicht verwa lten. Die Kompetenzordnung de r EU nach Nizza, 12 . Febr. 200 I). Ahnlieh argumentierte auch E. Stoiber, der be iden - Rat und Europäischem Parlament - ein Initiativrecht zubilligte (ders. , Reformen für Europas Zukunft, Rede in Berlin, 27. September 2000, abrufbar unter www .bayern.de/Berlin/ Veranstaltungen 1Redenarchiv/?PHPSESSID=eb06875d90a340f2d38d4976). Am weitesten ging Bundeskanzler G. Scliröder. Er plädierte nicht nur fli r den "Ausbau des Rates zu einereuropäischen Staatenkammer~· und für die ,,,veitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes mittels Ausweitung der Mitentscheidung" , sondern forderte damals a ls e inziger Regierungschef d ie "volle Budgethoheit" fiir das Europäische Parlament (hier G. Sehröder in seiner Funktion als SPD-Parte ichef, zitiert nach dem SPD-Le itantrag "Verantwortung flir Europa", 30. April 200 1, S. 2). Überlegungen auf französischer Seite waren d iesen bundesstaatliehen Tendenzen entgegengesetzt. Die Neogaullisten A. Juppe und J. Taubon verorteten Legitimität und Kompetenzkompetenz hauptsächlich be i den Nationa lstaaten. ln ihrem Verfassungsentwurf vom Juni 2000 ist die "Chambre des Nations" der Kammer der europäischen Abgeordneten deutlich übergeordnet, vgl. e ingehender S. \foJkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung, CAP-Working Paper, 200 I, S . 34 ff. 301 So argumentierten etwa K. Biedenkopf in seiner Rolle als Ministerpräsident, sowie die Regierungschefs der kleineren Staaten. Während vor allem in den bevölkerungsreicheren Mitg liedsstaaten der Nationalstaat nur e inen "geringen Bezug zur Bevölkerung" hers-tellen würden, erlaube die "kleinere. überschaubare Einheit" der Region den Bürgern me hr Partizipationsmöglichkeiten. Die Regionen wären demnach "angesichts ihrer besseren Verg le ichbarkeit nach äußerer Größe und innerer Homogenität e ine geeignetere Basis staatliche r Repräsentanz in Europa"' als d ie "größeren, sehr verschiedenen Nationalstaaten" ( K. Biedenkopf, Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven, Aufgaben und Herausforderungen, Rede am \Valter-Hallstein-lnstitut der Humboldt Universität Berlin, 4. Dezember 2000, S . 8). Auch P. Lipponen und G. Verlrojrtadt betonten die "wachsende Bedeutung der Regionen" (P. LipponetJ, Speech at the College of Europe in Brügge, 10. November 2000, S. 4; G. Verlrofstadt, A Vision for Europe , Rede vor dem European Policy Center in Brüssel, 2 1. Septe mbe r 2000, S. 7). Diedenkopf schlug sogar vor, dass d ie Zweite Kammer überhaupt nicht d ie Nationalstaaten vertreten solle, sonde rn sich a us dem Ausschuss der Regionen entwickeln könnte (ebenda (2000)). 302 Vgl. aber aus der politikwissenschaftlichen LiL mit zahlreichen Nachweisen S. Vo/kmamr-SchJuck, Die Debatte um e ine europä ische Verfassung. CAP-\Vorking Paper, 2001 , S. 38 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Die Forde rung nach einer eindeutigeren Zuständigke itsverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedsstaaten bzw. Regionen stand und steht bis heute in zahlreichen Überlegungen an zentraler Stelle. Ein Kompetenzkatalog stel lte - neben der Grundrechtecharta - für viele die Konkretion des Verfas sungsgedankens dar. Mit einem Kompetenzkatalog sollte das Prinzip funktional definierter Handlungsbefugnisse zugunsten rechtsgebietlieh definierter Zuständigkeiten überwunden werden. Statt der Vielzahl von Regelungen auf EU-Ebene als Ergebnis der induktiven Vergemeinschaftung sollten bereits in Fischers HumboldlRede die Kompetenzen nach dem Prinzip der horizontalen (zwischen den Institutione n), besonders aber der vertikalen Gewaltenteilung zwischen EU-Ebene und Mitgliedsstaaten geordnet werden . Während die früheren Entwürfe des Europäischen Parlamentes darauf abzielten, zunehmend mehr Macht auf die europäische Ebene zu übertragen, gestaltete s ich die Organisa.rionsfimktiOII der Vetfassungsentwürfe um die Jahrtausendwende tatsächlich anders. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer Verfassung waren s ich weitgehend e inig, dass das Subs idiaritätsprinzip durch einen klaren Kompetenzkatalog gesichert werden sollte und der Übertragung von Kompetenzen verfassungsmäßige Schranken e ntgegengesetzt werden müssten. So sollte die horizontale Gewaltenteilung besser organisier! werden, indem die Kommission klarer der Exekutive zugeordnet würde und der Ministe rrat sich auf legislative Aufgaben konzentriert hätte. Die vertikale Gewaltenteilung, d. h. auf welcher Ebene die unterschiedl ichen Politikbereiche ausgeübt werden sollen, hingjedoch -wie historischerwartbar-von den Interessen der einzelnen Akteure ab. Überlegungen zur verfassungsmäßigen Begreuzungsfimkliou politischer Macht gegenüber dem Einzelnen in Form von Menschen- und Bürgerrechten bildeten neben der Frage der Kompetenzabgrenzung den zweiten Ke mpunkt der Verfas sungsdiskussion. Nicht zufällig trieb demnach die auf dem Köhler Rat vom Juni I999 beschlossene Ausarbeitung einer "Grundrechtecharla" 3"', welche die in den Verträgen verstreuten Grundrechte sichtbar machen sollte, die Verfassungsdiskuss ion in allen Mitgliedsstaaten an. Die meisten Akteure versprachen sich von dem 303
Aus der Lit. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 137 f., 406 ff.; M. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, S. 157 ff. , R.A. Lorz, Der gemeineurop..1ische Bestand von Verfassungsprinz.ipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - GewaJtenteilung, Föderalismus, Rechtsbindung, in: P.-C. Miiller-Graff/E. Riede! (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, S. 99 ff.; P. Kirchhof, Die Gewaltenbalanre zwische n staatlichen und e uropäischen Organen, in: JZ 1998, S . 96 5 ff.; H. -D. Hom, Übe r den Grundsatz der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (200 I), S. 287 ff. Aus der Pe rspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 2. Aufl. 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm, Der Gerichtsho f der Europäischen Gemeinschaften im fOderaJen Kompetenzkonflikt, 1998. Zum "institutionellen Gleichgewicht" R. StreiiiZ, Europarecht, 6. Auft. 2003, S. 217. 304 Vgl. unte r 8.1 1. 2.t)ii).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Menschen- und Bürgerrechtskatalog auch eine Verbesserung der Akzeptanz der Europäischen Union, weil jene als "Wertegemeinschaft"JO' identifizierbar würde. (c) Integrations- und ldentifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe, EU-Skepsiskultivierung Alle diskutierten Verbesserungen im Bereich der Legitimations-, Begrenzungsund Organisationsfunktion sollten letztlich dazu beitragen, dass Europakein "abstraktes Großprojekt mehr ist, das sich hinter verschlossenen Türen im fernen Brüssel oder in den Köpfen einiger Technokraten abspielt""'•. Zahlreiche Beiträge zielten darauf ab, mittels der Verbürgung von mehr Bürgernähe durch Subsidiarität, der Personifizierung von EU-Politik durch die Wahl eines Präsidenten, der klareren Nachvollziehbarkeil von Verantwortlichkeiten, sowie der Verständigung über grundlegende und identitätsstiftende Wette des Zusammenlebens die Identitäts krise zu beseitigen. Die mangelnde Identifizierung des Bürgers mit Brüssel war (und ist) fiir nahezu alle Vetfassungsbefürworter ein zentrales Problem : Zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgem besteht eine derart bemerkenswerte Kluft, die s ich seit Maastricht nicht verringert hat. Als Indikatoren dieser Identitätskrise nannten die Politiker die steigende Europa-Verdrossenheit und die s inke nde Bete iligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die negativen dänischen und irischen Referenda zum Euro und zum Vertrag von Nizza wurden als Folge einer Identitätskrise gewertet. Das spätere französische " Non" und das niederländische "Nee" zum Verfassungsvertrag s ind beredter AusdJUck einer "EU-Skepsiskultivierung". Ein weiterer wichtiger Grund fiir die fehlende Akzeptanz der Europäischen Union bleibt freilich- auch praekonstitutionell- die Undurchsichtigkeit der Verträge. Zudem sind die "Wahmehmungsmängel" der bereits in den EU-Verträgen und durch die Rechtssprechung garantierten europäischen Grundrechte wohl auch entscheidende Gründe fiir wachsende Unzufriedenheit, Desinteresse und "EuroMüdigkeit" der Bürger, die in den letzten Europawahlen in nahezu allen Mitgliedsstaaten in bisher kaum für möglich gehaltene Wahlverweigerung umgeschlagen s ind. Das Problem hatte spätestens mit der Erweiterungswoge im Jahre 2004 noch an Dringlichkeit und Umfang zugenommen. Nachdem die Vergrößerung der 305
Kritisch zur .,Wertegemeinschafr" R. Srreinz. Der europäische Verfassungspro-
zess - Grundlagen, \Verte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidei-Stiftung, 2008, S. 13 ff. Vgl. auch M. Herdegen, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 139 ff. JOb So Bundeskanzler G . Sehröder in seiner Regierungserklärung vom 19. Januar 200 I (vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Europäischen Union von 15 auf 27 (plus x) Mitglieder die Auflösung zuordnungsfähiger Verantwortlichkeiten noch verstärkt und somit potentiell zu europäischen "Erosionsprozessen" fUhrt, muss es auch aus diesem Grunde einen strukturellen Neuanfang geben. Selbst J. Fischer warnte (sie!), dass die Erweiterung "bei den Bürgern Sorgen und Ängste auslösen würde, unte r anderem, weil die EU noch undurchsichtiger und unverstehbarer"''" würde. A ls vordergründig banalste (und in der Umsetzung offensichtlich unerreichbare) Lösung dafiir, dass sich die Bürger wieder als Teilnehmer des europäischen Gemeinwesens verstehen, galt deshalb die Vereinfachung der bestehenden Verträge. Analog zu den Erfahrungen in der Bundesrepublik, aber eben auch der Vere inigten Staaten von Amerika könnte sich auf diesem Wege e in e uropäischer "Verfassungspatriotis mus" entwickeln. Auch unter d iesem Vorzeichen stand die Forderung nach e iner Zweite ilung der Verträge in Arti ke l mit konstitutionellem Charakter (in e inem Grundvertrag) und solche mit detaillierten Ausfiihrungsbestimmungen. '"' Selbst eine "europäische Verbundsverfassung" wäre dem Bürger nur schwer vermittelbar, wei l die konstitutionellen Garantien und Grundsätze in dem über Jahrzehnte gewachsenen, immer komplexer gewordenen Vertragswerk und den Urtei len des EuGH für den Bürger nicht erkennbar s ind. Dem theoretisch nicht reizlosen Ansatz eines "Verfassungsverbunds" (/. Pemice"") sind bereits damit messbare Grenzen gesetzt. Damit können die Verträge nicht die integrative Kraft 307 J. Fischer, Vom Staatenverbund zurFöderation- Gedanken überdie Finalität dereuropäischen Integration, Abdn1ck seiner Rede vorder Humboldt Universität Berlin (2000). Die "flir die Europapolitik unverz.ichtbare Akzeptanz" würde sich auch laut Fischer deshalb nur dann einfinden, wenn der "Zugang der Bürger zum Recht" verbessert wird (vgl. auch ders., Rede zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, 28. Oktober I999). 303 Diese Überlegung resultierte aus dem Bericht der .,Drei \Veisen", den die Kommission im Oktober 1999 in Auftrog gegeben hatte (vgl. European Universiry fllstitwe, A Basic Treaty for the European Union, 2000 sowie Cemrum jiir angewandte Politikforsclumg, Ein Grundvertrag für die Europäische Union, 2000). Die Kommission stieß deswegen die Diskussion um die "Neugestaltung der vorhandenen Texte"(vgl. d ie Rede von R. Prodi, Nizza - und danach, 29. November 2000, abrufbar unter www.europa.eu.int/rnpid/startlcgilguesten.ksh?p_action.gettxt=g t&doc=SPEECH/OO /47S%7C0%7CRAPID&lg=DE) bereits in der e rsten Phase de r Debatte an. 309 / . Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996, S. 27 ff. Die von/. Pernice entwickelte Konzeption des Verfassungsverbunds hat inzwischen hohen Bedeutungsgrad in der deutschen Debatte erlangt. Danach stehen Verfassung und Rechtsordnung des Verbands ,.Europ..1ische Union'' und der mitgliedstaatliehen Verbände in einem so engen Verhältnis der gegenseitigen Verweisung, der gegenseitigen Anhängigkelt und der VerHechtung, dass man die klassisch-völkerrechtliche Sichtweise (unabhängiger Staat und internationaler Zusammenschluss) überwinden müsse. Europäische Union und Mitgliedstaaten sind danach rechtsnormativ in einer \Veise zusammengewachsen, dass man sie als Bestandteile eines miteinander zusammengewachsenen Verbundes betrachten müsse. Die zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bestehende Trennung werde durch den Prozess des konstitutiven Zusammenwachsens aufgehoben. EU-Rechtsordnung und
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
einer Verfassung entfalten, weil die Bürger sich nicht als Träger des europäischen Gemeinwesens verstehen. Die Verträge können also die /demijikmions- und lnregrationsfunktion e iner Verfassung kaum erflillen. Die Komplexität führte aber nicht nur zu mangelnder Akzeptanz und Entfremdung von der Europäischen Union, sondern auch zu Koordinationsproblemen im politischen System selbst, womit auch die mangelhafte Organisationsftmktion der Verträge erneut angedeutet wäre. Unter dem Strich trugen alle Defizite im Bereich der Legitimation, Organisation und Begrenzung europäischer Macht zur mangelnden Identifizierung der Bürger mit Brüssel bei. Dramatisch (und fälschlicherweise gerne gleichgesetzt mit dem vorangegangenen Gedanken) war in der Folge auch der Identitätsverlust seitens der Europäischen Union. kk) Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung Insgesamt hat sich herausgestellt, dass das ursprünglich zwischenstaatlich konz ipierte europäische Recht der anfangliehen Wirtschaftsgemeinschaft im Laufe des Integrationsprozesses immer mehr konstitutionelle Funktionsnormen entwickelt hat. So legitimieren die Verträge europäische Macht, indem sie dem Bürger Wahlmöglichkeiten und Petitionsrechte einräumen . Die Verträge begrenzen Macht, indem sie die individuellen Menschenrechte der EU-Bürger schützen . Es hat sich gezeigt, dass diese Konstitutionalisierung maßgeblich vom EuGH forciert wurde, welcher bereits in den sechziger Jahren europäischem Recht Vorrang vor nationalem Recht zusprach und e in Garant individueller Rechte wurde, indem er dem Einzelnen Klagemöglichkeiten gegen Vertragsverstöße durch die Mitgliedsstaaten gab. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich geworden, dass die Verträge und die EuGH-Rechtssprechung wesentliche Funktionen einer Verfassung nicht erflillen können, denn sie leiten sich nicht vom pouvoir constituanr e ines souveränen Volnationale Rechtsordnung würden miteinander verschmolzen. Die Verflechtung hätte einen Grad e rreicht, der es konzeptionell nicht mehr s innvoll erscheinen ließe, zwischen zwei
verschiedenen Rechtsordnungen zu unterscheiden (vgl. /. Pernice, Art. 23. in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 1998, Rdnr. 20). Die in der Vergangenheit immer wieder auftauchenden Konflikte zwischen dem Geltungsanspruch beider Rechtsordnungen
wären damit hinfti.llig. Im Hinblick auf das Zusammenwachsen der Verfassungen müsse auch von einer einheitlichen "Verfassung Europas" gesprochen \Verden, in der EUVerfassungsrecht und nationale Verfassungen aufgegangen seien. Dies mündet in ein Verfassungsverständnis, in dessen Mittelpunkt die europäische Verfassungsgesamtheit steht, in der die mitg liedstaatliehen Verfassungen und die unionale Verfassung als ,;reilverfassungen·· (P. Häberle) aufgehen ("Mehrebenen Verfassungsverbund'', vgl. nur I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, in: 36CMLRev. 1999, S. 703 ff.). Im Übrigen steht nicht d ie Frage nach der Souveränität bzw. nach dem Ausnahmefall im Zentrum des Denkens von Penzice, sondern der Regelfall der Kooperation, vgl. auch M. Neuesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, Deutscher Bericht fürdie XX. ADE-Tagung 2002, (zu finden im Internet unter www. fide2002.org/reportseulaw .htm).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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kes 310 ab und bieten dem Bürger nur unzureichende Möglichkeiten, die Politik der Union demokratisch mitzugestalten. Erschwerend kommen die Sprachbarrieren zwischen den Mitgliedsstaaten hinzu, die verhindern, dass eine europäische Öffentlichkeit'" zustande kommt, die für das Funktionieren e iner Vetfass ung unerlässlich ist. Auch aus diesem Defizit lässt sich schließen, dass e ine europäi sche Konstitution nicht die staatlichen Verfassungen ersetzen kann, weil s ie nicht gänzlich über die nötigen demokratischen Strukturen und Voraussetzungen, wie s ie üblicherweise vom Staat gewährleistet werden, verfUgen würde. Die Verfassungspläne, die während der Integrationsgeschichte vom Europäischen Parlament entworfen wurden, hatten zum Ziel, diese Defizite zu lösen und die unübersichtlichen Verträge durch ein e inzelnes, übersichtliches Dokument zu ersetzen. Initiativen zur Konstitutionalis ierung der Europäischen Union entstanden immer dann, wenn e ine innere Krise diese Probleme sichtbar machte oder wenn die europäische Integration durch EinflUsse von außen sich qualitativ veränderte. So war der Entwurf der Ad-lwc-llersammlrmg eine Reaktion auf die KoreaKrise und sollte den Übergang zu e iner politischen Gemeinschaft markieren. Ähnlich versuchte der Herman-Ennvu.rf von 1994, e in neues Selbstverständnis der Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges zu definieren. Die beiden neueren Entwürfe des Europäischen Parlamentes von 1984 und 1994 entstanden, um die Handlungsfahigkeit der Europäischen Union auch nach ei ner Erweiterung ihrer Mitgliederzahl zu sichern. Der Entwurf des Parlamentes von 1994 reagierte auf die Akzeptanzkrise nach dem Maastrichte r Vertrag, der zwar immer mehr politische Befugnisse auf die Gemeinschaft übertragen, dem Bürger aber kaum Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Politik gegeben hatte. Obgleich die Akzeptanz- und Handlungsprobleme der Europäischen Union, die s ie zu lösen versuchten, sich im Laufe der Integration verschärften und spätestens seit Maastricht auch zur gelegentlich offenen Verweigerung der Europäischen Union (Wahlen!) umschlugen, waren die Verfassungsentwürfe des Europäischen Parlamentes zum Scheitern verurteilt, da s ie die besonderen Bedingungen einer europäischen Konstitulionalisierung nicht genügend berücks ichtigten. Die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union stellt kei nen "eindeutig abgrenzbare n linearen" Prozess dar, sondern ein "mehrpoliges System", in de m "zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft sowie zwischen den Organen der EG ein sich fortwährend neu definierendes Gleichgewicht gesucht wird". m 3 10
Zum "Volksbegriff' aus der Lit: A AugustitJ, Das Volk der Europäischen Union. Zu Inhalt und Kritik eines nonnativen Begriffs, 2000; vgl. P. Häberle, Europäische Verfussungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 306 f. 3 11 Grundlegend P. Häberle, "europäische Öffentlichkeit"?, 200 1 zuvor schon in: Festschrift Hangartner, 1998, S. I 007 ff. 3 12 Zitate nach R. Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der EG, in: R. \Vildenmann (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen füreine Europäische Union, 1991, s. 393 rr.. 412f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Laut /. Pemice ist eine "geschachtelt konstituierte e uropäische Gesamtordnung" entstanden, die "ein e inheitliches, föderal strukturiertes System bi ldet, in dem die nationalen Verfassungen und das europäische Primärrecht Teilelemente e ines Europäischen Verfassungsverbundes bilden" .m II) Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge ln der Literatur ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass das Primärrecht der Europäischen Union Verfassungsqualität"' hat, dass aber unter Zugrundeiegong e ines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen. Die rechtsdogmatische Qualifikation der Europäischen Gemeinschaften bereitete hingegen schon zur Zeit ihrer Gründung e rhebliche Schwierigkeiten. m Im Zuge ihrer weite ren Entwicklung und Ausgestaltung zu einer politischen Union und "Werte-Gemeinschaft" haben sich diese noch erheblich verstärkt. Zwar charakte risierte schon IV. Hallstein die EWG als "Rechtsgemeinschaft" und nicht lediglich als ein Bündel völke rvertraglicher Rechte und Pflichten der verbundenen Staaten. 316 Bemerkenswert äußerte s ich auch der EuGH- bereits in diesem Kontext - , der in seiner berühmten Les Verrs-Etuscheidung bestätigte, "dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle JJJ / .
Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem \Veg der Konsolidierung,
in: JöR, Bd. 48 (2000), S. 205 ff., 2 10. 314
Grundsätzlich zur Frage eines konstitutionellen Europa.s: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; ders. , Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 200 I; M. Zuleeg, Die Vorzüge der europä ischen Verfassung, in: De r Staat 4 1 (2002), S. 359 ff. ; R. Scho/z, Wege zur Europäischen Verfassung, in: ZG 2002, S. I ff.;A. wm Bogdandy, Europäische Prinzipien lehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 ff.; I. Pemice, Die Europäische Verfassung, in: Festschrift Ste inberger, 2002, S. 13 19 ff.; H. H. Rupp, Anmer-
kungen zu einer Europäischen Verfassung, in: JZ 2003, S. 18 ff.; E. Pache, Eine Verfassung flir Europa- Krönung oder Kollaps der Europäische Integration?, in: EuR 2002, S. 767 ff. 315
Vgl. dazu allgemein A. Riklitl, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staa-
tenverbindungen, 1972. 6 " W Hai/stein, Die Europäische Gemeinschaft, I. AuH. 1973, S. 49; H. P.lpsen, Eu-
ropäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. J97 ff., sieht in der Gemeinschaft einen Zweckverband und unterstreicht damit auch den Unterschied zur "Staatlichkeit als umfassender geistig-sozialer \VirkJichkeit, potenziell unbeschränkter Kompetenzfülle von Gebiets- und Personalhoheit". Zu W Hai/stein: M. Kilian, Der Visionär, in: C. D. C lassen u. a. (Hrsg.), "In einem vereinten Europa dem Frieden der \Velt zu dienen . .. ". Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001 1 S . 119 ff. Hallstdtls Werke dürfen zu den Klassikern des gemeinschaftsrechtlichen Schrifttums gezählt werden, vgl. auch ders. Der unvoJlendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, 1969. Zur Europäischen Union als ,,Rechtsgemeinschafr" R. Streinz, Die Europäische Union aJs Rechtsgemeinschaft. Rechtsstaatliche 1
Anforderungen an e inen Staaten\'erbund, in: Festschrift für Detlev Me rten, 2007, S. 395 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Vetiassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen". 317 Unentschieden blieb jedoch die gmndlegende Frage, ob die Gemeinschaften bzw. die Union (noch) mit dem herkömmlichen begrifflichen Instrumentarium des Staatsrechts oder des Völkerrechts quali fiziert werden könnenm oder ob sie s ich e iner solchen Einordnung konzeptuell bereits entziehen. 319
317
EuGH Slg. 1986, 1339 ( 1365f.). Vgl. auch W Hummer, .,Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfass ungskonvent- Strategien und Argume nte, Sonde rheft 1/2003, S. 53 ff. 55 f.; umfassend bereits W Meng. Das Recht der internationalen Organisationen - e ine Entwicklungsstufe des Völkerrechts. Zugleich eine Untersuchung zur Rechtsnatur des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, 1979. 319 Zur rechtlichen Natur der Europäischen Union sei noch ergänzt, dass die Union zunächst auf mehreren, in der Art der Zusammenarbe it zwischen den Staaten abgestuften Gemeinschaften basiert. Diese ~,dre i Säulen Europas'' umfassen die Europäischen Gemeinschaften als erste Säule (Die Europä ischen Gemeinscha ften (die EG, die EGKS- im Jahr 2002 in die Anwendungsbe reiche des EGV überführt - sowie d ie Euratom) bilden seit dem am 0 I. J I. J993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht Untereinheiten der Europäischen Union und wurden durch diesen Vertrag e rgänzt um PJZ und GASP. vgl. etwa M. Herdegen, Europarecht, 8. Auft. 2006, S. 38 f.), d ie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zweite Säule sowie die Polizeiliche und Justiz.ielle Zusammenarbe it in Strafsachen (PJZ} als dritte Säule. Während es sich bei de r zweiten und dritten Säule um Strukturen mit rein intergouvernementaler Zusammenarbeit handelt, d ie teilweise a uf die Organe der Europ..1ischen Gemeinschaften zurückgreifen, bilden die Europäischen Gemeinschaften eine besondere Form völkerrechtlicher Verträge durch Ihren Charakter als "supranationale Organisationen" und sind in ihrer rechtlichen Gestalt weltweit e inzigartig (so auch M. Heimzen, Vom Dickicht der Verträge zur europä ischen Verfassung? Vortrag vom 27. I I. 2000 im Rahmen des Studienganges Journalisten-We iterbildung de r Fre ien Universitä t Berlin, www.fu-berlin.de/juralnetlaw/pubikationenlbeitraegeJssOO-he intzen.html). \Vesentlich für d ie Begründung dieses supranationalen StaatenztJsammenschlusses ist die Übertragung von Teilen nationaler Hoheitsgewaltdurch die Mitg liedstaaten auf die Europäischen Gemeinschaften. Dadurch liegt sowohl legislative als auch judikative Entscheidungsund Regelungsgewalt gegenüber den Völkem dieser Staaten in den Händen der Europäischen Gemeinschaftsorgane, die beispielsweise im Fall der Europäischen Kommission und des EuGH auch unabhängig von nationaler Willensbildung tätig werden. Das Primärrecht der Europäischen Union setzt sich zusammen aus dem primären Gemeinschaftsrecht (das durch d ie vertraglichen Grundlagen de r Europäischen Gemeinschaften gebilde t wird) und den Grundlagenverträgen der Europäischen Union, das Sekundärrecht besteht aus allen Rechtsakten, die auf der Grundlage des Primärrechtes gesetzt \Verden und ebenfalls mittelbare als auch unmittelbare \Virkung annehmen können. Die sog. intergouvernementale Zusammenarbeit wirkt insbesondere in den Bereichen der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union, in denen die Staaten auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge, die jedoch auf das je,veilige nationaJe Recht nur mittelbaren Einfluss haben. kooperieren. Nur die Europä ischen Geme inschaften sind sowohl im völkerrechtlichen Sinne als auch im innerstaatlichen Rechtsverkehr im Rahmen der Kompetenzen der EG rechtsfahig. (Ausdrücklich anerkannt in den drei Gründungsverträgen: Art. 2& I und 2&2 EGV, Art. 6 EGKS 313
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
In die Verfassungstheorie lassen s ich nichtstaatliche Verbände dadurch dogmatisch e inbeziehen, dass man innerhalb eines weiter gefassten Verfassungsbegriffs verschiedene Verfassungstypen unterscheidet. Bisher sind nach der Art des Verbandes drei Vetfassungstypen zu unterscheiden, nämlich die Staatsverfassung, die bundesstaatliche Gliedstaatsverfassung und - ggf. - die Unionsverfassung. T. Schm.ir<. ist zuzustimmen , dass die essentiellen Lehren der Verfassungstheorie auf alle Verfassungstypen anwendbar sind, während weitere Lehren nur für bestimmte Ve tfassungstypen gelten und allenfalls nach umsichtiger Anpassung auf andere übertragen werden können.320 Die Einbeziehung staatsähnlicher Verbände bedeutet demnach also keine vollständige Gleichstellung einer etwaigen Unionsverfassung mit der eines Staates. Unübersehbare Parallelen zwischen den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften und e iner Vetfassung haben im europarechtlichen Schrifttum allerdings schon früh zu einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Verträge geflihrt. Bereits Ophllls verwies darauf, dass sie eine GJUndordnung enthielten, e in in s ich geschlossenes System, das im Gemeinschaftsrecht ähnlich herrsche wie die staatliche Verfassung im nationalen Bereich.321 Hinsichtlich der teils erst fiir spätere Zeitpunkte festgelegten Integrationsschritte sprach er von "Pianungsverfassungen". lpsen benannte s ie später angesichts der bereits mehrfach erfolgten VertragsändeJUngen als "Wandelverfassungen". " 2 In den achtziger Jahren ging die Lehre zunehmend dazu über, die Verträge unter Hinweis auf ihre zum Te il verfassungstypischen Regelungsinhalte und Funktionen als Verfassung zu charakteris ieren ; dabei war durchaus an eine Vetfassung i. S. d. normativen Verfassungsbegriffs der Verfassungstheorie gedacht. ( I ) Ausgewählte Verfassungsauribute Die Verträge sind Verträge zwischen Mitgliedstaaten, welche s ich ursprünglich auf die Schaffung e ines gemeinsamen Marktes und die damit verbundenen Wirtschaftspolitiken beziehen (sollten). Als ,,Zweckverband" ist ihr Geltungsbereich im Gegensatz zur Verfassung also nicht universal, sondern auf einzelne Politikbereiche begrenzt.m Anders als e ine Vetfassung im .,klassischen" Sinne sowie Art. 184 und 185 Euratom). Die EU sollte dagegen bisher augenscheinlich keine auf völkerrechtlicher Ebene rechtsfähige Organisation sein (vgl. M. Herdegen (2006), S. 65). 320 T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 200 I, S. 398 ff. 321 C. F. Ophii/s, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, in: J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung I. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, 1965, S. 229 ff. 322 Vgl. H . P. /psen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtsho f als Ve rfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 ff. Siehe bereits ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht,
1972, S. 64, \VO vom "Inbegriff des Primärrechts" als der "materiellen Verfassung der Gemeinschaft" die Rede ist. J2J Vgl. H. P. /psen, Fusionverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 54.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
123
konstituieren sich die EU- und EG-Verträge eben auch nicht aus einem- beispielsweise revolutionären - Gründungsakt e iner politischen Gemeinschaft, sondern leiten sich aus dem Vertragsabschluss souveräner Staaten ab. Laut Art. 48 EUV muss deshalb jede Änderung der EU-Verträge an den Anforderungen der nationalen Verfassungen gemessen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, und theoretisch können die Mitgliedsstaaten (in einer besonderen Ausdrucksform jenes Attributes) als "Henen der Verträge""" die Mitgliedschaft wieder aufkündigen. Gleichwohl existieren Merkmale, die den Verträgen partiell Verfassungsqualität verle ihen. Demz ufolge sei mit e inigen Stichpunkten und freilich unvollständig auf e inige Attribute hingewiesen. Was die EG- und EU-Verträge zunächst von internationalen Verträgen unterscheidet, ist der teilweise Souveränitätsverzicht der Mitgl iedsstaaten durch die vertraglich festgelegte Errichtung e iner supranationalen Behörde und e ines Gerichtshofs. Die Kommission hat das alleinige In itiativrecht ftir Gesetze (Art. 2 11 EGV) und kontrolliert die Implementierung dieser Gesetze auf nationaler Ebene. 325 Die funktionale Ausweitung der Verträge auf immer neue Wirtschafts- und Politikbereiche und die damit verbundene Übertragung ursprUngl ieh nationalstaatlicher Kompetenzen auf die supranationale Ebene hat dazu geführt, dass die Verträge wesentliche Funktionen übernommen haben, die im staatlichen Bereich von einer Verfassung e rwartet und erfüllt werden. In Bezug auf die Legitimationsfunktion haben die Verträge dem ursprünglichen "Marktbürger""" im Integrationsprozess immer mehr Partizipationsrechte gewährleistet. Dazu zählt seit 1979 das akti ve Wahlrecht zu den Direktwahlen des Europäischen Parlaments, was seit "Maastricht" mit der Unionsblirgerschaft auch auf das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in jedem Mitgliedsstaat ausgeweitet wurde. Mit der Unionsbürgerschart erhielt der Einzelne auch das Recht, Eingaben und Beschwerden an das Europäische Parlament zu richten. Dazu gibt es e inen Bürgerbeauftrag324
Kritisch freilich P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 192, da die Staaten "im EU-Europa ohnehin nicht mehr ,Herren der Verträge' sind." Im demokratischen Europa könne es keine " Herren" geben. Die auf der würde des Menschen aufbauende
"Bürgergemeinschaft Europas'" mache die Herrenideologie gegenstandlos (vgl. ebenda, Fn. 2 1). P. Häherfes Bezug zur "Herrenideologie" erscheint jedoch ein wenig konstruiert - bei aJier z.ugestanden unglücklichen WortwahL 325
Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1950 eröffnete sich durch diesen Souveränitätsverzicht für Frankreich die Möglichkeit, auf friedliche Weise den Kern des deutschen \Virtschaftspotentials zu kontrollieren, und fUr den Kriegsverlierer Deutschland die gleichberechtigte Aufnahme in eine internationale Organisation. Ausgehend von diesem "kleinsten gemeinsamen Nenner'' sollten die Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, auf weiteren Gebieten "gemeinsame Lösungen zu suchen", vgl. C. Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat. 1997, S. 45. 320 Zu diesem Begriff siehe auch S. Habe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, in: Der Staat, Nr. 32 ( 1993), S. 245 ff., 246.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ten, der im Interesse der Bürger die Organe zu Stellungnahmen auffordern kann (Art. 195 EGV). Gleichzeitig haben s ich im Laufe der Integrationsgeschichte immer mehr allgemein als "demokratisch" bezeichnete Rechtsgrundsätze entwickelt, wie das Verhältnismäßigkeilsprinzip und die Rechtss icherheit Die vetfassungsmäßige Begrenzung von Hoheitsgewalt zum Schutz des Einzelnen in Fonn von Grund- und Bürge rrechten ist im Prozess der schrittweisen Vertragsänderungen ebenfalls ausgebaut worden. Laut Art. 6 EUV achtet die Union die Grundrechte, welche in der EMRK "gewährleistet sind" und die sich aus den "gemeinsamen Verfassunge n der Mitgliedsstaaten ergeben". Dazu gehören seit "Amsterdam" auch der Schutz vor "Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion" oder "der Weltanschauung", e iner "Behinderung", des "Alters" oder der "sexuellen Ausrichtung" (Art 13 EGV). In Art. 136 EGV werden zudem grundsätzliche soziale Rechte bestimmt, sowie in Art. 3 Abs. 2 EGV die "Gle ichstellung von Männern und Frauen". Mit dem Vertrag von Nizza ist außerdem ein Frühwarnsystem eingebaut worden: Art. 7 EUV wurde so geändert, dass der Ministerrat auch vorbeugend tätig werden kann, wenn 90 Prozent des Rates feststellen, dass die Gefahr e iner schwerwiegenden Verletzung grundlegender gemeinsamer Werte besteht. Der in Maastricht geschaffene "status activus" der Unionsbürgerschaft soll dem Bürger durch Petitions- und Appellationsrechte e in gewisses ,,Nähe- und Akzeptanzverhältnis" zur Europäischen Union ermöglichen und so zur Integration und Identifikation beitragen. Auch das Subs idiaritätsprinzipm (Art. 5 EGV) soll garantieren, dass Entscheidungen "möglichst bürgernah getroffen werden sollen" (Präambel EUV).'28 G leichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit gedacht: "Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedssta aten" (Art. 6, Abs.3 EUV).
(2) Die Qualijika.rion der Vertrltge durch den EuCH ein "europllisches Marbury vs. Madison" Die konstitutionellen Merkmale des bisherigen Gemeinschaftsrechts erschließen s ich nicht nur aus dem Wortlaut der Verträge, sondern auch aus höchstrichte rlichen Leitentscheidungen."" In seiner Rolle als unabhängige permanente Ge327 Die Lit. zum "Subsidiarittitsprinzip" ist uferlos. Vgl. etwa H . Leclie/er, Das Subsidiaritätsprinzip- Strukturprinzip einer europäischen Union, 1993; P. Häber/e, Das Prinzip der
Subsidiarilät aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre , in: AöR 11 8 ( 1994), S . 169 ff. ; A. Riklin/G. Bmliner (Hrsg.), SubsidiariJäJ, 1994; D. Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993. 323
Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staats-
angehörigkeit gedacht: "Die Union achtet d ie nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten"' (Art. 6, Abs. 3 EUV) . 329 Die diesbezüglichen Ans..1tze des französischen Conseil Constitutionnel beleuchtet J. Durheil de Ia Rocltere, The French Conseil Cons-lituionnel and the constitutional
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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richtsinstanz ftir die Wahrung des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH als "Markstein" rechtsschöpferischer Gerichtsbarkeit das Gemei nschaftsrecht von der völkenechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung auf eine Verfassung entwickelt. 330 Dieser KonstitutionalisieJUngsprozess durch den EuG H ist gekennzeichnet durch zwei Grundprinzipien: Die dire kte Wirkung des EG-Rechts auf den Bürger und der Vorrang der europäischen Rechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten. development of the European Union, in: M. Kloepfer/1. Pernice (Hrsg.), Entw icklungsperspe ktiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam, 1999, S. 43 ff. Das BVerfG hat verschiedentlich untechnisch von einer Gemeinschaftsverfassung gesprochen, zur verfassungstheoretischen Einord nung der Verträge aber bislang nicht Stellung genommen. Gleichwohl ist (trotz inHationärer Literatur) in diesem Z usammenhang die "Maastricht"-Entscheidung des BVerfG vom 12. Oktober 1993 zu nennen, in welchem das BVerfG den Gründungsvertrag der Union sowie die Europäische Union selbs-t mit folgenden V/orten qualifizie rt: "Der Vertrag begründet e inen europäischen Staatenverbund, der von den Mitg liedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; e r betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in s upranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat [ .. . ]. Der Unions-Vertrag begründet [ ... ) e inen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der- staatlich organisierten- Völker Europas, keinen sich a uf e in europäisches Staatsvolk stützenden Staat [ . .. ]. \ Vohin e in europ..1.ischer Integrationsprozess nach weiteren Vertragsänderungen letz tlich führen soll, mag in der Chiffre der , Europäischen Union • zwar im Anliegen einer weiteren Integration angedeutet sein, bleibt im gemeinten Ziel letztlich jedoch offen. Jedenfalls ist eine Gründung ,Vereinigter Staaten von Europa ~, d ie der Staatswerdung der Vereinigten Staate n von Amerika vergleichbar wäre, derzeit nicht beabsichtigt" (BVerfGE 89, S. 155 ff. (Rdnr. 33, 51, 53}. Damit verwir ft das BVerfG nicht nur (für den damaligen lntegrationsstand} jed\veden Staatsbezug, sondern sieht auch fU r d ie weitere Ausgestaltung der Gemeinschaften bzw. der Union - nicht e inmal fü r die Verwirklichung der Wirtschafts- und \Vährungsunion- .,keinen in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren ,Automatismus"' (BVerfGE ebenda, Rdnr. 88), der unte r Umständen zu Formen föde raler Staatlichkeil fUh ren könnte. ln der vom BVerfG gewählten Beschreibung der Europäischen Union a ls "Staatenverbund" drückt sich allerdings die ganze Hilflos igke it nicht nur der Doktrin, sondern auch der höchstrichterlichen Judikatur mitgliedstaatlicher Gerichte aus, die hybride Rechtsnaturder Europäischen Union auch nur einigermaßen exakt zu beschreiben. Der Begriff "Staatenverbund" stellt in diesem Zusammenhang (und bis zur \vegweisenden Ausgestaltung d urch I. Pernice. vgl. statt vieler Aufsätze ders. , Die Dritte Gewalt im europäischen Verfass ungsverbund, in: EuR 1996, S. 27 ff.) geradezu den Schulfall e iner "semantischen Leerformel" dar, täuscht e r doch- allerdings nur auf der semantischen Ebene- einen (vermeintlichen) Konsens in der (völkerrechtlichen) Lehre der Staatenverbindungen über d ie rechtliche Qualität der Europäischen Union vor, der als solcher aber nicht existiert. 330 Vgl. auch M.A. Dauses, Die Rolle des EuGH als Verfassungsgericht der EU. in: Integration, 4/1994, S. 2 15 ff., 2 15. Zu e bendieser Rolle des EuGH als "Verfassu ngsgericht" siehe bereits G. C. Rodn'guez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, in: EuR 1992, S. 225 ff.; T. Hirzei-Cassagnes, Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches ,Verfassungsgericht'?, in: APuZ, B. 52-53/2000. Siehe auch F. G. Jacobs, A new Constitutional Ro Je for the European Court of Justice in the next decade?, in: M. Kloepfer/1. Pemice (Hrsg.}, Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam, Baden-Baden 1999, S. 56 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der EuGH entschied bereits 1963 in der berühmten Rs. Va11 Ge11d & Laos, dass EGRecht anders als in internationalen Organisationen nicht nur ftir Staaten, sondern auch unmitte lbar ftir deren Bürger gilt, indem er den Bürgern die Möglichkeit gab, Gemeinschaftsrecht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen.'" Die nationalen Gerichte müssen demnach EG-Recht unabhängig von der jeweiligen Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten anwenden. Mit der Ausweitung der Klagemöglichkeit auf Einzelpersonen und Untemehmen ist der EuGH nicht mehr nur "Kontrollorgan der Staaten und der Gemeinschaftsorgane", sondern- wie e in Verfassungsgericht- auch ein "Gralshüter" jener Rechte und Freiheiten der EGBürger, die in den Vertragstexten begründet sind. 332 Den übergeordneten Charakte r des EG-Rechts vor nationalem Recht bestätigte der EuGH kurz darauf in der
Rs. Costa/ENEL: " Mit der Übe rtragung von Hoheitsrechten f... ] a uf d ie Gemeinschaft f ... ] haben die Mitgliedsstaaten ihre [ .. . ] Souver.initätsrechte beschränktund so e inen Rechtskörper geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich ist."m
Mit dieser Rechtssprechung wurde den Verträgen Vorrang vor nationalem Recht verliehen, indem spezifischen europäischen Freiheiten des Einzelnen gegen Eingriffe der Mitgliedsstaaten Schutz erwuchs. Um dieser verfassungsmäßigen Begrenzungs funktion von Hoheitsgewalt auch auf der Ebene der Europäischen Union gerecht zu werden, integrierte der EuGH e ine "Grundrechtsdoktrin" in seine Rechtssprechung, welche über die im EWG-Vertrag vorgesehenen wirtschaftlichen Freiheiten und den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Nationalität hinausreichte. Weil die Verträge selbst keinen Grundrechtskatalog bes itzen, berief sich der EuGH seit 1970 (Rs. lmema.rionole Handelsgesellsc/wfr) auf die gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedsstaaten und der EMRK."' Ebenfalls in der Rs. Va11 Gend & Laos hatte sich der EuGH 1963 mit der Rechtsnatur der EWG und deren Gründungsvertrag auseinander zu setzen gehabt335 und dabei statuiert, dass der EWG-Vertrag "mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpftichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet" sowie "dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souve331
332 333 334
Vgl. EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. I ff., 24. So auch M.A. Dauses (1994), S. 215. EuGH, Rs. 6164, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 11 4 1 ff., 125 I. Die Organe müssen demnach bei der Gesetzgebung, die Mitgliedsstaaten bei der
Umsetzung von EG-Recht diese Menschenrechte beachten. Auch ohne Grundrechtskatalog
gab es also genügend Mechanismen, die sicherstellen, "dass die Organe und Mitgliedsstaaten die Grenzen der ihnen übertragenen öffentlichen Autorität nicht überschreiten" {so U. K. Preuß, Auf derSuche nach Europas Verfassung, in: Transit 1999 (17), S. 154 ff., 155). 335 Vgl. hierzu sowie zu den weiteren relevanten Ansätzen des EuGH W Hummer, "Verfassungs- Konvent" und neue Konventsmethode, in: Politische Studien, Sonderband 112003, s. 54 rr., 57 r.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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ränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen s ind". 336 Ein Jahr später entwickelt der EuGH in der benannten Rs. Costal ENEL diesen Gedanken der Eigenständigkeil der Rechtsordnung der EWG weiter fort: ,.Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen [ .. . ) Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfahigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenngleich auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der flir ihre Angehörigen und flir sie selbst verbindlich ist. odn
Dieser von ihm selbst benannte völkerrechtliche Ursprung der Europäischen Gemeinschaften hinderte den EuGH hingegen nicht, wiederholt deren Gründungsverträge als "Verfassungen" zu bezeichnen und damit (gewollt oder ungewollt) eine staatsrechtliche Analogie zu ziehen. So bediente sich der EuGH erstmals der Begrifftichke il "Verfassung" - wenngleich zunächst noch in Form eines bloßen obiter dictum - in seinem Gu.tachten 1176"', wo er von der "inneren Verfassung der Gemeinschaft" spricht, im Anschluß aber bereits pointiert in der Rs. Les Verts, in der er den EWG-Vertrag explizit als "die Verfassungsurkunde der Gemeinschaft" bezeichnet..l.l• Diese Formulierung nimmt der EuGH in der Folge in der Rs. Zwarrve/d wieder auf und postuliert, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, "ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen". 340 Im Gwachten 1191 qualifiziert der EuGH den EWG-Vettrag (kontrastierend zum EWR-Vertrag) wie folgt: " Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl e r in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.u)4l
336
EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. I ff., 25. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 11 4 1 ff. "' EuGH, Gutachten 1176 vom 26. April 1977, Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt, S lg. 1977, S. 74 1 ff. 339 In der französischen Fassung: "charte constitutionnelle de base". vgl. insgesamt EuGH, Rs. 294/83, Porti ecologiste " Les Verts"/Europäisches Parlament, Slg. 1986, S. 1339ff. 340 EuGH, Rs. C-2/88, J.J. Zwartveld u.a., Beschluss vom 13.Juli 1990, Slg. l 990, S. 1-3365, Rdnr.l6. 341 EuGH, Gutachten 1191 vom 14. Dezember 1991 , EWR, S lg. 1991 S. 6079ff. 337
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Schließlich sucht der EuGH in der Rs. Beate Weber wieder den Kontext zu seiner Formulierung in der Rs. Zwartl'eld, inde m er die Zulässigke il einer Nichtigkeitsklage damit begründet, dass "weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen":'" Im Übrigen stellte auch das EuG in der Rs. Martfnez fest, dass der G1ündungsvertrag der EG als "Verfassungsurkunde" der Gemeinschaft zu e rachten ist:'" Im Ergebnis hat der EuGH die verfassungsrechtliche Sichtweise zunächst durch seine kontinuierlich rechtsstaatlich-staatsanaloge und systembildende Rechtsprechung gefördert und schließlich mit der Entscheidung Les Verts von I986 und dem I. Gutachten zum EWR-Abkommen von 199 I übernommen, ohne sie allerdings näher zu begründen oder zu erläutern . Andererseits ist sich der EuGH aber durchaus der Grenzen einer solchen staatsrechtliche n Analogie bewusst, vor allem was e inen eventuellen "foderalen" Charakter der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen den Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten betrifft ..... Insgesamt lässt s ich mit Blick auf die Le itentscheidungen des EuGH (insbesondere 1963 und 1964) undangesichtsder Parallelen zu den US-Entwicklungen von e inem "europäischen Marbury vs. Madison"'" sprechen.
341 EuGH, Rs. C-314 /91, Beate Weber/Europäisches Parlament, Slg. 1993,S.I- 1093 ff., Rdnr.8. 343 EuG, verb. Rs. T-222, 327 und 329/99, Jean Claude Martinez ua/Europäisches Parlament, Slg. 200 1, S. ll-2823, Rdnr. 48. 344 So 'veist er zu dem Vorbringen der deutschen Bundesregierung in der Rs. C-3591 92 - die der Kommission in Art. 9 der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie (1992) eingeräumte Befugnis stehe "in Widerspruch zu der Verteilung der Befugnisse zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitg liedstaaten'' und gehe damit "über die Befugnisse hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland dem Bund gegenüber den Ländern zustünden" - darauf hin, "dass die Vorschriften, die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und ihren ~·litgl i edstaaten betreffen, nicht die g leichen sind wie diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander verbinden·· (EuGH. Rs. C-359/92, Deutschland/ Rat, Slg. 1994, S. l-368 1 ff. , S. l-37 12 , Rdnr.38). Auch der Generalanwalt F. G. Jacobs weist in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache darauf hin>dass "mir eine solche Analogie zur Verteilung der Befugnisse nach der deutschen Verfassungjedoch neben der Sache zu liegen [scheint]" (vgl. die Schlussanträge des GA Jacobs in der Rs. C-359/92 (Fn. 34), S. 1-3694, Rdnr.39). Damit e rkennen sowohl der EuGH als a uch der Generalanwalt, dass die .,vertikale Kompetenzverteilung" im Sinne einer(bloßen) "begrenzten Einzelermächtigung" mit final ausgerichteten Organkompetenzen zwischen den Mitg liedstaaten der Gemeinschaften bzw. der Union mit der bundesrepublikanischen föderalen Kompetenzverteilung nichts gemein hat, sondern anderen Gesetzmäßigkeilen-außerhalb des Staatsrechts- folgt. Vgl. auch lv. Hummer (2003), S. 57 f. 345 Zur zitierten Entscheidung des US-Supreme Courts unter B. IV. 2b)aa).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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(3) Völkerreclllliche Qualijikarionen
Neuerdings wird der herrschenden Qualifikation'"' e iner zwischen den beiden Polen ei nes völkerrechtl ichen Staatenbundes bzw. eines staatsrechtlichen Bundesstaates'" angesiedelten gegenwärtigen Hybridform als Gebilde "sui generis" insoweit e ntgegengetreten, als dies nicht schlüssig d ie Existenz einer e igenen autonomen Rechtsordnung im Sinne einer "Iex contractus" 34' nach sich ziehen muss. Vielmehr seien die Kategorien der A llgemeinen Staatslehre sowie der Lehre von den völkerrechtlichen Staatenverbindungen 349 flexibel genug, um auch e ine Einordnung der Europäischen Union nach herkömm licher Terminologie vornehmen zu können."" Selbst das Abgrenzungskriterium der "Kompetenz-Kompete nz" stellt keine plausible Trennlinie dar. Denn völkerrechtlich ist die souveräne Selbstbestimmung, also die Unabhängigke it von Dritten entscheidend, nicht aber, ob innerhalb der Staatenverbindung die "Kompetenz-Kompetenz" bei der zentralen oder bei den dezentralisierten Einheiten lieg!. Letzte res isl wiederum maßgeblich ftir die föderale Ausgestaltung und die Gewaltenbalance in diesem Verbund, nicht aber für die Selbstständigkeit gegenüber Dritten, die aus völkerrechtlicher S icht das Krite rium ftir den Bestand e iner "Staatsgewalt" darstellt.'" Bezug nehmend auf die klassische "Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechts für das Vorliegen eines souveränen Staates wird behauptet, dass der EU eben jene drei Elemente fehlen würden: Im Sinne eines "dualistischen Rechtsdenkens". Einem sehr aUgemeinen Ansatz folgend liegt der Unterschied zwischen Staatenbünden und Bundesstaaten g rundsätzlich im Ausmaß der Zentralisierung bzw. Dezentralisierung der Aufgabenwahrnehmung, wobei die Grenzen aber fließend sind. 343 Vgl. P. Fischer, Die EU - e ine autonome Rechtsgemeinschaft? Gleichzeitig e in l4b
347
"Ver fassungs- Konvent" und neue Konventsmethode. Beitrag zur Problematik des dua-
listischen Rechtsdenkens in der internationalen Jurisprudenz, in: \ V. Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Völke rrechtler zu aktuellen Problemlagen, 2003, S. 3 ff. 349 Klassikeretwa G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882; J. L KrttJZ, Die Staatenverbindungen, 1929; H. Ke/sen, General Theory of Law and State, 1949; R. Bindsched/er, Rechtsfragen der europäischen Einigung. Ein Beitrag zu der Lehre von den Staatenverbindungen, 1954. 350 Diese Beobachtung und Differenzierung stützt sich auf W Hrtmmel"> »VerfassungsKonvent"' und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Arg umente, Sonderheft 1/2003, S. 53 ff. 56. Vgl. auch S. Griller, Der "Sui Generis-Charakter" der EU und die Konsequenzen für die Verfassungsoptionen. Ein Versuch der Entmythologisierung des Verfassungsstreits, in: \ V. Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Europarechtler zu aktuellen Problemlagen, 2003, S. 23 ff.; siehe a uch A. Riklin, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenverbindungen, 1972, S. 330 ff. 351 Vgl. a uch S. Gri/ler (2003), S. 26 ff.
130
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
- So habe sie bereits kein Staatsvolk, sondern gem. Art. 17 EGV nur Unionsbürger und es existierten gem. Art. 189 EGV nur die "Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten", aber kein einheitliches europäisches Staatsvolk. - Des Weiteren sei der Europäischen Union kein Staatsgebiet zuzuordnen, sondern nur ein gem. Art. 299 EGV über die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaaten umschriebener räumlicher Geltungsbereich ihres Gründungsvertrages. - Zuletzt fehle ihr auch die Staatsgewalt, da das Gewaltmonopol nach wie vor bei den Mitgliedstaaten liege. Alle diese Einwände lassen jedoch nicht zwingende Argumentationslinien erkennen. 352 Hinsichtlich der Existenzeines "europäischen Volkes" verlangt das Völkerrecht kein homogenes Staatsvolk bzw. eine "subjektive Bekenntnisgemeinschaft" im Sinne einer "Nation", sondern rekurriert auf die Bevölkerung als Anzahl sesshafter Menschen. Bezüglich des Staatsgebietes stellt das Völkerrecht nur auf den Bestand eines gesicherten Raumes ab, auf dem das Staatsvolk seine Herrschaft ausüben kann. '" Und betreffs der fehlenden Staatsgewalt wurde vorstehend schon ausgeflihrt, dass es nur auf die souveräne Selbstregierung und rechtliche Unabhängigkeit ankommen könne, nicht aber darauf, wie die Wahrnehmung der Staatsgewalt in der Staatenverbindung intern aufgeteilt ist. Im Wesentlichen ist die noch fehlende "Staatsqualität" des (völkerrechtlichen) Staatenbundes Europäische Union auf den mangelnden Staatsgründungswillen ihrer Mitgliedstaaten zutückzuführen und weniger auf die fehlende hinreichende Staatsgewalt oder die in den Gründungsverträgen enthaltenen Garantien fiir die einzelstaatliche Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV) und Selbstständigkeit.'"
351
Die folgenden völkerrechtlichen Begründungsansätze lehnen sich an W Hummer,
"Verfassungs- Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent-Strategien und Argu-
mente, Sonderheft 1/2003, S. 53 ff., 56 an. 353 Hierlu auch S. G,.iller, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunft der Europäischen Union, lEF Working Paper Nr. 2 1, 1996, S. 14: "Wamm d ie Festlegung dieses Gebiets in der >Staatsverfassung' nicht unter Bezugnahme auf die räumliche Abgrenzung seiner territorialen Untergliederungen>etwa der Länder einer bundesstaatHellen Organisation, möglich sein soll -etwa in Form von Art. 3 8 -VG: ,Das Bundesgebiet umfasst die Gebiete der Bundesländer' - bleibt unerfindlich". 354 Bezüglich der damit zusammenhängenden, dogmatisch ebenfalls bestrittene Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Union unterscheidet W: Hummer (2003). ebenda, zwischen einer "lnnensicht"' im Sinne einer "Autostereotypisierung'" und einer "Außensicht" im Sinne einer "Heterostereotypisierung'". Im Inneren wachse "derUnion implizit vor allem über den bereits durch sie selbst mehrfach erfolgten Vertragsschluss mit Drittstaaten gern. Art. 24 EUV mehr und mehr Handlungsfähigkeit und damit (partielle) Rechtspersönlichkeit im Völkerrecht zu, hinsichtlich des ,Außenaspektes' muss ein in der Literatur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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(4) Konslillllionelle DefiziTe der Verträge Der "Komplementärverfassungscharakter" der Verträge birgt jedoch auch konstitutionelle Mängel, von denen einige in der gebotenen Kürze dargestellt werden sollen. Unzureichend ist zunächst die Legilima.rionsfunkrion der Verträge . Der EuGH stützte seine Urteile wie zitiert auf die Annahme, dass die Gemeinschaft eine "neue Rechtsordnung des Völkerrechts" darstellt, "zu deren Gunsten die Staate n ( .. . ) ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben". m Aus einer engen, verfassungstheoretischen Perspektive ist dies nicht unproblematisch, da sich die Souveränität der europäischen Rechtsordnung nicht auf den vorrechtliehen pouvoir constituam e ine r politischen Gemeinschaft, sondern letztlich auf die Rechtssprechung eines durch Verträge geschaffenen Gerichtshofes stützt. Auch das Europäische Parlament als schwächstes Organ der Gemeinschaft kann wegen seiner mangelhaften Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten nur unzureichend die konstitutionelle Legitimationsfunktion übernehmen. De r Bürger bleibt durch seine rudimentären Mitwirkungs- und Kontrollrechte eher e in "Zaungast des eigenen Schicksals", der es schwer hat, die "neue Formation öffentlicher Gewalt zu verstehen und sich selbst als Subjekt dieser Entwicklung zu erkennen"."'6 Auf dieses vielbeklagte Demokratiedefizit 357 stützt sich die Meinung, die Europäische Union sei generell nicht verfassungsfahig "', da der Bürger zwar immer mehr an die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft gebunden ist, seine demokratischen Mitwirkungsrechte aber primär im jeweiligen Mitgliedsstaat ausübt. Demzufolge kann die materielle "Verfassung" der Europäischen Union bere its ihre integrative Kraft nicht vollends
völlig vernachlässigtes Kriterium erwähnt werden, nämlich der Umstand, wie denn die Staatengemeinschaft als solche die EU als .,internationalen Akteur" sieht. Diese "Heterostereotypisierung" der EU als eigenständige Rechtsperson durch dritte Völkerrechtssubjekte wird mit zunehmender Verdichtung der Außenbeziehungen der EU immer wahrscheinlicher und würde die EU diesbezüglich "von außen"' in Zugzwang bringen, ihre Handlungs- und damit auch Rechtsf..ihigkeit "nachzujustieren". "' EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. I ff., 25. JS& Zitiert nach U. Di Fabio, Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfassung, in: JZ 2000, S. 737 ff., 738. 357 Vgl. nur A. 8/eckmmm, Daseuropäische De mokratieprinzip, in: JZ2001,S. 53 ff. , 57 ; D. Tsmsos , Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, in: JöR 49 (200 I), S. 63 ff., 69 ff. Vgl. auch J. Drexlu. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999; D. Thiirer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und e uroparechtliche Aspekte, in: 0. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling, 1995, Band 2, S. 156 1 ff.; M. Kaufmt/1111, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997. Siehe auch P.M. Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen lntegrationsprozess, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 349 ff.; /. Pemice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 29 ( 1993), S. 449 ff.; H. H. Rupp, Europä ische Verfassung und Demokratische Legitimation, in: AöR 120 ( 1995), S. 269 ff. "' Zur Frage der "Verfassungsfahigkeit" der Union m. w. N. unter 8.11 .2. f)nn )(2)(c).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
entfalten, weil die Bürger sich nicht als Mitträger des durch sie konstituierten Gemeinwesens verstehen."• Als größtes Hemmnis der Bildung eines europäischen öffentlichen Raumes, in dem die Bürger ihre Konftikte austragen könnten, bezeichnet unter Anderen D. Grimm das Fehlen e iner gemeinsamen Sprache, durch das der öffentliche politische Diskurs an nationale Grenzen gebunden bleibe, während im europäischen Raum abseits der Öffentlichkeit geflihrte Fach- und Interessensdiskurse dominieren. "'' Deshalb könne der zum Funktionieren einer Verfassung unerlässliche demokratische Willensbildungsprozess nicht zustande kommen. Eine konstitutionelle Neugründung der Europäischen Union würde zwar den Organen die Fähigkeit geben, neue Hoheitsbefugnisse zu schaffen. Da diese Kompetenz-Kompetenz aber nicht von einer Art europäischem Staatsvolk legitimiert wäre, wäre die durch eine europäische Verfassung vermittelte Legitimation nur eine "Scheinlegitimation".,., Hiergegen ließe sich anführen, dass ein Grundaxiom der europäischen Idee gerade nicht die Homogenität eines Staatsvolks, sondern auf der Basis eines der Pluralität verhafteten Europabildes das "Recht zum Anderssein", die "Garantie für Vielfalt" und die "Selbstbestimmung des Individuums" die erforderlichen Prämissen bilden. Die Legitimität einer solchen primär funktionellen, heterogenen Gemeinschaft erfolgt weniger durch eine politische Gesamtwillensbildung nach parlan1entarischem Muster, sondern durch die Bereitstellung verschiedener Beteiligungsmöglichkeiten auf den politischen Prozess wie lnteressensgruppen, politische Parteien, EU-Organe, Bundesländer und jeweiligen nationalen Parlamente. Da die supranationale Gemeinschaft gerade ihrer dem Nationalstaat gegenüber höheren Problemlösefähigkeit wegen gegründet wurde, ist das wichtigste Legitimitätskriterium der Europäischen Union nicht inptu-detinieJt, also z. B. durch Wahlen, sondern ergibt sich aus ihrem output, d. h. der Leistungsfähigkeit und Effektivität, Probleme zu lösen. Wichtig wäre es deshalb, die Union handlungsfähig und Kanäle zur lnteressensdurchsetzung nutzbar zu machen. Ziel e iner europäi schen Verfassung wäre deshalb nicht, den Nationalstaat zu ersetzen, sondern das
359
Vgl. D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S.581 ff., 581. Unter dieser Prämisse könnte selbst die Stärkung der legislativen Rechte des Europäischen Parlaments dieses Defizit nicht verringern. Denn die Unionsbürger orientieren sich bei der \Vahl der Abgeordneten an Präferenzen. die sich "sachlich in den nationalen nach wie vor segmentierten öffentlichen Meinungen w iders pi ege l n~· (so C. Koenig, Is t die europäische Union verfassungsfähig?, in: DÖV 1998, S. 268 ff., 27 1). J60 D. Grimm ( 1995), S.587, 59 1. 361 In die gleiche Richtung zielte auch das BVerfG in seiner "Maastricht''-Entscheidung vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89, S. 155 ff.). Nur innerhalb der Mitgliedsstaaten könne sich das ,,Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer \Villensbildung entfalten und artikulieren", um so dem, was es ,,relativ homogen - geistig, sozial und politisch -verbindet ( . .. )rechtlichen Ausdruck zu geben".
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
133
Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht und einer auf verschiedenen Ebenen ruhenden gete ilten Souveränität.362 Ein weiteres Defizit der Verträge ist bei der Organisa.rionsfimktion zu seheiL Zwar sind in Art. 7 und Art. I89 ff. EGV die Organe und Ausschüsse der Gemeinschaft, sowie deren Befugnisse und Aufgaben festgelegt. Ein wesentliches Organisationsprinzip der Europäischen Union, die Subsidiarität, ist im Vertrag von Maaslricht sogar in die Präan1bel aufgenommen worden. Eine klare Abgrenzung der Kompetenzen und Normenhierarchie legen die Verträge allerdings nicht fest. Zwar wird die vorrangige Stellung des Vertragsrechts in Art. I 0 EGV deullich, laut dem die Mitgliedsstaaten alle zur Erftillung ihrer Verpflichtungen beitragenden Maßnahmen e rgreifen müssen. Die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union s ind allerdings willkürlich aufgelistet (vgl. Art. 3 EGV) und stimmen nicht mit der Systematik der Art. 23- I88 EGV überein . Es wird weder klargestellt, welche Normen Verfassungsrang haben und welche s ich davon ableiten, noch wird eine qualitative Unterscheidung der e inze lnen Politiken vorgenommen. Es bleibt unklar, in welchen Politiken die Union tatsächlich verantwortlich und entscheidungsbefugl ist, welche Bereiche nur teilweise zur Union gehören oder nur von dieser koordiniert werden und welche Politiken noch rein zwischenstaatlich gemacht werden. 363 Auch die tatsächliche Begrenzungsfimktion der in den Verträgen festgelegten Grundrechte ist beschränkt. Vordem EuGH haben Einzelpersonen kein Klagerecht, und erst seit Amsterdan1 gibt es einen sehr schwerf
und europäischem Verfassungsrecht, 2000. 363
Vgl. zu alledem Centrumfür allgewandte Politikfonclumg, Ein Grundvertrag fürdie Europäisc he Union, 2000, S. 13. 364
Art. 13 EGV: Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung
des Parlaments einstimmige Vorkehrungen treffen, um diese Diskriminierungen [ . .. ] zu bekämpfe n. 365 HierLu G. De Brlrctt, Fundamental Rights and the Reach of EC-Law, in: Oxford Journal of Legal Studies, 3/ 1993, S. 283 ff., 30 I.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auslegung auch nicht lösen, da der Konvention nur Staaten beitreten können, und die Europäische Union ist- wie der EuGH 1994 bestätigte- kein Staat. Das markanteste Defizit der Verträge liegt allerdings bei der /nregrations- und ldemijikationsfimktion. So sind die demokratischen Rechte des Bürgers nur schwer in den Verträgen erkennbar, da sie in einem Jahrzehnte langen Prozes s an verschiedensten Stellen immer wieder eingefügt und ergänzt worden sind. Ähnliches gilt für die vom EuGH entwickelte ungeschriebene Grundrechtsdoktrin, welche selbst für Fachleute gelegentlich diffus erscheint. Zudem kommt erschwerend die komplizierte Sprache des Rechts und die geringe Präsenz des EuGH im Bewusstsein der Bürger im Vergleich mit anderen EU-Institutionen hinzu. J. H. H. Weiler spricht in diesem Zusammenhang von e inem "selfreferential legal universe" ..... Dem Einzelnen ist es bereits deshalb nicht möglich, seine vertraglich verbürgten Rechte umfassend wahrzunehmen, weil er sie kaum erkennen kann. Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch e ine unvermeidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa zu erheblichen Teilen bereits eingetreten ist, besonderes Gewicht: Zwangsläufig büßt die nationale Verfassung einen Teil ihrer politischen Steuerungsfahigkeit ein, denn in ihrem tenitorialen Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht mehr ihrer Autorität unterworfen s ind; zudem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch abweichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen ...., Dieser "graduelle Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten" zeigt s ich insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte , aber auch bei materiellen Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika, die als solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt, auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeitigen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen offensichtlich nicht.
36 • 367
J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 190. Vgl. hierzu ausfUhrliehT Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001,
S. 374 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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mm) Aus der Nizzastarre zum Konvent
(I) Der Post-Niz;.a-Prozess'.. - parlamentarische Einflusssphären Im Lichte der wenig überzeugenden Refom1ergebnisse des Vertrags von Nizza wurde wiederkehrend der Vorteil e ines konventsähnlichen Verfahrens themati s iert. Ein wesentliches Argument für die Forderung nach einer offenen und transparenten Methode jenseits der nationalen Interessensgräben der Regierungskonferenzen war dabei regelmäßig der Hinweis auf die positiven Erfahrungen mit dem Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta, der in nur 18 Sitzungen eines der modernsten Menschenrechtsdokumente und ein deutliches Bekenntnis der Europäischen Union zum europäischen Grundrechte- und Wertemode ll entworfen hatte. Im ersten Halbjahr nach Nizza kristallisierte sich heraus, wie die Debatte über die Zukunft der Europäsche Union und ihre Verfassung strukturiert werden sollte. Die Ratspräsidentschaft übernahm mit Schweden im ersten Halbjahr 200 I e in EU-kritischer "Kleinstaat", der s ich eher mit dem euroskeptischen Großbritannien verbündet sah, die Verfassungsfrage stand nicht explizit auf der Agenda. Dennoch förderte Schweden die "Debatte über die Zukunft Europas", in der es einmal mehr um die bessere Verständlichkeit der Verträge und Strukturen der Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen Mitgliedsstaaten und Union sowie um die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses gehen sollte. Am 17. I. 200 I ste llte Kommissionspräsident R. Prodi e inen dreistufigen Plan über die Strukturierung der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vor.,.• EUKommissar M. Bamier konkretisierte diesen Plan in e iner Rede in Brüssel und bekannte sich ausdrücklich zu dem Wort "Verfassungsvertrag". 370 Am 9. 3. 200 I eröffneten Kommissionspräsident Prodi, der Kommissar flir institutionelle Fragen Bamier und der schwedische Ministerpräsident G. Perssoll eine insgesamt bre iter ange legte und eingehendere Debatte, welche auch im Internet verstärkt geführt werden sollte. 371 363 Hierzu etwa M. Kotuu~ Ein nationaler Beitrag zur Europäischen Verfassungsdiskussion: deutsche Erfahrungen im Post-Nizza-Prozess, in: P. Häberle/M. Morlok/ \V. Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos. Zum 70. Geburtstag am 5. Mai 2003, 2003, S. 257 ff.; C. Dorau, Die Verfassungsfrage der EU- Möglichkeiten und Grenzen der euro~1.ischen Verfassungsentwicklung nach Nizza, 200 I; M. Sto/Jeis, Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002, S. t022 ff. ; P. C. Mii/Jer-Graff, Der Post-NizzaProzess. Auf dem \Veg zu einer neuen europäischen Verfassung, in: Integration 2/200 I, S. 208ff. , .. Vgl. R. Prodi, Rede vor dem Europä ischen Parlament a m 17. I. 200 t: ,,Es ist an der Zeit, die Debatte über die Zukunft Europas Z-ll strukturieren", s. Protokolle der Sitzungen des Europäischem Parlaments. 370
M . Banzier, Rede vor Vertretern der Region Aquitaine und Emilia-Romagna und des
Landes Hessen: "Die Perspektiven der EU nach Nizza", Brüssel, I 8. Januar200 I, abrufbar unter w\vw.europe.eu.int/commligc2000/dialoguelinfo/offdoc/index_de.htm.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein "Rat der Weisen" der zwischenzeitlich auf Ratsebene als Alternative zum Konvent thematisiert wurde, genügte nach fester Überzeugung vie ler Fachausschüsse nationaler Parlamente der Forderung nach mehr De mokratie und Transparenz der Meinungs- und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union nicht. 172 Jedoch gelang es auf der XXIV. COSAC am 21./22. 5 200 1 in Stockholm, die Unterstützung der Ve1treter a ller nationalen Parlamente flir die neue Methode zu gewinnen. "' Hinsichtlich der Zusammensetzung und Arbeitsweise des Gremi-
371
Vgl. Mitteilung von Ministerpräsident G. Perssan anlässtich der Debatte über die Zukunft der Union, März 200 1, Brüsse1200 1; siehe dazu SZ, 9. März200 1, 5 .2, "Die EU tritt vor das Volk'•; d ie Debatte im Internet unter: http://europa.eu.int/futurum.htm. Auch die Regierungschefs setzten ihre Grundsatzreden kontinuierlich fort. Bei seiner Re gierungserklärung vor de m Bundestag zu den Ergebnissen von Nizza a m 19. I. 2001 sagte Bundeskanzler G. Schröde,., dass in Nizza d ie Tür zum neuen Europa aufgestoßen worden sei, v.-elches über e ine verfassungsmäßige Grundlage verfUgen werde (Regierungserklärung vom 19. Januar 2001, vgl. die Prolokolle der Sitzungen des DeuJschen BundesJages). Diese Vision wiederholte Sehröder vor dem Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin (im Rede-Manuskript ist zwar von ,,Verfasstheit" die Rede. Seinen \Vunsch nach einer europäischen Verfassung äußerte er aber s ponlan, vgl. dazu SZ, 22. I. 200 I, S. I: "Wenn Schröders Herz s pricht"). Aufsehen und kritische Stimmen erntete e in Leitaotrag der SPD vom April 200 I, in dem Sehröder in seiner Funktion als Parteichef seine Vorstellungen über die Ausgestaltung der europäischen Verfassung konkretisierte (SPD-Leitantrag "Verantwortung flir Europa", 30.4. 200 1, Be rlin 2001). Kurz zuvorernlete Bundespräsidenl J. Rau vor de m Europ..1ischen Parlament Beifall für sein bereits erwähntes "Plädoyer für e ine Europäische Verfassung" (Rede am 4 . 4. 200 I, SJraßburg). Am 28. 5. 200 I hielt schließlich auch der französische Ministe rpräsident L. Jospit1 seine lang e rwartete Grundsatzrede zur Zukunft Europas, in der er sich u. a. flir e ine europä ische Verfassung aussprach ("Zur Zukunft des erweite rten Europa''). 371 Die ablehnende Haltung des Ausseimsses ftir Europäische Angelegenhdten des Deutschen Bundestages (Beschluss vom 4. April200 I bzw. Bericht vom 6. Juli 200 J) ist bei M. Fuchs/ S. Hartleif I \c Popovic, Einleitung, in: De utscher BundesJag, Re feraJ Öffentlichkeitsarbe it (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvenl, 2002, S. 24 1 ff. dokumentiert. 373 Trotz deutlicher Zurückha ltung des Gastgeberlandes S chweden s prachen sich im Verlauf der Beratungen immer mehr Delegierte für e in konventsähnliches Verfahren in Anlehnung an den Grundrechtekonvent a us. Nachhaltig unterstützt wurde d ie Bundestagsdelegation in ihrer Forderung nach e iner Verfahrensreform von der COSAC-Delegation der Assemblee Nationale und des fran zösischen S enats sowie den Abgeordneten des Europä ischen Parlaments. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedete d ie COSAC e instimm ig bei e iner Stimmenthaltung einen Beitrag, in dem d ie Einrichtung einer am Vorbild G rundrechtekonvent o rientierten Konferenz zur Vorbereitung der Regierungskonfe renz 2004 gefordert wurde, vgl. M. Fuchs I S. Hartleif I V. Popovic (2002), S. 63 1. Nach dem ersten Schulterschluss m it den anderen mitgliedsstaatliehen Parla menten blieb der Europaausschuss des Bundestages in engem Kontakt m it der Bundesregierung über die Frage der weiteren Verfahrensschritte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses. Am 4. Juli 200 I fasste er m it den Stimmen aller Fraktionen einen \Veiteren Konventsbeschluss, vgl. M. Fuchs I S. Hartleif I V. Popo••ic (2002), S. 245 , in de m e r unler andere m forderte, das Mandat des Konvents zur Vorbereitung der Regierungskonfe renz 2004 auf Vorschläge zur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäische n Verfassungsentwicklung
137
ums betonten die Delegationen die Notwendigkeit einer starken und frühzeitigen parlamentarischen Beteil igung. Ebenso wie in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten gewann die Diskussion um den Post-Nizza-Prozess auch innerhalb des Rates immer deutlichere Konturen. Insbesondere die belgisehe EU-Rats präsidentschaft vertrat die Idee des Konventmodells während des 2. Halbjahres 2001 mit großem Nachdruck."' Im Oktober 200 I konnten im Allgemeinen Rat und beim informellen Treffen der EU-Außenminister in Genval auf belgisehe Initiative erste Festlegungen auf die Konventmethode zur Vorbereitung der Regierungs konferenz 2004 erreicht werden. Einig waren die Außenminister über die Zusammensetzung des zweiten Konvents nach dem Vorbild des Grundrechtekonvents- und damit über die starke parlamentarische Komponente - , die gleichberechtigte Einbeziehung der Beitrittsländer sowie den Beginn der Arbeiten unter der folgenden spanischen Ratspräsidentschaft im I. Halbjahr 2002. Weitere wichtige Verfahrensfragen w ie der Umfang des Konventmandats, die Frage eines Gesamttextes oder einer Optionslösung sowie die Einrichtung eines Präsidiums blieben allerdings mangels Konsens noch in der Diskussion. Parallel dazu berieten seit September 2001 die Europaausschüsse des Deutschen Bundestagesm und der Assemblee Nationale über einen gemeinsamen Text zur Zusammensetzung und Arbeitsweise des neuen Konvents. 376 zukünftigen Rolle der Organe der EU sowie ihr Verhältnis zue inander, zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten, z ur Vereinfachung der Verträge, zur künftigen Rolle der nationalen Parlamente sowie zur Integration der Europäischen Grundrechtecharta in d ie Verträge auszu\veiten. Um den Ergebnissen e ines zweiten Konvents in der anschließenden Regierungskonferenz Gewicht zu verleihe n, betonte der Ausschuss die Bedeutung der Erarbeitung e ines e inzigen Ergebnisentwurfs mit der Möglichkeit, in Ausnahmef~illen bei kontroversen Meinungen a lternative Optionen in Form von Mehrheits- und Minderheitsvoten anzuzeigen. Mit diesem Beschluss, der nach den geschäftsordnungsrechtlichen Sonderbefugnissen des Europaausschusses stellvertretend für den Deutschen Bundestag gefasst wurde, vgl. § 93a Abs. 4 GO-BT, sprach sich der Bundestag klar für die Ausdehnung des Konventmandats auf die künftige Gewaltenteilung zwischen den europäischen Institutionen aus, die in der Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der EU von den Staats- und Regierungschefs als The ma der Zukunftsdebatte noch nicht explizit genannt worden war. 374 Zum Auftakt seiner Ratspräsidentscha ft e rklärte der be lgisehe Premierminister G. \lerhofstadr, dass der Post-Nizza-Prozess in ,.die Konstitutionalisienmg der Union"' münden müsse. Vgl. ders., Rede am 24. Juni, "Welche Zukunft für welches Europa?"', 200 I. 375 So befasste sich der Deutsche Bundestag bereits in e iner Sondersitzung des Europaausschusses a m 15. Dezember 2000 (vgl. M. Fuchs/S. Hartleif/ V. Popovic (2002}, S. 49 ff.) mit der Initiative der Bundesregierung zum Anstoß der europaweiten Zukunftsdebatte; die Abgeordneten machte n mehrheitlich deutlich, dass die Ausgestaltung des Prozesses zur Z ukunft der EU und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 e inen neuen Verfahrensa.nsatz erfordere. Dabei wurde das Konventsmodell "als kreative. transparente und unmittelbardemokratisch legitimierte Methode zur Vorbereitung der nächsten Vertragsrevisionsverhandlungen", vgl. M. Fuchs USlV. (2002), ebenda, angesehen. Die Bundestagsabgeordneten ste llten sich damit auf den g le ichen Standpunkt, den a uch das Europäische
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mit Blick auf den Stand der Konventsdiskussion im Rat wurde eine gemeinsame Erklärung an den Europäischen Rat von Laeken verabschiedet"', in der sich die Abgeordneten dafür aussprachen, das Mandat des Konvents auf die Vorlage eines e inz igen Textentwurfs fiir den neuen Grundvertrag der Europäischen Union zu richten und Optionslösungen nur in unvermeidlichen Fällen zu formulieren. Seide Parlamente vertraten die Überzeugung, dass das inhaltliche Mandat des Konvents außerdem die Prüfung weiterer Integrationsschritte in den Bereichen der 2. und 3. Säule umfassen müsse. Die bilaterale Parlamentsinitiative unterstützte damit vorbehaltlos die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der französischen Regierung auf dem deutsch-französischen Gipfel von Nantes vom November200 I, die ehrgeizige Initiativen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie die Einsetzung einer e uropäischen Polizei zur Überwachung der EU-Außengrenzen, die Stärkung von Europol mit dem Ziel einer integrierten Polizei zur Be kämpfung von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität, den Ausbau von Eurojust, den Aufbau e iner europäischen Staatsanwaltschaft, die Perspektive einer gemeinsamen e uropäischen Verteidigung und die Terroris musbekämpfung als Aufgabe der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert hatte. Gleichzeitig lag den Parlamenten besonders an der Ausstattung des Konvents mit einem weit gefassten und seine Autonomie wahrenden Mandat.
Parlament auf europäischer Ebene gegenüber den Staats- und Regierungschefs in seiner Bewertung z.u Nizza einnahm, vgl. M. Fuchs usw. (2002), S. 561 ff. Mit dem Fortschreiten der Ausschussberatungen und im Anschluss an eine öffentliche Anhörung z.ur Zukunftsdebatte in der EU mit nationalen Verfassungsexperten fasste der Europaausschuss des Bundestages im April 200 I zur Vorbereitung der XXIV. COSAC, der gemeinsamen Konferenz der Europaausschösse der nationalen Parlamente und des Europ..1ischen Parlaments einen von allen Bundestagsfraktionen getragenen Beschluss, vgl. M. Fuchs I S. HanleifI V. Popovic (2002), S. 24 1 ff., in dem er forderte, dass die Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer Verfassung im Rahmen des in Niz.za beschlossenen Prozesses zur Zukunft der Europäischen Union verstärkt durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, einschließlich der Parlamente der Beitrittsländer, wahrgenommen werden müssten. Gleichzeitig regten die Ausschussmitglieder an, dass zur Vorbereitung der flir 2004 geplanten Regierungskonferenz eine an den Konvent angelehnte Konferenz zusammengerufen werden sollte, um Vorschläge fUr die Reform der EU zu erarbeiten. Damit hatte der Europaausschuss seine Position zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 frühzeitig festgelegt. 37& Im unmittelbaren Vorfeld des Europ..1.ischen Rats von Laeken trafen am I0. Dezember200 1 die beiden Europaausschüsse zusammen mit den Auswärtigen Ausschüssen und unter Leitung der Parlamentspräsidenten W Thierse und R. Fomi in Paris erstmalig in der Geschichte beider Parlamente zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. 317 Vgl. M. FuchsiS. HartleifIV. Popovic (2002), S. 263 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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(2) Die Erklärung von Laekeneine "stille RevoluTion" der lmegrationsgeschichte Die Staats- und Regierungschefs haben mit der dem Vertrag von Nizza beigefügten Erklärung Nr. 23m zur Zukunft der Union dies unterstrichen, indem sie unter anderem fo lgende Fragen formulierten, die es zu klären galt: - Zum e inen w ie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinz ip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann; - sodann der Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln; - eine Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern ; - die Rolle der nationalen Parlamente in der Archite ktur Europas. Neben der Forderung nach einer Vereinfachung und Neuorganisation des europäischen Vertragswerks und der Integration der Grundrechtecharta in die Verträge wurden konkrete Reformkomplexe wie die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission, die Frage der Be ibehaltung der halbjährlichen Rota tion des EU-Ratsvorsitzes, die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der europäischen und der nationalstaatliehen Ebene, die Stärkung der Rolle der Europäischen Union in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik, Zuwanderung, Kriminalitätsbekämpfung, und der Anstoß zu Veränderungen der Gesetzgebungsinstrumente der Europäischen Union formuliert. Die der Einsetzung des Europäischen Konvents zugrunde liegende Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs im belgiseben Laeken, die Debatte über die künftige Gestalt der Europäischen Union im Rahmen e ines Konvents unter maßgeblicher Beteiligung der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments zu fUhren, wurde zu Recht als historischer Schritt bezeichnet und verdiente sich angesichts der weitgehend zustimmenden Reaktionen in großen Teilen der "europäischen Öffe ntlichkeit" den Begriff einer "stillen Revolution" der e uropäischen lntegrationsgeschichte. Mit der Festlegung auf einen überwiegend aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent hatten die Staats- und Regierungschefs die Unzulänglichkeit der "Methode Regierungskonferenz" flir die gewünschte europaweite Zukunftsdebatte erkannt. Gleichzeitig entsprach der Europäische Rat in Laeke n dem begründeten Ringen der Parlamente in der Europäischen Union um mehr und direkten Einftuss bei der Fortentwicklung der Europäischen Verträge. 373 Dazu R. Wäge11bauer, Zur Zukunft der EU: \Vas bringt die Erklärung von Laeken?, in: ZRP 2002, S. 94 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mit der Erklärung von Laeken war ein tatsächlich zukunftsgerichteter Ausgangspunkt für die Diskussion über die Effizienz e ines neuen Verfahrens zur Vorbereitung künftiger Vertragsrevisionen gefunden. Die intensive Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments bildete schon relativ früh den gedanklichen Ausgangspunkt für den Wunsch nach Einrichtung e ines Konvents. So hatte etwa der Deutsche Bundestag durch den Ausschuß für Europäische Angelegenheiten, der in Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Rechte gemäß Art. 45 GG i. V. m. § 93 a Abs 3 Satz 2 GO-BT am 4 . Juli 200 I e inen entsprechenden plenarersetzenden Beschluß fasste379, unter Rückgriff auf das Konvents-Modell für die Vorbereitungsphase der "Regierungskonferenz 2004" eine umfassende Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments gefordert. Bereits zuvor hatte der Bundesrat in e iner Entschließung zu den Verfahrensaspekten der "Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union" vom I I. Mai 2001 ein Gremium aus Vertretern der nationalen Parlamente unter Einschluss eines Vertreters des Bundesrates, der mitgliedstaatliehen Regierungen, der Organe in der Europäischen Union sowie von Sachverständigen und Vertretem der Beitrittsländer gefordert. Das Europäische Parlament hatte s ich in einer Entschließung diesen Forderungen im Wesentlichen angeschlossen. Auch die Kommission hatte sich bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt ftir ein Konventmodell unter Anlehnung an das im Rahmen der Erarbeitung der Grundrechts-Charta praktizierte Prozedere ausgesprochen. nn) Inkurs : Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ln derZeit um die Erklärung von Laeken spitzte sich die (nicht neue) europäische Debatte über die Verfassungs fähigkeit der Europäischen Union in ents prechender Intensität zu. Eine nähere Betrachtung des Konventverfahrens und seiner Zielsetzung erfordert die Klärung einer elementaren, gleichwohl inftationär abgehandelten Vortrage: von welchem Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ist innerhalb der heutigen Europäischen Union auszugehen? 380 Auch mit Blick auf die späteren Vergleiche mit der US-amerikanischen Verfassungsordnung soll dieser Aspekt eingehender abgehandelt und durch einige, die bisherige Debatte ergänzende Überlegungen angereichert werden. Zudem bedarf es e iner zielfUhrenden Einordnung, um im Rahmen der späteren Betrachtung 379
Vgl. M. Fuchs usw. (2002), S. 245 ff. JSO Aus der unüberschaubaren Lit. insbesondere W: Hertel, SupranationaJität als Verfassungsprinzi p, 1999; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 32 ff., 69ff.; C. Koenig, Ist d ie Europäische Union verfassungsfähig?, in: DÖV 1998, 268 ff. Siehe auch D. Tsatsos , Die Europäische Unionsgrundordnung, in: EuGRZ 1995, S. 287 ff.; I. Pemice, Der Europäische Vervassungsverbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR 48 (2000), S. 205 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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des europäischen "Verfassungsänderungsverfahrens" oder einer "Europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit" gesicherte Grundlagen aufweisen zu können.
(I) Das Velfassungsverständnis- allgemeine Überlegungen Der Facettenreichtum einer Verfassung legt den Schluss nahe, ein Verfassungsverständnis gründe sich auf der geglückten gedanklichen Verbindung ihrer vielfaltigen Elemente. Das Verfassungsverständnis kann nun mittels Begriffen bestimmt werden, die ihrerseits allesamt einer "gemischten""' Definition innewohnen dürften. Nun geht es hier nicht um die Frage, was überhaupt Verfassung ist'", sondern wie sich Verfassung in ihrem jeweiligen Umfeld darstellt. So unscharf zuweilen zwischen Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis unterschieden wird'", so vordergründig unvereinbar (einige, wie C. Schmill gegen R. Smend bestäti gen diese Einschätzung) scheinen sich gewisse Thesen gegenüberzustehen, die eine Annäherung an das Verfassungsverständnis unternehmen. Wenn allerdings das Verfassungsverständnis etwa als Grundlage eines Verständnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Methodik zu begreifen ist, das ersteres wiederum ausgestaltet, so wird man sich nicht auf formale Gesichtspunkte beschränken können. Ähnliches gilt auch flir den Verfassungsvergleich: es bietet sich ein "gemischtes Verfassungsverständnis" an, da eine Gegenüberstellung sich nicht lediglich am Gestaltungswillen des Gesetzgebers (N. Achterberg)'84 , am jewei ligen Entschei dungsmoment (C. Sc/unirr)"' oder an der Akzentuierung planmäßigen, bewussten 331 Ein "gemischtes Verfassungsverständnis" betont P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auß. 1998, S. 397, 399 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 187 ff. Ähnlich K. Hesse, Grundziige des Verfassungsrechts der Bundesre publik Deutschland, 20. Auß. 1995, S. 3 ff., der in Abgrenzung zur Verfassungstheorie fUr die Verfassungsrechtslehre auf einen vielseitig beeinflussten Verfassungsbegriff zurückgreift und diesen wohl mit dem Verfassungsverständnis gleichsetzt. Vgl. aber auch P. Häberle zum (erweiterten) Ansatz eines .,gemischten, kulturwissenschaftlichen Verfassungsverständnisses", ders., Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 9. 382 Auch um dieser Problemstellung beizukommen wird allgemein auf "Hilfsmittel" zurückgegriffen, sei es dass auf die dem Begriffzugrundeliegenden Aufgaben und Zielsetzung abgestellt wird, vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auß. 1995, S. 3, oder a ufihre Funktionen, vgl. etwa R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auß. 1994, S. 187 ff., H. Heller, Staatslehre, 1934 (Neudr. I 963), S. 249ff. 333 Dass mehrere Begriffe zumeist erst ein Verständnis ausbilden können, beweist sich bereits bei den Versuchen, sich sowohl einem Verfassungsverständnis als auch dem angestrebten Verfassungsbegriff mit mehr oder weniger langatmigen Umschreibungen anzunähern. ''" Vgl. N. Achterbag, Die Verfassung a ls Sozialgestaltungsplan, in: ders. (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift fUr H. U. Scupin, 1983, S. 293 ff. ''" Siehe C. Schmi11, Verfassungslehre, 8. Auß. 1993, S. 23.
142
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
organisierten Zusammenwirkens (H. Heller)"" orientieren muss. Einem umfassenden Vergleich ist ebenso wenig e ine Verengung der Sichtweise auf den materiellen oder formellen Sinn zuträgl ich"' wie e ine Begriffsbestimmung durch die Betonung einer "Hauptfunktion", sei es die Verfassungals grundlegende normative Ordnung und Sinnorientierung, in deren fortlaufenden Vollzug s ich die politische Gemeinschaft "integriert" (R. Smend, H. Heller)' .. oder die intendierte Freiheitssicherung durch Machtbeschränkung (H. Ehmke, K. Loewensrein)389 • Die unterschiedlichen Ansätze einer Begriffsbestimmung aus dem deutschen Sprachraum werfe n somit bereits ein vorauseilendes Licht auf die Schwierigkeiten, die im Rahmen der Rechtsvergleichung zu erwarten wären. Gleichwohl wird auch diese Untersuchung auf Versuche eingehen, die einen europäischen (bzw. im späteren Rechtsvergleich den US-amerikanischen) Verfassungsbegriff zu prägen glauben, indes nur als e ine der Komponenten eines übergreifenden Verfassungsverständnisses. Nachdem dieses auch durch seine stete Fortentwicklung geformt wird, ist die hier getätigte Auswahl bestimmender Faktoren unweigerlich fragmentarisch. Dennoch soll unter Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Verfassungsprinzipien und der rechtskulturellen Perspektive für die jeweilige Ausprägung einer Verfassungsentwicklung dem Leitbild eines "gemischten Verfassungsverständnisses" gefolgt werden. Letztlich würde selbst ein befürwortetes einheitliches Vetfassungsverständnis der tatsächlichen Vielfalt einer mehr als zwei Jahrhunderte erprobten amerikanischen Vetfassung und der Bandbreite eines Regelwerks, die den Anforderungen eines vergleichsweise jungen Europas entspringt, kaum gerecht.
(2) Der "europttische" Verfassungsbegriff Die Frage nach der Konstitutionalisierung der Europäischen Union hat ihren Bezugspunkt in der Problematik des Gemeinwesens der Europäischen Union in ihrer (gegenwärtigen) Verfasstheit. Derzeit ist die Europäische Union eine "Komposition" aus drei Europäischen Gemeinschaften und zwei Formen der Zusammenarbeit. Hinzu kommen gemeinsan1 verfasste Grundaufgaben und materielle (z. B. wirtschafts-und sozialpolitische) Ziele (Art. 2 EUV), ein einheitlicher, institutioneller Rahmen (Art. 3-5 EUV) sowie eine gemeinsame Grundwerteorientierung (Art. 6-7 EUV und Europäische Grundrechtecharta). Dies allerdings JSb
Vgl. H. Heller ( 1934).
387
So gibt es Staaten- wie beispielsweise Großbritannien-, die durchaus eine Verfassung im materiellen Sinne, jedoch keine Verfassungsurkunde besitzen, die die tragenden Verfassungsgrunds..1tze z.usammenfaßt.
,.. Vgl. H. Heller ( 1934); R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auft. 1994, S. 187 ff. "'9 Siehe K. LoewensteitJ, Ve rfassungs lehre, 3. Auft . 1975, S. 127 ff., H. Eltmke, Grenzen der Verfassungsändenmg, 1953.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
143
legt nahe, dass die Europäische Union, auch wenn sie als Gemeinwesen sui generis ohne "Staatsqualität" gelten muss, grundsätzlich e in verfassungsbedürftiges Gemeinwesen darstellt. Als eigene Rechtspersönlichkeit 390 mit eigener legislativer,.., administrativ-exekutiver391 und judikativer Gewalt"' übt die Europäische Union kraft ihrer Organe letztlich (quasi-)staatliche Gewalt aus, wobei s ie laut Art. 213 Abs. 2 EGV auf e in Gemeinschaftswohl verpflichtet ist. Juristisch könnte man daraus ein "Verfassungserfordernis" ftir die Europäische Union ableiten bzw. die Notwendigkeit, das politische Ziel, zu einer Gesamtverfassung von Gemeinschaften und Union zu kommen. (a) Zwei Vorfragen Bei allen Qualifizierunge n der bisherigen europäischen Rechtsordnung richtete s ich e ine breite Hoffnung auf e ine "echte" Verfassung. Die Banalität der Begrifftichkeil "echt" verschleiert jedoch die Klärung zweier Grundfragen, die neben den weiteren (sogleich angerissenen) vielschichtigen Debatten- etwa um die "Staatlichkeit" der Europäischen Union- oftmals unterzugehen drohen."' Erstens: gibt es den idealen Typus der Verfassung, den absoluten, platonistisch konzipierten Begriff der Verfassung? Zweitens: selbst wenn die Konstitutional isierung Europas e in "Sonderweg" 395 ist, soll sie ein Sonderweg zur Normalität sein, also die "Konstitutionalisierung" Europas seine "Normalisierung" bedeuten? Hins ichtlich der e rsten Fragestellung s ind weiterhin latente Tendenzen einer gewissen Art der ,,Begriffsjurisprudenz" zu beobachten, die sich jedoch nicht offenbart, sondern oft unauffällig in den Dis kurs hineinzugelangen vermag. Die scheinbare Notwendigkeit stets fester Begrifftichkeilen bietet hierbei eine- wenn auch gelegentlich schwankende - Plattform ftir Begriffsrealismus. Die juristischen Begriffe müssten danach metahistorische Größe sein. Um mit R. von filering zu s prechen, gäbe es e inen ,juristischen Begriffshimmel", wohin der inszenierte Romanist nach seinem Tod endlich kommt:
390
Vgl. d ie Texte ' 'On Art. 6 EGKSV, 281 f. EGV, 188 f. EAGV.
391
Siehe etwa die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen im Sinne von Art. 249
Abs. 2EGV. 391 Vgl. nur die Befugnis zur Aufsicht über staatliche Beihilfen, zur Ahndung von Verstößen gegen die \Vettbewerbsregeln etc. 393 394
Vgl. insb. Art. 220 ff. EGV. Vgl. aber den Redebe itrog von 0. Joua11ja11, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.),
Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 66, 2003, S. I2 ff. 395
So J.H.H. Weiler. Federalisme et constitutionnalisme: le Sonder,veg de I'Europe,
in: R. Dehousse (Hrsg.), Une Constitution pour J'Europe?, 2002, S. I 5 I.
144
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
"In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt, in ihrer Verunstaltung, die sie auf Erden durch Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben, sondern in ihrer vollendeten, Heckenlosen Reinheit und idealen Schönheit.~1)Q6
Das Heraklit'sche !tcivtn pEtentfaltet jedoch auch im Hinblick auf j uristische Grundbegriffe Geltungskraft. Bereits G. Jellinek hatte Anfang des 20. Jahrhunderts diese "im Fluss des historischen Geschehens" gesehen.'"' Auchangesichts e ines e1forde11 ichen Schutzes gegen w issenschaftlich vertarnten Essentialismus sollte alles in allem nicht von einem " idealen Wesen der Verfassung", sondern höchstens von einem geschichtlichen Typus ausgegangen werden. Das Flussprinzip gilt im Übrigen auch flir die zweite Voraussetzung der Frage nach der "echten" Verfassung, nämlich die angedachte ,,Norn1alisierung" Europas. Zwar könnte man in der kongruenten Wandelbarkeit bereits e inen Hinweis hierauf erkennen. Die Europäische Union bleibtjedoch trotz unübersehbarer Parallelen zu verfassungsschöpferischen Vorgängen in der (nationalstaatlichen) VeJfassungsgeschichte auch im Hinblick auf seine Konstitutionalis ierung ein Ansatz sui generis. Z udem ist " Normalisierung" in diesem Kontext und unabhängig vom Ergebnis nicht lediglich mit "Verstaatlichung" gleichzusetzen. Schon die Erklttnmg von Laeken vom 15. 12.2001 weist in diese Richtung. 398 in diesem Kontext ist festzuhalten, dass neben den genannten Gründen die bisherige etatistische Ausrichtung e uropäischer Verfassunggebung schon deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil im Gegensatz zur gelegentlich idealisierten Verfassunggebung nach dem Muster der französischen Revolution eine europäische Verfassung kein Machtvakuum fiillen soll, sondern im Gegenteil bereits vorhandenen staatlichen Macht- und Verfassungsstrukturen entgegentritt. So wurde der Begriff "europäische Ve1fass ung" lange Zeit auch tabuisiert, weil er re flexartige AbwehJTeaktionen vieler Mitgliedsstaaten hervoJTief, da e r in den Argumentationslinien auch die "Staatswerdung" Europas und damit Souveränitätsverluste implizierte. So verblieben die Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte weitgehend im Bereich der symbolischen Politik.
R. ~~on /hering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Neudruck, Darmstadt 1992, S. 249f. 397 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine SJaatslehre, 3. Aufl., 19 14, S. 39. 39• Siehe den Text der Erklärung, u. a. abgedruckt in EuGRZ 200 I, S. 662, wonach der 390
Bürger "mehr Ergebnisse, bessere Antworten auf konkrete Fragen [erwartet], nicht aber
e inen europäischen Superstaat oder e uropäische Organe. die sich mit allem und jedem befassen."
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
145
(b) A llgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbegriffes Seine normative Bedeutunggewann der Verfassungsbegriff erst im I 8. Jahrhundert. 399 Vorher handelte es sich nicht um e inen- im heutigen Sinne- normativen, sondern um einen empirischen Begriff, in den Normen im Wesentlichen lediglich als zustandsbestimmende Elemente eingingen. Wo das Wort "Verfassung" oder ein fremdsprachliches Äquivalent normativ verwendet wurde, meinte es dagegen bestimmte von Herrscher erlassene Gesetze, aber gerade nicht ein Gesetz, das die Herrschaft selbst betreffen sollte."" Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierten sich in zahlre ichen Staaten der Gedanke und die Forderung, ein Staat müsse e ine Verfassung haben, um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere Grund fre iheite n der Bürger zu sichern. In vielen Staaten entstanden politische Bewegungen und tei lweise innere Kämpfe um die Frage, ob der Staat e ine Verfassung erhalten oder ob es beim "verfassungslosen" Zustand verbleiben sollte. So ist die Idee der geschriebenen Verfassung als Grundgesetz des "modernen" Staates eine Frucht des ausgehenden I 8. Jahrhunderts, als sich der Gedanke von der Notwendigkeit die staatliche Herrschaft ordnender und begrenzender Normen sowie das Prinzip der Kodifikation durchsetzte. 401 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Ausdruck "Verfassung" mit verschiedenen Bedeutungen verbunden. 401 Übereinige grund legende Wesensmerkmale besteht jedoch Einigkeit. So wird der Begriff "Verfassung" zumeist als die rechtliche Vgl. A1. Neueshe;,n, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, Deutscher Bericht flir die XX. FIDE-Tagung 2002, S. 10 (abrufbar unter www.fide2002.org/reportseulaw .htm). """ Vgl. D. Grimm, BrauchtEuropa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S. 58 1 ff., 582. " 01 Vgl. K. Srem, Das Staatsrecht der Bundesre publik Deutschland, 2. Auflage, 1984 Band I, S. 48. Gleichwohl wird es als fraglich emchtet, ob es ausschließlich das sich in dieser Zeit formende Ideengut der Aufklärung, der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von religiösen Vorstellungen, oder das Gedankengut der Volkssouveränität, des Liberalismus und der Demokratie gewesen sind, die Verfassungen hervorbrachten, oder ob es nicht auch eine Anknüpfung an ältere, namentlich griechische oder römisch-rechtliche sowie mittelaherliehe Vorstellungen gewesen ist, vgl. auch instruktiv aus den Sammelwerken P. Badura, Verfassung, in: R. Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Band II, 3. Auflage, 1987, Spalte 3738; D. Grimm, Verfassung, in: Görres Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Band S, ?.Auflage, 1989 und 1995, S.634. Wie bereits oben beschrieben wurden diese auf Schaffung eines Verfassungsstaates abzielenden Bestrebungen zuerst auf dem amerikanischen Kontinent in die politische Wirklichkeit umgesetzt, bevor sich in Europa im Jahre 179 1 Frankreich seine erste Verfassung schuf. \Vas Deutschland anbelangt, gaben sich in Anlehnung an die französische Verfassung von 18 14 z.1.hlreiche deutsche Staaten eine Verfassung, so Sachsen-Weimar-Eisenach ( 1 816)~ dann Bayern und Baden ( 1818), Württemberg ( 1819). Im Jahre 1871 trat eine gesamtdeutsche Verfassung, als staatsrechtliche Grundlage des neu geschaffenen deutschen Bundesstaates, in Kraft. Den Anforderungen demokratischer Verfassunggebung genügte aber erst die \Veimarer Verfassung von 1919. 399
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Grundordnung des Gemeinwesens umschrieben. Auch besteht Übereinstimmung darüber, dass in der Verfassung die Leitprinzipien flir die Organisation des Staatverbundes und die Funktionsweise der Staatsgewalt und damit die wesentlichen Entscheidungsstrukturen festgelegt werden. 403 Wie man die begrifjlichen Voraussetzungen der Verfassung definiert, hängt ebenso wie bei den Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit und vielen anderen Fragen der Verfassungstheorie zu einem e rklecklichen Teil von Wertungen ab. Demzufolge Jassen sich kaum zwingende Aussagen treffen, wie s ie bei logischen Fragestellungen möglich s ind. An dieser Stelle soll sich auf diejenigen Merkmale konzentriert werden, die flir die Wirkung der "Verfassung als rechtliche Institution"'"' erforderlich sind. Das s ind im Wesentlichen formelle, aber auch e inige materielle Merkmale (da es eine Verfassung in einem nur formellen oder nur materiellen Sinne faktisch nicht geben kann - auch deswegen ist vie les, was in der europäischen Verfassungsdiskussion als "Verfassung" bezeichnet wird, nicht wirklich als Verfassung i. S. d. Verfassungstheorie anzuerkennen). Gleichwohl bleibt die Unterscheidung von Verfassung im formellen und materiellen Sinne grundlegend. Dabei versucht der formelle Veljasslmgsbegriff eine Antwort auf die Frage zu geben, welche äußerlichen Kriterien (Form, Bestands kraft, einheitliche Urkunde) eine Verfassung kennzeichnen, während der mnrerielle Verfassungsbegriff nach dem Regelungsgehalt eine Zuordnung bestimmter Normen zum Verfassungsrecht vornimmt. Bedeutung und Inhalt beider Verfas sungsbegriffe sind in den Einzelheiten frei lich sehr umstritten.«» Nach verbreiteter Meinung wird im formellen Sinne unter Verfassung das Verfassungsgesetz als das "Grundgesetz" eines Staates versta nden, das besondere Formqualitäten kennzeichnen406: der höchste Rang innerhalb der staatlichen Normenhierarchie (Vorrang der Vetfassung), erschwette Abänderbarkeit, erhöhte Bestandskraft. Die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung, die allen anderen Normen die Regeln der Erzeugung vorgibt und den Geltungsmaßstab bildet, ist die einzige Norm, welche Zulässigkeil und Verfahren der eigenen Abänderbarkeit regelt. Sie lässt s ich auf keine Normenzeugungs regel zurückzuführen. Sie entspringt außerhalb ' 02
Vgl. P. Badura (1987), Spalle 3737 und M. Sachs, Grundgesetz. Kommentar,
3. Auft. 2003, S. 5 I ff. Beachtenswert sind die Begriffsbestimmungen der Verfassung von
G. Jellinek und C. Schmirt, die einen nicht unerheblichen EinHuss auf die Verfassungsrechtslehre ausgeübt haben. Vgl. dazu K. Stern (1984), S. 51 ff. und lv. Henel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1998, S. 77 ff. :IOJ Vgl. etwa J. Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das
Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000, S. I09 "'" Dazu T Schmirz (2001), S. 4 15. 405 Vgl. J. Sclnvarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, I. Aufl. 1984, S. 15 ff., 17.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
147
des Systems staatlich verfasster Legalität im Legitimitätsgrund der Staatlichkeit, der, nach demokratischem Verständnis, im Willen des Volkes liegt. Vetfass ung im materie llen Sinne ist dagegen die rechtliche Grundordnung des Staates. Sie ist die rechtliche Substanz, auf der das Staatsgrundgesetz als die rechtliche Form angelegt ist. Materien der Vetfassung müssen über die des einfachen , dis poniblen Gesetzes durch ihre Bedeutung flir die staatliche Einheit hinausreichen. Zur mate rie llen Verfassung gehören die Staatsform, Grundlagen der Staatsorganisation, der Legitimationsursprung, die Machtverteilung durch die Kompetenzordnung, das Recht der höchsten Staatsorgane sowie Zie le und Grenzen der Staats form. Als wesentliche Charakteristika der Verfassungsordnung eines modernen Staates werden die Staatsorganisation, das Demokmtieprinz ip, die Rechtsstaatlichkeil und der Schutz der Grundrechte betrachtet. 407 (c) Verfassungsfahigkeit und deren Voraussetzungen Die zentrale Frage in der europäischen Verfassungsdiskussion war die, ob der europäische Herrschafts- und Integrationsverband in seiner damaligen (und gegenwärtigen) Gestalt überhaupt eine Verfassung haben kann""', das heißt im Sinne der Verfassungstheorie zu einer Verfassung fahig ist ("Verfassungsfähigkeit"). Diese Debatte hat s ich auch nach dem Verfassungskonvent nicht gänzlich erschöpft. Obgleich man annehmen könnte, dass mit dem schließlich vorgelegten Verfas sungsvertrag der Streit um die Verfassungsfähigkeit obsolet geworden ist, gewann diese Diskussion beispie lsweise bei der Qualifikation des Konventsentwurfs (Verfassung, Vertrag bzw. Verfassungsvertrag41" ) oder e iner etwaigen ("klass ischen" Verfassungs(?)-)Interpretation erneut Aktualität. Über die Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit ist in der Verfassungstheorie bisher kei ne tiefgreifende Diskussion gefiihrt worden, weil der Begriff der 407
Vgl. wiederum J. Schwane. Die Entstehung einereuropäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000, S. 115 ff. :ros Vgl. statt vieler etwa D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S. 58 1 ff.; I. Pemice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty o f Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, in: 36CM LRev. 1999, S. 703 ff.; P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff.; E. -W Böckellförde, \Velchen \Veg geht Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, 1999, S. 68 ff. ; T. Bntha/ J.J. Hesse/C. Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung fUr Europa? Erstes interdisziplinäres "Schwarzkopf- Kolloquium"zur Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 200 I; J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998, S. 9 1 ff.; ders., BrauchtEuropa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: D. Grimm, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996, S . 185 ff. ; G. Franke11bag, The Return of Contract: Problemsand Pitfalls of European Constitutionalism, in: 6 ELJ 2000, S. 257 ff.; E.-U. Petersmatm, ProposaJs for a Con.stitutional Theory and ConstitutionaJ L....'lw ofthe EU, in: 32CMLRev. 1995, S. l 123ff. .,.. Dazu unter B. II. 2. f)qq)(l ).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
"Verfassungsf
Vgl. aber gnmdlegend und zu den nachfolgend aufgeführten Gesichtspunkten aus-
fUhrlieh T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 200 I, S. 404 ff. 411
Der Verf verS-teht in dieser A rbeit unter ,.Supranationaler Union" eine von mehreren Staaten zum Zwecke der Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte, konzeptionell für Aufgaben aller Art offene internationale Organisation, welche ihrer lntegrationsfunktion vor allem dadurch nachkommt, dass sie in erheblichen Umfang durch Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten selbst öffentliche Aufgaben wahrnimmt, vgl. auch d ie Definition von T. Schmitz (2001), S. 168. Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften fallen somit hierunter.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Union eingeräumt ist, dass letzilieh nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung gesprochen werden kann. (d) Staat und Verfassung im "wechselseitigen Korsett"? Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die Institution der Vetfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates verbunden. Ihre TI1eorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfas sunggebungen, die als Referenz dienten, fanden in den Staaten statt. Nach diesem vielfach als "klassisch" bestimmtem Verständnis werden die Funktionen und Vorrausselzungen der Verfassung auf das Bild eines in s ich geschlossenen, in völliger Selbständigkeit handelnden Staates bezogen."' Auch C. Scltmitt wählte in seiner "Verfassungslehre" eine ähnliche, vergleichbar enge Formulierung, indem er "Verfassung" (kontrastierend zum "Verfassungsgesetz") als Dezision über die Form und Grundstruktur eines schon vorgegebenen Staates bezeichnete. 413 Dieses auf die Hege/' sehe Staatsphilosophie zurückgehende'" staatszentrierte Verständnis von Ve rfassung lässt die Annahme, es existiere bereits eine europäische Verfassung, ebenso wenig zu wie die Behauptung, die Europäische Union könne s ich in näherer Zukunft eine Verfassung zulegen. Der Staatsbezug ist darauf zurückzuflihren, dass lange Zeit nur der Staat als territorial gebundene, allein zu allgemeinverbindlicher Entscheidung und zu zwangsweisem Vollzug legitimierte Einrichtung durch seine Souveränität, d . h. sein ausschließliches Recht, über ein definiertes Gebiet einem Geltungs- und Anwendungsbefehl konstitutiv zur Wirkung zu verhelfen, die Effektivität der Verfassung garantieren konnte."' Bezeichnet man nun den souveränen Staat als Rechtsvoraussetzungsbegriff und die Konstituente, den "pouvoir constituant", als nur aus diesem Grund frei , besteht nach dem so genannten "normativen staatsbezogenen Verfas sungsbegriff' folglich eine Konnexität von souveränem Staat und Verfassung41 6 , wenn nicht sogar eine wechselseitige korsettartige Verbindung. 12
Vgl. W Wesse/s, Die europäischen Staaten und ihre Union - Staatsbilder in der Diskussion, in: H. Schneider/D. Biehi/W. Wessets (Hrsg.), Föderale Union - Europas Zukunft?, 1994, S. SI ff., 53. :tll C. Schmitr, Verfassungslehre, 1928, S. I Iff sowie zur Differenzierung von Verfassung und Verfassungsgesetz, ebendaS. 3: "Das Wort , Verfassung' muss auf die Verfassung des Staates, d. h. der po litischen E~nhe it eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Verständigung möglich sein soll". 1 " " Für Heget ist der Staat als "die \Virklichkeit der Sittlichen Idee~· das .,an und fürsich Vernüftige", vgl. G. WF. Hege/, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 , S. 398f. (§§ 257 ff.); Zum modernen sittlichen Staat vgl. II' Pauly, Hege! und d ie Frage nach dem Staat, in: Der Staat 2000, S.381 ff., vor allem 392 ff., E.-11' Biickenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978. " 15 Herleitung nach D. Nohlenl R.-0. Sclmltze, Lexikon der Politik, Band I: Po litische Theorie, 1995, S. 605. "
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auch hinsichtlich der e uropäischen Dimension wurde der Begriff der Verfas sung zunächst herkömmlich und überwiegend auf den Staat bezogen gedacht. 417 ln der Konsequenz könne nach dieser Auffassung die Europäische Union keine Verfassung haben, denn s ie sei kein Staat.'" Da sie auch ke in Volk im traditionellen Sinne \'Orzuweisen habe, gebe es noch nicht einmal eine verfassungsgebende Gewalt. Dieser weiterhin von den früheren Richtern am Bundesverfassungsgericht P. Kirchhof und D. Grimm vertretenen Vorste llung hat /. Pemice einen " postnationalen" Verfassungsbegriff entgegengestellt."• Er ist funktional bestimmt und begründet s ich auf dem von P. Häberle formulierten Gedanken, dass es nicht mehr "Staat" geben kann, als die Verfassung konstituiert. ' 20 Der Staat ist demzufolge der Verfassung nicht vorgelagert, wird von ihr nicht vorausgesetzt, sondern durch sie konstituiert. Mit dem Wandel des Staates und seinen Funktionen wird nach dieser Auffassung das Bedürfnis nach einem "offenen Verfassungsbegriff" evident."'
So D. Blumenw;tz 1 Wer gibt die Verfassung Europas?~ in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent- Strategien und Argumente, Sonderheft 1/2003, S. 44 ff., 47f. 417 Vgl. nur P. Kirchhof Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesre publik Deutschland, in: J. lsensee (Hrsg.), Europa als polirische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 63 ff., 82. " 13 ln diesem Sinne auch U. di Fabio, Ist die Staatswerdung Europas unaus\veichlich? Die Spannung zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitg liedstaaten ist kein Hindernis fUr die Einheit Europas, in: FAZ v. 2. 2. 200 I, S. 8, "[ ... ]dass es eine europäische Verfassung im herkömmlichen Sinne staatlicher verfassungsgebender Gewalt nicht gibt, \Vohl aber einen funktionellen Verfas.sungsvertrag, den man, um Missverständnisse auszuschließen, die Europäische Charta nennen könnte". Allerdings auch ders., Eine europäische Charta. Auf dem Weg zu einer Unionsverfassung , in: JZ 2000, S. 737 ff., 739, wonach "[ . .. ] wir uns längst im Strudel des Epochenwechsels befinden, der die Konnexität von souveränem Staat und Verfassung auHös-t'', und es nicht mehr erlaubt ist, ,,auf der klassischen Idee von der Verfassung als Ausdn1ck staatlicher Selbstherrschaft zu beharren"'. " 19 / . Pemice, Europ..1.isches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, VVDStRL 60 (200 1), Ziff. ll . (i. E.); vgl. a uch ders. , Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier, in: He rbert Quandt-Stiftung (Hrsg.}, 16. Sinclair-Haus Gespr'.ich. Europas VerfassungEine Ordnung fUr die Zukunft der Union, 200 I, S. 18 ff., 20 f. Grundsätzlich J. Habermas, Die postnationale Konstellation. Po litische Essays 1 J998, S. I05 ff. sowie speziell zur Entwicklung in der Europäischen Union D. H. Scheuing , Zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, in: J. Drexl u. a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, S. 87 ff. 420 Vgl. P. Häber/e, Verfassungslehre als Kulturwissenschaf~ 2. Aufl. 1998, S. 620; ders., Europäische Verfassungslehre - E~n Projekt, in: ders., Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 16. Ihm letztlich folgend : H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zur SozjoJogie der Verfassung?, in: JZ 1999, S. I 065 ff., I066; vgl. auch K. Soborta, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 30 ff. 421 Dies umfasst eine "Offenheit" für die rechtliche Erfassung supra- und internationaler Strukturen gleicher Ziel- und z,vecksetzung, vgl. /. Per~~ice. Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier, in: Herber! Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas Verfassung-Eine Ordnung fUrdie Zukunft der Union, 2001, S. 18 ff., 20. Für einen vom 41 &
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Mit der Supranationalen Union existiert nunmehr e ine völkerrechtliche Organisationsform, die dem Staat nahe kommt, doch wird bis heute vielfach in Zweifel gezogen, ob dies schon eine Übertragung der eigentlichen Verfassungsidee zulässt. Zwar bedarf die Union ebenso wie der Staat eines festen Rahmens, der sie bei aller Entwicklungsoffenheit verläss lich in bestimmte Bahnen lenkt und so die vom Ve1fassungsstaat bekannte Grundsicherheit schafft, doch ble ibt e ine "Unionsverfassung" vordergründig sowohl in ihrer Legitimität als auch in ihrer normativen Wirkung hinter der eines Staates zurück, da zum einen kei ne ZurückfUhrbarke il auf ein Staatsvolk, zum anderen zunächst lediglich eine "Komplementärverfassung", also kei n umfassend normhierarchische r Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatliehen Recht gesehen werden könnte. Die Debatte war in ihrem Kern letztlich eine um Folgeprobleme, die allerdings ofhnals unbenannt blieben . Akzeptierte man nämlich die Möglichkeit einer Verfassung flir die Union, verknüpfte sich dies mit der Gefahr e iner Verwässerung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des Konzepts der Verfassung. Verneinte man s ie, drohte je nach den unmittelbar daraus gezogenen Konsequenzen e ine vorübergehende Stagnation der Integration mit anschließende m Zentralisierungsschub, e in unzureichend vorbere iteter vorze itiger Übergang in den "geo-regionalen Vereinigungs-Staat", eine allmähliche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehnte re "ve1fassungsfreie Zonen" oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen Union durch eine erst noch einzuflihrende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare verfassungsähnliche Institution.421 Nicht nur die Verfassungslehre sah und s ieht s ich hierbei mit e iner grundlegenden We ichenstellung konfrontiert, die man als das "Verfassungsdilemma supranationaler Integrationsverbände" 423 umschreiben kann. Staat gelösten Verfassungsbegriff siehe auch G. Biaggini, Die Idee der Verfassung- Neuausrichtung im Zeitalter der Globalisierung, in: ZSR 119 (2000), S. 445 ff., 463. 422 So T. Schmilz, Integration in der Supranationalen Union, 200 I, S. 388 ff. 423 T. Schmitz spricht ähnlich, jedoch in einem etwas zu weitgehendem Ansatz. vom "Verfassungsdilemma der supranationalen Integration". Als Ausweg aus dem Verfassungsdilemma schlägt ders. (200 I), S. 393 ff., die "vorsichtige Einbeziehung e inzelner nichtstaatlicher Organisationsformen in die Verfassungstheorie'' vor. Es müsse unterschieden werden zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht fUr eine Verfassung geeignet sind, und den \venigen herausragenden Typen, bei denen sich aufgrund einer besonderen Staats..1hnlichkeit die Übernahme des Konzepts der Verfassung trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen lässt. Auf diese Weise lasse sich das zentrale Anliegen der Verfassungs-theorie, für eine verlässliche grobe Ordnung der politischen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeil weitertragen, ohne dass dabei der Kern dieser Theorie, der Grundgedanke der Bindung jedes Machtträgers in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es handelt sich nach SeJmritz also um eine Fortschreibung, nicht Verfalschung. Es ist richtig: Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffentlicher Gewalt auch unterden Bedingungen derGlobalisierung und Georegionalisierung und
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Insgesamt stößt jedoch der enge Verfassungsbegri ff (wie etwa bei C. Sdmliii) -nicht nur qua definitionem - rasch auf Grenzen, die der Wirklichkeit geschuldet s ind. Visionär im gewissen Sinne ist bereits der Ansatz P. Häberles, der- gleichwohl (aber eben nicht nur) mit Sta atsbezug- einen ähnlich weiten Verfassungs begriff angelegt hat: "Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft. schließt also die - verfasste- Gesellschaft ein, - freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen , d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst ( Verfassung ist nicht nur ,Staats-'Verfassung)."-4'!4
Angesichts der ökonomischen und politischen Pote nz iale, die in einer Gesamtbevölkerung von mehr als 350 Millione n Menschen stecken und wenn es gelingen sollte, diese über demokratische Repräse ntation e inheitlich zu artikulieren, werden theoretische Einwände, e inen "postnationalen Verfassungsbegriff' gebe es nicht, für eine Verfassung brauche man ein "Staatsvolk", der Übergang vom Vertrag auf die Verfassung sei verfrüht oder der Wechsel von der Legitimation durch die Staate n (im Ministerrat) zur Legitimation durch e in echtes Parlament sei noch nicht (oder nie) gangbar, kaum Widerhall finden. Diese Einwände artikulieren Sorgen vor einem wachsenden Defizit an demokratischer Legitimation, manchmal aber lediglich Irritationen, weil der gewohnte nationalstaatliche Verfassungsrahmen und die damit verbundene Begrifflichkeil dahinschwinden. Ähnlich verhält es s ich mit der zögernden Formel "sta atlicher Verbund""'. Die Politik der "Kernländer" der Europäischen Union ist längst festgelegt; sie kann sich wegen der normativen Kraft des Faktischen einem noch weiter verdichteten und rechtlich verfassten Europa nicht mehr entziehen. "Verfassung" kann also auch in einem weiteren Sinne als rechtliche Grundordnung eines nichtstaatlichen Gemeinwesens, einer Rechtsgemeinschaft oder einer supranationalen öffentlichen Gewalt verstanden werden. Demgemäß können die Gründungsve1träge internationaler Organisationen, die formal als multilaterale völkerrechtliche Verträge erscheinen, Verfassungscharakter426 haben. Der Verfassungs fahigkeit der Europäischen Union als e ines supranationalen Herrschaftsgebildeseigener Art steht damit auf den ersten Blick zumindest begrifflich nichts entgegen.
berücksichtigt außerdem den Bedarf an vorstaatlichen Verfassungserfahrungen im multinationalen lntegrationsverband, auf die sich später bei der Erarbeitung einer Staatsverfassung zurückgreifen lässt. Er vermeidet die negativen Folgen einer Integration ohne Verfassung, vernachlässigt aber nicht die Gefahren, die mit einer Öffnung der Verfassungstheorie einhergehen. 024 P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage, Berlin 1998, S. 118f. "'Sodas Bundesverfassungsgericht in 8\'erfGE89, 155 [1 81]. 426 Hierzu unter 8. 11. 2. f) II).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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(e) Fazit Im Zuge der Integration hat sich schließlich ein Hoheitsträger herausgebildet, der Recht setzt, ohne Staat zu sein. Der überkommene, seit nunmehr dreihundert Jahren gültige und nahezu zum Dogma erhobene Konnex von Staat und Recht, von Staatsgewalt und Rechtsetzung wird hiermit relativiert, wenn nicht durchbrachen. Regierungsgewalt und Rechtsetzung dürfen nunmehr als Erscheinungen begriffen werden, die auch jenseits der Staatlichkeil erfolgen. Nertesheim ist zuzustimmen, wenn die damit verbundenen Schwierigkeiten- entgegen gelegentlich geäußerter Befiirchtungen- nicht überzeichnet werden sollten: "Kategorien wie Kompetenz, Zwang, Recht etc. lassen s ich ohne Probleme auch außerhalb staatlicher Kontexte denken . Das Völkerrecht bietet hietfür seit Herausbildung des Konzepts der internationalen Organisation in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts genügend Beispiele. Ins besondere war der Rechtsbegriff zu keiner Zeit ausschließlich auf den Staat bezogen."'" Insbesondere die deutsche Verfassungs rechtswissenschaft bedient sich nicht eines eindeutigen Verfassungsbegriffs. Einige weisen zu Recht darauf hin, dass je nach Erkenntnisinteresse, verfassungstheoretischem Standpunkt und normativem An liegen man sich des Begriffs in deutlich unterschiedlicher Bedeutung bedient"' Insofern könne es nicht verwundern, dass s ich die Diskussion um Stand und Entwicklung der europäischen Integration, um Richtung und Finalität des Prozesses auch und zuerst auf begrifflicher Ebene abspielt(e). Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt, die eine Verwendung eines angereicherten, wenngleich nicht legitimistischen Verfassungsbegriffs als sinnvoll erscheinen lässt Es muss sich demnach um e inen Verfassungs begriff handeln, der auf die Problematik zugeschnitten ist, die s ich mit der Einbindung und Legitimierung von Herrschaft im 21. Jahrhundert jenseits des Nationalstaates verbindet (konkreter, aber abstrahierender normativer Verfassungsbegrifl).429
427 M. Neuesheim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS S (2002), S . 507 ff. Staatliches Recht genoss zwar vor dem Hintergrund der staatlichen Zwangsgewalt eine besonders prägnante Normativität; an seiner Seite stand aber immer auch Recht, hinterdem diese Gewalt nicht stand, das aber gleichwohl in seiner Existenz-und \Virksamkeit als Recht nicht in z,veifel gezogen werden konnte. Insofern bedarf es eines Hinweises, dass die Durchs.etzung des Unionsrechts in den Händen der Mitg liedstaaten liegt, nicht. 423 So etwa M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002, (zu finden im Internet unter www.fide2002.org /reportseulaw.htm). 429 Zum Ganzen P. Cmig, Constitutions, Constitutionalism and the Europea.n Union, in: 7 ELJ 200 I, S. 12.5 ff. Zur Begriffsbildung vgl. zusammenfassend etwa M. NetTesheim (2002), mit z..1.hlreichen Nachweisen sowie R. Bieber. Verfassungsfrage und institutionelle Reform, in: T. Bruha u. a. (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 200 1, S. I II ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ergänzend und die vorherigen Vetfassungs-Prämissen aufgreifend wären für eine "Unionsverfassung" zunächst als einzelnejonnelle Voraussetzungen zu nennen: - der durch normativen Gesamtakt erlassene Normenkomplex (was allerdings eine allmähliche Verfassungsherausbildung und Verfassungsbegtiindung durch richterliche Rechtsfortbildung ausschließen würde); - die Schriftfom1; der Vorrang (mit der Konsequenz, dass die Unionsverfassung nur in einem Verfassungsvertrag liegen kann""); - die erschwerte Abänderbarkeit und schließlich - die Selbstkennzeichnung als Verfassung. Materielle Voraussetzungen einer "Unionsverfassung" wären etwa:
- die organisatorische Ausgestaltung der Union; - die Bestimmung des Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten (bis hin zum Bereitstellen von Sanktionsinstrumenten für den Krisen fall, dass ein Mitgliedstaat aus der Verfassungsordnung ausbricht); - die Schaffung der verbandsbezogenen rechtlichen Voraussetzungen flir die Entstehung der supranationalen öffentlichen Gewalt und schließlich - die politisch-philosophische Grundausrichtung der Union. Im "Streit um die Verfassung der Europäischen Union" ging es allerdings nicht nur um Begriftlichkeiten: Er dreht sich bis heute auch allgemein um die politische und staatstheoretische Bedeutung des Primärrechts der Union auf der einen und des nationalen Verfassungs rechts auf der anderen Seite, und damit auch um die Bedeutung der Institutionen Union und Staat. (3) Das Vetfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern
Von C(arlo) Schm.id stammt das geflügelte Wort, es sei ganz leicht, eine europäische Verfassung zu schreiben. Man brauche nur jewei ls das Beste aus den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu nehmen . Richtig an dieser Aussage ist, dass es in Demokratien allgemein gültige Wirkungs mechanismen gibt. Politische Verantwortlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung finden s ich auch in den verschiedenen instititutionellen Ausprägungen und Grundrechten der EU-Mitgliedstaaten. Der Rekurs auf nationale Vetfassungsvorverständnisse erfordert Umsicht. Das Originäre an der Europäischen Union ist - wie bereits aufgezeigt- ihr nichtstaatlicher Charakter, ihr "Doppelcharakter als Staaten- und Bürgerunion", wie erz. B. in einer Föderation von Nationalstaaten zum Ausdruck käme. Nationalstaatliche Verfassungstraditionen s ind infolgedessen nicht eins zu eins übertragbar. Eine europäische Verfassung kann nur e ine nicht-staatliche Verfassung darste llen, die die nationalen Verfassungsordnungen ergänzt. Es gibt auch 430
Vgl. zu der Abgrenzung "Verfassunt'- "Verfassungsvertrag" unten B. Il. 2. f)qq)( I).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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noch keinen komplementären europäischen De mos431 und ersl ansatzweise eine komplementäre europäische Öffentlichkeit. Eine Analyse nationaler Verfassungs-Vorverständnisse kann gerade auch im Hinblick auf das Konventsergebnis dreierlei leisten: - eine Hilfestellung zur Wahrnehmung der eingeflossenen "europageeigneten" Strukturen und lnstitutionen;432 - einen Beitrag zum besseren Verständnis vorheriger Verfassungsprojekte für die Europäische Union- mit ihrer z. B. e her supranational-föderalen oder eher intergouvernemental - Souveränistischen Ausrichtung; - eine Verdeutlichung der Grenzen für die Übertragung von nationalen Modellen im Rahmen der europäischen Verfassunggebung."' Alle konslitutionellen Sonderwege, die in den alten (insbesondere in Großbri tannien), neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten bestehen, verdeutlichen: Eine Verfassung isl eine Existenzbedingung e ines modernen demokratisch organis ierten Gemeinwesens. Sie kann dazu beitragen, eine hislorisehe Ausnahmesituation zu bewältigen. Die ital ienische Verfassung ( 1947) wurde wie das Grundgesetz (GG) und die späteren Verfassungen von Griechenland ( 1975), Portugal ( 1976) und Spanien ( 1978) nach dem Ende e ines diktatorischen Regimes ausgearbeitet. Ein vergleichbarer Umstand prägt z. B. auch die polnische Verfassung von 1997. Den Schöpfern der Vetfassung der V. Französischen Republik ging es 1958 dagegen darum, e inen 1
Vgl. aber J.H.H. ll'ei/er, Der Staat "über a lles". Demos, Telos und die MaastrichtEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 44 ( 1996), S. 9 1 ff. (gemeinsam mit A. Ballmann und F. Mayer).Aus der nationalstaatliehen Sphäre vertraute Baumuster können beim Bürger eher e in Geflihl der Transparenz und Verständlichke it vermitteln als e ine '-'
"sui generis" - Konstruktion. Eine zu ausgeprägte Verwendung nationaler Verfassungs-
vorste llungen kann aber zum Missverständnis führen, dass über eine EU-Verfassung e ine Staatlichkeil der Union angestrebt wird ("Superstaat"). 431 So g ibt es bei den existierenden, nationalstaatliehen Z\veikammer-Systemen durchaus .~odelle'' für echte supranationale zweite Kammern, vgl. nur den deutschen Bundesrat oder den US-Senat - und solche. die lediglich mit e iner stärkeren Einbeziehung nationaler Parlamentarier arbeiten; bei den Exekutivmodellen stehen sich z. B. das Mode ll e ines parlamentarisch-verantwortlichen Regie rungschefs und das e iner direkt gewählten exekutiven Spitze gegenüber. Vgl. allgemein sowie für die beidseitige Wechselwirkung auch \V. Klwh, Die Mitgliedstaaten der Europ..1ischen Union als Gestalter und Adressaten des Integrationsprozesses- Grundlagen und Problemaufriss, in: ders. (Hrsg.), Europ..1ische Integration und Verfassungsrecht. Eine Analyse der Einwirkungen der Europäischen Integration auf die mitgliedstaatliehen Verfassungssysteme und ein Vergleich ihrer Reaktionsmodelle, 2007, S. 9 ff. :UJ Aus dem Doppe lcharakter der Staaten- und Bürgerunion folgt z. B.- dass anders als in den meisten nationalen Verfassungen - in e inem EU-Verfassungsvertrag ein "StaatenLegitimationsstrang'' im Rat und ein "Unions-Legitimationsstrang" über das Europäische Parlament und die Ko mmission notwendig ist.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ineffizienten Parlamentarismus zu überwinden und eine starke Exekutive zu schaffen. Das Grundgesetz (GG) hatte in der (alten) Bundesrepublik Deutschland einen besonde ren historischen Ste llenwert. In einer geteilten Nation bot es die Möglichkeit, über einen "Verfassungspatriotismus" e ine n Identifikations punkt für den verlorenen Nationalstaat zu bilden. Aus deutscher Perzeption hat dabei das Grundgesetz vor allem auch abwehrenden Charakter gegenüber Übergriffen des Staates. Die Verfassungen anderer Mitgliedstaaten stehen nicht in gleichem Maße für diesen positiv besetzten Abwehrgedanken. Währe nd der europäischen Verfassungsdebatte durfte man deshalb außerhalb von Deutschland nicht die gleichen Konnotationen beim Begriff einer etwaigen EU-Verfassung erwarten. Vielmehr überwogen (allerdings auch letztlich in Deutschland) die Beflirchtungen einer Staatswerdung Europas. '" Betrachtet man nun die Strukturen der am Konvent beteiligte n Staate n, so ergibt sich insgesanlt e in eher heterogenes Bild. '" Aus deutscher Sicht s ind die naheliegendsten Vergleichsparameter flir Verfassungen die des Grundgesetzes von I949 und der Nachkriegs-Länderverfassungen, wobei fiir die Struktur des Grundgesetzes wie fiir die Verfassungen der Länder die Zusammenfassung der Verfassungsbestimmungen in e iner Urkunde"• und im Grundgesetz- kontrastierend zur Struktur der Weimarer Verfassung - die Akzentuierung der (meisten"') Grundrechte durch ihre "Position" an der Spitze der Verfassung, in e inem Teil I ("Die Grundrechte" - Art. I bis I9 GG) kennzeichnend s ind."' Der deutschen Verfassungsstruktur ist die Italiens (Verfassung von I947) nicht unähnlich. Diametral unterschiedlich erweist sich hingegen die Vetiassungsordnung Großbritanniens. Großbritannien verfügt mit der Magna Charta von 1215
:IJ:t
Dies galt freilich immer weniger in Frankreich (vgl. die Rede von Staatspräsident
J. Chiroc vordem Deutschen Bundeslag vom27. 06. 2000, in: FAZ vom 28. 6. 2000, S . 10 f.,
in der der Verfassungsbegriff zentral für die Bestimmung der französischen Rolle in der und d urch die EU ist). :Os Zu diesem Ergebnis kommt auch F. C. J\1ayer, Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz- Merkmale europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4/2003, S. 398 ff., 405 f. 43• Vgl. a uch Art. 79 Abs.l GG. 437 Siehe aber d ie justiziellen Grundrechte in Art. 101 ff. GG. 433
Eine Besonderheit bildet die Einbeziehung der Art. 136 bis 14 J der Weimarer Ver-
fassung in das Grundgesetz durch Verweis. Materiell besteht grundsätzlich eine Gleichrangigkeil der Grundgesetzbestimmungen, allerdings ergibt sich durch die "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG eine Abstufung in der Änderungsfestigkeit der VerfassungsartikeL Insgesamt verwundert es nicht, dass aus deutscher Sicht die Struktur des Konventsentwurfs eines Verfassungsvertrages vor allem unter zwei Aspekten Kritik fand: zum einen \Vegen der Positionierung der Grundrechtecharta lediglich in Teil U des Entwurfs, zum anderen aufgrunddes unklaren Verhältnisses zwischen Teil I und insbesondere Teil lll des Entwurfs.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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zwar über das vergleichsweise älteste geschriebene Verfassungsdokument, hat aber bekanntlich kein e inheitliches, geschriebenes Verfassungsrecht Dieses setzt s ich zum einen aus kodifizierten Texten, wie eben der Magna Charta oder der Bill of Rights von 1689 bis zum Human Rights Act (1998) zusammen, zum anderen aber aus den nicht kodifizierten Grundsätzen des Common Law wie dem Grundsatz der "Parliamentary Sovereignty". Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die kodifizierten Rechte mit Verfassungsrang keine hervorgehobene Stellung innerhalb des Rechtssystems einnehmen. 439 Die Verfassungen der anderen Mitgliedstaate n lassen sich innerhalb der bei den "Pole"- einerseits Konzentrierung aller Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde, andererseits weitgehend ungeschriebene, nur in Einzelaspekten auf bestimmte Urkunden zurückgreifende Verfassung- ansiedeln. Am nächsten kommen der ersteren Erscheinungs form mit übersichtlichen, einheitlichen Vetfassungsurkunden die Verfassungen von Belgien ( 1831 )440, Luxemburg ( 1868), Griechenland ( 1975) und Portugal ( 1976). Ebenso sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen in Polen (Verfassung von 1997), der Slowakei ( 1992), Slowenien ( 1991), Litauen (1992) und beim Konventste ilnehme r Bulgarien (199 1) in e iner Urkunde zusammengeflihrt. ln Zypern beanspruchte während des Konventsvetfahrens die Verfassung von 1960 nur für den griechischen Teil der Insel Geltung, weshalb zu einem gewissen Grade von "ungeklärte n Vetfassungsverhältnissen" gesprochen werden kann.'" 1 ln manchen Verfassungsordnungen ist allerdings nicht unmittelbar erkennbar, dass das als Verfassung apostrophierte Dokument nicht alle geltenden "Vetfas sungsbestimmungen" widerspiegelt, ja wiedergibt. So finden s ich etwa in der Verfassungsurkunde Verweise auf frühere Normschichten oder auf ergänzende :139
Sie stehen vielmehr auf derselben Rangstufe wie andere Parlamentsgesetze. Demzufolge könnten durch entgegenstehende "Statutes" Verfassungsrechte aufgehoben \verden, vgl. insgesamt auch P. Birkinshaw. Britischer La.ndesbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einereuropäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000, S. 208 ff. 440 Zur Vorbildfunktion der belgischen Verfassung allgemein H. Hauenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992, S. 565 ff. Die belgisehe Verfassung, die b is heute Bestand hat., verbriefte die bedeutendsten Freiheitsrechte als geltendes Recht und stellte erstmals in Europa die Staatsordnung auf eine demokratische Grundlage, ohne allerdings das Bestehen der Monarchie anzutasten, vgl. ebenso \V. Skouris, Die kontinentale(n) europäische(n) Verfassungskultur(en), in: M. Morlok (Hrsg.}, Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 85 ff., 90. Der Verfassungstext von 183 1 war Vorbild fü r zahlreiche späteren europäischen Verfassungsurkunden, insbesondere fürdie griechische Verfassung von 1864 (deren Grundentscheidungen auch den Kern der heutigen g riechischen Verfassung von 1975 bilden). "'' In der Türkei galt zu diesem Zeitpunkt noch die Verfassung von 1982 (d ie im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen grundlegende Änderungen erfahren sollte). Eine Reihe von kemalistischen Refonngesetzen bleiben allerdings gegen diese Verfassung abgeschinnt (Art. 174 der türkischen Verfassung).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Normen. Beispielhaft ist hierbei Frankreich zu nennen, wo mit der Ve1iassung der V. Republik von 1958 zwar eine einhe itliche Verfassungsurkunde existiert; jedoch verweist diese in ihrer Präambel auf die Präambel der Verfassung von 1946, die wiederum die Erklärung der Mensche n- und Bürgerrechte von 1789 mit Verfassungsrang ausstattet. Daneben bestehen sogenannte "Lois organiques", die die Verfassu ng weiter konkretisieren. Eine vergleichbare Normenkategorie findet s ich in Spanien zur Ausgestaltung der Verfassung von 1978. In der Verfassung der Niederlande von 1983 stehen Verweise auf einzelne Bestimmungen der Verfassung von 1972, die somit weiter Geltungskraft e ntfalte n. In Ungarn gilt die Verfassung von 1949, die 1989/90 umfassend revidiert wurde. Die Ve1i assung von Lettland lässt s ich auf einen Text aus dem Jahre 1922 zurückführen, der 1998 umfängliche Änderungen erfahren durfte." ' Wie die Beis piele von Irland und Dänemark zeigen, können verfassungs44 ergänzende Bestimmungen durchaus unterschiedlicher Natur sein. ' Während in 444 Schweden vier "Grundgesetze" mit Verfassungsrang bestehen , beruhte auch die Verfassungsordnung Finnlands (gewissermaßen als Relikt aus den Zeiten der Zugehörigke it Finnlands zum schwedischen Königre ich) bis in die j üngste Zeit auf mehreren Verfassungsgesetzen mit Verfassungscharakter. Nach einer umfassenden Verfassungs reform wurde 1999 e ine Verfassung für Finnland verkündet, die im Jahre 2000 in Kraft trat. Eine Eigentümlichkeit des finnischen Verfas sungsrechts besteht allerdings dahingehend fort, als materielle Abweichungen von der Verfassung durch "Verfassungsausnahmegesetze" zugelassen werden können 44 (Parag raph 73 (I) der finnischen Verfassung). ' Die Verfassung von Malta ist 442
Davor bestand e in eigenes Ve rfassungsgesetz über Bürgerrechte von J99 1. Diese finden sich nunmehr im Schlusskapitel der Verfassung. 443 Die Verfassung von Däne mark ( 1953) wird e twa durch das "Thronfo lgegesetz" ergänzt. In Irland sind alle Verträge, auf die s ich die europäische Integration gründet, explizit in den Wortlaut der derzeitigen Verfassung (Ausgangsfassung aus dem Jahre 1937) aufgenommen und damit gleichsam in das irische Verfassungsrecht e inbezogen, vgl. auch F. C. Mayer, Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz- Merkmale europ..1.i-
schen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 /2003, S. 398 ff., 404f: "Damit genügt es nicht, zur Ermittlung des geltenden irischen Verfassungsrechts den Verfassungstext von 1937 aufzuschlagen, vielmehr muss man auch das europäische Primärrecht heranziehen.'" ""' Neben der Verfassung ("Regeringsfonnen") aus dem Jahre I 975, und dem "Thronfolgegesetz'' sind dies Gesetze mit Verfassungsrang, die jeweils g rundrechtliche Gewährleistungen zur Pressefreiheit ("Tryckfrihetsförordningen'') und zur Me inungsfreiheit ("Yttrandefrihetsgrundlagen'·) enthalten. 445 Demzufolge kann der Gesetzgeberunterdenselben Voraussetzungen, wie sie füreine fOrmliehe Verfassungsänderung erforderlich sind, Gesetze verabschieden, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Der Unterschied zu einer Verfassungs..1nderung besteht darin, dass die "Verfassungsausnahmegesetze" zwar in e inem qualifizierten Verfahren zus-tande kommen, jedoch durch ein einfaches Parlamentsgesetz zurückgenommen werden können (allein in den Jahren 19 t 9 bis I 995 ist in 869 Fällen ein Verfassungsausnahmegesetz verabschiedet worden). ln diesem Kontext ist beachtenswert, dass nach der Verfassung des
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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gekennzeichnet durch die Besonderheit, dass s ie durch sogenannte "Schedules" ergänzt wird. Auch in Österreich ist e ine "Streuung" von Nom1en mit Verfassungs rang über die gesamte Rechtsordnung zu beobachten. Obgleich mit dem Bundes-Verfas sungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 (zurückgehend auf den großen Verfassungsrechtier H . Kelsen) ein hervorgehobener und allgemein a ls "öste rreichische Verfassung" identifizierter Text vorliegt, finden s ich doch mehr als zweihundert Verfassungsbestimmungen in über hundert Bundesgesetzen, die letztlich alle- als "Bundesverfassungsgesetze"- im gleichen Rang stehen und mit dem Bundes-Verfassungsgesetz die eigentliche "Verfassung" bilden. Gewisse Parallelen zu e inem "Ensemble von Teilverfassungen" (P. H äberle) im europäischen Kontext s ind nicht zu übersehen . In der Tschechischen Republik gilt die Verfassung von 1992. Diese bezieht neben weiteren "Yerfass ungsgesetzen" in ihrem Art. 3 eine "Grundrechtecharta" (ebenfalls 1992) als Bestandteil der Verfassungsordnung mit ein- bemerkenswert im Hinblick auf die europäische Struktur. (a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung Hins ichtlich des originären Verjassrmggebungsprozesses offenbarten zum Zeitpunkt der Einberufung des Verfassungskonvents alle vierzehn (geschriebenen) Verfassunge n der Mitgliedstaate n- in der unterschiedlichsten Form- Anschauungsmaterial für demokratische, legitimitätsstiftende Verfahren des Zustandekom-
mens. Die "Verfassungsschöpfung" erfolgte tei lweise durch ein " normales" Parlan1ent, häufiger aber durch eine eigens gewählte verfassunggebende Versammlung. Zusätzlich ist das Instrument des Volksentscheids zu nennen oder sogar, wie 1958 in Frankreich, ein Referendum ohne vorherige parlamentarische Beratung und Verabschiedung. Das Grundgesetz (GO) bildet insofern eine Aus nahme, als der Parlamentarische Rat nicht direkt gewählt war, sondern s ich aus Vertretern der Landtage der westdeutschen Länder zusammensetzte.446 Nach den Erfahrungen des Europäischen Rates in Nizza lag es nahe, an nationale Erfahrungen der Verfassunggebung anzuknüpfen. Fragen von derart grundsätzlicher Tragweite, wie s ie im Post-Nizza-Prozess (teilweise e rneut) anstehen sollten447 , ließen sich alleine durch das herkömmliche Ve tfahren der Regierungskonferenz kaum lösen. Nach den positiven Erfahrungen bei der Ausarbeitung mit der Grundrechte-Charta s prach deshalb viel dafür, diese mit der Konvent-Methode zu nutzen."'' Konventsteilnehmers Rumäniens von 1991 mit Zweidrittelmehrheit verfassungswidrige Gesetze bestätigt werden können (Art. I45 der Verfassung). :U& Die Ratifizierung erfolgte durch die- allerdings demokratisch gewählten- Landtage. 447 Vgl. unte r B.ll.2f)mm). "'' Hierzu umfassend unter B. 11 .2f)pp) und B. V. I.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
(b) Das Vorverständnis \'On De mokratie, Gewaltentei lung und Kompetenzvertei lung Hinsichtlich der Axiome Demokratie und Gewaltentei lung sowie bezüglich "direkter Mitwirkungsrechte" offenbaren die Verfassungen aller Mitgliedstaaten einheitliche Elemente: Alle begründen die Legitimation der Staatsgewalt im Willen des Volkes, das sich in regelmäßig stattfindenden freien Wahlen äußert. Das Volk, d. h. die Summe aller Staatsangehörigen e ines Mitgliedstaates, ist der letzte Jegitimatorische Ableitungspunkt flir die politische Herrschaft."'• De r "StaatsLegitimationsstrang" bildet sich in den nationalen Arenen (nationalen Parlamenten und nationaler Öffentlichkeit) und wird für den e uropäischen Kontext im Rar formuliert. Er bleibt jedoch ein national-vermittelter Legitimationsstrang, der mit fortschreitender Integration nicht ausreicht. Das Demokratieprinzip kommt zwar in den Nationalstaaten ungeschmälert zur Geltung, aber den Nationalstaaten schwinden die Entscheidungsbefugnisse. Diese wachsen auf europäischer Ebene an, mit der Folge, dass sich auch dort ein immer stärkeres Bedürfnis nach einer unmittelbaren, nicht von den Mitgliedstaaten abgeleiteten demokratischen Substanz ausgebildet hat. Für mehr Akzeptanz von Entscheidungen der Europäischen Union bildet sich deshalb das Erfordernis eines "Unions-Legitimationsstrangs" heraus, der besonders in den Organen Europäisches Parlament und Komm ission seinen Ausdruck zu finden hat. in allen Ve1fassungen findet sich- bei unterschiedlichen Lösungen im Einzelnen - e ine Aufteilung der exekutiven, legislativen und j udikativen Funktionen der Staatsgewalt auf verschiedene Organe, ebenso wie die Unabhängigkeit der Justiz. Die gleichzeitige Exekutiv- und Legislati\•tätigkeit des Europäischen Rates ist in dieser Hinsicht systemfremd (wenngleich in der "sui generis" Architektur der Europäischen Union das klassische Momesquieu'sche Prinzip der Gewaltente ilung wahrscheinlich nicht streng anwendbar sein mag).'50 Kennzeichnend für den modernen e uropäischen Verfassungsstaat ist eine Interdependenz zwischen Regierung und Parlament. Dabei s ind die RegieJungen dem Pm1ament politisch verantwortlich. 451
9 "'
Vgl. etwa Art. 20 Abs. ll GG: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus."
:ISO
A. Juppt! und J. Taubon forderten daher in ihrem Verfassungsentwurf vom
28. 06.2000 (ganz in der französischen Verfassungstradition) exekutive und legislative Tätigkeiten klarer voneinander zu trennen>vgl. A. Juppt!lJ. Toubon. Cons-litution de )'Union Europeenne. Contribution 3 une reftexion sur les institutions futures de I'Europe, vom 28. 6. 2000, abrutbar unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Ein anderer Mangel der Gewaltenteilung zwischen europäischer Exekutive und europäischer Legislative könnte darin zu sehen sein, dass das Europäische Parlament, zunehmend in die administrative Umsetzung von Ratsbeschlüssen durch die Kommission (im Ausschuss- /"Komitologie"Verfahren) eingreifen möchte. Kritisch ist ebenfalls zu erwähnen, dass das Europäische Parlament wiederholt den Anspruch erhebt, über sein Haushaltsrecht die exekutive GASP mitzugestalten.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Im Allgemeinen ist die Stellung der Parlamente in den Mitgliedstaaten stark (insbesondere in Mitgliedstaaten und Beitrittsländern mit Diktaturerfahrung). Einzig die Stellung der französischen Nationalversammlung, die noch nicht e inmal über volle Geschäftsordnungsautonomie verfUgt, ist eher schwach. KoJTespondierend zu dieser Schwäche des Parlaments verfUgt die französische Exekutive über e in hohes Maß an autonomen Normsetzungskompetenzen. Die Demokratien in den Mitgliedstaaten s ind repräsentativ verfasste Demokratien. Das Element direkter Demokratie tritt ergänzend hinzu. Direkte Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung- in Form von Volksbegehren und Volkentscheiden - sind im mitgliedstaatliehen Verfassungsrecht die Regel (nicht aber in Deutschland, dessen Demokratie - auf Bundesebene - wohl die repräsentativ ausgeprägteste in den Mitgliedstaate n ist). Bei Fragen des EU-Beitritts, der Vertragsänderung oder der Euro-Einfiihrung können diese Volksrechte bekanntlich eine gewichtige Rolle spielen.452 Die Mitgliedstaaten weisen unterschiedliche Erfahrungen auf, was den Wert eines Zwei-Kammersystems flir die Parlamentarisierung der Europäischen Union anbelangt (das britische Oberhaus ist beispielsweise relativ einflusslos und auch nicht in indirekter Form demokratisch legitimiert). In Dänemark, Finnland, Griechenland, Luxemburg, Portugal und Schweden besteht das Parlament nur aus e iner Kammer. Die anderen Staaten bes itzen Zweite Kammern, die die Gebietskörperschaften in den Mitgliedstaaten repräsentieren. In Frankreich vertreten etwa die Abgesandten der Gebietskörperschaften im Senat das "tiefe Frankreich". Diese zweiten Kanunem weichen nach Struktur- und Kompetenzen erheblich voneinander ab (der französische Senat verfUgt in der Gesetzgebung nur über ein suspensives Veto gegenüber der Nationalversammlung). Nur im Falle von Deutschland, Be lgien und Österre ich spielen die zweiten Kammern eine traditionelle föderale Rolle im Gesetzgebungsprozess."'
:ISt Im Rahmen einer weiteren Ausbildung der EU-Exekutive stellt sich die Frage, inwieweit diese aus einer Mehrheit im Europäischen Parlament hervorgehen sollte. :I.Sl Siehe nur die Regelungen in Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Finnland und Österreich. Aus der eigenen verfassungsrechtlichen Tradition heraus schlugen A. Juppe und J. Taubon (2000) ein Gesetzesinitiativrecht füreuropäische Bürger vor, ebenso die Annahme oder das Außerkraftsetzen ("rererendum d' abrogation~') durch Bürgerreferenden. So interessant dieser Vorschlag erscheint: g rundsätzlich setzt er eine europäische Öffentlichkeit voraus, die sich erst noch entwickeln muss. :ISJ Bislang gibt es in der Europäischen Union eine institutionelle Dreiecksbeziehung zwischen Rat, Europäischen Parlament und Kommission. Die europäische Legislative wird aus Rat und Europäischen Parlament gebildet, die europäische Exekutive aus Ko mmission und Rat (mit einer dominierenden Rolle des letzteren in weiten Bereichen), die europäische Judikative aus dem EuGH. Wann immer es um die Einführung einer f6deralen Z\Veiten EU-Kammer neben dem Europäischen Parlament ging, war eine Bikameralisierung der Europäischen Union gemeint, in der ein stärker repräsentatives Europäisches Parlament
162
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Hinblick auf die Exekutive eröffnen sich zwei Grundmodelle in den Mitgliedstaaten. Der Normalfall ist eine politische Regierung, die aus den Machtrelationen im Parlament hervorgeht (etwa mit einem Bundeskanzler, e inem Ministerpräsidenten oder einem Premierminister mit Richtlinienkompetenz an der Spitze). Diese Exekutive ist gegenüber dem Parlament verantwortlich. Hierbei ist die Möglichkeit des Misstrauensvotums zu e rwähnen, wobei der Regierungschef in Deutschland, Spanien und Belgien besonders durch e in "konstruktives Misstrauensvotums" geschützt ist. Daneben existiert die "Einrichtung" e ines repräsentativen Staatsoberhauptes mit begrenzten, eben überwiegend repräsentativen Be fugnissen. Anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Hier besteht e ine exekutive Doppelspitze aus Staatspräsident und Pre mierminister. Der Premierminister geht als Regierungschef aus dem Parlament hervor und unterliegt dessen Misstrauensvotum. Dies g ilt nicht fiir den französischen Staatspräs identen: er ist zugleich oberstes Repräsentations- und Exekutivorgan (insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der er über eine Art Richtlinienkompetenz verfügt). Er leitet seine Autorität aus der Direktwahl durch die BevölkeJUng ab und ist damit aus französischer Sicht unmittelbar und souverän legitimiert wie das Parlament- und deshalb diesem auch nicht verantwortlich. Ausfluss dieser besonderen direkten Legitimation ist das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen."' mit e uropa\veit e inhe itlichen \Vahlrecht die erste Kammer der EU bilden und der Rat sich in Richtung e iner Staatenkammer entwickeln sollte. Die Ko mmission wäre tendenziell zur Exekutive geworden (einschließlich e iner Aufgabe des Prinzips der nationalen Repräsentation dort). Zu entscheiden wäre in diesem Modell, ob die Vertre ter in der Staatenkammer ernannt oder d irekt gewählt werden sollen (siehe die Beispiele Deutscher Bundesrat oder US-Senat) bzw. ob und wie das demographische Gewicht zum Tragen zu bringen wäre {z. 8. von drei bis sechs Stimmen wie im Bundesrat oder je zwei Stimmen wie im US-Senat). Bei dieser Bikameralisierung der Europäischen Union darf aber nicht übersehen werden, dass auch die im Rat vertretenen mitgliedstaatliehen Regierungen durc h ihren nationaJen Parlamente demokratisch legitimiert sind. Als solche haben sie e inen demokratisch hergeleiteten Anspn1ch, gesta ltende Akteure im europäischen Organsystem zu sein. Insofern erscheint es in e iner "Staaten- und Bürgerunion" problematisch, den Rat in eine rein nachgeordnete legislative zweite Kammer herabzustufen. Für viele Mitgliedstaaten stand deshalb während des Konventsprozesses bei der e twaigen Einrichtung e iner zweiten Kammer nicht der Rat im Vordergrund, sondern die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente (vgl. insofern die Vorschläge von Kommissar C. Pauen und Pre mierminister T. Blair fUr die Einrichtung einer zweiten Parlaments-Kammer aus nationalen Parla mentsangehörigen, in ihren Reden vom 26. I 0. 2000 bz.w. 06. I 0. 2000). Die französischen Vorschläge fU r e ine aus nationalen Parlamentariern beschickten zweiten Parlaments-Kammer dürften sich- neben Souveränitätsvorbehalten - auch aus den schwachen parlrunentarischen Kontrollmöglichkeiten der Assemblee nationale in der Europapolitik erklären. Eine zweite Krunmer würde diese Kontrollrechte verbessern (während der deutsche Bundestag bereits nach Art. 23GG über breite Mitw irkungsmöglichkeiten verfügt). Juppi und Taubon (2000) schlugen vor diesem Hintergrund e in z,vei-Kammer-System vor, mit e inem Europäischen Parlament {dessen exklusive Gesetzgebungszuständigkeit allerdings durch d ie Tagesordnung der europäischen Regierung bestimmt wird) sowie eine "Kammer der Nationen" (aus Mitgliedern der nationalen Parlamente). Die Kammer ist gedac ht a ls Garant des Subsidiaritätsprinzips und vitaler nationaler Interessen e ines Mitgliedstaates.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
163
Effizienz (über starke Gemeinschaftsorgane mit Mehrheitsentscheidungen im Rat) und demokratische Legitimation (über verstärkte parlamentarische Kontrollrechte) sind auch das Ergebnis e iner nachvollziehbaren Aufgabente ilung zwischen Union und Mitgl iedstaaten. Die Mitgliedstaaten bringen hier sehr unterschiedliche verfassungsrechtliche Vorerfahrungen e in. Wenn der Föderalis mus eine politische Organisationsform darstellt, in der jede staatliche oder regionale Ebene in einer Reihe von Aufgabenbereichen endgültige Entscheidungen treffen kann, dann wird man neben Deutschland und Österreich nur noch Belgien a ls e inen föderalen Staat bezeichnen können.'" Im deutschen Verbund-Föderalismus fallen die Gesetzgebungszuständigkeiten grundsätzlich den Ländern zu. Der Bund nutzt seine speziellen Gesetzgebungs-Kompetenzen allerdings so extensiv, dass ftir die Länder derzeit"" " unter dem Strich" nur wenige Bereiche übrig bleiben. Der Bund ist dabei allerdings fast immer auf e ine Mehrheit im Bundesrat und auf eine Umsetzung über die Verwaltungen der Länder angewiesen. Die anderen mitgliedstaatliehen Verfassungsordnungen kennen keine bundesstaatlichen Strukturen (in der Vetfassung der V. Republik Frankreichs gibt es beispielsweise kei ne hierarchischen Kompetenzbestimmungen). Es lässt sich lediglich e ine allmähliche Entwicklung weg vom Unitarismus beobachten (allerdings von oben nach unten und nicht von unten nach oben). Spanien hat 1978- mit noch offenem Ausgang- eine Dezentralisierung begonnen. Ähnliches gilt ansatzweise für Polen. Italien hat durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten des Regionalausschusses zwar die Legitimität der Regionen gestärkt, ihre Zuständigkeiten und Fi nanzausstattung frei lich nicht erweitert. In Frankreich ist ein (schüchterner) Dezentralisierungsprozess eingeleitet, der inzwischen aber - trotzaller Auflockerung des Einheitsstaates- ins Stocken gerate n ist (vgl. nur das "Problemfeld" Korsika). Dieser Prozess soll erklärtermaßen nicht in einen Föderalis mus münden. Großbritann ien schließlich hat 1998 Gesetze beschlossen, die Schottland, Wales und Nordirland eine- begrenzte- Regionalautonomie geben sollen. Insgesamt ist und war es beim Herangehen an die e uropäische Verfassungsdebatte entscheidend, die nationalen Verfassungsvorverständnisse mitzuberücks ichtigen. Die bislang vorliegenden Verfassungsentwürfe zeig(t)en, welche große Rolle die nationalen Ausprägungen demokratischer Wirkungsprinzipien spielen. :1.54
Die Stellung des US-Präsidenten ist insofern noch stärker, als er Regierungschef ist und ebenfalls d irekt- über Wahlmänner - gewählt wird. :ISS Der schweizerische \Vettbewerbsföderalismus ist insoweit nochmals e ine Besonderheit, da er den Gliedstaaten z. B. auch autonome Steuererhebungskompetenzen einräumt; nach dem US-TrennungsfOderalismus umfassen dagegen die je\veils der Bundesebene zugewieseneSachkompetenz alle Funktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit. 4.Sb Belastbare Bewertungen der "Föderalismus-Reform I" sowie der laufenden "Föderalismus-Kommission" stehen noch aus.
164
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
oo) Begleitend zum Verfass ungskonvent vorgeste llte (Privat-)Entwürfe Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden "Konvent zur Zukunft Europas" erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen e ine Vielzahl eingehender Verfassungsentwürfe.
457
Zu nennen s ind hierbei (P. Hiiberle z itierend.,. und e rgänzend) der "Budapeste r Entwurf flir eine Europäische Verfassung" der Arbeitsgruppe an der Staatsund Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös-Lonind-Universität vom Juni 2003 459, der Entwurf von The Yormg Chrisrian Denwerars of Denmnrk (KFU) vom März 2003' 60, der Arbeirsgemeinsclrafr soz,ialdemokrarischer JurisTinnenund JurisTen (ASJ) vom Februar 2003 461 sowie aus demselben Monat der ,;rrierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union""'2• Weiterhin sollen in diesem Kontext hervorgehoben werden: Die EVP - Konvenrsgmppe und ihr Diskussionspapier vom November 2002"'3 sowie die überarbeitete Fassung vom Januar 2003' ..; der (überarbeitete) Entwurf eines "VeJfassungsvertrages der Europäischen Union" von F. Cromme465 ; der Vorentwurf des Verfassungsvertrages von Kommissionspräsident R. Prodi (4. 12. 2002)' 66•
:1.5 7
17 dieser Entwürfe \Verden von P. Häberle , Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 600 ff. (vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen vorden Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe a uf dem Prüfstand, in: DÖV 11/2003, S. 429 ff.) vorgeste llt und profund (gelegentlich streitbar- etwa der sog. "Berliner Entwurr' vom November 2002) analysiert. Auf eine Darstellung dieser Ansätze wird daher verz ichtet, gleichwohl darauf verwiesen, dass e ine nicht unerhebliche Anzahl der Entwürfe einflussreiche \Vegmarken für die Debatte zu setzen wussten (bzw. noch wissen). Einige Verfassungsentwürfe. die von P. Häberle nicht aufgenommen wurden, sind bereits oben benannt worden. Vgl. auch T. Oppermann, Vom Nizza-Vertmg 200 1 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, in: DVBI. 2003, S. I ff. J. Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, in NJW 2002, S. 993 ff. ' " P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 604 ff. :1.59 Vgl. ww\v.cap.uni-muenchen.de/konventlentwuerfe.htm. 460 Young Cr·istian Democmts Of Denmark (8. Langdahl, T.N. \V. Pedersen), A Danish Proposal on a Europeon federal Constitution, 25. März 2003, abrufbar unter http://kfu.dk /ttf/108.pdf. 461 Der Entwurf: Verfassungsgrundsätze der Europäischen Union, 14. Februar 2003, vgl. www.bundestag.de/intemat/eu_konventlverf_ent.html. 462 H. W Maull, R. Kin (Hrsg.), Eine Verfassung flir Europa. Trierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union. Ergebnis eines Projektseminars Trierer Studentinnen und Studenten, 2003. 463 "The Constitution of the European Union" (Discussion Paper), I0. November2002, Text of the EPP Convention Group meeting in Frascati, abrufbar unter http://www .cap.unimuenchen.delkonventldownloadiEPP-Constitution2.pdf. 464 "Die Verfassung der Europäischen Union'' (Diskussionspapier), überarbeitete Fassung einschl. des 2. Teils, 27. 01.2003, vgl. CONV 6 16/03 \ 'Offi 01. 04.2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
165
Der "Berliner Entwurr' von G. Glaser und M. Rmh (November 2002)467 und der "Freiburger Entwurr' des Europa-lflstiruts Freiburg e. \~ (November 2002)' 68 verdienen ebenso e ine Erwähnung wie der "Entwurf e iner Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für den Verfassungskonvent der EU" von R. Scholz (2002)""", der Vorentwurf des Verfassungsvertrages vom Konventspräsidium (Oktober 2002)"" und der Vorschlag ei ner "Vetfassung der Europäischen Union" an den Konvent von J. Leinen (Oktober 2002) 471• Auf W iderhall stießen zudem der Entwurf von A. Dashwood, M. Dougan, C. Hillion, A. JoluJSton und E. Spavem (Oktober 2002)m sowie die Ans ätze der Konventsmitgl ieder E. 0 . Pacioui413 , E. Brokm, R. Badinter"' und A. Duf/416 • Neben dem in mancherlei Hinsicht geglückten Entwurf von F. Dehousse und \V. Coussens (Europen Policy Center)477 ist in messbaren Grenzen beachtenswert auch der "First Green Draft for a European Constitution" der jungen Grünen-Politi-
465 F Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union, Entwurf und Begründung, 2. AuH. 2003, S. 27 ff. ... Abrufbar unter hltp:J/europa.eu .inlffuturum/documents/offtex lfconst05 1202_en.pdf. 467
Abrufbar unter http://www.gloser-spd.de/berliner_entwurf- verfassung_fuer_die_eu
.pdf. 463
Europa-Institut Freiburg e. V. (Hrsg.), Freiburger Entwurf fiir einen europäischen Verfassungsvertrag, 2002. 469 R. SchoJz, Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für den Verfassungskonvent der EU, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, Vierteljahresschrift für staatliche und kommunale Rechtsetzung, 17. Jahrgang, Sonderheft 2002. 410 Vgl. CONV 369/02 sowie http:/lregister.consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00369d2 .pd{ 471 Abrufbar unter http://www.joleinen.de/dokumente.html. 472 "Draft Constitutional Treaty of the Europea.n Union and related documents", vgl. CONV 345/02 REV I sowie http://register.consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00345rl d2.pd{ 473 "Progetto di Costituzione deii 'Unione Europea" (ital.), "Projet de Constitution de I' Union Europenne" (franz.), vgl. CONV 335/02 vom I0. Oktober 2002sowie http:/lregister .consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00335d2.pd{ 474 "Constitution of the European Union" (Discussion Paper) neuere Version zum Entwurf vom I 0. Septembe r 2002 ( abrufbar unter http://www. weltpolitik.nelftexte/policy /verfassunglbrok.pdf), vgl. CONV 325/02 vom 8. Oktober 2002 (CONTRIB II I) sowie http:/lregister.consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00325d2.pdf 475 "Eine Europäische Verfassung, Une Constitution Europenne··, vgl. CONV 3J7/ 02 vom 30. September 2002 sowie http:J/register.consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00317d2 .pdf 476 "A Model Constitution for a Federn! Union of Europe", vgl. CONV 234/02 vom 3. September2002 sowie http://register.consilium.eu.inlfpdf/de/02/cv00/00234d2.pdf 417 Constitution of the European Union, 17. September2002, vgl. http:/lwww.cap.unimuenchen.de/konventldownloadiEPC-DehousseCoussens.pdf.
166
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ker SeiferT, Lührmann. und Nouripour (September 2002).,. sowie "La Constitution Europeene de Cluny" der Convemion Europeene de Cluny (Juli 2002)479 • pp) Der Europäische Konvent'"'
(I) Auftrag und Zusammenser~un.g -das innovative Konvemsnwmenr Der "EU-Konvent zur Zukunft Europas" wurde von den europäischen Staatsund Regierungschefsam I4./15. Dezember2001 beauftragt, "die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union aufwilf t." Dazu wurden in der benannten "Erklärung von Laeken" jene knapp 60 Fragen aufgelistet, mit denen s ich de r Konvent beschäftigen sollte. Praktisch war damit der Auftrag für eine Generalrevision der Europäischen Union gegeben. Der Konvent hat seine Arbeit so angelegt, dass praktisch das gesamte europäische System auf den Prüfsta nd kam. Im Unterschied zu Regierungskonferenzen, die bisher die Verträge ausgearbeitet hatten, setzte sich der Konvent nicht aus Diplomaten der Mitgliedstaaten zusammen, sondern in erster Linie aus Parlamentariern. Darin lag das "innovative Moment" des EU-Konvents flir die europäische Verfassunggebung. Der Konvent versammelte I05 Mitglieder und die gleichen Zahl von Stellvertretern. Auch Vertreter der Beitrittsstaaten nahmen teil. Neben dem Präs identen und zwei Vizepräsidenten bestand der Konvent aus -
28 Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten, I 6 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 56 Vertretern der nationalen Parlan1ente und zwei Vertretern der EU-Kommission.
Zwar hatten die Mitglieder der Beitrittsstaaten kein Stimmrecht, doch wirkte s ich das in der Praxis mangels Abstimmungen nicht aus. Die stellvettretenden Mitglieder waren im Status den Mitgliedern praktisch gleichgestellt."' 473
Vgl. http://www .cap. uni-muenchen.de/konventldownload!Y oung_Greens.pdf. Vgl. http://pictel.cluny.ensam.fr/Europe/textes/const_200 l.htm. :aso Aus der Lit: T. Oppermann, Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/2003, in: DVBJ. 2003, S. I ff.; F. C. Mayer, Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung. Zur Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents, in: ZaöRV 63 (2003), S. 59 ff.; /. Pemice, Eine neue Ko mpetenzordnung für die Europäische Union, in: P. Häberle/ M. Morlok/ W. Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos. Zum 70. Geburtstag am 5. Mai 2003, 2003, S. 477 ff.; S. Magiera , Die Arbeit deseuropäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, in: DÖV2003,S. 578 ff.; D. Tsarsos, Der Europäische Konvent, in: Festschrift für T. Reiner, 2003, S. 749 ff. Siehe insb. auch d ie Bibliographie des Verf (2006). 481 Aus Deutschland gehörten zuletzt dem Konvent an: Bundesminister J. Fischer (Grüne), und Staatsminister H.M. Bury als Vertreter der Bundesregierung, Ministerpräsident 479
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Ein bedeute nder Vorteil des Konventsverfahrens lag im Beginn der "Politisierung" des europäischen lnteressensausgleichs. Grundsätz lich ist e ine Abstimmung von 25 (plus x) nationalen Interessen nahezu unmöglich. Unhabhängig von e iner aktuellen Bewertung steht einem Konvent dagegen grundsätzlich die Möglichkeit zur Interessenformulierung innerhalb der vier Institutionengruppen und der " politischen Fami lien" offen. So etfolgte beispielsweise zum Ende des Grundrechtekonvents der politische Interessenausgleich nicht mehr e ntlang der nationalstaatliehen Linien, sondern zwischen den politi schen Gruppen . Die Zusammenkünfte der "politischen Familien" im Vorfeld der Plenarsitzungen führten so schon beim ersten Konvent zu einer Abstimmung über die nationalen Grenzen hinweg!"
(2) Die Gesta.lrung der Konvenrsa.rbeir Der Konvent konnte freilich auf zahlreiche neue Vorschläge für e ine Reform bzw. Ersetzung der geltenden Verträge zurückgreifen. Die jeweiligen Vorarbeiten spielten in der Konsequenz aber e ine vergleichbar marginale Rolle. Die Zusammenarbeit zwischen dem Plenum und de m Präsidium bzw. seinem Präs identen gestaltete sich von Beginn an nicht reibungs- und konfliktfre i!" So wurden etwa Arbeitsgruppen mit einer realistischen Zeitvorgabe e rst auf Druck des Plenums e ingesetzt, ohne dass dabei tatsächlich plausible Strukturüberlegungen erkennbar waren. Zu einem zentralen Punkt der Reform, den Institutionen, hat es keine Arbeitsgruppe gegeben. Von Vielen wurde beklagt, dass die "GrundE. Teufel (CDU) und II' Gerhards (SPD), als Vertreter des Bundesrates, J. Meyer (SPD) und P. Altmaier (CDU) als Vertreter des Bundestages, E. Brok (CDU), K. Hänsch (SPD), S. Kaufmann (PDS) und J. \Vuermeling (CSU) in der Delegation des Europäischen Pariaments. 482 Der zweite Konvent hat daraus zumindest vordergründig seine Konsequenzen gezogen: Bereits vor der Eröffnungssitzung am 28. März 2002 fanden sowohl die ersten Treffen der Institutionengruppen als auch Koordinierungssitzungen der "po litischen Familien"' statt. 483 Bereits der Auftakt der Konventsberatungen war in diesem Sinne misslungen, da das Präsidium den Versuch unternommen hatte, eine ausschließlich von ihm selbst entworfene, sehr präsidiallastige Geschäftsordnung zur Grundlage der Konventsarbeit zu machen, vgl. auch J. Meyerl S. Hölscheidt, Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: EuZW 2003, S. 613 ff. Um die Verfassung z u entwerfen, wurden 27 Plenarsitzungen zwischen dem 28. 2. 2002und dem 10. 7. 2003 durchgeführt, in de nen es 1802 Redebeiträge gab, d ie als Folge der Beschränkung der Redezeit "nur" 5436 Minuten in Anspruch genommen haben. Das Präsidium hat SOma) getagt. Es gibt &4-8 Konventsdokumente; 5995 Änderungsanträge wurden gestellt. Elf Arbeitsgruppen gab es, die insgesamt 86 Sitzungen durchgeführt haben; hinzu kommen drei Arbeitskreise, die insgesamt zwölfmal getagt haben, vgl. CONV 85 1/03 v. 18. 7. 2003; Agence Europe v. 10. 7. 2003; die letzte CONVNr. istzwar 854/03 v. 29. 7. 2003,doch wurden gern. CONV 835/03 v. 29. 7. 2003 6CONVNr. nicht vergeben.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
rechtecharta" vom Präsidium als "Steinbruch" genutzt worden wäre, indem es ihre Normen in anderen Teilen der Verfassung untergebracht und dadurch unnötigerweise hunderte von Ändemngsanträgen provoziert hätte. Ein allzu üblicher Verfahrensfehler ließ sich ebenfalls nicht vermeiden: die anfänglich gefiihrte Generaldebatte war viel zu langwierig, so dass dem Konvent gegen Ende nicht genügend Zeit blieb, den umfangreichen Teil III in der gebotenen Ausflihrlichkeit 484 zu erörtern. Der Konvent tagte im Plenum an 52 Sitzungstagen zwischen März 2002 und Juni 2003. Dies gab Gelegenheit zu 1802 mündlichen Beiträgen. Arbeitsgruppen wurden eingerichtet u. a. zu den Themen Subsidiarität, nationale Parlamente, Zuständigkeiten, Ordnungspolitik, Inneres und Justiz, Gesetzgebungsverfahren, Außenbeziehungen und Verteidigungspolitik. ln dem Konvent haben sich die Mitglieder sowohl nach politischer Zugehörigkeit wie nach Delegationen (z. B. Europäisches Parlament oder nationale Parlamente) zusammengefunden. In diesem Rahmen fanden jeweils Koordinierungen statt. Die Fraktion der Europäischen Volksparte i (EVP), umfasste etwa 40 Prozent der Mitglieder, dieder Sozialisten 30 Prozent. Die EVP-Gruppe hatte in vielen Punkten aufgrund (damalig) weitgehender Homogenität eine Führungsrolle übernommen bis hin zur Vorlage des bereits e rwähnten kompletten Verfassungsentwurfs.485
484
J. A1eyerl S. Hö/scileidl, Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: EuZW 2003, S. 613 rr., 613 stellen zu Recht fest, dass d ies e in "wichtiger Grund fUr manche Ungereimtheiten der Verfassung'' gewesen sei: .,Theoretisch wäre es sinnvoll und möglich gewesen, die Konventsarbeit weiter zu verlängern, praktisch nicht. Europa benötigt generell Zeitdruck, um Fortschritte zu erzielen. Speziell flir den Konvent als neuartigem parlamentarischen Gremium wardie Mitgliedersituation zu betiicksichtigen, weil persönliche Kontakte jenseits starrer Delegationsgrenzen, wie sie Regierungskonferenzen kennen, eine große Rolle gespielt haben. ln den Konvent brachten lediglich 14 Mitglieder durchgängig ihre Erfahrungen aus dem Grundrechtekonvent ein; von den ursprünglichen I05 Mitg liedern waren am Schluss nur noch 69 vertreten, mehr als ein Drittel ist also ausgetauscht worden. Eine Verlängerung hätte zwangsläufig eine weitere Fluktuation mit sich gebracht und das Konventsgeflecht beeinträchtigt. Außerdem erschöpft sich die Dynamik und Produktionskapazität eines solchen Gremiums zu einem bestimmten Zeitpunkt. Erfahrungsgemäß ist er nach ca. zwei Jahren erreicht." Dies belegen auch die Prozesse der Verfassunggebung in den 70er Jahren in Griechenland, Spanien und Portugal auf der Staatenebene, die Verfassungskommissionell der fünf neuen Bundesländer auf der innerstaatlichen Ebene und zuletzt der Grundrechtekonvent auf der europäischen Ebene. 485 Die deutschen Vertreter von "Rot-Grün" hätten im Konvent eine maßgeblichere Rolle spielen können. Das Potential Deutschlands als größtem Mitgliedstaat wurde bei aller gebotenen Zurückhaltung auchangesichtsgegebener \Virkkräfte nur bedingt genutzt. Einen Akzent brachte zumindest die deutsch-französische Initiative im Frühjahr 2003 (wobei die "Vertretungsregelung" Deutschlands durchJ. Cliimc zu den traurigen Kapiteln tatsächlicher "lnteressensvertretung" zu zählen ist). Die Auswechslung des Regierungsvertreters P. Glotz durch Außenminister J. Fischer erfolgte zu spät. Zudem gehörte Fiselter als Grüner keiner der g roßen politischen Gruppen an, in der die Linien verabredet wurden.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Der Konvent wurde "gesteuert" durch den Präsidenten I~ Giscat-d d 'Esraing, das Präsidium und das Generalsekretariat Der Präsident war zunächst auf viele Vorbehalte der Mitglieder gestoßen. Er hat jedoch den Konvent Jaul Aussagen zahl reicher Mitglieder durch eine weitsichtige, pragmatische und konziliante Amtsführung überzeugen können. Seine Autorität hat in der Schlussphase gelitten durch das Beharren auf Vorschlägen, die das Plenum mit bre iter Mehrheit abgelehnt hatte.
(3) lnkurs: Der Konvem als Zemra.lisierungsplatiform ? Eine grundsätz liche Überlegung: die Verfassung ist e in klassisches Mittel, die Macht des Staates zu begrenzen. Sie kann aber auch dazu missbraucht werden, die Machtflille, die staatliche Institutionen angesammelt haben, ex post zu legitimieren und weiter auszubauen. Der Europäische Verfassungskonvent hatte vorgeschlagen, die Kompetenzen der Europäischen Union zu erweitern, anstatt s ie zu beschränken. Der Konvent wurde im Dezember 200 I vom Europäischen Rat e ingesetzt, auch weil der französische Präsident J. Chirac in Nizza offensichtlich e ine weite re Zentralisiem ng der Europäischen Union in wichtigen Punkten zu blockieren vermocht hatte. Nicht zuletzt um ihn - auch in seinem e igenen Land- unter Druck zu setzen4116 , beschloss die Ratsmehrheit, auf öffentlichke itswirksame Weise an die Spitze des Verfassungskonvents einen bürgerlichen Politi ker aus Frankreich zu stellen, der als besonders zentralis ierungsfreudig bekannt war. Die o ffizielle Begründung lautete frei lich anders: Der Konvent sollte erstmals den Parlamenten - dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten - die Möglichkeit geben, schon im Vorfeld einer Regierungskonferenz Einftuss auf die Reformdiskussion zu nehmen. Tatsächlich besaßen die Europaparlamentarier ( 16) und die nationalen Parlamentarier (30) im Konvent- allerdi ngs nicht in seinem Präsidium - zusammen eine Mehrheit der 66 Stimmen. Hierbei ist jedoch die unterschiedliche Interessenlage zwischen den nationalen und europäischen Parlamentariern zu berücksichtigen, wenn es um die Zentralisierung Europas geht. Das Kooperationspotential erschien zunächst eingeschränkt. Versucht man die verschiedenen Gruppen des Konvents nach ihrem jewei ligen Zentralisierungsinteresse zu ordne n, so standen die Vertreter der Kommission (2) und des Europaparlaments ( 16) an der Spitze. Es folgten der Präsident, d ie beiden Vizepräsidente n Amara und Dehaene (zusammen 3) sowie die Vertreter der nationalen Regierungen ( 15). Für eine Mehrheit bedUJfte es 34 der 66 Stimmen. Damit wurde deullich: Die Mehrheitskoalition, die einer stärkeren Zentralisierung grundsätzlich befürwortend gegenüberstand, besieht aus den Vertretern der Kommission und des Europaparlaments, der Leitung des Konvents und 13 (von 15) Regierungsvertrete rn (2+ 16+3+1 3=34). Der Repräsentant der französischen Regierung und die <Sb Vgl. nur R. Vaubel, Weshalb das Defizit an Demokratie bestehen bleibt, in: NZZam Sonntag vom 16. 2. 2003.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nationalen Parlamentarier konnten beliebig überstimmt werden. Im zwölfköpfigen Präsidium gestaltete sich dies noch leichter. Dem Präsidium gehörten - in der Rangfolge ihrer vordergründigen Zentralis ierungsneigung - je zwei Vertreter der Kommission und des Europaparlaments, die dreiköpfige Konventsleitung, drei Vertreter der Regierungen und zwei nationale Parlamentarier an. Den Ausschlag gab daher weitgehend die Konventsleitung. Zehn Mitgliederdes Konvents kritis ierten den Zentralisierungskurs. Diese Gruppe war nicht im Präsidium vertreten. Nunmehr in Fortflihrung der oben angestellten grundsätzlichen Überlegung: Die Zusammensetzung des Konvents könnte gegen die klassischen Maxi me der Verfassungstheorie verstoßen haben, wonach Ve1fassungs regeln nicht von denen aufgestellt werden dürfen, die s ie s päter einhalten sollen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass sich die Verfassunggeber mehr Macht e inräumen, a ls für das Gemeinwesen "gut" ist. Demzufolge hatte beispielsweise die erste französische Verfassunggebende Versammlung (Assemblee Constituante) in der Ve1fassung von 1791 ihren Mitgliedern verboten, flir das daraufhin zu wählende Parlament (Assemblee Legislative) zu kandidieren!" Tatsächlich haben die europäischen Institutionen den benannten verfassungstheoretischen Grundsatz bereits früher missachtet. So war der erste Präsident der Kommission mit ~V. Hallstein der Mann, der den EWG-Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt hatte. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hätte der Europäische Verfassungskonvent im Grunde nur aus Mitgliedern der nationalen Parlan1ente bestehen dürfen, denen fürdie Zukunft alle Ämter in den EU-Institutionen verwehrt worden wären. Dann hätte der Verfassungskonvent auch ganz an die Stelle der Regierungskonferenz treten können. Alle Änderungen der Verträge wären vom Konvent ausgehandelt und dann den Parlamenten der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt worden. Das wäre bereits insoweit vorzugswürdig gewesen, als die Regierungen oft allein deshalb an der Zentralisierung interessiert sind, um sich der extensiven parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Die Parlamentarier der Mitgliedstaaten haben jedoch kein Interesse an ihrer eigenen Entmachtung, und auch ein internationales Regulierungskartell hat flir sie wenig Wert. Interessant wird in diesem Gesamtzusammenhang und mit Blick auf den Verfassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon die zukünftige Rechtsprechung des EuGH sein. Zwar sollen die nationalen Parlamente die Möglichkeit erhalten, im Vorfeld der EU-Gesetzgebung ihre Bedenken anzumelden und im Nachhine in beim EuGH gegen Kompetenzüberschreitungen zu klagen. Jedoch ist bislang 487
ln diesem Kontext entwickelt der Gedanke eines Refe rendums in der Regel be-
sondere Anreize, vgl. daz.u A. Maurer/ S. Sclumz, Ratifikation durch Referendum. Europas
Verfassung nach der Regierungskonferenz, SWP-Papier, 2003, S. Hö/scheidt, I. Putz, Referenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff.; K. Schmiu (Hrsg.), Herausforde rungen der repräsentativen Demokratie, 2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
17 1
nicht erkennbar, weshalb der EuGH das Zentralisiemngsinteresse der anderen europäischen Institutionen nicht teilen sollte. Je mehr Kompetenzen die Europäische Union erhält, desto wirkungsmächtiger s ind die Hille, die die europäischen Richter zu e ntscheiden haben. Es würde zu weit führen zu postulieren, dass sich insbesondere deshalb der EuGH in der Vergangenheit a ls ,,Motor der Integration" betätigt hätte4' 8 • A llerdings ist in einer vergleichenden Betrachtung der Geschichte unterschiedlicher Bundesstaaten festzustellen, dass die Verfassungsgerichte kaum gegen Zentralisierungstendenzen vorzugehen tendierten und diese nicht selten durch ihre Rechtsprechung verstärkten.••• Demz ufolge und aufgtund der beklagten Chancenlosigke it der nationalen Parlamente vor dem EuGH wurde bereits in den 90er Jahren des vergangeneo Jahrhunderts wiederholt die Forderung aufgestellt, die nationalen Parlamente über e ine zweite Kammer des Europaparlan1ents oder dire kt an der europäischen Gesetzgebung zu beteiligen. Auch wurde erwogen, dem EuGH zumindest e in "Subsidiaritätsgericht" an die Seite zu stellen, das aus Vertretern der höchsten nationalen Gerichte bestünde und ausschließlich über Kompetenzstreitigkeiten zu entscheiden hätte. 490
Siehe nur G. G. Sane1~ Der Europäische Gerichtshof als Fördererund Hüter der Integration, 1988. Zur bisherigen Rolle des EuGH J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgerich t und Rechtsschutzinstanz, 1983; 0 . Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Z u den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000), S. 386 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungs lehre, 4. Aufl. 2006, S. 478 ff.; lV. Gmf v;rulmm, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergle ichende Aspekte, in: JZ 1998, S. I 6 I ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsba-rkeit im Zeichen Europas, 1998; P. PermhaJer, Die Herrschaft der Richte r im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestaltenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000, S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshofzwischen Recht und Politik, 1997. 489 Eine Ausnahme bildet e twa das schweizerische Bundesgericht, da es nicht für Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund zuständig ist. " 90 Solche Vorschläge, wie sie die "Europetm Constirutional Group" (ECG) in einem Entwurf für e ine europäische Ver fassung im Sinne einer liberalen Ordnung 1993 vorgestellt hatte, stießen jedoch bei der Mehrheit des Verfassungskonvents auf wenig Widerhall. Die ECG ist im Juni 2002 in Berlin mehr oder weniger neu lanciert worden, um das Vorhaben des EU-Verfassungskonvents kritisch zu begleiten; Zielsetzung war u. a. sozusagen a ls Schatten-Konvent z.u arbe iten, um bei der Veröffentlichung des ofiiziellen Verfassungsentwurfs des EU-Konvents mit e inem liberalen Gegenvorschlag aufzuwarten. Die wiedererweckte ECG umfasste I 8 Ökonomen und Rechtsexperten. Der Entwurf der ECG war naturgemäß \•iel schlanker als d ie Dokumente des EU- Konvents, inhaltlich aber radikaler. Die Autoren waren der Meinung, dass fUr eine wachsende Europäische Union in gewissem minimalem Ausmaß e ine fOderale Union nötig sei, um deren Funktionsfahigkeit zu sichern. Gesucht wurden deshalb Spie lregeln für eine demokratische, föde ral aufgebaute Europäische Union mit klarer Kompetenzaufte ilung zwischen den verschiedenen Staatsebenen; Verfassungsregeln, die die Rechte der Bürger schützen, nicht- wie es eher EUTradition ist -die Rechte von Staaten. Als Grundrechte sollten die in der Konvention von 1950 umschriebenen Freiheitsrechte gelten und nicht - wie es der EU- Konvent letztlich vorsah -die im Dezember 2000 verkündete Grundrechte-Charta der Europäischen Union. 481
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(4) Zeilgemäße Aspekte der Öffemlichkeitsarbeir? Der Konvent tagte öffentlich und alle Dokumente waren über das Internet jedermann zugänglich. Ziel war eine umfassende Debatte aller Bürgerinnen und Bürger zur Reform der Europäischen Union. Dazu wurde ein "Forum" geschaffen, das allen Organisationen der Zivilgesellschaft offen stand. Hier sind 1264 Beiträge von Nichtregierungsorganisationen eingegangen, die beispielsweise im Rahmen e iner Anhörung der Zivilgesellschaft am 25./26. Juni 2002 durch den Konvent in die Debatte eingeflossen sind. Der Vorsitzende hat die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, auch auf nationaler Ebene Foren zur Bürgerbeteiligung einzurichten. ln einem "Jugendkonvent" wurde am 10. Juli 2002 der Beitrag von über 200 Jugendlichen gehört. Eine breitere Öffentlichkeit nahm trotz dieser Bemühungen erst gegen Ende des Mandats von den Arbeiten Notiz. Umfragen zufolge hatten zum Schluss gerade einmal die Hälfte der EU-Bürger von dem Konvent gehört. Dies, obwohl der Verfassungstext gerade Übersichtlichkeit, Einfachheit und Bürgernähe vermitteln sollte. Umfassend informiert wurden allerdings die nationalen Parlamente durch ihre Vertreter. ' 9 ' Die Kernthemen, mit denen der Konvent s ich zu befassen hatte -Transparenz, Demokratie, Effizienz und Effektivität politischer Entscheidungsverfahren - sind wesensmäßig weitgehend identisch mit jenen, die auch im nationalen Kontext Begründet wurde dies damit, dass die Charta zur verfassungsmäßigen Beschränkung der Staatsgewalt ungeeignet sei, da sie neben Freiheitsrechten viele Stellen enthalte, aus denen zahlreiche Schutz- und Unwerteilungs-Versprechen ableitbar wären. Im ECG-Vorschlag wird die zweite Kammer nicht aus dem Europäischen Rat gebildet; d ieser bleibt näher bei seiner heutigen Rolle. Die Zuständigkeit der e uropäischen Regierung beschränkt sich a uf Verteidigung, Außenpolitik, Außenhandelspolitik. die Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren, Diens-tleis-tungen, Personen und Kapital inne rhalb der Europäischen Union, auf Wettbewerbspolitik sowie Umweltpolitik mit Blick auf EU- weite Umweltprobleme. All d ies soll nur an die oberste Ebene delegiert werden, wenn unter den Mitgliedstaaten darüber Konsens herrscht und ein Referendum darüber die Volks- und Ländermehrheit findet. Der Haushalt der europäischen Regierung muss über die Legislaturpe riode hinweg ausgeglichen sein. Die europäische Regierung wird durch e ine spez.iell bezeichnete Steuer finanziert, etwa durch e ine proportionale indirekte Steuer. Steueränderungen sind nur bei Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern und Zustimmung des Volkes möglich. Für wichtige Geschäfte gilt e in obligatorisches, für andere Vorlagen bei bestimmten UnterschriftenQueren ein fakultatives Referendum. Vorlagen bedürfen z ur Annahme einer Volks- und LändermehrheiL Jeder Staat hat das Recht, aus der Europäischen Union auszutreten, wobei das Volk mit qua lifizierter Mehrheit zustimmen muss und Verfahren mit Übergangszeiten festzulegen sind. Schlies.slich ist das Verfahren bei Entwurf und Verabschiedung einer Verfassung von zentraler Bedeutung, zumal diese eine Art Grundkonsens der EU-Bürger darstellen sollte. Eine Verfassung nach dem Geist der ECG müsste wohl dem Volk vorgelegt '"-erden, und zwar in der ganzen Europäischen Union. 491 So haben etwa CDU/CSU-Konventsmitglieder der Führungsspitze, den Europapolitikern, Bundestagsabgeordneten und \Veiteren Mandatsträgern der Partei nach jeder Plenartagung schriftlich Bericht e rstattet.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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vieler EU-Länder bestehen, während die EU-Kandidatenländer in der zurückliegenden De kade ei nem inte nsiven Reformprozess unter diesen Pe rspektiven unterzogen wurden: gelegentlich dräng! sich der Eindruck auf, dass s ie dadurch besser auf die Europäische Union vorbereitet s ind und waren als manches bisherige EU-Mitglied auf die gemeinsame europäische Zukunft. Der Verfassungstext ist zwar nicht gerade über Nacht, aber doch in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahren entstanden. Gewiss, auch Verfassungen von Staaten kamen zum Te il sehr schnell zustande. So bei spielsweise die gaullistische Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. Sie wurde 1958 unter der Leitung von M. Debre in wenigen Monaten redigiert und in Kraft gesetzt. A lte Staatsverfassungen wie diejenige der Vereinigten Staaten von 1787 aber waren meist Produkte langer, intensiver Diskussionsprozesse. ln der Schweiz nahm die Tagsatzung 1848 die neue Bundesverfassung zwar nach nur einigen Wochen dauernden Kommissionsverhandlungen an. Sie griff- so der Kommentar (des US-Schweizers) IV. Rappard - zwar so lustlos zum neuen Text wie e in ermüdeter Patient zum rettenden Medikament. Doch waren der Errichtung des Bundesstaates von 1848 während ftinfzig Jahren zum Teil erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten, Liberalen und Konservativen vorausgegangen. Der EU-Verfassungskonvent hat zügiger und diskreter gearbeitet als die meisten staatlichen Verfassunggeber. Er war nicht umlagert von e inem nachrichtenbegierigen Publikum. Er produzierte definitiv kei ne "Federalist Papers", wenn man e inmal von (verstreuten und eher unkohärenten) öffentlichen Stellungnahmen aus den Federn von U. Eco, J. Habermas, J. Derrida, A. Muschg und anderen Intellektuellen abs ieht. Der Prozess vollzog sich - im Gegensatz zu klassischen Fällen des staatlichen "constitution-making"- in einer gewissen Abgeschiedenheit vom politischen und intellektuellen Leben . Trotzdem war niemals zuvor in der Verfassungsgeschichte ein Verfassunggebungsprozess im Angebot so öffentlich, demokratisch und transparent. Ein entscheidender Unterschied zur "Geheimniskrämerei von Philadelphia oder Herrenchiemsee""". Es wird allerdings abzuwarten und manche Analyse bestritten sein, bevor e ine klare Festeilung gewagt werden kann, ob das allgemeine Interesse wenigstens an den Ergebnissen des Konvents und sei ne n Folgen höher war als bei Verfassungsprozessen früherer Zeiten. Verfassungsfragen s ind oftmals prozeduraler Natur und interessieren daher neben den naturgemäß Betroffe nen und Beteiligten in den Institutionen regelmäßig Minderheiten. Es ist demzufo lge ein bedauernswerter Umstand, dass die europäische Verfassungsdebatte am Ende wieder auf eine Institutionendebatte reduziert wurde, gerade in dem Augenblick, 491
SoL. Kiilmhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struk-
turentscheidungen, ZEI Discussion-Paper, 2003.
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wo sie in das Blickfeld der Medien gelangte. Es wäre beispielsweise zielführender gewesen, unter Beteiligung einer tatsächlich e inbezogenen europäischen Öffentlichkeit"' darüber zu streiten, warum die Charta der Grundrechte nicht an eine prominentere Stelle in der Verfassung gesetzt wurde, denn sie weiß eine hervorgehobene Facette politischer Identität zu verkörpern, die aus der Europäischen Union neben der Staatenunion auch eine Union der Unionsbürger macht.
(5) Bera.mng der Verfassrmgsume, die Rolle des eiltt,elnen Milglieds Auf der Grundlage der ersten Diskussionen und der Ergebnisse der Arbeitsgruppen erarbeitete das Präsidium im Oktober 2002 e in Rohgerüst fiir den Verfassungsvertrag. Sodann wurden sukzessive Vertragsartikel für die diversen Teile des Entwurfs vorgelegt. Nach Vorstellung dieser Artikel im Plenum konnten die Mitglieder (und auch die Stellvertreter) binnen einer Woche schriftliche Änderungsanträge zu den Texten e inreichen (I. Lesung). Insgesamt wurden fast 8000 solcher Änderungsanträge gestellt. In der folgenden Plenartagung wurden die Texte und die Änderungsanträge diskutiert. Auf dieser Grundlage überarbeitete das Präs idium den Entwurf und legte eine neue Fassung vor. Zu dieser konnten wiederum Änderungsanträge eingebracht werden (2. Lesung). Nach einer erneuten Überarbeitung und Diskussion im Plenum (3. Lesung) wurden noch geringfligige Änderungen vorgenommen, bevor man den Konsens feststellen konnte. Dieses Verfahren räumte dem Präsidium des Konvents eine starke Stellung ein. Es traf sich zu insgesamt 50 Sitzungen und unte rbreitete dem Plenum 52 Arbeitspapiere. Kein einziger Text kam in den Vetfassungsvertrag, der nicht zuvor die Billigung des Präsidiums erhalten hatte. Dies war in dem Mandat des Gipfels von Laeken angelegt, nach dem das Präsidium die Aufgabe der Ausarbeitung der Texte hatte. Im Konvent konnte nicht abgestimmt werden, denn er war nicht repräsentativ zusammengesetzt. Bei Abstimmungen hätte auf die Sensibilität von einzelnen Mitgliedstaaten nicht Rücksicht genommen werden können. Wären aber deren Vertreter regelmäßig überstimmt worden, hätte der Entwurf keinerlei Chance gehabt, die Regierungskonferenz zu pass ieren . ln den Pienardebauen konnte sich das e inzelne Mitglied in auf drei Minuten beschränkten Wortbeiträgen zu den vorgegebenen Themen äußern. Nach einem Block von fiinf Redebeiträgen konnten Kurzreaktionen von einer Minute abgegeben werden.
493
Den Begriff "europäische Öffentlichkeit" beleuchten und definieren P. Hiibede,
Europäische Yerfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 163 ff. mit zahlreichen Nachweisen; siehe auch den Sammelband von C. Franziusl U. K. Preuß (Hrsg.) Europäische Öffentlichkeit, 2004. Ygl. bereits P. Häberle, Öffen tlichkeit und Verfassung, in: ZfP 1969, S. 273 ff.
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Die Beratungen in den Arbeitsgruppen waren wesentlich e rgebnisorientierteL Sie tagten nur während eines kurzen Zeitraums von zwei oder drei Monaten und hatten das Ziel, Orientierungen zu Einzelthemen wie etwa den ergänzenden Zuständigkeiten oder der Verteidigungspolitik zu erarbeiten. Da sich die Präsenz der Mitglieder hier meistens auf ein Dutzend beschränkte, war eine intensive und produktive Diskussion dereinzelnen Themen möglich. Die meisten Reformansätze in dem Vertrag beruhen auf Vorarbeiten in den Arbeitsgruppen. Darüber hinaus konnten die Mitglieder wie eben e rwähnt Änderungsanträge und "schriftliche Beiträge" e inbringen. 1159 solcher Beiträge s ind zum Plenum und zu den Arbeitsgruppen eingegangen.•.. (6) Schlussphase der K onvemsarbeit, Abstimnumg(sprobleme) im Europäischen Rar
Allerorten entwickelten s ich in der Schluss phase der Arbeit des Konvents überbordende Plattforme n fiir europafreundliche Schriften und Reden. Vielfach wurden der Wert und das Ziel e iner Balance zwischen den Institutionen der Europäischen Union angerufen. Gleichwohl aber war an vielen Orten auf subtile Weise eine wachsende Stimmung gegen Europa zu s püren. Man hatte nicht selten den Eindruck, dass Europa dort geschwächt werden sollte, wo es funktioniert (Binnenmarkt), und dass es dorttrotzaller Rhetorik schwach bleiben könnte, wo die Bürger eindeutig und ausweislich aller demoskopischen Befunde "mehr Europa" wünschen (Außen-, Justiz-, Innenpolitik). In Nizza waren die Vetokapazitäten zwischen den Staaten gefestigt worden, bisamEnde die Einsicht Platz griff, dass das System insgesamt nicht mehr funktionieren würde. Nicht selten entstand in der Schlussphase des Konvents der Eindruck, als sollten dieses Mal die Vetokapazitäten gegenüber den gemeinschaftsbi ldenden Prozessen und Institutionen gestärkt werden. Erneut - wie im Umfeld von Nizza - wurde intensiver über Kompromissspielräume bei den Institutionenfragen als über Maßstäbe, Ziele und Folgen des Verfassungsprozesses debattiert. Nach der Übergabe des Entwurfs durch den Konvent im Juli 2003 begannen im Oktober 2003 die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz im Dezember. Die Zeit der Vorverhandlungen zur endgültigen Verabschiedung war knapp bemessen- ein Großteil der Verantwortung lag hierbei in den Händen der italienischen Ratspräsidentschaft Der Vorsitz selbst arbeitete darauf hin, die außen- und s icherheitspolitischen Kapitel des Entwurfs zu modifizieren und fiir alle anderen Fragen diffe renzierte Lösungsmöglichkeiten zu präsentie ren."' Ein sehr kontro494
Die Beiträge s ind auf der \Veb-Site des Konvents (http://europeanl-lconvention.eu
.int) zugänglich. 495 Vgl. A. Maurer, Aufschnüren oder Dynamisieren? Chancen und Risiken der Regierungskonferenz zum EU-Verfassungsvertrag, SWP-Aktuell Nr. 38,2003, S. I.
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verser Verhandlungsverlauf war zu erwarten. Zur EffizienzsteigeJUng hatte man eine Vorgehensweise festgelegt: Stellte ein Mitgliedsstaat eine partielle Regelung, einen einzelnen Punkt des Gesamtkonsensus in Frage, trug er die Verantwortung für das Finden e ines neuen Konsensus. A. Maurer s ieht hierin e inen Fortschritt zum herkömmlichen "Bargaining" nach der Theorie A. Moravcsiks. 496 Nicht alle Teilnehmer sahen diese Vereinbarung als verbindlich und konsensual getroffen an.,., ln der Praxis sollte sich zeigen, dass im Zweifelsfall nationale Interessen stärker die Vorgehensweise der Konferenzteilnehmer bestimmten, als dieser edle Vorsatz. Auf verschiedenen Foren der Regierungskonferenz, darunter der Außenminis te rkonferenz in Neapel Ende November, hatten s ich bereits einige institutionelle Fragen in der Vorbereitungsphase des Abschlussgipfels klären lassen.' .. Bei den Diskussionen um den turnusmäßigen Wechsel des Vorsitzes im Ministerrat wurde als endgültige Lösung die "gleichberechtigte Rotation" im Vertrag festgehalten-eine präzise Ausgestaltung sollte zu einem späteren Zeitpunkt e rfolgen."'
490
Vgl. A. Mau,.erl S. Sclitmz, Auf dem Weg zum Verfassungsvertrag. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung in der Regierungskonferenz., 2003, S. 3. Bezug zu.: A. A1oravcsik, Preferences and Power in the European Community: A Liberal lnterngovernmentalist Approach, in: Journal of Common Market Studies, Nr 4, 1993. 497 Der "Economist" äußerte sich hierzu wie folgt: "The Germans, for ins-tance, think
that so broad a consensus was reached in the convention that any government wishing to fiddle with the text mus-t find an alternative broad consensus - which is unlikely", vgl. Economist vom 04. t 0. 2003. 493 Darunter waren d ie Funktion und flexi bilitätdes durch den Konvent vorgeschlagenen Legislativrates im Verhältnis zu den anderen Ratsformationen wie auch die Frage nach Status und Rolle des künftigen Außenministers. Die Außenministerkonferenz kam hier überein, dass kein eigenständiger Legislati\•rat gebildet v.<erden sollte, vielmehr sollten die einzelnen Fachräte immer dann als e in solcher zusammentreten, wenn sie ein Gesetzgebungsverfahren durchführen und in d iesem Zusammenhang öffentliche Beratungen stattfinden, vgl. Artikel I - 24, Entwurf eines Vertrags über e ine Verfassung für Europa, Fassung vom 06. 08.2004, C lG 87/04. Zur näheren Definition der Rolle des künftigen Außenministers der EU vereinbarte man e inen den anderen Kommissionsmitgliedem g leichberechtigten Status (Artikel I - 28, Entwurf eines Vertrags über e ine Verfassung für Europa, Fassung vom 06. 08.2004, CIG 87 /04). Gegenstände der Einigung waren die Klärung seines Stimmrechtes außerhalb der Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Frage, ob e in Misstrauensvotum des Parlaments gegen d ie Kommission auch eine Amtsniederlegung des Außenministers zur Folge haben sollte (vgl. Artikel 1-25, Verme rk des Vorsitzes der Ratspräsidentschaft an die Delegationen ClG 60/03ADD 1). " 99 Der italienische Vorsitz zielte auf d ie Diskussion achtzehnmonatig wechselnder Vorsitze. Neben der Dauer des Vorsitzes musste auch die Anzahl der Mitglieder innerhalb e iner Gruppenpräsidentschaft diskutiert werden: Laut italienischem Konsenpapier CIG 60/03 ADD I sollten dies drei Staaten sein. Diese Regelung ging schließlich in den Vertragstext ein. Die Alternative wäre gewesen, dass jeder Ministerrat in jeder seinerZusammensetzungenden eigenen Vorsitz autonom wählt. Die Formulierung des Artikell -24
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Am 24. November2003 verständigten s ich schließlich die EU-Botschafter der 25 Mitgl iedsstaaten überdie Neuordnung der Ratspräsidentschaft ln einem Turnus von 18 Monaten sollte im Regelfall e in jewei ls größerer EU-Staat gemeinsam mit einem kleineren bisherigen Mitgliedsstaat sowie mit einem "neuen" Mitgl ied die Teampräsidentschaft stellen. Gleichwohl: in den meiste n Auseinandersetzungen standen s ich die sechs Gründungsstaaten und die kleineren Mitgliedsstaaten, darunter die Beitrittsstaaten, gegenüber. Die Zusammensetzung und Beschlussfassung der Europäischen Komm ission war bereits im Konvent Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen.""' Die Kommission sollte laut Konventsentwurf ab dem I. November 2009 nur noch 15 stimmberechtigte Kommissare ("innerer Kreis") umfassen, die nach einem System der gle ichberechtigten Rotation ausgewählt würden. Neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten sollten weitere 13 Kommissare ("äußerer Kre is") vertreten sein. De r Kommissionspräsident würde einen Kommissar aus e iner Dre ier-Liste jedes Mitgliedsstaats wählen.' 01 Der Verzicht auf einen Kommissar bedeutet flireinen Mitgliedsstaat e inen nicht geringen Einflussverlust Die Kommissare gelten als Mittler zwischen "Brüssel" und ihre n Herkunftsländern, daher möchte jeder Staat mit der Person des Kommissars über ein "symbolisches Vertretungsdispositiv" verfugen. Es wurde vorgezogen, eine Einigung in dieser Frage zunächst auf einen Folgegipfel zu vertagen, da die kleinen Staaten ihr Inte resse hier massiv geltend machten. Die Ablehnung von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen ihres Verstoßes gegen die Defizitkriterien verschlechterte das Klima zusätz lich. Beide Staaten ste llten sich einer im Konventsentwurf vorgesehenen Vergrößerung der Kompetenzen der Kommission im Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entgegen. Die eigennützige Interessenlage beider Defizitsünder trug nicht gerade zu e iner affektfreien Diskussion bei. Diese Frage wurde ebenso wenig geklärt wie die der Rechte des Europäischen Parlan1ents im Haushalt der Europäischen Union und die Neustrukturierung der Parlamentssitze. Der Besetzungsmodus der Europäischen Kommission war wie die folgenden Diskussionsgegenstände keiner der Gründe, die unweigerlich zum Abbruch der Verhandlungen hätten führen müssen - da aber aufgrundder großen Streitfrage um die Gestaltung der Mehrheitsverhältnisse im Ministerrat ohnehin ein Scheitern absehbar war, bevorzugte man die Klärung jener Fragen unter Sondierung durch die folgende irische Ratspräsidentschaft
in der endgültigen Fassung ermöglicht eine Änderung des Modus durch das im Vergleich zur Verfassungsändenmg einfachere Verfahren des Europäischen Beschlusses. 500 Die kleinen Staaten wollten auch weiterflin einen eigenen stimmberechtigten Kommissa.r stellen, während Großbritannien und die Gründungsstaaten für eine Verkleinerung der Kommission eintraten. 50 1 Vgl. Artikel 25, Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, Fassung vom 18.07. 2003, CONV 850/03.
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Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zur Verbesserung der Handlungsfahigkeit und Effizienz war bereits auf den letzten Regierungskonferenzen vorrangiges Ziel gewesen. Da die Einführung eines Mehrheitsvotums regelmäßig national als Abtretung souveräner Kompetenzen wahrgenommen wird, wohnte diesem Thema hohes Konftiktpotential innerhalb der Mitgliedsstaaten inne. Einige Staaten waren nicht bereit, ihre Vetomöglichkeit in flir sie sensiblen Bereichen aufzugeben.'"' Die Konvents regelung fiir die Gewichtung der Stimmen im Ministerrat stellte die Streitfrage dar, die letztlich eine Einigung unmöglich machte. Die Formulierung von Artikel 24 des Konventsentwurfs wollte dem Doppelcharakter der Europäischen Union als "Union der Staaten" und " Union der Bürger" Rechnung tragen. Der Abstimmungs modus berücksichtigte im Vergleich zur Stimmengewichtung im Vertrag von Nizza'03 die tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Laut Konventsentwurf sollten zum Z ustandekommen einer qualifizierten Mehrheit 50 Prozent der Stimmen der Mitgliedsstaaten repräsentiert werden und gleichzeitig hätten 60 Prozent der Bevölkerungszahl darin vertreten sein müssen. Die relative Gestaltungsmacht bevölkerungsreicher Staaten wie Deutschland gegenüber den anderen großen Staaten im Rat wäre begünstigt worden. Polen und Spanien lehnten dies als Herabstufung ihrer im Nizza-Vertrag entstandenen Sperrminorität ab. Die Regierungen Polens und Spaniens argumentierten, dass sie auf diese Weise Mehrheitsbeschlüsse nicht mehr blockieren und folglich von den bevölkerungsreichsten Staaten der Europäischen Union dominiert werden könnten. Der Einsatz der Verhandlungspartner zielte hier folglich nicht auf direkten eigenen Machtzuwachs 501 Die Einführung des Abstimmungsmodus der qualifizierten Mehrheit sollte in den Politikfeldern Steuern, Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Justizpolitik wie auch Sozialpolitik und Haushalt e rfolgen. Die große Konfliktlinie bestand zwischen Großbritannien, Irland, Tschechien, Malta und Slowenien einerseits - und den anderen Staaten andererseits. Während erstere für Einstimmigkeit plädierten, hätten vor allem Deutschland, Belgien und Niederlande gerne künftig in diesen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Großbritannien erwies sich in dieser Hinsicht als unbeirrbar in seiner Position: Die verg leichs\veise niedrige Steuerquote sollte nicht durch Harmonisierungsz.wänge modifiziert werden müssen. Vor allem aber im Bereich der Außenpolitik gelten Kompetenzabtretungen an die supranationale Ebene als Souveränitätsverlus-te. Das von R. D. Pumam (Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Le.vel-Games. ln: International Organization, Nr. 3, J988) umrissene Verftandlungsparadigma ließe sich auf diese Situation anwenden: Die Kompromissbereitschaft und der Spielraum der Diskussionspa.rtner sind in dem vorliegenden Konfl iktfall stark von ihrer europapolitischen Grundposition zur Integration abhängig. Im britischen Fall kann davon ausgegangen werden, dass Verhandlungshärte nicht zur Erreichung von Zugeständnissen an den Tag gelegt wurde. Vielmehr Jassen sich von den "roten Linien" abweichende Ergebnisse innenpolitisch nicht rechtfertigen. Die "red lines" der britischen Regierung waren der Vorsatz, Mehrheitsentscheidungen in den Feldern Steuer-, Soz.ial- und Außenpolitik zu verhindern, vgl. etwa The International Harald Tribune vom 13. 12.2003. 503 J.A. Emmanoui/idis!T. Fischer, Die Machtfrage europäisch beantworten. Die Abstimmungsregeln von Nizza und Konvent im Vergleich, 2003.
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ab, sondern vie lmehr auf die Verhinderung e ines als Bedrohung e mpfundenen "Übergewichts" der großen Staaten. Die deutsche und die französische Delegation ftihlten sich zu Unrecht angegriffen. Es sei ihnen um die Einführung eines e infachen, transparenten und effizienten Abstimmungsvetfahrens gegangen, das Geslaltungsmöglichkeiten eröffne und keine Blockadehaltung konserviere.'"' Da s ich die Diskussion zunehmend im Kreise drehte, versuchte die Ratspräsidentschaft im "Beichtstuhlverfahren", also bi lateralen Einzelgesprächen, die Fronten aufzuweichen. In Ermangelung weiterer Verhandlungsmasse verkündete der italienische Premierminister schließlich den Abbruch der Verhandlungen. Der gescheiterte EU-Gipfel vom Dezember 2003 isl in eine weitere Perspektive zu rücken. So bemerkenswerl die konsensuale Übereinstimmung im Verfassungskonvent gewesen war- am Ende stand keine formelle Abstimmung. Am Vorabend der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union schien der größte mögliche Absturz der Hoffnung auf eine Verstärkung des politischen Charakters der Europäischen Union zu stehen. 505 Die Gründe ftir das Scheitern des Gipfels vom Dezember 2003 waren - wie geschi ldert - mannigfach. Vor allem mangelte es an einem "esprit europeenne" bei vielen der beteiligten Akteure. Die Ursachen dafür ließen sich nicht auf die besonders kontroverse Frage der Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat reduzieren. Machtfragen und psychologische Verstimmungen hatten sich vermischt - Folge einer Kette von Ereignissen und Tendenzen, die seit dem Gipfeltreffen des Jahres 2000 in Nizza ruchbar geworden waren und spätestens im internen kalten Krieg des Westens über die richtige Politik gegenüber der irakiseben Diktatur und über die Weisheit des amerikanischen Krieges gegen das Regime von S. Hussein eskalierten. Auch in dieser Hinsicht wurde eine alte Erfahrung bestätigt: Wann immer die transatlantischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind, befindet sich auch der Prozess der europäischen Einigung in e inem schlechten Zustand. Anders als im Dezember 2003 war es den Staats- und Regierungschefs jedoch bei ihrem zweitägigen EU-Gipfeltreffen am 18. Juni 2004 in Brüssel gelungen, sich auf e inen Verfassungsvertrag für die Union zu e inigen. Von vornhere in stand dieser Erfolg nicht fest. Allerdings warder Druck füreine Verständigung außerordentlich groß. Zum einen wollten die Konferenzteilnehmer ihre Entscheidungsfahigkeit nach der niedrigen Stimmbeteiligung an den Europawahlen und dem Vormarsch der EU-kritischen Parleien in vielen Mitgliedstaaten eindrücklich unter Beweis stellen. Zum andern standen die Regierungsverantwortlichen im Wort, denn sie hatten sich im März verpflichtet, bis Ende Juni die Beratungen über die EU504
Vgl. Reg ierungserklärung von Bundesaußenminis-ter J. Fischer zum Europäischen
Rat vor dem Deutschen Bundestag am I I. 12. 2003, abrufbar unter www .auswaertiges-amt
.delwww/delausgabe_archi v?archiv_id=5179. sos Vgl. L. KUhnhardr, Auf dem \Veg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus, in: NZZ, I6. Juli2004.
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Vertrags-Re form abzuschließen. Noch bedeutsamer war wohl die zielstrebige und e ffiziente Verhandlungsführung der irischen EU-Präsidentschaft, die es in allen Phasen der Debane verstanden hatte, scheinbar unüberbrückbare Differenzen mit kreativen Kompromissvorschlägen zu überwinden. qq) Einige Gedanken zum Ergebnis des Ve rfassungskonvents Eine umfassendere Bewertung des Verfassungsvertrages befindet sich im Anhang"", weshalb an dieser Stelle lediglich einige beifolgende (und gegebenenfalls von der "Parteilinie" abweichende) Gedanken sowie "wertende Bruchstücke" die bunte Fassade der Kommentierungen ergänzen sollen.
(I) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsvertrag? Bei der Verwendung des Begriffs "Ve tfassung" waren im Debattenverlauf um die Jahrhundertwende auch unter den politischen Akteuren e inige zurückhaltender als andere. Während J. Fischer in seiner Humboldt-Rede ganze zehn mal auf eine "Verfassung"- bzw. e inen "Verfassungsvertrag" Bezug nimmt, taucht der Ausdruck in J. Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag (2000) nur e inmal auf, und dann auch sehr vage: " Nach diesen Arbeite n, die sicherl ich e inige Jahre in Anspruch nehmen werde n, hätten zunächst die Regierungen und dann die Völker über einen Text zu befinden, den wir dann als erste , Europäische Vetfassung ' proklamieren könnten" 507 • Auch Bundeskanzler G. Sehröder sprach zunächst von e iner "verfassungsmäßigen Grundlage" oder "Verfasstheit" und erst später von "Verfassung".""' Nahezu a lle politischen Protagonisten betonten unterdessen den Verlaufcharakter eines "Konstitutionalisierungsprozesses". Zudem war auffallend, dass manche Akteure, so die Kommission und die CDU / CSU, fast ausschl ießlich von einem "Verfassungsvertrag" bzw. "Grundvertrag" sprachen, während so• Bewertungen (unte r Mitarbeit des l'erf) der CSU-Landesgruppe sowie der CDU/ CSU Fraktion im Deutschen Bundestag. Eine tiefergehender Bericht sowie eine entsprechende Bewertung (die unter dem Namen des damaligen Staatsministers R. BockJet der bayerischen Staatsregierung vorgelegt wurde) des ersten Entwurfes vom Juli 2003, findet sich unter www.bayern.de/.. ./contentlstklallgemein/ergebnisse_eu_konvent_03091 1 .pdf'?PHPSESSID=eb06875d90a340f2d38d4976. Vgl. z udem zu den Inhalten des Verfassungsvertrages die Bibliographie des \lerf (2006); dazu die bei P. Häberle, Europäische Ve rfass ungs lehre, 4. Auft. 2006, S. 66 t r., 666 ff. angegebene Lit. Vgl. zur Genesis auch d ie Aufs...1tze in H.-J. Bla11ke/ S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Consitution. The Hard Road from the European Treaties to a European Cons-titutional Treaty, 2006. 507 J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni2000, in: FAZ vom 28. 6. 2000, S . I0 f. sos So im Redemanuskript beim Internationalen Bertelsmann-Forum 200 1: "Das entgrenzte Europa", 19. Januar. 2001, mit G. Amaro in der FAZ , 2 t. 9. 2000: "We il es uns ernst ist mit der Zukunft Europas", sowie in der Regierungserklärung zu Nizza, 19. Januar200 I (vgl. das entsprechende Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages).
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etwa Fischerbeide Begriffe benutzte. Dem Europäischen Parlament dagegen e rschien "die Wahl des Ausdruckes [ ... ] von zweitrangiger Bedeutung. Der Begriff ,Verfassung' bringt unser europäisches Engagement stärker zum Ausdruck"'"• . Die Debatte um die (Richtigkeit der) Bezeichnung des Ergebnisses des Verfassungs konvents510 ist auf den ersten Blick ein Scheingefecht Wenn von einem idealen und metahistorischen Begriff der Verfassung sowie von der traditionellen Verbindung zwischen Staat und Verfassung - wie unten dargelegt'" - abgerückt werden muss, wenn also die Entwicklung der Europäischen Union auf ihre m "Sonderweg" zur Konstitutionalisierung ohne die gängigen Vorurteile, die der Begriff "Verfassung" mit sich bringt, bewertet werden soll, dann ist immerhin auch zu fragen, welche qualitative Ändemng der "Verfassungs"-text für die Europäische Union induzieren würde. Erst dann würde die Einflihrung des Wortes "Verfassung" eine eigentliche Bedeutungskraft entwickeln und e ine zielführende Betrachtung, nämlich in welcher Beziehung die künftige Verfassung Europas zur historischen Typologie der Verfassung steht, Sinn machen. Andernfalls könnte die Begriffl ichkeil über einen verordneten Symbolcharakter nur schwerlich hinausreichen. Ein "Verfassungsvertrag" hat aus theoretischer Perspektive grundsätzlich eine schwächere Bedeutung als e ine Verfassung. Er leitet s ich nicht allein von der Volkssouveränität ab, sondern ste llt in der Regel eine Vereinbarung zwischen selbständigen Staaten zur Begründung und Ausgestaltung e iner bundesstaatliehen oder bundesstaatsähnlichen Einheit dar. Wird innerhalb eines Staates e in Verfassungs vertrag abgeschlossen, ist meist von e iner Abmachung zwischen der Exekutive und Volk auszugehen. Im 19. Jahrhundert sollte diese r konstitutionelle Kompromiss die Souveränitätsfrage überflüssig machen, da ke ine von beiden konstituierenden Gewalten im Konfli ktfall das letzte Wort hatte. "' De r Terminus "Grundvertrag" ist im Übrigen noch enger gefasst und bezieht s ich nur auf die BündeJung der Artikel der Verträge, die bereits Verfassungscharakter tragen . Gleichwohl soll als unverzichtbare interpretatorische Grundlage im Rahmen ei ne r "Textstufenanalyse""' zunächst der eigentliche, vorliegende Text selbst einer Prüfung unterzogen werden . Das Wort "Verfassung" findet sich bereits in der 509 Europäisches Parlament, Ausschuss für konstitutionelle Fmgen: .,Bericht über die Konstitutionalisierung der Verträge", 12. Oktober2000. 510 Dieser Frage widmet sich auch P. HäberJe, Europäische Verfassungslehre,4. Auflage
2006, S . 647 f. 511 Vgl. unte r B.ll.2. f)nn)(2)(d). 512
So E.. \Y. Böckenfö]'(/e, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheo-
rie und zum Verfassungsrecht, 1991, S . 36. "' Begriff und Methodik der "Textstufe nanalyse" be ruhen auf P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2 . Auft. 1998, S. 342 ff. m. w. N.; zum ,;rextstufenparadigma" im europäischen Kontext ders., Europ..1ische Verfassungslehre, 4. Auß. 2006, S. 4 ff.
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Präambel, wonach den "Hohen Vertragsparteien" e ine "dankende Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents" dafiir zugeschrieben wird, dass diese Mitglieder "diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben".'" In den drei ersten Teilen bezeichnet sich der Text ausnahmslos mit dem Wort "Verfassung". Dagegen ist im 4. Teil (Schlussbestimmungen) nur noch die Rede von e inem "Vertrag" ("Je traite instituant Ia Constitution" in der französischen Fassung), dem "Vertrag über die Verfassung". Dies mag sich unter anderem daraus erklären, dass die Schlussbestimmungen formelle Fragen behandeln. Eine gewisse vertragsrechtliche Form des Textes zeigt sich auch dadurch, dass e r mit mehreren Protokollen versehen ist.'" Nun könnte man dazu neigen, dass es sich vorliegend ma.rerie/1 um eine Verfassung handelt,formell aber um einen Vertrag. Zumindest im Falle des Emwurfs wird die Form des Vertrags gebraucht, um iiber die Verfassung zu entscheiden (in der deutschen Sprachfassung heißt es "Vertrag über die Vetfassung"). Durch die Vertragsform wird die Verfassung letztlich gegründet (worauf die französischen Fassung hin deutet: "Traite insriruam la Constitution"). Offensichtlich wird aber auch ein "Vertragsmoment" in diesem Sinne fortdauern, was sich mit Art. IV-6 des Textes bestätigen lässt. In der Besti mmung wird das im Art. 48 EUV vorgeschriebene und vereinheitlichte Verfahren der Vertragsänderung modifiziert. An dieser Stelle"• sei lediglich die Notwendigkeit der Ratifizierung jeder Ändem ng durch alle Staaten nach ihren eigenen nationalen Verfassungsbestimmungen benannt, was zur Folge hat, dass der die Vetfassung gründende Vertrag also auch formell ein Vertrag bleibt. Der IV. Teil des Textes untermauert schließlich diese These. Im Ergebnis erweist sich die e uropäische Integration als weiterhin zwischenstaatlich gegründet. Diese in der "Verfassung" zu lesende Zwischenstaatlichkeil der Europäischen Union wird durch das in Art. I-59 niedergelegte Recht auf "freiwilligen Austritt aus der Union" noch verstärkt. Sezessionsrecht war stets der neuralgische Punkt, an den die Interpretation föderaler Verfassungsordnungen angestoßen ist. Mit Blick auf die amerikanische Verfassungsgeschichte sei nur an Ca.lhoun und seine "States Rights"-Doktrin erinnert, womit er die Stellung der Südstaaten vor dem Sezessionskrieg begründete."'
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Bemerkenswert an diesem Satz ist zudem das seitens des Konvents formulierte "Selbstlob durch Dritte". 515 Ein Umstand, der die "Lesbarkeit" des Gesamtwerkes- einer der wichtigen Aufträge des Konvents nach der E,.kJiirung ~·on Laeken - nicht unbedingt fördert. ". Ausfuhrlieh zum Ändenmgsverfahren unten B.IV.2. b). "' Vgl. dazu C. Schmitt, Verfassungslehre, 7 . Aufl., 1989, S. 374 f. Die vertragsmäßige Gründung des Deutschen Reichs 1866-187 1 sollte auch bei dem bayerischen Staats-
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Insgesamt isl mit der Anerkennung eines Austrittsrechts ei ne gewisse Schwächung der integrativen Symbolik verbunden , die man dem Terminus "Verfassung" beimisst. Eine weitere Akzentuierung erfahrt der derivative Charakter der EU-Zuständigke iten in der Formulierung von Art. 1-9, auch im Lichte von Art. 5 EGV. ln Letzterem isl das sogenannte Prinzip der Einzelermächtigung wie folgt aus formuliert: "Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig." Art. 1-9 Abs. 21autet (mittlerwe ile 518): "Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr die Milgliedsraa.ren519 in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr niedergelegten Ziele zugewiesen haben. Alle der Union nicht in der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten." Hiermit wird offenkundig, dass die Verfassung keine originäre Macht, sondern e ine begrenzte Zahl an Zuständigkeiten gestaltet, die von den Staaten zugewiesen sind. 520 rechtler M. von Seydel das Sezessionsrecht der Länder gewähren. Umgekehrt wurde das vom sowjetischen Föderalismus immer formell anerkannte Austrittsrecht der autonomen Republiken schon von Leni11 so interpretiert, dass seine Ausübung auf jeden Fall durch die unwahrscheinliche Bewilligung der Union bedingt und folglich faktisch unmöglich war (vgl. S.M. Mouskhely, Les contradictions du federalisme soviitique, in : Cemre de mcherches sur I'URSS et /es Pays de l'Esr (Hrsg.). L'URSS: Droit. economie, sociologie, politique, culture, t. I>Paris 1962> S. 25.). Für e ine Auslegung der Sowjetverfassung als zwischenstaatlich abgeschlossenen Vertrag war schließlich ke in Raum. m Im Konventsentwurf lautete Art. l-9 Abs.ll S. I noch: " Nach dem Grundsatz der begrenz-ten Einzelermächtigung wird d ie Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr von den Mitgliedstaate n in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr niedergelegten Ziele zugewiesen werden .~' Die zukunftsoffene Formulierung bezüglich der Zuständigkeiten, die der Union ,,zugewiesen werden". änderte sich bemerkenswerterweise in eine e ngere Fassung (nunmehr: "zugewiesen haben''). SJ9 Kursivsetzung erfolgte durch den Ve1J 520 Dieses Prinzip wird in Art. J-Sa im Kontext des Grundsatzes vom Vorrang des EURechts wiederholt: »Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigke iten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitg liedstaaten''. Eine solche klare Begrenzung des dem EU-Recht zukommenden Vorrangs steht im Übrigen der vom deutschen Bundesverfassungsge richt in seiner Maastricht-Entscheidung behauptete n Prüfungsko mpetenz nicht entgegen, vgl. BVerfGE 89, 155: "\ Vürden etwa europä ische Einrichtungen oder Organe de n Unions-Vertrag in e iner \Veise handhaben cxler fortbilden, d ie von dem Vertrag , wie er de m deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hohe itsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtliche n Gründe n gehinde rt, d iese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesver fassungsge richt, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hohe itsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen."' Man kann auch eine gewisse Zurückha ltung in den vorgesehenen Garantien erkennen, d ie den Rückgriff auf die neu gestaltete Flexibilitä tsklausel e inrahmen (Art. 1-17) . Da mit soll d ie vie l diskutierte Gefahr einer durch diese
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auch im Hinblick auf die Ausgangslage des Konvents ist einer unreflektierten Bezeichnung des Textes als "Verfassung" mit Skepsis zu begegnen. Der Konvent tagte, wie bereits angedeutet, nicht in einer "revolutionären" Situation, die einen Bruch mit dem bestehenden Recht oder e ine Staatsgründung gestattet hätte. Er sollte auf der Bas is e ines Mandats der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie geltender internationaler Verträge arbeiten, die es zu ersetzen gilt, was wiederum die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordert. Mehr als ein "Vertrag über e ine Verfassung für Europa" konnte daraus als Gesamtwerk nicht erwachsen . Auch war es dem Konvents präs idium laut K. Hänsch durchaus bewusst, dass der Begriff "Verfassungsvertrag" in der öffentlichen Dis kussion zur "Verfassung" verkürzt werden würde. "' Ein Text mit lediglich (wenngleich zahlreichen) verfassungscharakteristischen Bestandteilen ist ebenso nur partiell "Verfassung", wie die bisherigen "Verträge" entgegen ihrer Benennung und anges ichts unbestreitbarer Verfassungselemente nur zu e inem (wenngleich großen) Teil "Verträge" im engeren Sinne s ind. Die Dis kussion um die Bezeichnung des Konventstextes spiegelt im Ergebnis eine mittlerweile "typisch" zu nennende, europäische Debatte wider. Auch hier mit unterschiedlichen Traditionshintergründen, unterschiedlichen Verfassungsverständnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen . Ist das Verfassungsprojekt ein Turm zu Babel, der wegen seiner überrisseneo Dimension und der SprachFlexibilität ins System möglicherweise einfliessenden Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union abgewandt werden. Nach wie vor wird die Geltung und die Anwendung von Europarecht in Deutschland "von dem Rechtsanwendungsbefehl des (zur Ratifizierung der ~Verfassung' verabschiedeten) Zustimmungsgesetzes' 1 abhängen. Die Bezeichnung des Vertrags als "Verfassung"-' kann an dieser vom Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung ausgesprochenen Behauptung nichts ändern. lnteres.s...1.nt ist in diesem Zusammenhang auch der Blick nach Frankreich. ln Art. 55 der nationalen Verfassung heißt es: "Die ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen erlangen mit ihrer Veröffentlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze. vorausgesetzt, dass die Abkommen oder Verträge von den Vertragspartnern angewandt \\'erden" (Übersetzung des Verf ). Nach der französischen Rechtsprechung is-t diese Bes-timmung der Geltungsgrund des primären sowie des sekundären EG Rechts in der nationalen Rechtsordnung. Die ratifizierte EU-Verfassung könnte auch diesen \Veg zur nationalen Rechtsordnung über den Art. 55 der französischen Verfassung nehmen. Damit ist aber auch e in Vorbehalt zum Vorrangsanspruch des EU-Rechts verbunden: nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Frankreich gilt diese "höhere Rechtskraft'' der internationalen Verträge den Verfassungsbestimmungen gegenüber nicht (vgl. Conseil d'Etat, 30. Oktober 1998, M Sm·ran, M. Lel•acher el awres, Les Grands Arrets de Ia Jurisprudence Administrative, 13. Auß., 200 I, Nr. 113 ; Cour de cassation, 2. Juni 2000, Mademoiselle Fraisse, 2000, S. 865, Anm. Mathieu et Verpeaux) . Anders gesagt: über den \Veg des Art. 55 der französischen Verfassung wird e ine Unions-Verfassung aus der französischen nationalen Perspektive nie vor der nationalen Verfassung Vorrang haben, sondern umgekehrt. Diese Tatsache ließe sich auch durch das \Vort "Verfassung" nicht korrigieren. 521 Vgl. K. Hänsch, Der Konvent- unkonventionell, in: Integration 4/2003, S. 33 I ff., 334.
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verwi mmg zwar formell fertig gestel lt erscheint, aber faktisch nie diesen Status erreichen wird? Redeten letztlich alle vom Gleichen, meinten jedoch Grundverschiedenes? Es wi rd stets Stimmen geben, denen das Verabschiedete entweder des Guten zuviel oder zu wenig ist. Unausgesprochen oder lediglich schüchtern erwähnt blieb bislang der Umstand, dass das Produkt gerade nicht ftir die Ewigkeit gemacht und revidierbar ist, sondern prinzipiell gegen, vielleicht flir die Zukunft offen steht. Die unterschiedlichen Vorstellungen können, vereinfachend und zusammenfassend, drei Ausgangsverständnissen"" zugeordnet werden. Zum einen das (national) staatszemrierte Verfassungsverständnis, das der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich die Verfassungsfähigkeit abspricht. Daneben ein lediglichformales Verfassungsverständnis, das mit einem einheitlichen, kohärenten und e inprägsamen Dokument zufrieden ist. Zum dritten einfunktionelles Verfassungsverständnis (als insgesamt problemadäquatestes), das s ich nicht in der Frage verliert, ob mit der Organisation der Dinge zugleich eine wie immer geartete Staatlichkeil entstehe oder diese voraussetze. Es e rgänzt vielmehr in e inem Mehrebenen-Modell die nationalen Vetiass ungen um eine supranationale ,,Hausordnung" - unabhängig von den Ansichten um die Beschaffenheit des "Hauses Europa". Welche Bezeichnung man dem Papier schließlich gibt, ist dann von sekundärer Bedeutung. Das Mischwort "Verfassungsvertrag" dlilite auch unter diesem Blickwinkel die angemessene Konsenslösung sein.
(2) lnhalr/idte Anmerkungen, Präambelrmd " Leirmouo", Plädoyerflir eine " Europäische Gesprächskultur" Obgleich Beerlwven mit - von vielen als "Europa-Hymne" apostrophierter "Freude schöner Götterfunken" bemüht wurde , zur Entflammung europäischer Herzen genügt das Dokument nicht. Die "Finalität" der Union - ob Vereinigte Staaten von Europa523 oder etwas anderes "sui generis"- bleibt auf der Grundlage des Textes unbeantwortet. Immerhin sind Fortschritte gemacht worden, solche, die das eher lamentable Ergebnis des Gipfeltreffens von Nizza hinter s ich lassen. Mehr war realistischerweise nicht zu erwarten. Die "Vertiefung" der Europäischen Union entwickelt s ich weiter auf ihre traditionelle Weise, langsam, mühsam, Schritt für Schritt, unsicher über das Ziel, während die ,,Erweiterung" weiterhin (und bei aller politischen Ermüdung etwaangesichtsdes in mancherlei Hinsicht ernlichternden Beitritts Rumäniens und Bulgariens) große Sprünge macht. Die Verfassung(svertrag)surkunde"' unterscheidet sich freilich erhebl ich von früheren Verträgen der Europäischen Union und in vielerlei Hinsicht auch von 512
Zum Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ausführlich unter B. II. 2 . f) nn). m Vgl. T. R. Reid, The United States Of Europe: The New Superpower and the End o f
Americ.·m Supremacy. 2005.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nahezu allen Verfassungen, die man landläufig als historische Vorbilder heranziehen könnte. Sie entsteht nicht nach einer historischen Katastrophe525, nach e inem verheerenden Krieg oder nach einer Revolution, sondern sie rekurriert auf das, was ist und was die Nationen, die Reg ionen, die Kulturen und die Religionen bewahren und zukünftig leisten wollen. Die Aufgabe der e igenen Staatlichkeil der Mitglieds länder ist keine Bedingung zur Erreichung dieser Ziele (und kann deshalb auch ke in - und schon gar nicht das e inzige- Kriterium flir die DurchflihJUng einer Volksabstimmung sein). Darüber hinaus: in seine m evolutionären Charakter ist der Prozess der europäischen Integration ei nz igartig. Der nunmehr vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung setzt hier keinesfalls einen Endpunkt. Im Gegenteil: es ist abzusehen, dass s ich die europäische Ve1fassung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit viel höherer Frequenz verändern wi rd"" als wir dies von anderen Verfassungen gewohnt sind. Ein weiterer Punkt: auf den ersten Blick ist das Argument einleuchtend, dass die politische Bereitschaft, sich auf eine Europäische Verfassung einzulassen, um so größer wäre, je klarer und unzweifelhafter durch einen eindeutigen Kompetenz katalog festgelegt wäre, welche Kompetenzen die Europäische Union ausschließlich, und welche sie in Form e iner mit den Mitgliedstaaten geteilten (oder konkurrierenden) Kompetenz wahrnehmen soll. 527 Damit sollte einer bisher "schleichenden" Kompetenzaushöhlung regionaler und nationaler Kompetenzen durch die Europäische Union vorgebeugt werden. Im deutsch-französischen Dialog überd iese Frage wurden zwischenzeitlich auch Teile des politischen Spektrums in Frankreich von der Notwendigkeit e ines Kompetenzkatalogs überzeugt. m Doch Überzeugung allein führt in dieser Frage bis heute nicht weiter. Verschiedene Versuche, beispielsweise von deutschen Landesregierungen, e indeutige Kompetenzabgrenzungskataloge zu entwicke ln, sind bisher angesichts der immanenten Komplexität wenig fruchtbar gewesen. Eine optimierte Organisation der "geteilten" Kompetenzen zwischen europäi schen und nationalen Behörden bleibt unabhängig von den Regelungen, die im 524
Zum Verfassungsvertrag ist ein volls-tändiger Kommentar e rschienen, nämlich
C. Vedde,.f W He;mschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Handkommentar, 2007. 525
Sofern man den Beginn des Verfassungsschöpfungsprozesses nicht bere its in den
50er Jahren des vergangeneo Jahrhunderts sehen will. Ein insgesamt abwegiger Gedanke, nachdem der aktuelle Konvent ein originärer Vorgang ist, der zwar auf den Gedanken sowie
einem Ensemble von Teilverfassungen (P. Häberle) und Errungenschaften des vergangeneo halben Jahrhunderts aufzubauen weiß, jedoch letztlich die gesamte Verfassungsgeschichte zur Grundlage nehmen müsste. 520 Möglichkeiten und \Vege der Verfassungsänderung werden unter B.IV.2.b) aufgezeigt. 527 Siehe bereits W Sclläuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8. 6. 2000. m Vgl. J.-P. Picaper, Le RPR et I"UDF se rnpprochent sur I"Europe, in: Le Figaro vom 15. 12. 2000.
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Verfassungsvertrag gefunden wurden e in wichtiges Thema. Erforderlich ist im Wesentlichen eine klare Vereinbarung von Grundsätzen und Instrumente n für die Wahrnehmung politischer Verantwortung und für die Mitgestaltungs möglichke iten von nationalen (und subnationalen) Einheiten in der Europa-Politik. Die Gefahr aber lag und liegt stets darin, den Kompetenzkatalog dazu zu nutzen, verloren geglaubte Kompetenzen zurück zu gewinnen bzw. noch vorhandene "gegen Europa" zu verteidigen, und dies re lativ unabhängig von der eigentlich w ichtigen Frage, wo die politische Verantwortung themenbezogen am geeignetstell ausgeübt würde.s29
Einige Worte zur Prllambel des Ve1fassungsvertrages: Ist die fehlende Nennung der Bürger in der Präambel nun ein rückschrittliches Element, die Abkehr von mittlerweile gewohnten Verfassungselementen? Wohl nicht. Eher ist hierin ei ne Aufforderung zur konkreten Ausgestaltung und Neubestimmung durch die europäische Bevölkerung zu sehen. Die Akzentuierung der Repräsenta tivorgane (Könige?) ist weniger Endstadium als Einleitung eines e Jwünschten Devoluti ve ffe kts. Ein europäisches "We the People ... " wird auf absehbare Zeit kaum am Schluss einer evolutiven Stufenleiter stehen. Die Präambel ist im Vergleich zu manch anderen Verfassungstexten wenig eindrucksvoll ausgefallen. Nicht nur erscheint der Bezug zum religiösen und geistigen Erbe Europas dürr530, wenngleich die Diskussion über die fortwirkende Bedeutung des religiösen Erbes für die europäische Identität bemerkenswert lebendig und substantiell gewesen ist. Auch die formulierten "Ziele der europäischen Einigung" werden eher in trockener Sprache, e ntsprechend dem Kommunique-Sti l von EUGipfeltreffen abgehandelt. Was der Dank an die "Verfassungsschöpfer" in einer Präambel zu suchen meint, bleibt das- uneitlen Erwägungen wohl nicht gänzlich ferne- (Er-)Schöpfungsrätsel der Konventsmitglieder. m Der Präambeltext bewegt sich auffällig fern allen (auch literarischen) Schwunges sowie des gerne belächelten Pathos und Zielorientierung der amerikanischen Verfassung. In der Konsequenz e inen Verzicht auf die Präambel zu erwägen und den Verfassungstext stattdessen unmittelbar mit der Evokation der Grundrechte in der Europäischen Union beginnen zu lassen, würde frei lich zu weit fUhren. m 529
Vgl. auch U. Guiror, Eine Verfassung flir Europa - Neue Regeln flir den alten Kontinenl?, in: IP 2/2001 , S. 28 ff. 530 Vgl. hierzuunter C. IJ . 531 Vgl. auch L Kühnhardr, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Strukturentscheidungen, ZEI Discussion-Paper, 2003, S. 6 f.: ,)Dass den Verfassungsschöpfern Dank gebührt, ist wohl wahr. Aber was hat dieser Dank in der Präambel einer Verfassung zu suchen, die nicht nur politischen Akteuren als Referenzpunkt dienen soll, sondern die von Schülern und Studenten in ganz Europa studiert wird, um Auskunft über die Frage zu bekommen, was die politische Identität Europas bedeutet'r' 531 Siehe aber L. Kiinhardr, ebenda.
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Gelungen ist allerdings das Motto, das Konventspräsident Giscard d' Estaing in letzter M inute ftir den Text der Präambel e inbrachte: " ln Vielfalt geeint" (es wird in Artikel IV- I VerfV: "Die Symbole der Union" wiederholt). Diese Floskel besitzt durchaus Chancen, zum (wenngleich stets zu überprüfenden und höchstens im Hinblick auf e ine erfolgre iche Implementierung des Verfassungsvertrages geltenden) Leitmotto der Europäischen Union auf Jahre und Jahrzehnte hinweg zu werden. Der Verfasser dieser Zeilen erhebt den bislang vereinzelten und schüchternen Ruf, die Devise "In Viel falt geeint" e ines Tages - in lateinischer Fassung - auch auf den EURO-Geldscheinen lesen können, zur Forderung. Als das neue Deutsche Reich an1 9. 7. 1873 ein Münzgesetz erließ und dort erklärte "An die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Re ichsgoldwährung ... " war e iner der w ichtigsten Punkte der "inneren Reichsgründung" erreicht. Zumindestens in der Perzeption der Bevölkerung kann die Etablierung einer Währung- wie auch der Verzicht - den "Verfass ungsbestätigungsprozess" begleiten. Allein das " Dogma" der Integration, deren zentrale Stellung innerha lb der Verfassungsdebatte lassen angesichts der integritätsstiftenden Wirkung einer Währung diese Beobachtung umso evidenter erscheinen. Weshalb sollte man also nicht auch die Währung als "Transporteur" von Kernbotschaften nutzen? Das Beispiel der USA ("In God We Trust"- auf allen Geldscheinen) ist diesbezüglich wegweisend. Es stellt s ich frei lich die Frage, ob Europa bereits reif ist, s ich eine Verfassung zu geben. ln den einzelnen Staaten s ind noch durchaus Mangelerscheinungen an der erforderlichen politischen S ubstruktur, insbesondere an den Voraussetzungen für e ine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene zu beobachten.'" Um die Kommunikationshemmnisse zu überwinden, gilt es im besonderen Maße, die "Europäische Gesprächskultur" nachhaltig zu fördern. Die vordergründigen Banieren der Vielsprachigkeit und gelegentlich diametraler Interessen in nahezu allen Politikbereichen müssen dabei weniger als unüberwindbare Begrenzung denn vie lmehr als Sprungbrett zu einem ehrlichen interkulturellen Dialog mit dem Z iel einer auf gemeinsamen Werten basierenden Verfassungsgemeinschaft empfunden werden. rr) Elemente e iner Ratifikationskrise Ein vordergründig trivialer Vorgang entwicke lte sich nunmehr zur nahezu unüberwindbar erscheinenden Hürde: der Verfassungsvertrag, der alle derzeitigen europäischen Verträge durch einen einzigen Rechtsakt ersetzen sollte, konnte erst in Kraft treten, wenn er von den Unterzeichnerstaaten angenommen beziehungsweise ratifiziert wurde. Der Ratifizierungsprozess sollte ursprünglich in allen Mitgliedsstaaten bis November 2006 abgeschlossen sein. 533
200 I.
Siehe zu dieser Arg umentation auch D. Grimm, Die Verfassung und die Po litik,
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Zunächst gab es lediglich differierende Annahmeverfahren und einige Unklarheiten zu konstatieren: während in zehn Mitgliedsstaaten die Ratifizierung per Referendum stattfi nden sollte, konnte n in weiteren zwölf Ländern grundsätzlich die nationalen Parlamente die Verfassung ratifizieren. In drei Mitgliedsstaaten stand die Methode der Annahme noch nicht fest. Darüber hinaus traf der Verfassungsvertrag in zahlreichen Ländern weiterhin auf Widerstand und Ablehnung in Gesellschaft und Politik. Dies kulminierte schließlich in den ablehnenden Referenda in Frankreich und den Niederlande."' Referenda zu Fragen der europäischen Integration s ind fre ilich kein Novum.'" Unterschieden werden muss dabei zwischen verschiedenen Typen: bindende und nichtbindende Referenda; Referenda, die von Regierungen, und solche, die von der jeweiligen Opposition e ingebracht worden s ind; Referenda mit Wirkung auf das Land, das das Referendum durchfuhrt, und Referenda mit Wirkung auf den EU-Prozess insgesamt.'36 Bisher haben über 40 Referenda über Aspekte der Weiterentwicklung der europäischen Integration stattgefunden. Einige betrafen die Frage des Be itritts- oder der Fortsetzung der Mitgliedschaft- eines Landes zum europäischen Einigungsprozess in seiner jeweiligen Form oder zur verstärkten bilateralen Kooperation mit der Europäischen Union. Ein Referendum e ntschied über den Be itritt anderer Länder. Eine Reihe von Referenda wurde über Aspekte der konstitutionellen Vertiefung der europäischen Integration abgehalten. Seit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 ist dies e in Indikator dafür geworden, dass die europäische Integration auf die Identität ihrer Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die Frage nach der konstitutionellen Legitimität einer vertieften Integration stellt s ich überhaupt nur dort, wo der nächste politische Schritt tatsächlich e ine Vertiefung des Integrationsprozesses bedeutet."' 534
Vgl. Zu der Diskussion in den Niederlande A. Pijpers, Ne ue Nüchternheit und kritische Öffentlichkeit - die Niederlande und die europäische Integration, in: integration 30/2007. S. 449ff. Vgl. auch S. Gou/ard, Europäische Paradoxien - ein Kommentar z ur Lage der EU, in: integration 30/2007, S. 503 ff. m Vgl. hierzu IR/ Europe (Hrsg.), IRI Europe Country Index on Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 European States, 2003 sowie 2004: S. Hölscheidr I I. Pwz, Referenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff. sowie L LeDuc , The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective, 2003, S. 20 f.; A. Maurer/ S. Sclumz, Ra tifi kation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz, SWP-Papier, 2003; K. Schmi11 (Hrsg.),
Herausfordenmgen der repräsentativen Demokratie, 2003. 530 In einem "europäischen Verfassungsreferendum" müsste verfahrensmäßig der föderale Aspekt zum Tragen kommen. Es dürfte nicht nur auf die Zustimmung der gesamten europäischen Bürgerschaft ankommen, sondern es wäre auch die regionaJe Verteilung der Zustimmung zu berücksichtigen, um die Majorisierung von Bürgern kJeiner Mitgliedstaaten (deren auch-nationale Identität zu respektieren ist) zu verhindern. Die bloß paraJlelen nationalen, auf Europa bezogenen Referenden können diesen ~·linderhe itenschutz nicht leisten. Allerdings: ein gesamteuropäisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen Mechanismus) bleibt utopisch.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Über den Ausgang der Re ferenda über den Verfassungsvertrag ließen sich anfangs nur schwerlich klare Prognosen anstellen (was fiir das "französ ische Re ferendum" 2005 nur beschränkt galt), vor allem nicht mit Blick auf Länder mit einer europaskeptischen Grundströmung wie Großbritannien oder Dänemark, das in den frühen neunziger Jahren schon einmal den Aufstand geprobt und zunächst den Vertrag von Maastricht abgelehnt hatte. In den als integ rationsfreundlich geltenden Ländern wiederum bestand die berechtigte Gefahr, dass der Urnengang für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert würde (Frankreich, Niederlande!). Dies geschah bereits in Irland, wo im ersten Anlauf der Vertrag von Nizza verworfen wurde. 538 Schließlich sollte der weitere "Abstimmungskampf' um die EUVerfassung weiterhin maßgeblich von der "Türkei-Frage" beeinflusst werden. Die Debatte über die Ratifi kationsprozedur war und ist in sich selbst ein Teil des Diskurses zur europäischen Verfassung. Sie rückt Prognosen in das Licht der Öffentlichkeit, die mit gewisser stereotypischer Kontinuität über die Haltung einzelner Völker zum europäischen Einigungswerk gemacht werden. Der Prozess der Ratifizierung e iner europäischen Vetfassung ist ebenso Teil der Formierung ei ne r europäischen Öffentlichkeit, wie die Erarbeitung des nun zur Abstimmung stehenden Textes selbst es gewesen ist.". Die Architekten des EU-Verfassungsvertrags haben mög liche Pannen bei m Ratifizierungsprozess nicht wirklich bedacht. Was in e inem solchen Fall konkret 537
Vgl. L. KUhnhardr, Auf dem \Veg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus, in: NZZ, 16. Juli 2004: "Wo diesder Fall ist, geht es um die Übertragung nationalstaatlicher Souveränität auf die EU. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation in einigen L..1.ndern der EU die Referendumsfrage virulent wurde- und bei der europäischen Verfassung wieder virulent geworden ist. Andere Staaten votierten schon in früheren
Fällen - und auch jetzt wieder - für die primäre Verantwortung ihrer frei gewählten und dadurch entsprechend zur Abstimmung mandatierten Parlamen te. ~· m Die zweifachen Abstimmungen in Dänemark ( 1992 und 1993) und Irland (200 1
und 2003) über den konstitutionellen Fortgang des Integrationsprozesses ragten bis zu den "schwarzen Tagen" in Frankreich und den Niederlande tatsächlich aus dem Kontext der Erfahrungen mit Referenden zu Fragen der europäischen Integration heraus: In beiden Fällen hatte das Votum eines Mitgliedslandes Auswirkungen für alle anderen Mitgliedsländer und ihren Integrationswillen. Dies war letztlich der - sowohl integrationstheoretisch wie auch demokratietheoretisch nachvollz.iehbare - Grund, warum in beiden Fällen ein zweites Referendum angesetzt wurde. Im FaJJe Dänemark geschah dies nach Konzessionen an die dänischen Kritiker des Maastricht-Vertrages ("opting out''- Klauseln). Im irischen Fall- bei dem doppelten Votum der Iren zum Vertrag von Nizza - wurde das zweite Votum nach einer Periode des Wartens angesetzt, verbunden mit deutlichen \Vorten von außen, dass ein Land nicht die ganze Europäische Union zur Geisel nehmen dürfe. Im dänischen Fall wurde die integrationspolitische Logik des erzielten Kompromisses kritisiert, im irischen Fall die demokratietheoretische Logik des zweiten Referendums. ln beiden Fällen obsiegte ein gewisser Sinn flir Pragmatismus, der in der Europäischen Union offenbar vorjeder Form von Purismus immer dann obwaltet, wenn das Einigungswerk insgesamt in eine Sackgasse zu geraten droht. 539
Vgl. L. Kiilmlwrdt (2004).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
19 1
geschehen sollte, sland gänzlich offen. Entschieden (und mittlerweile revidiett) war lediglich, dass sich die Staats- und RegieJUngschefs bei "Schwierigkeiten" in e inem oder mehre ren Mitgliedstaaten und unter der Voraussetzung, dass zwei Jahre nach Unterzeichnung, also im Oktober 2006, mindestens 80 Prozent der Länder den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, der "Frage" annehmen würden. Fazit: Der Europäischen Union stand e ine Zitterpartie bezüglich ihrer Verfassung bevor, bestenfalls keine Periode integrationspol itischer Wirmis und Konfusion (was anges ichtsdes Beginns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (sowie mit Kroatien) am 3. Oktober2005, der Debatte um Rumänien und Bulgarien sowie der Perspektive des restlichen westlichen Balkans ("Thessaloniki goals") eher illusionär sein sollte). Nach dem Scheitern der Referenda in Frankreich und den Niederlanden sprachen s ich viele Politiker, Kommentatoren und Wissenschaftler für e ine "Rettung" des Vertrages aus, dessen baldiges lnkrafttreten realistischetweise unwahrscheinlich war. Sowohl die französische wie die niederländische Regierung häten bei einer zeitnahen neuen Abslimmung " politischen Selbstmord" begangen. Der Vorwurf des lgnorierens des Wählerwillens wäre allenfalls dann libetwindbar, wenn das unbedingte Festhalte n am Verfassungsvertrag innerhalb der Europäischen Union e ine breite Unterstützung fande. Diese ist bis heute weder auf EU-Ebene noch in den Mitgliedstaaten auszumachen. Zudem war insbesondere in Großbritannien und Irland ein klares "Ja" nicht zu erwarten . Folglich dachten Viele über mögliche Alternativen nach. Es wurde eine ganze Reihe von "Plan B-Optionen" diskutiert'"': eine umfassende Neuverhandlung, der "cherry-picking-Ansatz" (sog. Nizza-Pius), ein Zusatzvertrag zum geltenden Vertrag von Nizza in der Form eines Verfassungsverlrages light oder eines Änderungsvertrages, ein Europader zwei Geschwindigkeiten mit den beiden Optionen eines freiwilligen Austritts der Nichtratifizierer oder der Gründung einer neuen Union, die Beibehaltung des primärrechtlichen Sta tus quo sowie die erneute Reform der europäischen Verlräge in einigen Jahren im Sinne einer "Verfassung ll". Einige der Alternativvorschläge slellten keine reelle Option dar. Aber auch die übrigen konnten nur ,,second-best-Lösungen" anbieten, da s ie slets mit gewissen Einschränkungen oder Hindernissen verbunden sind. Welcher der diskutierten 540 Vgl. umfassend und m. w. N. B. 17wJmaier, Nach den gescheiterten Referenden: D ie Zukunft des Verfassungsvertrages, C. A.P.-Analyse, 2005 ; siehe auch C. C/osa, Ratifying the EU-Constitution: Referendums and their lmplications, 2004. Vgl. auch D. Gö/er/ H. Marhold, Die Zukunft der Verfassung- Überlegungen zum Beginn der ReHexionsphase, in: integr.ltion 28/2005, S. 332 ff.; D. Gö/erlM . Jopp, Dieeuropäische Verfassungskrise und die Strategie des "langen Atems", in: integration 29/2006, S. 91 ff.; 8 . Laffanl/. Sudbury, Zur Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrages -drei politikwissenschaftliche Lesarten und ihre Kritik, in: integration 29/2006, S. 27 1 ff.; D. Thym, Weiche Konstitutionalisie-
rung - Optionen der Umsetzung einzelner Reformschritte des Verfassungsvertrages ohne
Vertragsändenmg, in: integration 28/2005, S. 307 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Plan B-Optionen auch immer im Rahmen des Vertrages von Lissabon zum Tragen käme, die Ratifikation sollte nur gestoppt werden, wenn eine klare Alternative vorhanden ist, die ambitioniert genug ist, die EU-27 demokratischer und effizienter zu gestalten. Der Ausgang der Referenden belegt e in "So geht es nicht weiter! ". Ein schlichtes Einstellen der Bemühungen um Reformen und ein Weitermachen wie bisher kommen nicht in Betracht. Den Verfassungsvertrag bzw. nunmehr den Vertrag von Lissabon zu "begraben", ist daher keine tragfahige Option. Die Staats- und Regierungschefs hatten schließlich auf dem EU-Gipfel am J6.!17.Juni2005 in Brüssel beschlossen, bis zum Ende der Österreichischen Ratspräsidentschaft im Juni 2006 e ine " Phase der Re flexion" im Prozess der Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa einzulegen.'" Die Fortsetzung des Ratifikationsprozesses wurde dadurch nicht Frage gestellt, zeitlich ist er aber zunächst bis Mitte 2007 verlängert worden. Infolgedessen hatten Großbritannien, Portugal, Polen, die Tschechische Republik, Dänemark, Irland, Schweden und Finnland ihre nationalen Ratifikationsve1iahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Schließlich ein grundsätzlicher Gedanke: Ein einmaliger, punktueller Akt kann eine Verfassung ohnehin nicht legitimieren. Denn dieser bezieht s ich immer nur auf den Status quo. Wenn sich Verfassungs inhalte nicht bewähren oder wenn s ich die Umstände ändern, dann bringt die vergangene einmalige Zustimmung letztlich nichts. Für die nachfolgenden Generationen, die unter dieser Verfassung leben müssen, hat dieser Akt - wenn es auf die Zustimmung der Bürger ankommen soll - ohnehin keine Legitimationswirkung. Ein Umstand, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Republikanern und Jakobinern erkannt worden ist. Demzufolge wird e ine Verfass ung weniger durch die Art und Weise ihrer "Erzeugung" legitimiert a ls über ihre - nur ex post feststellbaren - Leistungen und kontinuierliche Akzeptanz.'" 3. Drei Folgerungen ln der Absicht, abschließend die Geschichte Europas als Ganzes in den Blick zu nehmen, ergeben sich aus dieser (li mitierten) rour d'horizon e inige Folgerungen, die gleichzeitig e iner weitergehenden interdisziplinären Bearbeitung bedürften . Zum einen: Die Geschichte Europas ist in weiten Tei len ihre eigene Rezeptionsgeschichte. Die longue duree ist ein Zivilisationsprozess, der in hohem Maße aus 541
Diese Reflexionsphase wurde auf dem Gipfel Ende Juni 2006 nunmehr erneut
verlängert. 541 Die unbestrittene Legitimität des deutschen GG, das bekanntlich an diversen ~.Ge burtsmakeln" litt, illustriert diese These, vgl. zu alledem auch A. Peters, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässtich des I0 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 66, 2003, S. 24 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
193
Traditionswahrnehmungen gespeist wird. Für Europa gilt, was B. Andersoll über die Nationen gesagt hat: Es ist eine "imagined community", besieht also, wenn es besteht, vor allem in den Köpfen der Menschen.' 43 Möglicherweise, das wäre das zweite Ergebnis, ließe s ich das analytische Instrumentarium für e ine Verfassungsgeschichte Europas verfeinern. Das oft genutzte Begriffspaar Rationalisierung und Modernisierung als Leitfaden einer europäi schen Geschichte ist für sich alleineeine zu grobe und übrigens auch zu vieldeutige Kategorisierung, um zur Beschreibung einer Langen Dauer der abendländischen Zivilisation zu taugen. Hilfreicher als e in lineares Fortschrittsmodell wäre ei nes, das an jedem Zeitpunkt der Entwicklung auch die dazugehörige Reflexion über diese Entwicklung einbezöge: welche historischen Weltbilder liefern den Wahrnehmungs- und Utteilsrahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklungs schritte vollziehen? Welche kollektiven Erinnerungen, welche Vorbilder, welche Mythen, welche Metaphern, welche rückwärtsgewandten Utopien bilden die "Folie", auf deren Hintergrund der Prozess der Zivilisation abläuft? Erst wenn der Zusammenhang zwischen Logos und Mythos, zwischen Zukunftsentwurf und Vergangenheitsbild hergestellt sein wird, kann man die lange Renaissance Europas, die Verwestlichung des Abendlandes angemessen beschreiben und damit der Verfassungsgeschichte e inen tatsächlich würdigen Rahmen ermöglichen. Im übrigen wird - drittens und letztens -ers ichtlich, dass es nicht ausreicht, e inzelne Epochen der europäischen Geschichte jeweils ftir s ich zu betrachten und zu analysieren. In jeden Zeitpunkt ist die ganze europäische Vorgeschichte mit e ingeschlossen und muss jeweils mitgedacht werde n, und zwar zugleich auf zwei Ebenen : Als Realgeschichte wie als mythisch vermittelte Vergangenheits wahrnehmung, als welche sich Geschichte in dauernder Verwandlung ständig wiederholt.544 Der tiefste Grund für den Aufstieg wie auch für die Gefahrdung Europas liegt vielleicht in dieser immerwährenden Suche nach der verlorenen, der geahnten und erhofften aurea aeTas.
543
B. Ande,.son, lmagined Communities. Reftections on the Origin and Spread o f Nationa lism, 1983. 544 Namentlich Letz-teres spricht übrigens gegen das Verfahren namhafter Historiker, die Antike aus der europäischen Geschichte auszugrenzen und Europa irgendwann zwischen Spätantike und Hochmittelalter entstehen zu lassen, vgl. nur H. Pirenne, Geschichte Europas. Von der Völkerwanderung bis zur Reformation, 1956; D. Gerlrard, Das Abendland 800-1800. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit, 198 1; F. Heer, Europäische Geistesgeschichte, 1953; A. Mirgeler, Revision der e uropäischen Geschichte, 197 1. Tatsächlich reicht die Antike als historisch wirkende Kraft bis in unserer Gegenwart, ist also auch Neueste Geschichte, und zwar in erster Linie in Gestalt ihrer Verwandlungen, die sie im Laufe der Zeit in den Köpfen und Herzen der Menschen durchgemacht hat.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
111. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge Amerikanische Verfassungsprinzipien und-elementewaren in den vergangenen, annähernd zweieinhalb Jahrhunderten einer weitreichenden Rezeption in Europa unterworfen. 545 Durch Rousseau waren im vorrevolutionären Frankreich demokratische Ideen lebendig geworden. Die Physiokraten e rhoben die Forderung nach Fre iheit wirtschaftlicher Betätigung und Niederhaltung staatlicher Einmischung. 546 Zeitgleich war in Amerikadie Verbrie fung solcher Freiheiten in Grundrechtskatalogen nur eine Kodifizierung von bereits weitgehend geltenden Grundsätzen in der damaligen Verfassungswirklichkeit Das revolutionäre Frankreich stand angesichts der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor einer gänzlich unterschiedlichen politischen wie verfassungsrechtlichen Situation. 547 Lafayeue wurde jedoch maßgeblich durch d ie Bill of Rights of Virgi nia angeregt, in der französ ischen Constituante den Antrag für e ine Erklärung der Menschenrechte zu erlassen. Und wieder führt die Spur zu Jefferson, der angesichts seiner Mitwirkung an dem eingebrachten Entwurf'"' tatsächlich zum Grenzgänger zweier Verfassungswelten wurde und wohl als der eigentliche "Pionier transatlantischer Verfassungsrezeption" bezeichnet werden muss. ln Frankreich betonte man im kosmopolitischen Geist der Aufklärung die Gemeinsamke iten zwischen den beiden "Revolutionen". Die amerikanischen Verfassungen erschienen in französischen Übersetzungen und Lafayette verehrte seinem Freund Washington in e iner symbolischen Geste den Schlüssel der Bastille. " 9
Dazu e twa H. Steinberget~ 200 Jahreamerikanische Bundesverfassung, 1987, S. I ff., 23 f. ; 8. Pierot!r, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, in: NJW 1989, S. 1333 ff. s•• Vgl. D. Klippe/, Der EinHuss der Physiokraten, in: Der Staat 1984 , S. 205 ff. 545
547
Dazu umfassend W Rees, Die Erklärung de r Menschen- und Bürgerrechte von 1789, 1912 (Neudr. 1968); S. .J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91, 1970. 543 Diese Konstellation beschreibt 0. Voss/er, Stud ien zur Erklärung de r Me nschenrechte, in: R. Schnur (Hrsg.}, Z ur Geschichte de r E'klärung Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1964 (2. AuH. 1974}, S. 166 ff., S. 193 ff. Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den e uropäische n beschreibt ebenfalls 0 . Vossler in seiner gleichnamigen Monographie ( 1929). 549 Z u den \Vechselseitigen \Virkungen der Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution a uf das Frankreich und Amerika des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunde rts vgl. J. Heideking, Geschichte der USA, 2. Aufl. 1999, S. 79 ff.
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
195
Insbesondere das US-amerikanische Prinzip der Verfassungskontrolle ist im Europa des 19. Jahrhunderts stellenweise rezipiert worden. Portugal, Griechenland und Norwegen übernahmen sogar die Grundzüge des amerikanischen Vorbi lds. 550 Das Präsidialsystem hat - in Konkurrenz zum System mit Premierminister- weltweite Verbreitung gefunden. Ebenso die Verfassungsgerichtsbarkeit "[11he Fe.deral ist Constitution has proved tobe a brilliant success, which unitary nation states and parliamentary democracies all over lhe \\o'Orld would do weil to copy. I g ive it most of the credit for the fact that o urs is the weallhiest, most technologic.a11y advanced, and most socially just society in human history, not to mention lhe fact that we have with ease become a military superpower. [ .. . ] The rest of the world is quite righlly impressed with us, and it is thus no acc.ident that the United States of America has become the biggest single exporter of public law in the history of humankind. Ahnost wherever one Iooks, \\'ritten constitutions, federalism. separation o f powers, bills of rights, and judicial review are on the ascendancy all over the world right now - and for a good reason. They \Vork better than any of the alternatives that have been tried."~' 1
Die triumphalen und schwerl ich bescheiden zu nennenden Zeilen Calabresis s ind beredtes Zeugnis flir ein amerikanisches Selbstverständnis, dass neben aller gelegentlichen Hybris doch in einem tatsächlich fruchtbaren "Verfassungs Nährboden" wurzelt. "' Freilich: Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Bundesverfassung von 1787 zählen zu den wichtigsten Innovationen für den westlichen Staatsbildungsprozess überhaupt. Uralte Gegenseitigke itsprinz ipien fanden auf der Grundlage allgemeiner Volkssouveränitä t eine Transformation in modernes Selbstbestimmungsrecht. Eine Nation gründete sich mittels e iner Verfassungsurkunde erstmalig selbst, e iner Verfassung, die wie oben kursorisch ausgeführt auch inhaltlich innovativ war - e igentlich weniger durch die Verankerung der Gewaltenteilung als in der Errichtung e ines Bundesstaates mit klar aufgeteilter Souveränität."' Die- regelmäßig in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixierte- Verfassung ist konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. De r moderne Konstitutionalismus wiederum e twächst den großen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In vielerlei Gestalt hat die "Konstitutio-
550
Vgl. M. Fromom, La justice constitutionelle dans Ia monde, 1996, S. 15; R. Grote,
Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (200 1), S. !Off, 49. "' S. G. Calabresi, An Agenda for Constitutional Re form, in : W. N. Eskridge/S. Levinson (Hrsg.), Constitutional Stupidities, Constitutional Tragedies, 1998, S. 22. 552
Etwas nüchterner in der Betrachtung B. Ackermatl, The New Sepa.ration of Powers,
in: I 13 Harvard L. Rev. (2000), S. 633 ff. 553
Tatsächlich gelang es mit der North \Vest Ordinance 1787, das weitere Wachstum der Nation verbindlich vorzuprogrammieren, eine gänzlich neuartige. rationale Planung des politischen Prozesses.
196
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nalisierung der Herrschaft" (D. Griuun)'54 seither die historisch-politische Welt geprägt und darüber hinaus im Zuge der G lobal isierung der Po litik die nichtwestlichen Gesellschaften erfasst. Dort, wo seiner Grundidee nach der moderne Begriff der Verfassung als "Ordnung des Politischen""' konzipiert wird, wird gleichzeitig ein zentraler Sinngehalt der politischen Kultur ausgedrückt. ln diesem Kontext entspringt der modernen Verfassung eine Mehrfachfunktion : zum e inen deutet s ie ihrer symbolischen Funktion entsprechend die Ordnungsgehalte der politischen Kultur der Gesellschaft und normiert dieselben. Gemäß ihrer instrumentellen Funktion liefert sie zudem das (Spiei-)Regelwerk flir die politi schen Prozesse des politischen Systems. Als "quasi-kanonischer Text" steht s ie e inmal flir e ine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existenz mit e inem Verbindlichke it fordernden Geltungsanspruch. Zum anderen ist s ie Anker- und Kristalli sationspunkt flir einen permanenten hermeneutischen Prozess der Interpretation der durch s ie verbürgten Prinzipien im Medium der politischen Deutungskultur der Gesellschaft. Wo ein Interpretations monopol der Verfassungsgerichtsbarkeit zukommt, hat sich eine in sich stets kontroverse Tradition der Verfassungshenneneutik herausgebildet, die unter modernen kulturhermeneutischen Vorzeichen zu
analysieren ist bzw. wäre. 556
'" Vgl. D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 199 1. '" Dazu weitergehend in U.K. Pre~ifJ (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994. ss& Es entspricht der hier vorgeschlagenen Problemstellung, dass sowohl an die Resultate der historisch und vergleichend ausgerichteten Forschungen zum Konstitutionalismus als
auch an die jeweilige nationale Verfassungsgeschichtsschreibung anzuknüpfen ist. Hierbei liegt das Gewicht in der Regel auf der Behandlung des \Vestlichen Konstitutionalismus.
Bezeichnend ist, dass der von K. LöwelzsJein in seiner Verfassungslehre ( 1959) konzipierte historisch-vergleichende Ansatz erst in den vergangeneo Jahrzehnten wiederaufgenommen wurde. Ein Grund hierfür mag darin z.u sehen sein, dass der Strukturfunktionalismus als dominante Richtung der "comparative politics" die Verfassungsfragen marginalisierte. Die Arbeiten von J. Elster IR. Slagsuu (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy, 1988, D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, U. K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, J. Gebhardrl R. Schma/z-Bnms (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation, I 994, A. Kinuuel (Hrsg.), Ve rfassungen als Fundament und Instrument der Politik, 1995 und H. Vorfände,·, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 1999, haben in unterschiedlicher Perspektive die Bedeutung des Konstitutionellen fUr die moderne Staatlichkelt erneut thematisiert. Die Problemstellung der Hybridisierung und lndigenisierung konstitutioneller Formen wurde erst in der neueren Forschung als ein eigenständiger Untersuchungsgegenstand begriffen ( Y. Mimy (Hrsg.), Le Politiques du mir»etisme institutionel, 1993; W. Reinhard (Hrsg.). Verstaatlichung der \Velt, 1998). Hier ist insbesondere auf die regionalspezifische verfassungsgeschichtliche Forschung zu islamischen (aus der Lit. 1.1. Baym, The Cons-titutionaliz.ation of Power in Shia Iran, in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur, 1999; dies., lran's First Revolution, Shi.ism, and the Constitutional Revolution, 199 1; H. G. Eben, Die Interdependenz von Staat, Verfassung und Islam im Nahen und Mittleren Osten in der Gegenwart, 199 1; A. Schirazi, The Constitution of Iran, 1997) und ostasiatischen (K.J.Amoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat, 199 1; IY. Seifen, Verfassung und Politische Kultur am Bespiel der Meiji-Verfassung von 1889,
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
197
Der in der amerikanischen Revolution formulierte Katalog konstitutioneller Ordnungsprinzipien wurde schon im Verlauf des "westlichen" Konstitutionalisierungsprozesses jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Formensprachen unterworfen, woraus durch Verschmelzung von Eigenem und Fremdem eine Vielfalt der Verfassungskulturen resultie1te. Letztlich ein dynamischer Prozess der Übernahme, Umformung, Anpassung und Umdeutung konstitutioneller Paradigmata.557 Diese verschmolzenen, hybriden Formen des institutionellen Mimetis mus erwiesen sich durchaus als exemplarisch flir Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas.m Im Iran, in Japan und der Türkei bedienten sich unte rschiedliche Reformbewegungen aus dem Fundus des westlichen Konstitutionalismus, um indigene politische Ausprägungen der gesellschaftlichen Existenz zu entwickeln. Die Rezeption des Konstitutionalismus in den " nicht-westlichen" Zivilisalianen resultierte im Wesentlichen jedoch nicht in einer Mode rnisierung durch Verwestlichung, sondern in einer Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen die jeweiligen eigenen historischen Traditionen oftmals in der Begegnung mit westlichen konstitutionellen Formen eine indigenis ierte konstitutionelle Politik generie1ten, die in den Strukturen analog, aber nicht identisch zu bzw. mit dem westlichen Modell sind. I. Die Vereinigten Staaten •·on Amerika - ein
Faktor des europäischen Einigungsprozesses Es wäre trotz aller (regelmäßig wiederkehrender) Friktionsfelder falsch, die historisch fordernde Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess wegzudiskutieren und die strategische wie gesellschaftliche Bedeutung eines gut funktionierenden, transatlantisch partnerschaftliehen Verhältnisses zu unterschätzen. ' 59 in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur, 1999, S. 139 ff.; M. Schmiegelow, Democracy in Asia, 1997) Gesellschaften zu verweisen. 557 Von Y. Mimy (Hrsg.) 1 Le Politiques du mim€tisme institutionel- Lagreffe et le rejet, 1993 im Vorwort als "mimetisme constitutionel" bezeichnet. sss \Vährend Hybridisierung für jeden Fall der Verfassungsübernahme charakteristisch ist, gilt für den Fall eines gelungenen Kons-titutionalisierungsprozesses, dass die mimetische Anverwandlung der institutionellen Form an die geschichtJich-kulturellen Vorgänge, d. h. die lndigenisierung des Konstitutionalismus in einer politischen Kultur gebunden ist. 559 Zustimmung verdient G. Burghardr, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universitäl zu Berlin am 6. Juni 2002, abgedruckt in: \Valter Haltstein-Institut fUr Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im g lobalen Kontext, 2004, S. 4 1 ff., 4 1, der hinsichtlich des derzeitigen transatlantischen Verhältnisses fes-tstellt: "Indessen gleicht das Verhältnis der USA und der EU einer langjährigen partnerschaftliehen Bezjehung, die beide Partnerals so selbstverständlich ansehen, dass sie sich über den Grad der Belastba.rkeit beim Aus.tragen von Streitigkeiten keine Sorgen zu machen glauben. Das ,taking for granted' aber ist ein schleichendes Gift, das die soliden Gnmdlagen in Vergessenheit geraten lassen und den Blick für die gemeinsame Bewältigung zukünftiger Aufgaben trüben kann:·
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein nüchterner Blick bleibt angebracht: Die Einigung Europas ist in erster Linie eine Verantwortung und gestalterische "Hausaufgabe" der Europäer selbst. G leichwohl ist die Haltung der Vereinigten Staaten- unterstützend, kritisch wohlwollend begleitend oder s keptisch abwartend- stets auch ein Faktor der Beschleunigung oder der Verzögerung gewesen. Die Reden IV. Churchills in Fulton/Missouri (1946)'60 und G. Marshalls in Harvard (1947)'6 ' konnten inspirierende Wirkkraft entfalten. Persönliche Bindungen mit "transatlantisch prägender Dimension" fristen in der rechts- und politikwissenschaftlichen Betrachtung ein eher kümmerliches Dasein. Umso erstaunlicher, da etwa jeder grenzüberschreitende, " rechtskulturelle" Ansatz auf personalis ierte Bindeglieder, zumal "Transporteure" angewiesen sein müsste. Beispielhaft darf angeführt werden, dass drei anterikanische Nachkriegspräsidenten, TrumaJl, Eisenhower und Kemredy, mit J. Monnet in persönlicher Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden waren. G. Ball war J. Momrets engster amerikanischer Berater. J. F. Kemredys Konzept der Partnerschaft von Gleichen, sein Einfluss auf Mac
Millans Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft I96 I und die frühe Be schäftigung amerikanischer Universitäten mit der Theorie und Praxis europäischer Integration s ind weitere Beispiele konstruktiven amerikanischen Interesses. W. Hallslein hat diese Interaktion zwischen amerikanischem Interesse und notwendiger Erklärung komplexer europäischer Vorgänge prägend mitgestaltet In Tei len ungebrochen aktuell lesen sich Hallsteins Clayton-Vorlesungen mit dem Titel "Die Einheit Europas - Herausforderung und Hoffnung" im Apri l 1962 in Boston' 62 oder die (selbst verfassten) Berichte über seine regelmäßigen Gespräche mit Präsident Kennedy sowie seine Reden in Washington und New York aus den Jahren 1961 -63'63 • Ems1 Haas hat schon Anfang der 50er Jahre an der Universität Berkeley eine Vorlesung über die Rechts natur der EGKS eingerichtet. Heute beherbergen mehr als 15 anterikanische Universitäten ein "European Union Center", zahlreiche Institute und Forschungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt "Europäische Union" wurden und werden etabliert.
' 60 561
Abrufbar unte r www.nato.int/docu/speech/1946/s460305a_e.htm. Abrufbar unter W\Vw.georgecmarshall.orglltlspeeches/marshall_plan.cfm. 62 ' II( Hal/srein, United Europe: Challenge and Opportunity. The William L. Clayton Lectures on International Economic affairs and Foreign Policy, 1962. 563 Die Reden sind abrufbar unter www.ena.lu/europe/19571968-successes-crises /indexEN.html.
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
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2. Die konkrete Rolle d er USA im europäischen Eiuiguugsprozess"" Es wird im Folgenden darum gehen, die grundlegende Unterstützung der USA für den Prozess der supranationalen Integration Europas in den verschiedenen Phasen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch genauer nachzuzeichnen. Dabei wird zu zeigen sein, dass es sich um e ine Unterstützung handelte, die in Abhängigkeit von den jeweils dominanten Motiven und Interessenlagen sowie den spezifischen Kontexten und Problemen unterschiedlich intensiv ausfallen und verschiedenartige Ausprägungen annehmen konnte.
a) Eine neue amerikanisd1e Europapolitik nach dem zweiren Weltkrieg? Bereits unmittelbar nach Kriegsende setzte das anterikanische Engageme nt für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten (West·) Europa ein. Dabei stan· den zunächst die ,,Notwendigkeiten der Nachkriegszeit" im Vordergrund. Seinen s ichtbarsten Ausdruck fand das europapolitische Engagement der USA in der Verabschiedung des so genannten "Marshallplans" durch den US-Kongress im Jahre 1948. Bekanntlich hat dieses nach dem ameri kanischen Außenminister G. Marshall benannte Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) mit seinen materiellen und finanziellen Hilfen und Dienstleistungen erheblich zum Wie· deraufbau der europäischen Länder nach I945 beigetragen. Auch wenn de m Marshallplan die primäre Zielsetzung zugrunde gelegen hat, die materiellen Nöte der vom Krieg geschundenen Bevölkerung zu lindern und langfristig den ökono· mischen Wiederaufstieg der westeuropäischen Staaten zu fundieren, war bereits dieses frühe europapolitische Engagement der USA auch mit der Absicht verknüpft, die politische, wirtschaftliche und militärische Integration Westeuropas zu befördern. Die I953 vom amerikanischen Außenminister J. F. Dulles vor dem National Security Council vorgetragene These, "There was no hope for Europe without integration"'6' , lag bis in die sechziger Jahre als eine Art Leitmotiv der Europapolitik aller amerikanischen Nachkriegs-Administrationen zugrunde. Die Hintergründe und Motive dieser gegenüber der Vorkriegszeit grundlegend veränderten handlungs leitenden Grundmaxime der amerikanischen Europapolitik waren vielfältig. Ohne Frage hat die destJUktive und destabilisierende Wirkung der von permanenten, gefährl ichen Krisen e rschütterten zwischenstaatlichen Beziehungen der europäischen Nationalstaaten in der Vorkriegszeit, die schließlich 564 Die nachfolgenden Thesen stützen sich auf einen Vortrag des Verj am 17. I I. 2005 in Washington, zu dem eine vom Verf. in Auftrag gegebene Ausarbeitung der \Vissen-
schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 25. 10 . 2005) wesentliche Impulse
zu setzen wusste. 6 ' ' Zitiert nach 8. Ne11ss, Der ,,gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle de r USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-\Valser/8. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke.
Hintergrund und Finalität, 200 I, S. 155 ff., 155.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündeten, bei den außenpolitischen Eliten in Washington e ine gründliche Revision der tradierten Denkmuster und Handlungsstrategien hervorgerufen. Nur eine Abkehr von der herkömmlichen Nationalstaats politik und e ine weit reichende supranationale Integration der europäischen Staaten bei einem mehr oder weniger großen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte konnte nach einer in den maßgeblichen amerikanischen Führungskreisen weithin verbreiteten Überzeugung eine stabi le friedliche sowie eine politisch wie ökonomisch gedeihliche Entwicklung garantieren. Dagegen sah man bei e iner Restauration des traditionellen europäischen Nationalstaatensystems das Wiederaufleben schwerer internationaler Krisen und kriegerischer Auseinandersetzungen als geradezu unvermeidlich an. Die amerikanische Führung unterstützte daher alle Ansätze, die darauf abzielten, die westeuropäischen Staaten zu einem der USA ebenbürtigen Verbund von Staaten zusammenzuschließen, selbst auf die Gefahr hin, dass den Vereinigten Staaten hieraus eines Tages e in potentie ller Konkurrent erwachsen könne, der international seine eigenen Ziele und Interessen verfolgen würde. ln der politischen Praxis der ersten Nachkriegsjahre kam dieser neuen Ausrichtung der ame rikanischen Europapolitik zugute, dass e ine Reihe von führenden westeuropäischen Staatsmännern der Wiederaufbauzeit wie R. Sc/umum, A. de Gasperi, J. Monnel und K. Adenauer ebenfalls eine stärkere Einbindung ihrer Staaten in übernationale westeuropäische Strukturen beflirwortete. Die Übereinstimmung in der grundsätzlichen Ausrichtung erleichterte die amerikanisch-westeuropäische Zusammenarbeit in der Integrationspolitik sehr und zeitigte in den- angesichts der Komplexität und Reichweite der Materie- überraschend zügig zum Abschluss gebrachten Verhandlungen über die Verträge zur Errichtung der EGKS, der EVG sowie der beide Organisationen überwölbenden EPG mit föderativer Struktur erste konkrete Ergebnisse. 566 ln Abgrenzung zur älteren idealistischen Sicht der Integrationsgeschichtsschreibung wird in der j üngeren Forschung allerdings geltend gemacht, dass die Gründungsväter Europas auf beiden Seiten des Atlantiks nicht (oder zumindest nicht allein) aus visionärer Einsicht das bisherige nationalstaatliche Paradigma zutiickdrängten sowie gänzlich selbstlos und ohne handfeste ökonomische und nationale
566 Während die 1952 beschlossene EVG ebenso wie das EPG-Projekl 1954 definitiv scheiterte, erwies sich die von den Beneluxstaaten, Frankreich, Italien und Deutschland im April 1951 begründete EKGS als erster entscheidender Schritt im europäischen Integrationsprozess und kann als "Keimzelle'' der späteren Europäischen Gemeinschaft betrachtet werden, vgl. auch R. Hrbek, Europa in der internationalen Politik, in: U. Albrech I/ H. Vogler (Hrsg.), Lexikon der internationalen Politik, 1997, S. 13 1 ff., 132 f.; im größeren Kontext M.J. Hillmbmnd, Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeite n, in: K. Kaiser/ H.P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme, 1977,
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Interessen handelten.'67 Während aus europäischer Perspektive nur ein bestimmtes Maß an supranationaler Integration und ein damit einhergehender Teilverzicht auf Souveränitätsrechte das Überleben der Nationalstaaten und deren wirtschaftlichen Wiederaufstieg garantieren sollten und überdies militärische Schutzinteressen und die Aussicht auf ökonomische Hilfsleistungen eine enge Anlehnung an die USA ratsam erscheinen ließen, sollte es für die Ameri kaner schon bald nach Kriegsende klar gewesen sein, dass sich ihre Hoffnungen auf eine friedliche Nachkriegsordnung in Europa und anderen Teilen der Welt zerschlagen hätten. In ihren strategischen Überlegungen für den heraufziehenden Kalten Krieg wiesen die Amerikaner Europa die gewichtige Rolle eines starken und geeinten Partners bei der Herstellung des globalen G leichgewichts zwischen den beiden Militärblöcken zu. Voraussetzung hierftir war nach an1erikanischer Überzeugung allerdings die Errichtung eines Systems zwischenstaatlicher Strukturen in Westeuropa, das den Ausbruch neuer europäischer Kriege wirksam unterband, deshalb vor allem Deutschland als den größten Unruheherd der zurückliegenden Jahrzehnte und voraussichtlich stärksten Machtfaktor der Zukunft wi rksam einband sowie die GJUndlagen für eine positive Entwicklung der westeuropäischen Staaten in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht schuf.'"" Selbst wenn das amerikanische Interesse an einer europäischen Einigung somit primär sicherheitspolitisch begründet war, bleibt dennoch anzuerkennen, dass die amerikanischen Regierungen unter H. Trumall und D. Eisenhower mit der Einflussnahme auf Verhandlungen und der Ausübung von Druck als Antreiber und Vermittler im europäischen Einigungsprozess gewirkt haben, ohne den supranationale Integration keineswegs so schnell und in dieser Form vorangeschritten wäre. Insofern lässt sich durchaus mit einer gewissen Berechtigung konstatieren, dass die USA tatsächlich als "Geburtshelfer Europas"'69 gewirkt haben. Diesem Befund widerspricht nicht, dass die USA mit ihrem auf Integration ausgerichteten Europakurs durchaus eigene politische Interessen verfolgten. Denn eine Stabili s ierung und wachsende Integration der westeuropäischen Staaten versprach nicht 567
Vgl. etwa K. K. Pate/, Rezension zu G. Lundestad, The United States and Europe since 1945. From "Empire by lnvitation" to Transa tlantic Drift, 2003, in: H-Soz-u-Kult, 2 1. 10. 2004. S. 6, abrufbar unter http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2004 -4-049. 563 Vgl. G. Lrmdestad, "Empire" by Integration. The United States and European Integration 1945-1997, 1998, S. 13 f.; K. K. Pate/ (2004); ähnlich auch B. Neuss, Der "gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R. C. Meier-Walser /B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 200 I, S. I 55 ff., 155. 569 So der Titel einer Monographie von 8. Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945- 1958, 2000. Siehe auch dies., Der .,gütige Hegemon'' und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-\Valser/8. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 200 1, S.l 55ff., 155.
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nur einen Zugewinn an äußerer Sicherheit und damit eine Stärkung der amerikanischen Positionen in der Konfrontation der Blöcke, sondern eröffnete langfristig auch die Aussicht, die gewaltigen Kosten, die die Wahrnehmung der weltpolitischen Rolle der USA mit sich brachte, durch Lastenverte ilung ("burden sharing") mit den in Zukunft auch wirtschaftlich e rstarkten europäischen Staaten zu senke n. Ebenso dürften die US-Administrationen in ihren integrationspolitischen Bemühungen ftir Westeuropa auch von der Hoffnung auf das Entstehen lukrativer neuer Märkte in den zukünftig stärker verflochtenen Volkswirtschaften Europas angetrieben und bestärkt worden sein. 570 Dies ändert freilich nach Ansicht einer Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern nichts an der Tatsache, dass die sicherhe itspolitischen Ziele in der amerikanischen Europapolitik gerade in den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den ökonomischen Erwägungen eindeutig im Vordergrund gestanden haben und die Amerikaner für die Durchsetzung ihrer Sicherheitsbedlilfnisse sogar bereit waren, auch ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen ."' Im Gegensatz zu älteren Forschungspositionen, die dem europapolitischen Engagement der Amerikaner hauptsächlich ökonomischen Eigennutz und hegemoniale Absichten bei nur geringem Interesse an einem föderalen Europa unterstellten 572, besteht nach neuerer Ansicht weitgehend Konsens darüber, dass die Europäer die amerikanische Einflussnahme nicht nur mehr oder weniger zustimmend akzeptiert haben, sondern die Vereinigten Staaten nachgerade aufgefordert haben, sich an der Lösung der innereuropäischen Probleme zu beteiligen. Nach einer inzwischen weithin akzeptierten These suchten die westeuropäischen Staaten nach dem Krieg die enge Anlehnung an die Vereinigten Staaten, da sie sich alleine weder im Stande sahen, ihre zerstörten Volkswirtschaften wieder aufzubauen, noch sich gegen die äußere Bedrohung vor allem durch die sowjetischen Expansionsgelüste in Europa zur Wehr zu setzen, noch die Einflüsse und Machtansprüche der kommunistischen Parteien in ihren e igenen durch den Krieg sozial zerrütteten und wirtschaftlich schwachen Staaten zurückzudrängen."' Jn diesem Kontext ist allerdings festzuhalten, dass die USA ihre Vorstellungen keinesfalls e ins zu eins durchsetzen konnten. Vielmehr zeigten s ich die Europäer durchaus in der Lage, amerikanische Vorhaben abzuändern und eigene Akzente zu setzen, was sich unter anderem an der erfolgreichen Zurückweisung der 570
Dazu etwa D . Kn'iger, Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas 1947 bis 1957, 2003, S. 17 f. "' Vgl. K. K. Patel (2004), S. 7 . 512 Siehe etwa noch J. Heideking, Die Vereinigten Staaten> der MarshaJI-Plan und die Anfange der europäischen Integration, in: R. Dietl/ F. Knipping (Hrsg.), Begegnungen zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten \ Veltkrieg, 1999,
S. l7ff., 17 m.w.N. 573 G. Ltmdeswd, The United States and Europe since 1945. From "Empire by Invitation"' to Transatlatic Drift, 2003, hebt diesen Aspekt wiederholt hervor.
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immer wieder vorgetragenen amerikanischen Forderungen nach größeren Rüstungsanstrengungen seitens der Europäer, aber auch an der Einflussnahme vor allem Frankreichs und Großbritanniens auf die integrationspolitischen Vorstellungen Washingtons belegen lässt."' Vor diesem Hintergrund charakterisiert G. Lundestad die Position der USA in Westeuropa als "empire by invitation", womit er zum Ausdruck bringt, dass die amerikanische Einflussnahme auf Westeuropa keineswegs gegen den Widerstand der betroffenen Länder erfolgte, sondern im Gegenteil vielfach auf deren erklärten Wunsch hin zustande kam. Dabei versteht Lrmdestad "empire" in Abgrenzung zu älteren Formen direkter Herrschaft wertneutral als hierarchisches System mit einem Zentrum, das auch und vor allem mit Hilfe seiner integrationspolitischen Bemühungen seine Einflusssphäre auf e ine Reihe unabhängiger Staaten ausdehnt."' Das insgesan1t einigende Bekennmis zu demokratischen und rechtsstaatliehen Prinzipien setzt der Einflussnahme seitens der an1erikanischen Vormacht freilich messbare Grenzen und lässt Kritik und Gegenvorschläge der abhängigen Staaten nicht von vorneherein aussichtslos erscheinen. 576 Bei a llem Einsatz flir eine stärkere Integration der europäischen Staaten in den fünfziger Jahren war die amerikanische Politik nicht frei von Brüchen und Widersprüchen. Hatten die USA zunächst noch von den Europäern initiierte supranationale Initiativen unterstützt, als die Europäer sich bereits zurliekgezogen hatten, ließen seit etwa 1954 auch die Amerikaner in ihren Integrationsbemühungen nach und konzentrierten sich mehr auf ihr Verhälmis zu Großbritannien und zur NATO. Überhaupt scheint die NATO, nachdem sie sich als leistungsfahiges und erfolgreiches Instrument zur Lösung der inneren und äußeren Sicherheitsprobleme erwiesen hatte, die Westeuropäer der Notwendigkeit enthoben zu haben, gegenüber der Herausforderung des Ostblocks eine politisch voll integrierte Gemeinschaft aufzubauen. Die transatlantische Einbindung garantierte größtmögliche Sicherheit (wenngleich auch eine allzu eingeschränkte Sicht- und Emptindungslage) und machte einen weiteren 574
So z. B. bei der gescheiteren supranationalen Umorganisation der OEEC, der Errich-
tung der EGKS oder beim Scheitern von EVG und EPG. Siehe auch H. R. Hammericlr, Jeder flir sich und Amerika gegen alle? Die Lastenteilung der NATO am Beispiel des Temporary Council Comittee 1949 bis 1954, 2003 sowie 8 . Neuss, Der "gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 157 f., 159 ff. 515 G. Lwrdestad, "Empire~' by Integration. The United States and European Integration 1945-1997, 1998, S. 2ff. sowie umfassend ders, The United States and Europe since 1945. From "Empire by lnvitation" to Trnnsatlatic Drift, 2003. 51&
Insbesondere in Situationen, in denen einzelne europäische Länder sich in ihren existenziellen Grundlagen bedroht sahen, wie dies etwa bei Frankreich angesichtsder bei Umsetzung der EVG-Pläne beflirchteten militärischen Aufwertung der Bundesrepublik der
Fall war, kann auch noch so großer Druck der USA die betroffenen europäischen Staaten nicht zum Einlenken bewegen, vgl. M.J. Hitlenbrcmd, Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/ H.-P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme, 1977, S. 288 ff., 288.
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Souveränitätsverzicht der auf ihre nationalstaatliche Eigenständigkeil bedachten westeuropäischen Staaten zugunsten eines stärker integrierten, föderalen Europas (vordergründig) überfllissig. Angesichts der Verlagerung der europapolitischen Anstrengungen der Amerikaner kann es kaum verwundern, dass auch die beiden gegen Ende der fünfziger Jahre ausgehandelten und für den weiteren europäischen Einigungsprozess besonders erfolgreichen Projekte, die Euratom und die EWG auf rein europäischen Initiativen basierten und hinsichtlich ihrer Realisierungschancen von Washington äußerst skeptisch beurteilt wurden. Gleichwohl unterstützte die amerikanische Regierung auf Drängen der Europäer beide Projekte und vermittelte hinter den Kulissen zwischen den Verhandlungspartnern, da sie zu der Überzeugung gelangt war, dass die zu erwartenden Vorteile- unter anderem das Erreichen e iner weiteren europäischen Integrationsstufe, Sicherung der Energieversorgung, Kontrolle der militärisch orientierten Atomforschung, Vertiefung der Anbindung Deutschlands an den Westen, Schaffung eines großen e uropäischen Binnenmarkts (mit neuen Marktchancen auch ftir die ameri kanische Wirtschaft)- die beftirchteten Nachteile vor allem ftir die amerikanische Wirtschaft (durch Subventionen oder Schutzzölle im Agrarbereich sowie Erhöhung des Konkurrenzdrucks und Exporteinbußen ftir die amerikanische Industrie) unter allgemein- wie sicherheitspolitischen Gesichtspunkten rechtfertigten. Wie oben bereits dargestellt konnten nach langwierigen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen im Frühjahr I 957 die EWG und die Euratom mit der Rati fizierung der "Römischen Verträge" ins Leben gerufen werden. Während die politische Bedeutung von Euratom insgesamt gering blieb und ihre integrationspolitischen Wirkungen bescheiden ausfielen, erwies sich die EWG als entscheidender Kristallisationspunkt flir alle weiteren europäischen Einigungsbestrebungen.577
b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld ~wischen Kooperation und Ambivalenz Etwa ein Jahrzehnt nach Beginn der Bestrebungen, die westeuropäischen Staaten in supranationale Strukturen einzubinden und damit die politische, wirtschaftli che und militärische Integration Europas voranzutreiben, war mit amerikanischer Unterstützung vor allem im wirtschaftlichen Bereich ein enges organisatorisches Beziehungsgeflecht in Kontinentaleuropa entstanden, das in den beteiligten Staaten neben einer gedeihlichen wirtschaftlichen und insgesamt stabilen inneren Entwicklung auch das friedliche Zusammenleben beförderte. Die nun e insetzende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und die wieder erlangte 577
Umfassend B. Neuss (2001 ) S. 163 f.; siehe auch R. Hrbek, Europa in der internati<>nalen Politik, in: U. Albrecht/ H. Vogler (Hrsg.), Lexikon der internationalen Politik, 1997, S. 13 1 ff., 133.
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wirtschaftliche Stärke und politisch-gesellschaftliche Stabilität der europäischen Staaten hatte auch Auswirkungen auf die europäische Rolle der USA und die transatlantischen Beziehungen. Auch wenn die USA die grundlegenden Leitlinien ihrer Europapolitik nicht veränderten und nach wie vor fördernd in den europäischen Einigungsprozess eingriffen, entwickelten sich nun mehr und mehr Frankreich und Deutschland zum eigentlichen Motor der europäischen Einigung. Trotz eines zunehmend selbstbewussten Auftretens der europäischen Staaten verstanden s ich die USA weiterhin als Förderer der europäischen Einigung, mehr noch: in ihren strategischen Konzepten wiesen sie Europa eine zentrale Rolle zu. ln dem von der Kemredy-Administration entwickelten "Grand Design" flir die transatlantische Gemeinschaft sollte ein ökonomisch, militärisch und politisch starkes und geeintes Europa eine tragende Rolle als zweite gleichberechtigte Säule neben der amerikanischen einnehmen.m ln seiner weithin beachteten Rede vom 4 . Juli 1962 in Philadelphia, in der er das neue NATO-Konzept vorstellte, bekannte sich J. F. Kemredy daher auch ausdrücklich zur europäischen Integration: "Die Vereinigten Staaten sehen auf dieses große neue Unterfangen mit Hoffnung und Bewunderung. Wir betrachten ein starkes und vereintes Europa nicht als Rivalen, sondern als Partner. Seinen Fortschritt zu unterstützen, war siebzehn Jahre lang das Hauptanliegen unserer Außenpolitik."579 Trotz allem: jenseits derartiger langfristiger strategischer Überlegungen nahm im politischen A lltag die Zahl der Differenzen und Konftikte zwischen Amerikanern und Europäern zu. Insbesondere die französische Regierung unter Präsident de Gaulle forderte mit seinen Versuchen, autonome, von den amerikanischen Hegemonialinteressen unabhängige europäische Strukturen und mit den USA eine gleichberechtigte und gleichgewichtige Partnerschaft aufzubauen (Konzept einer europäischen dritten Kraft), die amerikanische Führungsrolle in Europa ein ums andere Mal heraus. ' 80 Ein Umstand, der bis heute durchzuscheinen, gelegentlich Platz zu greifen vermag. m J. F. Kennedy, The Goal of an Atlantic Partnership. Rede in Philadelphia am 4. Juli I 962, zit. nach M.J. Hillenbrcmd (I 977), S. 289; vgl. auch E.-0. Czempiel/ C.C. Schweirzer, Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente, 1989, S. 254. 579 J. F. Kennedy, ebenda. 580 Anlass zu Irritationen und Konflikten boten unter anderem der Gemeinsame Markt, vor allem die von Frankreich vorangetriebene Ausgestaltung des gemeinsamen Agrarmarktes, der mit seinen protektionistischen Praktiken amerikanischen \Virtschaftsintere.ssen tendenziell zu schaden drohte; die durch den Übergang von der Strategie der "massiven Vergeltung" zur Strategie der "Hexiblen Antwort"' bei den Europäern ausgelöste Sorge vor einer Auf\veichung des atomaren Schutzschilds der USA für Europa; der deutschfranzösische Freundschaftsvertrag von 1963, den de Gaulle im Sinne der europäischen Führungspläne Frankreichs gegen die USA auszuspielen beabsichtigte; der- auf Betreiben Frankreichs erfolgte- Ausschluss Großbritanniens aus dem Gemeinsamen Markt; der- aufgrund amerikanischer Bevorzugung Großbritanniens eingeleitete - atomare Alleingang der Franzosen; der Rückzug Frankreichs aus der Verteidigungsorganisation der NATO im
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Auf wirtschaftlichem Gebiet war der amerikanischen Einftussnahme in Europa nur bedingt Erfolg beschieden. So gelang es den USA, durch Gründung der OECD die aufstrebende EWG in den größeren Zusammenhang der (westlichen) Industriestaaten zum Zwecke der Koordinie rung der Wirtschaftspolitik und Kooperation bei der Auslandshilfe einzubetten. Auch war es noch unter der Kennedy-Administration gelungen, Zollvereinbarungen mit der EWG auf den Weg zu bringen und durch Senkung der Zölle auf Industrieprodukte eine erhebliche Liberalis ie rung des Handels zwischen den Industriestaaten herzustellen. Dagegen scheiterte der ame rikanische Plan, durch Errichtung e iner europäischen Freihandelszone mit der EWG, Großbritannien und dem Commonwealth eine kontinentaleuropäische Blockbi ldung zu verhindern." ' Differenzen und Fehlschläge dieser Art verstärkten e ine bereits Anfang der sechziger Jahre unter amerikanischen Führungsgruppen spürbare ambivalente Haltung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess: Einerseits gab es eine breite Unterstützung für die europäischen Einigungsbemühungen, deren geopolitische Bedeutung nach wie vor unumstritten war. Auch erkannte die amerikanische Wirtschaft die neuen ökonomischen Chancen der EWG und nutzte den durch diese hergestellten größeren Markt ftir eine Steigerung ihrer Direktinvestitionen in Europa (was dort Ängste vor "amerikanischer Überfremdung" auslöste). Andererseits empfand man insbesondere die EWG-Agrarpolitik und die Bevorzugung des Mittelmeerraums und Afrikas durch die EWG als Diskriminierung mit negativen Auswirkungen auf den eigenen Export. Vor allem aber ta t man sich jenseits des Atlantiks schwer damit anzuerkennen, dass die aus der Einigung resultierende machtpolitische Stärkung Europas zwangsläufig e ine Relativierung, wenn nicht sogar auf kurz oder lang eine Beendigung der amerikanischen FühJUngsrolle in Europa zur Folge haben musste. Auch wenn der amerikanische Führungsanspruch s ich mit dem bereits von Kennedy propagierten Partnerschaftsmodell schwer vere inbaren ließ, konnten ihn die Amerikaner aber vor allem mit Verweis auf die fehlende politische Einheit und großen militärtechnischen Defizite der Europäer zumindest auf s icherheitspolitischem Gebiet weiterhin geltend machen.
M ärz 1966; die Weigerung, sich in die Rüstungskontrollgespräche mit der Sowjetunion
einbinden zu lassen, vgl. hierzu lV. Link, Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunft, in: M. Kahler/ \\'. Link (Hrsg.), Europa nach der Zeite nwende - d ie Wiederke hr der Geschichte, 1995, S. 49 ff., 117, 120 sowie jüngst/. \Vaf/erstein, Die USA und Europa- 1945 bis heute, im Iotemet unter: www .uni-kassel.de/fb5/frieden/themen!Europalwallerstein.html. ' 81 Vgl. E.-0. Czempiei/C.-C. Scltweirzer, Weltpolitik der USA nach 1945. EinfUhrung und Dokumente, 1989, S. 256f.
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c) Die 70er Jahre: Das Abfedern voll trallsarlamischen RivaliTäteil und Friktionsfeldern Nachdem s ich bereits in den sechziger Jahren des vergangeneo Jahrhunderts andeutete, dass die Amerikaner auf europapolitische M isserfolge, Ausweitung des transatlantischen Konfli ktpotentials und wachsenden Gestaltungswillen der zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Europäer mit nachlassendem Interesse an der e uropäischen Integration reagierten"', scheint sich diese Haltung in der Europapolitik in den siebziger Jahren weiter verfestigt zu haben; zumindest zeichnete sich damals der europapolitische Kurs der USA durch wachsende Distanz gegenüber den europäischen Partnern und ihren Integrationsbemühungen sowie durch eine insgesan1t veränderte weltpolitische Prioritätensetzung aus. Dass dieser Kurswechsel auch einen Reflex auf die bisherigen Misserfolge in der Europapolitik darstellte, lässt sich an der Kongressrede Präsident Nixalls vom Februar 1970 ablesen, in der er die Grundlinien seines neuen Ansatzes in der Europapolitik vorstellte: "Die Struktur Europas ( .. . ] ist grundsätz-lich die Aufgabe der Europäer. \Vir können Europa nicht vereinigen, und wir g lauben nicht, dass es nur einen Weg z.u diesem Ziel g ibt. Wenn die Vereinigten Staaten sich in früheren Regierungsperioden z.um eifrigen Anwalt machten, dann schadete dies mehr dem Fortschritt, als es ihm half. \Vir glauben, dass wir den Prozess der europäischen Einigung nicht nur durch unsere Rolle in der Nordatlantischen Allianz und durch unsere Beziehungen zu europäischen Institutionen unterstützen können, sondem ebenso durch unsere bilateralen Beziehung zu den verschiedenen Staaten Europas. Für die weitere Zukunft werden diese Beziehungen die \vesentlichen transatlantischen Bindungen darstellen [ .. . ]'d!U
Dies bedeutete nichts anderes, als dass die Administration der Vereinigten Staaten zwar weiterhin das Ziel einer europäischen Vereinigung unterstützte, sich aber von ihrer einstmaligen Rolle als Antreiber und Impulsgeber des europäischen Integrationsprozesses nunmehr endgültig verabschiedet hatte. Stattdessen zogen s ie es vor, die innereuropäischen Entwicklungen nur noch indirekt über ihre bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsländern der Gemeinschaft mehr zu begleiten als zu beeinflussen. Die Wendung in der Europapolitik der USA war Ausfluss e ines sich seit Ende der sechziger Jahre abzeichnenden grundlegenden Richtungswechsels in der amerikanischen Außenpolitik, der in hohem Maße ökonomisch motiviert war. Während die US-Wirtschaft stagnierte bzw. in e ine Rezession fiel, stiegen die 582
Siehe auch J. G. Giauque, Grand Designsand Visions of Unity. The Atlantic Powers and the Reorganization of Western Europe, 1958-1963, 2002. SSJ R.M. Nixon, U.S. Foreign Policy for the 1970's. A New Strntegy for Peace. Bericht des Präsidenten an den Kongress, Washington 1970, zit. nach M.J. Hi/lenbrcmd, Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/ H.-P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme, 1977, S. 288 ff., 300.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Kosten des weltpolitischen Engagements der USA ins Unermessliche. Die amerikanischen Mi litärausgaben im Ausland (insbesondere während des Vietnamkriegs), umfangreiche Auslandshilfen sowie beträchtliche wirtschaftliche Investitionen der Amerikaner in Europa hatten den US-Staatshaushalt arg strapaziert. KapitalabHUsse ins Ausland und eine dramatische Abnahme der Goldreserven brachten die amerikanische Währung zunehmend in Schwierigkeiten, was schließlich dazu führte, dass die Regierung Nixon im August 1971 völlig überraschend die Goldbindung und Konvertibilität des Dollars aufhob (und damit das von den USA etablierte We ltwährungssystem von Bretton Woods beendete). 584 Ausbi ldungen dieser Art s ignalisierten augenfallig, dass sich zumindest im wirtschaftlichen Bere ich die überragende Position der USA zu relativieren begann. Auch wenn die dominante Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten weiterhin unangetastet blieb, war nicht mehr zu übersehen, dass die westeuropäischen Staaten wirtschaftlich inzwischen weit fortgeschritten sich im Aufholprozess befanden und sich anschickten, das globale wi rtschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern. Vor allem die Staaten der Europäischen Gemeinschaft entwickelten ein der USWirtschaft nahezu ebenbürtiges WirtschaftspotentiaL Es war desha lb wenig verwunderlich, dass die Europäer nun versuchten, die neu gewonnene wirtschaftliche Stärke dazu zu nutzten, ihre Unabhängigkeit gegenüber der "hegemonialen Führungsmacht" jenseits des Atlantiks auszuweiten.'" Erwartungsgemäß reagierte die US-Administration auf derartige Bestrebungen äußerst verstört. Dies lässt sich unter anderem an den Reaktionen der amerikani schen Regierung auf das Streben der EG -Mitglieder nach Harmonisierung ihrer Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) erkenne n. So hatte der von diesem Vorhaben eher verunsicherte US-Außenminister H. Kissinger zwar stets eine stärke re außenpolitische Zusammenarbeit der Europäer e ingefordert und bei diesen moniert, dass er nicht wisse, welche "Te lefonnummer" e r in Europa bei einer Verständigung im Krisenfall anrufen solle, andererseits machte er aber keinen Hehl daraus, dass ihm eine "freischwimmende 584
Ausft.ihrlicher G. Ltmdesrad, "Empire'' by Integration. The United States and European Integration 1945 - I 997, I 998, S. 96 ff.; IV Li11k, Historische Kontinuitä ten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis- Folgerungen flirdie Zukunft, in: M. KahlerI W. Link (Hrsg.), Europa nach der Zeitenwende - d ie Wiederkehr der Geschichte, I 995, S. 49 rr., 122 f.; E.-0. Czempiei/C. -C. Sclnveitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente, 1989, S. 257, 313 r. sss Neben dem Bestreben>sich etwa durch währungspolitische Koordinierungsbemühungen (europäische \Vährungsschlange. Block-Floating gegenüber dem Dollar) von den gravierenden Problemen der US-\Virtschaft abzukoppeln, zielten die europäischen Emanzipationsversuche auch auf eine größere Eigenständigkeil des sich vereinigenden Europa in der \Veltpolitik - ohne allerdings die enge Anlehnung an die westliche Vormacht in Sicherheitsfragen sowie die feste Einbindung in die NATO in Frage zu stellen (ohne pointierte "Ausbruchsversuche" Frankreichs außer Acht zu lassen), vgl. auch IV Link ( 1995), S. 123 ff.
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europäische Außenpolitik" überaus suspekt war. 586 Nixon stufte die auf politische Eigenständigkeil und Gleichberechtigung mit den USA zielenden Bestrebungen der EPZ in seiner Chicagoer Rede von April 1974587 gar als "ganging up" der Europäer gegen die Vereinigten Staaten e in und stellte angesichts der auch auf anderen Feldern"' s ichtbar gewordenen Differenzen in aller Öffentlichkeit die Bündnisfrage. Rigoros lehnte er eine weitere Kooperation auf s icherheitspolitischem Gebiet flir den Fall ab, dass die Europäer ihren wirtschaftlichen und politischen Konfrontationskurs weiterhin fortsetzten. Statt den Europäern größere politische Unabhängigkeit zuzugestehen, verfolgten die USA unter dem Eindruck der geschilderten ökonomischen Probleme seit Anfang der siebziger Jahre das Ziel , die Kosten flir ihr weltpolitisches Engagement zu reduzieren, ohne international an Einftuss zu verlieren und die hegemoniale Grundstruktur des transatlantischen Bündnissystems aufzugeben. In diesem Sinne ist auch der Entwlllf Kissingers für eine Atlantik-Charta von 1973 zu verstehen, in der er eine Neuordnung der trans atlantischen Beziehungen vorschlug, in der die bisherige Aufgabenteilung (globale Rolle der USA, regionale Zuständigkeiten der europäischen Staaten) zwar grundsätzlich be ibehalten, die Europäer aber als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheitsgarantie wirtschaftliche Zugestä ndnisse machen und e inen Teil der gewaltigen militärischen Lasten übernehmen sollten.'89 Die ameri kanische Strategie, die s icherheitspolitische Abhängigkeit der e uropäischen Staaten von der westlichen Schutzmacht gegen die wirtschaftlichen und politischen Eigenständigkeilsbestrebungen der Europäer auszuspielen, erwies s ich schließlich als erfolgreich- nicht zuletzt auch deshalb, weil die im Zuge der Ents pannungspolitik forcierten bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen die Gefahr e iner Durchlöcherung des ameri kanischen Schutzschilds flir Europa heraufzubeschwören drohten. Auf Vermittlung der Bundesrepublik Deutschland, die als Frontstaat im Kalten Krieg existenziell auf den militärischen Schutz der USA angewiesen war, lenkten die Europäer schließlich ein. Ein Schlüsselmoment ereignete sich auf der Konferenz auf Schloss Gymnich bei Bonn im April 1974: dort s icherten die Europäer zu, dass die USA bei EPZ-Beschlussfassungen, die an1erikanische Interessen betiihren, zu konsultieren sind. Die im Juni 1974 in Brüssel unterzeichnete " Atlantische Deklaration" verpftichtete die europäischen Bündnispartner a ls Gegenleistung flir die amerikanische Sicherheitsss& Ein Umstand, den H. Kissinger nunmehr in persönlichen Gesprächen mit dem \ferj. mehrfach dementiert hat. 587 Zitie rt nach W Li11k ( 1995), S. 124f; vgl auch 8. Neuss, Der "gütige Hegemon" und
Europa. Die Rolle der USA bei de r europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Wa lser/ B. Rill (Hrsg.), Der e uropäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 200 I, S. 155 ff., 165.
sss So z. B. in der Diskussion überdie als Folge derersten Ölkrise notwendig gewordenen Änderungen der energiepolitischen Strategie des \Vestens. 589 Dazu E.-0 . Czempiel!C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. EinfUhrung und Dokumente, 1989, S. 257, 313.
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garantiezur Übernahme eines angemessenen Anteils an den Verteidigungslasten. Zudem verständigten s ich die NATO-Partner darauf, die "Sicherheitsbeziehungen durch harmonische Beziehungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet" zu stärken.'"' Obgleich es den Amerikanern somit aufgrund ihres in der Blockkonfrontation nicht zu kompensierenden militärischen Potentials gelungen war, die geopoliti schen Eigenständigkeilsbestrebungen der europäischen Staate n einzufangen und machtstrategisch ihre hegemoniale Vorherrschaft im Atlantischen Bündnis weiterhin zu behaupte n, e ntwickelte s ich dank der organisatorischen Ausweitung und institutionellen Verfestigung der europäischen Wirtschaftmacht in der EG eine Dynamik, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa im Sinne einer weitgehend gleichrangigen Partnerschaft umformte.'"' Auch die währungspolitischen Koordinierungsbestrebungen der e uropäischen Staaten, die I978/79 mit der Errichtung eines Europäischen \Vährwrgssystems ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, widerspiegelten deren Bestreben, die Rahmenbedingungen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung autonom zu gestalten. Dass das Wirtschaftspotential des nunmehr zur "ökonomischen Supermacht" aufgestiegenen Westeuropa auf kurz oder lang auch das weltpolitische Gewicht der Europäer stärken musste, ließ sich schon gegen Ende der s iebziger Jahre absehen. So gab es in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch von amerikanischer Seite verstärkte Bemühunge n, die europäischen Partner in wichtigen inte rnationalen Fragen zu konsultieren und mit ihnen bei der Lösung anstehender Probleme zu kooperieren. Die damit verbundene zunehmende Anerkennung des machtpolitischen Gewichts Westeuropas durch die USA ließ s ich unter anderem an der relativ unabhängigen e uropäischen Rolle während der KSZE-Verhandlungen seit Ende der s iebziger Jahre sowie an der gemeinsam von den USA und den drei europäi schen Führungsmächten Großbritannien, Frankreich und Deutschland getroffenen Grundsatzentscheidung über den NATO-Doppelbeschluss im Januar 1979 erkennen.S92
d) Die 80er Jahre: Konflikt rmd Kooperation Die wesentliche Prägung des transatlantischen Verhältnisses zu Beginn der achtziger Jahre erwuchs aus den Auseinandersetzungen um ein angemessenes 590 Vgl. German Chancellor Schmidt and French Prime Minister Chirac at the North Atlantic Council Meeting in Brussels. 1974 06 26- FOT-, in: H.G. Lehmann (Hrsg.), Deutschland-Dokumentation, I. Januar 1945 -31. Januar2004, 2005. 591 Ihren sichtbarsten Ausdruck fand der Aufstieg Westeuropas als gleichberechtigter Partner in der Weltwirtschaft in den seit I 975 jährlich tagenden Weltwirtschaftsgipfeln, an denen neben den USA, Japan und Kanada auch die vier europäischen Führungsmächte (Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland) teilnahmen. 591 Vgl. auch E. Fomdran, Der NATO-Doppelbeschluß- oder: Die Diskussion über die Nachrüstung, in: Gegenwartskunde 3/ 198 1, S. 293 ff.
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
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Vorgehenangesichts der seit Ende der siebziger Jahre wieder einsetzenden Hochrüstung der beiden Militärblöcke. Obwohl zwischen Westeuropäern und Amerikanern Einigkeit darüber bestand, dass eine Verschiebung des militärischen und machtpolitischen Gleichgewichts, das sich aus der massiven sowjetischen Aufrüstung im eurostrategischen und interkontinentalen Bereich sowie der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ergab, nicht hingenommen werden dlllfte, stritten die westlichen Verbündeten dies und jenseits des Atlantiks heftig über die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen. Während die westeuropäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, an der Entspannungspolitik festhalten wollten, zogen die Vereinigten Staate n e inen strikten Konfrontationskurs vor, der auch Sanktionen gegen die Staaten des Warschauer Paktes nicht ausschloss. Auch befürchteten die Europäer erneut, dass die in dieser Phase aufgenommenen bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA eine Durchlöcherung des amerikanischen Schutz schildes für Europa zum Ergebnis hätten.593 Die Amerikaner begriffen vor allem in der Amtszeit von Präs ident R. Reagan die Notwendigkeit, die militärische Stärke des Weste ns wiederherzustellen, als Chance, anstelle des eben erst eingeführten kooperativen Führungsstils ihre frühere hegemoniale Vonnachtstellung in der Allianz wiederherzustellen und ihre transatlantischen Partner zur Gefolgschaft und stärkeren Beteiligung an den sicherheitspolitischen Kosten zu verpftichten.''" Die Europäer reagierten auf die neuerlichen hegemonia len und unilateralen Neigungen der Amerikaner mit einer Intensivierung und Ausweitung der westeuropäischen Kooperation und eigenständigen Initiativen gegenüber dem Ostblock. Ihre Bemühungen, die während de r Entspannungspolitik der siebziger Jahre aufgebaute n Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zum Osten fortzufUhren und die rüstungspol itischen Konftikte mit dem Warschauer Pakt durch Kompromisslösungen auf dem Verhandlungsweg zu lösen, widersprachen zwar der amerikanischen Konfrontations-und Sanktionsstrategie (und stießen daher ein ums andere Mal auf den energischen Widerspruch der USA). Die transatlantischen Gegensätze und Rivalitäten in diesen wie in anderen Fragen bestärkten aber in Europa die Eins icht, dass die europäischen Interessen nur durch ein einiges und starkes Europa wirk593 Vgl. m. w. N. \V, Link, Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis- Folgerungen für die Zukunft, in: M. Kahler/W. Link (Hrsg.), Europa nach der Zeite nwende- die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S. 49 ff., I 32 f. 594
Unter anderem drohten sie ihren europäischen Bündnispartnern für den Fall, dass diese nicht ihr konventionelles Verteidigungspotential deutlich stärkten (was den sofortigen Rückgriff auf die nukleare Option im Verteidigungsfall unnötig machen sollte), eine drastische Reduzierung der amerikanischen Truppen in Europa an. Auch die von den Amerikanern vorgelegten neuen Konzepte für einen auf Europa beschränkten Krieg mit konventionellen und nukJearen \Vaffen widersprachen angesichtsder damit verbundenen riesigen Zerstörungen (vor allem in der Bundesrepublik) den existenziellen Interessen der europäischen Verbündeten, vgl. ausführlich IV. Link (I 995), S. I 35 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
sam vertreten werden können, und forcie1t en somit die integrationspolitischen Bemühungen der westeuropäischen Staaten. In Anlehnung an die von H. Schmidr formulierte Devise "Europa muss s ich selbst behaupten",.', revitalisierten die Europäer auf verteidigungspolitischem Gebiet die WEU, bekundeten mit der Unte rzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte den Willen, bis 1993 e inen e inheitlichen Binnenmarkt zu schaffen (was bei den Amerikanern sogle ich Befürchtungen vor einer s ich abschottenden "Festung Europa" heraufbeschwor), und weiteten die deutsch-französischen Kooperation im militärischen Bereich aus, was auf erhebliches Misstrauen in Washington stieß. Auch ihre Anstrengungen, Westeuropa Wirtschafts- und währungspolitisch von den negativen Auswirkungen der Reagan'schen Wirtschaftspolitik abzukoppeln, bestätigten die bereits in den s iebziger Jahren erkennbare Tatsache, dass die Fortschritte bei der europäischen Integration weniger von den Konsultationen und der Zusammenarbeit mit den USA bewirkt wurden als vielmehr von den Reaktionen der Europäer auf Gegensätze und Konflikte mit der Vormacht des transatlantischen Bündnisses. ' 96 Allerdings: das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa war auch in den achtziger Jahren nicht lediglich von Gegensätzen und Streit bestimmt. So e rfolgte etwa die Stationierung der Mittelstreckenraketen (Pershing II, Marschflugkörper) in Westeuropa zu Beginn des Jahrzehnts mit einhelliger Zustimmung der europäischen Regierungen Gedoch gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung in den europäischen Staaten), da hiermit e ine Abkoppelung der interkontinentalen von der europäischen Abschreckung wirksam unterbunden wurde. Insgesamt war es der atlantischen A llianz mit der Nachrüstung gelungen, ihre militärstrategische Handlungsfahigkeit unter Beweis zu stellen und ihr machtpolitisches Gewicht zu stärken. Überhaupt ist festzustellen, dass die Konfliktbereitschaft gegenüber den Amerikanern unterden europäischen Regierungen sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Insbesondere die deutsche Regierung unter Bundeskanzler H. Kohl und Außenminister H.-D. Genscher hatte an ihrer ununumstößlichen Loyalität zur NATO und zu den Vereinigten Staaten nie e inen Zweifel aufkommen lassen und war deshalb als Vermittler und Balancefaktor bei Streitigkeiten innerhalb der Allianz geradezu prädestiniert. Die 1985 e1folgte Übernahme des Amts des Generalsekretärs der KPdSU durch
M. Gorbatschow und die von ihm e ingeleitete Entspannungspolitik gegenüber dem Westen hatte dann auch e ine spürbare Klimaaufbesserung innerhalb des westlichen Bündnisses zur Folge. In den nun einsetzenden Abrüstungsverhandlungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten griffen die Bündnispartner w ieder verstärkt auf kollektive Beratungs - und Entscheidungsmechanismen zurück. Auf dieser Basis 595 Eine wiederkehrende These des Altkanzlers; zuletzt H. Schmidr, Die Selbstbehauptung Europas, 2002. 590 So auch G. Lwzdestad, The United States and Western Europe since 1945. From ,,Empire" by Integration to Transatlantic Drift, 2003, S. 232.
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gelang es im Rahmen der KSZE-Verhandlungen, den Osten durch Abbau seiner überlegenen konventionellen Streitkräfle zur Aufgabe seiner lnvasionsfahigkeil zu bewegen und die Grundlagen flir eine gesamteuropäische Friedensordnung nach dem Ende des Ost-West-Konftikts zu schaffen. Zudem schuf das einheitliche Auftreten der transatlantischen Allianz im Umfeld der Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem annus mirabilis (H äberle) mit dem Fall der Mauer, insbesondere die (mit Einverständnis der Bundesrepublik) gegenüber der Sowjetunion letztlich erfolgreich erhobenen Forderung nach e iner unbedingten Einbindung e ines wiedervereinigten Deutschlands in das westliche Bündnis (als wirksamer Schutz vor möglichen deutschen Sonderwegen oder einer kontinentalen deutsch-JUssischen Blockbildung) eine der wesentlichen Voraussetzungen flir die internationale Zustimmung zur Wiedervere inigung Deutschlandsam 3. Oktober 1990. 597 e) Die Folgejahre nach 1989/90 sowie ein Ausblick
Auch nach Ende des Ost-West-Konftikts setzte s ich die bereits seit den sechziger Jahren konstatierte ambivalente Haltung der USA gegenüber den europäischen Integrationsbestrebungen weiter fort. Zwar haben die USA die Gleichberechtigung der Europäischen Union auf wirtschaftlichem Gebiet grundsätzlich akzeptiert und die gewachsene europäische Wirtschaftskraft für eigene ökonomische Interessen zu nutzen gewusst, aber allzu häutig münden wirtschaftlicher KonkurrenzdJUck und Rivalitäten in politische Streitigkeiten, die sich etwa in politisch forcierte n Handels kriegen (Hähnche n- und Bananenkrieg, Genmais-Konft ikt etc.) oder Streitigkeiten über die Besetzung von Führungspositionen in Weltwirtschaftsinstitutionen äußern.s~s Im Bereich der internationalen Politik haben die globale n Entwicklungen seit 1990 gezeigt, dass der transatlantischen Gemeinschaft bei der internationalen Konftiktregulierung und Aufrechterhaltung einer stabilen internationalen Ordnung nach wie vor eine gewichtige Rolle zukommt und dass für e ine angemessene Funktionswahrnehmung dieser internationalen Rolle das machtpolitische Gewicht der Europäer noch stärker anwachsen muss. Die Ansicht wird auch von den Amerikanern geteilt, die deshalb bei den Europäern stets geeignete Maßnahmen zur e ffe ktiveren Wahrnehmung ihrer internationalen Aufgaben und Verpftichtungen angemahnt haben. Gerade weil die USA angesichts der neuen weltpolitischen Herausforderungen auf einen starken handlungsfähigen Partner angewiesen s ind, 597
HierLu mit dem interessanten nonvegischen Blickwinkel G. Lundeswd (2003), S. 228ff. 59 ' AusfUhrlicher B. Neuss, Der "gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Walser/ B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 165.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
haben sie sich immer wieder darüber beklagt, dass die Europäer weder über wirksame Entscheidungsmechanismen noch über die richtigen außenpolitischen Instrumente verfUgten, um zügig und konsequent auf internationale Krisen reagieren zu können. Andererseits haben die USA in den internationalen Krisen der j üngsten Vergangenheit den Europäern deutlich zu verstehen gegeben, dass s ie immer dann, wenn es ernsl wird und ihre vitalen Interessen betroffen s ind, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Gerade die Administration von G. IV, Bush hat mehrfach deutlich gemacht, dass die amerikanische Supermacht allenfalls bei Konflikten im regionalen Umfeld der Europäischen Union zur Kooperation bereit ist, ansonsten aber e iner aktiven Rolle der Europäischen Union (etwa jüngst die " Kongo Mission EUFOR") eher reservier!, oftmals offen skeptisch gegenüber steht. Die EU-Staaten haben ihrerseits zunehmend deutlich gemacht, dass sie die traditionelle Rollenverteilung im Bündnis, wonach die USA die großen Leitlinien vorgeben und den Europäern lediglich unterstützende Funktionen, z. B. bei der Finanzierung friedensstabilisierender Maßnahmen, zufallen, nicht mehr länger gewillt sind hinzunehmen. Trotz dertraditionellen Reserviertheil der USA gegenüber eigenständigen verteidigungspolitischen Vorstößen der Europäer, haben sie daher in den neunziger Jahren verstärkt (und gelegentlich allzu brachial - Stichwort "Pra./inen Gipfel" 2003) damit begonnen, ein eigenes geostrategisches Potenzial, weniger durch Belebung und Ausweitung der WEU als durch den Auf- und Ausbau einer Gemeinsamen Europäischen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) und insbesondere einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), aufzu bauen . Auch flir die internationale Entwicklung nach dem Ende der Blockkonfrontation gilt somit, dass die Differe nzen mit den Vereinigten Staaten über die Aus richtung der Politik der westlichen Welt und die Erfahrung, (noch) nicht über e in aus reichendes außen- und s icherheitspolitisches InstJUmentarium zur ange messenen und eigenständigen Bewältigung der wachsenden an Europa herangetragenen internationalem Aufgaben und Heraus forderungen zu verfUgen, die Europäer zu verstärkten Integrationsanstrengungen und damit zur Stärkung ihres eigenständigen Gewichts in der Welt angespornt haben. Temporär aufkeimende Gegengewichtsphantasien haben sich zuletzt relativiert (insbesondere durch die wachsende Schwäche der Regierung Chirac in Frankreich und durch die Abwahl des deutschen Bundeskanzlers Schröder, die beide als Haupttriebfedern einer "neuen" transatlantischen Emanzipationsbewegung zu sehen sind).'"" Die immer häufiger und immer offener zu Tage tretenden Auseinandersetzungen und Brüche in den transatlantischen Beziehungen sind unter anderem auch 599
Vgl zu alledem umfassend die Bundestagsreden des l'erf. vom 5. 12.2002, vom 20. 3. 2003, vom 15. 10. 2003, vom 23. 10 . 2003, vom 4. 3. 2004, vom 25. 3. 2004, vom 27. 5. 2004, vom 17. 6. 2004, vom 26. I I. 2004, 17. 3. 2005 sowie vom 27. 5. 2005 (hierzu die jeweiligen BT-Pienarprotokolle des Sitzungstages).
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
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Kennzeichen daftir, dass die internationale Ordnung auch 15 Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer noch von bedeutenden Umwälzungsprozessen erfasst wird und die Re-Definition von Positionen und Rollen in der internationalen Politik immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Ein nicht unbeträchtlicher Tei l der politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen (auf beiden Seiten des Atlantiks!) befasst sich mit der Frage, welche Ro lle ein s ich vereinigendes Europa zukünftig im internationalen Mächtekonzert spielen wird. Während eine Richtung angesichts der großen Z ukunftsaufgaben des 2 1. Jahrhunderts auch flir ein stärker integriertes und machtpolitisch gewichtigeres Europa ke ine Alternative zur engen Anlehnung an das "ameri kanische Empire" sieht, sprechen andere Positionen bis heute einem vere inigten Europa das Potential zu, e in partnerschaftliches Verhältnis auf gleicher Augenhöhe zu den Vereinigten Staaten aufzubauen oder sich eben als Gegengewicht oder Konkurrent zu der derzeit e inz igen "Supermacht""" zu etablieren. Bislang war Amerika e ine europäische Macht, nicht lediglich eine Macht in Europa. Zukünftig wird dieser Umstand nur in dem Maße Geltung besitzen können , wie Europa für die Vereinigten Staaten so unentbehrlich ist wie umgekehrt. 601 Die Europäer bedlilfe n, solange sie, mit oder ohne Verfassung ke ine real tragfahige Konstruktion (auch im militärischen Bereich) ausbilden, der USA unverändert als Schutz- und Garantiemacht Ebenso als Gleichgewichtsstifter, wenngleich die Europäische Union zunehmend in diese Rolle selbst hineinzuwachsen scheint. 602
3. Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter Eine wesentliche Ursache des Verkennens politischer wie rechtlicher Realitäten der USA liegt eventuell darin, dass sich Europäer wiederkehrend von vorder600
Die Entwicklungen Chinas und Indiens sind in diesem Kontext politisch wie wissenschaftlich aufmerksamer z.u begleiten. 601 Ähnlich auch M. Stürmer, Europas Sicherheitsarchitektur wankt, in: DIE WELT, I I. Dez. 200 I, S . 8. 601 Beispielhaft seien nur die Friedens- und Vennittlungsbemühungen unter ~,euro päischer Flagge•• im Nahen Osten oder etwa in Bosnien-Herzegowina genannt. Gleich\Vohl ist es mittelfristig nicht ausgeschlossen, dass ein Verschieben der europäischen (Gleich?-)Gewichte eintritt. Grund hierfür is.t zum einen die neue weltpolitische Bedeutung Russlands - u. a. wegen amerikanischer strategischer Bedürfnisse bei Raketenabwehr (NMD), Proliferation und in lnner.asien- zum anderen aber die europäische Energielage. Diese wird umso unsicherer, je mehr sich der Nahe Osten in unvereinbaren Interessen und Konflikten verzettelt. Sollten die Vereinigten Staaten in Reaktion auf \veltpolitische Erfordernisse und europäische Selbstmarginalisierung einmal aufbören1 tatsächlich europäische Macht zu sein, ist auch in diesem Kontext die neue Rolle Russlands zu beachten, das sich in einer solchen Situation Deutschland annähern könnte. Letzteres ließe Distanziertmgen von Paris und London befürchten.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
grUndigen ldentitäten und formalen Parallelen der Herrschaftssysteme diesseits und jenseits des Atlantiks täuschen lassen. Sie neigen dazu, Varianten desselben Herrschaftsmodus zu identifizieren, wo tatsächlich Struktur- und Funktionsunterschiede der politischen Institutionenordnungen vorhanden s ind. Ableitbar ist dieses Fehlurteil auch aus einer gewissen Ambivalenz mit der die an1erikanischen Verfassungsväter die Schaffung ihrer Republik ins Werk setzte n. Sie gingen einerseits von weithin bekannten Ideen und Einrichtungen des "abendländisch-europäischen Kulturkreises" aus. So nutzten sie sowohl exakte Ke nntnisse der politischen Philosophie seit den Tagen der Antike oder der politischen Aufklärungsliteratur des s iebzehnte n und achtzehnten Jahrhunderts in Europa sowie ihr Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen des britischen Regierungssystems, die mannigfaltig die politischen Ordnungsverhältnisse in den amerikanischen Kolonien geprägt hatten. Man arbeitete mit politischen Begriffen , die aus dem Fundus der Tradition stammten und die sie teilweise auch über den Atlantik in die " Neue We lt" übernahmen. Gleichwohl nutzten s ie a ll diese Kenntnisse, Vorgaben und Begrifflichkeilen nicht lediglich zur Imitation europäischer Modelle, sondern kreativ zur Schaffung neuer, durchaus revolutionärer Institutionen. An dieser Stelle sei nur- und undifferenziert hinsichtlich sprachlicher wie inhaltlicher Unterschiede- auf den Föderalismus als amerikanische Erfindung im Bereich des Staatsrechts erinnert. Und selbst wo die Verfassungsväter Ideen und Einrichtungen aus Europa übernahmen (etwa den Gedanken der Repräsentation), gewannen diese in e iner völlig neuartigen Umgebung spezifisch amerikanische Charakteristika, die mit europäischen Modellen kaum noch zu vergleichen waren. A. de Tocqueville hat in seinem klassischen We rk "Über die De mokratie in Amerika" ( 1835) an zahlreichen Beispielen den Nachweis geflihrt, wie die e igentümliche "Ausgangs lage" der "Neuen Welt", wie ihre Glaubensbekenntnisse das Überkommene selbst dort veränderten, wo man es zu bewahren suchte, wie etwa allein schon das "Dogma der Volles souverän ität" und das Gleichheitsprinzip überkommene Herrschaftseinrichtungen grundlegend veränderten. Der US-Historiker F. J. 7itrner meinte ähnliches, als er um die Wende zum 20. Jahrhundert die offene Grenze, das Erlebnis der Weite des Westens und die Erfahrung der Ungewißheit flir die gesamte politisch-soziale Entwicklung der USA (mit)verantwortlich machte: "Vom Beginn der Besiedlung Amerikas an hat die Region der Grenze ständig ihren Einfluß auf die amerikanische Demokratie ausgeübt ( .. . ] D ie amerikanische Demo-
kratie is-t im Grunde das Ergebnis der Erfahrungen des amerikanischen Volkes in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Die westliche Demokratie fördert während der
ganzen früheren Zeit die Entstehung einer Gesellschaft, deren wichtigster Zug die Freiheit des Individuums zum Aufstieg im Rahmen sozialer Mobilität und deren Ziel die Freiheit und das \Vohlergehen der Massen war. Diese Vorstellungen haben die gesamte amerikanische Demokratie mit Lebenskraft erfüllt und sie in scharfen Gegensatz zu den Demokratien derGeschichte gebracht und zu den modernen Bemühungen in Europa, ein künstliches demokratisches Ordnungssystem mit Hilfe von Gesetzen zu errichten."6!1!
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
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Viele Europäer haben die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Herrschaftssystems missverstanden, da sie ihm, von vordergründigen Parallelen der Regierungsweisen diesseits und jenseits des Atlantiks getäuscht, mit Vorstellungen und Begriffen begegneten, die ihre n eigenen Verfassungsordnungen entstammten. Die Strukturprinzipien der parlamentarischen Regierungssysteme europäischdeutscher Prägung unterscheiden sich allerdings erheblich von jenen der amerikanischen Präsidialdemokratie. Unabhängig davon, dass in diesen politischen Systemen Parlamente an den staatlichen Wi llensbi ldungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben, trennt sie doch vieles"": im Rahmen der polity, der Institutionen, Strukturen und konstitutiven Normen ebenso wie im Bereich der po/irics, wie im anglo-amerikanischen Rechtsund Kulturkreis die pol itischen Prozesse umschrieben werden. Diese Unterschiede schlagen s ich notwendigerweise auch in der Sphäre der policy, bei der Planung und Durchflihrung konkreter politischer Gestaltungsaufgaben, nieder. Allerdings: Lous iana übernahm kurz nach seiner Aufnahme in die Union Gesetzbücher nach französischem Vorbi ld, u. a. den Code Civil aus dem Jahre 1808. Erfolglos blieb dagegen ein Versuch deutschstämmiger Siedler 1794/95 in Pennsylvania und Virginia, die Gesetze der Union auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen. 605 4. lnkurs: Teilaspekte einer Europäischen Red1tskultur, Europanrständnis Europas Werteordnung ist im Besonderen von drei Grundgedanken bestimmt:
Personalitär, Solidaritär und S11bsidiariUII. Diese drei Faktoren verstehen sich aus603
Zitiert nach der website der US-Amerikanischen Botschaft in Deutschland, vgl. us.a .usembassy.de/etexts/govlbpblbody_i_ l99_ l.html. Vgl. auch F. J. 7imter, The Significance of the Frontier in American History, 1893 sowie ders. The Frontier in American History, 1920. 604 Bei der Definition des parlamentarischen Regierungssystems kommt es nicht in erster Linie darauf an, dass in dieser Herrschaftsordnung ein Parlament existiert, das verfassungsmäßig festgelegte Befugnisse bei der politischen Willensbildung hat. Andernfalls würde Verschiedenes zu einer künstlichen Einheit zusammengefügt- die Präsidialdemokratie der USA ebenso wie das Direktorialsystem der Schweiz oder die parlamentarischen Regierungsformen \Vesteuropäischer Staaten. 605 Vgl. hierzu D. 8/umenw;rz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 6. AuH. München 1998, S. 20 Fn. 32, mit Ver,veis auf American Stare Papers, Miscellaneous, Washington D.C. 1834, I, S. 114, 222. Nachdem sich zwei Kongressausschüsse für den Antrag ausgesprochen hatten, wurde er im Plenum mit 42 zu 41 Stimmen abgelehnt. Laut Blume11witz ( 1998), soll "die entscheidende Stimme der Speaker of the House, der deutschstämmige F.A. C. Miihle11berg, abgegeben haben ( . .. ). Dies war der Anlaß für die in Deutschland immer wieder hochgespielte Legende. Deutsch sei nur wegen des Votums eines Deutschen nicht die Amtssprache der Vereinigten Staaten geworden."
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
drücklieh a ls Säulen der Werteordnung, sie z iehen sich aber gleichzeitig (neben anderen Axiomen) durch alle Bestimmungsversuche einer e uropäischen Rechtskultur. Vereinfacht ist unter PersonalitäT zu verstehen, dass der Mensch als ein mit Würde ausgestaltes Einzelwesen zu sehen ist, das zunächst flir s ich verantwortlich ist. Der Gedanke der SolidaritäT knüpft an das Verständnis des Menschen als Sozialwesen an, das in der Gemeinschaft lebt und Verantwortung trägt flir diejenigen, die sich aus e igener Kraft nicht helfen können. Schließlich bedeutet Subsidiarirät in diesem Kontext, dass die jeweils kleinere Einheit selbstverantwortlich alle die Herausforderungen erledigt, die sie selbst schultern kann und erst dann die nächst größere zu Hilfe kommt. Um dieses Werte- und Gedankengerüst dem Reich der Ideen zu entre ißen, bedmf es jedoch der Verflechtung mit dem Recht. Auch im 21. Jahrhundert bleiben die Garanten des Rechts primär die Staaten. Sie allein können, bevor nicht e in stabiles, insbesondere vom einzelnen Bürger anerkanntes supranationales "Gebilde" etabliert ist, die latent drohende Gefahr einer Unterhöhlung des legitimen und friedensstiftenden Gewaltmonopols abwenden. Sie können dies umso besser, je mehr sie von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen werden. Ein Umstand im übrigen, der nicht anstrebenswertes Ziel ei ne r überstaatlichen Vereinigung sondern bereits Grundlage hierfür sein muss und nirgends besser wachsen kann als aus den Staaten selbst heraus- von einem Gemeinschafts bewusstsein ihrer Bürger getragen. Die Vereinigten Staaten liefe1ten nach dem I I. SeptemberZOO I ein beeindruckendes Beispiel für den Willen, mit großem Selbstbewusstsein die notwendigen Aufgaben nach dem gewaltigen Schock gemei11sam zu erledigen. Auch im vereinten Europa haben die Nationalstaaten ihre Berechtigung nicht verloren. Sie sind im Gege nteil gerade unentbehrlicher Bestandteil einer zu vermittelnden europäischen Kultur. Im positiv gemäßigten, wohlverstandenen Patriotis mus der europäischen Nationen bündeln sich die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Kontinents. Die nationale Prägung ist für die Menschen dabei sowohl stabiles Bindeglied zu s ich selbst wie zu den Nachbarländern (im wechselseitigen Verständnis) als auch Tei l ihrer unverwechselbaren Identität. Kulturelle Verwurzelung und nationale Identität stehen dabei zur Weltoffenheit oder zu einem gemeineuropäischen Verständnis nicht im Widerspruch. Im Gegentei l: Europa erfährt seine Prägung durch seine Nationen mit den ihnen eigenen Besonderheiten, aber Europa war auch immer gekennzeichnet vom gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Dieser ständige Prozess des Austa usches- ohne Verlust der e igenen Identität- war nur möglich, wei l e r in ein gesamteuropäisches Wertesystem eingebunden war. Die europäischen Völker und Staaten sind sich auch nicht annähernd so fremd, wie es die Vielfalt der Sprachen und die Unterschiede der Kulturen, des Alltags und der sozialen Standards vermuten Jassen. Sie haben eine seit dem frühen Mittelalter auf engem Raum und in ständiger Auseinandersetzung entwickelte (letztlich gemeinsame) Geschichte, und zwar nicht lediglich eine Kriegsgeschichte, sondern auch e ine des ständigen Austauschs durch Handel, Migrationen, Miss ionie rung
lll. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung
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und Kulturtransfer. Zum Kulturtrans fer gehört auch die seit dem 12. Jahrhundert s ich ausbreitende Schulung professioneller Juristen am wiederentdeckten römischen Recht sowie an dem flir alle Lebensverhältnisse maßgeblichen Recht der römischen Kirche. Die Einübung der Rechtssprache, der Grundfiguren rechtlicher Ordnung und gewaltfreien Güteraustauschs, der differenzierten Verfahren und der typischen Verfahrensfehler bedeuteten e ine außerordentliche, im Alltag kaum noch bewusste Zivilisationsleistung. Das Gleiche gilt für die Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts, das s ich aus Theo logie und Naturrecht, Gewohnheitsrecht und Doktrin langsam ve1festigte und schrittweise positiviert wurde. Mit anderen Worten: Eine künftige Ve1fassung Europas kann auf einem durch lange Erfahrungen gesicherten Fundament aufbauen. 606 5. Ein historisch gewachsenes ,,traitsatlantisches Verfassungsfundament" Insgesamt ist ein transatlantisches "Ve1fassungsfundament" zu konstatieren. Dieses besteht zunächst aus internalisierten Sätzen einer vie lfach gemeinsamen, in den Anfangen noch europäischen Rechtskultur. 607 Es gibt nicht nur positives Verfassungsrecht, sondern auch unübersehbare historische Prinzipien. Diese besagen zum einen, dass die regierende Macht bei ihren Handlungen fundamentalen Be schränkungen unterliegt. Sie hat sich ihnen anfangs durch Eide und Verträge, dann durch Fundamentalgesetze, Bills of Rights, Constitutions-Akte und schließlich durch jeweils moderne Verfassungen unterworfen. Zum andere n s ind Verfassungsgerichte geschaffen worden, die diese Beschränkungen kontrollieren. Mit anderen Worten : Die Idee der Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte und die effektive Kontrolle durch gerichtsförmige Verfassungsorgane oder funktionale Äquivalente gehören heute zum Standard. Zudem erke nnen die Staaten Grundprinzipien des Rechtsstaats an, also die Bindung an demokratisch zu Stande gekommene Normen, faires Verfahren und ausgebauten Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Verhältnismäßigkeit von Anlass und Eingriff.""' Im 19. und 20. Jahrhundert ist die "egal itäre De mokratie" hinzugekommen. Es entstanden Sicherungen der politischen Partizipation aller mündigen Bürgerinnen und Bürge r, Verfahren der politischen und staatlichen Wi llensbi ldung, 60& Ebenso M. Sto/Jeis, Europa nach Niz.z a. Die historische Dimension, in: NJW 2002, S. 1022 ff., 1023.
607 Es gibt bislang nur zaghafte Versuche1 Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der europäischen und der amerikanischen "Rechtskultur'' zu erarbeiten, vgl. allerdings R. Zimmermann (Hrsg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995; ders., Roman Law, Contemporary Law, European Law, 199 1 mit Blick auf die römischrechtliche Tradition. 603 So im Hinblick auf die europ..1ische Verfassungsgeschichte auch A1. Sw/Jeis, Europ..1
nach Nizza. Die hiSlorisehe Dimension, in: NJW 2002, S. 1022 ff., 1023.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
e inschließlich der Anerkennung von Parteien. So differierend die Reaktionen auf das mittelalterliche Postulat ,.quod omnes tangit ab omnibus approbetur" auch ausfallen mögen, es gibt auch hierfür "Leitsätze", die in der transatlantischen Verfassungsgeschichte der letzten zweihundert Jahre eingeübt worden s ind: Jeder gesunde Erwachsene soll ohne Ansehung von Rang und Stand eine periodisch wiederkehrende Chance der politischen Mitbestimmung haben, und zwar durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Abstimmung nach Mehrheitsprinzip, sei es über die Sachtrage selbst, sei es über die Wahl von Repräsentanten.609 Die institutionellen Arrangements, die den so ermitte lten Volkswillen in e inen annähernd handlungsfahigen Regierungswillen überführen, s ind überaus vielfältig, folgen jedoch weitgehend einem Grundmuster: Parteien als "Agenturen" zur BündeJung des Volkswi llens, die Regierung als Exekutivorgan des Mehrheitswillens, die Opposition als politischer Gegner, das Parlament als Beschlussorgan und politische ,.Schaubühne". Unterschiedlich ist auf beiden Seiten des Atlanti ks fre ilich das Verständnis von der Notwendigkeit einer Trennung von Staatsoberhaupt und Regierungschef. Wie e ingespielt diese allgemeine Funktionsteilung mittlerweile auch auf europäischer Ebene ist, offenbaren bei aller Dringl ichkeit einer neuen Gewichtsverteilung die dort gebildeten Organe (Parlament, Kommission, Ministerrat, Gerichte). Zu denkrafthistorischer Langzeiterfahrung internalisierten Sätzen atlantischer Rechtskultur gehört nicht nur die vertikale Funktionsteilung, sondern auch die horizontale Ausgliede rung von Aufgaben zur selbstverantwortlichen Erledigung. Dies hat seinen Ausgangs- (ode r End-)punkt bei den Kommunen, gewinnt aber seine größte Bedeutung auf der mittleren Ebene semiautonomer ,;reilstaaten", die zwar wesentliche Aufgaben dem Zentralstaat überlassen, aber doch im Bereich ihrer Kompetenzen als ,.Staaten" auftreten, mögen sie im europäischen ,.Gewand" Provinzen (Belgien, Niederlande), Regionen (Italien) oder Länder heißen . Gewiss s ind die englischen Grafschaften, die französischen Departements und ,.Regionen", die s panischen Comunidades Aut6nomas, die schwedischen Provinzen (län), die ungarischen Komitate und die polnischen Wojewodschaften keine ,.Länder" im Sinne der deutschen oder ,.Staaten" (states) gemäß der amerikanischen Tradition. Was aber alle verbindet, ist der letztlich banale Grundgedanke, dass in größeren Staaten nicht alle Fragen am grünen Tisch in der Hauptstadt e ntschieden werden können. Für regionale, kulturelle, sprachliche oder ethnische Besonderheiten muss es Legitimationsstrukturen vor Ort geben, die s ich in überschaubaren Einheiten aufbauen lassen. Das hat den geschichtlich unzählige Male bestä tigten Vorteil, dass diejenigen Politiken, die traditional geformte Räume, spezi fische Mentali609
Das schließt Minderheitenschutz durc h intelligente Verfahren e in, etwa durch
Garantien von Mandaten, Vetorechten, \Vechsel im Vorsitz, Ausklammerung streitiger Themen und ,,Herunterzonen'', Fonnelkompromisse und "praktische Konkordanzen",
vgl. M. Swlleis (2002), S. I 023.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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täten, Bedürfnisse von ganzen "Landschaften", konfessionelle oder sprachliche Besonderheiten den Betroffenen zur eigenverantwortlichen Regelung überlassen, letztlich die effektiveren sind. So haben sich in den letzten Jahrzehnten auch alte europäische Zentralstaaten zu einer gewissen Diversitizierung ihrer Verwaltung bereitgefunden.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates (USA) bzw. der Verfassungsgemeinschaft (EU) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien Das Unterfangen einer (verkürzten) historischen Betrachtung der amerikani schen und europäischen Verfassungsentwicklung e rlaubt (und erfordert) die Hervorhebungdrei er Standpunkte, die mit unterschiedlichem Blickwinkel, abereinem Zielpunkt, der sich unter den Begriff "amerikanische bzw. europäische Verfas sungs kultur" fassen lässt, die Vetfassungsgeschichte zu prägen wußten. Zum e inen sind im Kontext der ameri kanischen Verfassunggebung die Amendmems als Zeugnis eines sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen , gleichwohl fortentw ickelnden kulture llen Umfelds zu nennen. Vollzogener Wandel und Fortentwicklung sind in diesem Kontext nicht g leichzusetzen; vielmehr ist die stete Wandlungsfähigkeit erst Voraussetzung einer blühenden Kultur. Mit Blick auf die Europäische Union sind die Instrumente zur Änderung der Verträge sowie des Verfassungsvertrages näher zu betrachten. Als zweite Säule der Verfassunggebung und Standpunkt im obigen Sinne lässt s ich als eigentlicher Impulsgeber und Kontrolleur amerikanischer Verfassungswerdung der US-Supreme Court als "ständiger Verfassungskonvent"6 10 und bedeutsamster Verfassungsinterpret ausmachen, auf europäischer Ebene ist die diesbezügliche Rolle des EuGH in einzelnen Punkte n zu prüfe n. Beide Gerichte nehmen gleichzeitig e ine bedeutende Rolle für Entfaltung und Fortgang der jeweils verankerte n Verfassungsprinz ipien e in, die drittens als Grundgedanken und Strukturelemente e ines Verfassungsstaates (USA) und e iner Verfassungsgemeinschaft611 (Europäische Union) in e iner Auswahl ei nem Vergleich unterzogen werden. Zwischen Amendments, Gerichtshöfen und Verfassungsprinzipien findet sich schließlich e ine höhere Schnittmenge, a ls dies die Verfassungstexte zunächst erahnen lassen. 010 Diese Bezeichnung wird Präsident \Y. Wi/son zugeschrieben: "The Supreme Court is a constitutional convention in continuous session' 1 (zitiert nach E.S. Convin I J. Pe/wson, Understanding the Constitution, I I. Auft. 1988, S. 125; wiederkehrend a uch in D. Kyvig, E,,plicit and Authentie Acts: Amending the U. S. Constitution, 1776-1995. 1996; in der deutschsprachigen Literatur bereits: W Haller, Supreme Court und Politik in den USA. Fragen der Jus-tiziabilittit in der höchstrichterlichen Rechts prechung, 1972, S. 12. 611 Vgl. nur P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4 . Auft. 2006, S . 645.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
I. Gebundene Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung
a) USA: Die Amendmems als Abbilder einer Verfassungsergänzung -Spiegelung amerikan.ischer Kulturgeschichte Die Gründungsväter schufen bewusst eine Verfassung, die schwer zu verändern, revidieren oder ergänzen sein sollte. Im festen Glauben an eine eherne Verfassungsstruktur, die ihrerseits den verankerten und s ich entwickelnden Prinzipien den gebührenden Respekt sichern würde, gingen sie von einem lediglich begrenzten Spielraum flir Änderungen aus. J. Madison unterstrich dieses Bewußtsein in The Federalist No. 49, indem er die Verfassung nur anlässl ich "certain great and extraordinary ocassions" irgendwelcher Modifikationen unterwetten wollte. Tatsächlich vereinten seit der Verfassungsratifikation in mehr als zweihundert Jahren lediglich 27 vorgeschlagene Amendments die erforderlichen Mehrheiten im Kongress und den Staaten auf s ich, wobei den ersten zehn Amendments, der Bill of Rights, insoweit ein Sonderstatus einzuräumen ist, als sie als untrennbarer Bestandteil der Gründungsverfassung gesehen werden müssen und deren Aufnahme von Anfang an vorgesehen war. 612 Die Amendments sind das Abbild unmittelbarer Verfassunggebung in Amerika, ihrer mehr als 200-jährigen Verfassungsgeschichte613 und lassen s ich am ehesten als "Verfassungsergänzung" begreifen. Der Terminus "Verfassungsergänzung" ist angesichts des Umstandes, dass die Urfassung der amerikanischen Bundesverfassung bislang keine Wortlaut-Ändemngen, sondern vielmehr textliche Erweitetu ngen erfuhr, sachgerechter als der inflationär gebrauchte Begriff der "Verfassungsänderung". Freilich wurden mit Hilfe der Amendments Anwendungsbereiche einzelner Artikel geändert, die Gültigkeit einzelner Bestimmungen gegebenenfalls aufgehoben. Trotzdem wirkt in einer Gesamtschau jede Änderung letztlich solange ergänzend bis es tatsächlich zu einer Totalrevision kommt. Die amerikanische Vetfassung bleibt angesichts des Festhaltens an ihren Bestimmungen damit Spiege lung ihrer Kulturgeschichte- im Gegensatz zu vielen anderen Vetfassungen, die das Ringen um e ine Fortentwicklung angesichts des revidierten Textes selten e rkennen lassen. T. Hobbes sah bereits den Akt der Ver-
012
Vgl. auch . K. LoeKroenswin. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten, 1959, S. 35. Oll Zur Geschichte der Amendments in großer Ausführlichkeit R. K. Newmtm (ed.), The Constitution and its Amendments, 4 Vol., 1999. Den Bezug zum politikwissenschaftlichen
Ansatz arbeitet J. R Vile, The Constitutional Amending Process in American Political Thought, 1992, heraus. Siehe auch die Quellensammlung von ders.(ed. ), The Theory and Practice of Constitutional Change in America : a Collection of Original Source Materials, 1993.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
223
fassunggebung in Kulturstaaten eher als einen Akt der Verfassungweitergebung. 6 " Diese These wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika auch in formeller Hinsicht erflillt. aa) Artikel V der Bundesverfassunge in Faktor der Stabilität und Flexibilität Darüberhinaus wurde mit dem Instrument der Amendments e in Gerüst geschaffen, das den so gegensätzlich e rscheinenden, tatsächlich jedoch einander streng bedingenden Säulen jeder Rechtsordnung- rechtliche Stabi lität und notwendige Anpassungsfahigkeit zum gesellschaftlich bedeutsamen Wechsel - die Balance und Beständigkeit gab, die in der vorhergegangenen Geschichte oftmals erstrebt und letztlich nie im etfo rderlichen Maße e rreicht wurde. Was also bere its im alten Testament im Buch Esther und beim Propheten Daniel angesichtsder kaum intendierten Auswi rkungen unabänderlicher Gesetze von Medern und Petsem angedeutet worden war615, was schon Plmarch bezüglich des schnellen Wandels der ursprünglich für hundert Jahre niedergelegten Gesetze Solons festgehalten hatte6 16 und was schließlich Zeitgenossen der amerikanischen Verfassungsväter in philosophischen und politischen Schriften forderten617 - die Liaison von Tradition 614 Vgl. T. Hobbes, Leviathan, 1651 , chap. 26. P. Kirchhof greift d iesen Gedanken ebenfalls auf in ders. , Die Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 31 ff., 49. 615 Siehe das BuchEsther Ka p. I, 19; 2 ff. sowie Daniel, Ka p. 6, 9. &l& Vgl. in englischer Übersetzung Plutarch, The Rise and Fall of Athens: Nine Greek Lives, 1960,S.67ff. 017 Einen profunden Überblick überdie amerikanischen Ansätze im 18. Jahrhundert gibt J. R. Vi/e , ldeas of Legal Change: Precursors of the Constitutional Amending Process, in: 9 Midsouth Pol. Sei. Journal ( 1988), S . 64 ff. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die frühen Gedanken des Quäkers IV. Penn, dessen Entwurf der Charter of Delaware (1701) unterdem Eindruck der Forderungen nach Religions- und Gewissensfreieil sowie angesichts der banalen Erfahrung von der Sterblichkeit der Menschen bereits einen "amendingprocess" vorsah. Penn formulierte, dass ,,no Act, Law or Ordinance whatever"' shall "aJter, change or diminish the Form or Effect of this Charter ( .. . ] without the Consent of the Gove rnor [ .. . ] and Six Parts o f Seven of the Assembly [ .. . ]." Darüberhinaus fand sich in der Charter eine Garantie, dass "the First Article of this Charter relating to liberty of Conscience, and every Part and Clause therein [ .. . ] shall be kept and re main, without any Alteration, inviolably for ever", zitiert nach F. Thorpe, The Federal and State Constitutions, Colonial Charters and Other Organic Laws o f the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States of America, 1909, S. 560. ln einigen der einzelstaatlichen Verfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung geschaffen wurden, wardie Möglichkeit zukünftiger Modifizierungen auf Anderungen der staatsorganisatorischen Struktur beschränkt, wohingegen die meist separat verabschiedeten "Bill of Rights" meist für unabänderlich erklärt wurden, vgl. R. Taylor, A New Look at Article V and the Bill of Rights, in: 6 lnd. L. Rev. ( 1973), S. 699 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und Moderne, die Verbindung eines erhaltenden mit einem wandlungsfahigen Element- fand mit der Möglichkeit der Verfassungsergänzung mitte ls Amendmems in Art. V der Verfassung von 1787 erstmalig Einzug in eine Rechtsordnung: "The Congress, whenever t\VO thirds of both Houses shall deem it necessa.ry, shall propose Amendments to this Constitution, or, on the Application of the Legislatures o f two thirdsofthe severalStates, shall call a Convention for proposing Amendments, which, in eilher Ca.se, shall be valid to all lntents and Purposes, as Part of this Constitution, when ratified by the Legislatures of three fourths of the several States, or by Conventions in three fourths thereof, as the one o r the other Mode o f Ratification may be proposed by the Congress; Provided that no Amendment which may be made prior to the Year One thous...1.nd e ight hundred and eight shall in any Manner affect the first and fourth Clauses in the Ninth Section of the first Article; and that no State, without its Consent,
shall be deprived of its equal Suffrage in the Senate." Über dem Verfassungs konvent von Philadelphia schwebte- wie erwähnt- stetig der Geist des Kompromisses. Hins ichtlich der Amendmentregelung wurde der Wille zur "aurea mediocritas" schließlich exemplarisch umgesetzt, indem man e inen Mittelweg fand zwischen einer " fließenden", le icht zu ändernden Verfas sung, die beispielsweise keinerlei Schutz vor unerwünschtem politischen Wandel geboten hätte, und e iner allzu rigiden Ordnung ohne jegliche Möglichkeit zur gelegentlich notwendigen Neuorientierung. Art. V libernahm hierbei eine bedeutsame Rolle. So konnten noch die Articles of Confedermion nicht ohne die Zustimmung der Legislaturen6 18 aller Einzelstaaten geändert werden -ein System, das sich nach überwiegender Meinung als unprakti kables Mittel zu Stillstand und potentieller Separation instrumentalisieren ließ619 • Die Unzufriedenheit mit den Regelungen der Arricles und die daraus zu z iehenden Konsequenzen brachte Madison im Federalist No. 40 zum Ausdruck, als er das Vorhaben der Vetiass ungsväter auch insoweit rechtfertigte, " ( . .. ] that, in all great changes of established govemments, forms ought to g ive way to substance, that a rigid adherence in such ca.ses to the fonner would rende r nominal and nugatory the transcendent and precious right of the people to ,abolish or alter their 013
Der Begriff .,legislatures" in Artikel V bezeichnet "deliberative, representative bodies of the type which in 1789 exercised the legislative power in the several States. lt does not comprehend the popular referendum which has subsequently become apart of the legislative process in many of the States, nor may a State validly condition ratification o f a proposed constitutional amendment on its approval by such a referendum'', vgl. Das Urteil des US-Supreme Court in Hawke v. Smirh, 253 U.S. 221, 231 (1920)sowie Leser v. Gameu,
258 U. S. 130, 137 ( 1922): "[t]he function of a state legislature in ratifying a proposed amendment to the Federal Constitution, like the function of Congress in proposing the amendment, is a federal function derived from the Federal Constitution; and it transcends any limitations sought tobe imposed by the people of a State." 619 Siehe Art. XIII der Articles of Confederarion. Dazu IV. So/berg, The Federal Convention and the Formation o f the Union of the American States, 1958, S. 5 1.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
225
governments as to them shall seem most likely to effect their safety and happines.s,' since it is impossible for the people s pontaneously and universa.lly to move in concert toward their object; and it is therefore essentia l that such changes be instituted by some informed and unauthorized propositions, made by some patriotic and respectable citizen or number of citizens."
Nachdem s ich das Prinzip der Einstimmigkeit also als untaugliches Mittel für den unumgänglichen Wandel e rwiesen hatte, brachten die Verfassungsväter eine neuartige Alternative auf den Weg. 620 Verglichen mit den Articles of Confederation steht Art. V für ein höheres Maß an Flexibilität, da er zwar hohe Hürden im Amendmentprozess vorschreibt621 , gleichwohl jedoch (unterschiedliche) Mehrheiten im Verfahren genügen lässt. Nachdem die rechtlichen Zwänge gegenüber denen der Articles vergleichsweise gelockert waren, glaubten nun einige Konventsmitglieder, die gegebenen "legal constraints" seien durch eine selbst auferlegte Zurückhaltung ("self-restraint") zu ergänzen. Andere forderten in regelmäßigen Abständen Überprüfungen der Verfassung ("periodically scheduled reviews"). Freilich erfolglos auf Bundesebene - wobei jedoch nicht verschwiegen werden soll, dass diese Idee immerhin in einige einzelstaatliche Verfassungen inkorporiert wurde.62l
620
Obgleich alle Aufzeichnungen des Verfassungskonvents wiederholt Gegenstand intensiver Untersuchungen im Hinblick auf Hintergründe des Amendment-Prozesses waren, hatte es innerhalb des Konvents kaum Diskussionen über d ie Notwendigkeit der neuen Verfahrensform gegeben, vgl. S. Gaugush, Principles Governing the Interpretation of Exercises of Article V Powers, in: 35 The Western Pol. Q. ( 1982), S. 2 13 ff. Der Delegierte Co/. Maso11 aus Virginia meinte e twa, dass Amendments vonnöten seien und es wäre "better to provide for them, in an easy, regular and Constitutional way than to trust chance and violence", zitiert nach M. Farrand, The Records ofthe Federal Convention, Bd. l , rev.ed. 1937 sowie 1966 (hier zitiert), S. 202. 021 Bei den Anti -Federalists war die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig (siehe die Kritik von P. Henry vor dem Ratifizierungskonvent in Virginia, z itiert bei J. Ellio11, The Debates in State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution, Bd. 3, 1888, S. 48 sowie die Einschätzung von \V. Liviugston, Federalism and Constitutional Change, 1956, S. 242 ff.) eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige Aufnahme und Garantie einer Bill of Rlghts e ines zweiten Verfassungskonvents vor dereigentlichen Verfassungs ratifizierung bedürfte, vgl. E. P. Smilh, The Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788, in: J. F. Jameson, Essays in the Constitutional History of the United States in the Formative Period, 1775- 1789, 1889, S. 46 ff. Madison fre ilich vertröstete d ie Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die "amending articles" verteidigte e r im übrigen als ein "neither wholly national nor wholly federa l"' (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion "equally against that extreme facility, which would render the Constitution too mutable, and that extreme di fficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federnlist No. 43) zu wachen. Vgl. dazu auch J. R. Vile, American Views of the Constitutional Amending Process: An lntellectual History of Article V, in: 25 AJ LH ( 199 1), S. 44 ff., 49f.; P. Weber, Madison's Opposition to a Secend Convention, in: 20 POLITY ( 1988), S. 498 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
bb) "Self-Restraint" in der Verfassunggebung Insgesamt gedieh, besser gllickte die Selbstverpflichtung zum "self-restraint" in den ersten zwei Jahrhunderten nach dem Gründungsakt. Obwohl in diesem Zeitraum mehr als 11.000 Amendment-Vorschläge fiir die Verfassung in den Kongress eingebracht wurden, vereinten lediglich 33 die erforderlichen Kongressmehrhe iten auf sich, wovon letztlich nur die benannten 27 auch von den Staaten ratifiziert wurden. Die nach allgemeiner Ansicht bedeutsamsten Amendments, etwa die Hälfte, entstammen zwei bahnbrechenden Perioden amerikanischer Geschichte- dem Zeitraum der Verfassungschöpfung"'-', die 1791 ihre Vollendung mit der Bill of Rights gefunden hatte, sowie der umwälzenden Phase des Bürgerkrieges, die Ausschlag für die sogenannten "Reconstruction Amendments" 624 geben sollte. Daneben bleiben lediglich dreizehn "sonstige" Amendments der Verfassung, die größtenteils dazu dienten, entweder das Wahlrecht auszuweiten 625 oder die Amtszeit des Präsidenten zu regulieren. Vier Amendments blieb es vorbehalten, höchstrichterliche Entscheidungen de facto aufzuheben. So verbietet das II. Amendment ( 1798) entgegen der Entscheidung Chisholm v. Georgia62• Klagen von Bürgern eines Einzelstaates gegen einen anderen Einzelstaat. Mit dem 16. Amendment ( 1913) wurde im Widerspruch zu Pollock v. Farmers Loan & Trust Co.•,, die Einkommenssteuer ermöglicht. Das 14. Amendment ( 1868) aus der Reconstruction-Ära ermöglicht allen in den USA geborenen oder eingebürgerten Personen die amerikanische Staatsbürgerschaft und setzte s ich damit über Dred Sco/1 v. Sandford62' ebenso klar hinweg wie das 26. Amendment aus dem Jahre 1971 eine Beschränkung des Wahl rechts von Personen über achtzehn und bll Vgl. J. R. Vile ( 199 1), S. 50. In Pennsylvania gab es für die ,,reviews"die Institution eines "Council of Censors''; dazu S. P. Meador, The Council of Censors, in 22 Pennsylv.Mag. of Hist.and Bio. (1898), S. 265 ff. Zum Amendment-Prozess in den Einze lstaaten bereits J. lf. Gamer, Amendment of State Constitutions, 1907; sowie A. L Sturm, Methods of State Cons-litutional Reform, 1954; M.L Kendrigan , Constitutional Revision in Other States, 1965. 623 Hierzu z..1hlt kurioserweise auch das letzte, 27. Amendmenl, das ursprünglich bereits Bestandteil des dem ersten Kongress 179 1 zugegangenen Amendment-,,Pakets" war, jedoch erst im Jahre 1992 ratifiziert wurde. bl4 Dies sind das 13. (1865), 14. ( 1868) und 15. Amendment (1870). Siehe a uchA.AvitJs, The Reconstruction Amendments' Debates. The Legislative History and Contemporary Debates in Congress on the 13th, 14th, and 15th Amendments, 1967. Zu den Schwierigkeiten im Zusammenhang mitdem 14. AmendmentJ.E. Bond, No Easy Walk to Freedom. Reconstruction and the Ratification of the Fourteenth Amendment, 1997. • 25 Das amerikanische Wahlrecht haben das 17. ( 1913), 19. ( 1920), 23. (196 1), 24. ( 1964) und 26. Amendment ( 197 1) sowie die "Reconstruction Ame ndments" 14 (1868) und 15 ( 1870) zum Gegenstand. blb Chisholm v. Georgia, 2 U.S. (2 Dall.) 419 (1793). • 27 Pollock v. Farmers Ltxm & Trust Co. , 157 U. S. 429 ( 1895). .,. Dred Scott v. Sandford 60 U.S. ( 19 How.) 393 ( 1857).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
2'1:7
damit das Urteil Oregon v. Mitche/1629 obsolet machte. Die einzigen Amendments, die nicht diesen Kategorien unterfallen - die sogenannten Prohibition Amendmems630- bilden zudem das bislang einmalige Beispiel einer Aufhebung eines Amendents durch e in weiteres Amendment. ln der amerikanischen Vetfassung gibt es lediglich eine Vorschrift, die nicht geändett werden darf6' 1, nämlich laut Art. V letzter Halbsatz die Bestimmung, die jedem Staat das gleiche Stimmrecht im Senat gewährt. Tatsächlich wurde mit Erlaubnis des beeinrächtigten Staates diese Regelung mit dem 17. Amendment ( 1913) schließlich auch dahingehend geändert, dass nicht mehr wie ursprünglich in Artikel I § 3 par. I der Verfassung vorgesehen die Staats parlamente ihre Senatoren emennen sollten, sondem das Volk diese in Direktwahl zu bestimmen hätte. Die grundsätzliche Änderungsbefugnis unterstrich der Supreme Court ausdrücklich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts_." Vor allem aber die erforderliche Beteiligung der Einzelstaaten stellte sich in der Vergangenheit als schwer zu überwindendes Hindernis gegen häufige und übereilte Ergänzungen des Verfassungstextes dar. ln den letzten Jahren waren jedoch im Hinblick auf Amendment-Bemühungen Anzeichen eines weniger strengen "self-restraint"-Bewußtseins zu beobachten. Obgleich seit 197 1 kein neu vorgeschlagenes Amendment (das 27. aus dem Jahre 1992 hatte man, wie bereits erwähnt, schon im Zuge der Inkorporierung der Bill of Rights initiiert) mehr angenommen wurde, ergab sich ein plötzlicher Anstieg vorgeschlagener Ergänzungen, die den Verfahrensweg bereits ungewöhnlich weit beschritten haben und die, sollten s ie in Kraft treten, für fundamentale Prinzipien wie das Recht der freien Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit, den strafrechtlichen Schutz der Bill of Rights und die Methodik, auf die der Kongress flir die Zuweisung von Mitteln zurückgreift, einschneidende Veränderungen zur Folge hätten ..,, Darüber hinaus ist im Zuge der terroristischen Anschläge vom II. September2001 eine Potenzierung von Amendment-Vorhaben zu erkennen, wobei 629
Oregon v. Mitchel/, 400 U. S. 112 ( 1971).
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Das 18. (19 19) und 2 1. (1933) Amendment. Dazu II'D. Gwhde, Constitutional Aspects of National Prohibition: a Review ofthe Antecedents of the Eighteenlh Amendment, the Objections to its Repeal, and the Advisability of its Modification, 1932 . .,, Im Gegensatz etwa zum deutschen Grundgesetz, vgl. Art. 79111 GG. Das Problemder "unabänderlichen Verfassungsnormen", wie beispielsweise die "Ewigkeit" der republikanischen Regierungsform in den Verfassungen der französischen dritten bis fünften Republik oder in der italienischen Verfassung, besteht also in dieser Fom1 in den Vereinigten Staaten nicht. .,, Vgl. die National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920) sowie Leser v. Gamett,
258 U. S. 130 ( 1922). 633
Innerhalb \Veniger Jahre haben etwa in den 1990er Jahren sechs vorgeschlagene Verfassungsergänzungen (u. a. einen ausgeglichenen Haushalt, \Vahlkampffinanz,ierung, Religionsfreiheit, Verfahren zur Erhebung neuer Steuern, aber auch Flaggenentweihung ("ftag desecration") betreffend) das Plenum einer der beiden oder beider Kammern des
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
aber weitgehend davon ausgegangen wird, dass die Unmittelbarkeit der Reaktion (ein Wesens merkmal von politisch gesteuertem Aktionismus) überdie Momentaufnahme hinaus ihre Grenzen in der bisherigen Ve1fassungs -Ergänzungs-Tradition finde dürfte. Zwar haben Bemühungen um die amerikanische Verfassunggebung seit der Declaraiion of bulependence nicht mehr Anlass zur Vermutung gegeben, äußeren Einftussfaktoren geschu ldet zu sein, gleichwohl ist nicht zuletzt aufgrund des amerikanischen Verfassungsse lbstverständnisses und -patriotismus' gerade dieser Umstand eher Hemmnis denn Antrieb flir allzu extensive AmendmentAbsichten.634 Jedoch gab es bereits vor dem II. September2001 -insbesondere in der Parteienlandschaft- Tendenzen, das politische Klima zugunsten weiterer Amendments zu verändern. So fanden Vorschläge, die Verfassung um ein "victim' s rights - amendment"6" zu ergänzen ebenso politische Unterstützung wie Konzepte, die amerikanische Staatsbürgerschaft neu zu definieren oder die Erfordernisse für zukünftige Amendments zu erleichtern.636 Die Gründe für dieses neu erweckte politische Amendment-lnteresse s ind vielfaltig . Für manchen Republikaner s pielte gewiß der Umstand, seit mehreren Generationen erstmals wieder die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses zu stellen, eine nicht unbedeutende Ro lle. Unter den Demokraten gibt es bis heute nicht wenige, die ihrer Frustration über Kongresses erreicht. Dabei wurden Z.\vei ("balanced budged amendment'' und .,flag dese-
cration amendment") vom Re präsentantenhaus verabschiedet, e ine Version des "balanced budged amendment" verfehlte die erforderliche Senatsmehrheit zweimal jeweils nur um eine Stimme, vgl. Unired Srates, Congress, Senate -Commiuee on the Judiciary, Subconunittee Otl lhe Cotlstitmion, Balanced-Budget Ame ndment to the Constitution. Hearings before the Subcommittee on the Constitution of the Committee on the Judiciary, United States Se nate, One Hundred Third Congress, second session, on S .J. Res. 4 1, February 15 1 16, and 17, 1994, J995; United Stares Congress, Senare - Committee on the Judiciary, BalancedBudget AmendmenL Hearings before the Committee on the Judiciary, United States Senate, One Hundred Fifth Congre.s.s, first session on S.J. Res. J. a bill proprosing an amendment to the Constitution of the United States to require a balanced budget, January 17 and 22, 1997, J997. Zum ,.ftag desecration amendment": United Stares, Congress, House - Committee on the Judiciary. Subcommiuee on the Consrirwion, Flag Desecration Amendment to the Constitution. Hearing before the Subco mmittee on the Constitution of the Committee on the Judiciary, One Hundred Fourth Congress, first session, on H.J. Res. 79, May 24, 1995, 1995. b.l:l Freilich hatte der I J. September in den Ve reinigten Staate n (wie in vielen Ländern Europas) e ine Flut von Gesetzgebungsinitiativen zur Folge, die insbesondere verschärfte Maßnahmen im Rahmen der inneren Sicherheit e nnög lichen sollten, vgl. dazu nur die breite Berichterstattung etwa zum sog. ,,Patriot Act''. 635 Vgl. dazu die Stellungnahmen der Senatoren R. Feingold und P. J. Leahy vor dem Senate Judiciary Committee, Executive Business Meeting: "The Victims' Rights Amendment" (S.J . Res. 3) Septe mber 30, 1999, www.judiciary.senate.gov/93099rf.htm bzw. judic iary.senate.gov193099pl2.htm. 63& Allein im 106. Kongress wurden im Repräsentantenhaus bis Dez.ember 200 1 fünfzig .,proposaJs o f an amendment'" (vgl. die Auflistung im Einzelnen unter http://tho mas .loc.govlcgil-lbinlqueryiL?c I06:Jiistlc I 06hj. lst: I), im Senat dreizehn solche Vorschläge (http://lhomas.loc.gov I cgi -bin I query I L?c I 06:.1 1istl c I 06sj .Ist: I) behandelt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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e in in ihren Augen durch umfangreiche Walkampfspenden korrumpiertes System mit ei ner Änderung des Verhältnisses "between money and speech" Ausdruck verleihen wollen. 637 Insbesondere sind aber parteiübergreifend Bestrebungen auszumachen, die auf e ine Beschränkung des höchstrichterl ichen ,judicial activism" und e ine Rückbesinnung auf den ursprünglich in der Verfassung vorgesehenen Amendment-Prozess abzielen. Letzteres geschieht vorw iegend unter Berufung auf die sogenannte "original meaning" des Verfassungsdokuments. 638 Die Fülle der ei ngebrachten Amendment-Vorschläge sollte allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der überwiegende Teil der intendierten Verfassungsergänzungen Problemstellungen betrifft, die richtigerweise Gegenstand der "normalen" Gesetzgebung sein müssten. Auch darf der Umstand, dass seit 1791 lediglich s iebzehn e igentliche Verfas sungsergänzungen erfo lgreich durchgeflihrt wurde n, nicht den Blick auf die Flut in den Kongress eingebrachter und letztlich gescheitelter Amendment-Vorschläge verschleiern. Der grundsätzlichen Bedeutung gescheiterter Empfehlungen zur Verfassungsergänzung oder -änderung für die Verfassungsentwicklung wird an späterer Stelle noch e ingehender gedacht. cc) Initiative und Ratifikation - das Verfahren
(I) Das Modell "congressional proposal"- der Regelfall Das Verfassungsergänzungsverfahren teilt s ich in zwei Abschnitte: der Initiative ("proposal") folgt die Ratifikation, wobei die Initiative entweder vom Kongress oder den Staaten eingeleitet werden kann ..,. Ersteres erfordert einen gemeinsamen Beschluss (,j oint resolution") von Senat und Repräsentantenhaus mit ZweidrittelSiehe zu dieser Problematik D. Donne/Jy, Are Elections for Sale?, 2001. E~n interessanter Vergleich zwischen amerikanischerund europäischer Methodik der \Vahlkampfund Parteienfinanzierung wird im Sammelband von A. 8. Gunlieks (ed.), Campa.ign and Party Finance in North America and Western Europe, 1993, angeste llt. 633 Zum Stellenwert der "original meaning'' bzw. des "original intent" in der Verfas.sungsinterpretation siehe einen der prominentesten Vertreter des sog. ~,originalism" R.H. Bork, Tradition and Morality in Constitutional Law, in: W.F. Murphy /C. H. Pritchett (eds.), Courts, Judges & Po litics. An lntroduction to the Judicial Process, 4. Auft. 1986, S. 635 ff.; ders., Neutral Principles and Some First Amendment Problems, in: 47 lndiana Law Journal (1979), S . I ff.; ders. , The Tempting o f America. The Political Seduction o f the Law, 1990. 639 Bereits im Verfassungskonvent von 1787 wurde die Ausgestaltung eines Änderungsverfahrens kontrovers diskutiert. Zunächst wurde erwogen, dass "provision ought to be made for the amendment [of the Constitution] whensoever it shall seem nece.ssary"- ohne jegliche Beteiligungdes Kongresses, vgl. M. Farmnd, The Recordsofthe Federal Convention o f 1787, Bd. I, rev.ed. 1937 (hier zitiert) sowie 1966, S . 2 2, 202f., 237; Bd. 2, S. 85. Auf dieser Grundlage gestaltete die Detailkommission einen Absatz, der vorsah, dass der Kongress auf Antrag von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten einen Konvent z.ur Änderung der Verfassung einzuberufen hätte, vgl. Farmnd ( 1937), Bd. I, 637
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
mehrheit. In den bislang e ingebrachten dreiundreißig Verfassungsergänzungsinitiativen wurde in allen Hillen auf die genannte Alternative des Ve rfahrens über den Kongress zurückgegriffen. Da das " proposal of an Amendment" nicht als Gesetzgebungsakt einzustufen ist, besitzt der amerikanische Präsident gegenüber der ,joint resolution" des Kongresses weder ein Vetorecht noch ist seine Zustimmung erforderlich. 640 Bis lang haben sich hinsichtlich dieses Initiativrechtes nur vereinzelt verfassungs rechtliche Probleme e rgeben. Als etwa Madison dem Repräsentantenhaus den Vorschlag zur Aufnahme eines Grundrechtekataloges, dem letztlich die Bill of Rights entsprang, unterbreitete, beabsichtigte er eigentlich eine Inkorporation der entsprechenden Bestimmungen in den Verfassungstext."'' Das Repräsentantenhaus entschied sich dahingegen bekanntlich für die bis heute praktizierte Methode, Ergänzungen in Form zusätzlicher Artikel vorzuschlagen."'' Schlicht ignoriert wurde dabei eine Empfehlung, zunächst beide Kammern des Kongresses beschließen S. J88> was freilich zu heftigen Kontroversen fUhrte. Zum einen wurde die Gefahr einer subversiven Dominanz von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so der Delegierte Gerry, siehe Farmnd ( 1937), Bd. I, S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der Kongress wohl als Erster ein Amendment für notv.<endig erachten würde. eine Übertragung der "Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte 1 dass lediglich Veränderungen, die die Machtposition der Staaten festigen würden, begründete Aussicht auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamilto11s bei Farmlid (1 937), S. 558. Schließlich wurde der Vorschlag Madisons angenommen, der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kongresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten vorsah. "'0 Vgl. Hollingswortlt v. Virginia, 3 Dall. (3 U.S.) 378 ( 1798). Den Gouverneuren der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfalls gegen eine Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendmems, das die außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies K. Loewetlstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten, 1959, 5 . 4 1, 3 10ff. "'' Siehe Amwls of Co11gress, Bd . I ( 1789), S. 433 ff. Gleichzeitig war bei den AntiFederalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige Beifügung und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte, vgl. E. P. Smith, The Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788, in: J.F.Jameson, Essays in the ConstitutionaJ History o f the United States in the Formative Period, 1775 - 1789, 1889, S. 46 ff. Madiso11 freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die ,.amending articles" verteidigte er im übrigen als ein "neither wholly national nor wholly federal" (fhe Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion "equally against that extreme facility, which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults'' (The Federalist No. 43) zu wachen, vgl. auch J. R. Vi/e , American Views o f the Constitutional Amending Process: An lntellectual History of Article V, in: 25 AJLH ( 199 1), S.44ff., 49f. "'' Vgl. Amwls of Co11gress, Bd. I ( 1789), S. 7 17.
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zu Jassen, ob Amendments überhaupt notwendig ("necessary") seien, bevor detaillierte Vorschläge in Betracht gezogen würden. 643 Der Supreme Court entschied schließlich in den Na.rionnl Prohibilion Cases, dass die zwei Kammern des Kongresses durch den Vorschlag e ines Amendments konkludent die Notwendigkeit e iner Revision zum Ausdruck brächten.""'
(2) Das Modell .,consriturional convemion"- Option zur Tarn/revision? Das zweite vetfassungsmäßig vorgesehene Modell, der "constitutional convention" wurde bislang noch nicht erfolgreich bemüht. Hierbei müssen zwei Drittel der Gesetzgebungskörperschaften aller Einzelstaaten die Einberufung eines Verfassungs konvents beschließen, der dann die Fre iheit besäße, alle erdenklichen Ergänzungen sowie de facto Änderungen der Verfassung vorzunehmen. Selbst die Annahme einer gänzlich neuen Verfassumg wäre im Rahmen des Möglichen . Eine solche Totalrevision, wie sie beispielsweise in der Schweizer Vetfassung vorgesehen ist"", wurde in der Vergangenheit mehrfach vorgeschlagen."'" Die Bundesverfassung unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Teil- und Gesamtänderungen der Verfassung, sondem s pricht in Art. V lediglich von "Amendments "'' Ebenda S. 430. ""' Siehe Narional ProhibiTion Cases 253 U.S . 350, 386 ( 1920): .,The adoplion by both Houses of Congress, each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an amendment to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary by all who voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not essential. None of the re.solutions whereby prior amendment.s v.<ere proposed contained such a declaration.'' Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Quorum, \VOnach flir das "proposal"" die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder ausreichend sein sollte. vom Supreme Court festgestellt. "'' Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 ka m in der Schweiz eine Z\veite große Totalrevision nach J874 zur Abstimmung und wurde trotz niedriger Stimmbeteiligung (35,4%) deutlich angenommen. Die neue Verfassung trat am 1. 1.2000 in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Sch\veizer Verfassung bieten etwa M. Imbaden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte ( 1959), in: ders., Staat und Recht, 197 1, S. 219 ff.; L \Vi/dhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: Jö R 26 ( 1977}, S. 239 ff. (zum Bericht der Expertenkommission flir die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977) und 8. Ehrenzel/er, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenwärtige Stand des Vorhabens, in: ZaörY 47 ( 1987), S . 699 ff. Nunmehr R.J. Schweizer, Die erneuerte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 263 ff. Den wichtigen Bez.ug schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, "\Verkstatl Schweiz": Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders., Europäische Rechtskultur (1994}, Taschenb. 1997, S . 355 rr. her. b4b Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei D. Robinson (Hrsg.), Refonning American Government. The Bicentennial Papers of the Committee on the Constitutional System, 1985. Für eine genm1ere Beschreibung und Analyse der einzelnen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Constitution. An Examinalien o f Proposals from Recons-truction to the Present, 199 1.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
to this Constitution". Soweit die Verfassungsrechtslehre gleichwohl an diese Unterscheidung anknüpft, gehen die Meinungen dmüber auseinander, welches Organ die Obliegenheit einer Totalrevision wahrzunehmen befugt ist. Nach e iner entstehungszeitlich argumentierenden Richtung ist der Kongress ausschließlich ermächtigt, Teiländerungen der Vetfassung vorzuschlagen, während das Unternehmen e iner Totalrevision von dem als Pouvoir constituant eingesetzten Verfassungskonvent durchzufUhren ist. 647 Im Unterschied dazu lehnt eine verbreitete, das "geltungszeitliche" Auslegungselement betonende Auffassung solche organspezifischen Kompetenzzuweisungen ab und räumt Kongress und Vetfassungskonvent gleichermaßen die Befugnis zur Vornahme von Total- und Teilrevis ion e in . Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist diese Methode mit etl ichen rechtlichen Fragen behaftet.64' Wann und wie ist e in Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforderlichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment erstreben oder lediglich eine ähnliche Ange legenheit betreffen? Kommt es bei dem notwendigen Quorum auf e in gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden?649 Kann ein Konvent nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüberschaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem "constitutional convention" anhaftet.""' In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben wenige Themenkreise e ine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus wie die Möglichke it der EinbeJUfung eines weiteren Vetfassungskonvents, sei es um das Dokument von I787 e iner Totalrevis ion zu unterziehen oder sei es "nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents -Alternative scheiterte e inige 647 Vgl. zu diesem Streit mit einer Darste llung der unterschiedlichen Positionen IV. S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956, S . 218; D. P. l.acyl P.L Martin , Amending the Constitution: the BottJeneck in the Judiciary Committees, in: 9 Harvard Journal on Legislation (1 97 1172), S. 666 ff., 67 1 f.; WA. Platz, Article V of the Federal Constitution, in: 3 lbe George Washington L. Rev. ( 1934), S. 17 ff., 24 f. 643 Eine umfängliche Studie der "convention method" g ibt C. Brickfield, Problems Relating to a Federal Constitutional Convention, 85th Congress, Jst sess., 19 57. Siehe auch R. Caplan, Cons-titutional Brinksmanship. Amending the Constitution by National Convention, 1988. 649 Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf bleiben kann odersoll, ehe erals überholtgelten kann, vgl. K. Loev.•vmstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 4 1. 050 Eine gründliche Analyse dereinzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten Lösungsans.'itzen geben Brickfie/d (1 957) und Caplan ( 1988). Siehe auch Fedeml Consritwional Couvemion, Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on Separation of Powers, 90th Congress, Ist sess. ( 1967) ; II( Edel, A Constitutional Convention: Threa t or Challenge?, 198 1; Americmr Bar. Associarion (Hrsg.), Amendment of the Constitution by the Convention Method under Article V, 1974.
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Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents, nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte!" In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezirke (,.reapportionment decis ions") zu initiieren! 52 Zwei Staaten fehlten zu einer erfolgreichen Petition fiir eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten 653 sowie für ein "balanced budget amendment" 654 • Während in der amerikanischen Verfassungslehre einige die Auffassung vertrete n, zahlre iche Sicherungshebel würden e inen Konvent als risikolose politische Option erscheinen lassen655, setzen andere in zuwei len dramatischen Worten eher warnende Akzente656 • Letztere verweisen unter anderem auf den Umstand, dass bislang nicht e inmal ein Gesetz zur Regelung eines solchen Konve nts verabschiedet wurde.657 Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Konvent dominiert. Zum einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum 651
Dazu Brickfie/d (1 957), S. 7, 89. Vgl. G. Rees, The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark ( 1986), S. 66 f.; Cap/an ( 1988), S. 73 ff. 653 Vgl. Brickfie/d ( 1957), S. 8 f., 89. 054 Gründliche Diskussionen zu diesem 1,proposal" finden sich in: W. Moore/R. Penner, The Constitution and the Budget, 1980; American Emerprise Institute, Proposals for a Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch W. T. Barker, A Status Report on the ,Balanced Budget' Constitutional Convention, in: 20 The J. Marshall L. Rev. ( 1986), S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen für d iesen Konvent flir rechtsunwirksam hält. 655 Siehe nur Cap/an ( 1988); P. Weber, The Constitutional Convention: A Safe Political Option, in: 3 The J. of Law & Politics ( 1986), S. SI ff., J. T. Noonan, The Convention Method of Constitutional Amendment- lts Mea.ning, Usefulness and Wisdom, in: I0 Pac. L.J. (1 979), S. 64 1 ff. 05& Vgl. etwa L. Kean, A constitutional Convention \Vould Threaten Rights \Ve Have Cherished for 200 Years, in: 4 Det.Col. of L. Rev. ( 1986), S. I087 ff.; A. Sorens011, The Quiet Campaign to Rewrite the Constitution, in: Sat.Rev. vom IS. Juli 1967, S . l7ff.; G. Gwulrer, Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer. Bar Assoc. J. (1979), S. 1046ff. 057 Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin, den Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit dem Vorsatz, den wissenschaftlichen Spekulationen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten, vgl. S. ErvitJ, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of Amending the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 875 ff.; siehe auch ders., Proposed Legislation on the Convention Method of Amending the United States Constitution, in: 85 Harvard L. Rev. ( 1977), S. 1612 ff. 052
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anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontro lle entweder der Kongress oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund. Die Option einer "lim ited constitutional convention" untersuchte insbesondere IV, Dellinger, um schließl ich festzustellen, dass e ine inhaltliche Begrenzung des Konvents abzulehnen und jede g liedstaatliche Petition, die auf e ine solche Begrenzung abzielte demnach unwirksam sei. 658 Diese Position gründet auf der Überzeugung, dem Kongress ebensowenig e in exklusives Vorschlagsrecht für Amendments zu gewähren wie den Legis laturen der Einzelstaaten einzuräumen, Amendments, die die gl iedstaatliehen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren. 659 Würde nun e inem von beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsichtlich e iner Kontro llkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents. Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begrenzung erfahrt.660 Die e inzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen würden nach Artikel V zumindest "ungefahre" Paralle len zu den dort genannten Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei, "housekeeping rules"661 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent vie le seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerichten allgemeine Aufsichts funktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der Begrenzungsoption. Allerd ings unter diametralen Prämissen . Während Dellinger das gesamte Amendment-Ve1fahren als e ine "series of formalities" beziehungsweise ein "set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy objectives"662 einschätzt, stellt Rees den Gedanken des "contemporary consensus" oss Siehe W Del/inger, The Recurring Question of the ,Limited' Constitutional Convention, in: 88 Yale L. Rev. ( 1979), S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichlweise offenbart auch C. L. 8/ack, Amending the Constilution: A Le11er to a Congressman, in: 82 Ya le L. J. (1972), S. J89 ff. Eine Begrenzung des Verfassungskonvents auf lediglich "stückweise Änderungen" (.,piecemeal changes") schlägt A. Diamond, A Convention for Proposing Amendments. The Constitution's Other Method, in: I I PUBLIUS ( 1981 ), S. 1113 ff. vor. Dagegen J. R. Vile, Ann Diamond on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 PUBLIUS ( 1989), S. 177 ff. sowie ders., American Views of the Constitutional Amending Process: An lntellectual HiSiory of Article V, in: 25 AJLH ( 199 1), S. 44 ff., 65 . .,. Dei/inger ( 1979), S. 1630. 660 Vgl. G. Rees, The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark ( 1986), S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht a ls Befürwortereines erneuten Verfassungskonvents sieht. vgl. ebenda, S . 80, so widerspricht er doch De/Jinge1· insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von aJien Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben. 661
EbendaS. 86. Siehe 111 De/linger, The Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the Amending Process, in. 97 Harvard L. Rev. {1983), S. 386 ff., 4 18, 432. 662
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in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich befürwortet. Für Dei/inger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der formellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen, da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Auslegung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist."' (3) Versuche {.Ur Begren~ung von " am.ending power"
Obgleich die beiden vorgesehenen Methoden der Verfassungsergänzung einer weitreichenden, bundesweiten Einbeziehung der Regionen und Einzelstaaten bedlilfen, um die erforderlichen qualifizierten Mehrheiten zu e rlangen, mangelte es in der Vergangenhe it nicht an Versuchen, die vorgebeneo Barrieren noch zu verschätfe n. Bereits dem Verfassungskonvent von 1787 wurde der letztlich gescheiterte Vorsch lag unterbreitet, Art. V um die Klausel "no State shall without its consent be affected in its internal policy" zu ergänzen.'"' Ein weiterer Anlauf, die "amending power" einer verstärkten Begrenzung auszusetzen wurde 186 I unternommen, als der Kongress den Staaten nahelegte, a lle zukünftigen Amendmems zu blockieren, die den Kongress autoris ieren würden, "to interfere, within any State, with the domestic institutions thereof [ ... ]" 665• Nachdem bereits drei Staate n e inen diesbezüglichen Entwurf ratifiziert hatten, beendete der AusbJUch des amerikanischen Bürgerkriegs vorzeitig den Fortgang dieses Vorhabens.'" Wenig später versuchten einige Kongressmitglieder vergeblich die Verabschiedung des 13. Amendments (Verbot der Sklaverei) zu verhindern, indem sie darauf hinwiesen, dass der "amending process" nicht für eine derart große Veränderung innerer Angelegenheiten der Einzelstaaten missbraucht werden dürfte. 667 Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigke it des 18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh663
Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe
sogleich), die Delli11ger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen bewältigt, vgl. ders. ( 1983), S. 4 19 ff. Kritisch allerdings L H. 1i-ibe, A Constitution We Are Amending: In Defense of a Restrained Judicial Role, in: 97 Harvard L. Rev. ( 1983), S. 433 ff. Siehe auch J. R. Vile, Jud icial Review of the Amending Process: the DellingerTribe Debate, in: 3 J. of Law & Politics ( 1986}, S. 2 I ff. 664 Vgl. M. Farrand, The Records o f Jhe Federal Convention of 1787, Bd. I, Revised Edition 1937 (hier zitiert) sowie I966, S. 630. 665 Siehe 57 Cong. Globe 1263 ( 186 1). 66&
Dazu aus fUhrlieh H. Ames, The Proposed Amendments to the Constitution of the
United States During the First Century of lts History, H. Doc. 353, pt. 2, 54th Congress, 2d sess., 1897, S. 363. 667 Vg1. 66Cong.Giobe921 , 1424- 1425, 1444-1 447, 1483- 1488(1864).
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nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwendungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Ve1fassungsversion sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätz licher oder ergänzender Vorschriften von A1t. V der Verfassung umfasst sei. 668 Zudem habe der Kongress ke ine ve1fassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder dere n Verzicht darauf berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht, einem G liedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf "equal suffrage" im Senat vorenthalten. 669 Die Berücks ichtigung "überpositiver" Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem amerikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller Einwände letztlich aufrechterhalten.670
(4) Ra.rijikarionserfordernisse und Problemlagendas Kuriosum 27. Amendmem Die Ratifikation671 erfordert laut Art. V S. I der Verfassung bei beiden Initiativ-Mode llen eine Mehrheit von drei Vierte ln der einzelstaatlichen Legislaturen. Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die gesetzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten e inzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben. 671 Zur großen Überraschung der amerikanischen Bevölkerung wurde 1992 das bereits e rwähnte 27. Amendment ratifiziert. 203 Jahre nach seine m "proposal". Dies wa~f freilich die Frage nach der erlaubten zeitlichen Anhängigkeil eines Amendments auf. Grundsätzlich wurde dem Kongress das Recht zugestanden, mit dem "amendment-proposal" e in angemessenes ("reasonable") Zeitlimit zu verbinden.673 Seit dem 18. und mit der Ausnahme des 19. Amendments hatte der Kongress allen Ergänzungsvorschlägen e ine Formulierung beigefligt, wonach das 66• 66 •
Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 ( 1920). Vgl. Leser''· Gamett, 258 U.S. 130 (1922).
Vgl. Nmional Prohibition Cases und Leser v. Garne11, ebenda Zur Ratifikation der Gründungsverfassung und der Bill of Rights C. R. Smith, To Form a More Perfeet Union. The Ratification of the Cons-litution and the Bill of Rights, 1787- 179 1, 1993. 672 Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässtich des 2 J. Amendments (Aufheben der Prohibition) bemüht, da man sich hiervon eine raschere Umsetzung versprach. 673 In Black's Law Dictionary wird ,,reasonable time" definiert als "such length of time as may fairly, properly, and rea.sonably be allowed or required, having regard to the nature of the act or duty, or of the subject-matter, and to the attending circumstances"', 670 671
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jeweilige Amendment nach e iner Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei "proposals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 1810 beziehungsweise 1861 vorgelegt wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht ratifiziert. ln seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staate n 1924 vorgelegte .,child Iabor amendment" 13 Jahre später ratifiziert werden könnte. 6 " Dies sei eine "political question" 675 , die der Kongress zu lösen habe, wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht in Betracht. 676 Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongresses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen zu setzen. •n Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne "proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürften. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Beschränkungen, so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass e in funktionierender "amending process" als solcher das gewichtigste Argume nt gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere. 678 Drei logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme Court untermauern : "First, proposal and ratification arenot treated as unrelated acts but as succeeding steps in a single endeavor, the natural inference being that they are not tobe widely separated in time. Secondly, it is only when there is deemed to be a necessity therefor that amendments are to be proposed, the reasonable implication being that when proposed vgl. H.C. 8/ack, Black's l aw Dictionary, 6" edition 1990, S. 1483 (vgl. auch die achte Neuauflage von B.A. Ganter (ed.), 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat der Supreme Court in Twin Liek Oil Co. v. Marbr11y, 91 U. S. 587, 591, 23 L. Ed. 328 hergestellt, indem er feststellte: ,)low long a ,reasonable time' ought tobeis not defined in law, but is left to the discretion of the judges." 674 Co/eman v. Mit/er 307 U.S. 433 (1939). 675 Hierzu kursorisch unter B.IV.2.b)cc)(2). 67& In Coleman v. A1itler, ebenda, wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation für zulässig mit der etwas seltsam anmutenden Begründung, dass damit eine Stimme mehr für das Zustandekommen der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es aber einem Staat, der ein "proposal" bereits angenommen hat, nicht ermöglicht, diesen wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 42. 677 Dillmr v. G/oss 256 U.S. 368 ( 192 1) . .,. Ebenda 374.
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they are to be conside red and disposed of presently. Thirdly, as ratification is but the expression of the approbation of the people and is to be effective when had in three-fourths of the States, there is a fair implication that that it mus-t be sufficiently contemporaneous in that number of States to reHect the will of the people in all sections
at relatively the same period, which of course ratification scattered through a long series of years \vould not do .~''1')
Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als s ie entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwebender "proposals" mit s ich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden "are still pending and in a s ituation where their ratification is some of the States many years s ince by representatives o f generations now largely forgotten may be effectively supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of the present or some future generation. Tothat view few would be able to subscribe, andin our opinion it is quite untenable."..0 Was also dem Supreme Court 192 1 ohne Gegenstimme untragbar ("untenable") erschien, e rwies s ich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar. Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirklichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von e iner ,,reasonable time period" die Rede sein konnte, war heftig umstritten.681 Das Office ofLegal Counsel des Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die wesentlichen Bezüge zur Dillon-Entscheidung des Supreme Courts herstellte ..., Dabei wurden die drei oben genannten "cons iderations" des Gerichtshofs als nicht überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schritte in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument, e in Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat 679
Ebenda 374 f. Ebenda. 681 So schrieb beispiels\veise L H. T1·ibe, The 27th Amendment Jo ins the Constitution, in: Wall Street Journal, 13. Mai 1992, S. A 15: "Article V says an a me ndment ,sha ll be valid to alt lntents and Purposes, as part of this Constitution' when ,ratified' by three-fourths of the s-tates - not that it might face a veto for tardiness. Despile the Supreme Courfs suggestion, no speedy ratification rule may be extracted from Article V's text, stmcture or 6SO
history.~·
.., Vgl. 16 Ops. of the Office of Legal Counsel ( 1992), S. I 02 ff.
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e ines Konsenses sein sollte, nirgends auf e ine Zeitgleichheit der Übereinstimmung hin. 683 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die einzig angebrachte Fom1 der Auslegung von Art. V sei "to provide a clear rule that is capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be disfavored."684 Dieser Ans icht ist unter Berufung auf e ine enge Wortlautauslegung der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artike l V enthält kei nerlei Hinweis auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl Fristsetzungen aufweist. 685 Die Verabschiedung des 27. Ame ndments wirft indessen die Frage auf, ob einem Amendmentvorschlag eine "Ewigkeitsgarantie" innewohne.••• Dies kann jedoch höchstens flir "proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist- mit Ausnahme von Regelungen, die an eine Bedingung oder Frist gebundenen s ind - den meisten Verfassungsvorschriften der Wille der jewei ligen "Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibilität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten. 687
OSJ Ebenda. S. III f. os:a Ebenda. S. 113. bSS Vgl. etwa Art. I § 7 par. 2; Art. II § I par. 3 ("immediately"); Art. II § 2 par. 3. os& Vgl. dazu Congressional Research Cemet; Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States, 1992 Edition: Cases Decided to June 29, 1992, Senate Document No. I03-6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26, 1998, Senate Document No. I06-8, S . 904. os7 Es würde auch zu weit führen, das Zustandekommen des 27. Amendmentgleichzeitig einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetz-ter Umsetzungsfristen zu nennen -sei es mittels des Textes selbst oder aufgrund derden Vorschlag begleitenden Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung des Kongresses während des Amendment-Verfahrens legt eine solche Sichtweise nahe. Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzuziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf, verwickelte schließlich angesichts des vorgeschlagenen "Equal Rights Amendment" sowohl Kongress als auch die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. Beflirworter und Gegner dieser ausschießliehen Befugnis des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ,,political question doc.trine", um ihren Standpunkt z.u untermauern, vgl. nur: Equal Rights Amendment Extension, Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution, 95th Congress, 2d sess. ( 1978); Equal Rights Amendment Extension, Hearings before the House Judiciary Subcommitlee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress, lst/2d sess. ( 1977 -78).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Kontext des Ratifikationsverfahrens stellte s ich wiederkehrend die Frage, ob ein Staat, der bereits ratifiziert hat, diesen Schritt wieder mit der Folge rückgängig machen kann, dass der Kongress diesen Staat nicht der erforderlichen Mehrheit zurechnen darf. Insgesamt legt die bisherige Praxis den Schluss der Unwirksamkeit eines solchen Vorgehens einzelner Staaten nahe. Andeutungen des Supreme Court in Coleman v. Mille, - und die Maßnahmen des Kongresses bei der Ratifikati on des 14 . Amendments6.. stützen diese Einschätzung. Ebenso könnte insoweit von einer ausschließlichen Kompetenz des Kongresses ausgegangen werden. Es handelt sich letzlieh um eine " political question", die, wenn überhaupt, lediglich einer eingeschränkten Justiziabi lität zugänglich ist. Eine andere Ansicht in dieser Angelegenheit vertrat das Office of Legal Cormsel des Justizdepartments erneut im Vetfahren des 27. Amendments. Die Coleman-Entscheidung wurde als nicht bindend, das Vorgehen des Kongresses bezüglich des 14. Amendments als "aberration" bezeichnet. 600 Als Begründung wurde unter anderem vorgebracht, der Kongress werde durch Artikel V der Verfassung nur zum Vorschlag eines Amendments und zu Empfehlungen bezüglich der ,,Mode of Ratification" ermächtigt. Zudem sei e ine derartige Ausdehnung der Befugnisse des Kongresses schwer mit dem Grundgedanken der "Separation of powers" und des Föderalismus zu vereinbaren.691 Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten "'' 307 U.S. 433, 448. ( 1939): "Thus, the political departme nts of the Government dealt with the effect o f previous rejection and o f attempted withdrawal and determined that both were ineffectual in the presence of an actual ratification.'" bS9 Nach den \Viderrufen der Ratifikation des 14. AmendmenlS seitens der Staaten Ohio und New Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierun-
ge n - dreier Staaten (Georgia, North Carolina, South Carolina), die im Vorfeld bereits
die Ratifikation versagt hatten, entbrannte ein Streit sowohl über die Wirksamkeit der \Viderrufe als auch der Gültigkeit einer Ratifikation nach bereits erfolgter Zurückweisung. Der Kongress selbst stellte schließlich die \Virksamkeit der Ratifikation fest, indem er die \Viderrufe Ohios und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fragen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen .,EquaJ Rights Amendment", siehe Equal Rights Amendment Extension, Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution, 95th Congress, 2d sess. ( 1978); Equal Rights Ame ndment Extension, Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress, lst/2d sess. ( 1977-78). Allerdings konnte angesichtsdes gescheiterten "amendment-proposa.l" keine KJärung der Angelegenheit erzielt werden, vgJ. dazu insgesamt ausführlich CongressionaJ Research Center, Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States, 1992 Edition: Cases Decided to June 29, 1992, Senate Document No. I03-6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26, 1998, Senate Document No. 106-8, S. 905. Siehe auch E.S. Con"inl M. L. Ramsey, The Constitutional Law of Constitutional Amendment, in: 27 Notre Dame Lawyer ( 1951), S. 185 ff., 20 I ff. b90 Vgl. 16 Ops. of the Office of Legal Counsel ( 1992), S. I 02 ff., 125. 091 Ebenda, S. 121 ff. mit \veiteren Argumenten.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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nicht unter dem Diktat des Prinzips der "stare decisis""'' handeln muss. Entscheidungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der Kammern. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung von Fragen, die letztlich einer Verfassungs interpretation bedürfen, aber gleichzeitig "political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den "politischen Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Verfassung gebunden6'", welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustandekommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen , dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis die Maßnahme "politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten der Gerichte beschneidet."" Auch wenn die Entscheidungen Dilloll v. Gloss'"' und Colema11 v. Miller"'6 nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag, so lässt sich doch auf einige g rundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen. Die Einlassungen des Gerichts, wie lange e in Amendment-Vorschlag "reasonably" schweben dürfe bevor er unwirksam würde, sind auch auf die Frage einer späteren Ratifikationsrücknahme übertragbar. Dazu zählen insbesondere die oben genannten drei Schritte der Begründung, die der Supreme Court in Dilloll v. Gl.oss angestellt hatte. Indes muss eine Bezugnahme auf diese Entscheidung nicht bedeuten, dass der Kongress einen Widenuf der Ratifikation nicht auch - stillschweigend - hinnehmen könnte, wenn er etwa zu der Eins icht gelangte, der Widerruf würde nicht die erforderliche "contemporaneous expression
092 Eingehenderzu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nachweisen M. Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998 sowie G. Seyfanh, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Olipham, AReturn to Stare Decisis, in: American Bar Ass. Journal 1928, S. 71 ff.; R. Laun, Stare Decisis. The Fundamentalsand the Significance of Anglo-Saxon Case Law, 1947. "'' Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung. "'' Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v.Mil/er, 307 U.S. 433, 450 ff. ( 1939), der "no ba.sis in either Constitution or statute" fand. der Gerichtsbarkeit entsprechende Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. "Article V, spe.1.king solely of ratification, contains no provision as to rejection."' Hinsichtlich eineretwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme Courts befand Hughes: ,,Where are tobe found the criteria for such a judicial determination? None are to be found in Cons-litution or statute"', vgl. ebenda 453 f. Siehe insgesamt z.ur Fragestellung, inwie\veit es sich hierbei um eine "political question'" handelt L Henkin, ls There a ,Po litical Question' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976}, S. 597 ff. "'' 256 U.S. 368 ( 1921). 6 "' 307 U.S. 433 ( 1939).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
of the people's w ill" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress gerade die "Handlungshoheit" hins ichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation erhalten. ••7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung, Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität "todeal with subsidiary matters of detail as the public interest and changing conditions may require." ..8 ln Colemnn v. Mit/er vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese "matters of detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach .... Ferner lässt Artikel V, dessen Wortlaut lediglich die ,,Ratifikation" und diesbezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass e in Staat nach dem Akt der Ratifikation keine weitere rechtswirksame Beurteilung mit der Folge der Rücknahme der Ratifi kation des Amendments vornehmen kann. Das gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen, ein G liedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn e ine Annahme habe "in toto and for ever" zu erfolgen 100 lässt s ich dagegen kaum auf die Frage e iner späteren Rücknahme übertragen.
(5) Beendigung des Amendmellt-Verfahrens Das Amendment-Verfahren endete früher mit der offiziellen Unterrichtung des von dem Amendment betroffenen Ministers durch die e inzelstaatliche Legisla097
Nach der Gegenauffassung müsste diese Ko mpetenz auf einen "executive official" (heute den sog. "Archivist'') übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit eines Widerru fs der Ratifikation wiederum das Justizdepartment konsultieren könnte. Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des "Archi\'ist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer "political question", über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. ofthe Office of Legal Counsel ( I992), S. I 02ff., I I 6 ff. ..,, Ebenda 375 f . ..,. Co/emcm v. Miller 307 U.S. 433, 452 ff. (1939). Differenzierend in d iesem Kontext das Sondervotum von Justice Block, ebenda 456, 458, der sowohl den Kongress als auch den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Zusammenhang von Artikel V für berufen hält. Zudem forderte Block die Formulierung "reasonable time" aus Ditlon v. G/oss zu verwerfen. 700 Hier.auf wird u. a. in Congressional Resem-clr Cemer, Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States1 1992 Edition: Cases Decided to June 29, 1992, Senate Document No. 103-6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26, 1998, Senate Document No. 106-8, S. 908, Bezug genommen. Im \Vortlaut befand J. Madison , als in New York die Ratifizierung der Verfassung unter der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser Amendments diskutiert wurde: "The Constitution requires an adoption in toto and for ever. lt has been so adopted by the other States. An adoption for a limited time would be as defect.ive as an adoption of some of the articles only. In short any condition whatever mus-t viciate the ratification"', zitiert nach: H. Syrett (Hrsg.), The Paper.; of Alexander Hamilton, Bd. 5, 1962, S. 184.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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turen, die bestätigten ("authenticate"), dass s ie das vorgeschlagene Amendment ordnungsgemäß ratifiziert hatten. So bindend dieses Amendment für den M inister war, so e ndgültig war dessen Bestätigung durch Verkündung ("proc lamation") für die Gerichte sowohl im Hinblick auf etwaige folgende Einwände als auch angesichtsder vermuteten Richtigkeit des legislativen Ratifikationsverfahrens. 701 Diese ministerielle Aufgabe war sodann auf einen Funktionär, den sogenannten Administrator of General Services"" übertragen worden, bevor man zuletzt den Archivist ofthe United States für zuständig erklärte 703 • ln der Entscheidung Dillon v. Gloss erklätte der S upreme Court, dass das 18. Amendment mit dem Zeitpunkt der Ratifikation des (dan1als fü r die erforderliche Mehrheit entscheidenden) 36. Staates in Kraft getreten sei und nicht erst mit dem Datum der Proklamation des Ministers. 704 Auf die deckungsgleiche heutige Verkündung durch den Archivist ist diese Regelung zweifellos entsprechend anwendbar. dd) Möglichke it der Interpretation von Amendments Inwieweit Artikel V der Bundesverfassung tatsächlich richterlicher Auslegung zugänglich ist, gehört w ie bereits mehtfach e rwähnt zu den umstrittendsten Fragen im Kontext des Amendment-Verfah rens. Vor 1939 erklärte sich der S upreme Court (trotz der Erkenntnis von der Endgültigke it einer Ratifikation nach der offiziellen Bekanntmachung durch die jeweiligen Gliedstaaten"») bei e inigen Einsprüchen gegen die Gültigkeit von Amendments zwar fiir zuständig, ließ jedoch alle Begehren an der Begründetheil scheitern. Die in vielerlei Hinsicht unbefriedigende Entscheidung Colema11 v. Miller bedeutete schließlich ei nen Wendepunkt in der Haltung des Gerichtshofs, "" der nicht weniger als vier unte rschiedliche Meinungen in seinen Reihen vereinte, wovon keine von mehr als vier Richtern 701
Vgl. Act of April 20, 1818, Sec. 2 , 3 Stal. 439 sowie Leser v. Gameu, 258 U.S. 130, 137 (1922). 701 Siehe 65 Stat. 710-7 11, Sec. 2; Reorg. Plan No. 20 of 1950, Sec. I (c), 64 S tat. 1272. 703 National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 229 1, I U.S.C. Sec. 106b. 704 Dilloll v. G/oss, 256 U.S. 368, 376 ( 192 1). 70 ' Leser v. Gameu, 258 U.S. 130 ( 1922). 70 • Vgl. Co/email v. Miller, 307 U. S. 433 ( 1939). S tre itpunkt war die erfolgte Bestätigung
einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sich aus dreierlei Gründen Angriffen ausgesetzt sah: zum einen sei das Amendment ("child Iabor amendment") bereits einmal zurückgewiesen worden; darüberhinaus sei für die Ratifikation ein "unreasonable'' Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen; zum dritten seien die Kompetenzen des Vizegouvemeurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine Stimme als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet wurde. Ausführlich zu dieser Entscheidung statt vieler H. H. C/ark, Coleman v. Miller: A major reduction of the jurisdiction of the Supreme Court, 1942; R. F. Fairchild Cuslmuml B. S. Koukomchos , Ca.ses in Constitutional l.aw, 9. Aufl. 1999, Ch. I I. Siehe aber auch bereits Faircltild v. Hugltes, 258 U.S. 126 (1922), als der Supreme Court konstatierte. eine private Person könne nicht vor
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
unterstützt wurde. Die Mehrheit urteilte, dass die Kläger- Mitglieder des Senats von Kansas - jedenfalls e in ausreichendes Interesse geltend machen konnten, um die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu begründen. Materiell ging es freilich wie oben bereits angedeutet stets um die Frage, inwieweit es sich bei den strittigen Punkten um "political questions" handele und, wenn dies zu befürworten sei, ob diese überhaupt Gegenstand richterlicher Kontrolle sein dürften. 707 Letzten Endes steht Coleman v. Miller fiir die Erkenntnis, dass e inige Entscheidungen hinsichtlich "proposal" und Ratifikation von Amendments ausschließlich dem Kongress vorbehalten s ind- sei es angesichtsdes klaren Wortlauts der wesentlichen Bestimmung (Art. V) oder sei es aufgrund fehlender Entscheidungskriterien seitens der Gerichte, um abschließend und angemessen über Amendments zu befinden. Der Supreme Court akzentuierte diesen Gedanken in Baker v. Carr 106, indem er sich erneut- auch unter Bezugnahme auf Coleman v. Miller- der "political question doctrine" annäherte: "[Coleman) held that the que.stions of how Jong a proposed amendment to the Federal Cons-titution remained open to ratification, and what effect a prior rejection had on a subsequent ratification, were committed to congressional resolution and involved criteria of decision that necessarily escaped the judicial grasp."' 109
Beide genannte n Aspekte hob der Gerichtshof e rneut als "political questions" hervor. 710 Eine Überzeugung, die in späteren Entscheidunge n bestätigt werden sollte. 711
den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und Annahme eines Amendments erstreiten. 707
Dazu neben den Sondervoten in Colema11 ~·. Miller der bereits oben im Zusammen-
hang mit dem Steil um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees, Throwing Away
the Key: The Unconstitutionality of the Equal Rights Amendment Extension, in: 58 Texas L. Rev. ( I980), S. 875 ff., 886 ff.; ders, Comment, Reseinding Ratification of Proposed Constitutional Amendments. A Question for the Court, in: 37 La. L. Rev. (I 977), S. 896ff, der eine generelle Befugnis des Supreme Court zum ,judicial review" befürv..-ortet. Im Ergebnis ähnlich, jedoch mit klaren Einschränkungen auf lediglich "formale Fragen" 111. Dellinger, The Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the Amendment Process, in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 386 ff., 414 ff. Siehe weiterhin LH. Tribe , A Constitution We Are Amending: in Defense of a Restrained Judic ial RoJe, in: 97 Harvard L. Rev. ( 1983), S. 433 ff., 435 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu d ieser Thematik finde t sich auch in den "Hearings" zur Equal Rights Amendment Extension, Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution, 95th Congress, 2d sess. ( 1978); Equal Rights Amendment Extension> Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress, Ist/2d sess. (I 977 -78). Zudem befassten sich zwei gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu dem Schluß einer zumindest eingeschränkten Justiziabilität zu kommen, Dyerv. 8/air, 390 F. Supp. 129 I (D.C.N.D. 111., 1975): /daho v. Freeman, 529 F. Supp. I 107 (D.C. D. Jdaho, 1981), a ufgehoben und "remanded to dismiss" durch den Supreme Court, 459 U.S. 809 (1982). 70' Baker ''· Carr, 369 U.S. 186,214 (1962). 70 • Ebenda.
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ee) Die genere llen W irkkräfte des Amendment-Verfahrens Auch nicht ratifizierte Vorschläge flir eine Ve1fassungsänderung oder -ergänzung können eine Verfassungskultur prägen. Dieser Aspekt gerät allzu leicht in Vergessenheit. Dabei scheint sich zunächst e ine unterschiedliche Betrachtungsweise aufzudrängen, je nachdem wie weit e in Amendment-Vorschlag im Verfahren fortgeschritten ist. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht derart pauschal bewertet werden, da auch (bereits im Kongress) gescheiterte "proposals" durchaus zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit geflihrt haben"' und andere fast unbemerkt zuletzt sogar ratifiziert wurden 713 • Allein die Diskussion e iner etwaigen Verfassungsergänzung- oder Verfassungsänderung außerhalb der Verei nigten Staaten - leistet mehr als lediglich einen Beitrag zur Fortentwicklung eines gewachsenen Verfassungsverständnisses; sie ist Ausdruck, Bestandteil und- insbesondere wenn sie öffentlich ausgetragen wird- Mittlerin e iner lebendigen Verfassungskultur. Gleichzeitig werden unverzichtbare Fundamente flir jede erfolgreiche Verfassunggebung e rrichtet. Das Ausschlußprinzip wird somit zwar an der Verfassung ausgerichtet, jedoch nicht an ihr vollzogen. Neben den 27 durch die erforderliche Dreiviertelmehrheit der Staaten ratifizierten Amendments wurden den Staaten sechs weitere Vorschläge zur Entscheidung vorgelegt, die jedoch nie ratifiziert wurden.'" Von den zwölf vorgeschlagenen Amendment-Artike ln aus dem Jahre I789 wurden die Arti ke l IIl bis XII rati710 Ebenda 217: "a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate po litical department; or a Iack of judicially discoverable and manageable Standards for resolving it."' 711 Siehe Powe/1 v. McCormack, 395 U.S. 486 (1969); O'Brien v. Brown, 409 U.S. I ( 1972); Gilligan v. Morgan, 413 U.S. I (1973). Vgl. aber auch einschränkend Uh/er v. AFLC/0, 468 U.S. 13 10( 1984) unddas Sondervotum vonJustice Powe/1 in Goldwaterv. Carter, 444 U.S.996, 100 1 (1979). 711 Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die "Amendments Proposed in Congress by Senalor John J. Critlenden, Deoernher I8, I860" bzw. "Amendments Proposed by the Peace Conference, February 8-27, 1861" (im Worllaut abgedruckt bei P.L Ford, The Federalist. A commentary on the Constitution of the United States by Alexander Hamilton, James Madison and John Jay edited with notes, illustrative documents and a copious index by Paul Leicester Ford, I 898). 7 u Die Ratifizienmg des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. Amendment überraschte .selbst Kenner des amerikanischen Verfas.sungslebens; das über 200-jährige Verfahren trug unterdessen nicht \Vesentlich zur Pr5gung der amerikanischen Verfassungskultur bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ra tifi kation S. S/avin, (ed.), The Equal Righls Amendment. The Politics and Process of Ratification of the 27th Amendment to the U. S. Constitution, Vol. 2, 1982. 714 Da diese sechs "proposals., bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu finden sind (vgl. aber G. Anaswplo, The Constitution of 1787, 1989, S. 298 f.), werden sie im Originaltext im Anhang abgebildet. Zu dem prominenten, gescheiterten ,.Equal Rights Amendment" vgl. M. Berry, Why ERA Failed: Politics, Women's Rights, and the Amending Process of the Constitution, I 986; J. Manbridge, Why we lost the ERA, 1986.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
fiziert und gingen als die e rsten zehn Amendments unter dem Begriff "Bi ll of Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment ( 1992). Obgleich die Option einer formalen Verfassungsergänzung mittels des Amendment-Prozesses nie gtundsätzlich in Frage geste llt wurde, tauchten doch in der amerikanischen Verfassungsgeschichte, wie an den obigen Beis pielen illustriert, wiederkehrend Spannungen und heftige Kontroversen über Einzelheiten und Leitgedanken des Amendmentverfahrens auf. Einigen Problemstellungen ist allerdings eine gewisse Konstanz, auch in der une rbittlichen Haltung der konträr vertretenen Positionen nicht abzusprechen. Zu nennen ist etwa der Grundkonftikt zwischen dem Bedürfnis nach einem formalen Verfahren nach Artikel V, das bereits T. Jefferson pointierte"', und dem Favoris ieren einer Verfassungsanpassung durch eine starke Gerichtsbarkeit, was wiederum Äuße rungen von Chief Justice J. Marsha/1116 und später ~V. 1Vi/son711 oder C. Tiedeman"' deutlich werden lassen. 719
Periodisch traten offen kundgetane Sorgen um die eigentliche Angemessenheil und die anti-demokratischen Wesenszüge des Amendment-Prozesses zutage. 720 Naturgemäß waren diese Bedenken stets am Ende langer Zeits pannen zu konsta715 So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P. L. Ford (ed .}, The Works ofTho mas Jefferson, Vo l. 6, 1904- 5, S. 3 ff. 71 & Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als
erstrebens\verte A lternative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren
Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Calm , An American Contribution. Supre me Court and Supreme Law, 1954, S. 25. Neben den Anmerkungen Marshalls z ur Rechtfertigung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 176 ( 1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der Verfassung als "unwieldly and cumberous machinery" in Ban·on v. Baltimore, 7. Pet. 242, 150 (1833} bemerkenswert. 717 Siehe insbesondere lV. Wi/sou, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 4 , 1968, S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für eine Fortentw icklung der Verfassung prägnant hervorhebt. m C. Tiedeman, The Unwritten Constitution of the United States, 1890, S. 43: "[the]
Hesh and blood of the Constitution [are found) in the decisions of the courts and acts o f
legislature, which are published and enacted in the enforcement o f the written Constitution." Das \Verk kann als "Klassiker'' amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden. 719 Fundierte Einblicke in das Viechseispiel zwischen Artikel V und der Rolle der Gerichtsbarkeit gibt B. Ackerman, The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1 984), S. 1013 ff.; ders., Transformative Appointments, in: 101 Harvard L. Rev. ( 1988}, S.l164ff. 720 So be ispielsweise in den Sc hriften von S. G. Fisher, der in ders., The Trial of the Constitution, 1972 (Neudruck de r Ausgabe von 1862}, S. 55 d ie berühmt gewordenen rhetorischen Fragen s te llte: "Why should they not be made by Congress, if demanded by necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified by the people. what is the difference, whether their consent be expressed by a Legis lature or by a Convention which they have elected, or before or after the aherntion be made it
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tieren-wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913-, während derer keine Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingege n in Zeiten höchster Amendment-Kreativität721 diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu vernehmen waren. 722
Die Rechtstrogen im Zusammenhang mit der formalen, gebundenen Verfassunggebung in den Vere inigten Staaten legen e inige Grundsätze des amerikanischen Verfassungsverständnisses offen. Einerseits bestimmen Gerichtshof und Kongress letztlich das "Uhrwerk" der Ve rfassung. Zeit und Verfassung findet in ihrer inneren Bedingtheit eine Kontrolle. 723 Der Gerichtshof hattrotzder selbst auferlegten Zurückhaltung allein schon in der Begründung derselben gewichtige Argumente fiir gewisse zeitliche Regelungen und Fristen getroffen. 724 Weiterhin ist die unbestrittene Aufmerksamkeit der ameri kanischen Öffentlichkeit gegenüber der grundsätz lichen Option, Verfassungsergänzungen im Zuge eines formalen Verfahrens durchzuflihren, e indrucksvolles Zeugnis ihres tief verwurzelten Engagements um einen funktionierenden "Konstitutionalismus". Dabei entspricht es einer verbreiteten Ans icht, tiefg reifende Regierungsprobleme seien gegebenenfalls durch e ine Revis ion der Verfassung zu lösen. 725 Derle i Bestrebungen stehen in einem steten Spannungs fe ld zu den ebenso "geistre ichen" Empfehlungen "moderner Madisons", die einen Verschleiß des Amendme nt-Instruments befürchten und daher gewisse vetfassungsrechtliche Fragen ohne Rückgriff auf die Verfassung lösen
'"'uld still be lhe wishes of the same people carried inlo effecl. lf the people should be dissatisfied, they ca.n say so through another Congress. lf they continue to be satisfied after the aheration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on the Constitution, as is the case in England." \Veiter bekräftigte Fislu~r, "[t]he Constitution belongs lo the people o f 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert "[i]t must and will be modified to suit the wishes of the former, by their representatives in Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament", vgl. ebenda, S. 96 f. Ähnlich später H. Croly, Progressive Democracy, 1909, 5 . 130, der Artikel V als "the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulfihnent" zu portraitieren wußte. 721 Eine Darstellung auffälliger "amendment clusters·· bietet A. Grimes, Democracy and the Amendments to the Conslitution, 1978, S. 157 f. 721 Bei J. R. Vi/e , American Views of the Constitutional Amending Process: An lntellectual History of Article V, in: 25 AJLH ( 1991 ), S. 44 ff., 67 f. findet sich eine historische Zusammenstellung aller Bedenkenträger, die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V der "Büchse der Pandora" gleichstellen. 723 Grundsätzlich zu "Zeit und Verfassung"-': P. Häber/e, Zeit und Verfassung, in: ZfP 21 ( 1974), S. 11 1 ff., wiederabgedruckt in: R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S . 293 ff. Siehe a uch ders., Zeit und Verfassungskuhur, in: A. Peisl/ A. Mohler (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 289 ff. 724 Vgl. erneut die Entscheidungen Di/lmt v. G/oss, 256 U.S . 368, 376 (192 1) und Colemanv. Miller, 307 U.S.433 (1 939). 125 \Vobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den Ansatz von R.G. Tugwell, The Ernerging Constitution, 1974.
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wollen .72• Letztlich ist es aber auch gerade den "stabilen" Gegensätzlichkeilen innerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt blieb. Die ame rikanische Bundesverfassung entspringt e iner e motional aufgeladen Stimmung Ende des I 8. Jahrhunderts und s ie lebt in der Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konftikte allein im AmendmentVerfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag. Trotz fundamentaler Umwälzungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte im gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen, eth ischen und politischen Umfeld127 erscheint das paralle le "Wachstum" der ameri kanischen Verfassung um zehn plus s iebzehn Amendments nur auf den ersten Blick dürr. Die beispielhafte Anpassungsfahigkeit der amerikanischen Verfassung hat neben der Möglichkeit der formalen Verfassungsergänzung also weitere Gründe. Die wesentlichen Veränderungen- und eben nicht lediglich Ergänzungen- s ind demzufolge auch auf anderen Wegen als dem der gebundenen Verfassunggebung durchgesetzt worden. Die Geschichte der amerikanischen Revisionspraxis zeichnet sich insgesamt und in föderativer Hinsicht durch zwei Merkmale aus: Formell wie gesehen dadurch, dass bislang alle Verfassungsergänzungen auf Vorlagen des Kongresses beruhten, die Gliedstaaten ihr Recht auf Einberufung e ines Verfassungskonvents somit noch nie durchgesetzt haben, und materiell schließlich dadurch, dass die im 20. Jahrhundert gewachsenen Kompetenzverlagerungen auf den Bund weniger e ine Folge förmlicher Anpassungen des Vetfassungstextes, sondern vielmehr Ergebnis richterlicher Verfassungsinterpretation s ind. 728 b) Europliische Union: von der Verrrags/lnderrmg z11r Verfassungs(venrags)/lnderung
Aus der vetfassungshistorischen Betrachtung der heutigen Europäischen Union ergaben sich bereits unterschiedliche Entwicklungsschritte, die verfassungsschöpfenden wie verfassungsändernden Charakte r hatten. Es drängt sich daher auch 720
Vgl. dazu auch kritisch m. w.N J. R. Vi/e , American Views of the Constitutional Amending Process: An lntellectual History of Article V, in: 25 AJLH (1991), S.44ff., 6 1 ff. 727 Einen Einblick in den Amendment-Prozess und dessen Konnexität zur amerikanischen politischen Realität gewährt R. Bernstein, Amending America, 1993. 723
Es ist daher durchaus schlüssig, dass d ie unter bundesstaatlicher Sichtweise besonders wichtigen Amendments allesamt noch vor den sogenannten .,New Deai'"-Reformen angenommen wurden: so die "Bill of Rights''. die Abschaffung der SkJaverei (13. Amendment)>das Recht auf "due process" ( 14. Amendment), die Einführung einer Bundeseinkommenssteuer ( 16. Amendment) und die Volkswahl der Senatoren ( 17. Amendment), vgl. auch mit Betonung der g liedstaatliehen Aspekte J. Amwheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, 1992, S . 220 mit Fn. 4.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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ein Blick auf die ,,gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte umfassen sol l. aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der
Verjassrmggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterscheidung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völkerrechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten, auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen Einschränkungen unterliegt. Jedoch e rlaubt es das Recht der völkerrechtlichen Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 40 I WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt. Im Übrigen: jede Vertragsänderung bewirkt zugleich eine materielle Verfas sungsänderung auf nationaler Ebene, ohne dass der Text etwa des Grundgesetzes (GG) geändert würde: Art.23 Abs. I GG verweist konsequent auf Art.79 Abs. 2 und 3, nicht aber auf Absatz I, in dem für jede Grundgesetzänderung eine ausdrückliche Änderung des Textes vorgeschrieben wird. 719 In der Supranationalen Union bestimmt sich bereits der Vetfassunggeber anders als im Staat und die Institution der Verfassung ist zunächst nicht auf einen bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber im weiten Sinne ist, wem es gelingt, Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffe nen Herrschaftsverbandes mit der Autorität e iner Verfassung im normativen Sinne durchsetzen. Im Staat soll das beispielsweise das Volk, es kann aber auch grundsätzlich ein anderer Machtträger sein. Nach T. Schmitz, ist in der Supranationalen Union hingegen die velfassrmggebemfe Gewall bei den Milg/iedstaate/1 fixiert, denn die Vetfass ung könne als die höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag) 729
Vgl. auch /. Pernice, Grundlagenpapier. Die Europäische Verfassung, I6. SinclairHaus-Gespräch, J 1./12. Mai 2001. \Venn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Europäischen Union als Gesamtänderung der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu T ÖhJinger, Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union, 1999), verdeutlicht dies, in welchem Maße allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im Verfassungstext zum Ausdruck kommen muss.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem Völkerrecht den Staaten vorbehalten.730 Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme, welche die Vetfassungsnom1en entstehen lässt, ausschließlich ihnen zuzurechnen . Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokratischen Verfassungstheorie in e inem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach dieser Darstellung nicht geben. Dieser Ansatz bedarf allerd ings e iner wichtigen Ergänzung: Eine Ausblendung bzw. Nicht- Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung ist damit keineswegs verbunden. Im Lichte der demokratischen Verfassungstheorie muss die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfas sung wenigstens weitmöglichst angenähert werden . Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre kommt es zudem auf eine entsprechend weit gehende Integrationskraft der Unionsverfassung an, um die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits bee inträchtigten Integrationsfunktion effektiv zu ergänzen. Beides würde frei lich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen, bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und Integrations kraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wäre. Einen dieser Schritte könnte neben e inem öffentlich hinreichend begleiteten Konvent e in "duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Unionsbürger über die Billigung der Unionsvetfassung und als Staatsbürger über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. 731 Sie würden dabei als Angehörige zwe ier "Völker" im demokratietheoretischen Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines "Unionsvolkes", das zwar ke in Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine politische Gemeinschaft von Menschen wenigstens flir seinen Herrschaftsverband demokratische Legitimation vermitteln kann.
730
So T Schmitz.. Integration in der SupranationaJen Union. Das europäische Organi-
sationsmodell e iner prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und Slaatstheoretischen lmplikationen, 2001, S. 432 ff. 731 T. SeJmritz (200 J), S. 440 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem .,Doppelreferendum" und schlägt weitere uSchritte"' w ie etwa eine "vorbereitende Verfassungs-
versanllnlung" deren not\vendige Unterstützung "durch eine breite öffentliche Diskussion durch flankierende Maßnahmen zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfussungsdiskussion'' gesichert würde. Solche Schritte ließen es zudem .,.sinnvoll erscheinen, zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung z.u schließen"'.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts Die europäische Rechtsetzung ist das Spiegelbild der institutionellen Ordnung der Europäischen Union. Die Organisationsstruktur der Union kann (noch) nicht als in s ich geschlossenes institutionelles System verstanden werden. Das Bild einer supranationalen Gemeinschaftsebene, die der nationalen Ebene übergeordnet ist und auf diese durch e in-seitige Hoheitsakte einwirkt, blendet die in nicht unwesentlichen Te ilbereichen weiterhin dominierende nationale Ebene aus und ist eher zu e rsetzen durch das Bild e ines interdependent-kooperativen Systems. Europäische Rechtsetzung wird durch die Kooperation der Mitgliedstaaten mit den Organen der Europäischen Union geprägt. Diese Zusammenarbeit bestimmt alle Phasen des umfassend zu verstehenden Normgebungsprozesses: Neben der vorlegislatorischen Politikformulierung sowie der Umsetzungs- bzw. Allwendungskontrolle im nachlegislatorischen Stadium besti mmt sie vor allem die Entscheidungstindung in der legis latorischen Phase und die Normpräzisie rung im Rahmen der Komitologie ("tertiäre Rechtsetzung"). Damit wird nicht nur das PrimäJTecht, sondern auch das Sekundärrecht durch die Regierungen der Mitgliedstaaten geprägt. Die überstaatliche Kooperation entspricht den Erfordernissen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der Europäischen Union. Die ursprünglichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Durchsetzung der Gemeinschaftsziele waren vorrangig auf eine Beseitigung der Behinderungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes gerichtet. Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstands werden weitere Integrationsfortschritte vor allem durch eine aktive Ausweitung gemeinschaftlicher Politikbereiche erreicht. Auf diesen Tätigkeitsfeldern gibt es entsprechend und mittlerweile fast traditionell stärkere Beharrungstendenzen der Mitgliedstaaten. Mit einer schrittweisen Reduzierung der Legislativfunktion der Komm ission nimmt das Gemeinschaftssystem Abschied von der ursprünglichen Konzeption einer spezi fischen, auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses ausgerichteten Funktionenteilung zwischen Parlament, Rat und Kommission und entwickelt s ich zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung mit einem Zweikammersyste m. Die Einbußen der Kommission verringern die Durchsetzungsmöglichkeit genuiner Gemeinschaftsinteressen und ermöglichen e ine verstärkte Einftussnahme seitens der nationalen Exekutiven auf die Organe der Gemeinschaft. An die Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten die koordinierten nationalen Partikularinteressen. Eine Rückbesinnung auf die tradierte gemeinschaftsspezifische Funktionenteilung istangesichtsgefestigter Verfahrenspraktiken weder normativ noch faktisch gangbar. In Einklang mit der konstatierten Verfassungsentwicklung und -praxis steht nur eine Lösung, welche die Interpretation des Primärrechts auf der Grundlage der tatsächlichen Entwicklung fortschreibt. Das Gemeinschaftssystem ist durch weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Ausrichtung auf e ine ebenenübergreifende Kooperation fortzuschreiben.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Dieses Ergebnis entspricht dem dynamischen Charakter des Unionsrechts. Noch stärker als die nationalen Verfassungen sind die Ve1fahrensregeln der Europäischen Union ständigem Wandel unterworfen. Ihre Ausgestaltung wird durch die vertragsändernde und vertragsergänzende Verfassungsentwicklung im Zuge der Vertragsrevisionen sowie durch die verfassungsimmanenten Formen einer gestaltenden Fortbildung fortlaufend verändert. Die Entwicklung zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung wird begleitet von dem erkennbar zunehmenden politischen Druck seitens der Mitgliedstaaten, die europäischen Rechtsetzlingsverfahren in Analogie zu den vertrauten Paradigmata nationaler Normgebungsverfahren auszugestalten. Gleichzeitig sind die Regierungen und die nationalen Interessenverbände bestrebt, die europäische Rechtsetzung intergouvernemental, also auf unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auszurichten. TI'otz der durch zunehmende Kompetenzübertragung auf die Union herbeigeftihrten zentripetalen Entwicklung bleiben die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf europäischer Ebene die zentralen Akteure. Angesichts kooperativer Steuerungsmechanismen haben ihre Regierungen verstärkt Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Gesta ltung öffentlicher Aufgaben zurückgewonnen. Unvereinbar mit dem derzeitigen Integrationsverlauf erscheint deshalbeine Sichtweise, nach derdie Mitgliedstaaten im Zuge der weiteren Integration künftig in einerneuen "staatl ichen Einheit" aufgehen oder von ihr überlagert werden. Das kooperative europäische Regelungssystem hebt den Nationalstaat nicht auf, sondern stärkt ihn letztlich. Mit zunehmender (und e igentlich wünschenswerter) Vertiefungsdebatte der Union wurde es schwieriger, die noch bestehenden Defizite in der Verwirklichung der funktionalen Grundsätze zu überwinden . Ursache waren die in vergleichbarem Maße wachsenden Befürchtungen, die Mitgliedstaaten könnten dabei zuviel von ihrer Souveränität und Identität e inbüßen. Solche Befürchtungen manifestierten sich auch in den Exekutiven der Mitgliedstaaten. Abhilfe verspricht bis heute deshalb wohl nur eine breite öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Parlamente und a ller gesellschaftlichen Gruppierungen. 732 cc) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge Fraglich war freilich, ob das Ve1fahren der Vertragsänderung flir e ine solche öffentliche Debatte Raum lässt. Die Abänderbarkeit der derzeitigen e uropäischen Verträge, die den Kern des europäischen Primärrechts ausmachen m , durch explizite Vertragsänderung ist in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder 731 So W Dix, Grundrechtecharta und Konvent- auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/200 I, S. 34 ff. 733
Nicht \Veiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen
Primärrechts.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
253
die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden Regierungs konferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten beraten und beschlossen. Sie bedlilfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völkerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. ln Deutschland bemisst sich der Ratifizierungsprozess nach Art. 23 GG. Dieses Verfahren sichert zwar den Regierungen größtmögliche Handlungsfreiheit flir die Aushandlung der Vertragsänderungen . Andererseits begünstigt es eine Fortschreibung des vertraglichen Acquis, die sich möglichst eng an den bisherigen Texten orientiert, schon um die spätere Zustimmung in den Parlamenten und Volksabstimmungen nicht zu gefahrden. Auch deshalb haben sich die vertraglichen Grundlagen der Union zu einem sehr komplexen Gebilde von Kompromiss lösungen entwickelt. Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supranationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausreichend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite politische Debatte und über die Köpfe der Parlamente und der Bevölkerung hinweg zustande gekommen . Änderungen des Primärrechts können jedoch auch m!ßerha.lb des Verfahrens nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfahren des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu nennen, welches in Gestalt derjeweiligen Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Daneben bestehen jedoch weitere Mechanismen der Änderung von Primärrecht außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang ist zwischen "vereinfachten" und "autonomen" Verfahren der Vertragsänderung zu unterscheiden."' Das sog. "vereinfachte" Verfahren unterscheidet sich von dem in Art. 48 EUV vorgesehenen regulären Vertragsänderungsverfahren dadurch, dass 734
Dazu ausführlich H.-H. Hermfe/d , in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 48, Rn. J I, mit umfangreichen Nachweisen; vgl. auch eine Ausarbeitung der \Vissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 10. 2003) im Auftrag des Ve~f
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
an Stelle einer Regierungskonferenz Vertragsänderungen durch den Rat mit einstimmigem Votum \'orgenommen werden. Ein mitgliedstaatl iches Ratifizierungserfordernis nach den jeweiligen Vorgaben der nationalen Verfassungen besteht jedoch auch im Rahmen dieses Verfahrens."' Demgegenüber fehlt es an diesem Ratifizierungserfordernis im Rahmen des .,autonomen" Vertragsänderungsverfahrens, das ei ne- in der Regel vom Rat einstimmig auszuübende- Vertragsänderungsbefugnis der EU-Organe, zumeist flir technische Anpassungen, vorsieht. 736 Das EU-Recht kennt hinsichtlich der gemäß Art. 48 EU-Vertrag vorzunehmenden Abänderung von Primärrecht keine vergleichbaren inhaltlichen Schranken, wie s ie etwa flir den deutschen (Verfassungs -)Gesetzgeber bzgl. der Abänderungsmöglichkeiten des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt s ind. 737 Dements prechend s ind die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Verträge frei, ohne inhaltliche Begrenzungjede Art von Änderungen oder Ergänzungen der Verträge, auf denen die Union beruht, vorzunehmen. Gleichwohl wird im Schrifttum der Standpunkt vertreten, es gebe einen (ungeschriebenen) änderungsfesten Kern des Unions- bzw. Gemeinschafts rechts. Dazu werden etwa die in der Union zugrunde liegenden Strukturprinzipien des Bekenntnisses zu den Menschenrechten und zu Demokratie und Rechtstaatlichkeil gezählt. '"' Nicht hierzu zählt aber etwa der bereits erreichte Stand der Integration. Eine .,Umgehung" der genannten ausdrücklichen Vertragsänderungsverfahren durch implizite Vertragsände rungen hält der EuGH nach ständiger Rechtspre735
Beispielhaft seien an dieser Stelle die fo lgenden Anwendungsgebiete dieses Verfahrens genannt: Art. 17 Abs. I EUV (Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik); Art. 42 EUV (Überfuhrung von Te ilen der bisherigen dritten Säule des EUV in den EG-Vertrag); Art. 190 Abs. 4 EGV (einheitliches Wahlverfahren für das Europäische Parlament); Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft). n& Hierzu zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assoziierung); Art. 213 Abs. I (Änderung der Zahl der Kommissionsmitglieder); Art. 245 Abs. 2 (Ände rung der Satzung des EuGH); Art. 7 Abs. 3 EUV (Aussetzung des Stimmrechts bestimmter Mitgliedstaaten); Art. 67 Abs. 2 (Übe rgang von der Einstimmigkeit zur qua lifizierten Mehrheit im Bereich Jus-tiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen \Veiteren Anwendungsgebieten dieses Verfahrens nur d ie Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 12. 737 H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffe rt (Hrsg.), Ko mmentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. AuH. 2002, Art. 48 EUV, Rn. 4 , mit ausfUhrliehen weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum.
"' ln diesem Sinne m.w. N. C. Vedder/ H.P. Folz, in: E.Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht de r Europäischen Union, Kommentar, 2003 (Stand: 21. Erg. Lieferung), Art. 48, Rn. 20, die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfassungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso. allerdings mit abwe ichender Begründung H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 8, der d ies damit begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten gemeinsa.me, ihrer Verfügungsgewalt entzogene Grundsätze auch dem Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt \verden (in diesem Sinne auch 111 Meng, in: H. von der Groeben/ J. Thiesing/C.D. Ehlermann (Hrsg.), Ko mmentar zum EGV /EUV, 5. AuH. 1999, Art. N, Rn. 59 f).
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chung für ausgeschlossen. Danach seien Änderungen der Verträge grundsätzlich nur im Wege der vertraglich vorgesehenen Änderungsverfahren möglich.739 Nach dieser Auffassung ist e ine implizite Änderung der Verträge, etwa durch konkludenten, gleichzeitig mit einem Organakt von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Änderungs vertrag oder durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht, selbst bei e inem Einverständnis aller Mitgliedstaaten nicht möglich." 0 Daneben kommt auch eine implizite Abänderung von Vertragsvorschriften durch bloßes Organhandeln, wie etwa durch e ine schlichte Praxis des Rates nicht in Betracht." ' Demgegenüber soll nach überwiegender Auffassung im wissenschaftlichen Schrifttum die ausdrllckliche Änderung bzw. Aufhebung von Primärrecht durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich auch außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV möglich sein."' Diese Befugnis der Mitgliedstaaten folgt aus ihrer Eige nschaft als "Herren der Verträge" und der Tatsache, dass das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nach wie vor auf den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beruht. Aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeil aller Akte des Völkerrechts wäre demzufolge eine Abänderbarkeit dieser Verträge auf die dargestellte Art und Weise grundsätzlich möglich. Gle ichwohl greifen auch bei derartigen, außerhalb von Art. 48 EUV erfolgenden Änderungen von Primärrecht die verfassungsrechtlichen Ratifizierungsanforderungen an den jeweiligen völkerrechtlichen Änderungsakt, so dass s ich an der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnis der nationalen Parlamente in diesem Fall nichts ändern würde.
739
EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, rn. 56158 (Defmme/Sabena); vgl. hierzu auch H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 16. " 0 Dazu a usfUhrlieh H. .J. Cremer, in: C. Calliess/ M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auft. 2002, Art. 48 EUV, Rn 4 f. Anders aber BVe rfGE 68, I (82), das eine konkludente Vertragsänderung durch einen sonstigen Änderungsvertrag
fUr möglich hält. I. Seidl-Hohem•eldem, Völkerrecht, 8. Auft. 1994, Rn. 529 hält auch e ine nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Ge,vohnheitsrecht flir denkbar.
"' In d iesem Sinne EuGH Rs. 68/86, Slg. 1988, 855, Rn. 24 (Vereinigtes Königreich/ Rat). 142
Diese völkerrechtlich wirksam e Vorgehensweise kann aber zu einem KonHikt mit Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht fUhren. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich kom-
plexen Debatte nur C. Vedderl H.P. Falz, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, 2003 (Stand: 21. Erg. Lieferung), Art. 48, Rn. 46 ff. So auch etwa H.-J. Cremer, in: C . Ca.lliess/ M . Ruffert (Hrsg.), Kommentar z.u EU- Vertrag
und EG-Vertrag, 2. Auft. 2002, Art. 48 EUV, Rn. 5; differenzierend aber H.-H. He mifeld, (2000), Art. 48, Rn. 16, der eine (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt, das Verfahren des Art. 48 EUV zu respektieren. Die allgemeinen Regelunge n des Völkerrechts sollen demgegenüber durch Art. 48 EUV verdrängt \VOrden sein. Jedoch stehe dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Übereinkunft von dieser SelbstverpHichtung zu lösen.
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Zusammenfassend kann deshalb festgehalten werden, dass alle bisherigen, expliziten oder impliziten Verfahren der Änderung von Vertragsprimärrecht, sieht man einmal von den beim Ve1fahren der "autonomen" Vertragsänderung geltenden Besonderheiten ab, durch ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis ftankiert werden. dd) Verfassungsänderung nach dem Verfassungsvertrag -die neuen Verfahren Ein Schlüssel dafür, ob e ine e uropäische Verfassung auf Dauer handlungsstei gernd sein wird, liegt in dem Mechanismus, der flir künftige Verfassungsänderungen gefunden wi rd. Verfassungsergänzungen werden unvermeidlich sein und sind fraglos Ausdruck einer gewissen Normalität. Hierftir werden aber in Zukunft nicht mehr einstimmige Totalrevisionen erforderlich sein. Verfassungsergänzungen und Verfassungsänderungen im Sinne amerikanischer Amendmems könnten im Prinzip mit qualifizierter Mehrheit möglich werden. Die Ausnahmetatbestände, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, sind selbstredend. Aber nur mit Hilfe e iner klaren Trennung von fundamentalen und eher technischen Fragen der Ve1fassungsentwicklung kann europäische VeJfassungskontinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen E1fahrungs- und Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach Art. JV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wi rd die Konventsmethode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeflihrt. Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen , den Konvent nicht einzuberufen, "wenn seine Einberufungaufgrund des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist." Obschon am Ende wiederum eine Regierungskonferenz stehen soll , " um die an dem Ve1trag wahrzunehmenden Änderungen zu vereinbaren", ist der vorgesehene Modus für Verfassungsergänzungen e ine bedeutende Stärkung des föderalen Unionsprinzips, sofern der Europäische Rat am Ende im Normalfall mit quali fizierter Mehrheit entscheiden kann. Jedenfalls darf Zwang zur Einstimmigkeit bei künftigen Verfassungsergänzungen nicht die faktische Unveränderbarkeil der Verfassung in e iner Europäischen Union mit 27 oder mehr Staaten bedeuten, so als müsste dem derzeit möglichen Verfassungsergebnis e ine Ewigkeilsgarantie gewährt werden.
(I) Das Fiinfswfenmode/1 des VerfassungsverTrages Durch den Verfassungsvertrag wird eine fünfgliedrige Verfahrenskette zur Änderung und Anpassung des gesamten Vertrages sowie e inzelner verfahrensrechtlicher und substantieller Aspekte normiert: '"
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Die erste Stufe bilden nunmehr zwei "ordentliche" Verfahren zur Änderung des Verfassungsvertrages gemäß Art. JV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei Varianten, wobei in der ersten Variante "Konvent plus Regierungskonferenz" der Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, soiite der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschließen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im "Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz abzugeben. In der zweiten Variante ,,Regierungskonferenz ohne Konvent" kann der Europäische Rat jedoch mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten, wenn das Konventsverfahren aufgrund "des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist". Für den Faii, dass die Zustimmung des Europäischen Parlaments hierzu vorliegt, wird auf der Grundlage eines Mandats des Europäischen Rates eine Regiemngskonferenz zur Prüfung und zu etwaigen Änderungen des Vertrages e inberufen. Verweigert hingegen das Parlament die Zustimmung, hat die Regierungskonferenz auf der Grundlage der dann im Konsensverfahren von einem Konvent angenommenen Empfehlungen zu arbeiten. Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. JV-444 VerfV die Re gehl fiir ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen s ich zwei "Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne notwendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern: So kann der Europäische Rat zum e inen in Bereichen, in denen der Rat nach den Bestimmungen des Verfassungsvertrages e instimmig entscheiden muss, e instimmig ei ne Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen Gesetzgebungs-, sondern nach "besonderen Gesetzgebungsvetfahren" annimmt, e instimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das "orde ntliche Gesetzgebungsverfahren" zu überfUhren. Beide genannten Beschlüsse unterliegen freilich der Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie einem Vorbehaltsrecht der jeweiligen nationalen Parlamente. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren scheitert, wenn auch nur e in e inz iges nationales Parlament innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung e iner ents prechenden Vertragsänderungsinitiative sein Veto e inlegt. Ailerdings entfällt im Gegenzug die Verpflichtung zur Ratifikation der Vertragsänderungsbeschlüsse. 743 Vgl. A. Maure1~ Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungsermächtigungen der Organe, S\VP-Diskussionspapier, 2005.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Art. JV-444 VerfV findet seine weitgehende Entsprechung in der Passerelle innerhalb der ehemaligen, durch den Maastrichter Vertrag festgelegten Justizund Innenpolitik (Art. 42 EUV): Durch dieses Ve1fahren wird die Möglichkeit eröffnet, über e inen längerfristigen Zeitraum auch diejenigen Politikfelder und Bereiche in die qualifizierte Mehrheit zu übertragen, bei denen es im Konvent bzw. in der Regierungskonferenz (zum Teil erwartbar) nicht gelunge n ist. Durch die Einstimmigkeit der Übergangsentscheidung behält somit jeder Staat die Entscheidungshoheit über diesen s ignifikanten Schritt. '"' Der Verfassungsvertrag s ieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß Art. JV-445 VerfV der Europäische Rat eine "Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen von Teil lU Titel III erlassen" kann. 745 De r entsprechende Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über e in Vetorecht. Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen, weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertrags änderungen nicht zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen. Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder de r Rückgriff auf das ordentliche Vertragsänderungsverfahren vonnöten. Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1- I8 VerfV schließlich e ine Bestätigung der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung bereits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen, obgleich "ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festge legten Politikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat e instimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Maßnahmen e rlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags gestattet Art. 1- I8 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzelfall begrenzte Präzis ierung bzw. Befugniserweite rung der Union. Hieraus ergibt s ich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht 7 ~ Andererseits stellt die PassereUe als Befugniserweiterung des Europäischen Rates einen Schritt dar, der die institutionelle Balance zwischen den Organen Parlament, Rat
und Kommission deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert.
ln der Umsetzung von Art. JV-444 werden sich daher wohl auch grundsätzlichere Fragen der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen, vgl. a uch A. Maurer (2005), S. 25. 745 Diese Formulierung bezieht alle intemen Politiken der Union vom Binnenmarkt über die \Virtschafts-, Währungs-, Innen- und Jus-tizpolitik bis hin zur Gesundheits- und Bildungspolitik mil ein.
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gedeckt ist. Ausgenommen s ind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgl iedstaaten abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmungjedwede Harmonisierung ausschließt. Demzufolge s ind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen, die auf eine Harmonis ierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-, Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden."• Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so genannte " Notbremsen" flir die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimmte r Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass e in Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbehalt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat "die Kosten oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III- 136.2 VerfV). Auch im weiten Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Ratsvorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg flir eine Konsenslinie zwischen jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtlichen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten . Der Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechtsakt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber die Kommission um die Vorlage e ines neuen Vorschlags e rsuchen. Jeder Staat, der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner Strafrechtsordnung flir unvereinbar hält, verfUgt im Bereich der Strafrechtszusammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende Ratsverfahren zu stoppen. 747 Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Frage befassen und innerhalb ei ner Frist von vier Monaten e ntscheiden . Lässt sich analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen, kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit e ingeleitet werden, an der s ich mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerN). Im Bere ich der sozialen Sicherheit zeitigt die " Notbremse" wohl keine weiteren Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration ."' Dahingegen eröffnet das Vetovetfahren in der Strafrechtszus ammenarbeit de facto e ine Fort-
,.. Dazu A. Maurer (2005), S. 26. 747 Art.lll -270.3 VerfV. 743 Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den ,,Rückbau" der Integration sanktionieren.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
entwicklung dieses Politikfelds unterhalb der Schwelle der Vertragsreform. Mit Blick auf beide " Notbremsen" mag sich die Unbestimmtheit des Verfahrenszeitpunkts als problematisch erweisen. So wird es sich gegebenenfalls nur im Rahmen e ines Interinstitutionellen Abkommens zwischen Europäischem Parlament und Rat klären lassen, ob Staaten die ,,Notbremse" in jeder Phase des Gesetzgebungsverfahrens oder nur in einer bestimmten Phase der rats internen Vorabstimmung ziehen dürfen.
(2) Gemeil!schaftsmuonome Verfassungsttndenmg betreffend einen Übergang in die Mehrheitsemscheidung Der Europäische Rat entscheidet nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages künftig ohne Ratifikationserfordernis, ob für einen Politikbereich zur Mehrheitsentscheidung übergegangen wird. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen nur unterrichtet werden. Damit wird die Stellung von Deutschem Bundestag und Bundesrat erheblich geschwächt, da das in Art. 23 GG bei Hoheitsübertragungen vorgesehene 2/3-Erfordernis entfallt. Die Parlamente und insbesondere die Opposition werden dadurch nicht unerheblich geschwächt. Dies ist besonders problematisch, wenn die s ich aus der betroffenen Rechtsgrundlage ergebenden Kompetenzen nicht klar abgegrenzt sind.
2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte "In the perfonnance o f assigned constitutional duties each branch of the Government must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any 49 branch is due great respect from the others."'
Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der aller Verfassungsorgane bei der zweiten .,Alternative" der Einftussnahme auf die Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können. Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden als man letztere zum Gegenstand der Tätigke it bestimmt. Gilt es nun e ine verfassungs rechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifels frei mittels der Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich. Die spezifische .,Gestimmtheit des Vetfassungs rechts" (K. Stern) fUhrt zu Besonderheiten bei der Interpretation. "We must never forget that it is a constitution we are expounding", hat der Supreme Court der USA bereits I8I9 dekretiert. "" ,.. United Sta tes v. Nixon, 4 I 8 U. S. 683, 703 (I 974). 750 M cCul/och vs. Maryfa11d 17 U.S. 3 16 (407). Der Richte r hat innerhalb des Interpretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten
Fall löst. Hierfür steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur Verfügung,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Demgemäß hat sich die Wissenschaft seit langem bemüht, "Prinzipien der Verfassungs interpretation" - so das Thema der Freiburger Tagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer von 1961 - herauszuarbeiten, wie überhaupt e in Großte il der jüngeren Arbeiten zum Thema Aus legung der Verfassungsauslegung gewidmet sind. 751 Dabei wird erschöpfend die "Komplexität der lnterpretationsaufgabe" oder ihre "Unerschöpflichkeit", der sich jede Epoche unter ihren jeweiligen Bedingungen neu zu stellen hat, betont. Unzweifelhaft führt vor allem die Rechtsbildung zu Spannungen, zuweilen auch zu Konflikten, zwischen den nach der Gewalte n- und Funktionenordnung der Verfassung zur generellen Rechtserzeugung berufenen Parlamenten und den Verfassungsgerichten. Vielfach wird etwa die Besorgnis zu zunehmender Nebenordnung und Annäherung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung betont. Dahinter steht eine dem angelsächsischen Rechtskreis vertraute Tendenz, Gesetzesrecht und Richterrecht zunehmend als s ich wechselseitig ergänzende, arbeitstei lige Modalitäten im Rechtsfindungsprozess zu sehen.
die mit den Stichworten )VortJaut der Norm'"~ "\Ville des Gesetzgebers~· und "Te leologie'' angedeutet sei, insbesonde re durch die ,~Rechtsvergleichung" anzure ichern ist ( P. Häberle). Noch immer g ilt der klassische Ansatz von Savigny. wonach Auslegung "die Re konstruktion des klaren oder unklaren Gedankens ist, der im Gesetz angesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar is-t." Die Aufgabe des Richters, Recht zu sprechen, verbietet ihm grundsätzlich, d ie Entsche idung einer Streitfrage z u verweigern. Dieses insbesondere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung (.,deni de justice") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfa lls fortzuentwickeln und Lücken z u füllen, e twa durch Analog ien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst. Sc heint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, d ie dem gesetzten Recht untenvorfen sind, zugleich d ie Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortz.ubilden und damit in gewissem Sinne selbst die Nonnen zu schaffen, an d ie sie gebunden sind . Diesen Zwiespalt brachte der Richter am US-Supreme Court Hughes treffend auf den Punkt: "We, the judges, we are under the constitution, but the constitution is, what the judges say, it is'' (zitiert nach en.thinkexis-t.com/quotation/we_are_under_a_constitutionllbut_the_constitution/158023.html). De r Richter war- entgegen der Forderung von Montesquieu- in Europa niemals lediglich "Ia bouche qui prononce les paroles de Ia loi"(der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb die Kompetenz des Richters z ur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis. Anders im angelsächsischen Recht. 751 Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Dars-tellung bei P. Häberle, Europäische Verfssungslehre, 4. AuH. 2006, S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene Analyse des Themenfe ldes. Zu den "Prinzipie n der Verfassungsinterpretation" ders., ebenda, S. 258 ff. Siehe a uch K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. AuH. 1995 (Neudr. 1999}, S. 19 ff.; R. Dreier/ F. Sclnvegmmm (Hrsg.), Probleme der Verfuss.ungsinterpretation, 1976.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung."' Sie ist ein ebenso unentbehrliches und- in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen"' - auch allgemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde'"), birgt aber durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen . Unrichtig ist es allerdings anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde de r Handlungsspielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist s ich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfassungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhaltenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bi ldenden Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten ; nur die eine- verfassungswidrige- Lösung bleibt ihm verwehrt.
a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsimerpretmion Die j uristische Hermeneutik teilt grundsätzlich die Probleme der allgemeinen Hermeneutik"', die vor allem in der Frage kulminieren, ob das Sinnverstehen ein rational kontrollierbares, intersubjektiv prüfbares Verfahre n ist. K. Hesse sieht "' Dazu e twa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, I. Bd., 2. Aufl. I 984, § 4JH 8 d, S. I 35 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts de r Bundesrepublik De utschland, 20. Aufl. I 995, Rdnr. 79 ff., jeweils m. w. N. "' Vgl. a uch BVerfGE 54, 277 (299 f.). 754 Justice Brandeis in seiner Dis.senting Vote zu Aslnvander v. Tennessee Va/Jey Amlw l'ity, 297 US 288, 346 ff.( I 936). 755 Eine ,,allgemeine Hermeneutik'' als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften ist im 19. Jahrhundert insbesondere von F. D. E. Schleiermacher und \V, Dil1hey entwickelt 4
worden>vgl. F. D. E. Scltleiermache,.>Hermeneutik (hrsg. von H. Kimmede), 2. Auß. 1974;
W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schrifte n, Bd. 5, 7. Aufl. 1982; das., Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft,, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 7, 7. Aufl. 1979. Der Einfluss beider reicht bis in die Gegenwart (M. Heidegge~; R. Bulrmann. H.-G. Gadamer, E. Betri, G. Ebeling). Die Differenz zwischen Methodologie, d. h. als KunstJehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretandi) und
Strukturtheorie als Lehre vom Zusammenhang zwischen Zeichen Bedeutung (signum et res) spiegelt sich in der jüngeren Hermeneutikdebatte vor allem bei Gadame,. und Beui. Die lange Jahre geführte Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geisteswissenschaftlicher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische \Vissenschaftstheorie das Problem des Sinnverslehens in ihre Überlegungen einbezieht. Die Theorie der Interpretation (seit dem 15. Jahrhundert nach dem griechischen EPJ.l11VEru€LV
"Hermeneutik'' genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt J. Schröder, Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850, in: ZNR 2002, S .52ff.) und spielte eine gewichtige Ro lle in der Theologie (als Lehre vom vierfachen Schriftsinn- sensus litteralis, allegoricus, moral is und anagogicus, vgl. T, v.Aquin, Summa theologiae I, I q. JO- die Idee eines "Auslegungskanons" war demnach früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst seit Schleiermacher diskussionswürdig). Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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demgemäß idealtypisch die Aufgabe der Verfassungs-Interpreta tion zutreffend darin, "das verfassungsmäßig ,richtige' Ergebnis in einem rationalen und kontro llierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begtünden und auf diese We ise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu schaffen- nicht etwa nur, um der Entscheidungwillen zu entscheiden."" 6 Eine Einschätzung, die "transatlantisch" Geltung beanspruchen kann, wenngleich ihrer Umsetzung kaum nachgekommen wird."' Die Suche nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungs interpreta tion mündet oftmals zwangsläufig in einer Katalogis ierung von Schlagworten 758, die nicht falsch sein müssen, denen jedoch in der Regel das verbindende Element, eine Ummantelung der begrifflichen Nacktheit fehlt. Dabei könnte möglichetweise ein kulturwissenschaftlicher Ansatz einen Rahmen bilden, um differierend anmutende Zielsetzungen und Aufgabenste llungen ebenso einer übergeordneten Sichtweise unterzuordnen wie dies im Kontext verschiedener methodischer Ansätze bereits vorgenommen wird 759 • Unter dem Strich ist dabei eher e ine ftuchtbare Ergänzung und weitere Auskleidung des Kulturbegriffes zu erwarten als e in ungeordnetes Nebeneinander wirrer Termini unter e iner vagen Bezeichnung. Eine Betrachtung der möglichen lnterpretations-"Objekte" legt die Vie lfalt j uristischer Hermeneutik offen. Grundsätzlich finden sich so vie le Arten der Interpretation wie es Rechtsquellen gibt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht in erster Linie die Verfassung als "Quelle interpretatorischer Tätigkeit" und die obersten Gerichte der Vereinigten Staaten bzw. der Europäischen Union respektive der Europäischen Gemeinschaften. Wie am Beispiel der Vereinigten Staaten bereits illustriert ist die - in der Regel in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixierte- Verfassung konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutional ismus entspringt u. a. den bieten der Versuch einer \Viederbelebung der Affektenlehre durch H. Kretzsclunar sowie A. Seherings Deutung der Musik L. v. Beethovens. 75& K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auß. Neudr. 1999, S . 21. 757 Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungswirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda. 753 So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer Aufzählung von P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auß. 1998, S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit, Billigkeit, lnteres.senausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis, Vernünftigkeit, Praktikabilität, Sachgerechtigkeit, Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Transparenz, Konsensfdhigkeit, Methodenklarheit, Offenheit, Einheitsbildung, Harmonisierung, normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive g rundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gerechte ("gute") öffentliche Ordnung. 759 Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage 1998, S. 227: "Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, was kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinterpretation einen Rahmen flir die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten."
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
großen " Revolutionen" des ausgehenden 18. Jahrhunderts . Seitdem hat die " Konstitutionalisierung der Herrschaft" (D. Grinun 160) in unterschiedlicher Gestalt der historisch-politischen Welt ihre Prägung verliehen und darüber hinaus im Z uge der Globalisierung der Politik und der Ausbreitung mancher Aspekte der Verfassungslehre die nicht-westlichen Gesellschaften erfaßt. Seiner Grundidee nach drückt sich im modernen Begriff der Verfassung dort, wo sie als "Ordnung des Politischen" ( U. K. Preuß161 ) konzipiert wird, der zentrale Sinngehalt der politischen Kultur aus. Unter diesem Aspekt kommt der modernen Verfassung e ine doppelte Funktion zu: ihrer symbolischen Funktion entsprechend deutet und normiert sie die Ordnungsgehalte der politischen Kultur der Gesellschaft. Ihrer instrumentellen Funktion entsprechend liefert sie das Spielregelwerk flir die politischen Prozesse des politischen Systems. 762 A ls quasi-kanonischer Text steht sieeinmal flir eine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existe nz mit e inem verbindlichkeitsfordernden Geltungsans pruch. Zum anderen ist sie Kristallisationspunkt flir einen permanente n hermeneutischen Prozess der Auslegung der durch s ie verbürgten Prinzipien im Medium der politischen Deutungskultur der Gesellschaft. Ein weitreichender wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungshenneneutik ist vorläufig nur in den Vereinigten Staaten und neuerdings auch in Kanada aufgenommen worden. 76' Er bewegt sich "Toward a Constitutional Hermeneutics"
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Vgl. D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt 199 1. Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ,,Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, 1994". 162 Eine "Hermeneutik des Po litischen" bewegt sich auf zwei Ebenen. Analytisch ist sie eine empirisch-hermeneutische Theorie. Sie analysiert die soziokulturellen Ordnungsgeflige auf die ihnen unterliegende Ordnungslogik hin und versteht das durch die Pluralität von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstverständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen Theorie spiegelt sich wiederum der anthropolog ische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden \Vesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretationen in einem sehr grundsätzlichen Sinn der fundamentalen menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen derhistorisch-sozialen Lage ein. Z\veitens bauen auf einer solchen Grundhermeneutik des Menschlichen eine Vielzahl von Deutungen jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specificum einer solchen Henneneutik des Po litischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur, insofern sie Ausdruck des Ringens um das Deutungsmonopol für die politische Kultur {die "Wahr17eit" der Gesellschaft}, dessen Durchsetzung und Aufrechte rhaltung ist. Das Medium der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesellschaft. Die machtgestützte Hermeneutik des Politischen und deren Manifestation in der politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftliche Stabilität, andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt. Das Deutungsmonopol der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser Thematik ausführlich J. Geblwrdt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in: der>. (Hrsg.), Ve rfassung und politische Kultur, 1999. 761
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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(G. Leyh) 764, wie sie s ich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden "interpretists" und verfassungsgestaltenden ,,noninterpretivists" niederschlägt 76' und in einen weiteren hermeneutischen Zusammenhang von "katholischen" und "protestantischen" Interpretationsschemata erstellt wird 766• In diesen naturgemäß stets politisch aufgeladenen Debatten zeichnet s ich das Problemfeld einer vergleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik 767 in den mit verfassungsrichterlichem Prüfungs recht ausgestatteten Politien etwa der USA, Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frankreichs ab, wobei in einigen Ländern in der Rechtsaber auch Politikwissenschaft vordergründig ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeitbehauptet wird. Insgesamt hat s ich e ine in sich kontroverse Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die auch unter modernen kulturhermeneutischen 768 Vorzeichen zu analysieren wäre. 76• Dieser Untersuchung vorgelagert ist jedoch die Frage, ob es tatsächlich die Inhaberschaft eines Interpretationsmonopols geben kann- einen interpretatorischen 763 Siehe H. Beiz, Constitutional and Legal History in the 1980s: ReHections on American Constitutionalism, in: 4 Benchmark ( 1988), S. 243 ff.; M.A. Graber, Why Interpret? Politica1Justification and American Constitutionalism, in: 56 The Review of Politics ( 1994), S. 4 15 ff. Zuramerikanischen Verfassungskultur aus dem deutschen Schrifttum J. Gebhard1, Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den USA, in: Akademie fli r politische Bildung (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, 1987. 764 G. Leyh, Toward a Constitutional Henneneutics, in: 32 American Journal of Political Science ( 1988), No. 2, S. 369 ff. 765 Vgl. P. Kommers, The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judic ial Review, in: 47 The Review o f Politics (1 985), No. 3, S. 113 ff. 76& Dazu H. Levinson, Constitutional Faith, 1989. 767 Hierzu g ibt es Ansätze bei J. Gebhardrl R. Schma/z-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation> 1994 und im Gesamtwerk P. Häber/es. Bedeutsam vor allem das \Verk von D. N. MacCormick IR. S. Summers. lnterpreting Statutes: a Comparative Study, 199 1. 763 Es grenzt an eine Tautologie, von "Kulturhermeneutik'' zu sprechen, da Hermeneutik immer mit "Kultur" zu tun hat:: zum einen sind ihre Gegenstände zweifellos Erzeugnisse kultureller Praxis, anfangs vor allem religiöse, juristisch-politische und philosophische Texte. Zweitens stellen henneneutische Bemühungen ihrerseits ein kulturelles Phänomen dar, oft direkt in kulturelle ReHexivität einmündend. Drittens zielt Hermeneutik stets auf kulturelle Praxis, auf die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen, meist auch räumlich und zeitlich getrennten kulturellen Dokumenten sowie zwischen deren Verfassern. Zum Begriff der "Kultur'" sehr detailliert P. Häberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2 . Auflage 1998, S . 2ff; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, J980, S. 13 ff.; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders.. Kulturstaatlichke il und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. I, 27 ff., jeweils mit zahlreichen Nachwe isen \VeiterfUhrender Literatur. 76• Diese Forderung emebt auch J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus ( 1987). Im vollausgebildeten Konstitutionalismus wird gebetsmühlenartig die Frage des verfassungsgerichtlichen Interpretationsmonopols behandelt, so wie es sich scheinbar in den USA herausgebildet haben soll.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Alleinanspruch über Verfassungsbestimmungen, die wegen ihres besonderen Charakters nicht allein durch "schlichte" juristische Interpretation etwa im Sinne des Savignyschen Kanons zu erschließen sind, die aufgrundder normativen, materialen und funktionalen Besonderheiten des Verfassungsrechts e inen "Kunstgriff' erforderlich machen, der in der deutschen Verfassungslehre weith in als "Konkretisierung" bezeichnet wird. 170 Einer solchen Konkretisierung bedarf es im Verfassungsstaat namentlich bei den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien, wie Demokratie, sozialer Rechtsstaat, Bundesstaat und Gewaltenteilung, bei nahezu allen Grundrechten, schließlich bei Staatszielbestimmungen. Rechtsvergleichend lässt sich dieser Gedanke auch auf andere Verfassungsstaate n übertragen, wobei die Konkretis ierungsaufgabe für das Verfassungsrecht zunächst auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Letztentscheidungsfunktion "fok ussiert" scheint. A lso doch insgesamt ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit? Mitnichten, selbst wenn man einer Letztentscheidungsfunktion monopolähnliche Strukturen nur schwer absprechen kann. Gleichwohl wird die richterli che Entscheidung durch vorhergehende Interpretationen anderer Teilnehmer am "Verfassungsleben" wesentlich mitbeeinflusst P. Häberle spricht zu Recht von einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" und bezieht in die Prozesse der Verfassungs interpretation "potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen" ein. 771 Häberles Gedanke wird in den Vereinigten Staaten zwar bislang (noch) nicht unverhohlen rezipiert, findet jedoch zunehmend theoretische Entsprechungen. 772 So formuliert etwa W Murphy treffend: "A final definitional matter is important, especially for Americans who o ften assume that judges have a monopoly on constitutional interpretation. ln fact, however, even in a constitutional democracy with a constitutionaJ text and j udicial review, all public offleials sometimes interpret - and properly if not always conrectly so- the constitution. Not only j udges but also legislators interpret when they resolve constitutional doubts for or agains-l a bill as do executive offleials when they decide they ca.n, or cannot, consistently with their oaths of office carry out a particular Public policy. Even police officers engage in constitutional interpretation when they decide they can or cannnot arrest and I or search a suspect. Moreover> Ieaders of interest groups frequently offer
n o Vgl. etwa H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungs recht, Völkerrecht, 197 1, S. 340. m Siehe P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage 1998, S. 228 ff., 229. Grundlegend ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpre ten, in: JZ 1975, S. 297 ff., auch in: ders., Verfassung a ls öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998, S. I55 ff.; vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess - ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998, S. 121 ff. n z Freilich im \Vesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: "Unter einem freundlichen Ausleger mein• ich den, welcher in einem fremden Buche seine eigne Meinung, obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt'', vgl. ders. , Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 18 17.
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interpretations of the cons-titution, both to advance and defend their goals. Indi vidual voters can also join in the interpretive process by taking the time before casting their ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates• platforms.''m
Einige Beispiele außergerichtlicher Verfass ungsinterpretation sollen die Geltungskraft dieser Aussage diesseits und jenseits des Atlantiks unterstreichen. 186 1 setzteA. Uneobi e inen Markstein interpretatorischer Tätigkeit außerhalb des obersten Gerichtshofs als er feststellte: "1 hold, that in contemplation of universal law, and of the Constitution, the Union of these States is perpetuaL"m Diese Auslegung war freilich nicht vollends abwegig, allerdings zu jener Zeit weder offensichtlich noch unbedingt allerorts populär. Da das Verfassungsdokument Ullco/11s Sätze textlich nicht explizit zu stützen wußte, soll erneut die Präambel der Verfassung in Erinnerung gerufen werden, in der es unter anderem heißt"[ ... ]in Order to form a more perfect Union[ ... ]". Es ist also weder von e iner allein " perfect" geschweige denn von einer "perpetual Union" die Rede.ns Das zweite Exempel mag ungewöhnlich erschei nen und doch ist es Abbild verfassungsinterpretatorischer Tätigke it Im Jahre 1936 wirkte die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung als "Verfassungsinterpret" als sie entgegen massiver m 111 F. Murplry, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation, I999-2000 Harry Eckstein Lecture. Princeton 2000, www.democ.uci.edu/democ/papers/murphy.htm. Siehe auch W F. MurphylJ. E. Fleming I S.A. Barber, America.n Constitutional Interpretation, 2"' ed., 1995, Part JU: W F. Murplry, Who Shall Interpret the Constitution?, in: 48 Review of Politics, 1986, S. 40 I ff.; ders. , Constitutions, Constitutionalism, and Democracy, in: D. Greenberg/S.N. Katz/M.B. Oliviero/S.C. Wheatley (eds.), Constitutionalism and Democracy, I993, S. 14 ff. jeweils mit weiteren Nach\veisen. Entsprechend seines Einsatzes für eine "representative"' und gegen eine "constitutional democracy" Demokratie tendiert etwa R.A. Dah/ zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgebenden Körperschaft, die sich einer Prüfung lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe. Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf der \Vahlprozesse zu gewährleisten "for an independent body to strike down laws that seriously darnage rights and interests that[,] while not extemal to the democratic process[,] are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989, S. 191. Ähnlich M. Walzer, Philos<>phy and Democracy, in: 9 Political Theory ( I98 I), S. 379 ff. 397: "The j udges must ho ld themselves as closely as they can to the decisions of the democratic assembly, enforcing first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and protecting its members from discriminatory legislation. They are not to enforce rights beyond these unles.s authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der Richterschaft zu po litischen Entscheidungen erleichtert jedoch in der Regel die Rechtfertig ungjeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J. H. Ely, Democracy & Distrust, 1980. m A. Lincoln, First Jnaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), The Collected Works o f Abraham Lincoln, Yol. IV I 953, S. 262 f. ns Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincob1s Interpretation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im Grunde Lügen. Die Nation, die letztlich aus diesem Konflikt erwuchs, wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr oder weniger) "united states" vor dem Bürgerkrieg auf.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
höchstrichterlicher Ablehnung der "New Deal" -Gesetzgebung dem amtierenden Präsidenten F. D. Roosevelr mit einem Erdrutschs ieg bei den Wahlen (46 von 48 Staaten Zustimmung) erneut ins Amt ''erhalf. Auch H . Kohls entschlossener Griff nach dem Stundenzeiger historischer Zeite nwenden im Jahre 1990 muss als bedeutender Beitrag zur Interpretation einer Verfassung e rachtet werden. Die Entscheidung, die Wiedervereinigung und Aufnahme neuer Bundesländer unter die damalige Fassung von Artike l 23 GG zu legen, war e in interpretatorischer Vorgang, der es allen Beteiligten ermöglichte, annähernd ohne richterliche "Beaufsichtigung" die Bedingungen der Wiedervere inigung zu verhandeln. Zudem blieb das Grundgesetz mit lediglich kleineren Modifikationen auch die Verfassung der vereinten Nation. Die zunächst plaus ibler erscheinende lnterpretationsalternative, nämlich Artikel 146 GG a. F., hätte e ine Volksabstimmung über e ine neue Verfassung e rfordert, die schließl ich die Bedingungen flir die Wiedervereinigung enthalten hätte. m Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft e iner Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung flihrt zurück zu der Forderung, Verfassungsinterpreta tion unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu betreiben . Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Bezugspunkt verantwortlicher Interpretationstätigkeit sein kann. Das Zusammenspiel unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben Beteiligten- e in "polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten- findet eine gemeinsame Zielsetzung in der Harmonis ierung der eigenen Wunschvorstellungen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind. Dennoch werden westliche Konstitutionalismen und -dem Prinzipdes institutionellen Mimetismus folgend- auch ansatzweise nicht-westliche Verfassungsstaaten nun zunehmend von einer Institutionalisierung e ines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur gekennzeichnet, was der vorangegangenen These der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" nicht widerspricht, allerdings Zeugnis einer differien& A us der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuscha1, Wege zur deutschen Einheit, in: VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. ; das Sammelwerk von K. Srem (Hrsg.), Deutsche \Viedervereinigung, Bde., 199 1; siehe auch L Michael, Die \Viedervereinigung und die europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zur Bede utung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. I S. I n. F. GO, in: AöR 124 ( 1999), S. 583 ff. Interessant ist diesbezüglich a uch die Sichtweise a us de m amerikanischen Rechtskreis, vgl. nur P. Quim, The Constitutional Law o f Gennan Unification, in: SO Md. L. Rev. ( 1991), S. 475 ff. und ders. , The lmperfect Union: Constitutional Structures o f German Unification, 1997.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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renden Gewichtung unter den Verfassungsinterpreten ist. Die freil ich unscharfe Kategorisierung in das Ve1fassungsleben mitformende "Prae -interpreten" und die letztliehe Verantwortung tragende "Final-interpreten" (wie etwa US-Supreme Court, Bundesverfassungsgericht oder der französische Conseil Constitutionnel) soll e ine kaum bestrittene Realität akzentuieren, die durchaus mit der Bezeichnung "Demokratis ierung der Ve1fassungsinterpretation" 777 belegt werden kann. Dass "Post-Interpreten" (beispielsweise die Verfassungslehre aber auch jeder "Verfassungsanwender") selbst wieder gleichzeitig "Prae-lnterpreten" s ind, lässt ei n Kuriosum offenkundig werden: Die Gestaltung und Fortentwicklung von Verfassungskultur basiert auf e inem "Kreislaur' der Verfassungsinterpreten. ln den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Verfassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen, wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen.m Dies geschieht auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurliekhaltung und bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die "political question doctrine" und ,j udicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos der zentrale Baustein kreativer Ve1fassunggebung ist, so gründet sich letztere in den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präs ident, aber auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der e nglischen "conventions" durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten, wodurch neben einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden. 779
m So P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage I 998, S. 230; siehe auch ders. , Zeit und Verfassung, in: ZfP 2 1 (1974), S. I I lff, I 18 ff.
ns Siehe hierzu und im folgenden auch K. Loewe11stei11, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten, 1959, S. 36 f. n 9 Als Beispiele der Lückenausfüllung sollen zum einen der Aufbau der Bundesgerichtsbarkeit durch die ,Judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten Gerichtsho f vorschreibt und die Schaffung von untergeordneten Gerichten dem Kongress überlässt (Artikel 111 § J der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit für die Schaffung von Bundesbehörden, die allein dem Kongress zusteht; oder die Nachfolgeregelung, wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der Ausübung ihrer Ämter gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfussunggebung durch den Kongress erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit erlangte dabei die Auslegung der sogenannten "commerce'"-Kiausel (Artikel I § 8 pa.r. 3 der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der Bundeszuständigkeit, wobei der Kongress zu bestimmen hat, was letztlich unter Handel zu verstehen ist. Jeweils mit Zus-timmung des Supreme Court dehnte der Kongress über Jahrzehnte den Begriff \Veit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die folgende Betrachtung einzelner Gesichtspunkte der (richterlichen) Verfassungs interpretation in den Vereinigte n Staaten und später in der Europäischen Union versucht dem hohen Anspruch e iner Berücksichtigung kultureller Prämissen zu folgen und legt seinen Schwerpunkt auf e ine Untersuchung kreativer Verfas sunggebung durch die obersten Gerichtshöfe. Diese Einflihrung sollte sich nur auf e inen Anriss der genannten Vorfragen nach den Ve1fassungs interpreten und der Beziehung von Verfassungsinterpretation zur Ve rfassungs-Kultur beschränken. Laut P. Httberle "farbt" kultureller Wandel die Ve1fassungs interpretation. 780 Diese Aussage lässt sich aufgrund des oben Gesagten freilich auch insoweit umdrehen a ls Verfassungsinterpretation seit jeher den kulturellen Wandel zu "farben", jedenfalls zu bee inftussen verstanden hat. Das symbiotische Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung gilt letztlich auch flir die europäische Ebene. Das oben aufgezeigte Verfas sungsverständnis und der zugrunde zu legende "europäische Verfassungsbegriff' lassen demzufolge die Übertragung einer Vie lzahl der vorgenannten Überlegungen auf die europäische Rangstufe zu (- mit Ausnahme der gänzlich "staatsfixierten" Aspekte).''"
renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatlichem Handel auch im entferntesten in Verbindung steht. Aus der in A rtikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung
vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur Kreditaufnahme ("borrowing money") leitete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. E~n e
Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen Gemeinschaften eine gewichtige Ro lle spielen sollte, nahm in den Vereinigten Staaten mittels der unterstellten Vollmachten des Kongresses ihren Anfang: die "implied po,vers". Aber auch dem Präsidenten bzw. den zuständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der "implied powers'"-Regel oder durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbestimmungen im Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch flir die Verfassungsfortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten seien genannt: der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Milwn, The Use of Presidential Powers 1789-1 943, 1944); die Rolle der Unterausschüsse im Kongress und der gewachsene Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung. 7110 P. Hiiber/e, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2 . Auflage 1998, S . 226. 711 Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den EuGH) im europäischen Kontext (P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4 . Auft. 2006, S. 268 ff. spricht von einer .,offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa"): C. Buck , Über die Auslegungsmelhoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaflen, 1998; J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung d urch den EuGH, 1995; J. Atlweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; W Dä11zer-Vanoui , Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: 0. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift ftir U. Everling. 1995, Band I, S . 205 f f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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b) Der US-Supreme Coun als sTändiger Verfassungskonvem- die Wiege der VerfassungsgerichtsbarkeiT Dieamerikanische Verfassung ist oberflächlich zunächst lediglich eine Darstellungs form allgemeiner Prinzipien, aus denen sich wiederum im einzelnen Gesetze und Kodifizierungen herausgebildet haben. Der Erfolg dieses Dokuments, der s ich im Besonderen durch den Erhalt der Fundamente amerikanischer Regierungsstrukturen bestätigt sieht, gründet s ich vornehmlich auf dem Umstand, dass es im Anschluss an die Gründergeneration nachfolgenden Besetzungen von Kongress und Supreme Court " 2 ermöglicht wurde, die Verfassung zu interpretieren oder s ie gegebenenfalls den Anforderungen wechselnder Zeiten anzupassen. Der amerikanische Föderalismus 783 hat in Verbindung mit angelsächsischen Traditionen e in Rechtswesen geschaffen, das s ich unter anderem durch zwei vertikale Gerichtssysteme auszeichnet- die Bundesjudikative als dreistufige Pyramide mit Distriktgerichten, Appellationsinstanzen und dem Supreme Court einerseits, das gleichfalls mehrstufige Gerichtswesen der Einzelstaaten andererseits. Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Strafrechtsbereich, von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu jenem charakteristischen Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Common Law noch begünstigt wird. aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichts barkeit- Marbury vs. Madison Heute erscheint selbstverständlich, dass im Rahmen "moderner Staatlichkeit" die Bindung der Staatsgewalt an die Prinzipien Gewaltenteilung, Grundrechte der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungs rechte durch die Gerichte, letztlich durch ein Vetiassungsgericht, überprüft wird. So eindeutig war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als der Supreme Court der Vereinigten Staaten 1803 den Rechtsstre it Marbury vs. Madison zu entscheiden hatte.''" In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court
"" Aus der deutschspr. Lit: W Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972; 8. Maaßen, Der US-Supreme Court im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssys-tem ( 1787 -1972), 1977; IV. Brugger, Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: JöR 42 ( 1994), S . 571 ff. Siehe auch (streitbar) M. 7itslmet, Taking the Constitution away from the Courts, 1999; A.S.Miller, The Supreme Court. Myth and Reality, 1978; L. Tribe, Constitutional Choices, 1985; IV, H. Rehnquist, The Supreme Court. How lt Was- How lt ls, 1987. "" Hierzu ausfUhrlieh unter B.IV.3b)aa). ''" Vgl. Marbury ''·Madison, 5 U. S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Po-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
zum ersten Mal vier Kriterien, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts e inen Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten 785 : - Verfassungen sollten schri ftlich formuliert sein, um mehr Rechtss icherheit zu verbürgen als Gemeinschaften, deren politische Entscheidungsmechanismen auf Tradition und Übung beruhen. - Die Verfassung hat Vorrang gegenüber Legislative, Exekutive und Judikative. - Es ist Aufgabe der Gerichte, und letztlich des höchsten Gerichts, diese Verfas sungsbindung zu überprüfen. - Verstößt ein Akt von Exekutive oder auch Legis lative gegen die Verfassung, kann das höchste Gericht die Verfassungswidrigkeit aussprechen. Der Geburtsort, die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in den Vere inigten Staaten von Ameri ka, ihre Geburtsstunde, die "Inthronisation""'" als "gleichberechtigter Hüter und Formgeber" der Verfassung'" also in der viel zitierte n Entscheidung Marbury v. Madison. Bevor man sich jedoch dieser zuwendet, sollte erneut ein Blick auf die Unabhängigkeitserklärung von 1776 gewagt und dort e in gerne übersehener erster ,,Zeugungsakt" für die spätere Verwirklichung verfassungsgerichtlicher Kontrolle in Augenschein genommen werden. Er findet s ich nach der Aufzählung der unabänderlichen Rechte im ersten Teil der Erklärung: "That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving theirjust powers from the consent o f the governed, - That whenever any Form of Government
becomes destructive of these ends, it is the Right of People to alter or to abolish it, and to institute new Government. laying its foundation on such principles and o rganizing sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000), S. 397ff. 715 Vgl. hierzu W. Bntgger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 311994, S . 22ff., 22 . Im deutschen GG finden sich d iese Leitlinien in den Artikeln I, 20, 92 und 93. n& So W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. S. 717 Vor aJien Arten von "Hüterideologie'' warnt P. Häberle, da entgegen der oft zitierten These. der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien "Hüter'' der Verfassung, der Schutz derselben gerade allen Bürgern und aJien Staatsorganen g leichermaßen anvertraut sei. Zum anderen sei die Verfassung "öffentlicher Prozess"'> was sich in der Bewahrung von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. de,.s., Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier(Hrsg.), Festschrift SO Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, S. 3 I I ff., 3 I 6. M. E. birgt d ie Bezeichnung des "Hütens" jenseits aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur Fortentwicklung, wenn man so will zur "ErLiehung'' in sich und darf daher nicht lediglich als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles ,,Be-hüten" nur in der Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den "gleichberechtigten Hüter'' nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten aus. Häberle, ebenda, mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist freilich zuzustimmen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsba.rkeit als ,,.authentischen" Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness. [ . . . ] But when a long train of abuses and usurpations, pursuing invariably the same Object, evinces a design to reduce them under absolute Despotis m, it is their right, it is their duty, to throw offsuch Government, and to provide new Guards for their future security. " 7111
Die Betonung der "new Guards", die gelegentlich falsch lieh in deutscher Übersetzung als "Regierung" im Sinne von "Government" gedeutet wurden,.., eröffnen die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, originären Gewalt, wie sie sich später in der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einste llen sollten. Ferner hat A. Hami/1011 im Federalist bereits ein Wesensmerkmal der künftigen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben, als er das Spannungsverhältnis von der gelegentlichen Rolle des Gerichts als politischer Entscheidungsträger zum Prinzip der demokratischen Volkssouveränität offenlegte, da die Richter - wenn auch (indirekt) durch politisch legitimierte Organe in ihr Amt berufen - für ihre Entscheidungen "dem Volk" nicht direkt verantwortlich sind. Hamitton bemühte sich nun, diesen Widerspruch durch eine eher metaphysische denn e mpirische Deutung des "Volkswillens" zu zerstreuen, indem er die Verfassung als seine dauerhafte Artikulation und den Supreme Court als dessen Sprachrohr dem wankelmütigen, lediglich temporär durch Wahlen ausgedrückten Volkswillen gegenüberstellte. 790 Im selben Artikel des Federa.lisr betonte er außerdem die Existenz einer Rangordnung von Gesetzen und wies darauf hin, dass es ein logisch unausweichliches Prinzip der Rechtsprechung sei, einen Widerspruch zwischen Gesetzen, die auf verschiedener Stufe stehen, durch Bevorzugung des höherrangigen Gesetzes zu lösen. Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts lediglich mit mageren Worten . Gemäß Artikel III § I wird die Judikative der Vereinigten Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten vollständige Gerichtssysteme. Arti kel 111 § 2 par. I der Bundesvetfassung regelt die Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel UI § 2 par. 2 schließlich die Aufgaben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz ("original jurisdiction") nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er als Rechtsmittelgericht ("appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Hille, die den 7ss
Zitiert nach D. W Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of American History, 1983, S. 279 f. T. Fte;ner-Gerster erkennt in seiner ••Allgemeinen Staatslehre, 2 . Aufl. 1995, S. 263 f." bereits diesen ursprünglichen gedanklichen Zusammenhang: die .,u. a. von Locke geprägte Auffassung bildete auch die Grundlage fUr die Verwirklichung der Verfassungsgerichtsbarkeit". ,.. So auch Fleiner-Gemer ( 1995), S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis. 790 Vgl. A. Hamilwn im Federatist Nr. 78.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Bundesgerichten zugewiesen s ind, in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht überprüfe n kann. 791 Vergeblich sucht man hingegen eine ausdrückliche Regelung, die den Supreme Court ermächtigen würde, über die Auslegung der Verfassung und die Vereinbarkeil von nachrangigem Recht mit der Verfassung zu entscheiden."' Die Funktion der Normenkontrolle als Überprüfung von Gesetzgebung und exekutivem Handeln auf ihre Ve1fassungs mäßigkeit ist dem Supreme Court in der Verfassung nicht explizit zugewiesen. Allerdings gab es bereits in den ameri kanischen Kolonien und nach der Unabhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte Gesetze, die gegen königliche "Charters" und später gegen die g liedstaatliehen Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrannte die bis heute gelegentlich erbittert gefiihrte Debatte über die diesbezügliche gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung e iner "Charter" oder Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konsequenzen in die Rolle der Politik schlUpft. Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grundlegenden Entscheidunge n mit der Reichweite seiner eige nen Zuständigkeiten wie auch der anderer Vetfassungsorgane, insbesondere des Kongresses. ,., Unter der Leitung von Chief Justice J. Marshall'... wurden bis heute tragende Weichen für die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung gestellt. ,., Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege des Supreme Court in seiner Eigenschaft a ls oberstes Verfassungsgericht zu ei 791
Jedoch ist der Kongress ermächtigt, insoweit Ausnahmen zu erklären und das Verfahren einer Regelung zu unterwerfen, Artikel 111 § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. ln
der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des Supreme Court, sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung des Supreme Courts zur Entscheidungsannahme und in welchen Fällen ein Annahmeermessen besteht, vgl. C. Egerer, Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court der USA:
die Wurzeln des Prinzips des "judic ial review"' in Marbury v. Madison, in: Zvg lRWiss 88 ( 1989), S. 416 ff., 4 17. 791 Das deutsche Recht etwa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 I Nr. I, 2, 4a, 4b und Art. 100 I GG. 793 Dazu umfänglich D. P. Currie, The Constitution in the Supreme Court: 1be First Hundred Years 1789- 1888, 1985, S. 6 1 ff.; siehe auch die einflussreichen Schriften von E. S. Convin: beispielsweise ders., 1be Supreme Court and Unconstitutional Acts of Congress, in: 4 Michigan L. Rev. ( 1906), 5 . 616 ff. ; ders. , The Establishment of Judicial Review, in: 9 Michigan L. Rev. ( 1910), S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. ( 1911), S. 283 ff. 794 ln den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den Supreme Court begrifflich mit dem jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere \Venn es um die historische Einordnung "bewegter'' gerichtlicher Zeiten geht. A1arbury v. Madison wude vom sog. Ma,.shal/-Court entschieden, aktuell sprach man wegen des seit 1986 (und bis 2006) amtierenden Chief Justice W Relmquisr vom Rel111quist Court. 795 Dazu u. a. F. Fmn/...furter, John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard L. Rev. ( 1955), S. 217ff. 4
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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nem zentralen Organ der Integration und nationalen Vereinheitlichung war aber eben seine unter J. Marslwll getroffene Entscheidung in Marbu.ry v. Madison, in welcher das Gericht flir sich in Anspruch nahm, ein Gesetz des Kongresses - den ,,.) udiciary Act" von 1789 - fiir verfassungswidrig zu erklären, weil der Kongress dari n dem Supreme Court Aufgaben zugewiesen hatte , die ihm von der Verfass ung ausdrücklich nicht zustanden. 796 Mit dieser Entscheidung machte sich der Supreme Court de facto selbst zu einem Verfassungsgerichtshof und damit zur - gerichtlich - höchsten Autorität in Verfassungsfragen."' Diese Entscheidung war gewissermaßen auch eine Reaktion auf das Bedürfnis nach einem dritten, zunächst nicht offen an der Macht beteiligten Staatsorgan, das der zu dieser Zeit besonders im Dualismus von Kongress und Präsident, der föderalen Struktur und den Grundrechte n angelegte "Zwang" zu Mäßigung und Ausgleich zu erfordern schien. Um das Prinzip der "checks and balances" zu sichern, überwacht der Supreme Court also die Beachtung der ve1fassungsmäßi-
790 Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrifttu m eine umfängliche Darstellung erfahren hat, soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. ln de r Streitsache ging es um die Zustellung der Ernennungsurkunde an Marbury zum ,)ustice of the Peace", die ihm A1adison auf Anordnung Jeffersons verweigert hatte. Der Supreme Court gab im Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da jener sich auf ein Gesetz berufen hatte, das der Supreme letz tlich fUr unvereinbar mit der Verfassung e rklärte. Damit re klamierte der Supreme Court für sich das benannte Recht, Gesetze auf ihre Vereinbarkelt mit der Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht anzu\venden. Die Verfassung sei höchstes Recht. dem sich alles andere Recht unterzuordnen habe. Die Begründung aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum Urteil ausführlich e twa W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 5 ff.; ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2.Auflage 200 1, S. 7ff.; C.Egerer (1989), S.418ff.; D. P. Currie, Die Verfassung der Vere inigten Staaten von Amerika, 1988, S. 15 ff.; zur historischen Einordnung vgl. G. Stourzh, Vom \Viderstandsrecht zur Verfassungsge richtsbarkeit: zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, 1974. Aus der Flut der amerikanischen Literatur: E.S. Corwin, Marbury v. Madison and the Doc.trineof Judicial Review, in: 12Michigan L. Rev. ( 1914), S. 538 ff.; ders., John Marshall and Jhe ConSiitution: A Chronicle of the Supreme Court, 1921; C. G. Haines, The American Doctrine o f Judicia l Supremacy, 2"' ed. I 959; R. L Climon, Marbury v. Madison and Judicial Review, I 989; aus j üngerer Zeil die umstrittenen Monographien von P. W Kah11, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Cons.truction of America, 1997 sowie lV. E. Ne/soll, Marbury v. Madison: The Origins and Legacy of Judicial Review, 2000. Siehe auch L. D. Krnmer, Forewonl: We the Court, in: 115 Harvard L.Rev. (2001),S. 4ff. 797 Die Kritik an diesem Urteil ist .seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803 gab es Initiativen auf Einleitung e ines Amtsenthebungsverfahren (,,impeachment'') gegen die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im (Wahl-}Jahr 19 12 empfahl Präsident T. Roosevelr, Entscheidungen des Supreme Cour~ mit \Velchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig e rklärt wurde, einer Volksabstimmung zu unte rziehen, vgl. dazu K. Heller, Der Supreme Court der Vereinigte Staaten von Amerika. Probleme e ines HöchSigerichls, in: EuGRZ 1985, S. 685 ff., 686. Siehe auch IY. W. van Alstyne, A Crilical Guide to Marbury v. Madison, in: 1969 Duke L.J., S. I ff., 17ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
gen Funktionsverteilung zwischen Kongress und Präsident, entscheidet Konflikte zwischen Bund und Gliedstaaten oder mehreren Gliedstaaten und garantiert in letzter Instanz den Freiheitsbereich des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Diese Bereiche des Verfassungsrechts waren justiziabel geworden, nachdem über die Kernsubstanz, die Grundprinzipien der Verfassung seit Verabschiedung der Bundesverfassung in der politische n Überzeugung der ameri kanischen Bevölkerung, letztlich de r gesamten "Verfassungsöffentlichkeit" ein weitgehender, oft bedingungsloser Grundkonsens geherrscht hatte. Demzufolge kann die amerikanische ,judicial supremacy"',. - als bislang fassbares "Endstadium" vorgenannter Entwicklung - in hohem Maße der philosophischen und verfassungspolitischen Homogenitä t des Landes zugeschrieben werden. Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen, als "gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden , "what the law is"m, wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als "supreme law o f the land" (Artike l VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht. Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe "Suprematie" der richterlichen Gewalt die tatsächliche "Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch betrachtet, der berühmte Vorsitzende auch schon gelegentlich als "zweiter Schöpfer der Ve rfassung bezeichnet". G leichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung seines originären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung (,judicial supremacy") a ls Interpret und Gestalter der Verfassung begründete. Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch "the Court will decide" gelebter Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik. Dies widerspricht nicht der oben angeste llten Betrachtung, der Supreme Court sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird e in Idealzustand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschafts formen e ingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber j udiziell "erarbeitet"; und die vorhandenen Möglichkeiten, um die "Supre matie" etwa durch nachgeordnete Verfassunggebung seitens der andere n Gewalten oder durch die 793
Insbesondere unter amerikanischen Soz.ialwissenschaftlern is-t der Begriff ,judicial supremacy'' von scharfen Debatten begleitet Er wird zwar größtenteils zu Recht aJs Faktum anerkannt., jedoch gerade im Hinblick auf die "checks and balances" zuweilen sehr kritisch beurteilt. Gleichwohl scheint die Annahme einer ,) u d izio kra ti e~· übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1890- 1937 tatsächlich extensiv auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder PräsidiaJakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'schen New Deal sozialrefonnerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. 799 J. A1nrshal/ in Marbury v. Madison, eben da.
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Bevölkerung (constitutional convention) zu entwerten, wurden in den Vereinigten Staaten höchst selten oder im Falle des Konvents noch nie ergriffen. Im Kontext des Amendment-Verfahrens wurde bereits angesprochen, dass es lediglich vier Amendments bedUifte, um höchstrichterliche Entscheidungen aufzuheben. ' 00 Dies erscheint anges ichts der geringen Anzahl an Amendments zunächst viel, ist bei e iner Betrachtung der Flut verfassungserheblicher Entscheidungen des Supreme Courts jedoch wiederum verschwindend gering. bb) Anmerkungen zum Wesen des ,j udicial review" Der Supreme Court muss demzufolge auch zu den markantesten Faktoren des amerikanischen Verfassungs(fort)lebens gezählt werden. Dabei entpuppte sich das Instrument des ,judicial review", die Machtposition gegenüber Hoheitsakten der Exekutive801 sowie- praeter constitutionem- der Legislative des Bundes 801 und der Einzelstaaten, als elementarer Bestandteil amerikanischer Verfassunggebung. Was ist aber nun das Wesen des ,judicial review"?'03 Nach E. S. Corwin enthält das Konzept des ,judicial review" drei Feststellungen: zum e inen, dass die Verfassung im Verhältnis zu allem sonstigen Recht höherrangig sei ; zweitens, dass die rechtsprechende Gewalt die Zuständigkeit zur Auslegung der Verfassung und zu deren Anwendung auf Rechtstreitigkeiten umfasse; schließlich die Erkenntnis, die Auslegungen des Gerichts seien geltendes Recht und bindend auch für die anderen Gewalten ."'' Dadurch erlangt das Mittel des ,judicial review" noch eine weite re Dimension. Während näm lich die rechtsschöpferischen Akte und Bemühungen nachgeordneter Gerichte von den zuständigen Legislativen durch einfaches Gesetz beseitigt werden können, beinhaltet ,judicial review" die Be fugnis, die Verfassung gerade in wesentlichen Frageste llungen gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit auszulegen und diese Interpretationen auch durchzusetzen. So betonte auch A. Bickel , ,judicial review" sei "[ ... ] the power to apply and construe the Constitution in matten; of the greatest moment, against the wishes of legisla-
800
Siehe oben B.JV.I. a).
801
Unabhängig von der "political questions doctrine" hat sich der Supreme Court auch nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu entsche iden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon, 418 U.S. 683 ( 1974), durch die Präsident Nixon während der Watergate-Affare zur Herausgabe von 64 Tonbändern aufgefordert wurde. 802 Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 ( 1803). 803 Laut W Brugger wird ,judicial reviewu- gerichtliche Überprüfung- in den Vereinigten Staaten üblicher\\o-eise im Sinn der (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle staatlicher Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten, 1987, S. I Fn. 2. 804
Siehe E. S. CorwitJ, Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Re\•iew, in: 12
Michigan L. Rev. ( 191 4), S. 538 f f., 552.
278
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
tive majority, which is, in turn, powerless to affect the j udicial decision" 805• Der Supreme Court ergriff anläßtich dreierweiterer Fälle früh die Gelegenheit, den Grundsatz des ,j udic ial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und diesbezüglich auszudehnen.'"• Schließlich wurde mit der Etablierung des ,,judicial review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Ges ichtspunkt verfassungsgerichtlicher Einftussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entscheidung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische Einwirkungen abzus ichern. Diesen Zusammenhang e rkennt auch B. -0. Bryde, wenn er den "Einftuß, den e in Gericht ( ... I gewinnt ( ... I auch von seinem eigenen strategischen Verhalten" abhängig macht. 807 Eine offene Konfrontation mit mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen und a ls Kontrollorgan unbrauchbar. "Die geniale Art und Weise, in der Marshall in Marbury v. Madison die Grundlage flir das richterliche Prüfungsrecht gelegt hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte, ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungs politik.""" Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle e tfolgreichen Verfassungsge richte s päterer Epochen von diesem Beispiel profitiert haben. 809
Marbury v. Madison ,,zementierte" den Gedanken der selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, die begrifflich e ine "unabhängige, gegenüber anderen Staats-, bzw. Verfassungsorganen verselbständigte Institution mit bestimmten Kompetenzen bzw. Funktionen" 810 voraussetzt. 805 A. BickeJ in seinem berühmten und umstrittenen \Verk "The Least Dangemus Branch", 1962, S . 16. Das Zita t soll allerd ings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Biekel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury ~·.Madison und der Begründungsarbeit von J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rang-
ordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass
Gerichte befugt seien, Gesetze fUr nichtig ("void") zu erklären. Ein KonHikt zwischen Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den Präsidenten und schließlich durc h das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel ( 1962), S. J ff. Bicke/s Beanstandung kann aiJerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen nicht rechtlicher, sondern durch,veg po litischer Natur sind. Durch ein lnfragesteJien der grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel. so• Siehe Fletcherv. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87,3 L. Ed. 162 ( 18 10); Martin v. Humer's Lessee, 14 U.S. ( I Wheat.) 304, 4 L. Ed. 97 ( 1816); 19 U. S. (6 Wheat.) 264, 5 L. Ed . 257 ( 1821). 807 Vgl. 8.-0 . Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse/G. Fo lke Schuppert/ K. Harms (Hrsg.}, Verfassungsrecht und -politik in Umbmchsituationen, 1999, S. 197ff., 199. 80 ' ß .. o. Bryde, ebenda. 809 Zum Instrument des ,judicial review" aus rechtsvergleichender Perspektive: A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law, 1989.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
279
cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Amerika hatten von Beginn an auch Modifikationen in der durch den Supreme Court geprägten, spürbaren Struktur und Wirkung der amerikanischen Verfassung zur Folge. Der Gerichtshof bekleidete dabei unterschiedliche Rollen - von einem eher ruhigen, begleitenden Auftreten, über ein forderndes, vorantreibendes Verhalten bis zu gelegentlich hemmenden Aktionen gegenüber gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Das Wirken des Supreme Court kann dabei in drei größere Phasen unte rteilt werden, die s ich im selben Atemzuge durch jeweils grundlegende Richtungen richterlicher Verfassungsinterpretation auszeichnen. Damit soll auch der Versuch einer Antwort auf das oben beschriebene Problem des "Wendenge tlechts" gegeben werden.811 Freilich ließen sich die strukturellen Neuerungen in immer kleinere, kürzere Abschnitte unte rteilen ohne unbedingt die Berechtigung bedeutender Perioden zu verlieren. Gleichwohl birgt e ine solche Unter-Gliederung stets die Gefahr einer banalen Aufzählung schlichter historischer Daten, mit allen Verästelungen und etwaigen Sackgassen, deren Beitrag zu den großen Linien gesellschaftlicher Entwicklungen möglicherweise lediglich marginal ist. Ohne den im einzelnen sicher notwendigen Blick auf ausgewählte wichtige Abschnitte zu verl ieren, die dieser gröberen Einteilung untergeordnet sind, solllediglich eine Auswahl vorgenommen werden.
(I) Momen.raujiwhmen einer Verfassrmgsgerichrshistorie Im Anschluss an 1789 bildete der a lles überlagernde Gedanken einer "Stärkung der Union" eine e rste Phase. Daran knüpfte sich der Zeitraum, der den Schutz des "laissez-faire"-Systems und privatwirtschaftlicher Interessen gegen staatliche Interventionen zum wesensbildenden Merkmal hatte, bevor in einem dritten bis heute reichenden Abschnitt ein verstärkter Schutz individueller Rechte und die Herstellung von Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte. Betrachtet man darüberhinaus die beiden Begriffe ,,zentralis ierung" und "Demokratisierung" nicht grundsätzlich als unvereinbar und als in der Kombination widersprüchlich, sondern eher zueinander in einem dialektischen Bezug und Spannungsververhältnis stehend, so lassen sich diese als langfristige Entwicklungskonstanten (nicht 810 So P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht aJs Muster e iner selbständigen Verfassungsge richtsbarkeit, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsge richt, 200 I, S. 3 11 ff., 313 f. ln Europa begründeten dieses Konzept freilich zunächst Öste rreich ( J867 - auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes 1920 wieder aufgelebt, dazu wegweisend G. Jettinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, 1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Ke/sens (vgl. etwa ders. , Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 ( 1929), S. 30 ff. 811 Siehe oben B.l.7.
280
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ohne gelegentliche Gegenbewegungen) konstatieren. Hierbei ist in e iner ersten oberftächlichen Definition unter ,,zentralisierung" im Wesentlichen die Stärkung der Stellung der Bundesorgane gegenüber den Einzelstaaten zu verstehen. Die "Demokratisierung" bezieht sich in diesem Kontext primär auf die amerikani sche Bundesverfassung und muss im Zusammenspiel mit der ebenso erfolgten "Liberalisierung" derselben gesehen werden. Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200 Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch anges ichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentlicher Ges ichtspunkt ftir die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu diskutierende Schutzder Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke812 -und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Gerichtsbarkeit ist nicht mit der anderer Verfassungsorgane, etwa des Parlaments oder der RegieJUng, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln (als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenenfalls durchsetzen können. Sie beruht e inzig und allein in der gesellschaftlichen Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes. Seine Stellung als letzte und damit allgemein verbindliche Interpretationsinstanz für die Verfassung, e ine Position die auf Marbury v. Madison beruht, hat es dem Supreme Court ermöglicht, in praktisch alle Lebensbereiche e inzuwirken. Ein Umstand, den der Gerichtshof in seiner bewegten Geschichte gründlich (aus)genutzt hat. Unter den amerikanischen Vetfassungsorganen wirkt e r einzig unmittelbar sowohl auf Bundesrecht wie auch auf die den Gliedstaaten vorbehaltenen Bereiche der Rechtsetzung ein. Nachdem der nahezu ehern entwickelte Grundsatz des ,judicial review" im Zusammenspiel und in annähernder Kongruenz mit dem Begriff der ,judicial supremacy" letztlich dazu führt, dass die Entscheidungen des Gerichts ausschließich in dem schwerfalligen AmendmentVerfahren außer Kraft gesetzt werden können, hat s ich der Supreme Court eine Stellung von e inzigartigem Einftuss auf gesellschaftliche wie politische Verhältnisse geschaffen. CE. Hughes wußte diese Gegebenheit mit leicht resignativem Unterton zu kommentieren: "We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is."" ' Wie bereits dargestellt ermöglichte es Marbury v. Madison dem Supreme Court, Gesetze und Verwaltungsakte von gliedstaatliehen Parlamenten, Kongress und RegieJUngen anhand konkreter Rechtsstreitigkeiten zu überprüfen und gegebenen812
Dazu unten B. lV.2b)cc)(2). Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907, zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional Law. Cases-Comments-Questions, 1986, S. 8. 813
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
28 1
falls für verfassungswidrig zu erklären. Hiervon machte der oberste Gerichtshof anfangs über lange Jahr nur in begrenztem Ausmaße Gebrauch, um die Befugnisse von Bundesregierung und Gliedstaaten gegeneinander abzugrenzen und um das Privateigentum vor unangemessenen Eingriffen der Einzelstaaten als auch des Bundes zu schützen. ln die Amtszeit J. Marslwlls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute wegweisenden Falle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundeskompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten geprägt waren . Mit Martill v. Hun.rer's Lessee'" dehnte der Supreme Court seine Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genannten Entscheidungen sind deutliche Beispiele flir das anfängliche Bemühen des Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staatsgewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch v. Maryland aus dem Jahre 18 19 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich, die ursprünglich limitietten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten Gege nstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern."' Der Supreme Court stellte in der Begründung die in Artikel! § 8 aufgeführte "necessary and proper"-Klausel mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses ttügen gleichzeitig die Befugnis in s ich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und angemessenen Gesetze zu e rlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte J. Marshalls: "Let the end be legitimate, Iet it be within the scope of the constitution, and all mea.ns which are appropriate. which are plainly adapted to that end, which are not prohibited, but consist with the Ietter and spirit of the constitution, are constitutional.~' 11 16
Bis heute beanspiUcht diese Interpretation Geltung flir die Beurteilung der Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam schei nende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den G liedstaaten wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden"' ausgelöst. Bereits damals stützte sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit völ lig konturlose) Auslegung der "interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der Bundesverfassung.
814
14 U.S. ( I Wheat.) 304 ( 1816). "' Vgl. McCul/oc/r v. Maryi<md, 17 U.S. (4 Wheat.) 316 ( 1819). Der Supreme Court erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States) durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für verfassungswidrig. 81 • McCu/loc/r ''· Mary!tmd, ebenda, S. 42 1. 817 22 U.S. (9 Wheat.) I (1824).
282
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scorr v. Sandford8 18 e ine Entscheidung, die ihm geballte, aus den Re ihen der Nordstaaten wütende Entrüstung entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scou als eines der verheerendsten und juristisch selbstheJTiichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungsgeschichte erachtet 819 , das als ,.prononcierteste Frühentscheidung des Supreme Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [ ... ]Zeugnis von einem Geburtsfehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]." 820 Der Fall hatte die Frage zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Territorium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und nichtig seien. Das gelte flir den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso fürden Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens im Sinne der Sklavenhalter pervertiert.
Dred Scou verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirtschaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivilisiertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grund werte, ja über das, was Recht und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden flir eine gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte. Verfassungsgerichten wohnt also, wie bereits dieses Beispiel anschaulich darlegt, neben ihrer Einordnung als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Be stätigung gesellschaftlichen Wandels auch stets die latente Gefahr inne, Auslöser gesellschaftlicher Brüche oder wenigstens ,.Wenden" im bereits genannten Sinne zu sein. Andererseits ist es auch der Dred Scort-Entscheidung mit zuzuschreiben,
m 60 U.S. ( 19 How.} 393 ( 1857}. 819 Siehe nur L. H. Tribe, American Constitutional Law, 3" ed. 2000, S. 549: "[ .. . ] infamous decision [ .. . ] often recalled for its politically disastrous dictum [ ... )"; lv. IViecek in: K. Haii/J. W. Ely/J. B. Grossman/W. Wiecek (eds.}, lbe Oxford companion to the Supreme Court of the United States, 1992, S. 380: ,.[ . .. ] the greatest disaster the Supreme
Court has ever inßicted on the nation." 320
C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechungdes United States Supreme Court und des Bundes verfassungsgerichts, 1996, S . 24 mit e iner breiten Darstelung der Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. 0., S. 24 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
283
dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments 13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scou letztlich ad absurdum geftihrt wurde. Das zweifellos beschädigte Vertrauen in die Rechtsprechung des Supreme Court konntedieserdurch gezielt eingesetzte Zurückhaltung in einigen prekären Entscheidung während der "reconstruction era" genannten Phase wieder verbessern.''' So wies der Gerichtshof in Mississippi v. Jo/mson.." einstimmig das Klagebegehren , dem Präsidenten die Anwendung des "reconstruction act" zu untersagen, mit der Feststellung zurück, das Gericht könne den Präsidenten nicht an einer Anwendung eines angeblich verfassungswidrigen Gesetzes hindern. Eine vergleichbare Zurückhaltung offenbarte der Supreme Court in Ex parre M cCardlem. Allerdings begann der Supreme Court im 20. Jahrhundert immer deutlicher, im Besonderen durch seine Entscheidungen in Grundrechtsfragen, die Verfassung und das politische System fortzuentwickeln und den Alltag der Bürger zunehmend mitzubestimmen."" Hierunter fiel anfangs vor allem die relativ weite Auslegung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die ihre Verankerung im ersten Amendment findet und die nunmehr nicht nur gegen Einschränkungsversuche der Bundesregierung sondern auch der Gliedstaaten behauptet wurde. Es folgten das Verbot der Rassentrennung und der Diskriminierung von Minderheiten auf der Grundlage des 14. Amendments sowie die Garantie eines fairen Prozesses ftir den Angeklagten, die tief in das gesamte Polizei und Justizwesen eingriff. Erwähnung verdient auch das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf eine Privatsphäre, gegen das beispielsweise die von Einzelstaaten angeordneten Verbote von Verhütungsmitteln und Abtreibungen verstießen.
321
Als "reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa ein Jahrzehnt dauernde Periode des "\Viederaufbaus" des amerikanischen Bundesstaates bezeichnet, dessen Zusammenhalt unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den "reconstruction amendments" ( J3- J 5) zur amerikanischen Verfassung und mit dem .,reconstruction act'" aus dem Jahre 1867. Mit den Amendments wurde unter anderem die Sklaverei abgeschafft, alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das \Vahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidenhelle Veto verabschiedete .,reconstruction act'' verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und Durchführung von Neuwahlen unter militärische Kontrolle. 21 ' 7 1 U.S.475 (1867). m 74 U.S . 506 ( 1869). In d ieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittelinstanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter entschlossen sich nach der mündlichen Verhandlung im März 1868 mehrheitlich für eine Verzögerung der Entscheidung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begründende Norm außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des Supreme Court ab. 324 Aus der deutschen Literatur J. Heideking, Einflihrung in die amerikanische Geschichte, 1998, S. 68 f.
284
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unte twotfe n sind. Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der Rassentrennung (Segregation) mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 1954 urteilte eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung (Brown vs. Board of Educa.rion825) , dass die Segregation der Vetfassung widerspreche und deshalb aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein . Um den politischen Wandel zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in Verbindung mit realer Politik gebracht werden. Im übrigen können sich im Zusammenhang der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Prozess des gesellschaftl ichen Wandels durchaus Ähnlichkeiten, wenn nicht sogar Überschneidungen zu den Funktionen der Verfassung"" ergeben. Wagt man den Schritt von der "Funktion" zur "Aufgabe", so fallen der Verfassungsgerichtsbarkeit einige ".Aufgaben" zu, die im Vetfassungskontext als "Funktionen" zu betrachten sind. Wieso sollte man de r Verfassungsgerichtsbarkeit also nicht auch die Aufgabe der "Bestandssicherung für Verfassungsnormen als ranghöchste Normen", eine "Schutzaufgabe durch Machtbegrenzung" oder e ine "lntegrations aufgabe" zuweisen? Andere "Funktionen" der Ve tfassung lassen sich wohl schwieriger direkt in eine "Aufgabe" übertragen (etwa die der als "rechtliche Grundordnung" ode r die "programmatische Funktion - Vetfassung als ,Verhalte nsentwurf"' und die "Legitimationsfunktion"). Es soll jedoch an die oben bereits genannten "typischen Elemente selbständiger Verfassungsgerichtsbarke it"827 und "Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erinnert werden. Dort fand s ich unter Berufung auf P. Häberle der Begriff der "rationalen Rechtsprechungstätigkeit", wobei es nach diesem dabei auch um eine ,;Tätigkeit im Dienste der ,Bewährung' nicht bloßer ,Bewahrung' der Verfassung" geht. Diesem Aspekt könnte auch eine Zuordnung der drei letzten genannten Verfassungsfunktionen unterworfen werden. Wenn man nämlich Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Lichte des "Bewährens der Verfassung" betrachtet, so muss das oberste Rechtsprechungsorgan (auch unter gelegentlichem "Bewahren") zwangsläu fig e in "Bewähren" aller Verfassungsfunktionen gewährleisten. S2S
347 us 483 ( I 954).
320
Dazu eingehe nd und in einer allgemeinen Darste llung e twa H. Schu/ze-Fielitz,
Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz, in: J.J. Hesse/G.F. Schuppert/ K. Harms (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. Zur
Rolle des Rechts in staatlichen Transformationsprozessen in Europa, I999, S. 65 ff., 66 ff. 327 Siehe auch P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster e iner selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badurat H. Dreier (Hrsg.), restschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 200 I, S. 3 I I ff., 3 I6 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
285
Ein deutliches Beispiel, dass zwar trennscharfbei einer Darstellung der Prinzipien und Funktionen der einzelnen Teilbere iche (wie "Verfassung", "Verfassungsgerichtsbarkeit" oder "Verfassungsinterpretation") vorzugehen ist, gleichwohl jedoch mit einer Rückbesinnung auf die inneren Abhängigkeiten dieser Bereiche auch die Überschneidungen, gelegentlich die Kongruenz gewisser Axiome im Blick zu behalten s ind.
(2) Der Verfassungsric/uer zwischen Reclu und PolitikAnmerkungen zur "politica.l queslion doctrine" Nachdem nahezu jeder gesellschaftliche Konflikt als Freiheits- und Gleichheitsproblem formuliert werden kann, dmf die Frage aufgeworfen werden, ob Verfassungsgerichte in jedem dieser Konflikte das letzte Wort haben sollen, selbst wenn die Verfassung nur ein vages Prinzip von Persönlichkeitsentfaltung und Gleichbehandlung vorgibt, über das die Verfass ungsrichter genauso unterschiedliche Ansichten vertreten wie Bürger und Politiker? Die herrschende, gleichwohl heftig bekämpfte Meinung828 in den USA bejaht diese Frage. Das Spannungsfeld 323
Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im Gewand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, in: ZRP 1977, S. I ff., 4. Die Problematik e rg ibt sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das liber Fragestellungen zu entscheiden hat, die von erheblichen politischem Einschlag sind. Die richterliche Stellung wird doppelt kritisiert, einmal im Zusammenhang mit den "geheimen~· \Vahlen und dem enormen po litischen Einfluss durch die politische Nominierung und des weiteren aus der politischen Entscheidungskraft der einzelnen Richter. Die Literatur versucht eine Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben sollten (dazu M. Kriele, Recht und Po litik in der Verfassungsrechtsprechung, in: NJW 1976, S. 1n ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der juristischen Argumentation an po litischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauensverfahren nachgewiesen (vgl. EuGH, EuGRZ 1976, S. I I; EuG H, EuGRZ 1983, 5 . 500). Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland oft unter dem Stichwort der political question doctrine geführt. Dabei werden die Möglichkeiten der Anwendung dieses aus dem amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Wert durch das Bundesverfassungsgericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung der Bundesrepublik und lehnt ihre Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht ab (S. etwa C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des BVerfG, I996, S. 230; K. Chryssogonos, Verfassu ngsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgerichtund Gesetzgeber, 2. Auft., I 996, S. I 5 I.; J. 8/iigge/, Unvereinbarkeitserklärung stall Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 177ff.). Der Gedanke zur Entpolitisierung der Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht flir abwegig gehalten. Dennoch sind es nur \Venige Stimmen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, ruft man s ich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Erinnerung: (I) die Sicherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe, (2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozesses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate. 82• Gerade hinsichtlich des dritten Punktes droht, wenigstens bei ausufernder Inans pruchnahme der Prüfungskompetenzen, die Ersetzung der legislativen Prioritäten durch e ine Herrschaft der Richter. Will man gleichzeitig die Kompetenzen des demokratischen politischen Prozesses sichern und stärken und insgesamt in diesem Bereich mehr Qualität fordern, so ist die Debatte über die Beschneidung verfassungsgerichtlicher Prüfungs kompetenzen letztlich unvem1eidlich. Allgemein und freilich s implifiziert beruht der Legitimitätsanspruch der Gerichte auf ihrer Fähigkeit, Kontroversen solchermaßen in rechtliche Argumente zu übersetzen, dass s ie entscheidbar sind, ohne dem Verlierer noch eine Chance der Unterstützung für die Fortsetzung des Streits zu geben. 830 Lässt ein Urteil mehrere Varianten der Auslegung zu, gerät das Gericht konsequenterweise selbst in den Streit. Nicht nur in den Vereinigten Staaten lösen Entscheidungen zunehmend s ymbolische Kreuzzüge aus, anstau politische Diskussionen beizulegen. Diese Tendenz des Gerichts, seine Rechtsprechung bis in politische Maßnahmen hineinreichen zu lassen, und zudem die Verfassung als fortwährende Weiterentwicklung immer neu zu interpretieren, bringt sie selbst in die politische Dis kussion. Sie gefahrdet damit zwei Erfolgskriterien, die über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Verfassungsgerichts entscheiden : zum einen, inwieweit den Entscheidungen Folge geleistet wird, sondern auch inwieweit diese andere Entscheidungsarenen determinieren. Daran gemessen erreichen manche Verfassungsgerichte bereits die Grenzen der Akzeptanzbereitschaft innerhalb der jeweiligen Rechtskultur. Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier dis kutierten Gestalt der Verfas sungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte "political question".'"
sogar dessen Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht schon als vorhanden ansehen (so R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch po litische Verfassungsorgane, I 982, S. 29 ff. am Bsp. von EuGRZ I 983, 57 (70)). 2 ' • Vgl. auch W Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heide lberg, Heft 3/ I 994, S. 22ff, 23. 830 Vgl. auch N. Lulunmm, Legitimation durch Verfahren, 1969. 831 Hierzu insbesondere F. W Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die Po litical-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court,
1965. Vgl. auch den Überblick bei H. LAufe~; Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess, 1968, S. I ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
287
Mit dem Fall Luther v. Borden ( 1849)832 hat der Supreme Court, um zunächst der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der "political question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demokratischen Prozess einzumischen. Vordergtiindig sollte die Rolle des Richters als politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. ln anderen Worten : weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden.m So viel zur Theorie. Allerdings: Die Rolle des "stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus auch bereits eine politische Dimension in s ich tragen. ln der ersten Hälfte des vergangeneo Jahrhunderts lassen sich in der Rechtsprechung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen.•" ln der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten "Lochner-Ära" (etwa zwischen 1905 und I937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzeswerk einer umfassenden Kontrolle unterzogen ("strict scrutinity test"). Basierend auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er im e inzelnen überprüfte. Annähernd 160 Gesetze hielten schließlich dieser Überprüfung nicht stand. Wohingegen s ich der Gerichtshof in der sogenannten ,,NachLochner-Ära" nach I937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur dann flir verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei wählen konnte (,,rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Rechtsprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der I936 in der Blütezeit der sogenannten " New Deai"-Gesetzgebung, in der der Supreme Court ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm des Präsidenten Rossevelt flir verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichende Meinung wie folgt begründete: "The power o f courts to declare a statute unconstitutional is subject to two guiding principles of decision which ought never to be absent from judicial consciousness. One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. The other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative
832
48 US (J How.) I, 12 L. Ed. 581. "'' Siehe a uch 8 . Kroll, Der Supreme Court -das oberste Gericht der USA, in: JuS 1987, S. 944 ff., 947. 834 Dazu aus dem deutschen Schrifttum J. Wiunuum, Self-restraint als Ausdruck der Gewaltenteilung, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat, 1999, S. 109 ff., 110 ff. und vor allem W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarke it in den Vereinigten Staaten, 1987, S. 38 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
branches of the government is subject to judicial restraint, the only check upon our own exercise of power is our own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from the statute books appeal lies, not to the courts, but to the baJiot and to the processes of democratic government. " 8»
Soweit ersichtlich taucht an dieser Stelle der Begriff "self-restraint" im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erstmalig auf. Im Wesentlichen geht es bei der Beantwortung der Frage, ob nun eine "political question" vorliege stets um die selben Problemkreise: Handelt es sich um eine Rechtsfrage, was ist also j ustiziabel, und was eine "political question"? Im Ergebnis lässt sich dabei keine stringente Rechtsprechung des Supreme Court erkennen. Studiert man die Fülle der Entscheidungen des Supreme Court zur political-question-Theorie, so lässt s ich eine klare Linie schwerlich feststellen; s ie wird äußerst flexibel gehandhabt. Nurzählt es zum Geheimnis desSupreme Court festzulegen , wann er eine politicalquestion annimmt und wann nicht. Manche Sozialwissenschaftler haben zuweilen von einer richterlichen Vorherrschaft im amerikanischen Herrschaftsprozess gesprochen . Bei näherer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der USA erscheint jedoch etwa der Begriff ,,Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1890-1937 extensiver auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts Zlllückwies und vor allem in den ersten Jahren des Rooseveltschen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. Ansonsten aber hat sich das Oberste Bundesgericht in vergleichsweise nüchtemer Einschätzung etwaiger Friktionsfelder und potentieller Ansehensverluste politischen Auseinandersetzungen eher entzogen und s ich bevorzugt für unzuständig e rklärt als in öffentliche Konflikte eingemischt. 836 Alles in allem hat aber die mehr a ls zweihundertjährige Rechtsprechung dem Obersten Gericht soviel Autorität eingetragen, dass es längst zum respektierten Partner im Geflecht der checks and balances, der politischen Willensbildung und Machtausübung geworden ist. Demoskopische Erhebungen haben in den vergangeneo zwei Jahrzehnten immer wieder belegt, dass das Ansehen der Institution Supreme Court in der Bevölkerung viel größer ist als dasjenige der Präsidentschaft, vom Kongress ganz zu schweigen.
"" United S ta tes v. Butler, 297 U. S. I ( 1936). 830 Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die
Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann solche Fälle zu .,political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit möglichen internationalen lmplikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswärtigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen, Grenzstreitig keiten, Anerkennung von Staaten, Einreiseverweigerungen fUr Ausländer oder deren Ausweisung).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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(3) lnkurs: "counrer-majorilarianism" Die Praxis des Supreme Courts, durch ständige Auslegung den Verfassungstext veränderten äußeren Umständen anzupassen ist letztlich bedeutsamer als die die gelegentlich spannungsgeladenere und im Aus land bis heute mehr beachtete Ausübung des richterlichen Prlifungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur e inen kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Vetfassung durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt"" In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Verfassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der "counter-majoritarianism" reduziert, a lso auf das Problem der "gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in Deutschland oder Österreich dient letz teres vielen als eines der führenden Paradigmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin. 838 Grundsätzlich ist die Debatte über das Ve rhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden. 839 Hierbei wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird, Gesetze eines demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch dies bezüglich Politik treiben, anstaU Recht zu sprechen. Befürworter wollen dagegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die "Selbstbindung" der Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten 840 • Für 837
So bereits K. LoewetJstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten, 1959, S. 36. 833 Hierzu insbesondere A. Bickel, The Least Dangemus Branch - The Supreme Court at the Bar o f Politics, 1962. Es sind jedoch vennehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu erhöhten Stellung dieses Gedankens kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A. Ackerma11, The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984), S. JOJ3ff, S. I 0 I 6: "Hardly a year goes by without some Jearned professor announcing that he has discovered the final solution to the countermajoritarian difficulty, or, even more dark.ly, that the countermajoritarian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemeri11sky, The Supreme Court 1988 Term- Foreworcl: The Vanishing Constitution, in: J03 Harvard L. Rev. (1989), S. 43 ff.; ders., The Price of Asking the Wrong Question: An Essay on Constitutional Scha larship and Jud icial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1 984), S. 1207 ff.; 8. Friedmtm, Dialogue and Judicial Review, in: 9 1 Michigan L. Rev. (1993), S. 577 ff.; M. V. Tuslmet, Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory. in: 83 Michigan L. Rev. ( 1985), S. J502ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik ("the majoritarian difficulty") a uch S. Croley, The Majoritarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule of Law, in: 62 The University of Chicago L. Rev. ( 1995), S. 689 ff. 839 Für d ie amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (I 962) und J. H. Ely, Democracy & Distrust, I 980; vgl. allgemein M. Cllppelleui, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S . 3 ff.; fUr das deutsche Recht ist die Auseinandersetn mg in der \Veimarer Republik zwischen C. Schmill und H. Ke/sen immer noch äußerst beachtens\vert. 840 Vgl. etwa U. K. Preuß, Umrisse einerneuen kons-titutionellen Form des Politischen, in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994, S. 123 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
M. Coppelletri drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus, und Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte" '. Dieser normati ve Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist. •n. Entscheidend ist, dass diese Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit e ingeführt wird und sich gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der e inen Seite steht dabei typischerweise die Ideologie der "Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkungen des Mehrheitswillens als "unde mokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite offenbart sich der "Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen unterordnet. Der "Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik- und damit auf den "Rechtsstaat", ist aber weniger mit einer starken Ve rfassungsgerichtsbarke it, als e her mit dem gesetzgebenden Parlament verbunden.
c) Übergreifende Funkrionen und KompeTenzen der Verfassrmgsgerichrsbarkeir- Ridmverte ftlr den EuGH? Gerade im Hinblick auf eine Überprüfung der verfassungsgerichtlichen Elemente des EuGH sollen auch übergreifend kennzeichnende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarke it wenigstens angerissen werden, wobei bereits hier festgestellt werden darf, dass es bei den Kompetenzen und Funktionen durchaus zu Verschränkungen kommen kann, was auf dem Umstand beruht, dass beide unmittelbar einander zu bedingen wissen. Wie anders sollte beispielsweise die Funktion der Wahrung der Gewalte nbalance ohne die Kompetenz über Organstreitigkeiten aufrecht zu erhalten sein? Oder eine wirkungsvolle, evoluti ve Grundrechtssicherung ohne wenigstens e ine dem Verfassungsbeschwerdeverfahren ähnliche Kompete nz herstellbar sein?
841
M. Cappel/eui ( 1989}, S. 118, 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren, dass es schlicht sinnvoll sei, eine Instanz zu schaffen. die auf juristischem \Vege politische Konflikte letztendlich entscheidet. Dies setzt aber voraus, dass man dieVorherrschaft des Rechts anerkennt. 841 Einiges mag dafür sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als "Dritte Kammer" des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Srone, The Birth of Judic ial Po litics in France, 1992, S. 209 ff.). Wie bereits der "Schöpfer" des e uropäischen Modells der Verfassungsgerichtsba.rkeit, H. Ke/sen, festgestellt hat, wird ein Verfassungsgericht unvermeidlich legislativ tätig.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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aa) Verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat-Entwicklungsstufen und Komponenten Im vollausgebildeten Konstitutionalismus stellt sich zudem die Frage des verfassungsgerichtlichen Interpreta tionsmonopols, so wie es sich in den USA herausgebildet hat. Diese Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hem1eneutischen Prozesses der Verfassungskultur prägt zunehmend "westliche", auch ansatzweise "nicht-westliche" Verfassungsstaaten. Ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungs hermeneutik ist umfassend und jenseits schlichterener Debatten vorläufig nur in den USA in Gang gekommen. Er bewegt s ich "Toward a Constitutional Hermeneutics"•", wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden "interpretists" und verfassungsgestaltenden ,,noninterpretivists" niederschlägt""' und in einen weiteren Zusammenhang von "katholischen" und " protestantischen" Interpretationsschemata erstellt wird845 • Diese stets politisch aufgeladenen Dis kurse offenbaren die gtUndsätzliche Notwendigkeit einer vergleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik in den mit verfassungs-richterlichem Prüfungsrecht ausgesta tteten Politien der USA, Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frankreichs. Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa e rst spät Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeilsprüfung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einftuss des Staatsrechtiers H. Kelsens, ein wirklich aktives Vetfass ungsgericht in der Verfassung zu verankern. Die Ausbre itung dieser Institution fand in Westeuropa erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit ke in unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfUgen, so wie etwa England. Auch Frankreichs court constillttionel vetfügt nicht über die Kompetenzen z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können . Mit Vors icht ist eine Einordnung der Verfassungsgerichtsbarke it in die historische Entwicklung des ,,Rechtsstaats" oder der "Rule of Law" zu behandeln, wie das deutsche und das e nglische Beispiel zeigen. 846 843 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics, in: American Journal of Political Science, No. 2, vol. 32, 1988, S. 369 ff. 844 Dazu etwa D. P. Kommers. The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judicial Review, in: The Review of Po litics, No. 3, vol. 47, 1985, S. 113 ff. 845 HierLu beispie lsweise das wichtige Werk von H . Lev;nson, Constitutional Faith, 1989. 1!4& Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern
hat sich in einem ganz bestimmten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Verfassungsgerichtsbarkeit findet weltweit zur Durchsetzung ihrer jewei ligen Verfassung immer weitere Verbreitung und trägt damit in den entsprechenden Ländern implizit zur Festigung oder Ausformung gewisser gesellschaftlicher Strukturen bei. Zur Verwirklichung der normativen Anforderungen und zur Erhaltung des verfassungsrechtlichen Konsenses leisten Verfassungsgerichte e inen wesentlichen Beitrag. Die Verfassung wäre ohne die Verfassungsgerichtsbarkeit lediglich auf ihren sozialen, gesellschaftlichen Rückhalt verwiesen. 847 Um aber e ine in Konfliktfällen drohende Aufzehrung des ve1fassungsrechtlichen Konsenses zu vermeiden, ist die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit nahezu unverzichtbar. Vefassungsgerichten ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, einen von politischen und Handlungszwängen sowie Machterhaltungsinte ressen vergleichsweise unabhängigen Blick auf die Ve1fassung zu werfen . Politisch wie gesellschaftlich bedeutsam und gegebenenfalls wirkungsvoller als die konkrete Gerichtsentscheidung kann dabei die generelle Existenz der gerichtlichen Kontrolle bereits im Vorfe ld e iner "drohenden" Auseinandersetzung mit anschließender Entscheidung in e iner Streitsache sein, da Beteiligte wie politische Instanzen gezwungen sein können, die Verfassungsfrage bereits verhältnismäßig f1ü h und unabhängig zu ste llen.'"' Deutschland aus dem fUr die Restaurationszeit nach den Unruhen von 1848 charakte ristischen Kompromiss zwischen Liberal is mus und Konservatis mus. Deswegen unterscheidet s ie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ,,Rule of Law". Die Ideologie der "Rute of Law" entstand historisch in England unter de m Einfluss einer starken Mitte lklasse, die das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie. während die kontinentalen Rechtsstaats prinzipien sich vor dem Hintergrund von machtvollen und zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die "Bourgeoise·· nicht niederreißen konnte, sondern an de nen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu e rreichen. Der "Rechtsstaat"' erwies sich Hexibe l genug, um im monarc hisch-bürokratischen Kaiserreich genau wie der \Veimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staats prinz.ipien zu sein. De r Inhalt des Begriffs hat sich jedoch seit seinem ersten Gebrauch radikal verändert, wenn man seine heutige Bedeutung im de utschen S taatsrecht, die auch demokratische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen Verfechter hatten. Ähnliches g ilt flir die " Rule of Jaw". War diese Doktrin anfänglich vor allem e ine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der Supreme Court e ine Rechtsprechung geschaffen, d ie den Staat a uf die Durchsetzung von Bürge rrechten verpfl ichtet- eine am Anfang des 19. Jahrhunderts undenkba.re Entw icklung. Eine Minimaldefinition des ,,Rechtsstaats'' könnte gleichwohl auch den Begriff ,.Rule of law" umfassen. Eine umfassende Bibliographie zum Themenkomplex "Rute of Law" findet sich a uf der Website der Weltbatik unter http://www I. worldbank.org/publicsectorllegaVannotated.pdf. 847 Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungsrechtliche Anforderungen a usschließen, vgl. auch D. Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 7. Auft., Bd. 5, I 989 und 199 5, S. 634 ff., 639. 843 Bei e inem Scheitern dieser ,,vor-gerichtlichen Wirkung" ist es dann Aufgabe e ines funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung de m politischen oder gesellschaftlichen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensba.sis widerstreitender Interessen wieder zuzuft.ihren. D. Grimm ( 1989 und I 995) betont aber
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Mit dem Argument, auch Verfassungsgerichte seien gesellschaftlich oder öffentlich verantwortlich, wird tei lweise in der Politik- und Rechts lehre der Versuch angestellt, eine der Politik äquivalente Verantwortlichkeit der VeJfassungsgerichtsbarkeit zu formulieren. 849 Dieser Gedanke verdient Unterstützung, da er alle Beteiligten der Verfassungsöffentlichkeit daran erinnert, was "Verfassung" neben allen anderen Definitione n noch ist: ein Leitfaden ftir Verantwortungsübemahme, ein Dokument zur Regelung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Dabei sollte im verfassungsgerichtlichen Kontext allerdings eine Differenzierung von indivi dueller Verantwortlichkeit der Richter und institutioneller Verantwortlichkeit des Gerichts vorgenommen werden. " 0 Selbstverständlich s ind zu den ve1fassungsgerichtlichen Kompetenzen neben den beiden bereits genannten die konkrete und abstrakte, die vorbeugende und auch gegebenenfalls völkerrechtliche Normenkontrolle, unterschiedliche Verfas sungsschutzverfahre n sowie in föderalen Ordnungen Bundesstaatsstreitigkeiten zu zählen. Wahl prü fungsverfahren und Gutachtenkompetenzen sollen nicht unerwähnt bleiben, wenngleich für den berechtigten Status eines Gerichts als Verfas sungsgericht insgesamt nicht alle Kompetenzen gegeben sein müssen. Allerdings ist ein Mindestmaß an verfassungsgerichtlichen Funktionen zu fordern, die von der Grundrechtssicherung über den Schutz maßgeblicher Verfassungsprinzipien (wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Verfassung'", Gewaltenbalance im Kontext mit der Trennung der Staatsgewalten) bis zur Sicherung des Pluralismus und implizit dem Minderheitenschutz zu reichen haben. m Für die europäischen, einzelstaatlichen Verfassungsgerichte ist das Aufrechterhalten einer kooperativen zutreffend, dass "[d ]ie Bereitschaft, Machtflagen d urch Gerichte schlichten zu lassen,[ .. . ] freilich soziale und kulturelle Wurzeln [hat I, die keineswegs überall, wo eine Verfassung besteht, gegeben sind. Fehlen sie 1 werden Verfassungsgerichte mit den Machthabern kurzgeschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Seide Male ist der Schaden für die Verfassung größer als beim völligen Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit.'' 849 Siehe e twa M. Cappel/etti, \Vho \Vatches the Watchmen?, in: ders., The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 57 ff., 79 ff.; dazu auch U. Halrem, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtraue n, 1998, S. 200 f. s.so Siehe auch 8. Friedman, Dialogue and Judicial Review, in: 9 I Michigan L. Rev. ( 1993), S. 577 ff. s.st Über die Verfassungsgerichtsba.rkeit als "Instrument zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung" sehr instruktiv C. Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: C. Starck/ A. \Veber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in \Vesteuropa, Teilband 1: Berichte, 1986, S. II ff. Zu den antiken Grundlagen a uch des Prinzips des Vorrangs der Verfassung vgl. bereits E. S. Corwitt, The "Higher Law". Background o f American Constitutional Law, in: 42 Harvard L. Rev. ( 1928), S. 149ff, 153 ff. S.Sl Vgl. auch die Aufzählung bei P. HäberJe, Das Bundesverfassungsgericht als Muster eine r selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 200 I, S. 3 11 ff., S . 319, der noch die "friedliche Einordnung des nationalen Verfassungsstaates in regionale Verantwortungsgemeinschafte n" unter dem Stichwort der "Völkerrechtsfreundl ichkeit'" und "die behutsame, buchstäblich so verstandene ,Fortschre ibung' der Verfassung" nennt.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Beziehung zum EuGH miteinzubeziehen (ohne dabei näher auf den vom BVerfG geprägten Begriff des "Kooperationsverhältnisses" e ingehen zu müssen)."' Daneben lässt sich an weiteren Variablen, die den genannte n Elementen einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit hinzugefugt werden sollen, der lnstitutionalis ierungsgrad von Verfassungsgerichten messen"' Dabei ist zunächst die AulOnomie zu nennen, als Fähigkeit von Institutionen, unabhängige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Je weniger sie dabei in Abhängigkeit zu anderen Institutionen stehen, desto höher der Institutionalisierungsgrad. Trotz ihres Ranges als Verfassungsorgan s ind die Verfassungsgerichte nicht in der Lage, ihre Entscheidungen selbst durchzusetzen, sondern hängen dabei von der Akzeptanz ihrer Judikate bei den Adressaten ab, bzw. von deren Bereitschaft, überhaupt e ine judizielle Konfliktbeilegung zu wählen und nicht in andere Formen der Konfliktbewältigung auszuweichen. Diesbezüglich wi rd man dem Supreme Court der Vereinigte n Staaten e inen hohen Grad an institutioneller Autonomie zubilligen können. Prinzipiell dlilf te aber der Autonomiegrad im Bereich der Entsche idungstindung wesentlich höher als im Bereich der Umsetzung sein, was die Ve1fassungsgerichte wiederum durch spezie lle Formen wie Ape llentscheidungen, verfassungskonforme Auslegung oder auch Fristsetzungen zu kompensieren suchen. 855
S.SJ Vgl. beispiels\veise U. Everting, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrifl E. GrabiiZ, 1995, S. 57 ff.; ders. , Die Rolle des Europäischen Gerichlshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäische n Union, 1995, S. 256 ff.; M.A. Dauses, Aufgabente ilung und j udizieller Dialog zwischen den e inzelstaatlichen
Gerichten und dem EuGH aJs Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens, in: 0. Due u. a. (Hrsg.), Festschrifl für U. Everling, 1995, Band I, S. 223 ff. ; C. Tomuscluu,
Die Europäische Union unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ I 993, 489 ff., 494 f.; M. Schröder, Das Bundesverfassungsgerichl als Hiiler des Slaales im Prozess der europäischen Integration- Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DVBI. 1994, S. 3 16 ff., 323 f. ; H. Gersdorf, Das Koope rationsverhältnis zwischen deuiSCher Gerichtsbarkeil und EuGH, in: DVBJ. 1994, S.674ff. s.s4 Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzjpien) sind teilweise an Gedanken von R. U10tra, Paper zur gemeinsamen Tagung von DVPW, ÖGPW und SVPW
am 8. /9. Juni 200 J in Berlin zum Thema: "Der Wandel föderativer Strukturen". Verfassungsgerichte im \Vandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse am Beispiel der BRD, der Schweiz und Österreichs, 200 I, angelehnt. Uwua bettet seine Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein. s.ss Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall zum Präsidenlscha ftsurteil "Bush-Gore" in den Vereinigten S1aa1en (1998/99) oder in Deulschland a uf den "Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93, 1) des BVerfG gezeigt. So-
weit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt, ist sie verständlich und meist auch bald vergessen. (vgl. zur "Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978, S .665 ff.). ln
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Als weiterer Aspekt ist die grundsätzliche Anpassungsftihigkeit von Verfas sungsgerichten hervorzuheben, womit die Möglichkeit \'On Institutionen gemeint ist, sich an Veränderungen ihres Kontextes, Adressatenkreises und institutionellen Umfe ldes anzupassen und diesen (aktiv oder lediglich durch vorbi ldhaftes Wirken) zu beeinflussen. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass die Verfassungs gerichte im Umgang mit den Kompetenzkatalogen der jeweiligen Verfassungen e inen eher restriktiven, gelegentlich dem Bild der Stagnation nicht fernen Kurs verfolgen, der im deutschs prachigen Raum in der sog. "Versteinerungstheorie" gipfelt. Auch die Selbsrorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Strukturen herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzugehen, gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit Hier ist auf die Selbstorganisationsfahigkeit der Verfassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde (integrierende) Tätigkeit und/oder aktivistische bzw. zurliekhaltende Spruchpraxis umgesetzt wird. 856 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben, ihr e igenes Arbeitsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwicke ln sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen. 857 Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz. soll der Grad gefasst werden, in dem intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen abbilden, die s ie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksichtigen haben : Zum einen richtersoziologische Aspekte, die s ich darauf beziehen, inwieweit s ich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbestimmung bei der Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken . Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder seiner Kammern grundsätzlicher. E. W Böekeilförde etwa hat die Gefahr des Übergangs zum "verfas.sungsgerichtlichen Jurisdiktions.staat"" bzw. "Verfassungs-Areopag" besch\voren (siehe ders. , Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 ( 1990), S. I ff., 25), 8. Großfeld von "Götterdämmerunt ' geschrieben (ders., Göllerdtimmerung? Zur Ste llung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995, S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsverlust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und Demonstrationen reagierten nach den sog. "Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE 86, I ff.; BVe rfG, NJW 1994, 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Er.;ten Senats noch viel schärfer. Frühere Kritiken sprachen vom "govemment of judges", von "richterlicher Zensur", von "richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisienmgen (siehe m. w. N. die Zusammenstellung bei K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 17). ss• So auch R. Lhotra (200 I). s.s7 Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assistenten, der Vorselektionsverfahren für Annahme/ Ablehnung sowie Geschäftsordnungen, mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.
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den USA noch in den mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten europäischen Staaten erschöpfe nd nachweisbar. Zum anderen, inwieweit es nicht gerade die hochgradig konsensual und parteipolitisch sowie konkordanzdemokratisch geprägten Richterwahlverfahren sind, aus denen Verfassungsgerichte durchaus ihre Autorität und Akzeptanz ableiten können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Durchbrechungen des Konsensprinzips bei der Richterbestellung auch zu s ignifikanten Autoritätseinbußen sowie zu legitimitätsschwächenden Diskussionen um die PolitisieJUng der Richter führen können - ein sowohl in Deutschland als auch in Österreich wohlbekanntes Phänomen . Der Supreme Court ist im Gegensatz etwa zum deutschen Bundesverfassungsgericht kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der nur über Verfassungsrecht zu entscheiden hätte. Angelegt und von den Verfassungsvätern angerlacht war er zunächst als reines Rechtsmittelgericht, sowohl gegenüber Rechtsstreitigkeiten, die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber bestimmten Streitsachen, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen.sss Die bereits benannte, in der Bundesverfassung vorgesehene erstinstanzliehe Zuständigke it fallt dagegen kaum nennenswert ins Gewicht. Wollte man nun eine Gewichtung der oben aufgezählten verfassungsgerichtlichen Kompetenzen vornehmen, so müßte die Befugnis zur inzidenten Normenkonrolle schon e ine herausgehobene Ste llung erhalten. Allein diese bedeutsame verfassungsgerichtliche Komponente gestattet es, den Supreme Court seit Marbury v. Madison primär als Verfassungsgericht anzusehen. Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die insti tutionellen Merkmale und Variablen zur Ermittlung des Einftusses von Verfas sungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Entscheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Verfassungsgerichteals maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen Wande l zu erfahren.
s.ss Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden Normen von 28 U. S. C. Section 1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein. Nach e iner erheblichen Beschränkung des als "appea l" bezeichneten Rechtsbehelfs durch den 1988erlassenenJudida/ lmpm~'emems and Access toJustice Act, biden die sogenannten "certiorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der zum Supreme Court kommenden Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer "petition for certiorari", den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S . 17 f.
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bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit Darüber hinaus steht der amerikanische Supreme Court exemplarisch und pionierhaftfür eine Anzahl charakteristischer Kompone nten selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit."'9 Dazu zählt zum e inen die Veifassungsorganqualität mit ihrer notwendigen textlichen Verankerung in der Verfassung (Art. ITI der amerikanischen Bundesverfassung, wo e ine Aull istung entscheidende r Kompetenzen des Supreme Courts zu finden ist). Die unabdingbare Garantie richterlicher Unabhängigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung. 860 Sie wird um so wichtiger, je weniger die beiden anderen Staatsgewalten, die Gesetzgebung und die Verwaltung, voneinander getrennt sind: Die politischen Parteien beherrschen Parlament und Regierung. "Beherrschen" s ie auch (ganz oder tei lweise) die Medien, zeigt es s ich noch deutlicher: Die Richter haben einen (relativ) staatsfreien Lebensbereich im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips zu s ichern. 861 Es geht um Fre iheitssicherung durch einen von der politischen Macht (möglichst) abgeschirmten Richter, um Schutz vor der staatlichen Willkür. Das erfordert nicht nur eine formelle (ke in Gericht darf zugleich Verwaltungsbehörde sein), sondern vor allem auch eine mate rielle, sachliche Gewaltenteilung: so sollte ein ausreichender Kernbereich des Privat- und Strafrechts den Richtern zur Entscheidung zugewiesen sein. Es wird naturgemäß vereinzelt Fehlurteile geben. Die Entsche idungsqual ität richterlicher Urteile ist aber durch die Unabhängigkeitsgarantie strukturell eine andere als jene der Verwaltungsbehörden. 862 8.59 Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - angelehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. AuH . 2006, S. 465 ff. Ob sich wenigstens einige dieser Elemente zu "Prinzipien der Verfas.sungsgerichtsbarkeir" erheben ließen, .sei als (noch) o ffene Frage nur angedeutet. 860 Vgl. ausführlich zum Themenkreis der richterlichen Unabhängigkeit in den Vereinigten Staaten J. Ziitzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA
und Deutschland, 2000. 861 Im Kontext mit dem Grundsatz.der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit Marbury ~·. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. No-
vember 1925 (vgl. RGZ I I I, 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht (zur Geschichte G. Meyer-Anschiirz, Lehrbuch des Deutschen Staats rechts, 7 . Auft. I 9 I 9, S. 736 ff.). 861 Siehe auch J. Herrmann, Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richterzeitung I 982, S. 286 f f. Kürzlich H. J. Papier, Die richte rliche Unabhängigkeit und ihre Sc hranken, in: NJW 200 I, S . I089 ff. Bereits früh in rechtsvergleichender Perspektive
F. Decker, Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht liber den Internationalen RichterKongress in Rouen, in: Deutsche Richterzeitung 1953, Seite J 58 ff. Da die richterliche Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt., dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Forderung nach einer unabhängigen Rechtsprechungstätigkeit steht die nach e iner mrionolen Entscheidungstindung nahe. P. Häberle betont zu Recht, Verfassungsrechtsprechung sei nicht "Politik". 863 Sie zeichne sich vielmehr durch in ihren Methoden rational nachprüfbare, oft schöpferische "Anwendung" von "Gesetz und Recht" aus. Allerdings ist Verfassungsrecht nach seinem Gegenstand und seiner Zielsetzung nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf die Materie des "Politischen" bezogen und wird auch in gewisser Hinsicht von daher bestimmt. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten können durch ihre Nähe zum Spannungsfeld, das den Begriff der " politischen Macht" umgibt, nicht von diesem abgetrennt werden. Hieraus ergibt s ich auch kein Konflikt zu der Aussage Häher/es, da diese Streitfragen ja nicht deswegen weniger oder keine "rechtliche Stre itigkeiten" s ind. Vielmehr bleibt der Grundsatz bestehen, diese e inzig und allein nach rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden. Es ist daher umso e her ein Wesensmerkmal von Verfassungsgerichtsbarkeit, gerade nicht e in von politischen Aspekte n abgetrennter Komplex zu sein. Durch Anwendung und Interpretation des Verfassungsrechts wenden Verfassungsgerichte ein Rechtsgebiet an, das Politik und deren immanenten Prozess näher zu bestimmen, nötigenfalls zu gestalten, aber eben auch zu begrenzen weiß. Verfassungsgerichts barkeit hat damit notwendig e ine politische Dimens ion, wenn sie ihre Aufgabe sachlich und ihrer Verantwortung entsprechend wahrnehmen will. Demzufolge sei als weiteres - der mrionalen Reclusprechwrgstärigkeil entwicklungslogisch folgendes - Merkmal selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit das Spamumgsfeldbewußrsein der höchsten Gerichte hervorgehoben. Ebenso ein Charakteristikum selbständiger Ve1fassungsgerichtsbarkeit ist die
demokratische Legitinuuion des Verfassungsgerichts. Grundsätzlich darf bei aller Richtigkeit gewisser "Legitimationsketten vom Volk zu den Staatsorganen"
(V. Schermer, P. Häberle) nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass in der Regel ein vom Volk nicht direkt legitimiertes Gremium von Richtern eine Parlamentsentscheidung der gewählte n Volksvertreter außer Kraft zu setzen vermag. Vernünftige Einwände hinsichtlich dieses " undemokratischen" Vorgehens werden schon geme mit dem Beschwörung des Verfassungsdokuments und der Bezugnahme auf die darin enthaltenen Grundsätze der Staatlichkeil weggewischt.'"' Der Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist im Hinblick auf seine tatsächliche Befolgung seit den Anfangen heftig umstritten, jedoch nicht zu verwechseln mit der ebenso hitzig geflihrten Debatte , inwieweit Ve1fassungsgerückter Richter dieses gegen die Demokratie missbrauchen kann, gibt es in vielen Staaten die Möglichkeit der Richteranklage. 863 P. Hiiber/e, Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S . 466. 864 Vgl. W J. \Viueveen, The Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Consti-
tutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: lbeoretical and Comparative Perspectives, I 993, S. 79 ff., 79.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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richtsbarkeit per se "demokratisch" ist. Bei der Legitimationsfrage geht es darum, ob sich Vetfassungsgerichtsbarkeit in einer logischen, im "crescendo" einander bedingenden Abfolge legitimierender Elemente vom Volk zu sich selbst als Staatsorgan wiederfindet. ln den Vereinigten Staaten ist dies klarer gewährleistet als etwa in Deutschland (Ernennung durch Wahlmänner aus den Fraktionen des Bundestags, § 6 BVerfGG). Die neun Richter des Supreme Court werden vom Präsidenten der Vereinigten Staaten nominiert (Art. II § 2 par. 2 der Bundesvetfassung), der Senat muss sie bestätigen, wobei regelmäßig eine öffentliche Anhörung der Kandidaten stattfindet. 865 Der Chief Justice wird vom Präsidenten alleine ernannt. Weshalb also ist die "Legitimationskette" in den Vereinigten Staaten klarer? Die Bundesverfassung sieht flir die Wahl des Präsidenten eigentlich e ine indirekte Wahl durch ein vom Volk gewähltes Wahlpersonenkollegium (electoral college) vor (vgl. das 12. Amendment). ln der politischen Realität ist die Stimmabgabe durch dieses Kollegium jedoch zur reinen Formsache geworden, da nach der Volkswahl der Wahlpersonen die zukünftigen Amts inhaber praktisch bereits feststehen, obwohl die Wahlpersonen in ihrer Stimmabgabe durch das gliedstaatliche Recht nur selten gebunden werden. Aber auch ein anderer Ausgangspunkt, ein gedankliches "decrescendo", lässt s ich für die Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit finden. Sucht man nämlich nach der Rechtfertigung für den verfassungsgerichtlich geprägten Verfassungsstaat, so ist sie zunächst darin zu erblicken, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechts norm, die Richtschnur staatlichen Handeins ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird, d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs.866 Ist keine Verfassungsgerichtsbarkeit vorhanden, so entscheidet zwangsläufig allein der Gesetzgeber, ob er s ich im Rahmen der Verfassung hält oder nicht, weil es kein Organ über ihm gibt, das Verfassungsschranken überwacht. Die Verfassungsmäßigkeils prüfung würde allein bei ihm selbst ruhen . Dies aber ist solange bedenklich, als alle parlamentarischen Kontrollmechanismen durch Mehrheitsbeschlüsse überwindbar sind. Verfassungsgerichtsbarkeit soll dabei helfen, Verfassungsstabilität zu sichern, 867 aber auch wie bereits mehrfach angedeutet Wege zur Verfassungsentwicklung86' ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten. 86'
Vgl. auch IV H. Rehnquisr, The Supreme Court. How lt Was - How lt ls, 1987, S. 235ff. 1!6& Siehe auch K. Stem, Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung in Bund und Ländern, in: H. H. Klein/ H. Sendler/ K. Stern (Hrsg.), Justiz und Politik im demokratischen Rechtsstaat, Interne Studien de r Konrad Adenauer Stiftung Nr. I I9/1996, 1996. 867 Vgl. W: Bmgger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993, S. 319 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Das Prin{.ip Öffemlichkeir nennt P. Häberle zu Recht "tragendes Organisationsprinzip für Status und Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit" 869• Hierzu tragen etwa neben der zu fordernden öffentlichen Entsche idungsverkündung gerade in den Vereinigten Staaten auch die oftmals mitveröffentlichten - und die Diskussion in der Wissenschaft wie in der Bevölkerung bereichernden- Sondervoten einzelner Richter bei. 870 Lediglich die Verkündung e ines Urteils mit einer knappen Bemerkung zu den Mehrheitsverhältnissen innerhalb e ines Gremiums kann nicht genügen, um insbesondere bei höchstrichterlichen Entscheidungen das Öffentlichkeitserfordernis zu wahren. Die Tragweite einer solchen Entscheidung reicht gewöhnlich über die unmittelbar am Verfahren Beteiligten hinaus, der Gerichtssaal kann selbst bei "öffentlicher Verhandlung" nicht als notwendiger Multiplikator einer kontroversen Entscheidungstindung dienen, die nur a llzu oft die Befindlichkeiten unterschiedlicher Rechtsverständnisse auch in der Bevölke rung wiederspiegelt Die der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende, einzigartige /merpretarionsmacht, ergibt s ich- soviel an dieser Stelle- insbesondere aus der Verknüpfung von drei Eigentümlichkeiten: nämlich dem Prinzip des "Vorrangs der Verfassung", der letztverbindlichen Interpretationszuständigkeit und dem Fehlen eines a llgemein akzeptierten Kanons der lnterpreta tionsmethoden. Die Frage des "Letzte ntscheidungsrechts", wurde bereits im Vorfeld von 1787 in den Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten diskutiert und soll im Zuge einer Betrachtung ausgewählter spezi fischer Eigenheiten der amerikanischen Entwicklung der Vetfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Ausstrahlungswi rkung nicht unerwähnt bleiben. Diese Fragestellung hängt e ng mit der Problematik zusammen, wie s ich die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat überhaupt begründen lässt. Wie kann man also ein Letztentscheidungsrecht der Gerichtsbarkeit in staatl ichen Ordnungen, die zumindestens auf dem Papier die Staatsgewalt dem "Volke" oder den "people" überlassen, rechtfertigen? Die Verfassung, die das Volk (als die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger e ines Landes) in der Rege l über Kom1163
Siehe B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 162 ff. 869 Siehe P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 317. 370 Heute ergehen nur noch wenige Entscheidungen des Supreme Courts einstimmig. Stimmt ein Richterzwar mit dem Ergebnis dervon einer Mehrheit getragenen Entscheidung, nicht aber mit deren Begründung oder Herleitung überein, so verfasst er im Allgemeinen
eine "concurring opinion''. in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsächlichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine "dissenting opinion" oder I und schließt sich der eines Kollegen an. Concurrences und Dissents können sich auch nur auf Teile einer Entscheidung beziehen. Seide stehen in der Tradition der aus der englischen Gerichtspraxis stammenden ~.seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und Geschichte der Sondervoten beim Supreme Court, K.-H. Mi/Jgramm, Sepa.rate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985, S. 59 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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petenzen, Verfahren und Begrenzungen staatlicher Gewaltausübung (jedenfalls mit-)entscheiden lässt, erfahrt ihren besonderen Rang und Vorrang'" aus der Vorgabe als nom1ative Grundlage und verbindlicher Rahmen eben durch das Volk. Eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demzufolge zunächst die des unabhängigen Moderators, aber insbesondere Bewahrers des Ranges und der Funktionen der Verfassung mit dem Auftrag den in ihr verbrieften Rechten und Verfahren Geltung zu verschaffen. 872 Darin geht schlussendlich auch e in Wesensmerkmal der Gewaltenteilung auf. 873 Der "Vorabend" der Bundesverfassung in den Vereinigten Staaten bot dabei bereits eine beachtliche Begtündungsarbeit: im Jahre 1783 weist der Jurist J. Iredeli aus North-Carolina auf eine Republik hin, "where the law is superior to any or all individuals, and the constitution superior even to the Legislature, and of which the judges are the guardians and protectors. " 874 Und A. Hamilron rechtfertigt im bereits benannten Federalist-Artikel Nr. 78 die weite Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem demokratischen Ansatz: "Wenn man leugne, dass Gesetze, die der Verfassung widersprechen, nichtig seien, behaupte man, dass die Repräsentanten des Volkes über dem Volk selber, das die Verfassung beschlossen hat, stünden."
d) Der EuCH als Verfassrmgsgeric/u, Verfassrmgsrechrspreclumg Die Verfassungsrechtsprechung wird gelegentlich als eine "offene Gesellschaft" dargestellt875, die sich nicht wie die anderer Rechtsbereiche zum rechtsdogmati schen Interpretationsmonopol eigne. "Lapidarformeln" hat 8/Jckenf/Jrde - wohl im Bewusstsein, sich selbst dem Vorwurf des lapidaren Vorgehens auszusetzen - die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes wie auch anderer rechtstaatlicher Verfassunge n genannt, "die aus sich selbst heraus inhaltlicher Eindeutigkeiten weitgehend entbehren"" 6 . Daher prägen oft erst die Interpretationen der Gerichte ihre (immanent stets gegebene) Bedeutung. In neu gebi ldeten Staaten weisen sie der lnstitutionalisierung von Recht und Politik die Richtung, wie man an der 871
Zum Vorrang der Verfassung u. a. aUgemein R. Wahl> Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 872 Dazu auch E. W Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: NJW 1999, S. 9 ff., I I f. 873 Auf der GrundJage der Unterscheidung von "pouvoir constituant" und .,pouvoirs constitues"'. 874
Das Zitat findet sich bei G. Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit; Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im J8. Jahrhundert, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberaJen Verfassungsstaates, 1989, S. 55 ff., 64. 375 So P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juris-tenzeitung 1975, S. 297 ff. 37& E. W Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJ\V 27 ( 1974),S.I 529 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Priorität erkennen kann, die Verfassungsgerichten in den nach 1990 glücklich "gewendeten" Staaten rund um das zerfallene Sowjetreich oder auch in Südafrika zuerkannt wird. sn Den Verfassungsgerichten kommt hierbei e ine besondere Rolle zu, nachdem ihre Entscheidungen , gewiss nicht ohne Zutun einerveränderten Medien Iandschaft, zunehmend zu polaris ieren, die allgemeine Diskussionsbereitschaft zu bereichern wissen 878 • Dabei verursacht der EuGH, außer bei den unmittelbar am Verfahren Beteiligten, noch weitaus geringere Empfindungen als die höchsten Gerichte e iniger Staaten, was auch mit einer dort gewachsenen Verfassungs-Identifikation und -Sensibilität zusammenhängen mag. So sehr sich Wissenschaft und Politik um einen europäischen Verfassungsbegriff müh(t)en.,., so beträchtlich ist der Bedarf einer weitergehenden, wahmehmbaren Konturierung des EuGH (auch) als Verfassungsgericht'"', um seine Bestimmung als Versicherung und Triebfeder Europas zu akzentuieren. Ein erster, stabilisierender Baustein der Brücke zwischen europäischem Bürger und europäischen Institutionen wäre mit einer Betonung der verfassungsgerichtlichen Elemente der europäischen Gerichtsbarkeit gesetzt. 377 In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher politischen Institutionen (einschließlich dem "politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad va11 State) überlassen. Vgl. auch E. Bla11kenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches
Instrument und Klagemauer von Bürgern, 1997, der darauf verweist, dass "[e] ine an sich
selbst ge\\'öhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können [glaubt]; sie muss sich dann gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeil oder Grundrechtsverwirklichung entsprechen", siehe auch Be111hem vs Staat der Neder/ande, EGMR 23 Oktober 1985. Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken \Viderhall in der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs de r Europä ischen Gemeinschaft ( 1998), S. 58 ff., 101 ff., 143ff; P. Pemthaler, Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat, JBI 2000, S. 691 ff., 694 f. Obgleich d iese anfanglieh eher historisch ausgerichtet und klar vom Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon> beeinHusst waren. 373 Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes geweckt wurde. vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht: H.J. Vogel, Yideant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DÖY 1978, S.66Sff; R. Lamprecht, Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996; H.P. Schneider, Acht an die Macht! Das BYerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?, in: NJW 1999, S. 1303ff. 879 Dazu oben B. II.2.f)nn). 880 Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten "europäischen Verfassungsgerichts", dem EGMR, wird an dieserStelle verz.ichtet, vgl. aber K. \Y. Weidmann, Der Europäische Gerichtsho f für Menschenrechte auf dem \Veg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, 1985; R. Bemlwrdt, Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/ H. Roth (Hrsg.), Die Praxis des Richterberufs, I 999, S. 119 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität sowie die zunehmende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden a ls in staatlichen Herrschaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den EuGH881 sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. Dem Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen e ine starke Rolle a ls "Hüter des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausftihrung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat der Gerichts hof über Jahrzehnte e ine bestimmende Rolle im Integrationprozess innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der Gemeinschaft als "Rechtsgemeinschaft" beigetragen. aa) Das Rollengeflecht des EuGH Trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Funktionen der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen und in der Europäischen Union ist die Rolle des EuGH jedoch auch von vielen Besonderheiten gekennzeichnet. Diese ergeben s ich insbesondere aus der besonderen Fragilität des föderalen Gleichgewichts in der Europäischen Union, das stets besonders im Blickfeld des Gerichtshofs steht. Der Gerichtshof muss hier die Rolle eines Schiedsrichters zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten einnehmen. Dieser Funktion kommt nach wie vor eine hohe Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des föderalen Gefiiges der Europäischen Union zu. Das Erfordernis fodenller Unparteilichkeit kann allerdings auch in Widerspruch zur Rolle des EuGH bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts treten. Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung 881
Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze. Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechts.schutz.instanz, 1983; G. G. Scmer. Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüte r der Integration, 1988; 0 . Dörr I U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000), S. 386 ff.; P. Häber/e, Europäische Verfassungs lehre, 4. Aufl. 2006, S. 478 ff.; lV. Gmf Vitzthum , Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichende Aspekte, in: JZ 1998, S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsba.rkeit im Zeichen Europas, I998; P. Permhaier, Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestaltenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000, S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik, 1997; G. Hirsch, Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000, S. 18 17 ff.; M. P. Madura, We the Court. The European Court of Justice and the European economic Constitution, 1998.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefördert. Gerade dieses System ist allerdings stets in seinen Funktionsvoraussetzungen durch die gleichzeitigen Prozesse von Vertiefung und Erweiterung gefahrdet. Durch etwaige (weitere) Reformen darf jedoch der Grundsatz der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Vertragsgebiet nicht gefahrdet werden. Dem EuGH obliegt zudem die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts in der Europäischen Union. Das institutionelle G leichgewicht ist mit dem Prozess der Demokratisierung der Union und der damit verbundenen Bedeutungszunahme des Europäischen Parlaments noch komplexer geworden. Der EuGH hat auf diesen Wandel mit seiner Rechtsprechung sensibel reagiert. Es ist zu erwarten, dass die Wahrung der institutionellen Balance als Aufgabe des Gerichtshofs in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. Dem Gerichtshof ist der Schutz der Rechte des Einzelnen gegenüber den Organen der Gemeinschaft anvertraut. Diese Aufgabe wird mit der zunehmenden Vertiefung der Integration und ihrem Vordringen in grundrechtsrelevante Bere iche noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausarbeitung eines eigenständigen Grundrechtskatalogs könnte auch eine Stärkung des EuGH bedeuten. Fraglich ist allerdings, ob auch die verfahrensrechtliche n Möglichkeiten für lndividualrechtssschutz ausreichend sind. Dies ist insbesondere außerhalb des Anwendungsbereichs der Gemeinschaftsverträge problematisch . Lange Zeit wurde die Förderung des Integrationsprozesses als eine wesentliche vom EuGH wahrgenommene Funktion angesehen. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob der Gerichtshof heute noch vorrangig als "Motor der Integration" angesehen werden kann. Zwar gehört die Fortentwicklung der Rechtsordnung seit jeher zur Aufgabe der Rechtsprechung in gewaltenteiligen Systemen. Diese Aufgabe steht jedoch unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verantwortungsspielräume der anderen Gewalten . Mit der zunehmenden Demokratis ierung und Politisierung des Europäischen Integrations prozesses haben sich hier auch die Spielräume für den Gerichtshof verengt. Vom Motor der Integration wird der EuGH vorrangig zum Hüter der Rechtsgemeinschaft Einige Vetfassungsgerichte in Mitgliedstaaten der Europäischen Union könnten bereits für sich in Anspruch nehmen, ,,Europäische Verfassungsgerichte" zu sein - den Ve rtragszielen und dem großen Ziel einer tatsächlich europäischen Gemeinschaft verpflichtet und damit gelegentlich einem europäischen Verfas sungs recht näher als vielleicht der EuGH selbst erscheint. Nun geht der Aufgabenbereich des EuG H über den allgemeinen Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indemer-wie erwähnt- verwaltungsgerichtliche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkeiten•" 1182
Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des EuGH nach dem Europäischen
Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausfUhrlieh von T Opperman11, Europarecht, 2. Aufl 1999, Rdnrn. 709 ff., 372 ff. m. w. N. geschildert.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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auf s ich vereint. Manche s prechen angesichts dieser Multifunktionalität bereits vom EuGH als "Supreme Court" Europas 883 • Freilich wurde dieser Begriff im europäischen Zusammenhang bereits sehr früh geprägt: ~V. Hallsrein hat 1970 im Rückblick auf die Grundlegung des EuGH"' illustriert: "Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiz.iger Gedanke vor: die Verfassungsstruktur derGemeinschaft miteinem obersten Gericht zu krönen, das im vollen Sinn des \Vortes Verfassungsorgan war, einem Gericht wie der amerikanische Supreme Court in seiner g länzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann.••u.s
Lässt sich Ha.llsreins Ehrgeiz in heutiger Betrachtung nach aristotelischer Unterscheidung als unmäßig oder maßvoll und vernünftig e inordnen? Gab oder gibt es tatsächlich übergreifende Entwicklungstendenzen des EuGH zum "Supreme Court" Europas oder verlässt der EuGH bereits abgetretene Pfade hin zu einem "Verfassungsgericht e igener Natur"? Aufhellung könnte ein aktue ller Vergleich mit genanntem US-ameri kanischen Supreme Court bringen, insbesondere und gerade im Hinblick auf eine verfassungsgerichtliche Methodik des EuGH. Die Fragestellung, welche Elemente einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt innewohnen (müssten) und worauf diese weniger theoretisch-dogmatisch als institutionell beruhen (sollten), war bereits im unterschiedlichen Kontext Gegenstand mancher rechtswissenschaftliehen Untersuchung 886• Jedoch sind im gemeinschafts rechtlichen Zusammenhang bislang kaum Ansätze erkennbar, in883 So etwa T. Oppermann ( 1999}, Rdnr. 382; H. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssystems der EU, in: ZRP 2000, S. 52ff., 56; U. E••erling, Zur Funktion des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften als Verwahungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwische n Sozialgestaltung und Rechtsschutz, restschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 293 ff., 294, nennt de n EuGH "Universalgericht". 884 Von 1952- 1957 war der EuGH zunächs t Gerichtshof der EGKS, seit 1958 ist er
laut Art. 3 f. des Abko mmens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25. 3. 1957 i. V. m. Art. 220ff. EGV, 136 ff. EAGV, 31 ff. EGKSV gemeinsamer
Gerichtshof der drei Gemeinschaften. 885
W Hai/stein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Auft. 1979, S. I 10.
sso Siehe hierlu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. Einfühnmg und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof a ls Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 20f.; J. Coppei/A. O'Nei/1, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1 992), S. 669 ff.; F. Jacobs, Is lhe Court of Justice of the European Communities a Constitutional
Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Community and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler / N. Locklrart, "Taking Rights Se rious ly" Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence. in: 32CMl.Rev. ( 1995}, S. 5 1ff, 59 ff. ; J. Rinze, The Ro Je of the European Court of Justiceas Federal Constitutiona l Court, in: Eur. Public l.aw 1999, S. 426 ff. ; J. Schwarze, The Procedural Guarantees in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.),
lns.titutional Dynamics of Europea.n Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers, Vol. II, Dordrecht 1994, S. 487 ff.
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wieweit gerade die amerikanische Verfassungstheorie im Rahmen struktureller Gemeinsamkeiten und trotzbestehender Unterschiede Anhaltspunkte flir ein stabiles Modell europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit bieten könnte oder bereits geboten hat. Die amerikanische Fasson der Ve1fassungsgerichtsbarkeit kann einem fruchtbaren Rechtsvergleich dienen, soweit sich die Erfahrungen einer konstruktiven Rezeption zufUhren Jassen . Angesichts des Vorbildcharakters der amerikanischen Verfassung für eine Vielzahl europäischer Verfassungen liegt ftir die Europäische Union neben einem Vergleich des jeweiligen Verfassungsverständnisses eben auch e ine Gegenüberstellung der höchsten Gerichte nahe .8" Eine Gegenüberstellung beider Gerichtshöfe sollte aber den oben angeführten Grundgedanken der Verflechtung von "Konservative", im Sinne des lateinischen conservare, und "Moderne" zum Inhalt und zur Leitlinie haben. Verfassungsgerichte können über die allgemeinen, offensichtlichen Funktionen hinaus zwei Bestimmunge n erfahren, deren Existenz unbestritten, deren Wahrnehmbarke il in der Öffentlichkeit hingegen begrenzt ist: die Verknüpfung des Schöpferischen mit dem Element des Bewahrens, nur vordergründig ein Paradoxon, tatsächlich aber verschmolzen durch das belastungsfahige Band der inneren Bedingtheit. Auch hier treffen sich Konservative und Moderne. Eine diesbezügliche Betrachtung der Methodik hat folglich den Blickwinkel methodischer Instrumente einzubeziehen, die diesen gedanklichen "Treffpunkt" mit Leben erflillen . Hallstein selbst deutet mit besagtem Zitat bere its Sockel und Arte fakt im Gesamtkunstwerk gelungener Verfassungsgerichtsbarke it an: Verfassungs interpretation und Verfassunggebung. Die erhaltenden und innovativen Komponenten höchstrichterlichen Handeins finden gerade hierin ihren Niederschlag. Die zunehmend energischer vorgebrachte Feststellung, der EuGH sei (auch) ein europäisches Verfassungsgericht, kann eben bereits mittels einer Analyse seiner verfassungsgerichtlichen Methodik bekräftigt werden. Im Übrigen ergeben sich aus dem Verfassungsvertrag unmittelbar kaum Veränderungen ftir die Rolle des EuGH a ls (einem der) Hüter der europäischen Verfassung.88' Dies gilt auch ftir das von der Debatte um eine Grundrechtsbe887
Mit Hilfe "transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen
'"erden, methodische Ansatzpunkte für eine .,europäische" Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils originären Merkmalen auch die Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer Grundlagen derVerfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische \Virklichkeit zu untersuchen wäre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit zur Adaption zukunft.sfahiger institutioneller Charakteristika analysieren. Der EuGH selbst hat I999 ein Reflexionspapier veröffentlicht (www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm), das die Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch, Dezentr..tlisierung des Gerichtssystems der Europäischen Union?, in: ZRP 2000, S. 57 f f., H. Rös/er (2000), S. 53 ff.
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schwerde übrig gebliebene Mehr an Indi vidualrechtsschutz in Art. Jn-365 VerfV. Positiv dürften s ich die Aufhebung der Säulenstruktur und die Angleichung der Rechtsformen auswirken, die justizfreie Räume insgesamt verringern werden. Offen ist indessen, wie Veränderungen im institutionellen Gefüge, die die Rolle der Kommission schwächen, auf den EuGH rück wirken. Die Verschiebungen im institutionellen Gefüge sind in ihren Folgen derzeit noch nicht prognostizierbar. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass die Entscheidungen der Regierungskonferenz über das institutionelle System in ihren Folgen nicht ohne weiteres überschaubar sind. Die europäische wie die amerikanische Verfassungslehre beruft s ich gemeinhin auf Prinzipien innerhalb methodischer und dogmatischer Untersuchunge n, seien es Verfassungsprinzipien, Prinzipien der Verfassungs interpretation•,. oder möglicherweise einmal solche der Verfassungsgerichtsbarkeit Prinzipien dienen dabei der Ummantelung eines Gedankengerüstes, zuweilen auch dessen Statik. Den genannten Problemkreisen liegt dabei e ine gemeinsame Fragestellung zugrunde, die wiederum spiegelbildlich moderne und konservative Ansatzpunkte zu reflektieren weiß: Wie w irkt s ich der Entwicklungsgrad einer Verfassung auf das (Selbst-)Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit aus? Höchstrichterliches sss Ausführlich etwa F. C. A1ayer, \Ver soll Hüter der Europäischen Verfassung sein?. in: AöR 129 (2004), S. 4 11 ff. in diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemessene Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G. C. Rodriguez lglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders., Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, J992): "Die Rolle des Gerichtshofes als sogenannter ,Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als ,Hüter der Gemeinschaftsverfassung' gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte sogenannte "Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils des Gerichtsho fes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die auch in derGemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit allergebotenen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art. L des Unionsvertrages vermuten: ln dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez lglesias seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der Grundrechtsschutzartikel -zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestätigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F, die Rodrig uez lglesias damals als not\vendig und systemgerecht beschrieben hatte. 1189 P. Häbede, Europäische Verfassungslehre. 4. Auft. 2006, S . 258 ff. Siehe auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 199 5 (Neudr. 1999), S. 19 ff.; R. Dreier/ F. Sclnvegmmm (Hrsg.), Probleme de r Verfassungsinte rpretation, 1976.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auftreten kann durchaus unterschiedliche Ausprägungen zur Folge haben, je nachdem ob es sich aktiv an einer Entwicklung oder einer Fort-Entwicklung beteiligt. Der US-Supreme Court hat mit zahlreichen Entscheidungen die Möglichkeit vor Augen geflihrt, Schaffenskraft mit Erhaltungswillen in Einklang gebracht zu haben.•90 Im europäischen Kontext ist diesbezüglich auch dem Entwicklungsstand einer europäischen Verfassung Rechnung zu tragen. Fernerhin hat in diese Überlegungen der Gedanke e inzufließen, ob Verfassungsgerichtsbarkeit selbst gänzlich ohne Verfassung im hergebrachten Sinne existieren könnte, was angesichts der Vertragsstrukturder Europäischen Union bzw. Gemeinschaften (aber auch aufgrund eines "Ensembles von Teilverfassungen" (P. Häberle) !) nahe liegen könnte. Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa. Während allein eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung der obersten Gerichte bereits tragendes Fundament abendländischer und amerikanischer Rechtskultur ist, befindet sich die Europäische Union also noch scheinbar im verfassungsgerichtlichen Konsol idierungsprozess. Wenigstens unter dem Blickwinkel eines gewohnten, e inzelstaatlich geprägten Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit Legt aber nicht gerade die Einzigartigkeit gemeineuropäischer Rechts- und Verfassungskultur wie auch ihre praktische Umsetzung e ine differenzierte, optimistischere Betrachtung nahe? bb) Der EuGH als "Motor der europäischen Integration"? Die Rechtsprechung des EuGH erwies sich letztlich als "more powerful than intended" ... ' Aufgrund seiner "expansiven" Rolle geriet er zunehmend unter den Zwang der Rechtfertigung. Flir viele (gleichwohl nicht unumstritten) ist der EuGH e in "Motor der europäischen Integration" (U. Everling), der antreibt, nicht aber seine Richtung bestimmt. ••2 Wird vor diesem Hintergrund die "ever closer union" 90
Dieser Zusammenhang wird unten in 8 . 11. und V. illustriert. Vgl. schonA. \Y. Green, Po litical lntegration by Jurisprudence. The \Vork o fthe Court of Justice ofthe European Communities in European Political Integration, 1969, Kap. VII : "The court builds a system o f community law. ". Zum Satz ,,More Powerlid Than lntended" vgl. den gleichlautenden Aufsatz in der Financial Times vom 22. August 1974. Siehe auch K.J. After, Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence. A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughte.r/ A. StoneSweet/J. H. H. Weiler (Hrsg.), The European Court and National Courts. Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, I998, S. 227 ff., 227; lv. Dänzer-Vanoui, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: 0. Due/ M. Lutter/J. Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band I, 1995, S. 205ff; K. l.etule ns, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the European Community, in: Yearbook of European Law I 2 ( I992), S. I ff. 91 ' Vgl. J. H. H. \Veile,., Joumey to an Unknown Destination. A Retrospective and Prospective ofthe European Court of Justice in the Arena of Po liticallntegration. in: Joumal of Common Market Studies 3 I ( I993), S. 4 I7 ff. Zum Begriff " Motor ... " U. Everling, '
' 91
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als begrüßenswert e rachtet, fällt die Beurteilung der richterlichen Tätigkeit entsprechend günstig aus. In diesem Fall gilt die normschöpfende Rechtsprechung nicht lediglich als Usurpation politischer Vorrechte, sondern als "besonderes Verdienst"'93 und als Ausgangspunkt flir einen "normative supranational ism". 894 Die Kritik am EuGH nahm in den neunziger Jahren zu.' 95 Die französische Nationalversammlung beklagte in einer Erklärung wortreich die ausgedehnte Kompetenzanmaßung des EuGH.""' Nahezu zeitg leich legte die britische Regie rung ihr Memorandum zur sogenannten "korrigierenden Kodifikation" europäischen Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union. in: Europarecht 32 ( t 997), S. 398 ff., 398 f. Zur Bede utung des EuGH als Motor der Integration C.-D. Elllermann, The European Communities, its Law and Lawyers, in: Common Market Law Review 29 ( 1992), S. 2 13 ff., 2 18; G. F. Mancini, lbe Making of a Constitution for Europe, in: Common Market Law Review 26 ( 1989), S. 595 ff. ; M.L Volccmsek, The European Court o f Justice. Supranational Policy-Making, in: \Vest-Europea.n Po litics 15 ( 1992),S.I09ff., 109. ' 93 So K. Bahlmtlllll, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Bömer u. a. (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Kar! Carstens zum 70. Geburtstag, 1984, S. 17ff., 19. 94 ' J. H. H. Wdler, The Community System. The Dual Character of Supranationalism, in: Yearbook of European Law ( 198 1), S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation o f Europe, in: Yale Law Journal I00 ( 1991 ), S . 2403 ff. Demgegenüber hat H . Rasmussen dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten ignoriert, ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and Po licy in the Europe.1.n Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH zurückzugewinnen. 95 ' Aus der Lit. K.J. Alter, The European Court's Po litical Power. The Emergence o f an Authoritative International Court in the Europe.1.n Union, in: West European Politics 19 (1996), S. 458 ff., 462; dies. , Who Are the "Masters of the Treaty"'? European Governments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998), S. 121 ff., 132 f.; J. Amvei/er, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs de r Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. I; U. El'l:rling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtsho f der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer/ R. Scholz/ D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ebe rhard Grabitz, 1995, S. S7ff., 73 f. ; G. Roller, Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entscheidungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpo litik, in: AöR 123 ( 1998), S. 2 1 ff., 24; H. H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998), S. 213 ff., 2 1S; E. Sc!IU!tz, Die Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtsho fes und die Auswirkungen auf seine institutionelle Autonomie, in: S. Pfahi/E. Schuhz/C. Matthes/ K. Seil (Hrsg.), Institutionelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, \Virkung und Anpassung, 1998, S. 57 ff.; J. H. H. Weiler, The Transfomation of Europe, in: Yale Law Journal I 00 ( 1991), S. 2403 ff.; B. de IViue , Community Law and National Constitutional Yalues, in: Legal lssues of European Integration ( 1991/92), S. I ff, 3. ' 90 Assemblee Narimwle, Quelles reformes pour I'Europe de demain?, Rapport d' information no 1939, Paris 1996, S. 24.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Rechts vor. Das Vereinigte Königreich strebte an, Urteile des EuGH durch die heimische Gesetzgebung zu korrigieren, wenn s ie zu weitreichend erschienen .'"" Der EuGH zog das Misstrauen der Mitgliedstaaten vor allem des wegen auf s ich , weil er nicht als Hüter der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung konstruierten Kompetenzordnung der Gemeinschaft erschien, nicht als " neutraler Richter", sondern als das "lntegrationsorgan der Europäischen Union".••• Die Zusicherung des Gerichtshofs, e r sei sein eigener Wächter"99 , fand in der Rechtsprechung keine Bestätigung. Selbst J. H. H . Weiler, beile ibe kein Kritike r der europäischen Integration (wenngleich auch selten das Florett diplomatischer Differenzierung flihrend), merkte kritisch an : "Der Gerichtshof nimmt seine Rolle als Schutzmann in Europa nicht wahr. Er sagt nicht nein zur Union, wenn sie ihre Kompetenzen überschreitet. "900 Nicht zuletzt durch diese Kritik in seiner Selbstgewissheit erschüttert, urteilte der EuGH am 5. Oktober2000 erstmals, dass die Gemeinschaft jenseits ihrer Ermächtigung agiert habe. 901
'
97
M emorandum des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom
23. Juli 1996, CONF 3883/96, Anlage. Vgl. auch \11. Hummer I IV. Obwexer, Vom"Gesetzesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische M emorandum
über der EuGH vom 23. 7. J996 zur Frage der "korrigierenden Kodifikation" von Richterrecht des EuGH, in: EZW ( 1997) 10, S. 295ff., 301 ff. ' 93 So etwa W: Sc/täuble. damal. Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion> am 3. Dezember 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Helsinki (vgl. das Amt!. Protokoll des Tages). 99 ' Dazu etwa die Editorial Commems. Quis Custodiet the European Court of Justice?, in: Common Market Law Review 30 ( 1993), S. 899ff. 900 Interview in DIE ZEIT vom 22. Oktober 1998, ",n der Unterwelt der Ausschüsse", 5 . 9. 901 Vgl. Rs. C-378/98 Deutschland v. Europäisches Parlamettt (2000). Urteil vom 5. Oktobe r 2000 über die RL 98/43/EG (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere Aufmerksamkeit verdient die unte r Rdnr. 83 a usgeflihrte Begründung: "Diesen Artikel [i. e. Art. IOOa EGV] dahin auszulegen, dass er dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem \Vortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit dem in Artikel 3b EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der Gemeinschaft auf Einzelermächtigungen beruhen." Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten Einzelennächtigung die Nichtzuständigkeit der Gemeinschaft festzustellen, als sei diese erst mit diesem Artikel nonniert worden. Dabei war diese seit jeher das vorwaltende Organisationsprinzip der Gemeinschaft, vgl. auch BVerfGE 89, 155 (Maastricht-Entscheidung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesicht.s der Spruchpraxis des EuGH unkenntlich ge,vorden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich einen Zustand erreicht, dass "[s]pätestens mit Maastricht [ ... ) die der Kompetenzstruktur der Gemeinschaft schon bislang nicht gerecht werdende Pos-tulierung eines ,Prinzips der (begrenzten) Einzelennächtigung' der Vergangenheit angehören" sollte (vgl. TC. W Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, in: Der Staat 35 ( 1996), S. 189 ff.), obwohl d iese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
311
Insgesamt bediente sich der EuGH zur Funktionssicherung der Gemeinschaft einer Rechts prechung, die homogenisierend auf die mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen wi rkte. Dabei ließ er Nütz lichkeits- den Vorrang vor Legitimitätserwägungen. Nach Einschätzung des frühe ren Richtersam EuGH, G. Hirsch, hatte der EuGH in der Zwischenzeit "auf berechtigte Kritik an e inzelnen Urteilen reagiert"''" und eine kooperativere Haltung eingenommen. Dass der Gleichklang zwischen den Organen der Europäischen Union wege n des Mangels an harmonis ierten Rege lungen verloren gehen könnte, erachtet der EuGH zunehmend als ein politisches Problem, auf das er hinweist, das er aber nicht mehr korrigiert. cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild e iner offenen Gesellschaft Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH e ine eigene Jurisdiktion, in den jeder Mitgliedstaat e inen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollis ionsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat, ist jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die inzwischen unmittelbar oder mitte lbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich, dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden, häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die s ie anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur de m nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union. Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen, national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann, sind mithin vergangen. ln einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat s ich auch die Rolle der Richte r in Europa gewandelt; die nationale Gerichtsbarkeit wurde "europäisiert" und in e in Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung e in Spiegelbild der Gesellschaft sein - und s ie ist es zumindest te ilweise"'" -, dann nommen worden war. Es war also nicht aUgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in der Auffassung des EuGH abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag gestärkt wurde (vgl. auch BVe rfGE 89, ISS (18 1)). Denn der EuGH könnte mit seiner Begründung deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum Anlass nimmt, dem impliziten \Vunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritätsprinzip zum neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom "Prinzip der Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert hatte. 901 G. Hirsch, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen lntegrati011, in: Jahrbuch de.s öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 49 (200 1), S. 79 f f., 88. 903 Zur Frage. ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man aJs Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J. J. Rousseau
3 12
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
kann s ich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfahrungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen, unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus vielen Ländern und Regionen zwischen Sizi lien und dem Nordkap, zwischen den überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia.
e) Die Frage der Abhängigkeit ~wischen Verfassrmgsgericlusbarkeir wrd Verfassung Die Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit heutiger Prägung und der unmittelbare Gegenstand ve1fassungsgerichtlicher Aus legung legen den Schluss nahe, Verfassungsgerichtsbarkeit und Ve1fassung seien unauflöslich mite inander verbunden. Bedarf es also eines "Mindestmaßes" an Ve1fassung, um überhaupt verfassungsgerichtlich tätig zu werden oder kann eine Verfassung auch erst durch eine verfassungsgerichtliche Tätigkeit an einem Text oder Rechtsgebilde, das den Anforderungen an eine "Verfassung" noch nicht gerecht zu werden vermag, erwachsen? ln anderen Worten : Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Verfassung oder ist letztere zwingende Voraussetzung flir verfassungsgerichtliches Tätigwerden? Das amerikanische Beispiel steht zweifellos flir den Ausgangsfall: einer bestehenden Verfassung mit einer darin (erstmals) festgelegten Verfassungsgerichtsbarkeit Im europäischen Kontext darf festgestellt werde, das e in "Verfassungsgericht" im weite ren Sinne (EuGH) zunächst "lediglich" einem "Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) "diente" und erst künftig einem Verfassungsvertrag unterworfen wäre. Zwangsläufige Parallelität zwischen Verfassungsgericht und Verfassung ist demzufolge nicht zu konstatieren, gleichwohl ein notwendiges Maß an gleichzeitig auftretenden "Kernelementen" einer Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit
( 1762) "Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstiluierl, so ist das Geselz Spiegel des volonte generat Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän zu effektuieren und dem leblosen Buchstaben des Gesetzes \Virkung in der FUile der Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsfortbildung zum Erfolg. ln diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen
Sinne und durchbricht damit in legitimer V/eise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in dem der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser Leitstem kann nicht kurzschlüssig die "vox populi'" sein. Nicht Populismus ist Sache der Richter, sondern ReaJisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt etwa in "Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. ln diesem Sinne hat die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, wie sie ist, vgl. im weiteren Sinne auch U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkei, Demokratie und Misstrauen, 1998.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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f) Vergleichende Aspekte der Verfassrmgsgericlrrsbarkeit- Kongruenz der Arifgaben
Der Gedanke einer verg leichenden Lehre von der Verfassungsgerichtsbarkeit fand bislang nur recht zaghafte Annähenmg.""' Rechtsvergleichend w ie rechtsgeschichtlich ist zwischen einer formell wie institutionell eigenstä ndigen Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie das Bundesverfassungsgericht heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarke it zu unterscheiden, die im Rahmen der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeilen angesiedelt ist ("implizite Verfassungsgerichtsbarkeit"). in letzterer Hinsicht ist beispielsweise der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskanunergerichts entdecke n kann.''" in e iner komparativen Betrachtung Jassen s ich auch unterschiedliche Archetypen etablierter Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Einfluss auf die Rechtsprechung und Struktur des EuGH feststellen. Ausgeprägt ist dabei der Widerhall französischer Gerichtsbarkeit. 904
Siehe aber P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001 , S. 31 1 ff., 312ff.; H.J. Fal/er, Zur Entw icklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, in: EuGRZ 1986, S. 42 ff.; A. IVeber, Verfassungsgerichte in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 61 ff.;M. Fromo/11, Lajusticeconstitutionnelle dans Je monde, 1996. 905 Vgl. etwa U. Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849, die de m damals vorgesehenen ••Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den Organstreit, bundesstaatliche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsb..1.rkeit auf Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 187 1 kannte Vergleichbares dagegen nicht. Im Kaiserreich von 187 1 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet Die \Veimarer Verfassung von 19 J9 schuf dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Verfassungsgericht verkörperte der \Veimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser Schritt gelang erst mit dem BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche Verfassungsgeber nunmehr zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (StaatS-gerichtsbarkeit im engeren Sinne), sondern auch und namentlich für den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des Bürgers (Verfassungsbesch\\o-erde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungshistorisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von 1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins \Verk gesetzt wurde.
3 14
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Anders als das Bundesverfassungsgericht Deutschlands, das durch seine institutionelle Verselbständigung gekennzeichnet ist, sind dem EuGH ähnlich wie dem US-Supreme Court Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit neben anderen Zuständigkeiten zugewiesen. Der EuGH und der Supreme Court der Vereinigten Staaten s ind damit Beispiele flir die in die Gerichtsbarkeit eingeordnete Verfas sungsgerichtsbarkeit 906 Während in der kontinentaleuropäische n Wissenschaft Arbe iten über die Stellung der Verfassungsgerichtsbarke it vielfach auf die Abgrenzung gegenüber dem parlamentarischen Körperschaften und den jeweiligen Regierungen beschränkt werden907 - eine Beobachtung, die sich hinsichtlich einer entsprechenden Einordnung des EuGH überwiegend bestätigt- geht der amerikanische Verfassungsdiskurs gänzlich andere Wege''", indem er nicht der Gefahr einer Überschätzung des Politischen ausgesetzt ist. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der anglo-amerikanischen Vetfassungstradition der Staat als Gegenstand, ja Zentrum gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung vorübergehend annähernd verloren gegangen war. Heute zahlt sich dieser Umstand insoweit aus, a ls in der amerikanischen Verfassungswirklichkeit und Wahrnehmung derselben der Beitrag anderer sozialer Systeme sowie die Rolle des Individuums e inen vergleichbar höheren Stellenwert e innehmen.'"' Freilich: Mit gute m Grund sind Einwände gegen e ine allzu freimütige Übernahme von Erkenntnissen zur ame rikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es s ich doch augenscheinlich um zwei Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich voneinSiehe dazu auch R. \Vah/, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 104 1 ff., 1046. 907 Siehe etwa K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift flir Martin Kriele, 1997, S. 4 11 ff.; Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, ParlamentarischerGesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985; R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, 1994; dazu kritisch U. R. Halrem, Book Review of Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, in: 7 EJlL (1996), S. 137 f. 901 Siehe nur das richtungsweisende \Verk von B. Ackerman, We The People I: Foundations, 1991; vgl. auch P. W Kahn , Legitimacy and History: Self-Government in American Constitutional Theory, 1992. 909 So auch U. Hatrem, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1997, S. 112 f., der mit Verweis auf die Gedanken von H. \Vil/ke ("Systemtheorie 111: Steuerungstheorie", 1995 sowie "Ironie des Staates- Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft", 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäische n Gesellscha ftstheorie darin sieht, dass diese seit M achiave/li durch eine außerordentliche Staatszentriertheil geprägt sei, worin der Po litik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur Fo lge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert habe. 90&
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, "in beiden Fällen soll eine im einzelnen sehr allgemein gehaltene Verfassung flir einen langen Zeitraum als Fundament der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen. " 910 Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertraganges ichts seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen Gültigkeit durchaus gegeben ist. Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Weiterentwicklung des Gemeinschafts rechts kommt in ihrer historischen Bedeutung derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwischen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar. 911 ln einer kursorischen Aufzählung und in Ergänzung zu den obigen Feststellungen lassen s ich auch bei den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit auf beiden Seiten des Atlantiks (und auch auf EU-Ebene mit Aus nahme des "Volks Bezuges") durchaus einige Parallelen erkennen. So bei der - Wahrung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes (C. Schmitt) - Wahrung der Offenheit und Verfahrensgerechtigkeit des politischen Prozesses (J.H. Ely) - Aufrechterhaltung des diskursiven Prozesses von demokratischer Selbstherrschaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der - Anerkennung der Personen als Freie und G leiche und in der Wahrung der Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Mid1elman)
910
Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht dargestellt am Beispiel der
Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerika-
nische Rechtstheorie, 2000, S. 23. 911
Gelegentlich rekurriert der Supreme Court vergleichend auf gemeinsame anglo-
amerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. HäberJe, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 474 Fn. 677; allgemeine rechtsvergleichende
Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich ebenda sowie beiM. Tushnel, The Possibilities of Comparative Constitutional Law. in: Yale Law Journal, I 08 ( 1999), S. 1225ff, 1230 ff.; siehe auch WH. Relmquist, Verfassungsgerichte- vergleichende Bemerkungen, in: P. Kirchhof/ D. P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, 1993, S. 454. Kritisch gegenüber der .,Einbahnstraßenpraxis" des Supreme Courts M.A. Glell
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
- Ermöglichung "deliberativer Politik" (1. Habermas)912 - Bezugnahme auf einen "Reparaturmechanismus einer deliberativen Verfas sungspraxis" (0. Gersrenberg) 913 Gerichte als Hüter der Verfassung s ind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Arbeitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie bereits erwähnt darf Verfassungsgerichtsbarkeit dabei helfen, Verfassungsstabilität zu s ichern 91 '. Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwicklung91' ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten. Eine solche Verteilung der Funktionen folgt klaren Prinzipien, da s ie dem Gewaltenteilungsprinzip als einem organisatorischen Grundprinzip des modernen freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatliehen Verfassungsstaates wie einer Supranationalen Union, die diesen Maximen verpftichtet ist, entspricht. 916 Fragt man nach der Rechtfertigung flir den verfassungsgerichtlich geprägte n Verfassungsstaat, so ist sie - nach weitgehend "transatlantischem Verständnis"- darin zu sehen, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller ("Über"-)Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber e ine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handeins ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand e ines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird, d. h. einer spezifisch flir die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs. Es druf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies 911
Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheoriedes Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion der ~~verschiedenarti gen Argumente1 die in den Rechtsetz.ungsprozess eingegangen sind und den Legitimationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale Grundlage verschafft haben. ln juristischen Diskursen kommen neben den rechtsimmanenten Gründen auch moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge"'. 9 ll Vgl. 0 . Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997, S. 107: "Das Gericht stellt [ .. . ) in Form von Verfahrensordnungen eine Diskussionstrukmr bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in dem Maße möglich, wie es dem Gericht gelingt, im Modus der Verfassungsauslegung den Hintergrund eines übergreifenden demokratischen Konsenses als gemdnsamen substanziellen Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie zu lösen''. 914 W Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993, S. 31 9 ff. m B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 162ff. 91 & Vgl. nur die Grundsatzreferate von K. Korinek/ J. P. Müller/ K. Schiaich zur Verfassungsgerichtsbarkeit in: VVDStRL Heft 39 ( 198 1), S. 7 ff.
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317
belegt die Geschichte der Verfassungsmäßigkeilsprüfung von Gesetzen seit der Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison ( 1803) über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht in Deutschland, der nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. November 1925917 begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht9 18 , bis zur fest etablierten Normenkontro lle bei zahlreichen Verfassungsgerichten in der Gegenwart. Dieser Entwicklungsprozess kann hier nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei betont: Seit die Verfassungsgerichte Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen dürfen und müssen, gibt es keinen Parlamentsabsolutismus mehr. De r Gesetzgeber hat vie lmehr g rößte Aufmerksamkeit auf die Beachtung der Verfassungsmäßigkeit seines Handeins zu legen.•t• 3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft920 (Enropäische Union) Obgleich die beiden Verfassungsdebatten mittlerweile mehr als 215 Jahre trennen, fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die meisten wichtigen Fragen nicht völlig neu s ind, sondern sich im Laufe der Geschichte wiederholt gestellt haben. Die Vere inigten Staaten fanden sich in der frühesten Phase ihrer Geschichte vielen Problemstellungen bezüglich Verfassungstheorie und -praxis gegenüber, die Parallelen mit der heutigen Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufweisen. Die auffalligste Gemeinsamkeit zwischen dem Konvent von Philadelphia und dem europäischen Verfassungskonvent ist in der Unzufriedenheit mit der jewei ligen Ausgangslage zu sehen: die Unzulänglichkeit der Konföderationsartike l von 1776 dort, die mangelnde Tragfähigkeit der im Vertrag von Nizza im Dezember 2000 erzielten Kompromisse hier. Der geschilderte Unmut widerspiegelte sich in manchen ungelösten Fragenkomplexen, die einige interessante, zeitlich ungebundene transatlantische Pm·allelen- wenigstens in der Ausgangskonstellation- aufzuweisen vermögen921:
917
RGZ II I, 320.
913
Zur Geschichte G. Meye,. Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufage 4
19 19, S.736ff. 919 Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. I Abs. 3 GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben. 920 Zum Begriff vgl. nur P. Häberle. Europäische Verfassungslehre 4. Aufl. 2006, 1 5. 645. 921 Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Uni versität Z-ll Berlin am 6. Juni 2002, abgedruckt in: \\'alter Haltstein-Institut flir Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die
europäische Verfassung im globalen Kontex~ 2004, S. 41 ff., 45 f.
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Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährle istet werden? Kann eine Balance in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatliehen Verwaltung libertragen werden und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist "Identität"? Gibt es ein europäisches Pendant zu "life, liberty and the pursuit ofhappiness"? Es kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die zu Recht als tragende Säulen e ines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsgemeinschaft gelten mögen. Die folgende Allswahl soll deutliche Unterschiede und klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen. 922
a) Konzeptionen der Repräsemation -die Verrrenmg von Bürgern rmd Einzelstaaten Einer der um strittensten Punkte sowohl bei den Beratungen liber die amerikanische Verfassung wie auch während und nach ,,Nizza" war die Frage nach der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute nicht ohne Pathos der "Great Compromise"9l.l genannt und bedeutet eine "aurea mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten- wie im " New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der "Virginia-Plan" vorsah . Durch die gleich starke Ve rtretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Senatoren durch die Legislativen der Einzelstaaten92" konnte die Zustimmung der bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden.
b) Die Kompe1enzverteil11ng zwischen der Union und den Einzelstamen aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das überrascht zunächstanges ichtsder herausragenden Bedeutung der Beziehung zwischen 921 So etwa für einen gebotenen, aber angesichts der not\vendigen Einbeziehung einzelstaatlicher Elemente hier zu weitgehenden Vergleich zwischen "europäischer Rechtss-taatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwickelten) ,,Rule of l..aw" (vgl. auch P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4 . Auft. 2006,
S. 395 ff.). 923 Der Frage, inwieweit Kompromissfahigkeit die amerikanische Verfassungswirklichkeit beeinflusst. wird unter 8 .1.9 nachgegangen. 924 Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre 19 13 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte \Vahlen abgelös-t.
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dem Bund und den Staaten!" Die amerikanischen Verfassungsväter dürfen als Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhängigkeits krieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische Entscheidungen fallen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische U>sung sollte sich schon deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben. ln kontroversen Diskussionen und hart umkämpften Kompromissen entstand auf dem Ve rfassungs konvent in Philadelphia ein neuer zukunftsweisender Föderalismus, den die Verfassung so umriß: - Die Einzelstaaten sollten s ich wenigstens partiell zur "vollkommeneren Union" (more perfect union) integrieren, das heißt, der Zentralgewalt eine Anzahl genau festgelegter Aufgaben und Kompetenzen zuerkennen, - alle weiteren Befugnisse und Funktionen würden pauschal bei den Ländern verbleiben, - die unmittelbare Ausübung staatlicher Gewalt auf beiden Ebenen sollte durch voneinander unabhängige, jeweils in sich durchorganis ierte exekutive, legislative und judikative Instanzengesichert werden, - der Vorrang der Bundes- vor der Einzelstaatshoheit war innerhalb der definierten Zuständigkeiten- Verteidigung, Regelung des Binnen- und Außenhandels- zu gewährleisten.""' Alles in allem ist der e ndgültige Ve1fassungsentwurf des Konvents von Phi lade lphia von Kompromissen geprägt, die für die Vereinigten Staate n eine neue Form der politischen Organisation vorsahen: weder eine nationale, noch eine staatenbündische Verfassung war geschaffen worden, sondern eine Verbindung beider Formen. Die Verfassungsväter e rkannten darin vor allem die Möglichke it, die staatliche Gewalt zu ve1teilen, um somit einer w illkürlichen Herrschaft entgegenzutreten . Wegweisend war die verfassungsrechtliche Neuheit e iner doppelten Souveriinitiir, welcher der Staatsbürger unterstellt wurde -der des Einzelstaates, in dem 925 Zum organisatorischen Grundmodell ausfUhrlieh J. Atmaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat., 1992. Siehe auch T Ltmdmark, Die Bedeutung der GliedstaaJen im amerikanische n VerfassungssysJe m, in: DÖV 1992, S. 4 17 ff. 920 Die Federalist Papers lieferten die ideologische Begründung für das neue politische System: nicht bloß sollte es den Erhalt der frisch errungenen nationalen Einheit nach innen und außen sichern; vielmehr würde der Föderalismus eine wichtige Ro lle bei dem Bemühen spielen, das Prinzip der ~~checks and balances~' zu verwirklichen. Eine Verfassung, so J.Madison (siehe insbesondere die Artikel 18 ff. sowie 4 1 ff.), welche die Ausübung öffentlicher Gewalt zwischen Bund und Einzelstaaten teile, banne die Gefahr staatlicher Allmacht, sichere die Vielgestaltigkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens in den USA.
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er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes.927 Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I § 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch imerstare commerce), Schaffung und Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Landesverteidigung. Artikel 111 s ieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz des Landes sind (supremacy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche p olice power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln. Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der vertikale n Gewalte nteilung, dem System der checks muf balances, sondern sie ist e in Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für s ie war gerade die "Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung flir den Schutz von Minderheiten und dem Recht Einzelner: So war die in e inem großen Staat auftretende Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem e ine Gewähr gegen die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark sein, dass sie nicht überhört werden konnten. Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaffung einer "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik Deutschland - s pielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur"" nicht 927 Dass im Grundsatzder ,,zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts drastisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union habe die Souveränität der Einzelstaaten keinesfalls beseitigt und eben jetzt, im Jahre 1860/ 6 1, demonstrierten die ,,Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom bisherigen Staatsverband. Mit dem Sieg des Nordens wurde künftigen Sezessionsbestrebungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz, dass kein Einzelstaat das Recht hat, aus der Union auszutreten. 923 \Vird auch das politische System der USA als "Bundesstaat" bezeichnet, beanspruchen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres Maß an Eigenständigkeit, also eine umfassendere Kompetenzflille a ls etwa die Länder der Bundesrepublik De utschland (auch nach einer ,.Föderalismusreform" im Jahre 2006). Der Begriff "Bundesstaat" beschreibt ein politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der \Veise zugeordnet sind, dass sie z.um einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, zum andern sich \Vechselseitig beeinflussen, um das "Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. ln der Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht stärker beim Bund oder den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaaten der USA ein höheres Maß an Eigenständigkeit, eine umfassendere Kompetenzfülle als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, 'veshalb die Übertragung der Begrifßichkeit ,.La.nd" auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich ist.
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explizit beschreibt. Sie e rgibt s ich eher indirekt aus den oben erwähnten schriftlich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen wurden.929
(I) Charakter eines Brmdessraates Den bundesstaatliehen Charakter des amerikanischen Gemeinwesens veranschaulichen auch der Name und die Flagge der USA. Ve 1fassungs wirklichkeit, die s ich in kulturellen Errungenschaften, in Bildern und Sprache niederschlägt. Fünfzig Gliedstaaten mit jewei ls eigenen Verfassungen und der das Gebiet der Bundeshauptstadt Washington umgreife nde Dis rrict of Columbia bilden derzeit den amerikanischen Bundesstaat. Fünfzig Ve1fassu ngen kanalisieren den Herrschafts prozess in diesen S taaten, darunter die freilich vielfach ergänzte von Massachusetts aus dem Jahre 1780. Sie bekennen s ich durchweg zu den "ameri kanischen" Grundüberzeugungen des "limited government", der Volkssouveränität und individueller Bürge r- bzw. Menschenrechte, was aber die bunte Vielfalt der jeweiligen Institutionenordnungen und Rechtsgestaltungen nicht ausschließt. Zusätzlich erhält die amerikanische Verfassung ihren f
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Im Gegensatz zu dem streng repräsentativen Charakter der Bundesve1iass ung kennen 24 Staaten e ine Form der Volksinitiative, und mit Ausnahme Alabamas haben alle Staaten die Möglichkeit von Re ferenden in ihrer Ve1iassung verankert
(2) Funktionsweise des US-F/Jderalismus Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaaten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel! § 8 katalogartig aufgelistet. 931 Zudem hält das I0. Amendment ausdrücklich fest, dass alle Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Einzelstaatenoder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die G liedstaaten zwar eine "unbestrittene Domäne e igener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite der Bundeskompetenzen nicht e indeutig.932 Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Aufgabe zu, Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund der vielfach veränderte n Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Geschichte Amerikas und vor allem in Folge des " New Deals", entwickelte s ich, der noch im 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale F/Jd.eralismus, der die Regelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der "police power", die fast alle sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ, zu einem kooperaTiven F/Jderalismus, der e in neues Verhältnis beider Ebenen zu einander- die Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für die Ausführung nationaler Politik- umschreibt. Der kooperative F/Jderalismus setzt auf Koordination und Zusanunenarbeit statt auf strikte Trennung und Rivalität Schwächen der Leistungsfähigkeit von Einzelstaaten und Kommunen im Zeitalter des Sozialstaates haben diese Entwicklung stärker befördert als das Machtstreben des Bundesstaates in Washington. Ohne finanzielle Bundeszuschüsse ("grants in aid") können heute die Einzelstaaten und Kommunen weder das ihrer Souveränität unterstehende Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, noch das breite Feld von Erziehung und Ausbildung sinnvoll bewältige n (Analogien etwa zum deutschen System sind unübersehbar). Damit 931
Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern, Zöllen und
Abgaben z.ur ErhaJtung der Zahlungsverpß ichtungen, für die Landesverteidigung sowie für das Allgemeinwohl; Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staaten; Schaffung eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes; das Militärwesen. 932 So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach Po litikfeldern unteranderem die generat welfare c/ause (Präambel und Art. I § 8) und die necessary and proper clmtse (Art. I § 8 par 18) die den Bund bemächtigte "alle zur Ausübung der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf Grund dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen", entgegen.
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aber haben Rahmenvorschriften des Bundes zur Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Gesetzgebung, Aufs ichtsrechte der Bundesbehörden über die Verwendung der Subventionen, Amts-, Personal-, Sach- und Informationshilfen zwischen Verwaltungsorganen der verschiedenen Ebenen Eingang in die verfassungspolitische Wirklichkeit der USA gefunden .."
(3) lnkurs: Der insrinuionelle Aspekt auf einc,elsraarlicher Ebene Nach wie vor s pielen die Einzelstaaten eine gewichtige Rolle im politischen Prozess Amerikas,." Die genannten Deregulierungen haben ihren Entscheidungss pielraum erweitert; sie haben s ich darüber hinaus durch Steuererhöhungen neue Mittel verschafft, um eigenständige Politik betreiben zu können. Antiquierte Verfassungen sind in vielen Staaten ergänzt oder ersetzt worden, um die Institutionen und politischen Verfahrensweisen zu modernisieren und zu verbessern. Ihre Autonomie und politische Individualität gelten als feste Bestandte ile der politischen Kultur des Landes. Und wo das "vertikale Gewaltenteilungsprinzip", die strikte Trennung also der Kompetenzen des Bundesstaates und der Einzelstaaten, im Zeichen der Kooperation an Bedeutung verliert, gewinnt die Mitwirkung am Entscheidungs prozess der Bundesgewalt durch die Einzelstaaten zusätzliches Gewicht. Ihr kommt die oben beschriebene Art der Willensbildung im US-Kongress ebenso entgegen wie die spezifische Zuordnung von Exekutive und Legislative oder die dezentralisierte Struktur des ame rikanischen Parteiwesens. Letztlich kanalisiere n flinfzig Verfassungen, die den Grundprinzipien der checks and ba.lrmces und der sepa.rarion of powers Theorien folgen, den politischen Machtprozess der Gliedstaaten. Man kann grundsätzlich von einem Abbild der Bundesinstitutionen auf der e inze lstaatlichen Ebene sprechen, was aber eine gewisse Variantenvielfalt im Detail der Rechtsgestaltung und Institutionenordnung nicht ausschließt. An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Goverrwrs, die von der jewe iligen Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse 933
ln den achtziger Jahren des vergangeneo Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Administration im Zeichen des "new federalism" noch mit dem ideologischen Ziel, die Abhängigkeit der Einzelstaaten von \Vashington zu verringern. Als die Republikaner in den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlang t hatten, setzen sie die Reagan-Politik der Übertragung von Bundeszus-tändigkeiten (vor allem im \Vohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man müsse das Washingtoner "big government" reduz.leren und Sozialprogramme näher bei den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräumen, die ihnen bei der Durchflihrung neu übertragener Aufgaben einen relativ großen Verwendungsspielraum zubilligen. ln der deutschen Debatte über eine Verankerung des Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der ,.Föderalismusreform" sind durchaus Parallelen zu sehen. 934 Vgl. auch F. Greß, Wiedererstarken derEinzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. September 1993.
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spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider!" Sie verfUgen in den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staatskongresses fUhrt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die Regierungsgewalt zu teilen. Sowohl der Bund als auch die Staaten verfUgen über ein eigenes Verwaltungssystem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat s ich heute eine Art "Mischverwaltung", ein personelles Zusammenwirken als förmliche Beauftragung der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, he rausgebi ldet. So betraut der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen. Vom Sonde1fall Nebraska abgesehen, s ind die Legislativen der Staaten wie auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Repräsentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Grenze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren die Möglichkeiten der Staatsparlamente, e ine kontinuierliche Politik zu betreiben, stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Parlamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkte n, leiden s ie genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung- der Aufspl ittung in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschlisse. Insgesamt ist der "amerikanische Bürger" e ingebettet in eine ausgeprägte gesellschaftliche Dimension des Föderalismus und Lokalismus, die im Laufe der weiteren Entwicklung durch die ftächenmäßige Ausdehnung und den hohen Grad an gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragme ntierung verstärkt wurde. Bis heute ist die politische Kultur der USA geprägt durch regionale und einzelstaatliche Besonderheiten, dietrotzaller vereinheitlichenden Tendenzen das amerikanische kulturelle, wirtschaftliche und politische Mosaik auszeichnen. bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte93• Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa935
Als Leiterder Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der
Gesetze~ das Kommando liber die Nationalgarde; die Ernennung der Beamten des Landes
(wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf), und sie stehen der Staatsverwaltung vor. 930 Umfassend mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich beispielsweise A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als \Virklichkeit und Idee einer
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ren flir den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales Gebilde flir die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigsten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) s ich in Herrenchiemsee nicht auf e inen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild verständigen . Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz von Macht- und Einflusste ilung anstelle der US-amerikanischen -trennung. 937 ln der Theoriegeschichte des Föderalismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass man s ich in der Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bere its erreicht hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des Föderalismus attestieren•", sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation 939 • Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten ist, mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzufUhren sein, dass sich während des 19. Jahrhunderts eine Verengung auf die Form der Bundesstaatlichkeil vollzogen hat. Wer s ich dieser Begriffstradition verpfl ichtet flihlt, wird sich jedenfalls dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismusbegriff Zurückhaltung auferlegen ...• Zwingend ist diese Verengung aber nicht; s ie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders neuen Herrschaftsform, 1999; P.A1. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (200 I), S . 194 ff., 240. 937 Der deutsche Bundesrat wird von den L..mdesregierungen bestückt und zwingt die Länder damit zur Zusammenarbeit und zur Zustimmung bei bundesstaatliehen Aufgaben (,,kooperativer Föderalismus"). Der "unitarische Bundesstaat" (K. Hesse, vgl. ders., Der unitarische Bundesstaat, I 962) unterscheidet nach Kompetenz.arten; er hat es aber dennoch geschafft, das Paradoxon der sogenannten ,.Gemeinschaftsaufgaben" in die Verfassung zu integrieren. Allerdings befanden sich auch die deutschen L..1.nder in der "Stunde Null" auf einer gemeinsamen Ausgangsbasis, wodurch eine einheitJiche Einteilung der Länder in der Verfassung erleichtert wurde. Insofern war die Einteilung der Stimmrechte pro Bundesstaat und die Einordnung der Staatsaufgaben in Bundes- und Landeskompetenzen nur in der Sache umstritten. Vgl. auch H. Bülckl P. Lerche, Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, in: VVDStRL 21 ( 1964), S. I ff., 83. Zum Bundesstaat als Rechtsbegriff siehe bereits H. Nawiasky, De r Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1928; vgl. auch M. Usteri, Theorie des Bundesstaates, 1964 sowie U. Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, in: DÖV 1962, S. 64 J ff. Zu einer "gemischten" Bundesstaatstheorie bereits P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 428 m.w.N. 9 " Vgl. etwa M. Cappel/eui IM. Seccombe/J. H. H. Weiler, General lntroduction, in: dies. (Hrsg.), Integration through Law, Vol I, Book I S. 4; K. Hecke/, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftbildung, 1998; W: Henel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999;A. von Bogdlmdy, Supranationaler Föderalismus als \Virklichkeit und Idee einerneuen Herrschaftsfo rm, 1999. 939 So etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation- Gedanken überdie Finalität dereuropäischen Integration, 23 integration 2000, S. 149.
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wichtige- Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschichtlichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondem um Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusammenwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in e in höheres Ganzes zu verbinden ... , Die europäische Einigungs bewegung und die damit entstandene Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaften hat durchaus mitbewirkt, dass auch andere europäische Staaten zu einer Diversifizierung ihrer territorialen Gliederung gefunden haben. So entwickelte Spanien 1978 nach der Franco-Diktatur eine Staatsordnung, die auf ganz besondere "Sensibilitäten" in bestimmten Regionen Rücksicht nehmen musste. Die zweite Kammer, der "Senado" ist sowohl Parlamentskammer a ls auch "Kammer der territorialen Repräsentation". Auch die s panische Verfassung unterscheidet nach Kompetenzarten, allerdings werden den autonomen Regionen keine Kompetenztitel zugesprochen..., Die Zuständigkeiten der Regionen re ichen daher nur soweit, wie es die Autonomiestatute der jeweiligen Region zuerkennen. Damit wird e in spezi fisches Merkmal des spanischen Regionalstaates deutlich: Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und den e inzelnen Regionen ist asymmetrisch. Manche Regionen verfUgen über deutlich mehr Kompetenzen als andere. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der spanische Staat nach der Ablösung von Franeo sich zwar in einer I).IO So auch M. NeuesiJeim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S . 507 ff. 'M t Gleichlautend M. Neuesheim1 Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 f f., de r ebenda weite r konstatiert: "Föderalistische Ordnungen sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderalismus ist damit Bildung
eines Ganzen unter g leichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und
personellen Gemeinschaften. Er dient der Selbstbehauptung der Eigenart und der Anerkennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen Unterschieden zum Trotze- im \Vertverständnis und in der Formulierung der Interessen auf einen Grundkonsens aufbauen kann.'' Vgl. auch W. Kägi, in: Die Juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht. Festgabe zur 100-Jahr-Feierder Bundesverfassung, 1948, S. 53.: "Freiheit ist dort, wo diese Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentralismus negiert, sondern durch Selbstgesetzgebung (Autonomie) und Selbs-tverwaltung der engeren Gemeinschaften respektiert und beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die Grundbedingung für die Einheit eines vielgestaltigen Staats\vesens." .., Im "Vortite l" der SJXlnischen Verfassung (I 978) sind in Art. 2 die Unte ilbarkeit ("unteilbares VaterJand aller Spanier") und als Konnexgarantie "das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.
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grundlegenden Umbruchs phase, nicht aber in einer der Bundesrepubli k ähnli chen .,Stunde Null" befand. Die Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung war demzufolge differierend. Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der "Devolution" den Natione n (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht verholfen.•'-' Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die historischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland, Wales und Nordirland eigene Regionalparlame nte und -regierungen erhalten haben, blieben die e nglischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: während Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden s ind, wurde flir die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar e ine eigene "Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution als "Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird9"', ist mehr als fraglich, ob die engli schen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig von derasymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich der .,europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die zweite Kammer könnte sich zu e inem Regionen-Gremium entwickeln, das dem deutschen Bundesrat ähnlich ist. Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten .,Lois Deferre" e igene Erfahrungen mit dem Regionalismus•" gemacht. Hier wurde indes e in symmetrisches Modell angelegt, das den Regionen aber ke ine den beschriebenen Modellen vergleichbaren Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle behalte n. ln der Europäischen Union hingegen stellt s ich die Frage der horizontalen Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: e ine klare, funktionale Rollenzuweisung flir die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von
'.MJ
Dazu M. A1ey, Regionalismus in Großbritannien- kulturwissenschaftlich betrachtet,
2003. '.W Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie aUgemein zur "Devolution" im Vereinigten Königreich Economic&Sodal Research Council (Hrsg.), Devolution Briefings, Devolution is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. I8, February 2005 . .., Zum Regionalismus bereits F. Esterbauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch F. Ossenbiihl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990; A. Weber, Die Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.}, Verfassungsrecht im Wande l, 1995, S. 681 ff.; M. Kotz((r, Föderalisierung, Regionalisierung und Konununalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Verfassungsraums, in: JöR 50 (2002), S . 257 ff.; P. Häberle, Europä ische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S. 43 1 ff. mit zahlre ichen Nachwe isen; siehe auch ders., Kulturföderalismus in De utschland- Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift flir T. Fleiner, 2003, S. 6 1 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Legis lative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt, ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente, nämlich überden Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der Kodezis ion ist nur unzureichend e ntwickelt und erstreckt s ich nicht einma l auf alle Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Der Ministerrat teilt sich in e ine legislative und eine exekutive Funktion zugleich, was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und implementiert die Ratsentscheidungen, libt aber im Wesentlichen keine exekutive Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie s ie historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Momesquieu'sche Prinzip der Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits der Europäischen Union ergibt s ich aus dieser Tatsache. Worin liegt nun die Konsequenzdieser kurzen Betrachtungen? Dass eine föderale Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt, dUrfte s icher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompetenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten "europäischen Zentralismus" am e hesten vor. Allerdings wird gerade nach unte rschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine "europäische" und wohl auch "asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Betracht kommen. Begriffsschöpfungen wie "differenzierte Integration""6, "variable Geometrie"~M7 oder "Europa 3 Ia carte"943 deuten darauf seit längerem hin. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen s ich allerdings auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den Typ föderalistischer Verbundenheit, de r Europäische Union und Mitgliedstaaten ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die in Deutschland vorherrschende Auffassung ist in diesem Zusammenhang geneigt, den Integrationsverbund weiterhin als Ausprägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen . Europäischer Föderalismus lässt sich insofern mit Neuesheim als " konsoziativer Föderalismus" treffend kennzeichnen""' ("Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur Verfass ungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht 'Mb Dazu m. w. N. H. Sclmeüler, Die Zukunft der differenzierte n Integration in der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4/2004, S. 259 ff. 947 Vgl. etwa U. Ruge, Europa variable Geometrie. Die erweiterte Union braucht eine Avantgarde, in: Blätter fUr deutsche und internationale Po litik, 3/2003, S . 314 f f. 943 Vgl. etwa F. Breuss/S. Gril/er (Hrsg.), Aexible Integration in Europa. Einheit oder ,Europa a Ia carte'?, 1998. 949 Vgl. A1. Netteshe;m , Die konsoziative Föderation von EU und Mitg liedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 ff.; H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderation- oder was sons-t?, in: 23 integration 2000, S.l7 1 ff. Anders als im
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren, muss seine Form als "Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Umschlag in die Form bundesstaatliehen Föderalismus gilt es, so die überwiegende Auffassung, gegenwärtig zu verhindern. 950 cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht Das Wort "Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin, Frankreich wolle kein "föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor große Vortei le in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte. Die Trennschätfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich oftmals schwer herzustellen. Die Vereinigten Staaten standen I787 vor der Frage, die die Europäer heute bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die flir die einzelnen Staaten ausreichend Raum flir " nationale" Politik bestehen, gleichzeitig aber ein nach außen handlungsfähiges Gebi lde entstehen lässt? Die Philadelphia Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat fiir die Entwicklung einer Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte. Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. "Staatenverbund" im weiteren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren An liegen e in gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war. Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion aber hilfreich sein: ln der US-amerikanischen Vetfassung ist festgelegt, dass nur ausdrücklich genannte Kompete nzen dem Bund zustehen, alle anderen den Gliedstaaten. So heißt es im 10. Amendment: "The powers not delegated to "bundesstaatlichen Föderalismus'" Hießt die verfassunggebende Gewalt der Glieder in der konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der Europäischen Union); anders als im "bundess-taatlichen Föderalismus·· haben die Glieder auch ihre Souveränität bewahrt.
•so Siehe nur die Beiträge von: I. Pemice/ P. M. Huber I G. Liibbe-IVolff I C. Grabemvarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: 60 VVDStRL 2001, S. 148/1 94/ 2461290 m. w. N.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter Vertrag festgeschriebene "Subsidiaritätsprinz ip" 951 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts anderes als die(mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und A. Hamilron hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahrespäter bei der Verabschiedung des ,,Aiien and Sedition Act" ( 1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos. Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit - und ein Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung finden dürfte. ln einer weiteren Frage offenbaren sich Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem heutigen Europa, nämlich im (nur auf den ersten Blick paradoxen) Grundsatz nach außen mit einer Stimme zu sprechen , im hmern aber von seiner Vielfaltigkeit zu leben. Der Begriff des " Föderalis mus" taugt im Rahmen dieser Debatte nur begrenzt, da sich die begrifflichen Gegensätze bis heute erhalten haben .." Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage nicht verloren. Der sogenannte "duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen Ebenen noch immer nach Politilcfeldern. Er hat die Trennung auf der Legislativebene durch die Volleswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats, durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Ve rabschiedung der USamerikanischen Verfassung zu e inem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten s ich in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die Vertreter in der Convention e ine gemeinsan1e Ausgangsbas is bei der Verfassu nggebung . • " Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritä tsprinzip, I993; P. Hiiberle, Das Prinzip de r Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR I 19 (I 994), S. 169 ff.; M Zu/eeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht., in: Melanges en hommage a F. Schockweiler, I999, S. 635 ff. Im Entwurf des VerfV wurde die Legaldefinition des Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3). 952 Die Anwendung der deutschen Bedeutung des "Föderalismus"-Begriffs auf das politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch. obwohl die
amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als "Federalists". die neu geschaffene Herrschaftsordnung als "federal system'' und die Zentralgewalt in Washing ton als "federal government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit "Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen Amerikaner Zentralisienmgstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Zusammenschluß im gesellschaftlichen, staatlichen oder internationalen Raum mit sehr verschiedenen Ordnungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe "Bundesstaat" und .~Föderalismus" fast identisch.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Schließl ich: Die wichtigste Konsequenz der Amerikaner aus der Ineffizienz der Unionsorgane unter den Konföderationsartikeln war die deutliche Stärkung der bundesstaatliehen Ebene. Eine Beobachtung, die für die Europäische Union lediglich dünne, wenn nicht marginale Parallelen eröffnet.
c) Das Prin~ip der Gewaltenteilung aa) Vorbemerkung Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtverteilung, die Hemmung und Mäßigung der Macht953, aber auch für die sachgerechte Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das e ntscheidende Organ, für die Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten95' . ln ihre m menschenrechtliehen Ursprung955 handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat956 : Die tatsächlichen Mächtigkeiteil werden auf e ine freiheitsberechtigte Gesellschaft und einen freiheitsverpflichteten Staat aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger der Sta atsgewalt gegenüber Waffengleichheit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsgebundene, unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung durchsetzt. ln konkreteren Verfassungsgedanken findet das Prinzip der Gewaltentei lungjeweils seine Ausprägung957: Die Gewaltenteilung zum Schutz der Menschenrechte mäßigt und begrenzt Staatsgewalt im Dienst der Individualrechte und nimmt dabei die Entwicklung der Grundrechte von der bloßen Abwehr der Staatsallmacht hin zum pos itiven Leistungsrecht auf. 9" Das Bundesstaatsprinzip, das den Rechtsstaat weniger von de r Staatsgewalt und mehr vom Staatsgebiet her organis iert, stellt 953 Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 3, 225 (247); 34, 52 (59); 49, 89 ( 124). Zum amerikanischen Ver.;tändnis a us der de utschsprachigen Lit.: P.E. Quint, Gewaltenteilung und Verfassungsauslegung in den USA, in: DÖV 1987, S. 56& ff.; D. P. Currie, Die Gewaltenteilung in den USA, in: JA 1991, S. 261 ff. Vgl. allgemein bereits D. Tsarsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung, 1968. 954 Vgl. allgemein K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auft. 1995, Rn. 475 ff., 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 24 Rn. 50. 955 Vgl. auch Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ( 1789); Titel 111 Art. I -5 der Französischen Verfass ung von 179 1. 95& Vgl. bereits R. Thoma , Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Preußischen Obe rverwaltungsgerichts, 1925, S. 183 ff., 187 Fn. 4. 957 Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht, Band 4, Forum Constitution is Europae- Band I, 2000, S. 37 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demokratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliedemng mäßigend und ordnend insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen "Gewaltenmonismus" beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt -ein Kernbereich der Aufgaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung und seinem Ve rfahren am besten erflillen kann!'• Hat die Verfassung vor alle m eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat.""' Steht die Ve1fassung hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebundenen Ve1fassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Entscheidungen "möglichst richtig" getroffe n werden, so wird die Gewaltenteilung zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip.961 bb) Die Ausgestaltung in den USA In der amerikanischen Verfassung ist das Prinzip der Gewaltenteilung ("Separation of powers") als zentrales Element hervorzuheben. 962 Artike l[ der Verfassung gewährt dem Kongress die Gesetzgebungs kompetenz, Artikel ll beschreibt eher diffus die Exekutivgewalt des gewählten Präsidenten und Artikel III !egt wie bereits geschildert die Judikativfunktion des Supreme Court, der Einzelstaatsgerichte und der unteren Bundesgerichte, die im einzelnen vom Kongress bestimmt werden, fest. Schließlich normiert Arti kel IV das gewaltenteilige Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten. Ebenso wichtig wie die grundlegende Tei lung der Staatsgewalten in Legislative, Exekutive und Judikative ist aber in der Theorie auch die gegenseitige Kontrolle dieser drei Kräfte ("checks and balances"). So wird die Gesetzgebung durch zwei Häuser des Kongresses vollzogen, da die Verfassungsväter dieerheblichste Gefahr im potentiellen Gewaltmissbrauch sahen.963
953
K. Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte. in: Handbuch des Slaatsrechts, Bd. V, 1992, § I08 Rn. 38. 959 Vgl. P. Badum, Die parlamentarische Demokratie 1 in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. l, 1987, § 23 Rn. 6; das Prinzip deullicher dem Demokratieprinzip unle rordnend E.W Biickenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, daselbsl, § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch BVerfGE 68, I (86). 960 E. Schmidt-Assmann ( 1987), § 24 Rn. 47. 961 Vgl. wiederum BVerfGE 68, I (86). 961 Vgl. etwa D. Currie, Die Gewaltenteilung in den USA, in: Juristische Arbeitsblätter 1991, S . 26 1 ff. 963 Dazu elwa G. Gumher, Constitutional Law, 11• ed. 1985, S. 336.
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Die amerikanische Herrschaftsordnung zeichnet sich folglich nach Meinung vieler Beobachter auf den ersten Blick durch die strikte Verwirklichung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips von Exekutive und Legis lative aus. Die politischen Theorien e ines J. Locke und C. de Momesquieu scheinen auf de m Boden der Neuen Welt stärker beherzigt worden zu sein als in Europa, oder, wie dies E. Fraenkel beschrieben hat, die Amerikaner haben die "wesentlichen Merkmale der englischen Ve1fassung, wie sie aus der ,Glorreichen Revolution von 1688/89' hervorgegangen waren, re iner erhalten." 964 Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, alle in schon wege n Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten. 9"' Den Vätern der USVerfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig te ilnehmender Gewaltenausübung gegangen. 966 Das politische System der USA beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits, Repräsentantenhaus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wechselseitig teilhaben und gemeinsam an de ren E1f üllung mitwirken. Sichtbarsten Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Ste llung des Präs identen gegenüber beiden Häusern des Kongresses.967 Sie tritt zum anderen in der gleichfalls verfassungs mäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamentarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt, die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde.•..
964
E. Fraenkel hierzu umfassend in seinem mittlerweile kJassischen \Verk ,.Das ameri-
kanische Regierungssystem", 3. Auft. 1976. 965
Als Stellvertreter (bei Amtsunfahigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei Stimmengleichheit den Ausschlag z.ugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten gewiß nicht reden. %b So in der Konsequenzauch R. Neustadl, Presidential Power & The Modern Presidents, 1990. 967
Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand a lso, dass unter allen Wahlbe-
amten Amerikas allein der Chef des \Veißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung dem Präsidenten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten im Kongress nicht beschnitten \verden kann. 963 Mit dem Senar schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeutung ist und eine wichtige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ln e inem bemerkenswert scharfen Bruch mit überkommenen Vorstellungen formulie rten die Verfasser der "Federalist Papers" die Einsicht, dass- im Gegensatz zu einer Monarchie- in der Republik nicht die Exekutive der dominierende Machtarm sein müsse, sondern die Legislative. Deramerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht für die Handelsgesetzgebung .... Die amerikanischen Verfassungsväter haben die Gefahren e rkannt, die einer strikten Anwendung der Gewaltentrennungslehre innewohnen. So kann die exklusive Betrauungjeweils eines Staatsorgans mit bestimmten Aufgaben die Ausübung unkontrollierter Herrschaft fördern, die strikte Isolierung der Gewalten voneinander die Lähmung des politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozesses befördern. Die Monresquieusche Lehre ist deshalb von den Gründervätern so interpretiert und in Verfassungsvorschriften umgewandelt worden, dass Blockierungen des politischen Prozesses bzw. überzogene Machtansprüche e iner Gewalt zwar immer wieder auftauchten, aber stets wieder gezügelt werden konnten. J. Madison bemerkte dazu: "Wenn Montesquieu sagt, es kann keine Freiheit geben, wo gesetzgebende und vollziehende Gewalt in e in und derselben Person oder in ein und derselben Körperschaft vereinigt s ind, oder, wo die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und von der vollziehenden Gewalt getrennt ist, so meint er damit keineswegs, dass die drei Zweige der Regierung untereinander auf ihre spezifische Tätigkeit nicht ein gewisses Maß von Einfluss ausüben oder einander nicht wechselseitig kontrollieren sollten." 970
Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen verfassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeichnet. der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar. Die Ve rfassung der USA gebietet gemäß Artikel I, § 6, par 2 auch strikte Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat. 969 Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere fUr die Ve rhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle beansprucht. 970 Siehe Federnlist, Artikel 47
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Bereits in den Gründerj ahren entzündeten sich Konflikte zwischen den Gewalten bei der Umsetzung außenpolitisch relevanter Verfassungs normen in die Regierungspraxis. Sie haben sich bis in die Gegenwart im Kompetenzstreit um Rechte im Bereich der Kriegführung (war power) und Befugnisse hinsichtlich des Eingehens internationaler Vertragsverpflichtungen (treaty power) fortgesetzt."'' cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union972 Der europarechtliche Gedanke einer Duldung verwobener, nebeneinander geltender Rechtsordnungen scheint dem Verfassungsrecht zunächst fremd. Eine Verfassung sucht die verschiedenen Rechtsquellen in e inem Geltungssystem derart zu ordnen, dass regelmäßig nur einer der- potentiell kollidierenden- Rechtssätze gilt. Sie unterscheidet zwischen der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt, um jede Revolution durch staatliche Organe als Verfassungsbruch zu entlarven. Sie hebt die verfassunggebende von der verfassungsändernden Gewalt ausdrücklich ab, um die Kontinuität der Verfassungsentwicklung in Inhalt und Verfahren zu gewährleisten. Sie ordnet die verschiedenen Gesetze in einem Rangverhältnis und deren Aussagen nach Spezialität und Priorität. Die Verfassung duldet tradi tionell keine gleichrangigen, konkurrierenden Normen. "Schonender Ausgleich" und "praktische Konkordanz" harmonieren innerhalb des Verfassungsrechts, nicht zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht oder Verfassung und Vertragsrecht. Gleichwohl : das moderne Verfassungsrecht anerkennt mittlerwei le eine "offene Staatlichkeit"973, die den Staat zur Völkerrechtsfreundlichkeit und zur Mitwirkung 971 Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im Umfeld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Zustimmungsrecht des Senats zu internationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen (executive agreements) geschlossen hat. die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst so folgenträchtige Abkommen wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind dem Senat nicht zur Abstimmung vorgelegt \VOrden. Auch in den folgenden Jahrlehnten haben die Regierungen der USA zahlreiche militärische Geheimabkommen mit anderen Staaten getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat. 971 Vgl. statt vieler R. A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung, Föderalismus, Rechtsbindung, in: P.-C. Müller-Graff!E. Riede! (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, S. 99 ff.; H. -D. Horn, Über den Grundsatz der Gewaltente ilung in Deutschland und Europa, in: Jö R 49 (200 I), S. 287 ff. Aus der Perspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenket, Das amerikanische Regierungssystem, 2. AuH . 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im fOderaJen Kompetenzkonflikt, 1998. Zum "institutionellen Gleichgewicht" R. StreiiiZ, Europarecht, 6. Aufl. 2003, S. 217. 973 So etwa bereits K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit. 1964, S. 33 f., 42 f. Siehe im europäischen Kontext auch
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
an der Europäischen Union verpflichtet974• ln Deutschland beauftragt Art. 23 GG die staatlichen Organe, diese offene Staatlichkeil des Grundgesetzes in Richtung auf die e uropäische Integration nachhaltig fortzuentwickeln. 975 Diese Offenheit für die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt in Deutschland durch europäische Organe hat zur Folge, dass neben die staatliche Gewalt eine europäische Gewalt tritt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und Mäßigung nicht nur im Binnenbere ich des deutschen Verfassungsrechts findet. Vielmehr entsteht eine zur Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen berechtigte europäische Gewalt, deren Ziele und Handlungsweisen konträr zu denen des einzelnen Mitgliedstaates stehen können. Dementsprechend gehören Rechtskonflikte zwischen der Gemeinschaft und einem Mitgliedstaat zum europäischen Rechtsalltag. Nicht zuletzt deshalb steht die europäische Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, diese Gewalte n einander zuzuordnen, aufeinander abzustimme n und auf ein gemeinsames Maß auszurichten. Der klassische Gedanke der Gewaltenteilung findet einen neuen Anwendungsbereich . Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird innerhalb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvorbehalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische Legitimationsgrundlage geschwächt. Allerdings s ind die Gemeinschaftsorgane ihrerseits funktionenteilend organi s iert und haben im EuGH ein Gericht, das allen Maßstäben eines Rechtsprechungsorgans genügt. 976 Dieses Gericht ist funkrioneU mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten verschränkt und teilweisejimktionnl in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit eingegliedert. 977 Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung stehen ebenso wie die mitgliedstaatliche und die gemeinschaftsrechtliche Gerichtsbarkeit "nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander", sondern sind "in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander P. Kirchhof Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht, Band 4, Forum Constitutionis Europae - Band I, 2000, S. 37ff. 974 Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, Handbuch des Staatsrechts VII, 1992, § 160 Rn. 16. 975 Vgl. dazu K.-P. Sommermann, Staatsziel ,,Europäische Union"', in: DÖV 1994, S. 596 ff.; C. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S. 489 ff., 493. "'6 Vgl. nur BVerfGE 73, 339 (367 ff.}- Solange II. 977 Vgl. insbesondere Art. 234 EGV, sowie BVerfGE 73, 339 (368).
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verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet"978 • Damit ist der Auftrag der Gewaltenzuordnung, Gewaltenbalancierung und Gewaltenkooperation definiert ..79 ln der vertikalen Gewaltentei lung steht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union von denjenigen der Mitgliedstaaten bzw. subnationalen Einheiten im Vordergrund; bei der horizontalen Gewaltenteilung handelt es sich um die funktionale Rollen der EU-Institutionen, d. h. um die Frage, welche Institution ist das legislative, welche das exekutive Organ und wie stehen die Organe zueinander. Grob gesagt geht es um den "politischen Überbau", dessen klare Ausgestaltung den latenten und immer heftiger werdenden Vorwurf des Legitimationsdefizits der Europäischen Union entkräften soll. Ein erster Schritt hierzu war s icherlich die Verabschiedung der "Europäischen Grundrechtscharta", der jedoch nicht als ausreichend e rachtet werden kann.''0 Aus unionsrechtlicher Sicht ruht die Europäische Union nach Art. 6 Abs. I EUV, aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem allgemeinen Rechtsgrunds atz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, a ls dessen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem "institutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltentei lung verwandtes Prinzip im Gemeinschafts recht entwickelt. Während das "institutionelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwischen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefunde nen gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG) verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitliche n Rechtssatz aufzufassen, der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschaftsrechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der e inen und um ein mitgliedstaatliches
.,. BVe rfGE ebenda. 979 Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation \Veis-t dem Europäischen Gerichtshof die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages zu und sichert durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. BVerfGE ebenda, während die mitgliedstaatliehen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung fUr ihr Europaverfas.sungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsan\Vendungsbefehls tragen. So wird flir das Verhältnis von Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaat ein Gewaltenmonismus auf der einen oder anderen Seite vermieden. 9SO Vgl. U. Guir01, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln flir den alten Kontinent?, in: IP2/200 J, S. 28 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite, sondern um e inen übergre ifenden gemeineuropäischen Rechtssatz. Die Trennung zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und "autonomer" Gemeinschaftsrechtsordnung wird damit zumindest partiell überwunden. Die auf Gewalten- und Funktionentrennung zielenden Regelungen des Gemeinschaftsrechts und des innerstaatlichen Rechts s ind Ausdruck eines rechtsordnungsübergreifenden Grundsatzes der Gewaltenteilung."'
d) ldentitärund der Begriffder Narion Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die "Federalists" mit einem inhaltl ichen wie nahezu lite rarischen Paukenschlag: Es sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Tenitorium e ine Menschheitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob "[ ... ) menschliche Gemeinschaften wirklich dazu fähig (s ind], eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung e inzurichten", oder ob s ie "für immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Ve1fass ung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein."'" In Amerika stand erstmals das Experiment einer großräumigen Republik an , die sich noch dazu nicht dem Zufall, sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.
9SI Die rechtsordnungsüberg reifende Natur insbesondere des Grundsatzes der Gewaltenteilung erweist sich nicht zuletzt im vertikal gewaltenteilenden Subsidiaritätsprinzip, das auch eine Gewaltenbalance zwischen europäischen und staatlichen Organen schaffen will. Es \veist über die jeweilige Rechtsordnung hinaus und setzt notwendigerweise die Existenz
einer vorrangig und einer subsidiär zur Rechtsetzung berufenen Ebene voraus. Neben
dem Grundsatz der RechtsstaatJichkeit, derden Grundsatz der Gewaltenteilung einschließt, findet man be i e inem Abgleich von Art. 6 Abs. I EUV und eJwa Art 23 Abs. I Satz I GG das Demokratieprinzip und die Grund- und Menschenrechte, deren Beachtung wechselseitig von der jeweils anderen Rechtsordnung eingefordert wird. Das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie die Grund- und Menschenrechte sind ebenfalls rechtsordnungsübergreifende Rechtss..1tze, vgl. zum Rechtsstaatsprinzip auf dessen vergleichende Darstellung etwa mit der US-amerikanischen .,Rule of Law" in dieser Arbeit verzichtet werden muss, insb. P. Häber/e, Europäische Verfassungslehre, 4. Auft. 2006, S. 395 ff. m. w. N.; vgl. altgemein a us der LiJ. P. Kunig , Das Rechtsstaatsprinzip, t986; ders., De r Rechtsstaat, in: P. Badurn/ H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesver fassungsge richt II, 200t, S. 379 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997; E. Sarcevic, Der RechtsSiaat, 1996. Zur europäischen Ebene bereits E.-lV. Fuss. Zur Rechtsstaatlichkeil der Europäischen Gemeinschaften, in: DÖV 1964, S. 577 ff.; vgl. auch D. Buc/iwald, Zur Rechtsstaattichkeit der Europäischen Union, in: De r Staat 37 ( 1998), S. t 89 ff.; J. Schwarze, RechtssJaatliche Grundätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Festschrift für G. C. Rodriguez Iglesias, 2003, S. I47 ff. " ' Vgl. The Federalist, t. Artikel (Hamilton).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Indem die "Federalists" auf diesen Sachverhalt hinwiesen, appellierten sie an den amerikanischen Bürgerstolz. Damit hatten s ie der Dis kussion von vornherein eine Richtung gegeben, die kleinliches Kalkül geradezu verbot. Es ging nicht nur um das vordergründige Selbsterhaltungsinteresse, sondern darüber hinaus um eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Dimension. Wie immer das Ergebnis dieser Entscheidung zu beurteilen ist - wer sich an einem Geschehen beteiligt weiß, mit dem ein Meilenstein in der Geschichte gesetzt wird, dem ist damit ein Moth• gegeben, über den bloßen Augenblick, über das eige ne kleine Leben hinaus zu denken . Mag man auch solchen Stolz auf das Mitwirke n im Weltgeschehen als e ine nur etwas subtilere Form der Befriedigung des Eigeninteresses deuten- auf jeden Fall verkörpert sich darin e in wenig mehr als die Sorge um das bloße Alltagsgeschäft, und dieses "Mehr" ist es wohl auch, das Begeisterung zu wecken vermag."'' Große Ideen mobilis ieren gelegentlich auch große Emotionen, und auf diese ist man bei der Durchsetzung von über den Tag hinausweisenden Zielvorstellungen nicht weniger angewiesen als auf einen klaren, nüchternen Verstand. Doch die "Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee, s ie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermenschlichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem s ie versprachen, dass s ich gerade durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen ein neues Mittel für einen alten Zweck. So s ind die Vorteile, die die Autoren einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von der Att, wie s ie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik. 9"
"' Vgl. a uch A. und IV. P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton, Alexander. Die Federalist-Artikel, 1994>S. xxvii ff., xliv f. sowie B. Zelmpfemz.ig, Das Experiment einer großräumigen Politik, in FAZ vom 27. I I. 1997, S. II. 9S:I Zu den ökonomischen Vorteilen zählt der \Vegfall der Zollschranken, eine bessere Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot., das aufgrundder freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ auch für andere Nationen attraktiv wird. Was die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die "Federalists"in einer engen Union den Garanten flir Frieden zwischen den Staaten wie auch zwischen der Union und anderen Nationen; schon die gemeinsame Stärke sollte andere davon abschrecken, nach dem bewährten Prinzip des ),divide et impera" zu verfahren und die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftritt, hat vorher vielleicht po litische Fakten geschaffen, die dann ein gemeinsames militärisches Vorgehen unmög lich machen, vgl. hierzu A. und \V. P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.)> Hamilton, Alexander. Die Federalist-Artikel, 1994, S. xxvii rr. sowie M. Diamond, Democracy and The Federalist: A Reconsideration of the Framers• lntent, in: American Political Science Review 53 ( 1959), S. 52 ff. ln weiterem KontextE. F. Mit/er, What Publius Says about lnterests, in: Political
Science Re,•iewer I 9 (1990), S. I I ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Das amerikanische Nationalgeflihl ist zweifelsohne -und nicht erst seit dem I I. September200 I ("United we stand." "We are all Americans.") - e ines der stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der Verfassunggebung eine bedeutende Ro lle. Schließlich hatten die Sied ler den Unabhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes Element für das Identitätsgeflihl war s prachlicher Natur, da s ich trotzder Vielsprachigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die "lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chancen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es e in Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer Identität und Souverän itätsbewusstsein "geboren". 98' Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die "final ite politique", das Ziel einer Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der "föderierten Nation" der USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der "Einheit in Vielfalt". Trotzdem darf von e iner "europäischen Identität"986 gesprochen werden. Letztere zu definiere n ist zum ersten Mal in dem Dokumenr des Europliischen Rares in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses in Fontainebleau 1984 versucht worden. Die Zielsetzung war freilich nicht, nationalstaatliche Identitäten in einem europäischen "melting pot" zu verschmelzen. Aber ebenso wie "life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declamrion of lndependence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, s ind die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand, Solidarität, Freiheit, und der Absicht, Europa e ine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben, ins Leben gerufen worden.?" 985
Siehe auch G. Burghal"dt, Die Europäische Verfassungsentw icklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002., sowie J. Ellis, Founding Brothers. The Revolutionary Generation, 2002., Ch . •,Generations: ,Sovereignty did not reside with the federal govemment or the individual states; it resided with The People. \Vhat that meant was anyone' s guess, since there was no such thing at this formativestage as an American ,people' ; indeed. the primary purpose of the Constitution was to provide the framewerk to gather together the scattered strands of the population into a more coherent collective worthy of that designation." Dem großen "amerikanischen" Europäer A. Eilistein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: .,America is not a state, it is a continent. 1be Americans arenot a people but the result of permanent immigration which has not yet come to an end . ~' 9Sb Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, 1995; M. Schaue,., Europäische Identität und demokratische Tradition, J996; D. Scholz, Europa - vom Mythos zur Union. Gedanken über die europäische Identität und die Aufgaben Europas nach Maastricht ll, 1996. Vgl. auch E. Padre, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVBI. 2002, S. 1154ff; W Graf Vitzthum, Die Identität Europas, in: EuR 2002, S. I ff. 9S7 Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor der Aufgabe, Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs verleiten zur Annahme, hier sei europäische Ide ntität raumgreifend und in den Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung atmet das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas.•ss Man orientiert s ich a llerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und unverhohlener Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Den alten Kontinent als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich fiir Europa-Idealisten geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet s ich Europa wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es s ich durch diesen Gegensatz selber charakterisieren und die viel gesuchte Identität tinden kann- im "Alles-nur-nichtAmerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle der Karikatur eines ,,Neoliberalismus" nach Wi ldwestmanier - in seiner gegenwärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv genug, um identitätssti ftend sein zu können? Wie stark ist denn eine europäi sche "Hochkultur", die gegen den Angriff des anterikanischen "Primitivismus" durch prote ktionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den Holocaust wirklich mehr "sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als 200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten bekämpft und bes iegt und s ich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige e uropäische Identitäts suche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutschfranzösisches Direktorat ftir Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen . Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbereichen belebt und s ie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird ftir Frankreich schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich ebenfalls in einerneuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer WeltmachtEuropa träumen, die mit Amerika "auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, tinden im Konvents entwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip Einstimmigkeit unterwOJfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär. mi t dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum "stakeholder'" der
gemeinsamen Zukunft zu machen. Ein symbolträchtiger Anfang war mit europäischer Hymne, Flagge und dem Euro gelungen. 981 Vgl. J. Habermas (mit J. Derrida), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas",
in: FAZ vom 3 1. Mai 2003, auch in: Blätter für deutsche und internationale Po litik, Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Mitgliedstaaten sind in ihren Verfassungswerten, den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und der jeweiligen nationalen ldentität989 zuweilen ausgeprägter typisch europäisch als die Europäische Union, die sich unter dem mehr oder weniger sanften Diktat der Wirtschaftsgemeinschaft eher am Globalen ausrichtet. P. Häberle s ieht in "Europa i. e. S. der Europäischen Union bzw. der Römischen Verträge ( 1957) sowie der Verträge von Maastricht ( 1992) und Amsterdam ( 1997), [ ... ] durchaus schon ein Ensemble von Teilverfassungen" verwirklicht, wobei eine "Vollverfassung" im Sinne des klassischen Verfassungsstaates schon daran scheitere, dass Europakein "Staat" sei. 990 G leichwohl ist im gemeinschaftsrechtlichen Kontext der Verfassungsbegriff -wie oben dargestellt- von seinem traditionellen Staatsbezug zu lösen 991 und einer neuen Wirklichkeiten gewachsenen Definition zuzufiihren. Ein Erwachsen in e ine e meute "Verfassungsmoderne" auf den Fundamenten, unter der "Elternschaft" europäischer Verfassungs leitbilder, aber insbesondere auch im Bewusstsein amerikanischer Verfassungsgestaltung. Ein identitätsstiftendes Moment erscheint diesbezüglich nicht ausgeschlossen. Eine weitere Frage (die aufgrundihrer vordergründigen Loslösung vom gemeinschafts rechtlichen Ansatz eher als lnkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der " Nation". Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die Stelle der Re ligion getreten ist. Die- wie bereits erwähnt- im 17. Jahrhundert der Staatlichkeit unterwotfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element gebannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen, sondem zwischen den Nationen sta tt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen waren durchaus vergleichbar. Die "Nation" war durch die Romantik ursprünglich als e in eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die als zu intellektuell e mpfundene Aufklärung. 992 Die romantischen Gegenwerte zur Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanis mus brauchte die fran989
Aus der Lit. zur .,nationalen Identität": A. Bleckmamr, Die \Vahnmg der nationalen Identität im Unionsverlrag, in: JZ I997, S. 265 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identitä t der Mitgliedstaaten, in: A. Randelzhofer/R. Scholz/D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eber!tard Grabitz, 1995, S. I 57 ff. ; U. Halrem, Europäischer Kulturkampf. Zur Wahrung "nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (I 998), S. 59 I ff.; K. Doehring, Die nationale "Identität" der Mitgliedstaaten der EU, in: 0 . Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling, 1995, Band I, S. 263 ff. 990 Siehe P. Hiiberle, Verfassung a ls Kultur, in: JöR 49 (200 1), S. 125 ff., 132. .. , So auch P. Hiiberle, ebenda. 992
Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus, von der Vernunft, vom
Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft wurde in der Romantik die Emotion betont, anstelle der universaJen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die Gruppe.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der als staatliche Identifikations figur ("L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in e in politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von "Nationalstaaten" beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England, Frankreich, Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser Form. Etwas gänzlich konträres ereignete sich in Amerika: formal wurde freilich ein Nationalstaat gegrlindet. Angesichts des umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Geflihle allerdings nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor a llem in moralischen Kategorien manifestieren. Europäische Nationen begrUnden sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begrUndet s ich weitgehend religiös und moralisch. Im Verständnis der Vereinigten Staaten spielte das "Gute", flir das diese Nation steht, von allem Anfang an e ine zentrale und religiös beg1iindete Rolle. In diesem Zusammenhang erweist es sich als banale Konsequenz: Wenn es das "Gute" gibt, muss es aber auch das "Böse" geben. Nach außen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die "Achse des Bösen" erfunden worden ist. Nach innen werden "böse" Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum "Guten". Hier liegt ein weiterer Grund fiir die Inkompatibilität von "existentieller Zugehörigkeit" nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität. e) Das Denwkrarieprin~ip -Anmerkungen
Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort "demokratisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus e iner unterschiedlichen Nutzung der Temtinologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist. 99' Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem Wort "demokratisch" lediglich e ine unmittelbare Demokratie, wie s ie in antiken 993
Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokratischen Gedankens ist neben aller wissenschaftlicher Ansätze bis heute die Lyrik lV. lVhirmans. Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk ,,Leaves of Grass" (erste Ausgabe 1855, Ausgabe letzier Hand 1891-92) fe iert a usdrucksSiark den freien Menschen und das
Ideal der amerikanischen Demokratie. \Vhitmans \Verk beeinflusste überdies die Lyrik Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln wiederum dort, unter anderem bei Homer, Shakespeare und Goerhe und im Pathos der italienischen Oper. Hierzu D. Reyno/ds, \Valt Whitmans America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Stadtstaaten bestanden hatte und in e inzelnen Schweizer Kantonen existierte."'' Eine auf dem Repräsentativsystem aufgebaute, das Prinzip der Volkssouveränität zum Mindesten theoretisch respektierende Verfassungsform nannte man "Republik". Nur unter Berücks ichtigung dieses Sprachgebrauchs ist es voll verständlich, warum bei der Beratung und Ratifizierung der Verfassung mit solchem Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass die USA zwar ein "republikanisches", aber ke in "demokratisches" Staatswesen darstellen sollten. 995 Das demokratische Element im Prozess der politischen Willensbildung der USA wird durch die Tatsache gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu Kontinentaleuropa die demokratischen Kräfte sich nicht gegen monarchische, aristokratische, bürokratische und militärische Kräfte durchzusetzen, sondern ausschließlich mit der Opposition e iner sich in ihren Eigentumsrechten bedroht fühlenden wirtschaftlichen Elite zu rechnen hatten. Zudem war der letztliehe Sieg der demokratischen Kräfte nicht durch theoretisch abgeleitete Vorstellungen eines "Gesamtwillens" beeinflusst, der die Geltendmachung von Partikularinteressen grundsätzlich ausschließt, sondern als eine Erscheinungsform der Wahrnehmung der individuellen Interessen der sozial nicht differenzie1ten Siedler des neuerschlossenen Grenz raUJllS (.,frontier") in Erscheinung trat. Die schrittweise Demokratisierung des ameri kanischen Regierungssystems hat dessen rechtsstaatl iehen und pluralistischen Charakter nicht beeinträchtigt(- eine Erkenntnis, die im Lichte aktueller amerikanischer Außenpolitik und darin strategisch verankerter "Demokratisierungs-Missionen" auch spiegelbildlich Aktualität beanspruchen könnte). Ebensowenig wie die Doktrinen Rousseaus den urspliinglichen Verfassungstext bestimmt haben, konnten die Theorien der Französischen Revolution die Fortentwicklung der Verfassungsordnung maßgeblich leiten. Allerdings verbergen s ich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demokratie zuweilen widerstreitende politische (und in der De mokratietheorie inflationär behandelte) Haltungen: Eine plebiszitttre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines e inheitlichen nationalen "Gemeinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und einepluralisTische Vorsrellrmg der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstä tigke it die Resulta te aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen994 E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 39 ff. sowie H. Wasser, Die Vereinigten Staaten von Amerika. Porträt einer Weltmacht, 2. Auflage 1982 unter häufiger Bezugnahme auf Fraenke/. 995 Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das Gemeinwohl nur durch das freie Zusammenspiel der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spielregeln erforderlich, die - zum Mindes-ten in der ersten Periode der amerikanischen Verfassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralis-tische als durch demokratische Gedankengänge bestimmt waren.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die "Federalist Papers" verfaßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses Ringen zu einer Art "Arbeitsteilung" gefiihrt und bewirkt, dass die Ideologie der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war. 996 Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demokratische ist, beantwortet R.A. Dahl wie folgt: "Madison meint Demokratie, wenn er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische Regierung sagt."997 In Europa besteht "demokratische Identität" in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität weniger in diesem Bereich als darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne zu berufen vermag, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. Demzufolge erhalten Recht und Justiz in den Vereinigten Staaten eine gänzlich andere Funktion als in Europa, nämlich letztlich eine in weiten Teilen politische. 998 In Europa bedeutet übrigens "Politik" unter anderem, dass in den politischen Instanzen, insbesondere in den Parlan1enten um die Gesetzgebung gestritten wird; die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staaten wird um Rechte gestritten ; der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen . Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt- horizontal- in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern dieser Nation die Vorste llung eines "vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die "founding fathers" wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken . Die Frage nach den Erscheinungs formen des Demokratieprinzips in der Europäischen Union wird oftmals mittels der Benennung der Defizite beantwortet. 99•
Vgl. zu alledem E. Fraenke/, Dasamerikanische Regierungssystem, 1960, S. 39 f f. Vgl. R.A. Dalr/, How Democrarie ls the American Constitution, 2002, S. 5, 161. 99' Vgl. auch G. Haller, Recht - Demokratie- Politik. Zum unterschiedlichen Verständnis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat an lässlich der Tagung .,Die USA- Innenansichten einer Weltmacht", 7./8. Februar2003 an der Katholischen Akademie in Bayern, München, http://www.grethaller.ch/kath-ak-muenchen.html. 997
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar999, weshalb lediglich einige Schlaglichter geworfen werden sollen. Zum einen: Der Inhalt einer Verfass ung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich auch nach der Inte nsität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umgebenden oder schaffenden Organe 1000, insbesondere aber einer s ie einfassenden "demokratische n, pluralistischen Öffentlichkeit" "101 • Die nationalstaatliehen Regierungen, die auch die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union unter ihrer Kontrolle haben, sträuben s ich weitgehend gegen eine Verminderung ihres Einftusses. 1002 Solange der Union jedoch eine eigenständige demokratische Legitimation fehlt, könnte der Einftuss der Regierunge n auch aus normativen Gründen nicht rasch zurückgedrängt werden. Ohne europäische Medien, europäische Parteien und eine europäische öffentliche Meinung lässt s ich das europäische Demokratiedefizit auch nicht durch bloße Vetfassungsreformen abbauen. Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten "europäischen Demokratiedefizits" indes darin, dass- bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die nationalstaatliche Ebene durchgreift- die in den Mitgliedstaaten geltenden Partizipationschancen tendenzie ll entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürger dann unterworfen s ind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu ziehen ; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unte r den Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber "europäischem Zugrifr' noch gegenüber der jewe ils eigenen Bundesebene gesichert. .". Vgl. etwa A. 8/eckmann, Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 200 I, S. 53 ff., 57; D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, in: JöR 49 (2001), S. 63 ff., 69 ff. Vgl. auch J. Drex/11. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999; D. Thiirer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: 0 . Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling, 1995, Band 2, S. 156 1 ff.; M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997. Siehe auch P.M. H11ber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen lntegrationsprozess, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 349 ff.; /. Pemice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 29 ( 1993), S. 449 ff.; H. H. R11pp, Europä ische Verfassung und Demokratische Legitimation, in: AöR 120 ( 1995), S. 269ff.; D.M11r.nviek, Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat 32 ( 1993), S. 191 ff. 1000 Es stellt sich allerdings die Frage, \\o'elchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen sind, die eine Verfassung erst schaffen; Verfassungsorgane werden selbst in der Regel erst durch eine Verfassung gebildet. 1001 P. Häbede sieht diese demokratische- pluralistische- Öffentlichkeit als Beteiligte an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 235 ff. und in: Verfassung a ls öffentlicher Prozess, 2 . Auft. 1996, S. 198 ff.). 1002 Vgl. F. Scharpf, Die PolitikverHechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 1985, S. 323 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Zur Evaluation"'": auf europäischer Ebene s ind die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger vom Umfang betrachtet mager und angesichts ihrer Relevanz dürftig. AufSachentscheidungen ist den Bürgern keinerlei Einfluss eingeräumt; unter personellen Gesichtspunkten entsprechen die gewährten Möglichkeiten kaum dem Kriterium der "meaningful elections". Auch der Differenzierungsgrad der Beteiligungsmöglichkeiten ist gering. Es findet keine Differenzierung nach Stadien des Entscheidungsprozesses statt; hinsichtlich der Entscheidungsebenen ist eher e in Minus zu konstatieren, da die europäische Ebene die Chancen effektiver Beteiligung auf mitgliedstaatlicher Ebene verringert. Nur nach Sektoren gibt es eine gewisse Differenzierung, wenn auch nur informell : Über Anhörungen und den Zugang zu europäischen Politiknetzwerken gelingt es sektoralen Eliten, aber auch NGOs durchaus, den europäischen Entscheidungsprozess- ggf. sogar im Stadium des agenda-setting - zu beeinflussen. Zudem ist das Kriterium der Kontestierbarkeit nur marginal etf üllt. De r EuGH kann zwar gegen die Mitgliedstaaten angerufen werden, kaum jedoch gegen europäische Entscheidungen. "'"' Die Mitgliedstaaten bleiben abseits der EU-Regelungsbereiche weitgehend autonom. Mangels vertraglicher Kompetenzabgrenzung s ind ihre Autonomiebereiche indessen nicht "gesichert"; auch verringert s ich die Schutzwirkung mitgliedstaatlicher Autonomiegarantien gegenüber ihren Untereinheiten. Dagegen werden individuelle Autonomieans prüche gegenüber mitgliedstaatlicher Politik durch Oeregulierung sowie dank des Wirkens des EuGH tendenziell gestärkt. Über das nationalstaatliche Veto sowie das Bemühen der Kommission um Einbeziehung organisierter Interessen ist die lnklusivität des europäischen Entscheidungssystems vergleichsweise hoch. Allerdings verfUgen Blirger(-gruppen) und Interessenten über keine zuverlässige (einklagbare) Mögl ichkeit, Inklusion zu erlangen . Das Kriterium der "politischen Gleichheit" (ob nun wünschenswert oder nicht) ist definitiv nicht etfüllt. Weder im Europäischen Parlament noch (vermittelt) im Rat sind die europäischen "Völker" mit gleichem Stimmrecht vertreten. Auch hinsichtlich der Angemessenheil des Entscheidungssystems für die GesellschaftssttUktur sind Defizite zu vermelden: Das System berücksichtigt die große Heterogenität und mehrdimensionale Segmentierung nur unzureichend. ' 00' 1003 Vgl. auch H. Abrome;t> Ein Maß fUr Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich, Vortrag am Institut fUr Höhere Studien in \Vien am 15. März 200 1,2001.
1001
Siehe aber Art. 230 EGV. Für H. Abromeit, Ein Maß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich, Vortrag am Institut für Höhere Studien in \Vien am 15. März 2001,200 I, gilt das in zweierlei Hinsicht: "(J) Tiefe Segmentierung der Gesellschaft legt ,konsoziative' Entscheidungsstrukturen an der Spitze nahe. Jn der Tat verfUgt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU über alle wesentlichen Merkmale einer konsoziationalen Politie, vom ,power-sharing at the top' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei 1005
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die bisherigen Demokratisierungsversuche laufen weitgehend auf Parlamenta risierung (und damit den Abbau der konsoziativen Elemente hinaus, setzen sie doch majoritäre an die Stelle von Konsenspolitik). Mehrheitsentscheidungen im Entscheidungszentrum werden aber weder der Heterogenität der Gesellschaft noch der Mehrdimensionalität der Segmentierung noch gar der "variablen Geometrie" europäischer Politik gerecht. Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlichkeit - von Fachleuten, Wirtschaft und Verbänden abgesehen -gibt es bisher in breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie als lediglich formale Zurechnung erreichen. Die Charakteris ierung des Demokratiedilemmas der Europäischen Union als Demokratiedefizit legt es nahe, das Defizit durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu reduzieren. Weniger formal erscheint es, weiterhin darauf abzustellen, dass in den Öffentlichkeilen der Mitgliedsstaaten und in ihren Parlamenten europäische Probleme und Fragen immer und transparent auf der Tagesordnung stehen, um die "Rückkoppelung" europäischer Politik an die Volksvertretungen der Mitgliedsstaaten zu gewähren. Das wohltuende Bestehen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf "lebendiger Demokratie"""' in den Mitgliedsstaaten ist wahrscheinlich noch auf lange Zeit wichtiger für Europa als Straßburg oder rechtliche Dispute über Kompetenzvorschriften in Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele Demokratien pluralistischer, offener, sachlicher, weniger hierarchisch, fairer geworden. Von der Fortdauer dieser nationalstaatliehen Veränderungen hängt unsere Zukunft ab. Am Ende des Verfassungskonvents von Philadelphia im Jahre 1787 wurde laut einer inftationär zitierten Anekdote 8. Frank/in von einer Mrs. Powel gefragt: "Was haben wir denn nun, Doktor, eine Republik oder eine Monarchie?" FranklitiS genauerem Hinsehen hapert es aber nicht nur an der Proportionalität; es fehlt vielmehr ein entscheidender Aspekt des Konsoziationalismus, nämlich die systematische Einbeziehung auch, wenn nicht gar vor aJiem der nicht-territorialen Gesellschafts.segmente. Das europäische Elitenkartell ist eindimensional territorial und damit ,föderativ': Machtteilung, Proportionalität und Autonomie gelten nur für die Mitgliedswaten; Eliten aus den übrigen Segmenten sind nicht einbezogen, verfügen über keine Einspruchsrechte. setzen ihre Ansprüche am besten durch Liaison mit der einen oder anderen Regierung durch. (2) Der europäische Konsoziationalismus ist einseitig ,bürokratisch' und g ilt vor allem angelsächsischen Beobachtern als g rößtes Demokratisierungshindernis." '""' "Maastricht-Entscheidung" (BVerfGE 89, I 55).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Antwort war: "Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" ("A republic if you can keep it"). Diese Aufgabe ist e ine dauernde- auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen. f) lnkurs: VerbreiTung direkrdemokrmischer Elememe
Als prominentes Beispiel mit weit zurliekreichender Tradition der Direktdemokratie dlilfen die ameri kanischen Bundesstaaten angesehen werden, in denen te ilweise seit der Gründungszeit direktdemokratische Mitbestimmungs formen praktiziert werden. Sie gelten daher wie die Schweiz als Pioniere der Direkten Demokratie. 1007 Geografisch zeigt s ich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und Mittleren Westen. """ Nationale Referenden sind in der amerikanischen Verfassung nicht vorgesehen . Auf der Ebene der Bundesstaaten hat sich dagegen das Instrumentarium der Direkten Demokratie, bis hinab auf die lokale Ebene, weitgehend durchgesetzt. ln allen Bundesstaaten s ind darüberhinaus auch Anordnungen von Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich ("legis lative referendum"). ln einer aktuellen Bewertung e uropäischer Staaten rangiert die Schweiz an oberster Stelle, Liechtenstein folgt gemeinsam mit Italien, Slowenien und Lettland in der zweiten Kategorie.""" Eine weitere Gruppe bi lden Irland, Dänemark und Litauen, bevor in einer nächsten, niedrigeren Stufe die Slowakei, die Niederlande, 1007 Es gibt zahlreiche Studien und Untersuchungen zur Direkten Demokratie in den amerikanischen Bundesstaaten, vgl. etwa R.J. El/is, Democratic Delusions. The Initiative Process in America, 2002; L LeDuc, The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective, 2003; L. LeDucl R. G. Niemit P. Norris (Hrsg.), Comparing Democracies. Elections and Voting in Global Perspective, J996; S. L. Piou, Giving Voters a Voice. The Origins of the Initiative and Referendum in America, 2003; J. F. Zimmerman, The Referendum. The People Decide Public Policy, 200 I: C. Ste/zellmiilleJ; Direkte De mokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1994; L.J. Sabatol H.R. Ernst / B.A. Larso11 (Hrsg.), Dangerous Democracy? The battle over ballot initiative in America, 2001; vgl auch den Überblick zu direktdemokratischen Institutionen in den Gliedstaaten bei S. MöckJi, Direkte Demokratie in den USA, in: JöR 44 (1 996), S. 565 ff. 1 ~ Zwischen 1904 und 2002 nahmen Oregon mit 325 Abstimmungen, Californien (279), Colorade ( 183), North Dakota ( 168) und Arizona ( 154) d ie Spitzenposition nach Zahl an Volksabstimmungen auf Bundesstaatenebene ein, vgl. D. M. Waters, Initiative and Referendum Almanac, 2003. IO® Das Initiative& Referendum Institut in Amsterdam hat die I5 EU-M itgliedsstaaten, die (damals) 13 Beitrittskandidaten sowie die vier EFTA-L.1nder lsllmd, Norwegen, Uecluenstein und die Schweiz hinsichtlich ihrer direktdemokratischen Qualitäten bewertet und rangiert. Als Qualifikationskriterien wurden die folgenden drei festgelegt: Existieren direktdemokratische Verfahren auf nationaler Ebene? Können solche Verfahren vom Volk lanciert werden, etwa in Fonn von Initiativen und Referenden? Sind obligatorische Re-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Frankreich, Spanien, Österreich und Portugal zu finden sind. Nach Großbritannien , Finnland, Estland und Belgien folgt erst Deutschland in einer Kategorie mit Is land, Griechenland und der Tschechischen Republik. Die Schluss lichter sind nach Rumänien, Bulgarien und Malta letztlich Zypern und die Türke i. Auf der Landkarte zeigt s ich kein e indeutiger geografischer Schwerpunkt der Direkten Demokratie in Europa. Richtung Balkanländer und Osten mag vordergründig e ine zurückhaltendere Einstellung zur Direkten Demokratie herrschen. Aber auch das ist kein durchgängiges Schema, da beispielsweise Lettland, die Slowake i und S lowenien zu den Staaten mit gut ausgebauten direktdemokratischen Rechten gehören. Insgesamt kann im 20. Jahrhundert eine kontinuierliche Zunahme der direktdemokratischen Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene festgestellt werden . 1010 Dafiir g ibt es mehrere Gründe. Einerseits wurden in vielen Staaten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Rechtsgrundlagen flir direkte Volksbeteiligung geschaffen. '"" Andererseits wurde aber auch in Staaten, die dieses Recht bereits kannten, vermehrt davon Gebrauch gemacht. Gerade in Europa haben die staatlichen Neuordnungen im früheren Einflussbereich der Sowjetunion zu einer hohen Zahl von Abstimmungen über neue Verfassungen geführt. Eine zweite Abstimmungswelle ist schließlich mit dem europäischen Integrationsprozess verbunden, indem vor allem über den Beitritt zur Europäischen Union und über verschiedene europäische Verträge und insbesondere über die Einführung des Euro abgestimmt wurde. Der Europäische Verfassungsvertrag hat(te) bekanntlich weitere Volksabstimmungen auf nationaler Ebene zur Folge. g)
Das Verhälmis zwischen Rechrund .,Moral", Souveränitärsverzichr
Nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg verdeutlichte aber erneut, wie unterschiedlich Europa und die Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen Recht und Moral handhaben . Die Aufklärung hat im europäischen ferenden vorgesehen? Im Ranking des Jahres 2003 rangierte Lie c/uenstdn aus der Sicht des IRI noch gemeinsam m it der Schweiz in der ersten Kategorie, wurde aber aufgrund
der Er fahrungen rund um d ie Volksabstimmung vom 16. März2003 z urückgestuft (Den Ausschlag flir diese Z.urückstufung dürfte die herausragende Stellung des Staatsoberhauptes geben, dem es freigestellt ist, vom Volk beschlossene Vorlagen zu sanktionieren. Im
Zuge der Auseinandersetzung über die Verfassungsrevision drohte das Staatsoberhaupt auch talStiehlich damit, die ihm nicht genehme Gegenvorlage im Falle einer Volksmehrheit nicht zu sanktionieren.) Siehe zu alledem IR/ Europe (Hrsg.), TRI Europe Country Index on Citizenlawmaking. AReport on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 Europeon States, 2003 sowie 2004. 10 10 in den Doppe ldekaden ist die Zahl der Volksabstimmungen von rund 50 ( I 90 I I 920) auf etwa 350 ( I 98 I - 2000) gestiegen. 1011 Vgl. L LeDuc, The Politics of Direct Democrncy. Referendums in Global Perspective, 2003, S. 20 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
35 I
Rechtsdenken Recht und Moral getrennt. Die politische Auseinandersetzung über die Gesetzgebung stellt zwar verschiedene Moralvorstellungen gegeneinander, und diese werden in der Regel ausdiskutiert. Das daraus hervorgehende Recht ist jedoch moralisch neutral. Auch der Straftäter hat seine Würde, e r ist nicht moralisch verwerflich, sondern nur rechtlich strafbar. Weltweit ist dieser aufklärerische Gedanke in den Menschenrechten umgesetzt worden . Das US-amerikanische Rechtsdenken scheidet demgegenüber Recht und Moral weit weniger extensiv. US-amerikanische Straftäter gelten als "moralisch schlecht," das US-Strafrecht kennt im Gegensatz zu Europa auch deutlich den Rachegedanken. ln Europa hat auch der Souveränitätsverzicht1012 der Staaten die Überwindung des moralischen Rasters von "gut und böse" ermöglicht. Wenn westeuropäische Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig nicht als "böse" . Diese Kategorie ist definitiv überwunden. Ohne Souveränitäts verzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von "gut" und "böse". Dieser Zusammenhang ist wieder höchst aktuell geworden, indem die "Koalition der ,Willigen' nämlich e ine moralische Kategorie darstellt, die mit ,gut und böse' operiert. 1013 Dies hat aber unter anderem zur Folge, dass der Intensitätsgrad der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten für nicht wenige gleichbedeutend ist mit dem Intensitätsgrad der Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft ganz allgemein. Aus US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keineswegs richtig, im Gegentei l: gerade in der deutschen (politischen wie öffentl ichen) Diskussion geht man -zusammen mit zahlreichen Staate n in anderen Kontinenten- davon aus, dass man sich zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung e inigen wolle, auch indem man sich zunehmende Souveränitätsverzichte leisten würde. Von Interesse ist nicht nur im Hinblick auf aktuelle Friktionsfelder im transatlantischen Verhältnis die zentrale Bedeutung des Völkerrechts und des Souveränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitäts verzicht der Staaten zugunsten e iner völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa im Westnilischen Frieden 1648 begründet. Ein in seiner Wirkkraft ähnlich "glücklicher globaler Moment" ereignete s ich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Erstmals findet ein Prozess statt, der zu einer bislang tragfahigen
1012
Vgl. bereits P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: AöR 92 (1967), S. 259 ff. Siehe auch S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Problem in der Verfassungsordnung der EU, in: ZaöRV 55 ( 1995), S. 6 59 ff. tOll Durch die Terroranschläge vom I I. September2001 ist das US-amerikanische Nationalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten d ie Vereinigten Staaten
das in ihrer Nation verkörperte "Gute" als so bedroht, dass aJie anderen, universell geltenden Werte daneben zurücktraten, so auch d ie Menschenrechte von Gefangenen, die des
Terrorismus verdächtigt \verden (Stichworte wie .,Guantanamo" und ,,Abu Ghraib'' sollen an dieser Stelle genügen).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Friedensordnung führt, und zwar aufgrund des Souveränitätsverzichtes von Staaten, und nicht - wie vormals etabliert - als Resultat von Kriegen, etwa mittels Anordnungen der siegreichen Kriegspartei(en). Die Unterordnung der Macht unter das Recht hat s ich in der Europäischen Union zum ersten Mal institutionalisiert und bildet letztlich das Fundame nt der europäischen Integration . Manche heutige transatlantische Auseinandersetzung fand vergleichbar bereits während des Kalten Krieges statt, aber es war öffentlich weniger sichtbar, da s ich die USA re lativ "europäisch" zu verhalten wussten. Differenzen innerhalb der "westlichen Staatenge meinschaft" galt es weitgehend zu vermeiden. Seit 1989/90 ist jedoch in Washington ein Paradigmenwechsel festzustellen. Seit dem ersten Golf-Krieg wird die Liste der völkerrechtlichen Verträge immer länger, bei welchen die USA Abstinenz üben. Die Vereinigten Staaten s ind offensichtlich immer weniger bereit, einen Souveränitätsverzicht zugunsten des Völkerrechtes zu leisten und sich in eine weltweite Ordnung einzugliedern. Dereuropäische Weg, die Macht ins Recht e inzubinden, wird von den USA spiegelbildlich, gleichwohl retrograd begangen. 1014 Für Europäer ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im Bewusstsein meist nicht einmal mehr als eine eigene Kategorie existiert. An dieser Stelle greift erneut der Begriff der staatspolitischen Identität der Europäer. Es ist dieser Kernpunkt der europäischen Ideengeschichte, den Generationen von Auswanderern in die Neue Welt im Namen einer "neuen Freiheit" ablehnten, um von nun an dieselbe Fragestellung aus einem Blickwinkel anzugehen, der sich nahezu diametral vom europäischen unterscheidet. In Europa erreicht man Freiheit und Sicherheit durch den ursprünglichen und individuellen Souveränitätsverzicht zugunsten der StaatlichkeiL In den Vereinigten Staaten geht man von einem anderen Freiheitsbegriff aus: man erstrebt die Fre iheit von dieser StaatlichkeiL Auch in aktuellen (außen)politischen Fragen geraten die beiden transatlantisch unterschiedlichen Freiheitskonzepte in Konftikt, ohne dabei e iner gewissen Logik zu entbehren. Mit dem Konzept der "Koalition der Willigen" erheben die 10 14
Vgl. zu den Grundfragen des transatlantischen Verftältnisses (insb. mit Blick auf den Konflikt um das iranische Nuklearprogramm) K. T. zu Gmtenberg, Transatlantische Festigkeit gegenüber Iran. Keine Alternative zur einheitlichen Verhandlungsstrategie, in:
NZZ vom 14. 9. 2005, S. 5 sowie K. -T. U t Guue11berg IR. Miitzenich, Locken und Abschrecken. Nur gemeinsam und mit einer Doppel-Strategie können Europa und die USA Iran zur Aufgabe des Atomprog ramms bewegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. I I. 05, S. 2 und zuletzt dies., Es ist an Teheran, den nächsten Schritt zu tun. Iran ist es im Atomstreit nicht gelungen, die internationaJe Gemeinschaft zu spalten, in: Financial Times Deutschland vom 12. 6. 2006; zudem: K. -T. zu Grmenberg>Vertrauen statt Marktgeschrei, in: Bayernkurier vom 28. I. 2006; siehe auch d ie Bundestagsreden des Verf vom 16. 12. 2005, vom 15.3.2006, vom 10.3.2006 sowie vom 6. 4. 2006 (BT-Pienarprotokolle desjeweiligen Sitzungstages).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Vereinigten Staaten nämlich e ine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die völkerrechtliche Ebene. Hinsichtlich des Souveränitätsverzichts ist eine klare Analogie feststellbar: Nachdem die amerikanische Interpretation von "Freiwilligkeit" im individuellen Bereich bedeutet, dass sich das lndh•iduum keinen rechtlichen, und somit für alle gleichermaßen geltenden Vorgaben unterziehen will (um nicht auf seine souveräne "Ur-Freiheit" zugunsten e iner gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten, wollen sich offensichtlich auch die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen (da s ie uneingeschränkte und absolute Souveränität beanspruchen und wenig Bereitschaft zeigen, auch nur den geringsten Verzicht auf diese Souveränität e inzugehen). "Fre iwilligkeit" nach amerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsverzicht, genau so wie die Freiwilligkeit im Sinne der "Koalition der Willigen" nach US-amerikanischer Vorste llung der Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der Staaten darstellt. h) FitwliUit - die Bedermmg von Grenzen und Erweilerrmg
Die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union lebhaft, zuweilen unmäßig geführte Dis kussion über die "Grenzen Europas" und die Finalität der Europäischen Union bietet ebenfalls Anlass zu einem Blick auf den amerikanischen Umgang mit vergleichbaren Frageste llungen. So wie heute nicht klar ist, wo die Europäische Union ihre geographischen Grenzen finden wird, war auch zum Zeitpunkt der amerikanischen Verfassunggebung nicht absehbar, w ie groß der amerikanische Staat e ines Tages werden könnte. Die Amerikaner entschieden sich dafiir, diese Frage offen zu lassen, und in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Te rritorium Mitglied der Union werden kann. Die Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent zählt zu den wichtigsten Determinanten der US-Geschichte. Zwei Aspekte dieses Prozesses griffen ineinander: die Sicherung der eigenen Vorherrschaft gegen europäische Kolonialmächte (M onroe-Doktrin, 1823) und das ständige Verschieben der Siedlungsgrenze ("frontier") nach Westen . 1015 Auch wenn das Leben der Siedler nur wenig mit dem 1015 Durch die Abtretung aller einzelstaatlichen Landansprüche an den Kongress, die rechtliche Vorbereitung \Veiterer Einzelstaatsgründungen (Northwest Ordbumce) und den Kauf Louisianas von Frankreich ( 1803) war die Voraussetzung für die Erschließung des \Vestens geschaffen worden. Mit der Annexion von Texas ( 184 5), dem Kompromiss mit England über Oregon und die nach dem Krieg mit Mexiko ( 1846-48) vorgenommene Angliederung Kalifomiens und New Mexikos war Mitte des 19. Jahrhunderts die kontinentale Expansion abgeschlossen. Dazu etwa das klassische Werk von S. E. Morison u. a., The Growth of the American Republic, 2 Bde., 1930; vgl. auch A.M. Sch/esinger, The Cycles of America.n History, 1986; historische Abrisse aus der deutschsprachigen Lit:
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
"Mythos des Westens" gemein hatte und die Bedeutung der "Frontier" flir die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft gelegentlich überschätzt worden ist, spielt sie für die "kollektive Identität" der Amerikaner bis heute eine wichtige Rolle . Auch wenn sich die "Erweiterung" der USA bis an den pazifischen Ozean zugegebenermaßen durch den Zukauf bzw. die Einvernahme im Wesentlichen leerer Territorien vollzogen hat: Der Akzeptanz der Grundwerte und Gesetze der Union (etwa im Falle von Utah und Texas) kam dennoch zentrale Bedeutung zu. Hier darf durchaus eine Parallele zu der von der Europäischen Union verlangten Erflillung der "Kopenhagener Kriterien" seitens der Beitrittskandidaten gesehen werden. Damit stellt die Europäische Union ebenso wie die USA die Bedeutung gemeinsamer Werte, Rechtsnormen und Wirtschaftsverfassungen in den Mittelpunkt. Insoweit s ich die USA an ihr eigenes "Erweiterungskonzept" gehalten haben, ist es ihnen gelungen, ganz unterschiedliche Territorien in ihr föderales System zu integrieren. Die Geschichte der USA zeigt zwar, dass es vern1essen ist zu glauben, man könne aus e inem notwendigerweise begrenzten historischen Blickwinkel heraus die zukünftigen Grenzen eines politischen Gemeinwesens absehen und festlegen, gleichwohl lässt sich aus diesem Argument im Umkehrschluss keine eigene Erweiterungsdynamik festschreiben.
i) Ausgewählte instinuionelle Aspekre Wer Amerika begreifen will, bemerkte A. de Tocquevi/le, muss vor allem seine politischen Einrichtungen verstehen. Weil aber die politischen Einrichtungen eines Gemeinwesens nur soviel wert sind, wie der in ihnen vorhandene Geist, kann man die Amerikaner nur begreifen, wenn man "die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten und [ ... ]die Gesamtheit der Ideen, aus denen sich die geistigen Gewohnheiten bi lden" 101 • zu verstehen sucht. Die amerikanische Präsidialdemokratie unterscheidet sich in vielfaltiger Hins icht von der in Europa, zumal in Deutschland vertrauten parlamentarischen Regierungsweise. Sie setzt auf lnstitutionentrennung, also auf die Unvereinbarke it von (Regierungs-)Amt und parlamentarischem Mandat, wo hingegen im parlamentarischen Herrschaftssystem die Institutionen personell und funktional miteinander verzahnt sind, Mitglieder der Regierung normalerweise auch ein Mandat innehaben und Regierung wie Parlament wechselseitig unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen ihren Sturz bewerkstelligen bzw. e ine Auflösungsorder erwirken können. Das amerikanische System setzt dagegen auf Koordination der getrennt organisierten Institutionen im politischen Willensbildungs- und EntH. R. Guggisberg, Geschichte der USA, 2. Auft. t 988; P. Lösche, Amerika in Perspektive, Po litik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten, 1989. 1016 A. de Toque~~ille. Über die Demokratie in Amerika, Neuauflage 1976, S. 332.
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Scheidungs prozess. Solche "formalen" Gegensätzlichkeiteil zeitigen politische Konsequenzen: Die Vereinigten Staaten kennen im Allgemeinen weder Regierungskrisen im europäischen Sinne noch den bei uns häutig beklagten Prozess der Entmachtung des Parlaments durch den Exekutivapparat, weisen also insges amt e in hohes Maß an politischer Stabilität auf. Zudem: die USA haben mit dem Präsidenten einen Akteur, der mit einer Stimme spricht und über ein Entscheidungsinstrumentarium voll verfügt. Entscheidungen herbeizuführen ist auf beiden Seiten des Atlantiks langwierig ; bei der Ausflihrung sind die USA indessen der Europäischen Union weit voraus. Dies ergibt sich nicht zwingend aus der Verfassung selbst, nach der dem Präs ide nten, indirekt gewählt, kein umfassendes Machtmonopol zugedacht war, sondern ist ein Ergebnis der Verfassu ngsentwicklung. Der Gedanke, ob Europa mit einer vergleichbaren Exekutivspitze zu versehen sein könnte, ohne dass dabei die Frage der Direktlegitimation unbedingt im Vordergrund stehen müsste, bleibt auch nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages aktuell. Zweitens ist der Kongress kein Parlan1ent, das die Exekutive wählt und stützt, sondern ein eigenes Machtzentrum, mit dem das Weiße Haus ständig verhandeln muss. 1017 Ein interessanter transatlantischer Vergleich offenbart sich im Bereich institutioneller Fortentwicklungen. A ls Beispiel dürfen hierbei das erst 19 I3 durch den Federal Reserve AcT errichtete Federal Reserve SysTem und das Europäische ZenTralbank (EZB) - System dienen. 1018 Die heute mit globaler Wirkkraft versehene Währung " Dollar" ist nicht, um mit R. Seimman zu sprechen, "auf e inen Schlag" entstanden. Zwar hanen die USA seit der Gründung eine "gemeinsame" Währung. Selbige bestand jedoch noch bis Ende des Bürge rkriegs aus etwa 10.000 unter1017 Deramerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der \Velt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht für die Handelsgesetzgebung, was aktuell bei der Frage von Trade Promotion Awhority, insbesondere für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Developmem Agenda eine Schlüsselrolle darstellt. Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich derAußenpolitik insbesondere flir das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeutung ist (- der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses R. Lugar spielte eine in der europäischen Öffentlichkeit v.<eitgehend unbemerkte, gleich\vohl höchst bedeutsame Mittlerfunktion im europ..1ischen Erweiterungs- und Annäherungsprozess -) und eine wichtige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpo l zu den präsidentiellen Prärogativen dar. 1018 Vgl. auch G. Burglwrdt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. Die in vielen Verfassungsstaaten eingerichteten Rechmmgshöfe vergleicht H. Sclw/ze-Fielitz,
Kontrolle der Verwaltung d urch Rechnungshö fe, in: VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff.
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schiedlichen Banknoten. Erst im Jahre 19 14 wurden sie durch .,Federal Reserve Notes", den .,einheitlichen" Dollar, ersetzt. Ebenso gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Federal Reserve und dem EZB System: Das .,Board" besteht aus sieben Mitgliedern (das EZB Direktorium aus sechs) und zwölf Vertretern regionaler Distrikte (auch die EZB zählt gegenwärtig in ihrem Erweiterten Rat zwölf stimmberechtigte nationale Zentralbankpräs identen), wobei der Präsident der "New York Fed" .,geborener" Ste llvertreter des .,Fed Chairman" und permanent stimmberechtigt ist, während durch e in Rotationsverfahren nur vier weite re der zwölf regionalen Vertreter für jewei ls ein Jahr e in volles Stimmrecht haben. Der wesentliche Unterschied in diesem Kontext zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist allerdings verfassungsgeschichtlicher Natur: während die monetären Zwänge erst 126 Jahre nach der Verfassungsgebung zur Gründung des Zentralen Währungssystems der USA führten, hat sich die Europäische Union e ine .,einheitliche" Währung und ein ' 'oll strukturiertes Zentralbanksystem zugelegt, bevor der Prozess der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne überhaupt e ingesetzt hat. j) Europäische Grwufrec/uec/uma- Bill of Rig/us
Der Diskuss ionsprozess um die Europäische Grundrechtecharta 1019 verdeutlicht bemerkenswerte Parallelen zu der amerikanischen Grundrechtsdebatte im 18. Jahrhundert 1020 - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen hinsichtlich der Reihenfolge von Verfassung zu übergreifendem Grundrechtekatalog. Der europäische Grundrechtskatalog ist im Gegensatz zur .,Bill of Rights" des Jahres 1789 und etwa auch des 13. Verfassungszusatzes von 1865 (Abschaffung der Sklaverei) inhaltlich schon vor einer .,europäischen Verfassung" einvernehmlich beschlossen worden. Auch in Europa polarisierten die Begriffe .,Föderation" und "Verfassung" diese gegensätzlichen Zielvorstellungen wie seinerzeit- mutatis mutandis -den Konflikt zwischen "Föderalisten" und "Antiföderalisten" in der Entstehungsgeschichte der Vereinigte n Staaten. So sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es im Verfassungskonvent von 1787 gerade auch um den Übergang von dem noch lockeren vertraglichen Staatenbund von 1781, der s ich allerdings auch schon .,United States of America" nannte, zu einem relativ stark zentralisierten Bundesstaat ging, von den .,Articles of Confederation and Permanent Union of the States .. . " zur noch lücke nhaften .,Constitution for the United States of America". Der Konvent von 1787 war noch der Auffassung, die Individualrechte seien aus reichend durch die einzelstaatlichen Verfassungen gewährleistet. 1021 Vervollständigt wurde diese Vgl. oben B. ll.2. f)ii). Siehe hierzu bereits ausführlich oben unter B. L4.e). 1021 Die .,Föderalisten'' plädierten zunächst fiir eine Verfassung ohne Grundrechte. Hamitron, Madison und Jay vertraten in den Federalist Papers die Ansicht, Gerechtigkeit 1019 1020
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föderative Unionsverfassung zunächst schrittweise bis 1804 - insbesondere mit der "Bill of Rights"- und endgültig erst nach dem Bürgerkrieg mit den bürgerrechtlichen "Amendments" 13 bis 15 (1865 bis 1870). Erst dann waren nicht nur die Unionsregierung sondern auch die e inze lstaatlichen Regierungen an die Bill of Rights gebunden.
k) Wertegemeinschaft Europa rmd USA.,ever closer rmion" und., ever stronger wrion" Während der europäische Einigungs prozess die Union auf den Raum des ganzen Kontinents bis an die Grenzen Asiens und an den Nahen Osten auszudehnen imstande scheint und die Europäer vor neue, nicht nur w irtschaftlich-soziale sondem auch sicherheitspolitische Chancen und Risiken stellt, werden in der Diskussion über die Zukunft Europas die Fragen nach den gemeinsamen Werten und Zielen der europäischen Völker immer bedeutender. Bereits J. MonneT hatte mit seiner Formel der "ever closer union" diese Richtung vorgegeben und damit auf das amerikanischen Prinzip einer "ever stronger union" (1. Madison) eine charakterisierende Antwort formuliert. Dass sich die Union von e iner Wirtschaftszu e iner Wertegemeinschaft mit weit mehr als nur wirtschaftspolitischen Aufgabenstellungen e ntwickelt und entwickeln soll, ist breiter Konsens, geplant war diese Entwicklung bei a ller Legendenbildung nicht. Das vielfältige Mosaik aus Institutionen und Verträgen auf dem europäischen Kontinent ist hierfiir beredter Ausdruck. Neben der Westbindung durch das transatlantische Verte idigungsbündnis (NATO) sei hier nur auf die OSZE und vor allem den Europarat hingewiesen. Letzterer, u. a. e ingesetzt flir Demokratie und Menschenrechte in Europa und mit Mitgliedern weit über die europäische Union hinaus bis hin zu Russland, kann in der Frage der Grund- und Menschenrechte mit der europäischen Union in einen Konftikt geraten, sollte s ich die Grundrechtecharta bzw. der Grundrechtekatalog im Verfassungsvertrag negativ auf die Menschenrechtskonvention der Straßburger Organisation auswirken. Welche Werte letztlich die Menschen in der Europäischen Union verbinden sollen, wird noch Inhalt zahlreicher Debatten. Sicherlich prägen TI-aditionen und Kulturgeschichte der Völker diese Werte entscheidend mit. Über die Frage religiöser Werte entbrannte unlängst mit dem Aufuahmegesuch der Türkei und dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein heftiger Streit zwischen den Beflirwortern e iner christlichen und denen einer streng "überreligiösen Verortung" der europäischen Union. 1022 und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei e igentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich
entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
"Frieden, ihre Werte, das Wohlergehen ihrer Völker förde rn" und letztlich "nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und sozialer Gerechtigkeit" 1023• So definiert bereits Giscords Entwurf die Ziele der europäischen Union. Vielleicht werden die aus der Nachhaltigkeil abgeleiteten Prinzipien der Solidarität und Generationengerechtigkeit e inmal die europäische Antwort auf das amerikanische Axiom und Ziel "life, liberty and the pursuit of happiness" (Articles of Confederation, 1776).
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee Es besteht eine merkwürdige Divergenz zwischen den Erwartungen und Forderungen jener "Europäer der ersten Stunde", die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für die politische Einigung Europas e ingesetzt und das Projekt entworfen haben, und denen, die heute vor der Aufgabe stehen , das auf den Weg gebrachte Projekt fortzusetzen. Auffallend ist nicht nur das "Decrescendo" der rhetorischen Stimmlagen, sondern auch der Kontrast in den Zielsetzungen. 1024 Während die "erste europakreative Nachkriegsgeneration" die "Vereinigten Staaten von Europa" im Munde ftihrten und den Vergleich mit den USA nicht scheuten, hat sich die gegenwärtige Diskussion von solchen Vorbildern weitgehend gelöst 1025 • Selbst der Terminus "Föderalismus" gilt manchen als anstößig. Mit Habem1as ist zu fragen, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nureinen gesunden Realismus- als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses- ausdrückt oder eher einen kontraproduktiven Kleinmut, wenn nicht gar schlichten Defatismus. 1026 Freilich lässt sich unsere heutige europäische Situation kaum plausibel mit jener der Federalists oder der Mitglieder der Assemblee narionnle am Ende des 18. Jahrhunderts vergle ichen oder e ine klare Kohärenz herstellen. Damals waren die Verfassungsväter in Phi ladelphia und die revolutionären Bürger von Paris Initiatoren und Teilnehmer einer geradezu unerhörten, bislang nicht erfahrenen
Praxis. 1022
Hierzu beispielsweise auch K.-T. zu Gutrenberg, Turkey and the EU. \Ve Need an Option Short of Full Membership, in: European Affairs 6 (2005), S. 39 ff.; de rs. , Offer Turkey a ,Privileged Partnership' lnstead, in: International Herald Tribune vom 15. 12. 2004; ders. ~ Privileg ierte Partnerschaft. Jenseits von Entweder-oder: Eine Alternative zum EUBeitritt der Türke i, in: Die Welt vom 3. I. 2004. 1on CONV 528/03. tou Vgl. auch J. Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung?, in: DIE ZEIT vom 28.06.200 1, S.7. 1025 Anders aber T R. Reid, The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005. 1026 Siehe J. Habermas (200 1).
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
359
Die These von L Kiilmhardt, dass eines der Hauptmotive bei der europäischen Verfassunggebung das Streben nach Unabhängigkeit gegenüber der USA sei, so wie diese sich mit ihrer Verfassung I787 endgültig von Großbritannien und Europa emanzipieren wollten, lässt sich nur schwerlich als zulässige historische Analogienbildung interpretieren. '"" Die sozialen, kulturellen, politischen Kontexte, in die die beiden Konvente eingebettet waren bzw. sind, machen jedoch die gravierenden Unte rschiede umso deutlicher: Während die "founding fathers" der USA eine Verfassung flir etwa drei Millionen Menschen schmiedeten und hierbei große Handlungsfreiheiten genossen, wurde im EU-Konvent über eine Verfassung für über 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger nachgedacht, von denen viele ganz unterschiedlich Ideen darüber haben, wie die Verfassung Europas aussehen sollte. Der EU-Verfassungskonvent war im Übrigen der erste Konvent des Internetzeitalte rs und unterschied sich schon von daher (im Hinblick auf teilweise aus ufernde Versuche der Einflussnahme über dieses Medium) ganz grundsätzlich von früheren Konventen. Der Vergleich der Verfassunggebungsprozesse bleibt dennoch ein adäquates Mittel der Analyse des europäischen Verfassungsprozesses. Zwar steht die systematische Erforschung verfassungsgeschichtlicher Vergleichserfahrungen noch am Anfang, sie dürfte jedoch zukünftig gerade nach den E1fahrungswerten im europäischen Verfassungsprozess zunehmend forschungsrelevant werden. Von den konföderierten Postkolonialstaaten mit ihrer gemeinsamen Geschichte unterscheiden s ich die Nationen Europas mit ihren unterschiedlichen Traditionen, Kulturen und Wertvorstellungen, den vielfältigen Landess prachen und den historisch gewachsenen, verfassten Demokratien. Dennoch eint beide Prozesse die Unzufriedenheit mit der Ausgangslage: die existierenden Institutionen erwiesen und erweisen sich flir kommende Aufgaben als zunehmend handlungsunfahig. So scheitert die Europäische Union wie schon damals die Konföderation beispiels weise in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (wie etwa im Fall der Irakkrise, in der die Europäischen Union- unter bemerkenswerter Mithilfe des deutschen Bundeskanzlers- keine gemeinsame diplomatische Strategie entwickeln konnte).
1. Vergleichende Anmerkungen zum Konvents,·erfabren Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum I 8. Juli 2003 über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als neuartiges, bis lang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium auf den Erfahrungen, die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden. 1028 1017 L. Kiilmhardr, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Strukturentscheidungen, ZEI Discussion-Paper, 2003. 1018 Vgl. zu Struktur und Arbe itsweise des Konvents auch J. Meyerl S. Harr/eif, Die Konvents idee, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/2002, S. 268 ff.; P. Zimmermann-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Schrifttum wird der Europäische Konvent auch als ein "parlamentarisiertes Vorbere itungsgremium" für die derzeit laufende Regierungskonferenz charakteris iert. De mentsprechend handelt es s ich bei m Konvent weder nach seiner Zusammensetzung noch nach seinem Mandat um e ine "souveräne" verfassungsgebende Versammlung im herkömmlichen Sinne. 1029 Vielmehr basiert die nunmehr zum zweiten Mal angewandte Konventsmethode auf dem Wunsch der Mehrheit der maßgeblichen Akteure auf europäischer Ebene, bisherige, oftmals als intransparent e mpfundene Entscheidungs mechanismen bei den in der Vergangenheit vorgenommenen Änderungen der Europäischen Verträge, wie s ie bei den bisherigen , gemäß Art. 48 EUV zur Vertragsänderung e rmächtigten Regierungskonferenzen zu beobachten waren, zu überwinden und gleichzeitig den Aspekt e iner stärkeren Betonung der Bürgerbeteiligung hervorzuheben. Verfahrenstechnisch handelt es s ich vor diesem Hintergrund um ein Gremium, das - anders als eine verfassunggebende Versammlung im klassischen Sinne- lediglich Vorschläge zur Neufassung der bisherigen europäischen Verträge unterbreiten sollte. Die Letztentscheidung obliegt gemäß Art. 48 EUV nach wie vor der Konferenz der Regierungen der Mitgliedstaaten und den mit der Ratifizierung betrauten mitgliedstaatliehen Parlamenten (bzw. über e in Referendum der jeweiligen Bevölkerung). Nicht nur in verfahrenstechnischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht bestehen deutliche Unterschiede zwischen Europäischem Konvent und verfassunggebender Versammlung im herkömmlichen Sinne. So ist nicht die Neuschaffung ei ne r (europäischen) Verfassung Aufgabe des Europäischen Konvents gewesen, sondern es ging um die "Weiterentwicklung des europäischen konstitutionellen Korsetts" 1030• Gleichwohl gibt es auch Stimmen im Schrifttum, die auch in dem Konventsverfahren und dem hieraus resultierenden Arbeitsergebnis Anhaltspunkte für einen verfassunggebenden Prozess erblicken, der in eine staatliche Konstitutionalisierung Europas münden könnte. 1031 Dabei besteht- wie bereits dargestellt 1032zumindest im j uristischen wissenschaftlichen Schrifttum weitgehend Einigkeit darüber, dass auch der- zum jetzigen Zeitpunkt absehbaren- künftigen Europäischen Union keine Staatsqualität zukommen wird. Demgemäß handelt es sich bei der jetzt vorliegenden "Europäischen Verfassung" nach fast einhe lliger Auffassung um keine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne, sondern nach Überzeugung der Stei11harr, Der Konvent: Die neue EU-Methode. in: Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2001 , S. 65 ff. 1029 Vgl. etwa T. Oppermatlll, Eine Verfassung fUr die Europäische Union, in: DVBJ, 2003, S . 1165 ff. 1030 S. Hohe, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Yerfassungskonvents, in: Europarecht, Heft I, 2003, S. I ff., 15. 1031 Dazu etwa H.-G. Dederer, Die Konstitutionalisierung Europas, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, 2/2003, S. 97 ff. We itergehend IY. \Vesse/s, Der Konvent: Modelle fUr e ine innovative lntegrationsmethode, in: Integration, 2/202 (2002), S. 83 ff., 9 1 f. 1032 Ygl. oben unter B. ll.2.f)nn)(2)(d).
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
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Verfechter e ines erweiterten Verfassungsbegriffs um ein Vertragsdokument eigener Art, welches - wie schon die bisherigen Verträge! - die Verfasstheil eines supranationalen Gebildes mit von den Mitgliedstaaten abgeleiteter, auf den Bürger direkt einwirkender (supranationaler) Hoheitsgewalt zum Gegenstand hat und damit allenfalls in materieller Hins icht e ine "Verfassung" darstellen kann. 1033 Der nun vorliegende Verfassungs(bzw. Grundlagen-)veJtrag als solcher stellt in diesem Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union lediglich eine (von bereits vielen vollzogenen) Etappe(n) dar und bildet damit weder Beginn noch Endpunkt dieser Entwicklung. Er unterscheidet sich deshalb auch funktionell von herkömmlichen Staatsverfassungen wie etwa der amerikanischen Bundesverfassung, die jeweils mit ihrer Schaffung durch ein verfassunggebendes Gremium eine e igene, auf Vollständigkeit angelegte nationalstaatl iche Ve1fassungsordnung "per Federstrich" in Kraft setzten. Während eine Staatenverfassung daneben e in staatliches Gemeinwesen auf der Grundlage des pouvoir consrimtanr, des Volkes, schafft, begründet der Verfassungsvertrag ausdrücklich eine "zwischenstaatliche Europäische Union der Bürger und der Staaten". Dieser zentrale funktionelle Unterschied zwischen "EU-Verfassung" und Staatsverfassung kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass es - ebenso wie zwischen dem deutschen Grundgesetz (GG) und dem Verfassungsvertrag- zwi schen beiden Dokumenten vielfaltige "materielle Schnittmengen" wie etwa e inen Grundrechtskatalog, bestimmte Staats- bzw. Unionsziele oder aber bestimmte institutionelle Bestimmungen gibt. Zu berücksichtigen s ind in diesem Zusammenhang immer die genannten funktionellen Unterschiede zwischen e inem Staatswesen auf der einen und der supranationalen, zwischenstaatlichen Organisation auf der anderen Seite, denen insbesondere die entsprechenden institutionellen Bestimmungen stets Rechnung zu tragen haben. So ergibt sich etwa aus dem supranationalen, zwischenstaatlichen Charakter der Europäischen Union das besondere, durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts geprägte europäische lnstitutionengeflige, bestehend aus Europäischer Kommission, Rat, Europäischem Rat und Europäischem Parlament, welches auf nationaler Ebene weltweit keinerlei Pendant findet. Schon aus diesen Besonderheiten des vom Europäischen Konvent vorgelegten Dokuments wi rd die stJukturelle Andersartigkeit auch dieses Gremiums im Vergleich zu verfassungsgebenden Versammlungen, wie s ie etwa der Konvem um Philadelphin darstellte, deutlich. Auch wenn mit dem künftigen Vertrag über eine Verfassung ftir Europa der Prozess der Konstitutionalis ierung der Europäischen Verträge vorangetrieben wird, ist dieser Prozess nicht mit der Verfassunggebung für e inen Nationalstaat gleichzusetzen und mit der Arbeit des Konvents auch nicht abgeschlossen. 1033 So aber doch H.-G. Dederer (2003), S. 97 ff., vgl. z ur damit zusammenhängenden Funktionswandlung des Staates auch S. Hobe (2003), S. I f.
362
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Eine derartige nationalstaatliche Konstitutionalisierung der bis dahin nur lose verbundenen amerikanischen Staaten war demgegenüber Aufgabe des Konvents von Philadelphia. Der Vetfassungskonvent von Philadelphia bereitete im Jahre 1787 die amerikanische Bundesverfassung. vor. Die 55 Delegierten waren Entsandte der lediglich in der durch einen Bundesvertrag begründeten Konföderation von 1777 miteinander verbundenen amerikanischen Staate n. Obwohl zunächst nur zu dem Zwecke zusammen gerufen, Vorschläge zur Verbesserung der Konföderationsartike l des Bundesvertrags auszuarbeiten (hier besteht wenigstens eine "lnitialanalogie"), entwarfen s ie e ine Bundesverfassung fiir die künftigen Vere inigten Staaten. 1034 Mit lokrafttreten dieser Verfassung wurde aus e inem losen Staatenbund ein neuer Bundesstaat, der - wie beschrieben - u. a. auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität beruht. Die Bundesverfassung trat nach ihrer Ratifizierung durch alle Einzelstaaten im Jahre 1788 in Kraft und begründete damit völkerrechtlich einen neuen Staat. Der Ausgangspunkt der Verfassungsreformer in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts ähnelte dem der Europäer heute. Die Zusatzartikel zu den "Articles of Confederation" mussten durch die gesetzgebenden Gewalten der damals 13 Staaten einstimmig angenommen werden. Dies brachte zwei unüberwindliche Hindernisse mit s ich: zum einen die Maßgabe der Herstellung von Einstimmigkeit, wodurch ein kleiner Staat w ie Rhode Is land die Möglichkeit erhielt, eine von allen anderen Staaten gewünschte Re form zu torpedieren, und zum anderen die unwahrscheinlich anmutende Vorste llung, dass die gesetzgebenden Gewalten der Staaten sich e inem Projekt anschließen würden, mit dem ihre eigene Machtposition erheblich geschwächt würde. Die Verfassungsväter ersannen einen theoretisch wirksamen und zugleich politisch nützlichen Ausweg aus diesem Dilemma. Die in den Artikeln der Konföderation e nthaltene Einstimmigkeitsklausel sollte verschwinden. Der Staat Rhode Is land hatte s ich sogar "geweigert", überhaupt eine Delegation nach Philadelphia zu entsenden, sodass es letztlich absurd erschien, das Ge lingen des Re formprojekts vom Veto dieses Staates abhängig zu machen. Durch die Aufgabe des Prinzips der Einstimmigkeit war es nun auch leichter möglich, auf die Bedingung der Annahme der Ve tfassung durch die Legis lativen der Staaten zu verzichten. Sta tt dessen bat der Verfassungskonvent diese lediglich, jeweils einen Konvent zur Ratifizierung der Ve rfassung wählen zu lassen- bestimmte Gremien, die, so die Argumentation, das Volk unmittelbarer repräsentierten als die Legislative und so die Verfassung der Vere inigten Sta aten als Ausdruck der Souveränität des Volkes verankern würden. Um die Entscheidung über die Verfassung eindeutig ausfallen zu lassen, durften diese Gremien nm über die gesamte Vetfassung abstimmen, nicht über ei nzelne Artikel oder Bestimmungen. Natürlich durften sie auch Än1034
Vgl. H. D ippel, Das Zeitalter der Revolution ( 1763- I 789), in: Geschichte der USA,
2001, S . 18ff.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
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derungsvorschläge einbringen. Die Föderalisten aber kämpften hartnäckig und erfolgreich daflir, dass seitens der einzelnen Staaten nicht die vorherige Annahme dieser Änderungsvorschläge zur Bedingung fiir die Annahme der Verfassung an s ich gemacht wurde. Dieses Verfahren brachte zwei große Vorteile mit sich. Zum einen kam so eine vollkommen eindeutige Entscheidung zu Stande, was dem Prozess der Verfassungsgestaltung weitreichende Rechtmäßigkeit verlieh. 10" Zum zweiten bekräftigte der direkte Bezug auf die Souveränität des Volkes nachdrücklich, dass es sich bei der Verfassung tatsächlich um das "Supreme Law of the Land" handelte -durch bloße Zustimmung des Kongresses und der Legislativen der Staaten hätte dies nicht erreicht werden können. Der gesamte Prozess von der ersten Sitzung des Verfassungskonvents in Annapolis im September 1786 bis zur Ratifizierung durch den I I. Staat, New York, im Juli 1788 nahm weniger als zwei Jahre in Anspruch. Man könnte kritisch anmerken, dass die Annahme der e rsten zehn Zusatzmt ikel zur Verfassung den Prozess um weitere drei Jahre verlängerte, aber in Wirklichkeit stellten die Bill of Rights- wie oben bereits erwähnt- eher den Abschluss als e inen wesentlichen Bestandteil des Prozesses dar. ln ihrer Gesamtheit bleibt die Klarheit, Schne lligkeit und Effizienz dieser Pioniertat im Bereich der "Verfassungsschöpfung" beeindruckend. Man vergleiche dies wiederum mit dem wesentlich weitschweifigeren, langwierigen, auf Verhandlungen beruhenden und öffentlichen Charakter der Beratungen in Europa. Fraglos ist dabei zu berücks ichtigen, dass es wesentlich schwieriger ist, die Interessen und Sorgen so vieler verschiedener Nationalstaaten und Vertreter von über 400 M illionen Menschen unter e inen Hut zu bringen. Andere Unterschiede sind indes nicht weniger hervorstechend. Der amerikanische Ve1fassungskonvent traf sich geheim und hinter verschlossenen Türen. Selbst nach der frühen Abreise einer Handvoll Delegierter, die abweichender Meinung waren und den sich anbahnenden Verfassungscoup leicht hätten zu Fall bringen können, drang nichts von den Verhandlungen nach außen. Der Konvent für die Zukunft Europas hingegen stand nicht nur unter regelmäßiger Beobachtung der Medien und veröffentlichte auf seiner Webseite verschiedene Entwürfe und Protokolle, sondern arbeitete auch akth• mit einer großen Zahl verschiedener nichtstaatlicher Organisationen und höchst aktiver Interessengruppen zusammen . Dies zeigt einen modemen Pluralismus, der weit über a lle "expansiven" Gedanken J. Madisons hinausreicht. Der Einftuss dieser Vereinigungen ist allzu deutlich in der Liste der sozialen Rechte und (in Teilen) wohlmeinenden Leerformeln über die Ideale Europas zu erkennen, die der Verfassungsentwurf enthält. Hinzu kommt die Debatte über die Frage, ob e in Europa, das wesentlich säkularer ist als
1035
Diese wurde sogar seitens Rhode Islands und North Carolinas zugestanden -diese beiden Staaten hatten die Verfassung zunächs-t abgelehnt und damit sogar kurzzeitig die Union verlassen.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
die Vereinigten Staaten, sich in seiner Verfassung auf das Erbe des christlichen Abendlandes berufen darf.1036 Die tiefere Ursache der Unterschiede zwischen dem reibungslosen Ablauf der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts und der langwierigen Arbeit der Europäer heute aber ist letztlich in der grundsätzlich vorhandenen Mehrdeutigkeit des europäischen Verfassungsvertragsentwurfs und allgemein des gegenwärtigen europäischen Konstitutionalismus zu fi nden. Durchaus schwer vorstellbar ist, wie die politische Identität des neuen Gebildes "unter" dem Verfassungsvertrag aussehen soll. Kritiker behaupten, dass diese neue politische Vis ion der Gemeinschaft chronisch elitär, bürokratisch und technokratisch ist und dass das im Entstehen begriffene neue Europa niemals in der Lage sein wird, patriotische Gefühle unter den Bürgern zu wecken, deren Leben es bestimmt. Der Verfassungsentwurf e nthält nur marginale Aspekte, die diesen Vorwurf entkräfte n könnten. 1037 2. Vergleichende Anmerkungen zu den Konventsergebnissen Der Entwurf einer Verfassung flir Europa käme wohl auch deshalb den Verfassungsvätern Amerikas vertraut vor, weil er das Potential in s ich trägt, die Fehler der im November 1777 verfassten Artikel der Konföderation heraufzubeschwören. In e inem "transatlantischen Vergleich" bewegt s ich der Vetfassungsvertrags entwurf irgendwo zwischen den 1776177 formulierten Articles of Confederation und der ein Jahrzehnt später verabschiedeten Bundesvetfassung der Vereinigten Staaten. So hat die Europäische Union keine Steuerkompetenzen, ebenso wenig wie damals der Kontinentalkongress nach den Artikeln der Konföderation. Die Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hingegen reichen weit über das hinaus, was die Ame rikaner in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts und wohl auch nach Ratifizierung der Verfassung der Vereinigten Staaten flir möglich hielten. So behielten die ameri kanischen Bundesstaaten nach den Artikeln der Konföderation die volle Souveränität über die 1036
Hierzu ausführtich unter C. IJ. Vielleicht s..1he es anders aus, wenn die Mitgliedstaaten sich dazu entschlossen hätten, einen allgemeinen Volksentscheid überdie endgültige Version des Verfassungsvertrags 1037
anzuberaumen, anstau sich in einem bunten Sammelsurium von Verfahren zu verheddern, bei denen einige Staaten den Gesetzgeber entscheiden und andere eine Volksabstimmung
durchführen lassen wollen. Natürlich würde ein Verfahren aIa amerikanische Volkssouveränität im Jahr 1787 erhebliche Probleme mit sich bringen (obwohl die meisten europäischen Länder in dieser Beziehung \Vesentlich mehr Erfahrung haben als damals die Vereinigten Staaten), vgl. a usführlich A. Maurer/S. Sc/umz, Ratifikation d urc h Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz, SWP-Papier, 2003.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
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polizeilichen Aufgaben in ihre m Staat. Bis weit in das 19. Jahrhundert hine in blieb die Postzustellung die einzige Zuständigkeit des Bundes, von der die Amerikaner normalerweise direkt etwas mitbekamen. Trotzdem besaß der Kontinentalkongress reale Kompetenzen in Bezug auf Krieg und Diplomatie, die klassischen Merkmale echter Souveränität. Der e uropäische VerfassungsvertragsentwUJf hingegen beschränkt sich darauf, das neue Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen, ohne die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, ihre e igene und unabhängige Außenpolitik weiter zu betreiben, in irgendeiner Weise einzuschränke n. Die Bewegung zur Reform der Artikel der Konföderation Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts war unter anderem des halb entstanden, wei l der Kongresses sich als unfahig erwies, seine Aufgaben im Bereich der nationalen Sicherheit zu e1füllen, die e indeutig in seine Zuständigkeit fielen. Es erscheint weiterhin schwer vorstellbar, dass die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich einer Bewegung anschließen, deren Ziel die ZentralisieJUng solcher Kompetenzen in der Union ist, da die europäischen Nationalstaaten sich vielfach ihrer (singulären) Rolle auf der weltpolitischen Bühne bewusst s ind (Großbritannien und Frankreich dürfen als Beispiel genügen). Der Verfassungsvertrag fällt also in vielerlei Hinsicht weit hinter den Zielsetzungen zurück, die vor mehr als zwei Jahrhunderten in Philadelphia formuliert wurden, und letztlich bleiben Verlauf und Eigenschaften der veJfassungsmäßigen Veränderungen in Europa das, was T. Jeffersons Nachfolger J. Madison die "Geheimnisse der Zukunft" nannte. Es wird s ich zeigen, ob der verschlungene Pfad und sich in die Länge ziehende Prozess des Entwurfs, der Verhandlung, der Verabschiedung und Ratifizierung des fertigen Verfassungsvertrages letzten Endes etwas anderes hervorbringen wird als den klaren und eindeutigen Beschluss, zu dem die Beratungen der Amerikaner zwischen 1787 und 179 1 gelangten. Während dieser Debatten musste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass Souveränität nur an Regierungen übertragen werden kann. Es erwies sich, dass alle rechtmäßig eingesetzten Regierungen- d. h. die der Bundesstaaten und des Bundes - ihre Daseinsberechtigung aus dem Willen des Volkes bezogen. Unabhängig von möglichen weiteren Zielen einer "europäischen Ve1fass ung" wird wohl der ursprüngliche Grundsatz der Volkssouveränität unangetastet bleiben. Über diese und weitere Aspekte des historischen Vergleichs hinaus stellt sich die Frage, ob das europäische Verfassungsprojekt auch Ursachen flir die momentan angespannten Beziehungen zwischen Europa und den USA deutlich machen kann. Vor mehr als dreißig Jahren wurden auf amerikanischer Seite die ersten Bestrebungen in Richtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vorboten eines vereinigten Europa angesehen, das seinem Retter und Verbündeten jenseits des Atlantik nacheifern würde. 1038 Heute darf manangesichtsder Folgen 1038
Vgl. m. w. N. J. Rakot•e, Europe's Floundering Fathers, in: Foreign Policy,J38/2003, S. 28 ff.; mit einigen (historisch) vergleichenden Gedanken R. R. Pa/mer. Das Zeitalter der demokratischen Revolution, 1970.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
des Krieges im Irak, der Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und e iniger europäischer Staaten sowie der Politik der Regierung G. ~V. Bush vielleicht fragen, ob der Prozess der Entstehung e iner Verfassung auf beiden Seiten des Atlantik tatsächlich ein Beleg daflir ist, wie viel Amerikaner und Europäer gemeinsam haben oder eher dafür, wie umfangreich und beständig die Unterschiede s ind. Mancher historischen Betrachtung zu folge beseitigte einst die amerikanische Föderation die Ri valitäten, die in Europa noch durch Krieg und Diplomatie im Gle ichgewicht der Mächte ausgefochten wurden. Es wäre nicht ohne Pikanterie, wenn es den Europäern a lso in absehbarer Zeit gelänge, eine Verfassung ftir eine Union zu schaffen, von der sich bis heute nicht wenige ein Gegengewicht zur derzeit größten (benevolenten) "Hegemonialmacht" der Welt erhoffen. Im Vergleich zu den in Artikel I § 8 der US-Verfassung enthaltenen genauen Festlegung der Machtbefugnisse des Kongresses erscheint die Vorstellung von vage definierten "Kompetenzen" dürftig. Gleichwohl können die "Föderalisten" Europas mit Recht anführen, dass der e uropäische Verfassungsentwurf die im Rahmen der derzeitigen Vertragswerke bestehenden Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeiten der Europäischen Union deutlich verringett. Darüber hinaus erweitert die Verfassung die Bereiche, innerhalb derer die Kommission und der Rat Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen können, und reduziert die Möglichkeiten einzelner Staaten, ihr Veto gegen bestimmte Handlungen e inzulegen. Indessen verbleibt ein wesentliches Merkmal der Souveränität - die Gestaltung des Steuersyste ms - im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, ebenso wie die Umsetzung der nicht enden wollenden Flut an Verordnungen aus Brüssel den Mitgliedstaaten obliegt. In diesem Sinne scheint der Entwurf e iner Vetiassung für Europa den "Articles of Confederation" ähnlicher als der amerikanischen Verfassung von I787. Die Aufgabe der Konsolidierung der politischen Führung Europas ist heute im Vergleich e ine weitaus vielschichtigere als die Bestimmung, der sich die Verfassungsväter Amerikas damals in Phi ladelphia gegenübersahen. Dies soll ke inesfalls die Erfolge des Jahres I787 schmälern - weshalb eine Betrachtung der jeweiligen Konventsmitglieder vermessen, aber gleichwohl bezeichnend ist: Im Entstehungsprozess der an1erikanischen Verfassung beeindruckt nicht nur die große Ernsthaftigkeit, mit der ihre Verfasser s ich dieser Aufgabe widmeten, sondern auch die bemerkenswert e infalls reiche und kritische Weise, in der s ie ihre profunde Kenntnis der Geschichte und politischen Philosophie mit ihren eigenen Erfahrungen verknüpften. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen in den Augen mancher um einen ,,zusammengewürfelten Haufen rustikaler Provinzler" 1039 handelte, die an der Peripherie der europäischen Welt lebten, lässt ihren Erfolg umso erstaunlicher erscheinen. 1039
3 1.
So J. Rako••e, Europe' s Floundering Fathe rs, in: Foreign Policy, I 38/2003, S. 28 ff.,
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A llerdings boten sich ihnen auch einige Vorteile, die ihnen die Arbeit an einer Bundesverfassung erleichterten. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Mitgl iedstaaten der Union zu keinem Zeitpunkt souverän im e igentlichen Worts inn gewesen waren. Weder 1776 noch 1787 konnte man die amerikanischen Bundesstaaten als unabhängige souveräne Staaten betrachten, im Gegensatz etwa zu den Nationalstaaten des modernen Europa. Auch wenn sie e inige g rundlegende Hoheitsrechte aus übten, darunter die Befugnis zur Verabschiedung von Gesetzen und Erhebung von Steuern, beanspruchten sie zu keinem Zeitpunkt Souveränität im internationalen Sinn. Bereits zu Anfang der Revoluti onskrise im Jahr 1774 besaß der Kongress das Monopol über die Bereiche Krieg und Diplomatie. So war auch die für den "romantisch-raubgierigen" Nationalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts so typische Hinwendung zum Nationalstaatsgedanken in den amerikanischen Staaten weitgehend unbekannt. Der Gegens atz zu Europa könnte an dieser Stelle kaum größer sein. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union s ind Nationalstaaten, die politische Souveränität aus üben und deren Völker selbstbewusst ihre eigene Geschichte bewahren. ln vielen dieser Länder könnte ihr im Vergleich mit den Vereinigten Staaten relativ neuer Status als Selbstverwaltungseinheiten (ein Umstand, an den allzu selten e rinnert wird) den Widerstand gegen die Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an die Brüsseler Bürokratie und in vie lerlei Hinsicht .,ferne" Abgeordnete des Europäischen Parlaments eher verstärken als abschwächen. Jeder europäische Nationalstaat pflegt eigene außenpolitische Beziehungen, und jedem dieser Staaten sind die Folgen bewusst, die entstehen können, wenn die Wahrung der eigenen Interessen nicht länger in gewohnter Weise mögl ich ist. Zudem s ind die europäischen Völker Erben einer Geschichte, die ein so hohes Maß an Leidenschaften und Erinnerungen birgt, dass das noch am e hesten heranzuziehende Gegenbeispiel in den Vereinigten Staaten dagegen völlig verblasst: nämlich die Bewahrung des Erbes der Südstaaten, welches sich typischerweise in der Zurschaustellung von Flaggen und Devotionalien der Konföderierten sowie in der eigentümlichen Weigerung äußert, anzuerkennen, dass es im amerikanischen Bürgerkrieg zuvörderst um die Abschaffung der Sklaverei ging. Diese Bezugnahme auf nationale Interessen und Identität lässt sich auch über diese Staaten hinausreichend hinsichtlichzweierwichtiger Bestandtei le des Entwurfs eines Verfassungsvertrags flir Europa verdeutlichen. Erstens werden die Mitgliedstaate n ungeachtet der Schaffung des Amtes des Außenministers der Europäischen Union, der gle ichzeitig als e iner der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission fungieren soll, kaum ihr Recht auf Betreibung originärer Außenpolitik an die Europäische Union vollumfänglich abgeben. Der Verfassungsentwurf ist an dieser Stelle sehr unklar, aber auch die Überarbeitung des Entwurfs im Rahmen e iner Regierungskonferenz der Mitglied-
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staatenhat die Aussichten auf die Betreibung einer "europäischen Außenpolitik" kaum verbessert. '""' Zum Zweiten lohnt ein Blick auf das Dilemma, das durch das Verfassungsvertrags-Verfahren an s ich entstanden ist. Letztlich handelt es sich um Verhandlungen zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungen, für die als formale (und " projektgefahrdende") Anforderung die Herstellung von Einstimmigkeit besteht. Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union selbst hat eine der wichtigsten Kriterien der Amerikaner ftir die Herstellung der vollständigen Verfassungs mäßigkeit einer Verfassung erftillt. Er traf sich ursprünglich als unabhängiges Gremium, das keine anderweitigen Zuständigke iten oder Verpflichtungen hatte und Theoretisch frei und ohne Rücks ichtnahme auf e inengende politische Loyalitäten bestimmen konnte, wie die politische Zukunft am besten gestaltet werden sollte. Ab diese m Zeitpunkt aber unterlag der weitere Prozess den Manipulationsversuchen der Regierungen der Mitgliedstaaten, und die Rolle der europäischen Völker bei der Annahme der Verfassung versank zunächst in Ungewissheit. Die Unterschiede zwischen der revolutionären Situation der Amerikaner im 18. Jahrhundert und der Situation, der sich Europa heute gegenüber s ieht, sind grundsätzlicher Natur. Die amerikanische Verfassungsbewegung war in ihren Ursprüngen und Zielen durch und durch revolutionär: revolutionär in ihrer Zurückweisung des britischen Autoritätsanspruchs im Jahr 1776, revolutionär in ihrer Bereitschaft zur Schaffung republikanischer Regierungen in den einzelnen Staaten und selbst dann noch bewusst revolutionär, als die Verfassungsväter versuchten, die Lehren, die s ie aus der Unabhängigkeit gezogen hatten, auf das Problem der Bildung einer nationalen Regierung zu übertragen. Die Begeisterung der Europäer für die Revolution im eigentlichen Sinne war gewissermaßen mit dem "annus mirabilis" 1989 vorüber, genau zweihundert Jahre nach ihrer Geburt in Paris. Zudem hat das Projekt der europäischen Integration'"'' stets den Eindruck vermittelt, eher die Koordination unter den Staate n verbessern denn die e igentliche politische Integration erreichen zu wollen. Der rhetorische Reiz, der hinter der Tatsache steckt, dass man diesen neuen Schritt im Integrationsprozess als "Verfassung" 1040
Vielleicht wäre eine solche Änderung möglich gewesen, \Venn nicht der Krieg im
Irak die Arbeit des Konvents unterbrochen hätte. Dieses Ereignis erinnerte die Akteure schmerzlich daran, wie weit man noch vom ldeaJ einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik entfernt ist. Die Vors-tellung, dass Briten, Italiener, Spanier oder Polen sich bereitwillig einer (damaligen) Außenpolitik anschließen würden, d ie den (damaligen) Absichten der Franzosen und Deutschen entsprochen hätte. erscheint auch für zukünftig
wechselnde Gestaltungen und KonS-tellationen vergleichbar abwegig. 1041 ,.Es gibt keine Hoffnung fUr Europa ohne Integration." (J. F. Du/les, Memo o f Discussion at the 159" Meeting of the National Security Cöuncil, 13. 8. 1953, in: FRUS 1952- 1954, Bd. VII, I, S. 502.) Diese Einschätzung kursierte in den Administrationen der amerikanischen Präsidenten Trumall und Eise11hower von 1945 bis 196 1. Erste Ansätze der Europäer. das traditionelle System der NationalS-taaten zu überwinden, fanden nachhaltigen positiven \Viderhall in den Vereinigten Staaten.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
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bezeichnet, hat ihren e igentlich graduellen Charakter nur abzuschwächen, aber nicht zu ändern vermocht. Trotzdem: im Hinblick auf die Zukunft einer europäischen Verfassung mag man sich der bisherigen Erfahrungen erinnern, um mit einer gewissen Gelassenheit den nun anstehenden Ratifikationsprozess zu begleiten. Andere werden gerade dadurch in ihrer demokratietheoretischen Skepsis gegenüber der Europäischen Union gestärkt werden. Wichtiger noch ist zunächst einmal, dass es keinen Dete nninismus hinsichtlich des Ausgangs der anstehenden Ratifikationsvoten gibt, der sich aus irgendeiner Tradition der politischen Kultur e ines der 25 (bald 27) Mitgliedsländer ableiten ließe. Und selbst wenn sich im ersten Anlauf die Ratifikationshürde als zu hoch ftir die Realisierung der ersten europäischen Verfassung erweisen sollte: Nach aller Erfahrung in und mit der Europäischen Union könnte es am Ende immer noch den Weg des Umwegs geben, um zum Ziel zu gelangen -wie so oft in der Vergangenheit, auch wenn alle De mokratiedogmatiker und Integrationstheoretiker sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht fühlen mögen. Europa ist eben insbesondere durch Krisen gewachsen und wieder und wieder durch Krisen gestärkt sowie gewissermaßen bestätigt worden. 3. Lehren für die Europäische Union aus dem Vergleich der Ve1fassunggebungsprozesse Eine wichtige Lehre aus dem Vergleich beider Verfassunggebunsprozesse ist, nicht von der Verfassung als absoluter und e inziger Quelle einer stabi len Demokratie bzw. einer stabilen Ordnung der verfassten Einheit auszugehen. Das in der jeweiligen Verfassungswirklichkeit demokratisch verfasster Länder gegebene Verhältnis von Markt, Parlamentarismus, Sozialstaatlichkeil und den darin enthaltenen Chancen zu einer lebendigen Demokratie ist vielmehr von Faktoren abhängig, die über bloße Verfahrensregeln hinausweisen: von der politischen Kultur, der Öffentlichkeit und von dem Bedürfnis der Bürger, in Freiheit und Frieden leben zu wollen. '"" Auf der anderen Seite sollte in aller Trivialität die Geschichte der US-Verfassung und ihre Popularität nach noch 2 15 Jahren den Europäern Mut machen, visionär zu sein und in der Verfassungsdiskussion langfristig zu denken. Dazu gehört neben Geduld Kompromissfähigkeit Die langfristige Dynamik einer Verfassung (auch eines Verfassungsvertrages) sollte nicht unterschätzt werden: können Ziele heute nicht erreicht werden, so muss das nicht das Ende eines großen Verfassungs- und Integrationskonzeptes bedeuten. Nichts spricht dagegen, dass die Ve1fassung Europas zu einem späteren Zeitpunkt noch verändert wird und verändert werden kann. Im Einzelnen sei an den "G reat Compromise" erinnert: oft ist der "langfristige Nutzen e ines Kompromisses zugunsten der schwächeren 1042
Vgl. auch R.A. DahJ, How Democrarie Is the American Constitution, 2002, S. 3.
370
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mitglieder einer Gemeinschaft viel größer, als der kurzfristige Verlust an Macht und Einfluss auf Seiten der Stärkeren"'""· ln der Frage der Grundrechte sind die Europäer den Amerikanern im Zeitpunkt des Verfassunggebungs prozess voraus: s ie wurden bereits beschlossen. Eine weitere Ursache für die Verankerung der US-Verfassung im Bewusstsein der Öffentlichkeit war die andauemde Rezeption des Verfassunggebungprozesses, beginnend mit der öffentlichen Diskussion der Ve rfassungsfrage durch die Federalists. Dies sollte europäische Verantwortungsträger animieren noch stärker in die Öffentlichkeit zu treten a ls dies etwa e n grosdurch die Konvents mitglieder geschah und flir ein höheres Maß an Transparenz aller europäischen Institutionen e inzutreten. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung sollte zudem gewährleistet werden, dass s ich aufgrund der Größe der Union nicht die Perspektivlosigkeit ei nes 2-Parteiensystems einstellt, wie es in den USA der Fall war. Die Gefahr ist allerdings evident, dass viele der Parteien, die heute im Europäischen Parlame nt tätig sind, durch die Vielfalt ihrer Werte und Programmatiken zu regionalen Splittergruppen degradiert werden und langfristig an Bedeutung verlieren. Gerade hier zeigt s ich letztlich die Tragfähigke it des Modells der europäischen "Einheit in Vielfalt". Zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit und des dynamischen Motors Europas mit seinem komplexen Institutionengefügesollte Europa mit einem lernenden Blick über den Atlantik an der Verbesserung seiner lmplementationsprozesse arbeiten, also seine Fahigke it verbessern, Entscheidungen schnell durchzuführen, insbesondere mit Nachdruck die Herstellung außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfahigkeit (entsprechend eines der Leitmotive der Federalist Papers) betreiben. Die Einberufung des Verfassungskonvents von Philadelphia am 21. Februar I787 hatte nicht etwa die Ausarbeitung einer die Konföderationsartikel ersetzenden neuen Vetfassung zum Gegenstand, sondern beschrieb das Mandat einschränkend als "for the sole and express purpose of revis ing the Articles of Confederation". Erst die außerordentliche Qualität der "Founding Fathers" und die Bereitschaft zum historischen Kompromiss ermöglichten die Einigung auf eine bundesstaatliche Verfassung. Dank der "Popularisierung" der f
G. Burghardt, The Development of a European Constitution from the US Point
of View, Berlin, Vorlesung vom 6. Juni 2002 an der Humboldt- Universität Berlin, www
.eurunion.org/news/speeches/2002/020606gb.hbn. IO:U G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002, S. 42.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee
371
Gedankliche Parallelen sind zahlreich, wenngleich nicht immer kohärent. So ist es mehr die Einsicht in die nationale Unvollkommenheit, die die Zustimmung zum Projekt Europa befördert, als wahre Überzeugung. Einer der hierfür bestimmenden Auslöser lässt sich allerdings nicht mit den Zuständen des vorkonstitutionellen Amerika vergleichen- nämlich die überbordenden Komplexität und Unüberschaubarkeit der real existierenden Europäischen Union. Ein weiterer Punkt: Deramerikanische Bürger konnte sich von Anfang an als Subjekt in einem Prozess flihlen, der argumentativ begleitet wurde, Selbstbetroffenheit erzeugte und daher auch von einer psychischen Dynamik getragen war. Der europäische Bürger, mit argumentativen Begründungsversuchen für Entscheidungen auf EU-Ebene nicht eben verwöhnt, empfindet wenig eigene Betroffenheit und bringt daher auch nur ein geringes Engagement für einen Prozess auf, dem er sich zunehmend als Objekt ausgesetzt sieht. Ein Mehr an öffentlicher Diskussion und kompetenter Argumentation wäre hier sicher nützlich, zumal der Zusammenhang zwischen Verfahren und Reaktion vielleicht doch anders ist als gemeinhin vermutet: Möglicherweise wird nicht so wenig argumentiert, weil das Interesse so gering ist, sondern das Interesse ist so gering, weil die Bürger sich nicht hinreichend ernst genommen fühlen. Demzufolge ist eine weitere Lehre aus den E1fahJUngen des Jahres 1787 für die heutigen Konstellationen, dass man für politische Ziele dieser Größenordnung gewisse Wagnisse eingehen muss. Wenn eine wirkliche Verfassung der Völker und Nationen das ist, was man dem Versprechen G. d' Es1ai11gs nach erreichen wi ll, wird eine Reihe ausgehandelter Verträge nicht ausreichen. Das Interesse der Menschen am Europäischen Parlament ist marginal, wie der Wahlbeteiligung oder der Berichterstattung über das Parlament in den Medien unschwer zu entnehmen ist. Die Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten des Rates und eines europäischen Außenministers wird zweifellos erhebliche Auswi rkungen auf die Gestaltung der Politik und Koordinierung der Arbeit zwischen Rat, Kommission und Parlament haben.'"" Legitimität für die europäische Integration und flir die Politik insgesamt erwächst aus Prozessen, aber mindestens ebenso stark aus der inneren Annahme der inhaltlichen Ergebnisse des Konvents durch die Unionsbürger. Es ist demzufolge unumgänglich, dass nunmehr, nach dem Abschluss der Beratungen des Verfassungskonvents und im Rahmen des Ratifizierungsprozesses, eine europaweite ö ffentliche Diskussion über die Chancen und Erfordernisse eines sich langsam herausbildenden "europäischen Verfassungspatriotismus" beginnt. Die Vereinig-
1045
Aber die politischen Wirkkräfte dieser neuen Ämter s ind in ähnlicher \Veise problematisch. Es geht letztlich um einen Präsidenten, der die durch den Rat mite inander verbundenen Regierungen repräsentiert, aber nicht die Völker, die diese Regierungen vertreten.
372
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ten Staaten von Amerika können insoweit und in vernünftig gezogener Analogie durchaus zum Vorbild erwachsen. Die amerikanische "Revolution" hat ke ine herausragenden philosophischen Entwürfe hervorgebracht. 1046 Ihre Bedeutung flir die Verfassungsgeschichte und die Geschichte der politischen Ideen liegt in der gelungenen Synthese europäischer Denkmodelle mit der politischen Praxis. Einer Synthese unterschiedlicher Schattiemngen des europäischen Denkens, insbesondere der Aufklärung sowie der englischen politischen Tradition unter den eigentümlichen Bedingungen der amerikanischen Umgebung, die dem Einzelnen eine höhere Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung e ingeräumt haben als diejenigen Europas. '"" Die Lehren herausragender Vertreter der europäischen Aufklärung und des Naturrechts diente im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits der Beschreibung der amerikanischen Realität, wohingegen es im zeitgleichen Europa weitgehend den Charakter eines normativen Postulats behielt. Alexis de Tocqueville hat trotz aller kurz skizzierten Schwie rigkeiten bereits I833 die ungeheure Kraft und Dynamik der "De mokratie in Amerika" beschrieben. Europa, vielleicht die transatlantische Gemeinschaft wartet heute, mehr als 50 Jahre nach Beginn des europäischen Einigungsprozesses, immer noch auf den "amerikanischen de Tocquevil/e". Möglicherweise wird e in solcher e rst aus einem tragfähigen Ergebnis des jüngsten europäischen Verfassungsprozesses die erforderliche Inspiration schöpfen."'"
1046
Dahingegen darf mit der notwendigen Bescheidenheit durchaus von einem Aufkeimen eines europäischen Pendants der ~.~eralist Papers" gesprochen werden. Die zahlreichen Beiträge der letzten Jahre zur Zukunft Europas, insbesondere die Schriften von Pernice, Häberle oder auch die Vortragsreihe des ,,Forum Constitutionis Eur~pae'' könnten mit einer (verbesserungswürdigen) Begleitung in der breiten europäischen Offentlichkeit ein entsprechendes \Verk abgeben. 1047 Den Gedanken der Verknüpfung praktischer Absicht mit den europäischen Strömungen der Geistesgeschichte betont auch W Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. Frenske/D. Mertens/\V. Reinhard/ K. Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausg. 1996, S. 241 ff., 366. 1048 Lediglich J. H. H. Weiler dürfen zarte, der Selbsldarslellung nicht abgeneigte Gehversuche auf dem steinigen \Veg zu diesen Höhen attestiert werden, vgl. etwa ders.The Constitution o f Europe, 1999.
C. Der Gottesbezug in den Ver fassungen Europas und der USA I. Einleitung Wenige Themen haben während der Beratungen des Europäischen Konvents eine so breite europäische Öffentlichkeit erreicht wie die Frage des Gottesbezugs in der Präambel des "Vertrages über eine Verfassung flir Europa". ' Wie schon im ersten Konvent zur Erarbeitung der "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" rief die kontroverse und langwierige Diskussion über die Wertebas is der Europäischen Union im Konvent unter der Leitung des e hemaligen französischen Staatspräsident V. Giscord d' Estaing vielfältige Reaktionen der politisch Beteiligten, der Medien', der nationalen und europäischen Kirchenverbände 3 und der europäischen Zivilgesellschaft' hervor.
1
Die folgenden Ausführungen basieren auf e inem Vortrag des Verf in \Vilton Park im Mai 2004, flir den d ie \Vissenschaftlichen Dienste des De utschen Bundestages wichtige Grundlagenarbe it geleistel haben (WD vom 3. S. und 13. S. 2004). Vgl. nunmehr auch C. Mirabe/Ji, The religious e lement in the Constitution for Europe 1 in: H.-J. Blanke/ S. Mangiameli (Hrsg,), Governing Europe under a Conslitution, 2006, S. 133 ff. 1 So z. B. Frankfurter Rundschau v. 13. I I. 2002: "Die Quelleder Wahrheit, der Gerechtigkeit. des Guten und des Schönen"; FAZ v. 16. I I. 2002: "Gott in Europa"; Süddeutsche Zeitung v. 28. I. 2003: "Segen lässt a uf sich warten"; Die Welt v. 30. I. 2003: "Gottloses Europa!", Schwäbische Zeitung v. 5. 2. 2003: "Gott kommt bis her nicht vor'' -ein Interview mit J. Meyer; FAZ v. 8. 2. 2003: "Vatikan vermisst Bezug auf Gott in den Entwürfen", Bayern Kurie r v. 13. 2 . 2003: ,.Europa stre itet über Gott"; A1. Wissmann, Ganz ohne Gott geht es nicht, in: FAZ v. II . 4. 2003; FAZ v. S. 6. 2003: "Kritik in der Union am Konventsentwurr'; lv. Schiiuble, Für die Würde der Welt, in: Der Tagesspiegel "· 18. 6. 2003. 3 Vgl. die Gemeinsame Ste llungnahme des Vorsitzenden der deutschen Bisclwfskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Ki1·che in Deutsch/(md zum Konvent z ur Zukunft Europas v. Mai 2002; Gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe und des BevoJ/mäcluigten des Rates der E~'lmgetischen Kirche in Dewsch/and anlässlich der Anhörung der Europaausschüsse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum Europäischen Verfassungskonvent am 26. 6. 2002; Mitteilung des Präsidenten der Ko mmission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft (COMECE), Agence Europe "· I. I I. 2002, S. 4 , Bischof J. Homeyer, Ja, der Gottesbezug wird kommen, in: Rheinische r Merkur v. 15. 5. 2003, Pressemitte ilung des Exekutivausschusses der COMECE v. 19. 6. 2003: "Reaktion auf den EU-Yerfassungsentwurr'. " Kritik an einem exklusiven Hiß\veis a uf das Christentum wurde z. B. vom Ewvpäischen Netz gegen des Rassismus (ENAR) ge.'iußert, Agence Europe vom 14. I I. 2002. Ähn-
374
C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
Erwähnenswett erscheint eine Einschätzung P. Httberles: "Soweit textlich vorhanden, repräsentieren Verfassungspräambeln (oder sonstige Verfassungsklauseln) mit Gottesbezügen ke ineswegs e ine ,libetwundene', anachronitische, ,atypische' Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verfassungsstaates."' Auch aus diesem Grunde erscheint eine rechtsvergleichende Betrachtung im Rahmen zweier Verfassungshistorien nahezu geboten. Im Folgenden wird sowohl die Debatte um die "invocatio De i" im Verfassungsvertrag eine nähere Untersuchung erfahren als auch e in vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft s ich schließlich mit einer Darste llung der Gottesbezüge der jewei ligen Einze lstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks sowie mit einer Betrachtung etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen Bundesländer.•
11. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas Ausgangspunkt soll der (umstrittene) zweite Absatz der Präambel des am I8. Juli 2003 vorgeschlagenen Verfassungsvertragstextes sein: "Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren We rte in seinem Erbe \Veiter lebendig sind und die die zentrale Stellung des Menschen und die Vors-tellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".
1. Bisherige Regelungen im Primärrecht der Europäischen Gemeinsch aft
Das geltende primäre Gemeinschaftsrecht enthält ke inen Bezug auf Gott oder das Christentum. Spezielle Regelungen existieren dagegen zur Stellung der Kirchen und zu den Religionen in Europa, darunter insbesondere:
lieh äußerten sich der Humanistische Verband Deuuch/ands (HVD, www.humanismus.de) und European Hrmumist Federarion (EHF. www.humanism.be). Eine spez.ielle Anhörung zum Thema "\Vertegemeinschaft Die Rolle der Kirchen in der Europäischen Union"' führte der Europaausschuss des Landes Schleswig-Holstein am 23. 8. 2002 durch. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen veranstaltete am 1. / 2. 2. 2003 eine Tagung zum Thema "Der Status der Religionsgemeinschaften im künftigen Europa". Vgl. auch M. H. Weninger, Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, 2007. ' P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. AuH. 2006, S . 276. 0 Siehe auch bereits P. Hiiberle, "Gott'" im Verfas.sungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, J992, S. 213 ff.) sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. AuH. 1998, S. 95 I ff. mit de r dort zjtierten Ko mmentarlit.
ll . Der Gottesbez.ug in den Verfassungen Europas
375
- Art. 13 EGV, der den Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und nach AnhöJUng des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrung zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem aufgrund der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen'; - das Gemeinschaftsgrundrecht der Religions freiheit als vom EuGH entwickelter allgemeiner Rechtsgrundsatz', - die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften zum Vertrag von Amsterdam (ErkläJUng Nr. II ), mit der die Europäische Union sich verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achte n und nicht zu beeinträchtigen 9• 2. Die Europäische Grundrechtecharta
a)
Gottesbe~ug
Breiten Raum nahm die Frage eines expliziten Gottesbezugs während der Beratungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 ein 10 • Aufgabe des vom Europäischen Rat in Köln eingesetzten Gremiums war die Zusammenfassung der auf EU-Ebene geltenden ,,Freiheits- und Gleichheitsrechte, wie s ie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gewährleistet s ind und wie sie s ich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaate n als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts e rgeben."" Im Zuge der damit untrennbar verbundenen 7 Vg l. A. Epiney, in: C. Callies/ M. Ruffe rt (Hrsg.), Kommentar zum EUV und EGV, 2. Auft., 2002, Art. 13 EGV Rn. I; G. Joc/wm, Der neue Art. 13 EGV oder "political correctness" auf e uropäisch?, in: ZRP 1999, S. 280 ff. ; S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, in: A. Duschanek/S . Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa- Die Europäische Union nach Nizza, 2002, S. 147 ff. ' Erstmalig anerkannt in: EuGH, Urteil vom 27. 10. 1976 (Paris/Rat), Rs. 130/ 75 - Slg. 1976, S. 1589; vgl. auch /. Pemice, Religionsrechtliche Aspekte im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1977, S. 777 ff. 9 Die Erklärung Nr. I J ist nach Artikel 3 1 Abs. 2 des \Viener Übereinkommens über das Recht der Verträge verbindlich und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Für das deutsche Recht ist die Erklärung vor allen mit Blick auf Artikel 4 Abs. I und 2 GG i. V. m. Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von Bedeutung, der den Religionsgemeinschaften ein Organisations- und Selbstverwaltungsrecht zugesteht, denn gemäß der Erklärung bleibt diese Regelung durch das Gemeinschaftsrecht unberührt. 10 Hierzu ausführlich J. Meyer IM. Engels, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 200 t. Vgl. auch J. Hinard, Ehre sei Gott .. . in der EU. Deutschland besteht darauf, in: Die Zeit vom 2. II . 2000, S. 9. Im weiteren Sinne IV. Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgru ndrech~ in: EuR 2000, S. 261 ff. 11 Schlussfolgerung Europäischer Rat (Köln), Anhang IV: Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU, 4. 6. 1999.
376
C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
Wertedebatte diskutierte der Grundrechtskonvent die Frage eines Gottes- bzw. Religionsbezugs in der Präambel der Grundrechtecharta mit großer Intensität. Die vom Präsidium unter der Leitung von R. H erzog vorgeschlagene Ausgangs formulienmg des "kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes" stellte sich während der Beratungen des Grundrechtskonvents als nicht konsensfahig heraus. Insbesondere die französische Regierung und die der Fraktion der Sozialistischen Partei Europas (SPE) angehörenden Konventsdelegierten sprachen sich gegen eine Bezugnahme aus, während die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP) den Hinweis auf das re ligiöse europäische Erbe nachdtiicklich einforderten. Im Ergebnis blieb die politische Auseinandersetzung über den Re ligionsbezug im ersten Konvent ungelöst. Die letztendlich verabschiedete und in Nizza feierlich proklamierte Charta beginnt mit einer aus sechs Absätzen bestehenden Präan1bel. Im zweiten Absatz der deutschen Sprachfass ung heißt es: "In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen VIerte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität".
Dieser explizite Religionsbezug ist eine Besonderheit der deutschen Übersetzung und fehlt in den übrigen Sprachfassungen der Charta. Beispielsweise ist in der französischen Version der Chartapräambel statt dessen die Formulie rung "patri moine s pirituel et moral" gewählt worden. Ebenso spricht die englische Fassung vom "spiritual and moral heritage". Die deutsche Übersetzung der Begriffe "spirituel" bzw. "spiritual" mit "religiös" muss wohl als Versuch gewertet werden, in de r schwierigen Endphase der Chartaberatungen die divergiere nden Positionen zu überbrücken. Die Sonderstellung der deutschen Fassung hat entsprechend intensive Kommentierungen provoziert 12, wenn auch alle Sprachfassungen der Charta gleichermaßen Gültigkeit haben. b) Kirchen und Religionen
Über ihre Präambel hinaus enthält die Grundrechtecharta die folgenden s pezi ellen Regelunge n zu den Kirchen und Religionen in Europa: - die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Art. 10 Abs. I EuGRC, der der Regelung des Art. 9 Abs. I EMRK e ntspricht", - das Recht der Eltern auf re ligiöse Kindererziehung in Art. 14 Abs. 3 EuGRC"; 12
Vgl etwa P. Beres, Die Charta - Ein Kampf für die Vierte der Union, in: S.Y. Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtscharta der Europäischen Union, 200 I, S. 21 f.; H. M. Heinig, Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchem-echi 200 1, S. 440 ff., 457; G. Robbers, Re ligionsrechlliche Gehalte der Europäischen Gnmdrechtscharta, in: H. W. Arndt/M.·E. Geis/D. Lorenz (Hrsg.), Kir· che·Staat· Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 200 I, S. 425 ff., 43 1.
ll . Der Gottesbez.ug in den Verfassungen Europas
377
- das Verbot der Diskriminierung aufgrund Religion oder Weltanschauung in Art. 21 Abs. I EuGRC, der s ich an Art. 13 EGV und Art. 14 EMRK anlehnt", - die Pflicht zur Achtung der Vielfalt der Religionen nach Art. 22 EuGRC. Im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents ist die EU-Grundrechte charta mit ihren Bestimmungen als Teil II aufgenommen und wird bei Annahme durch die Regierungskonferenz und Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten rechtsverbindliches und einklagbares Primärrecht werden. 16 3. Der Entwurf des Europäischen Kom•ents Allein dre i der insgesamt 27 Plenartagungen des Konvents waren der Diskussion über die Werte und Ziele der Europäischen Union gewidmet. " Da Konventspräsident Giscord d' Estaing sich trotzder Skepsis des Konvents die Formulierung der Verfassungspräambel selbst vorbehielt und seine Erstfassung erst in der Endphase der Beratungen präsentierte ", wurde die Kontroverse zum Gottesbezug zunächst ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt. Bereits im November 2002 hatte die EVP einen komplette n Verfassungsentwurf erarbeitet. 19 Im Einklang mit diesem EntwUJf brachte J. Wl/rmeling, stellvertretender Konventsdelegierter des Europäischen Parlaments, im Januar 2003 den Vorschlag in den Konvent e in, an zwei Ste llen der Verfassung einen Gottesbzw. Re ligionsbezug aufzunehmen'": Zum einen sollte der Hinweis auf das geistigreligiöse Erbe Europas Eingang in die Präambel finden, zum zweiten sollte an spä13
Vgl. zur Kommentierung von Art. 10 EuGRC z. B. N. Bemsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 10 Rn. I; ebenso die neuen Erläutenmgen, CONV 8281103 v. 18. 7. 2003. 14 Hierzu besteht mit Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll Nr. I e in EMRK-Referenzrecht, vgl. a uch N. Bemsdorff (2003), Art. 14 Rn. 21. 15 Vgl. S. Hölscheidt, in: J. Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 2 1 Rn. 32. 16 Die Charta entfaltet bereits heute Auswirkungen: Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit haben mehrere Generalanwälte des EuGH in ihren Schlussanträgen auf sie Bez.ug genommen. Auch das EuG weist in einem Urteil auf Art. 4 1 Abs. I der Charta hin. Im Einzelnen hierzu S. Hölscheidll E. Mund. Religionen und Kirchen im europ..1ischen Verfas-
sungsverbund, in: Europarecht, 2003, S. I083 ff. 11 Plenartagungen am 27. 2., 18. 3. und 26. 3. 2003. Die Wortprotokolle dieser Sitzungen
sind unter http:J/www .europarl.eu.int./europe20041index/de.htm. abrufbar. " CONV 722/03 v. 28. 5. 2003. 19 ~,Th e
constitution of the European Union"' vom I0. I J. 202, EPP-Convention Group Meeting in Frascati, abrufbar unter www.epp-ed.org. 20
"Re ligiöse Bezugnahme im VerfassungS\•e rtrag", CONV 480/03 vom 31. I. 2003.
Mitunterzeichner waren u. a. die deutschen Konventsmitglieder MdEP E. Brok und Ministerpräsident E. Teufel sowie MdB P. Al1mder als stellvertretender Delegierter des Deutschen Bundestages.
378
C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
terer Stelle in Anlehnung an die polnische Verfassung die folgende Formulierung ausgenommen werden: " Die \Verte der Europäischen Union umfassen die \Vertvorstellungen derjenigen, die an
Gott als d ie Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen g lauben, als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Vierte aus anderen Quellen ableiten".
Im Februar 2003 reichten daraufhin drei Konvents mitglieder eine von 163 Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterzeichnete Entschließung ein, in der die Delegierten forderten, dass die europäische Vetfassung keinen direkten oder indirekten Hinwe is auf eine bestimmte Religion oder einen bestimmten G lauben enthalten dürfe.21 Ebenso kritisch äußerten sich die Delegierten Frankreichs und zahlreiche Mitglieder der SPE-Gruppe im Konvent. Vor dem Hintergrund der gespaltenen Haltung des Konventsplenums legte
Giscard d'Estai11g im Mai den folgenden Vorschlag für Absatz 2 der Verfassungspräambel vor: "Schöpfend aus dem kulturellen. religiösen und humanis-tischen Übertieferungen Europa.s, die- aus griechischer und römischer Zivilisation hervorgegangen und erst durch das geistige Streben, von dem Europa durchdrungen war und das noch heute in seinem Erbe fortlebt, und dann d urch die Philosophie der Aufklärung geprägt- die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".
Obgleich der ehemalige französische Staatspräsident seine ablehnende Haltung gegenüber e iner ausdrücklichen Anrufung Gottes in der Verfassungspräambel im Konvent und auch bei einer Privataudienz mit Papst Johannes Pau/ 11. im Oktober 2002 22 deutlich gemacht hatte, rief dieserTextvorschlag im Konvent Überraschung und den e rklärten Widerstand der Gruppe der BeflirwoJter e ines Gottesbezuges hervor. Besonders der Hinweis auf die griechische und römische Zivilisation in Verbindung mit dem Zeitalter der Aufklärung wurde von zahlreichen Delegierten als historisch verkürzt und unausgewogen kritisiert. In der Plenarsitzung des Konventsam 30./3 1. Mai 2003 betonte MdEP A. Tajani, dass die jüdisch-christl ichen Wurzeln eine historische Tatsache seien, die Europa maßgeblich geprägt hätten. Die polnische Parlamentsdelegierte M. Fog/er brachte ihre Unzufriedenheit über den Entwurf der Präambel zum Ausdruck und forderte ebenfalls die Aufnahme eines Verweises auf das j üdisch-christliche Erbe. ln der folgenden Plenarsitzung vom 4. bis 6. Juni 2003 wurde die Forderung nach einem Bezug auf Gott, das j üdisch-christliche Erbe oder das Christentum 21 "Achtung der Grundsätze der Religionsfreiheit unter religiösen Neutralität des Staates", CONV 587/03 vom 26. 2. 2003. 22 Vgl. auch FAZ vom 16. I I. 2002: "Gott in Europa", DIE WELT vom 30. I. 2003: "Gottloses Europa", DIE ZEIT vom 30. I. 2003: ,,Zum Erfolg verdammt".
ll. Der Gottesbez.ug in den Verfassungen Europas
379
mit Nachdruck erhoben . MdEP E. Brok und Ministerpräsident E. Teufel erklärten, dass die griechische und römische Zivilisation nicht ohne den Glauben an Gott und andere Religionen aufgezählt werden könne. Der Delegierte des polnischen Parlaments, E. IVirrbrodr, hob hervor, dass das Christentum e iner der wichtigste n Einflüsse in der europäischen Geschichte sei. Sowenig das Christentum die Rechte anderer verletze, dürfe eine dogmatische Säkularisierung die Rechte die Religion verletzen. Der italienische Regierungs vertreter F. Speroni unterstrich den entscheidenden Beitrag des Christentums zu Europa. Der Delegierte der irischen Regierung, D. Rache, forderte den Konvent dazu auf, die christliche Tradition Europas nicht zu übersehen. Gleichzeitig lehnten zahlreiche Mitglieder die Erwähnung des Christentums in der Präan1bel ab. MdEP 0. Duhnmet kritisierte die Versuche, das Christentum oder die christlichen Wurzeln in die Präambel einzubeziehen. Jeder, der mehr a ls die Erwähnung der religiösen Überlieferungen verlange, übersehe, dass es vielen Delegierten bereits schwer falle, die vom Präs idium vorgelegte Formulierung zu akzeptieren. Auch MdEP A. van lLmcker lehnte einen Bezug auf das Christentum strikt ab. Der s panische Parlamentsdelegierte J. Boreil Fomelles e rklärte, die Balance der von Giscard vorgelegten Formulierung zwischen säkularen und religiösen Werten sei das Äußerste, was der Konvent erreichen könne.
a) Ä11derungsanträge Als schriftliche Reaktion auf den von Giscard verfassten Präambeltext wurden insgesamt I8 Änderungsanträge 23 zur Präambel eingebracht. Für den zweiten Präambelabsatz wurden insbesondere folgende Textalternativen vorgeschlagen: - von MdEP E. Brok flir die EVP-Gruppe: "Drawing inspiration from the cultural> religious and humanist inheritance o f Europe, which, nourished first by lhe civilisations of Greece and Rome, characterised by spiritual and for example judeo-christian impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of the Enlightenment, has embedded within the life o f society its perception o f the central roJe of the human person and its im•iolable and inalienable rights, and of respect for law, and the respect for conscience and belief [ . . . ]",
- von der polnischen Regierungsvertreterio D. Hüb~~er : "l... ] which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome, characterised by spiritual, notably Christian impulse always present in its heritage [ .. . )" ;
- von den polnischen Parlamentsvertretern E. Wiubrodt und M. Fog/er:
23
Eine Übersicht aller Änderungsanträge ist unter http://europeanl-lconvention.eu.int /amendments zusammengestellt. Die Anträge lagen dem Konvent lediglich in Originalsprache vor.
380
C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
"[ . .. ] which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome, c har.tcterised by spiritual impulse always present in its heritage, and by the philosophical c urrents of the Christianity, the Renaissance and the Enlightenment ( . .. ) Believing that re united Europe will ever base on fundamental values, as to lerance and human d ignity, which are the values of those who believe in God as the source of truth, justice, good and beauty, and of those who do not share such a be lief, but respect these universal values arising fro m other sources ( . .. ]'';
- von den maltesischen Delegierten P. Seracino lnglorr, M. Frendo und 1./ngrwnes:
"l... ] which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome, c haracterised by spiritual impulse always present in its heritage, notably Judaeo-Christian , and later by the philosophical currents of the Renaissance and the Enlightenment, has e mbedded within the life o f society its perception of the central roJe of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law, freedom of conscience and
belief in God"; - von MdEP J. Wiirmeling u. a.: " Drawing inspiration from the cultural, judeo-christian and humanist inheritance o f Europe, which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome, characterised by spiritual impulse always present in its heritage and later by the philosophical c urrents of the Enlightenment, has e mbedded within the life of society its perception o f the central roJe of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law, respecting conscience and belief in God";
- von dem Vertrete r des Bundesrates, Ministerpräs ident E. Teufel: "[ . .. ]Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferung Euro-pa.s, die - aus der griechischen und römischen Zi,,ilisation sowie aus dem Gottesglauben des Christentums und anderer Re ligionen hervorgegangen und e rst d urch das geistige
Streben [ . . .]"; - vom stellvertretenden Delegierten der französischen Nationalversammlung J. Flach: "l... j s •inspirant des Heritages culturels, religieux, laics e t humanistes de I'Europe
r...J";
- vom MdEP 0. Duhamel u. a.: "[. .. ] S'inspirant des Heritages culturels. et spirituels de I'Europe [. .. ]": - vom irischen Parlamentsvertreter P. de Rossa: " Drawing inspiration from the d iverse religious, cultural and humanist inheritance o f
Europe [ . .. ]"; Auf der Grundlage dieses Stimmungsbildes wurde dem Konventsplenum in der Plenarsitzung am 12./13. Juni 2003 eine überarbeitete Präambelversion vorgelegt. Darin verzichtete das Präsid ium auf die Erwähnung der griechischen und römischen Zivilis ation sowie den Bezug zur Aufklärung. Der Hinweis auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas wurde beibehalten und durch den Zusatz "deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind"
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ergänz!. Nicht aufgenommen wurden e in expliziter Gottesbezug, ein Hinweis auf das Christentum oder das (jüdisch-)christliche Erbe. Dieser Version stimmte der Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses zu."
b) Die Bera.nmgen der Regierungskonferenz ln der im Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz wurde die Frage des Gottesbezugs e meut aufgegriffen. Be im Treffen der EU-Außenminister am 28./ 29. II. 2003 in Neapel war die Frage der Präambel und insbesondere des Bezugs auf die christlichen Wurzeln Europas Gegenstand e ingehender Beratungen. Ein Konsens konnte dabei nicht erzielt werden. Zur Vorbereitung des Europäischen Rates in Brüssel am 12./ 13. Dezember2003 schlussfolgerte die ital ienische EURatpräs identschaft deswegen, dass "einige Delegationen es nach wie vor für wichtig hielten, dass in der Präambel auf die christlichen Werte Bezug genommen wird" während "die übrigen Delegationen der Ansicht waren, dass der Text des Konvents den unterschied lichen Anliegen in ausgewogener Weise Rechnung trage".2s
c) Bewerrung Aus dem Streit hervorgegangen ist e in durch und durch säkularer, laizistischer Text, der angesichtsder europäischen Realität möglichetweise zu Recht auf eine "lnvocatio Dei", eine Anrufung Gottes, verz ichtet und s ich stattdessen auf den Geist der Antike, des Humanismus und der Aufklärung bemfl. Nur beiläufig wird auf das religiöse Erbe Europas verwiesen, ohne dass dabei die j üdische, christliche und muslimische Tradition in irgendeiner Weise erwähnt wird. Von religiöser Gegenwart ist überhaupt nicht die Rede. Über die Hintergründe dieser Zurliekhaltung lässt sich nur rätseln: Sorge um den laizistischen Staat, Rücksicht gegenüber multire ligiösen Gesellschaften oder schlicht Angst vor dem Erstarken des Fundamentalismus? Ehrenwerte Gründe allesamt, die aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein Text vorliegt, der, obwohl er modern sein will, seltsam unzeitgemäß wirkt; ein Text, der weder den e igenen TI'aditionen noch den Erfordernissen der Gegenwart wirklich gerecht wird. Europa, das alte wie das neue, verdankt sich nicht nur der griechischen Antike und nicht nur der französischen Aufklärung, sondern ebenso sehr jenem Mittelalter, in dem jüdische, christliche und muslimische De nker, allein oder gemeinsam, über den Widerspruch von Glaube und Vernunft nachgedacht und damit jene Aufklärung mit vorbereitet hatten, die bis heute als der große Widerpart des Religiösen gilt. "' Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung vom 12./ 13. Juni 2003, Fn. 17. '-' Siehe hierzu das Dokument der RegierungskonferenzCIG 60/03 ADD 2 v. l l.12.2003.
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Europa, das alte wie das neue, ist ein Kontinent, dessen Schicksal - im g rausamsten wie im erhabensten Sinne- von Religion und Religionen bestimmt wurde und es vielfach noch immer wird. Dies zu negieren oder zu verdrängen, heißt, e iner Geschichtsvergessenheit Vorschub zu leisten, die sich bis in die Zukunft hinein rächt. Und schließlich ist auch Europa, das neue mehr noch als das alte, Schauplatz jener Entwicklung, die man die "Rückkehr des Religiösen" nennt und die gegenwärtig daran ist, die Gesellschaften, nicht nur die amerikanische, nachhaltig zu verändern. Von alledem kann in e inem Verfassungstext selbstverständlich nicht ausdrücklich die Rede sein. Durch den weitgehenden Verzicht auf religiöse Referenz erweckt diese europäische Präambel indes den Verdacht, dass man sich der Bedeutung der Re lig ionen als konstituierender Elemente auch des neuen Europas entweder nicht bewusst ist oder s ie willentlich unterschlägt. Damit geht etwas ganz Wesentliches verloren. Religion, sei es nun als Suche nach ei ner neuen Spiritualität oder als Flucht in fundamentalistische Gewissheiten, hat seit einigen Jahren enormen Auftrieb. Die Aufklärung und die mit ihr einhergehende Entzauberung der Welt s ind an Grenzen gestoßen, die Bedürfnisse der Menschen nach de m Unbegreiflichen, dem Göttlichen neu erwacht. Unter dem Eindruck der rasanten technologischen Entwicklung hat sich das Bewusstsein sowohl für "die Grenzen menschlicher Macht"'• a ls auch für die Notwendigkeit umfassender Orientierung geschärft. Ethisch-re ligiöse Positionen sind in den existenziellen Debatten der Gege nwart gefragter denn je. Wer dies, willentlich oder nicht, übersieht, vernachlässigt nicht nur menschliche Grundbedürfnisse, sondern schafft ein Vakuum, in dem Fundamentalis men a ller Art gegenüber dem Humanismus und der Aufklärung e in leichtes Spie l haben. Nur beiläufig wird in der EU-Verfassung auf das religiöse Erbe Europas verwiesen. Von einer religiösen Gegenwart ist gar nicht erst die Rede. 27 4. Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskand idaten) der Europäischen Union sowie in d en deutschen Bund eslä ndern
Von den derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen die Verfassungen Dänemarks, Griechenlands, Irlands, der Bundesrepublik Deutschland" und im Falle Großbritanniens die Verfassungsprinzipien ausdrücklich einen Got26
Wie es etwa in der Präambel zur neuen Zürcher Kantonsverfassung heißt.
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Möglicherweise vorausblickend bereits H. Heine, Deutschland. Ein \ Vintermärchen, 1844: "Die Jungfrau Europa ist verlobt I Mit dem schönenGeniusseI Der Freiheit, sie liegen einander im Ann, I Sie schwelgen im ersten Kusse. I Und fehlt der Pfaffensegen dabei, Die Ehe wird gültig nicht minder - I Es tebe Bräutigam und Braut, I Und ihre zukünftigen Kinder!" 28 Auf eine wörtliche Wiedergabe wird verzichtet. Siehe aber zum Thema Gottesklausel in der Bundesre publik Deutschland umfassend (insbesondere mit dem wichtigen Verhältnis
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tesbezug auf. Teilweise wird der Gottesbezug nur indirekt deutlich, etwa wenn auf eine bestimmte Konfession (Finn land: evangelisch-lutherische Kirche, Malta: römisch-katholisch-apostolische Kirche) hingewiesen wird, die Bekräftigung eines Amtseides durch eine re ligiöse Beteuerung (Niederlande, Österreich) erfolgt bzw. erfolgen kann oder durch die Nennung von Heiligen, die e inen Staat maßgebend mitgeprägt haben (Slowakische Republik: Heilige Slawenapostel Cyrillus und Methodius). Die Verfassungen der Beitrittskandidaten bzw. zuletzt beigetretenen Staaten zur Europäischen Union enthalten teilweise nur konkludent einen Gottesbezug, durch die Möglichkeit der Anrufung Gottes bei Ableistung des Amtseides (Rumänien). Die Türkei weist in der Präambel ihrer Verfassung auf das Prinzip des Laizis mus (strikte Trennung von Staat und Religion) hin und beinhaltet folglich keinen Gottesbezug. 29
a) Der Gottesbezug in den Verfassullgen der Mirgliedstaateil der Europliischen Union in der "Koordinierten Verfassung Belgie ns""' findet sich ke in Gottesbezug. Auch der Eid, den der König bei der Thronbesteigung ablegt, enthält keine religiöse Beteuerung (Art. 80 Abs. 2). - Die Verfassung der Republik Bulgarien" kennt keinen Gottesbezug. In Art. 13 (Religions freiheit) wird in Abs. 3 lediglich erwähnt, dass die traditionelle Re ligion in Bulgarien das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis ist.
zwischen Präambel und Art. I Abs JGG) P. Häberle, Verfassungslehre als KuJturwissenschaft, 2.AuH. 1998, S.95 1 ff., ders., "Gott" im Verfassungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.213ff.} mit der dort zitierten Kommentarliteratur. Vgl. auch E. L Behrendr, Gott im Grundgesetz, 1980; D. 8/umemvirz, Gott im Grundgesetz, in: E. L Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christentum, Bd. I, 19&2, S. I 27 ff. 29 Bemerkenswert ist im Kontext des Gottesbezuges auch das Beispiel der Schweiz. Als man dort Mitte der neunziger Jahre eine Revision der Bundesverfassung in Angriff nahm. gab ein Punkt besonders zu reden: sollte in der Präambel der Name Gottes angerufen werden? Obwohl die Fronten nicht ganz eindeutig verliefen, hat sich schließlich das Althergebrachte durchgesetzt. Mit der Berufung auf den .)Namen Gottes des Allmächtigen" und die "Verantwortung gegenüber der Schöpfung" bekennt sich die Verfassung zu einer Schweiz, die sich ihres religiösen Fundaments bewusst ist und sich als Teil jener Schöpfung versteht, wie sie die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung geht, implizit zumindest, davon aus, dass es sich noch immer um den christlichen Gott handelt, obwohl die ethnisch-religiösen Verhältnisse des Landes längst in eine andere Richtung weisen. 30 Verfassung vom 17. Februar 1994, zuletzt geändert am 17. Dezember2002. 31 Vom 12. Juli 199 1.
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- Die Verfassung des Königreichs Dänemark 32 enthält in Kapitel VII, das die "Verfassung der Volkskirche" durch Gesetz festlegt (§ 66), in § 67) den folgenden Wortlaut: " Die Bürger haben das Recht, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen, um Gott
auf diese \Veise zu dienen, die ihrer Überzeugung entspricht; es darf jedoch nichts
gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche Ordnung verstößt."
§ 68 bestimmt, dass niemand verpflichtet ist, persönlich Beiträge zu einer anderen als der von ihm selbst befolgten Art der Gottesverehrung zu leisten. Im Folgenden (§§ 69, 70) wird festgelegt, dass die Verhältnisse der von der Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften näher durch Gesetz geregelt werden. Ferner: niemand kann u. a. wegen seines Glaubens von bürgerlichen oder politischen Rechten ausgeschlossen werden oder s ich der Erflillung der allgemeinen Bürgerpflichten entziehen." - Der Verfassung Estlands" ist, wie allen Verfassungen der Länder des Baltikums, ein Gottesbezug unbekannt. - Finnlands Grundgesetz" weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Das 6. Kapitel (§ 76) des Grundgesetzes weist jedoch auf die Organisation und Verwaltung der evangelisch-lutherischen Kirche hin, die gesetzlich näher festgelegt s ind. - Die Verfassung der Republik Frankreich 36 kennt als "klassisches" Beispiel eines laizistischen Staates keinerlei Gottesbezug. - Die Verfassung der Republik Griechenland" wird mit folgenden Worten eingeleitet: " Im Name n der Heiligen Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit [ . . . ]"
Der II. Abschnitt der Verfassung, der die Beziehungen zwischen Staat und Kirche näher regelt, bestimmt in Artikel 3 Abs. I: "Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthcxloxen Kirche Christi. Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die orthodoxe Kirche Griechenlands in ihrem Dog ma mit der Großen Kirche in Konstantinopel und jeder anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden und bewahrt wie jene unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den Konzilen aufgestellten Kanones sowie die Heiligen Überlieferungen. Sie ist autokephal 32
Verfassung vom 5. Juni 1953. Ähnlich die Regelung in Kap. VIII § 7 1 Abs. I der Verfassung: 34 Vom28. Juli 1992: 35 Beschlossen am II. Juni 1999, in Kraft getreten am I I. März2000. 36 Vom 4. Oktober 1958, zuletzt geändert am 24. September2000. 37 Beschlossen von dem 5. Verfassungs..1.ndernden Parlament am 9 Juni J975 und in Kraft getreten am I I. Juni 1975, zuletzt geändert am 16. April200 I. 33
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und wird geleitet von der Heiligen Synode der sich im Amte befindlichen Bischöfe und der aus deren Mitte hervorgehenden Dauernden Heiligen Synode, die sich nach den Bestimmungen der Grundordnung der Kirche zusammensetzt unter Beachtung der Vorschriften [ . .. ]"
Art. 13 der Verfassung Griechenlands enthält den Grundsatz der Religionsfreiheit und das Verbot des Proselytismus (= Abwerbung eines orthodoxen Gläubigen flir eine andere Konfession). Art. 105 führt ins Einzelne gehende Bestimmungen über den Heiligen Berg Athos auf. - Bedeutsam im Rahmen der Aufgabenste llung ist die Präambel der Verfassung der Republik Irland. 38 Sie hat folgenden Wortlaut: ,,Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und a uf die, a ls unserem letzten Ziel 1 alle Handlungen SO\vohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unseren Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat [ .. .]"
Art. 3 1 Abs. 4 der Verfassung bestimmt, dass jedes Mitglied des Staatsrates bei dessen erster Sitzung, an der es teilnimmt, folgende Erklärung abgibt und sie unterzeichnet: " In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche underkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich meine Pflichten als Mitglied des Staatsrates treu und gewissenhaft e rfLillen werde."»
Art. 34 Abs. 5 Nr. I und 2 bestimmt, dass jeder nach der Verfassung ernannte Richter folgende Erklärung münd lich und schriftlich in Gegenwatt des Präsidenten und der Richter der obersten Gerichte abzugeben hat: " In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche underkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich das Amt des obersten Richters (oder welches Amt es sein mag) gegenüber jedermann ordnungsgemäß und treu, nach bestem Wissen und Können. ohne Furcht oder Begünstigung, Zuneigung oder Böswilligkeit ausüben will und dass ich die Verfassung und d ie Gesetze einhalten will. Gott möge mich fUhren und mir bestehen."
Auch hier sieht die Verfassung eine "neutrale" Erklärung nicht vor. Art. 40 Abs. 6 Nr. I lit. a) Satz 3 bestimmt, dass u. a. Veröffentlichungen oder Äußerungen gotteslästerlichen Inhalts Vergehen sind, die nach dem Gesetz bestraft werden.
"' Vom I. Juli 1937, zuletzt ge.'indert am 7. November2002. 39 Das deutsche GG sieht eine "neutrale'' Erklärung ohne die Anrufung Gottes vor, vgl. etwa Art. 56 Satz 2 GG.
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Art. 44 der Verfassung behandelt eingehend die Re ligion. Zitiert sei Abs. I: "Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehmng gebührt. Er erweist seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion." Die Verfassu ng Irlands schließt letztlich mit den Worten : ,,Zur Ehre Gottes und zum Ruhme Irlands." - Die Verfassung der Republik Italien•• enthält keinen Gottesbezug. - Die Verfassung Lettlands' ' enthält, wiedie Verfassungen seiner Nachbarstaaten, keinen Gottesbezug. - Die Verfassu ng der Republik Litauen" kennt, wie angedeutet, keinen Gottesbezug. A llerdings ist in Art. 43 e ingehend die Re ligionsfreiheit geregelt und das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat fest geschrieben. - Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg" enthält ebenfalls kei nen Gottesbezug; das gilt auch für den Eid des Großherzogs bei der T hronbesteigung (Art. 5), der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (Art. 57) und der Zivilbeamten (Art. II 0). - Die Verfassung der Republik Malta" enthält keinen ausdrücklichen Gottesbezug, betontjedoch in Kapitell Abschnitt 2 Absatz I, dass die Religion auf Malta die römisch-katholisch-apostolische ist. deren Bischöfe hätten des Recht und die Pflicht zu verkünden, welche Grundsätze der Glaubenslehre entsprechen und welche dan1it unvereinbar s ind (Abs. 2). Römisch-katholisch-apostolischer Religionsunte rricht ist an den Schulen verbind liches Fach (Abs. 3). A llerdings s ieht der Amtseid flir den Präs ide nten, den Premierminister, den Minister und andere hohe Amtsträger e ine Eidesformel vor, die fakultativ e ine religiöse Bekräftigung (.,So help me God") e nthalten kann. - Kein Gottesbezug findet s ich in der Verfassung des Königreichs der Niederlande". Lediglich in den Zusatzartikeln der Verfassung, hier: Art. 44, ist der Eid festgelegt, den der Regent abzulegen hat und der mit den Worten schließt: .,So wahr mir Gott, der Allmächtige helfe! ". Erlaubt ist auch die Formel : "Das gelobe ich !". Dasselbe gilt ftir den Eid des Königs auf die Verfassung (Art. 53) und das Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern (Art. 54). - Das Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich' • kennt keinen Gottesbezug. Lediglich Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 Abs. I Satz I lassen eine religiöse 40
Vom 17. Dezember 1947, zuletzt geändert am 30. Mai 2003. " Vom 7. August 1992, zuletzt geände rt a m 30. April 2002. " Vom 25. Oktober 1992. '-' Vom 17. Oktober 1868, zuletzt ge.'indert am 19. Dezember2003. 44 Vom 13. Dezember 1974. " Vom 17. April 1983, zuletzt geändertam 10 . Juli 1995. 46 Vom 10. November 1920, in der Fassung vom 7 . Dezember 1929, zuletzt geändert am 28. Juni 2002.
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Beteuerung für das Gelöbnis des Bundespräsidenten, des Bundes kanzlers und der Mitglieder der Bundesregierung zu. Die Verfassung der Republik Polen" hat einen Kompromiss gefunden, indem in der Präambel alternativ entweder auf Gott oder andere Instanzen bzw. universale Werte Bezug genommen wird. Das gleiche wie für die Verfassung Polens gilt für die Verfassung der Republik Portugal••: Sie enthält keinen Gottesbezug. Auch in der Verfassung der Republik Rumänien49 findet sich kein Gottesbezug. Allerdings hat der zum Präsidenten gewählte Kandidat in gemeinsamer Sitzung von Abgeordnetenkammer und Senat sei nen Amtseid abzugeben, der mit den Worten endet: .,So wahr mir Gott helfe!". Ein Absehen von dieser religiösen Beteuerung sieht die Verfassung (Art. 82 Abs. 2) nicht vor. Dasselbe gilt für den Amtseid des Premierministers, der Ministe r und der anderen Mitglieder der Regierung (Art. I03 Abs. I i. V. m. Art. 82 Abs 2). Der Text der Verfassung des Königreichs Schweden'" weist ebenfalls ke inen Gottesbezug auf. Die Staatskirche wurde durch das verfassungsändernde Gesetz Nr. 1998:1700 abgeschafft. Die Verfassung der Slowakischen Republik" erwähnt zwar in der Präambel u. a. das "geistige Erbe der Hei ligen Cyrillus und Methodius", der Slawenapostel, s ieht aber im Übrigen von einem Gottesbezug ab. Die Verfassung der S lowenischen Republi k' 2 enthält keinen Gottesbezug. Auch in der Verfassung des Königreichs Spanien" findet sich kein Gottesbezug. Ein Gottesbezug findet sich ebenfalls nicht in der Verfassung der Tschechischen Republik" . Ebenso ist in der provisorischen Verfassung der Republik Ungarn" kein Gottesbezug enthalten. Das Vereinigte Königreich (Großbritannien) besitzt als einziges EU-Mitglied keine Verfassungsurkunde. Dieser Umstand hat dazu geführt, nilschlicherweise anzunehmen, Großbritannien habe keine geschriebene Verfassung. A llerdings ist die britische Verfassung nur tei lweise schriftlich fixiert; die Verfassungstexte s ind nicht in einem e inzelnen Dokument niedergelegt, s ie sind im Laufe der 47 48 49
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Vom 2. April l997. Vom 2. April l976, zuletzt geändert am 12. Dezember 2001. Vom 21. November 199 1. Vom !.Januar 1975, zuletzt geändert am 27. März2002. Vom I. Septembe r 1992, zuletzt ergänzt vom I I. April 2002. Vom 23. Dezember 1991. Vom 29. Dezember 1978, zuletzt geändert am 27. August 1992. Vom 16. Dezember 1992, zuletzt geändert und in Kraft getre ten am I. MärL 2004. Vom 20. August 1949, in der Fassung vom 24. August 1990.
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Jahrhunderte vielmehr gewachsen. So enthält etwa die Magna Charta Libertatum (121 5) mehrfach ausdrückliche Bezugnahmen auf Gott (etwa Einleitung und Nr. 1). - Die Republi k Zypern enthält in ihrer Verfassung"' keinen Gottesbezug. Sie macht allerdings z. B. in Art. 2 Abs. I und 3, Unterabsatz 4, umfangreiche Ausführungen zu den beiden religiösen Gruppen ("religious groups"): griechischorthodoxe und türkisch-mosiemische Bürger.
b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrirrskandida.ren ;:ur Europäischen Un.ion51 - ln der Verfassung der Republik Kroatien" findet s ich keine Bezugnahme auf Gott. - Die Republi k Türkei hat s ich in der Präambel seiner Verfassung 59 nach französischem Vorbild dem laizistischen Prinzip verschrieben. Dementsprechend findet s ich in der Verfassung kein Bezug zu Gott.
c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschiemd Abgesehen von den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg sowie des Landes und Schleswig-Holstein beziehen s ich a lle Verfassungen der sog. "alte n" Bundesländer auf Gott. ln der Vetfassung des Saarlandes findet s ich ein direkter Gonesbezug in den Erziehungszielen flir die Jugend. Von den Landesverfassungen der flinf "neuen" Länder, die sämtlich über eine Präambel vetfügen, beinhalten ausdrücklich nur Sachsen-Anhalt und Thüringen eine Bezugnahme auf Gott, nämlich indem sie den Mitgliedern der Staatsregierung die Anru fung Gottes ermöglichen. - ln einen "Vorspruch" enthält die Verfassung des Landes Baden-Württemberg60 einen Gottesbezug. Der "Vorspruch" hat folgenden Wortlaut:•• " Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem \Villen
beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern [ .. . ]" '6 51
Vom 16. August 1960. Hier beschränkt sich die Darstellung auf solche, die \venigstens Beitrittsverhandlun-
gen fUhren.
,. Vom 21. Dezember 1990, zuletzt geändert am 23. April200 I. ' 9 Vom 13. September 1982, zuletzt geändert am 27. Dezember2002. 60 Vom II. Nove mber 1953 (GBI. S. 173}, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Mai 2000 (GBI. S. 449). 01 Dazu im einzelnen W Wei11ho/d , Gott in der Verfassung- Studie zum Gottesbezug in Präambeltexten der deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderver-
fassungen seit 1949,2001 , S.40ff.
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ln Art. I Abs. I, Halbsatz 2 beruft sich die Vetiassung auf die "Eti üllung des christlichen Sittengesetzes", Art. 3 Abs. I Satz3 bestimmt, hinsichtlich der Feiertage sei die christliche Überlieferung zu wahren. ln Abschnitt II widmet die Art. 3 bis 10 der Religion und den Religionsgemeinschaften. ln Art. 12 Abs. I ist als Erziehungsziel u. a. angegeben, die Jugend "in der Ehrfurcht vor Gott, im Geist der christl ichen Nächstenliebe ( ... ]"zu erziehen. Im Amtseid (Art. 48 Satz 2) ist die religiöse Beteuerung "So wahr mir Gott helfe" vorgesehen ; sie kann allerdings entfallen (Art. 48 Satz 3). - Die Verfassung des Freistaates Bayern•2 fUhrt ohne nähere Kennzeichnung (z. B. Präambelu.ä.) zu Beginn aus: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen [ .. . ] geführt hat [ . .. ]"."
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Nach Art. 13 1 Abs. 2 BV gehört zu den obersten Bildungszielen u. a. die Ehrfurcht vor Gott. Die Verfassungen der Länder Berlin64 und Brandenburg65 kennen keinen Gottesbezug. Auch die Stadtstaaten und Hansestädte Bre men und Hamburg.. enthalten in ihren Verfassungen keinen Gottesbezug. ln der Verfassung des Landes Hessen67 findet sich ebenfalls kein Gottesbezug. •• Art. 56 Abs. 4 legt allerdings als e ines der Erziehungsziele den selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit u. a. durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, also einen fundamentalen christlichen Wert, fest. Ebensowenig kennt die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern•• einen Gottesbezug. 70
•2
Vom 8. Februar 1946 (GVBI. S. 333), in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 (GVBI. S. 991 ). 63 Vgl. lv. \Veinlro/d (2001), S.42ff. "' Vom 23. November 1995 (GVBI. S. 779), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. April 1998 (GVBI. S. 82). 65 Vom 20. August 1992 (GVBI. S. 298), zuletzt geände rt d urch Gesetz vom 7. April 1999 (GVBI. S. 98). b6 Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 2 1. Oktober 1947 (GBI. S. 25 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom II. Februar2000 (GBI. S. 3 1); Hamburg: Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 (GV BI. S. 117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 1996 (GVBI. S. 133). 67 Vom I. Dezember 1946 (GV BI. S. 229), zuletzt e rgänzt durch Gesetz vom 20. März 199 1(GVBI. S. 102) . .. Vgl. lv. \Veinlro/d (2001 ), S. 57 f. .. Vom 23. Mai 1993 (GVBI. S. 272), zuletzt geändert d urch Gesetz vom 4. April2000 (GVBI. S. 158). 70 Vgl. lv. \Veinlro/d (2001 ), S. 94 ff.
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- Die Niedersächsische Verfassung" enthält in der Präambel folgenden Wortlaut: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben [ .. . ]"n
Art. 31 Satz l führt den Wortlaut des Amtseides flir die Mitglieder der Landesregierung an, der keine religiöse Beteuerung vorsieht, allerdings in Satz 2 diese Möglichkeit ("So wahr mir Gott helfe") fakultativ vorsieht. - ln ihrer Präambel führt die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen" aus: "In Verantwortung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erflillt von dem Willen, die Not der Gegenwart in gemeinschaftlicher Arbeit zu überw inden, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit. Gerechtigkeit und \Vohlstand für alle z.u schaffen, haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-WestfaJen diese Verfassung gegeben: [ .. . )" 74
Art. 7 Abs. l gibt aller Erziehungsziel u. a. "Ehrfurcht vor Gott" an. Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung (Art. 53 Satz I) kann mit der religiösen Beteuerung "So wahr mir Gott helfe" geleistet werden (Satz 2). - Die Verfassung von Rheinland-Pfalz" beginnt in ihrem "Vorspruch" mit den Worten: "Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und aller menschlichen Gemeinschaft, ( . .. ]'"' '
Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung s ieht d ie üblich religiöse Bekräftigung vor (Art. I00 Abs. I), allerdings ist die Benutzung der Eidesformel frei gestellt (Art. I00 Abs. 2 i. V. m. Artikel 81 Abs. 3 Satz 2). - ln der Verfassung des Saarlandesn findet sich e ine Bezugnahme auf Gott nicht zu Beginn (die Verfassung enthält keine Präambel), sondern in Art. 30. Danach ist die Jugend u. a. in der Ehrfurcht vor Gott und im Geist der christlichen Nächstenliebe zu erziehen. Für die Ablegung des Amtseides der Mitglieder der Landesregierung ist die übl iche religiöse Beteuerung vorgesehen, auf die jedoch verzichtet werden kann.
71 Vom I9. Mai I 993 (GVBJ. S. I 07), zuletz t ge.'indert durch Gesetz vom 2 I. November I997 (GVBJ. S. 480). 72 Vgl. lv. \Vein!ro/d (2001 ), S. 58, 63 ff. 73 Vom 28. Juni 1950 (GV-NW S. 127), zuletzt ge.'indert durch Gesetz vom 24. November I992 (GV-NW S. 448). " Vgl. lv. \Vein!ro/d (2001), S. 49ff. 75 Vom 18. Mai I 947 (VOBJ. S. 209), zuletzt ge.'indert d urch Gesetz vom 8. März 2000 (GVBl. S. 65). 76 Dazu ausführlich W \Vein!ro/d (200 I), S. 44 ff. n Vom I 5. Dezember I 947 (ABI. S. 1077), z uletzt ge.'indert durch Gesetz vom 25. August 1999 (ABI. S. I3 I 8).
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- Die Verfassung des Freistaates Sachsen" s ieht flir die Mitglieder der Staatsregierung vor, den Eid mit der bekannten religiösen Beteuerung zu bekräftigen. Ein ausdrücklicher Gottesbezug findet sich in der Verfassung nicht, allerdings bestimmt Art. 101 Abs. I als Erziehungsziel der Jugend u. a. die Erziehung zur "Nächstenliebe", einem tragenden Wert der christlichen G laubenslehre. - In der Präambel der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt79 finden sich fo lgende Sätze: "ln freier Selbstbestimmung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung. Dies geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verantwortu ng vor den Menschen [ .. . ]""
Art. 66 Abs. 2 der Verfassung s ieht vor, dem Amtseid der Mitglieder der Landesregierung die re ligiöse Bekräftigung "So wahr mir Gott helfe" hinzuzufligen . Der Amtseid kann auch ohne diese Bekräftigung geleistet werden. - Die Verfassung Schleswig-Holsteins81 wiederum weist keinen Gottesbezug auf. - Hingegen weist die Ve1fassung des Freistaates Thüringen in ihrer Präambel einen direkten Gottesbezug auf"': "In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums .. . gibt sich das Vo lk des Freistaates Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung ( .. . ] ~'.
111. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion Ein Blick in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika offenbart, dass darin der Begriff "Gott" unmittelbar nicht enthalten ist. " Mittelbar lässt s ich dieser Bezug jedoch in Verbindung mit dem I. Amendment der Ve1fassung "' Vom 27. Mai 1992 (GVBI. S. 243). 79 Vom 16. Juli 1992(GVBI. 5.600). 80 Vgl. lv. \Veinlro/d (2001), S. 87 ff. 81 Vom 13.Juni 1990 (GVOBI. S. 393). ge.'indert durch Gesetz vom 27. Se ptember 1998 (GVOBI. S . 280). 32 Vgl. zu den Gottesklauseln in der Verfassung von Thüringen auch P. Häberle, Die Sc hlussphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: JöR 43 ( 1995), S. 355 ff. SJ Vgl. auch eine im Auftragedes Velf entwickelte Ausa.rbeitung derWissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 2004. Wegen eines Gerichtsverfahrens in Alabama kam es in den vergangeneo Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer (erneut) hitzigen Kontroverse über den Einfluss Gottes und der Religion auf staatliches Handeln. R. M oore, ein Richter des obersten Gerichtshofs des Staates Alabama, wurde von der ACLU (America.n Civil Liberties Union) verklagt, nachdem er im Justizgebäude Montgomerys (Aiabama) ein in Granit gehauenes Monument der Zehn Gebote aufstellen ließ. Das II. Bezirks-Berufungsgericht der Vereinigten Staaten in Alabama entschied nach anony-
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herleiten. Hierin ist zum einen das Verbot enthalten, e in Gesetz zu erlassen, das e ine Religion (als Staatsreligion) einrichtet, auf der anderen Seite untersagt die Regelung, die freie Religionsausübung zu beeinträchtigen. Im Verlauf der Ve1fass ungsgeschichte der USA wurde das I. Amendment, dessen zwei Bestandteile in ihrem gegenseitigen Verhältnis bis lang nicht zufrieden stellend geklärt werden konnte, über einen längeren Zeitraum hinaus als striktes Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Entscheidend zu dieser Auslegung hat die Rechtsprechung des Supreme Court beigetragen . Seit geraumer Zeit deutet sich allerdings e in Wandel an, der von strikter Trennung zu "wohlwollender" Neutralität tendiert. Insgesamt ist aber festzustellen, dass die Rechtsprechung uneinhe itlich und schwankend ist. Diese ftir einen deutschen Beobachter paradoxe Erscheinung ist insofern überraschend, als in den USA im Vergleich zur Bundesrepubli k Deutschland re ligiöse Anschauungen im politischen Bereich überall gegenwärtig s ind." Hingewiesen sei an dieser Ste lle nur auf die Aufschrift auf Münzen und Geldscheinen: "In God we trust" einerseits (wohl die kraftvo llste Alternative, da der "Alltagsgottesbezug" jegliche Nichtnennung in Texten zu überstrahlen weiß), andererseits ist die amerikanische Flagge in fast jeder Kirche auffallend sichtbar aufgestellt85 , die Militärseelsorge ist eingerichtet, die Be nutzung der He iligen Schrift bei Eides leistungen ist weithin üblich. ' 6 In zahlreichen weiteren Berei chen erscheinen Anspielungen auf Gott: So enthält beispielsweise der "Pledge of Allegiance" die Worte "one nation under God". Dies könnte zumindest darauf hindeuten, dass die "wall of separation" nicht ansatzweise so hoch ist, wie T. Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, mit der z itierten Formulierung offenbar angenommen hat. Aber: Obgleich s ich in der Verfassung der Vereinigten Staaten also keine direkte Erwähnung Gottes, e ines Schöpfers oder einer höheren Macht findet, so eröffnet die "Dec laration of Jndependence" ( 1776) als erneut im besten Sinne grundlegende Rechtsquelle den Bezug zu einem Schöpfer ("Creator"): mer Abs-timmung, dass das M onument entfernt werden müsse (diese Entscheidung wurde i. Ü. nicht vom US-Repräsentantenhaus unterstützt. Dieses stimmte bei einer Abstimmung mit 260 zu J6 1 Stimmen gegen eine Budgetierung jeglicher Zwangsmaßnahmen im Zusammenhang mit den Zehn Geboten). E~n e von Richter M oore beim US-Supreme Court gegen diese EnlSCheidung eingelegte Berufung wurde nicht zur Entscheidung angenommen. ln e inem Verfahren in dem es um die Worte "one nation under God" in de r Pledge o f
Allegiance gehl, wurde jedoch die Zulässigkeil de r Klage bejaht. 84 Vgl. nur die instruktive Darste llung von K. Ege. Staatstränke fUr die durstige Chris lenheil -die Regierung, die Gläubigen und die Toleranz, in: Freitag 15 vom 6. April 200 I. 85 Vgl. E. Ge/dbac!r, Religion und Politik: Religious Libe rty, in: K.M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über den EinHuss der Religion, 1988, S, 230 ff., 240. 86 Dazu auch A. von Campenhausen, Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: J. Lisii/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staalskirchenrechls der Bundesrepublik Deulschland, Bd I, 2. grundlegend neu bearbeilete Auflage, 1994, S. 65 f.
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"\Ve hold these truths to be self-evident, that all men are c reated equal , that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness. [\V]henever any Fonn of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abo lis h it."
I. Die Frage nach einem "Gottesbezug" in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika
Zurück zum benannten I. Amendment vom 15. Dezember 1791, in dessen ersten Halbsatz die Re ligion angesprochen ist: "Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof."87 Die genannte Verfassungsbestimmung besteht aus zwei deutlich sich voneinander abhebenden Bestandteilen, der "establishment clause" e inerseits und der "free exercise clause" andererseits, deren gegenseitiges Verhä ltnis unklar und umstritten ist; beide Bestandteile des Zusatzartike ls sind auch in ihrer Interpretation seit langem heftig in Rechtsprechung und Literatur umkämpft. Der erste Halbsatz wurde über einen längeren Zeitraum als striktes Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Maßgeblich hat dazu die Rechts prechung des Supreme Court, beigetragen. In den letzte n Jahren ist allerdings eine behutsame Änderung der Rechtsprechung zu beobachten, die nicht mehr von einer strengen Trennung ausgeht. Maßgebend dazu beigetragen haben die vielfältigen traditionsreichen Verschränkungen christlicher Re ligionsgemeinschaften und Kirchen mit staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen. a) Entsrelumg rmd Entwicklung der " Establislrmelll Clause"
Um die Entstehung und Entwicklung der "establishment clause" richtig zu erfassen, darf nicht unbeachtet bleiben, dass diese in ihrer Entstehungszeit ( 1789/ 91) kei n Bild rechtlicher und ta tsächlicher Realitäten wiedergab, vie lmehr war s ie e in Durchbruch zu mehr staatlicher Toleranz in Glaubens fragen, wie s ie s ich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hatte. Das Grundrecht auf freie Religionsausübung bestand bereits in den Verfassungen aller Neuenglandstaaten, allerdings gab es in keiner Verfassung der 13 ursprünglichen Einzelstaaten eine Norm, die die Trennung von Staat und Kirche beinhaltet hätte.•• Am Vorabend der amerikanischen Revolution gegen das englische Mutterland bestanden in den meisten Kolonien "establishments of religion" in verschiedener 37
Zur Entw icklung und den Hintergründen des I. Amendments zur US-Verfassung s iehe aus de r deutschsprachigen Lit. E. Vollmth, Die Trennung von S taatund Kirche im Verfassungsverständnis der USA, in: K. M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA- Über den EinHuss des Religiösen, 1988, S. 2 16 ff., 2 17 ff. 88 Vgl. E. l'ollmth (1988), S. 2 16 f.
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Gestalt. In den südlichen Kolonien etwa war die Anglikanische Kirche Staatskirche.,, sie war im Wortsinne "established". Die vier nördlichen Kolonien kannten keine Form des "establishments", die übrigen Kolonien etablierten die christliche Religion oder den Protestantismus im Allgemeinen. Die Revolutionsära veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche freilich grundlegend. Der Begriff des Establishments war zunehmend mit der anglikanischen Kirche in Zusammenhang gebracht worden und wurde als Ausdruck engl ischer Unterdrückung e mpfunden. Nachdem 1773 im Quebec Acr die bestehenden Rechte des katholischen Klerus bestä tigt worden waren, wuchs die Abneigung gegen ein "establ ishment" weiter an. Die Entwicklung in den einzelnen Staaten hin zu e iner Trennung zwischen Staat und Kirche vollzog sich unterschiedlich und zeigt ein uneinheitl iches, zuweilen verwirrendes Bi ld."" Auf einhellige Ablehnung stieß eine Staatskirche anglikanischer Prägung. Ebenso war auf Dauer die Erhebung von Abgaben zu Gunstender verschiedenen Kirchen selbst auf paritätischer Grundlage nicht beizubehalten. Ferner ist ke in einheitlicher Sprachgebrauch und kein übereinstimmendes Verständnis davon festzustellen, was "establishment" letztlich besagen will. Es kann s ich auch kein Anhaltspunkt aus der zunächst vorgesehenen Formulierung des Verbots einer "national religion" wie auch aus de m unbestimmten Artikel "an" (sc. establishment of religion) für das Gebot der Errichtung einer einzigen Staatskirche gewinnen lassen. Immerhin lässt sich das "establishment"als eine klare Trennung der Sphären Staat und Kirche deuten, wenn auch nicht im Sinn einer derart strikten Trennung, wie s ie der oberste Gerichtshof judizierte." Die Verflechtungen von Staat und Kirche (z. B. durch staatliche Kirchenfinanz ierung in e inigen Einzelstaaten) blieben sogar noch nach lokrafttreten der "Bill of Rights" bestehen, da diese als Adressaten die Bundesebene, nicht die Einzelstaaten hatten. Richtete s ich, wie oben erwähnt, das I. Amendment zunächst gegen den Zentralstaat, änderte s ich die Rechtslage mit dem 14. Amendment von 1863. Dieses Amendment inkorporierte nach überwiegender Auffassung und der Rechtsprechung des obersten Gerichts zur "due process c lause" Mitte des 20. Jahrhundert die meisten Regelungen der " Bill of Rights", darunter auch die "establishment clause". Die Freiheitsgarantie der "due process clause" ste llt nicht nur eine subjektiv- rechtliche umfassende rechtstaatliche Garantie verfahrensrechtlicher, sondern auch mate riellrechtlicher Prägung dar. Mit der "due process clause" erreichten die Freiheitsrechte der ersten zehn Amendments, darunter die subjektiv•• Vgt. E. l'ollmth ( 1988), S. 220. 90 Vgl. umfassend W. Heun, Die Trennung von Kirc he und Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: K-H. Kästner/ K. W. Nörr/K. Schiaich (Hrsg.), Festschrift für Martin Hecke), 1999 S. 341 ff., 343 ff. 91 Dazu II' Herm ( 1999), S. 347r.; E. Vo/Jrarh ( 1988), S . 216 f.
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rechtliche Religionsfreiheit des erwähnten Amendments, die Gliedstaaten der USA. Als Ausprägung der "due process clause" werden alle jene Te ile der "Bill of Rights" verstanden und auf die Gliedstaaten mit Hilfe dieser Klausel übergeleitet, denen nach der Rechtsprechung des Supreme Courts eine grundlegende Bedeutung für das der Bundesverfassung unterliegende Freiheitskonzept der "ordered liberty" zukommt. 92
b) Inhalt und Reichweile der " Esrablishmenr C/ause" nach der Rec/usprec/umg des Supre111e Court aa) Die Vertreter e iner Trennung und einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts der USA ist dadurch gekennzeichnet, dass s ie sich zwischen zwei gegenläufigen Pos itionen zur Aus legung der Establishment- Klausel bewegt. Einerseits ist der so genannte "Tre nnungsansatz" ("separation") hervorzuheben. Dieser verbietet eine Unterstützung von Religionsgemeinschaften in jedweder Form, unabhängig davon, ob alle Gruppen gleichermaßen begünstigt oder nur bestimmte Glaubensrichtungen bevorzugt werden. Nach dieser "Trennungsrechtsprechung" ist Religion eine auf den privaten Bereich beschränkte Erscheinung, die öffentliche oder gar staatliche Angelegenheiten nicht oder zumindest so wenig wie möglich beeinflussen sollte. Diese Rechtsprechung lässt s ich dahin gehend zusammenfassen, dass die genannte Klausel "eine Trennungswand zwischen Kirche und Staat" darstellt. Auf der anderen Se ite sind die Vertreter der Einstellung zu nennen, die eine Zusammenarbeit ("accomodation") zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so lange und insoweit fiir zulässig erachten, als der Staat nicht eine bestimmte Religionsgemei nschaft gegenüber anderen bevorzugt (sog. "accomodationists" bzw. "nonpreferentialists"). Letztgenannte Richtung hat in den 80er Jahren des
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Vgl. G. Krings, Von strikterTrennung zu wohlwollender Neutralität - Staat und Kirche in den Vereinig ten Staaten und die gewandelte Auslegung der religious clauses der USVerfassung, in: Zeitschrift fUr evangelisches Kirchenrecht 2000, S. 505 ff., 509 ff. mit Fn. 22. Gegen die E~nbeziehung der Einzelstaaten in die "establishment clause" ist eingewandt worden, diese stelle kein Freiheitsrecht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verbot des "establishment" unzweifelhaft mit dem Freiheitsrecht derReligionsfreiheit zusammenhängt, das sich gegen jede Einwirkung des Staates auf religiöse Freiheit richtet. Daneben war das Verbot auch von einer eher säkular geprägten Auffassung beeinflusst, der das Individuum und auch den Staat vor religiösen Einflüssen schützen \VOIJte; letztlich sieht diese Auffassung sowohl den Staat durch eine Beeinflussung seitens der Kirche als auch diese durch eine Einflussnahme des Staates g leichermaßen als gefährdet an, vgl. TM. Gmmon, Die katholische n Bischöfe in der amerikanischen Politik der 80er Jahre, in: K. M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über den Einfluss des Religiösen, 1988, S. 155 ff., 167 ff.
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C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
vergangenen Jahrhunderts Unterstützung von Verfassungshistorikern erhalten, die zweierlei Aspekte herausgearbeitet haben •': - Die Verfassungsväter der USA haben in der Establishment-Klausel nur die Gründung einer Staatskirche und die Begünstigung von Bewerbern bestimmter Konfessionen bei der Besetzung öffentlicher Ämter verbieten wollen. - Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, die Establishment-Klausel habe nur untersagen wollen, die zur Zeit der Ve1fassunggebung bestehenden staatskirchenrechtlichen Gegebenheiten der Gliedstaaten zu beeinträchtigen. bb) Zusammenfassender Überblick über die Rechtsprechung des Supreme Court Nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 1947 (sogenannte Everso11- Elllsd1eidung)94 beinhaltet die mehrfach erwähnte EstablishmentKlausel die strikte Trennung von Staat und Religions- bzw. Glaubensgemeinschaften und Kirchen, zum anderen untersagt sie zugleich aber auch eine Religionsfeindlichkeit des Staates. Die Spannung zwischen dem Recht auf freie Religionsausübung und dem Verbot der Errichtung einer Staatskirche versucht das Gericht durch das verbindende Element der "wohlwollenden Neutralität" zu überbrücken. Teilweise enthält die Rechtsprechung Elemente, die stärker den Trennungsgedanken, dann wieder solche, die mehr die Offenheit gegenüber der Religion betonen. Eine - alle Fälle befriedigende - Lösung ist bis heute nicht gefunden worden, vielmehr werden die bestehenden rechtlichen Probleme an Hand des jeweils zu entscheidenden Einzelfalls gelöst. Prüfungsmaßstab der Establishment-Klausel durch den Supreme Court ist der bekannte, aber zugleich auch problematische ,,Lemon - Test" 95 • Dieser enthält drei Elemente und verlangt: 96 - Mit staatlichem Handeln darf nur ein säkularer Zweck verfolgt werden (subjektives oder finales Kriterium), - das Staatshandeln darf primär weder in der Förderung noch in der Beeinträchtigung der Religion bestehen (objektives, ergebnisoffenes Kriterium), - aus einem Tätigwerden des Staates darf sich keine übern1äßige Verflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften ergeben (objektives, handlungsbezogenes Kriterium). Festzustellen ist, dass auch der "Lemon-Test" zu keiner klaren, eindeutigen Rechtsprechung geführt hat. Besonders einschneidend wirkt sich die Interpretation der Establishment-Klausel im Bereich der öffentlichen Erziehung aus. Ausführlich G. Krings (2000), S. 5 I I f. m. w. N. .. Everso11 v. Baard oJEducarioll ( 1947)U.S. Re ports Bd. 330, S. I. •s Dazu insbesondere G. Kri11gs (2000), S. 5 I 5 ff., 523 ff. 96 Lemo11 ''· Kunvumm (1971) U.S. Reports Bd. 403, S. 602. •3
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Jede Fom1 der Hinnahme religiöser Ausdrucksformeln (Schulgebet97, Lesen der Heiligen Schrift98 etc.) wie auch staatlicher Unterstützung wird als unverei nbar mit der genannten Klausel angesehen. Ferner wurden vom Supreme Court e in Moment der Stille zum individuellen Beten.,, das Anbringen des Dekalogs in Klassenzimmern als Verletzung der genannten Klausel angesehen. Dasselbe Verbot gilt etwa flir die gesetzliche Unterbindung der Evolutionslehre Darwins 100 e inerseits, andererseits ist der Unterricht in (stre ng) biblischer Abstammungslehre verboten. Ebenso hat das Gericht bestimmte Freizeite n im Rahmen der regulären Unterrichtszeit zur Ermöglichung des Rel igionsunterrichts als Verletzung der Klausel angesehen. O ffenbar ist diese missverständ liche Rechtsprechung darauf zurückzuführen, dass Kinder im besonderen Maß für religiöse Eintlösse e mpfanglieh sind und diese Einftussnahme verhindert werden soll. Die staatliche Ermöglichung religiöser Ausdrucksformeln haben staatliche Stellen dagegen - letztlich aus his torischen Gründen- nicht beanstandet. Dasselbe g ilt z. B. flir das Gebet vor der Eröffnung von Parlamentssitzungen in den Einzelstaaten 101 , die Ausstellung von Krippen als Teil e iner öffentlich städtischen Weihnachtsdarstellung 101• Dagegen wurde das Zeigen religiöser Symbole in Gerichtsgebäuden verboten. 103 Einen weiteren großen Bereich der erwähnten Klausel stellen die öffentlichen Subventionen für private re ligiöse Aktivitäten dar, aber auch hier ist keine e indeutige Linie in der Rechts prechung zu erkennen. So ist z. B. (rel igiöser) Ergänzungsunterricht außerhalb des Schulgeländes erlaubt '"', aber innerhalb des Geländes verboten 10' . 1997 ist der Supreme Court jedoch von dieser Rechtsprechung in e inem Einzelfall abgewichen. '"" Ferner: Der Staat darf einer konfessionell geflihrten Privatschule die Kosten flir die Durchführung staatlicher Prüfungen erstatten, sofern die Prüfungsaufgaben nicht von Lehrern der Privatschule stammen. Nicht beanstandet hat das oberste Bundesgericht auch die Fö rderung von Schulen und Aktivitäten in Form von Steuerabzügen und Steuerbefreiungen. Ke ine klare Rechtsprechung zur Esta blishment-Klausel ist auch im Bereich ö ffe ntlicher Subventionen flir private religiöse Aktivitäten zu erkennen. Immerhin ist festzustellen, dass s ich das Gericht in vie len seinen Entscheidungen, so auch den beispielhaft Engel v. Virale ( 1962) U.S. Reports Bd. 370, S. 42 1. Abhington Sc/wo/ Disrricr v. Schempp ( 1963) U.S. Reports Bd. 374, S. 203 . ., \Val/ace v. Jaffree ( 1985) U.S. Reports Bd . 472, S. 28. 100 Epperson1•. Arkansas ( 1968) U.S. Reports Bd . 393, S. 97. tot Marsh v. Cambers (1983) U.S. Reports Bd. 463, S. 783. 102 Lynch v. Donelly ( 1984) U. S. Re ports Bd . 465, S. 668, sowie County of Allegheny 97 98
v. American Ciliv Liberties Union Greater Pittsburgh Chapter (1989) U.S. Re ports Bd. 492, S. 573. 103 Vgl. a uch IV Heun (1999), 350 ff. sowie G. Krings (2000), S. 5 15 ff. 104 Zorach v. C/auson (1952) U.S. Reports Bd. 343, S. 306. 10' McCollum v. Board of Eductuion (I 948) U. S. Re ports Bd. 333, S. 203. 10 • Employmem Dii•ision••. Srnirh (1990) U.S. Reports Bd. 494, S. 872.
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C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
angeflihrten, vom Trennungsprinzip leiten lässt, wonach "die Regierung ganz vom Bereich der rel igiösen Unterweisung ausgeschlossen ist und Kirchen von staatlichen Angelegenheiten." Der "Lemon-Test", der dieses Ziel erreichen soll, wird in widersprüchlicher Weise angewendet. Vor allem s ind es die oben erwähnte zweite und dritte Stufe, die offensichtlich einander so entgegengesetzt s ind, dass sie kaum zugleich verwirklicht werden können. ln seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Supreme Court demzufolge auch Aspekte, die im "Lemon-Test" nicht vorkommen, das Ergebnis aber e ntsprechend entscheidend beeinftussen. 107 Neben den flir eine strikte Trennung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft maßgebenden Gründen, der Gefahr politischer Zerreißproben, der religiösen Indoktrination durch den Staat sowie der Gefahr der Verwicklung des Staates in religiöse Angelegenheiten oder einer Identifizierung des Staates mit e iner bestimmten G laubensrichtung, die gerade vermieden werden soll, sind es vor allen Gesichtspunkte der Neutralität gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen, individuelle Gleichbehandlung sowie die Bedeutung des Allgemeinwohls, von der sich das oberste Bundesgericht und die Gerichte der Gliedstaaten, wie immer wieder betont wird, in ihrer Rechtsprechung leiten lassen ; in der Rechtsprechung wird dies allerdings nicht oder nur unzureichend deutlich. Hinzu kommt das Dilemma, dass dem Staat auf Grund der Religionsfreiheit Einschränkungen der freien Religionsausübung untersagt sind. Der Prüfungsmaßstab der Religionsausübungsklausel war bis 1990 dreistufig aufgebaut, wurde jedoch entscheidend von ei ne r Abwägung zwischen den mit der Regelung verfolgten staatlichen Zwecken und dem Indi vidualinteresse an freier Re ligionsausübung beeinftusst. In seiner neuesten Rechtsprechung - etwa ab 1990 - hat der Supreme Court allerdings die Abwägung und das Erfordernis e ines überwiegenden staatlichen Interesses fallen gelassen und akzeptiert nun eine Einschränkung der Religionsausübung, sofern s ie auf einem "gültigen und neutralem Gesetz von allgemeiner Anwendbarkeit" beruht. Vorschläge für eine Lösung der Spannung zwischen der Establishment-Klausel und der freien Re ligionsausübung waren in der Vergangenheit nicht in Übereinstimmung zu bringen; daran hat sich auch in der Gegenwart nichts Wesentliches geändert. Überwiegend tendieren derartige Vorschläge dahin, je nach der Fallgestaltung entweder zu einem Vorrang der Trennungskonzeption (im Sinn des "Lemon-Tests") oder zum Vorrang der Religionsfreiheit zu gelangen. Allerdings ist nicht festzustellen, dass die Rechtsprechung bisher eindeutig einer der beiden Alternativen zune igt. Keine allgemeine Zustimmung haben auch die bisherigen Versuche gefunden, die e rwähnten Widersprüche des "Lemon-Tests" aufzulösen. Allerdings haben sich die Schwerpunkte der Rechtsprechung durch die Besetzung vakanter Richtersteilen am Supreme Court mit konservativen Juristen unter 10 7
Zur Kritik am "Lemon-Test" ausfUhrlieh G. Krings (2000).
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den Präsidenten Reagan und Bush "senior" wie ,j unior" insoweit verschoben, als jetzt der Trennungsgedanke weniger stark betont, auf der anderen Seite aber die Religionsfreiheit stärker e ingeschränkt wird. Die grundlegenden Schwierigkeiten werden damit allerdings auch nicht zufriedenstellend gelöst, zumindest so lange nicht, wie das mehrfach erwähnte Spannungsverhältnis zwischen strikter Trennung von Staat und Glaubensgemeinschaften einerseits und der Religionsfreiheit andererseits anerkannt wird. 108
2. Gottesbezug in den bundesstaatliehen Verfassungen Bemerkenswerterweise nimmt jede Verfassung der einzelnen OS-amerikanischen Bundesstaaten, im Gegensatz zur Verfassung der USA, ausdrücklich Bezug auf Gott. ln den meisten bundesstaatliehen Verfassungen findet s ich ein Gottesbezug bereits in der Präambel. Neben A labama (Verfassung von 1901) 109 gilt dies für A laska (1956) 110, Arizona ( 191 1) 11 1, Arkansas (1 874) 112, California (1879) 1", Colorado (1876) 114 und Connecticut ( 18 18)'"· Ebenso flir Delaware (1897) 11 •, Florida ( 1885) 117 , Georgia ( 1777) 118, Hawaii (I 959) 119, !daho ( !889) 120 , Il!inois ( I 870) 121 und !ndiana ( 1851 ) 122 •
10 ' 10•
In der Wertung ähnlich \II Heun (I 999), S. 355 ff. "We the people ofthe State of Alabama, invoking the favor and guidance of Almighty God, do ordain and establish the following Constitution [ .. . ]". 110
"\Ve, the people of Alaska, grateful to God and to those who founded our nation
and pioneered this great land [ .. . ]". 111 "We, the people of the State of Arizona, grateful to Almighty God for our liberties, do ordain this Constitution 1. .. 112
r·.
"We, the people of the State o f Arkansas, grateful to Almighty God for the privilege
of c hoosing our own form of government [ .. . ]"'.
'" "We, the People of the State o f Californ ia, grateful to Almighty God for our freedom
[ ... ]". 114
"\Ve, the people of Colorado, with profound reverence for the Supreme Ruler o f
Universe [ .. . ]". 115
"The People of Connecticut, acknowledging with grntitude the good Provide nce o f
God in permitting them to enjoy [ .. . ]". 11 & "Through D ivine Goodness all men have, by nature, the rights of worshipping and sen •ing their Creator according to the dictates of their consciences ( . .. ]"'.
117 "We, the people of the State of Florida, gratefulto Almighty God for our constitutionalliberty establish this Constitution ] . .. ]". 1 " "We, the people of Georgia, relying upon protection and guidance o f Almighty God,
do ordain and establish this Constitution [ ... )". 119 "\Ve, the people of Hawaii, Grateful for Divine Guidance tution . ~·
f... ] establish this Consti-
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C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
Eine "invocatio Dei" beinhalten zudem die Präambeln der Staaten lowa ( 1857) 123 , Kansas (1859)"', Kentucky (1891) 125, Louisiana (192 1) 126, Maine (1820) 127, Maryland ( 1776) 128 und Massachusetts (1780) 129 • Auch in Michigan ( 1908)"0 , Minneseta ( 1857) 131 , Mississippi ( 1890) 132, Missouri (1845) 133 , Montana (1889) 1" und Nebraska (1 875) 135 weisen jeweils die Präambeln Gottesbezüge auf. Parallelen zeigen sich in den Präambeln der Verfassungen von Nevada ( 1864)" 6, New Jersey ( 1844) 137, New Mexico ( 1911)"', New York (1846)" 9, North Carolina
120 "We, the people of the State of Jdaho, g rateful to Almighty God for our freedom, to secure its blessings [ .. . ]". 121 "We, the people o f the State of lllino is, g rateful to Almighty God for the civil, politica1 and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy and looking to
Hirn for a blessing on our endeavours.'" 121
"We, the People o f the State of Jndiana, grateful to Ahnighty God for the free
exercise of the right to chose our form of government." 123 "\ Ve, the People o f the State of lowa, grateful to the Supreme Being for lhe blessings hitherto enjoyed, and feeling our dependence on Hirnfora continuation of these blessings establish this Constitution." 124 "\ Ve, the people of Kansas, grateful to Almighty God for our c ivil and religious privileges establish this Constitution." 12' "We, the people of the Commonwealth of g rateful to Ahnighty God for the civil, political and religious liberties [ .. . ]". 12• "We, the people o f the State of Louisiana, g rateful to Almighty God for the civil, political and religious liberties \Ve enjoy." 127 "We the People o f Maine [ .. . ] acknowledging with grateful hearts the goodness o f the Sovereign Ruler of the Universe in affording us an opportunity [ .. . ] and imploring His aid and direction." 12 ' "We, the people of the state of Maryland, grnteful to Almighty God for our civil and religious liberty [ .. . )". 12 • "We [ . .. ] the people o f Massachusetts, acknowledging with grateful hearts, the goodness of the Great Legislator of the Universe [ .. . 1in the course of His Providence, an opportunity and devoutJy imploring His direction 1. .. 130 "We, the people of the State of Michigan, g rateful to Almighty God for the blessings of freedom [ .. . ] establish this Constitution." 131 "\Ve, the people of the State of Minnesota, grateful to God for our civil and religious liberty1 and desiring to perpetuate its blessings [ . .. ]'". 131 "\Ve, the people of Mississippi in convention assembled, g rateful to Almighty God, and invoking His blessing on our work." 133 "\Ve, the people o f Missouri, with profound reverence for the Supreme Ruler of the Universe, and grateful for His goodness ( . .. 1establish this Constitution [ .. . ]"'. 1" "We, the people of Montana, grnteful to Ahnighty God for the blessings of libe rty establish this Constitution [ . .. ]". "' "We, the people, grnteful to Almighty God for our freedom, establish this Constitution."
r·.
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(I 868) 140 , North Dakota (I 889) 141 , Ohio ( 1852) '" und Oklahoma (1907) 143 , das die "invocatio" allerdings nicht mit der Einle itungsformel "we, the people" verbindet. Schließlich erscheinen Gottesbezüge in den Präambeln der Staaten Pennsylvania (1 776) 1", Rhode ls land ( 1842) '", South Carolina (1 778) 14•, South Dakota ( 1889)'", Texas ( 1845) 1", Utah ( 1896) 149 , Washington ( 1889) 150 , Wisconsin ( 1848)"' und Wyoming ( 1890) "'. Inhaltlich wie sprachlich bemerkenswert sind die Präambeltexte von Vermont ( 1777)"' und West Virginia (1872) '" · 13•
"We the people of the Stale of Nevada, grateful to Almighty God for our freedom establish this Constitution [ . .. ]". 137 "We, the people of the State of New Jersey, gratefu l to Ahnighty God for civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for a blessing on our endeavors ( .. . )". " ' "We, the People o f New Mexico, grateful to Almighty God for the blessings o f libe rty [ .. . ]". 13 • "We, the people of the Stale of New York, g ratefulto Almighty God fo r our freedom, in order to secure its blessings [ .. . 1"". 140 "We the people of the Stale o f North Carolina, grateful to Almighty God, the Sovereign Ruler of Nations, for our civil, political, and religious liberties, and acknowledging our dependence upon Him for the continuance of those ( .. . )". 1" "We, the people of North Dakota, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, do ordain ( .. . )". ' " "We the people of the state of Ohio, gratefulto Almighty God for our freedom, to secure its blessings and to promote our common ( .. . )". 143 "lnvoking the guidance of Ahnighty Gcxl, in order to secure and perpetuate the blessings of liberty [ .. . ] establish this r...]". 1"' "We, the people of Pennsylvania, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, and humbly invoking His g uidance [ . .. j'". 1" "We the People o f the Stale of Rhode lsland g rateful to Almighty God for the civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for a blessing [ .. . )". ••• "We, the people of the State o f South Carolina, g rateful to God for our liberties, do ordain and establish this Constitution." 147 "\Ve, the people of South Dakota, g rateful to Almighty God for our civil and religious liberties ( . .. 1establish this Constitu tion . ~· ••• "We the People o f the Re public of Texas, acknowledging. with gratitude, the g race and beneficence of God [ .. . ]". 149 .,Grateful to Almighty God for life and liberty, \Ve establish this Constitution.'" 150 "We the People of the State of Washington grateful to the Supre me Ruler o f the Universe for our liberties) do ordain this Constitution 1. .. 151 "\Ve, the people o f Wisconsin, grateful to Almighty God for our freedom, domestic tranquility [ .. . ]". ISl "We, the people of the State o f Wyoming, g rateful to God fo r our civil, political, and religious liberties ( . .. 1establish this Constitution ( .. . )".
r·.
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C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA
Lediglich in vier Staaten ist der Gottesbezug nicht im Text einer Präambel enthalten. In Oregon (1857) 1" und Virginia (1776) 156 ist die jeweilige "B ill of Rights" zu bemühen. ln New Hampshire (1792) 157 und Tennessee (1796) 158 findet sich der Gottesbezug "eingebettet" in die Verfassungsarti keL
IV. Das US-Modell ein Vorbild für Europa? Kann das US-amerikanische Modell des "wall of separation" zwischen Staat und Re ligionsgemeinschaften Vorbild für Europa sein?'"' Die Vielzahl der Religionen und Weltanschauungen ist ein Integrationsproblem auch in Europa. Das mag auch flir Europa zunächst nahe legen, strikte Trennung zu suchen. Aber die Doktrin der "wall of separation" lässt sich nicht durchhalten, das zeigt gerade auch die heterogene Rechtslage in den Vereinigten Staaten. Vielfältig ist die Mauer durchbrachen. Wo s ie hält, drängt sich bisweilen der Verdacht der Diskriminierung des Religiösen auf, wenn etwa weltlich geführte Privatschulen staatlich gefördert werden, religiös geflihrte aber nicht. Dasamerikanische Modell lebt zudem von einer sozialen Intensität der Religion, die sich in Europa kaum (noch) findet. Manchmal wird dennoch das amerikanische Religionsrecht als Modell für Europa e mpfohlen. Amerika steht für strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und für strikte Gleichheit aller Religionsgemeinschaften auf einem "Marktplatz der Religionen". Keiner Religionsgemeinschaft darf der Staat, selbstverständlich auch nicht in Europa, den Z ugang zu angemessener Religionsausübung versperren. Die Auseinandersetzung der kommenden Jahre wird die re ligionsrechtliche Gleichheit zu einem Hauptgegenstand haben. Diese Auseinandersetzung kommt wesentlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Religionsrechtliche Gleichheit verlangt aber nach mehr als bloß dem freien Marktplatz der Religionen. 153 "\Vhereas all government ought to [ .. . ) enable the individuals who compose it to enjoy their natural rights, and other blessings which the Author of Existence has bestowed
on man [ . . . j". 154
"Since through Divine Providence we enjoy the blessings of civil, political and
religious liberty, we, the people of \Vest Virginia. reaffirm our fuith in and constant reliance upon God [ .. . )". '" Bill of Rights, Article I, Section 2: ,,All men shall be secure in the Natural right, to \Vorship Almighty God according to the dictates of their consciences.<' 15• Bill of Rights, XV I: ,.[ . . . ] Religion, or the Duty which we owe our Creator [ ... ) can be directed only by Reason, and that it is the mutual duty of all to practioe Christi an Forbearance, Love and Charity towards each other [ . . . ]". 157 Part I, Art. I, Sec. V: ,.Every individual has a natural and unaJienable right to worship God according to the dictates of his own conscience." " ' Art. XI. III: ,.That all men have a natural and indefeasible right to worship Almighty God according to the dictates of their conscience 1.. . ]". 159 Zu dieser Frage ausführlich G. Robbers, Europäische Verfassung und ReJigion, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente, Sonderheft 1/2003, S. 66 ff., 67 r.
Nachwort Gemeinsam bilden Europa und die USA die weltweit bedeutendste Einflusssphäre von Demokratie, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Dennoch sind USA und Europa vornehmlich Mächte des Status quo, denen in erster Linie an der Bewahrung ihrer e igenen Werte gelegen ist. Obgleich beide e in s ich in hoher Rasanz wandelndes Verständnis globaler Zusammenhänge federfUhre nd mitbestimmen, steht einer Verwirklichung gemei nsamer Hoffnungen ein - trotzaller gemeinsamen Wurzeln - durchaus unterschiedlicher Konservatismus e ntgegen, der s ich aus den eigenverantwortlich materialistischen GJUndprägungen beider Gesellschaften nährt. Das Spannungsfeld Konservatismus und Moderne auch im transatlantischen Verhältnis anzuflihren ist schon deswegen nicht reizlos als auch die Koppelung beider Ausrichtungen zunehmend deutlich wi rd. Auch im weiten Feld des in der Praxis e rprobten Verfassungsverständnisses. Todesstrafe, genmanipulie rte Lebensmittel, aber auch die Notwendigkeit militärischer Interventionen lassen (bei allen benevolenten Hegemonialstrukturen) eine wachsende gegenseitige Einflussnahme und in vielen Teilbereichen Abhängigkeit erkennen. Ein Mischverhältnis aus Emanzipierung und Fügung. Freilich bleiben die latente Amerikanisierung und deren fundamentale Ablehnung als dynamische Gegenpole erhalten. Kulturelllassen sich jedoch auch Tendenzen der Entfremdung ausmachen. Je mehr sich Europa und die Vereinigten Staaten gesellschaftlich, politisch, letztlich in der Verfassungswirklichkeit gleichen, desto lauter werden die Stimmen der Ablehnung e ines Assimilierungsprozesses. Die Europäer, insbesondere die Einzelstaatensträuben sich gegen eine Strömung, die sie als fremden Eingriff fremder Ideen in ihre traditionelle Identität betrachten. Illustrativ steht hierfür Frankreich, das durch gesellschaftspolitische Einzelmaßnahmen Druck ausübt, um die so verstandene kulturelle Einzigartigkeit des Landes zu bewahren. In Deutschland wird die neue Distanz auf e ine r anderen Ebene sichtbar. Das Selbstbewusstsein, auf internationaler Ebene ohne die betonte Fessel der Vergangenheit als Streitschlichte r Profi l zu gewinnen- etwa im nahen Osten (ein Einfluss über den Frankreich beispielsweise nicht mehr verfUgt) - , zeugt von e inem ausgeprägten Wi llen zur Emanzipation. Beide- die Vereinigten Staaten und Europa- eint die Idee eines neuen, gewaltlosen und positiv e inzuschätzenden "Verfassungsimperialismus" : die Grenzen des Friedens, der Stabilität und der Demokratie nach Osteuropa und die restliche Weit wenigstens in der Respektien mg auszuweiten, ist eine Anforderung, die Europa
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Nachwort
und die USA langfristig nur gemeinsam meistem können. Die ähnliche Interessenlage dies- und jenseits des Atlantiks kollidiert mit der Unterschiedlichkeil der Gefühlslage. Beides ist Grundlage e iner Kultur. "Dass Verfassung sich überall bilde. wie sehr ist's zu wünschen ! Aber ihr Schwätzer verhelft uns zu Verfassungen nicht" (J.Iv. v. Goethel F. Schiller, Xenien)'
1 Vgl. E. Tnm z (Hrsg.), "Der Patriot": "Dass usw.": Xenien, Goethes Werke, Bd. I, Hamburger Ausgabe, 1998, S. 216.
Zusammenfassung A. Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten s ich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und e in Rückblick darf s ich demzufolge keineswegs auf die Debatte der letzten Jahre beschränken.
Bezeichnenderweise schien zunächst nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuwei len ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen. Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung flir Europa befassten Gremiums a ls "Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesve1fassung betrauten "Konvent von Phi ladelphia". Auch das nun vorliegende Ergebnis der Konventsberatungen, das landläufig a ls "EUVerfassung" bezeichnet wird, scheint (vordergründig) inhaltliche Paralle len zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen. Zahlreichen Ve1fassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikanische Verfassung als Vorbild. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der pluralistischen Beeinflussung der gemeineuropäischen Verfassungsbemühungen fast geboten. Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr aud1 eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung aud1 e ine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zurückblicken, die andere fertigte sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen ihren eigenen Typus ohne dabei j üngste und originäre Entwicklungen außer Acht zu Jassen. B. Zielsetzung und Schwerpunkt der Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung der konstitutionellen Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union. Unter Zugrundelegung des Begriffspaares "Verfassungserweckung" und "Verfassungsbestätigung" werden zunächst Eckpunkte und Grundlagen der jeweiligen Verfassungsgeschichte dargelegt und das US-amerikanische wie das "europäische" Verfassungsverständnis beleuchtet. I. Die Erörterung der amerikanischen Verfassungsgeschichte beginnt mit ei nem Hinweis auf Erscheinungsformen des europäischen kulturellen Einflusses,
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Zusammenfassung
um u. a. über die "Fundmental Orders of Connecticut", den partiellen Emanzipationsschritt der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die "Articles of Confederation" zum Verfassungskonvent, der Ratifizie rungsdiskussion und der Debatte zwischen Federalists und Antifederalists zu gelangen. Die Schilderung e iniger Axiome amerikanischen Verfassungsverständnisses korrespondiert mit e iner Strukturierung der weiteren Verfassungsgeschichte der USA, in deren Verlauf sich das gesamte Ausmaß ,,konstitutioneller Selbstfindung" und ,,kultureller Selbstverwirklichung" widerspiegelt. II. Die umHingliche Darlegung der europäischen Verfassungsentwicklung reicht von der Gründung der Paneuropa-Bewegung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zur (andauernden) Ratifikationskrise im Zuge des seit Ende 2003 vorliegenden Europäischen Verfassungsvertrages. Neben e iner chronologischen Aufstellung und inhaltlichen Beurteilung einer Vielzahl von Verfassungsentwürfen wi rd zum e inen den Ansätzen aus der Mitte des Europäischen Parlaments ( 1984 und 1994) sowie dem ersten "Konvent" zur Grundrechtecharta breiterer Raum gegeben. Die juristische Betrachtung wi rd durch die Leitbilder und "europäischen Ideale" in der politischen Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende ergänzt, um letztlich auch das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und j üngster politischer Diskussion näher zu begründen. Bevor sich abschließend der Arbeitsweise und den Ergebnissen des Europäischen Verfassungskonvents angenommen wird, versucht die Arbeit in einem denknotwendigem Zwischenschritt die vielfach gestellten und beantworteten Fragen nach der Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge sowie nach e inem "europäischen Verfassungsverständnis und -begriff' zusammenfassend zu erläutern und durch einige Überlegungen anzureichern. 111. Aus den frühen europäischen Wurzeln amerikanischen Rechtsdenkens sowie aus der Betrachtung des Einflusses der amerikanischen Verfassung und des dortigen Verfassungsverständnisses auf heutige europäische Rechtskultur(en) lässt sich im Ergebnis das Erwachsen eines "transatlantischen Verfassungsfundamentes" konstatieren. IV. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft im Besonderen durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien. Drei Themen komplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse unterzogen werden. Die Arbeit unterscheidet zwischen "gebundener" und "kreativer" Verfassunggebung, wobei unter der ersten Alternative die kodifizierten Wege zur Verfassungsergänzung und -änderung zu verstehen s ind. Während aus US-amerikanischer Perspektive die Verfassungs-,,Amendments" als "Abbilder e iner Verfassungsergänzung" und "Spiegelung ameri kanischer Kulturgeschichte" eine tiefgehende Untersuchung erfahren, werden mit Blick auf die Europäische Union unterschiedliche
Zusammenfassung
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gemeinschaftsrechtliche Elemente und Ve1fahrensmodelle zur Vertrags- bzw. Verfassungs(vertrags)änderung aufgezeichnet. Die Begrifftichkeil "kreative Verfassunggebung" zielt auf die verschiedenarti gen Optionen der Verfassungsinterpretation ab. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts der Arbeit steht hierbei eine komparative Erörterung der Rolle der jeweiligen obersten Gerichte. Die "Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit" ist freilich in den VereinigtenStaaten anzusiedeln. Allerdings lässt sich in Anlehnung an die Geburtsstunde der Ve1fassungsgerichtsbarkeit auch von einem "europäischen Marbury vs. Madison" sprechen. Dem US-S upreme Court als "ständigen Verfassungskonvent" und "erheblichen Faktor von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels" wird der Europäische Gerichtshof als "Verfassungsgericht" und in sei ner (Verfassungs-)Rechtsprechung als "Spiegelbild einer offenen Gesellschaft" gegenübergestellt. Schließlich werden Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates und der europäischen Verfassungsgemeinschaft miteinander verglichen . Beispielhaft zu nennen s ind die Erörterung der Kompetenzverteilung zwischen Union und Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die jeweilige Ausgestaltung des Prinzips der Gewaltenteilung, die Begrifftichkeilen "Identität" und "Nation" sowie das Demokratieprinzip in der respektiven Vorstellung. V. Vergleichende Anmerkungen zu den jewei ligen Konventsverfahren und Konventsergebnissen (amerikanische Bundesve1fassung von 1789 und Europäischer Verfassungsvertrag von 2003/4) beschließen mit der Frage nach den Lehren für die Europäische Union resümierend die umfassende Analysezweier Verfassunggebungsprozesse. C. Hohe emotionale Wogen während des europäischen Ve1fassungskonvents schlug die Debatte um die Formulierung eines Gottesbezugs. Neben einer näheren Untersuchung der Diskussion um die "invocatio Dei" im Verfassungsvertrag wird auch hier ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich mit einer Darstellung der Gottesbezüge in den Verfassungen der jeweiligen Einze lstaaten aufbeiden Seiten des Atlantiks und (ergänzend) mit einer Betrachtung der Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion sowie etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen Bundesländer. Im Anhang finden sich Bewertungen und Positionen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents sowie zum Entwlllf des Ve1fassungsvertrages. Zudem werden die Amendment-Vorschläge zur amerikanischen Verfassung dokumentiert, die den Kongress passierten, jedoch nicht von den Staaten rati fiziert wurden.
Anhä nge Anhang 1 Gemeinsame Positionen von CDU und CSU zum Sta nd d er Bera tungen des EU-Verfassu ngs-Vertrages 20. Juni 2003 I. CDU und CSU begrüßen den Abschluss der Arbeiten des Konvents an den Teilen I und II de r geplanten EU-Verfassung. Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die \Veiterentwicklung der Europäischen Integration und fUr e ine bessere \Vahrne hmung der berechtigten Interessen von Bund, Ländern und Gemeinden. Er trägt in wichtigen Bereichen d ie Handschrift von CDU und CSU und ihrer Vertreter i m Konvent. H. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass im Rahmen des Konvents Fortschritte bei der Antwort auf die aktuelle Reformkrise der EU e r.tielt werden konnten: - Erstmals ist es gelungen, eine kJare Kompetenzordnung über d ie Zuständigkeiten der Europäischen Union mit einer Einteilung und Auflis-tung der Kompetenzka tegorien festzulegen. Außerdem muss die Europäische Union dort, wo sie zuständig ist, d ie Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten. Damit sind allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend. - Alle diese Festlegungen unterliegen einer Kontrolle durch die nationalen Parlamente - und über ein Klagerecht beider Kammern der nationalen Parlamente- durch den Europäischen Gerichtshof. - Alle Teile des Verfassungsvertrags haben d ie gleiche Rechtsqualität - Durch den Verfassungsvertrag wird d ie EU stärker als bisher als VIertegemeinschaft definiert. - Die verbindliche Aufnahme der Grundrechte-Charta stärkt d ie Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den e uropäischen Institutionen. - Die stärke re politische Anhindung der Kommission an das Europäische Parlament bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitsprache rechte des Europäischen Parlaments machen die EU demokratischer. - Die Einrichtung e ines öffentlich tagenden Legislativrates und die - durch die Bestimmung von Ko mpetenzkategorien - übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten verbessern d ie Transparenz Europas. - Mit der Reduzierung der Größe der Ko mmission, der Schaffung eines Außenministers und eines Präsidenten des Europäischen Rates und dem verstärkten Übergang zur Mehrheitsentsche idung wird d ie EU handlungsfdhiger. - Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse der EU wird das Subsidiaritätsprinzip gestärkt und seine Durchsetzung durch die Schaffung eines Frühwarnsystems und eines Klagerechts zugunsten der nationalen Parlam ente verbessert.
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- Bei wichtigen nationalen Politikfeldern (z. B. Bildung, Kultur) wird in der Verfassung ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert. - Die Verfassung achtet erstmals rechtsverbindlich d ie regionale und kommunale Selbstverwaltung sowie den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften. - Durch die Einfü hrung der doppelten Mehrheit (Mehrheit der Staaten, 60 % der Bevölkerung) werden die Bevölkerungsverhä ltnisse in der Europäischen Union besser berücksichtigt und d ie Entscheidungsfahigkeit des Rates verbessert. 111. Auf der anderen Seite ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf e uropäischer Ebene zurückzufUhren.
- Die allgemeinen und speziellen Koordinierungszuständigkeiten de r EU in der Wirtschafts- und Sozialpo litik sind in Teil I ungenau formuliert. Art. l-14 sollte präziser gefasst werden. Es muss verhindert \Verden, dass es zu e iner z.entraJen Steuerung der Wirtschaftpolitik kommt. Entscheidend ist jedoch, dass d ie einschlägigen Einzelermächtigungen in Teil IH maßgeblich sind, d ie praktisch unverändert dem derzeitigen EG-Vertrag entsprechen. - Bei den Eigenmitteln müssen nicht nur die finanz iellen Obergrenz.en, sondern auch das Verhältnis der Eigenmittelquellen zueinander (z. B. der Anteil der Mehrwertsteuer oder der BSP-Quelle an den Eigenmitteln) der Einstimmigkeit unterliegen, um die finanz.iellen Risiken ftir Deutschland zu begrenzen. - Beim Klagerecht der nationaJen Parlamente gehen wir davon aus, dass dieses Recht auch d ie Rüge von Verletzungen der Kompetenzordnung umfasst. - Es muss nötigenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern sichergestellt werden, dass sich das Recht der L.1nder, bei Betroffenheit ihrer Zuständigkeiten Deutschland im Ministerrat z.u vertreten, nicht nur auf den Legislativrat beschränkt. - Der Europäische Rat kann in Fällen, in denen der Verfassungsvertrag Einstimmigke it vorsieht, d urch einstimmigen Beschluss zur Mehrhe itsentscheidung übergehen, wobei d ie nationalen Parlamente davon lediglich unterrichtet werden. Nachdem spätere gemeinschaftsautonome Änderungen des Vertrags für die nationalen Parlamente bei ihrer Zustimmung voraussehbar sein müssen (BVerfG), ist innerstaatlich be i der Ratifizierung sicherzustellen, dass die Bundesregierung ihre Zustimmung von der vorherigen Zustimmung des Parlaments abhängig macht. IV. Zu de n Teilen 111 und IV des Verfassungsvertrags wird der Konvent seine Beratungen in den nächsten Wochen abschließen. CDU und CSU sind sich e inig, dass dabei folgende gemeinsame Positionen vertreten werden: - Die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für das Maß der Einwanderung und de n Zugang zum Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden.Nötigenfalls sind diese Bere iche in der Einstimmigkeit z.u belassen. - Die Binnenmarktklausel muss präzisiert und auf Maßnahmen beschränkt \\'erde n, welche primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes z.um Gegenstand haben. - Zur Erweiterung de r Spielräume der Mitgliedsstaaten zur GestaJtung einer e igenständ igen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahingehend geändert werden, dass. Beihilfen generell mit de m Binnenmarkt vereinbar sind , sO\veit sich die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse "spürbar" zuwider läuft.
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- ln den sozialpolitischen Bestimmungen muss klargestellt werden, dass die Zuständigke it der Mitgliedsstaaten für die Organisation, Finanzierung und Le istungen der sozialen Sicherungssysteme sowie ihre umfassende Zuständigkeit fUr d ie Sozialhilfe z u wahren ist. - In der Energiepolitik sollte es be i der bisherigen binnenmarktbezogenen Zuständigkeit bleiben. - Eine neue Zuständigkeit de r EU für die Bestimmung der Ausgestaltung von Le istungen der Daseinsvorsorge sollte nicht in den Vertrag aufgenommen werden. - Die Querschnittsbestimmung in Artikel IU--0 soll so präzisiert werden, dass e ine Umgehung der Regelung in Artikel l-3 Abs. 5 des Vertrages ausgeschlossen ist. Allgemein ist darauf zu achten, dass nicht a uch über d ie Bestimmung in lll-0 die offene Methode der Koordinierung veranke rt wird. - Bei Ändenmgen der Verfassung ist bei Kompetenzbegründungen und -änderungen am Prinzip der Einstimmigkeit und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten festzuha lte n. V. Nach Vorlage des Gesamtentwurfs werden CDU und CSU eine endgü ltige Bewertung vornehmen und das weite re Vorgehen in Bezug auf die Regierungskonferenz festlegen.
A nhang 2
Bewertung der CDU/ CSU-Fraktion vom 19. Juni 2004 "Vertrag über die EU-Verfassung" Ergebnisse der Regierungskonferenz \'OIIl 17./ 18. Juni 2004 Die StaaJs. und Regierungschefs der 25 A1itgliedstaaretl der Europäischen Union haben an diesem Wochenende den Emwwf eines Vertroges für eine europäische Vetfassrmg ~>embschieder. Als völkerrechtlicher Vertrag bedarf er der Ratifizierung durch alle 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union,. um in Kmft treten zu können. Dabe i bestimmt sich die Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen Verfassungen der e inzelnen Mitglied staaten. In Deutschland bedeutet dies, dass Bundestag und Bundesrat dem Vertrag über e ine e uropäische Verfassung mit einer jeweiligen 2/3-Mehrheit zustimmen müssen (Art. 23 Abs. I S. 3 iVm Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes). Die neue EU-Verfassung besteht im Kern aus einer Zusammenfassung des EU- und des EG-Vertrages sowie der Grundrechtecharta. Dabei ist es gelungen, in \ Veiterentwicklung der bisherigen Verträge erstmals e indeutige Kompetenzkategorien festzulegen. Allgemeine Zie lfonnulierungen sind a usdrücklich nicht kompetenzbegründend. Außerdem gilt in der EU das Prinz-ip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sie nur dann handeln darf, \Venn es daflir eine ausdrückl iche Ermächtigung im Verfassungsvertrag gibt. Die Verfassung ist in vier Teile gegliedert: Dererste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Europäischen Union. Dazu zählen u. a. die Ziele der EU, die Kompetenzkategorien, Vorschriften zur Ausübung der Kompetenzen sowie grundsätzliche Festlegungen zu den Organen und zu bestimmten Politikbereichen wie beispielsweise der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) sowie Innen und Justiz. Daran schließt sich der zweite Teil
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der Verfassung an, der die Grundrechtecharta beinhaltet. Diese war am 2. Oktober2000 vom Europäischen Rat in Nizza durch feierliche Erklärung angenommen \VOrden, wird jetzt durch Inkorporation in den Verfassungsvertrag verbindliches Recht. Der Teil drei ist de r eigentliche Kern der Verfassung, beschreibt e r doch sehr detailliert die einzelnen Politikbereiche, in denen die EU handeln darf (begrenzte Einz.elermächtigungen). Teil vier beinhaltet die Schlussbestimmungen. Eine Pr.iambel leitet die Verfassung ein, in der u. a. ein ausdrücklicher Venveis a uf das religiöse Erbe Europas a ufgefüh rt ist ("Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, .. . ~'),aus dem sich als universelle Werte die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, Demokratie1 Gleichheit. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben. Dies ist bereits e in großer Fortschritt gegenüber dem Status quo. da bislang e in solcher \ Vertebezug in den e uro~1.ischen Vertr.igen feh lt. \ Vir hätten uns aber e inen klaren Gottesbezug (invocatio dei) und e inen Verweis auf die prägende \Virkung des Christentums (christliches Erbe) gewünscht. Frankreich und Belgien haben dies mit Verweis auf ihre strikte Trennung von Staat und Kirche abgelehnt. Die Stimmeugewkluung im Rat war bis zuletzt de r umstrittenste Punkt in den Verhandlungen der Regierungskonferenz. Der Europäische Rat im Dezember letzte n Jahres scheite rte an d ieser Frage, da S panien und Polen dem im Konventsentwurf niedergelegten neuen Prinzip der doppe lten Mehrheit nicht folgen wollten. Sie sahen darin eine deutliche Verschlechterung ihres Stimmengewichts im Rat gegeniiber dem bestehenden Nizza-Vertrag, nach dem sie trotzerheblich geringerer Bevölkerungsz..1hl fast ebenso viele Stimmen haben wie die großen Mitgliedstaaten Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien. Kernpunkt der doppe lten Mehrheit ist, dass es für d ie Annahme e ines Kommissionsvorschlags e ine festgelegte Anzahl von Staaten geben muss, die e inen bestimmten Bevölkerungsa.n teil, bezogen auf d ie Gesamtbevölkerung der EU, e rreichen müssen. Der Konvent hatte vorgesehen, dass 50% der Staaten, d ie 60% der Bevölkerung der EU repräsentieren, einem Vorschlag zustimmen müssen. Die Regierungskonferenz hat sich dagegen a uf folgende Verteilung geeinigt- nicht zuletzt a uch, um Spanien und Polen entgegenzukommen und damit die Einigung auf die Verfassung möglich z u machen: 55% de r Mitgliedstaaten müssen ft.ir e inen Vorschlag stimmen, die zugleich 65% der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Zusätzlich muss die z ustimmende Mehrheit mindestens J 5 Mitgliedstaaten umfassen. ln einer EU mit 25 Mitgliedstaate n entspräche dies zwar e iner geforderten Mehrheit von 60% der Staate n. Allerdings wird d ie EU bis zum voraussichtliche n lokrafttrete n der Verfassung (2007) a uch d ie Lände r Bulgarien und Rumänien umfassen. Dann entsprächen d ie 15 für eine e rforderliche Mehrheit notwendigen L1.nder in etwa 55%. Darüber hinaus muss e ine blockierende Minderhe it aus mindestens vier Staaten bestehen, damit nicht die drei bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss aufhalten können. Bei Mehrheitsbeschlüssen ohne Vorschlagsrecht der Kommission (z. B. in der Justiz- und Innenpolitik oder in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) gelten höhere Schwellen für das Erreichen der qualifirierten Mehrhe it: hier m üssen 72% der Staaten mit zus..."lmmen 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. Das jetzt verabschiedete Abstimmungsverfahren soll am I. November 2009 in Kraft treten. Bis dahin gelten die Regeln des Vertrages von Nizz.a. Zur Frage der Größe der Kommission liegt folgende E inigung vor: Bis 2014 wird der Ko mmission jeweils ein Staatsangehöriger aus jedem Mitgliedstaat angehören. Ab 20 14 wird die Zahl de r Kommissare reduziert. Ihre Zahl soll 2/3 der Mitgliedstaaten
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entspreche n - e inschließlich Kommissionspräsident und Außenminister. Dabei wird e in System strikt gleichberechtigter Rotation angewandt. Als Entgegenkommen an kleinere EU-Staaten wird die Mindestzahl der Abgeordneten im Europäischen Parla ment (EP) a uf sechs erhöht. Gleichzeitig wird die Höchs tzahl an Abgeordneten pro Mitg liedstaat von 99 auf 96 Abgeordnete gesenkt. Deutschland (als e inziges Land, das diese Höchstzahl erreicht) muss damit drei Sitze abgeben. Die Zahl der EP-Abgeordneten s teigt von jetzt 732 auf 750. Im letzten Mome nt wurde in den e rsten Teil de r Verfassung doch noch die Preisstabilität in den Zielkatalog der EU aufgenommen, wie dies seit 1957 im EG-Vertrag im me r der Fall gewesen war. Leider hatte der Konvent gegen unseren \ Ville n diese Zielbestim mung fallen gelassen. Nun allerdings ist die Preisstabilität in Art. 3 (,,Ziele") ausdrücklich e rwähnt. Insbesondere auf Drängen Großbritanniens verbleiben wichtige Teile von e inzelnen Politikbereichen in der Einstimmigkeit. Dies gilt für die gesamte Bandbreite der Steuerpolitik sowie im Grundsatz auch für den Bereich Innen und Justiz. Hier wird die Möglichkeit e iner "Notbre mse'' eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen den Entwurf e ines mit qual ifizierte r Mehrheit anzunehmenden Rahmengesetzes hat. Das Recht festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige zum z,veck der Arbeitsaufnahme in einen Mitgliedstaat e inreisen dürfen, verbleibt in nationaler Zuständigkeit. Auch der Beschluss über die Eigenmittel der EU sowie die mehrjährige Finanzplanung bedürfen nach der neuen Verfassung der Einstimmigke it. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU durch die Schaffung des Amtes e ines .Außenministers. an Handlungsfähig keit und Effizienz gewinnen. Der Außenminister führt den Vorsitz im Rat flir Auswärtige Angelegenheiten, e ine Rotation im Vorsitz finde t also hier nicht statt. Dem Außenminister unters-teht e in Europäischer Auswärtiger Dienst, für dessen Einrichtung die Vorbereitungen bereits ab Unterzeichnung des Verfassungsvertrages beginnen werden. Der Außenminister der EU ist gleichzeitig e iner der Vizepräsidenten der Kommission. In der Verfassung findet sich erstmalig ein expliziter Verweis auf die NATO, der sicherstellt, dass die Zusammenarbeit in den Verteidigungsfragen d ie VerpHiehrungen im Rahmen der NATO nicht berührt und dass bei der Landesverteidigung die NATO Vorrang vor rein europä ischen Verteidigungsanstrengungen hat. Die NATO wird ausdrücklich als das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung flir die Staaten angesehen, die NATO-Mitglieder sind. Zum Stabilitätspakt: Die Kompetenzen der EU-Kommission gegenüber Mitgliedstaate n, die die 3%-Defizitgrenze überschreiten, werden entgegen dem Konventsentwurf auf den Status q uo z urückgeführt. So \Verden von der Kommission a ls notwendig erachte te Maßnahmen zur Defizitrückführung auch weiterhin nur als "Empfehlungen" qualifiziert mit der Folge, dass d iese einfacher zu ändern und zurückzuweisen sind als d ies bei e ine m - wie vom Konvent ursprünglich vorgeschlagenen - fonnellen Vorschlag der Ko mmission der Fall gewesen wäre. Begründet wird dies damit, dass die Wirtschaftspolitik a uch weiterhin in der nationalen Ko mpetenz verbleibe, so dass ein formelles Vorschlagsrecht der Kommission systemwidrig wäre. Die Staats- und Regierungschefs haben zudem e ine Erklärung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt angenommen, d ie der Verfassung beigefügt wird. Darin bekennen sie sich e rneut z.u den Bestimmungen des Paktes und z u dem Erfordernis
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einer soliden Haushaltspolitik. Sie bekräftigen das Ziel, in guten Zeiten schrittweise einen Haushaltsüberschuss zu erreichen, um in Zeiten des \Virtschaftsabschwungs über den notwendigen Spielraum zu verfUgen.
Schlussbewertung Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Verhandlungen von 25 Mitgliedstaaten unsere Vorstellungen über den Inha lt des Verfassungsvertrages nicht in Reinfonn durchzusetzen waren. Allerdings übertreffen die erz.ielten Fortschritte bei weite m die nicht befriedigend geregelten Fragen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es von großer Bedeutung, im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsverfahren die neuen Rechte des Bundestages bei der Subsidiaritätskontrolle zu klären>die innerstaatlichen Abläufe hierfür zu regeln und insgesamt die Beteiligung des Bundestages bei der europä ischen Gesetzgebung zu verbessern.
Anhang 3
Amendment-Vorschläge, die den Kongress passierten, jedoch nicht von den Staaten ratifiziert wnrden I) Artikel ) der 1789 vorgeschlagenen zwölf Amendment-Artikel, wovon Artikellll bis XII die he ute als "Bill of Rights" bekannte Grundrechterklärung bilden:
"Article the first After the first enumeration required by the first article of the Constitution, there shaJI be one Re presenta tive for every thirty thousand, until the number shaJI a mount to one hundred, after which the proportion shall be so regulated by Congress, that there shall be not less than one hundred Re presentatives, nor less than one Representative fo r every forty thousand person.s, until the nurober of Re presentatives shall amount to two hundred; after which the proportion shall be so regulated by Congress, that there shall not be less than two hundred Representa tives, nor more than one Representa tive for every fifty thousand persons." 2) ln der zweiten "Sitzung" des I I. Kongresses schlug der Kongress folgenden Amendment-Artikel vor, der nicht die e rforderliche Mehrheit der Einzelstaaten fand:
,.Resolved by the Senate and House ofRe presentatives ofthe United States of America in Congress assembled, two thirds ofbolh houses concurring, That the following section be submitted to the legislatures of the several states, which, when ratified by the legislatures of three fourths of the states, shall be valid and binding, as a part o f the constitution of the United States. If any citizen o f the United Sta tes shall accept, claim, receive or retain any title of nobility or honour, or shall, without the consent of Congress, accept and retain any pre.sent, pension, office or emolument of any kind whatever, from any e mperor, king, prince or foreign power, such person shall cea.se tobe a citizen of the United States, and shall be incapable of holding any office of trust or profitunder them, or e ither of them."
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3) Das fo lgende Amendment, dessen Bezugspunkt die Sklaverei bildete , wurde in der zweiten "session" des 36. Kongresses am 2. März 186 1 vorgeschlagen, nachdem es den Senat und vorher das Repräsentantenhaus (am 28. Februar 186 1) passiert hatte: .~Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled, That the following article be proposed to the L.egislatures of the several States as an amendment to the Cons-titution of the United S ta tes, which, when ratified by three-fourths of said Legislatures, shall be valid, to all intents and purposes, as pa.rt of the said Constitution, viz: Article Thirteen No amendment shall be made to the Constitution which will authorize or give to Congress the power to abolish or interfere, within any State, with the domestic institutions thereof, including that of persons held to Iabor or sen•ice by the laws of said State."
Interessanterweise handelt es sich hierbei um das e inzige "proposed"', aber nicht ratifizierte Amendment, das vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Diese Unterschrift wird aJierdings allgemein als unerheblich erachtet, nachdem die Verfassung bei e iner Zvleidrittelmehrheit im Kongress die Weitergabe an die Staaten zur Ratifizierung vorsieht. 4) In der ersten "Sitzung'' des 68. Kongresses wurde am 2. Juni 1926 e in AmendmentVorschlag eingebracht, der sich gegen Kinderarbeit richtete. Obgleich Senat und "House" (am 26. April 1926) mit der notwendigen Mehrheit durchlaufen wurden, ratifizierten lediglich 28 Staaten folgenden Entwurf: ,)oint Resolution Proposing an Amendment to the Constitution of the United States. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress a.ssembled (two-thirds of each House concurring therein), That the following article is propos.ed as an amendment to the Constitution of the United States, which, when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States, shall be valid to all intents and purposes a.s a part of the Cons-titution: Article-. Section I. The Congress shall have power to limit 1 regulate1 and prohibit the Iabor of persons under eighteen years of age. Section 2. The power of the several States is unimpaired by this article except that the operation of State laws s haJI be suspended to the extent necessary to g ive effect to legislation enacted by the Congress.'' 5) Ein Amendment, das d ie Gleichberechtigungsfragen zwischen Mann und Frau zum Inhalt hatte wurde in der zweiten "session'' des 92. Kongresses am 22. März 1972 vorgeschlagen. Trotz der erforderlichen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus (12 Oktober J97 1) und trotzeiner Verlängerung der siebenjährigen Ratifikationsfrist bis zum 30. Juni 1982 in der zweiten "ses.sion" des 95. Kongresses, fand das nachfolgend zitierte Amendment am Stichtag nicht d ie erforde rliche Dreiviertelmehrheit: ,)oint Resolution Proposing an Amendment to the Cons-titution of the United States Relative to Equal Rights forMen and Women. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress a.ssembled (two-thirds of each House concurring therein), That the following
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article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which s hall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its submission by the Congress: ArticleSection I. Equality of rights under the law s hall not be denied or abridged by the United States or by any State on account of sex. Section 2. The Congress shall have the po\\o-er to enforce, by appropriate legislation, the provisions of this article. Section 3. This amendment shall take effect two years after the date of ratification." 6) Schließlich schlug de r 95. Kongress in seine r zweiten .,S itzu ng~• am 22. August 1978 mit der e rforde rlichen Mehrheit (das ,~House" wurde am 2. März 1978 passiert) e in Amendment vor, das Wahlrechtsfragen flir den Distriel o f Columbia zum Inhalt hatte. Erneut fehlte es innerhalb der siebenjährigen Frist an der erforderlichen Dreiviertelmehrhe it der Bundesstaaten. Der Amendmentvorschlag hatte folgenden Wortlaut: ,,Joint Resolution Proposing an Amendment to the Constitution To Provide fo r Representation of the Distriel of Columbia in the Congress. Resolved by the Senate and House of Re presentatives of the United States o f America in Congress assembled (two-thirds of each House concurring therein), That the following article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its submission by the Congress: ArticleSection I. For purposes of representation in the Congress, election of the President and Vice ?resident, and article V of this Constitution, the Distriel constituting the seat of government of the United States shall be treated as though it \vere a State. Section 2. The exercise of the rights and powers conferred under this article shall be by the people of the District constituting the seat of government, and as shall be provided by the Congress. Section 3. The twenty-third article of amendment to the Constitution of the United Sta tes is hereby repealed. Section 4. This article shall be inope rative , unless it shaJI have been ratified as an ame ndment to the Constitution by the Jegislatures of three-fo urths of the several States within seven years from the date of its submission."
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Sachwortverzeichnis Abhängigkeit - zwischen
43, 47, 232, 235, 239, 243-244,261,264,268,274,277,283, 286, 289,304,3 12
Auslegung Verfassungsgerichtsba.rkeit
und Verfassung 312
Ad-hoc-Entwurf 65-67, 81, 119 Amendments 37, 44, 222, 256, 277, 280
- als Abbildereiner Verfassungsergänzung 222 - als Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte 222
229-243, 245-
248 American Revolution siehe amerikanische
Revolution amerikanische Bundesverfassung
326, 347 - institutionelle A. 294
Begrenzungsfunktion siehe Verfassungs-
- Interpretation von 243
Amendment-Verfahren
- verfassungskonforme A. 262, 294 Australien 44, 265, 29 1 Autonomie 138, 148, 163, 294,321,323,
16, 19,
24,5 1, 101 , 142,187, 195, 222-225, 239, 248, 271' 273, 280, 3 17-358, 361 ' 362, 364-369, 370, 391-399 - als dynamischer Evolutionsprozess 48
- als Vorbild 19, 112, 194,221 - Einflusspotentiale 194 - Flexibilität der 40, 49, 223 amerikanische Rechtskultur 308 amerikanische Revolution 26, 194, 197,
368, 372, 393-394 amerikanische Verfassung
siehe US-Verfassung Antifederalists 3 1, 33-35 Argenlinien 44 Articles of Confederation 24, 27-3 1, 33, 43, 46,224, 317, 33 1, 356,358,362, 366, 370 Atlantische Deklaration 209 atlantische Rechtskultur 220 Aufklärung 2 1-24, 194, 2 16, 342, 350, 372, 378,380,381
funktionen
Belgien 67, 113, 157, 161, 162, 220, 350,
383 Bill of Rights (1689) 20, 37, 157 Bill of Rights ( 1789) 36-38, 87, 222, 226, 227, 230,246,356, 363,394 Bill of Rights of Virginia (1776) 35-36, 194,402 Binnenmarkt 32, 52, 54, 72, 78, 175, 204, 2 12 Bulgarien 157, 185, 191, 350, 383 Bund fü r Europäische Cooperation 54 Bundesgesetzgebungskompetenz 281 Bundesgewalt 32, 28 1, 323
Bundesrepublik Deutschland 63, 65, 67,
68, 79, 92, 105, 108, 156, 161, 162, 170, 177, 204,209, 2 10,2 13, 253,265, 289, 29 1' 296, 299, 320, 324, 336, 341' 350, 354, 382,388,392, 403 Bundesstaat 16, 24, 28, 34, 45, 47, 49, 57, 62, 65, 104, 129,17 1, 181,195, 266, 3 18-331,346,349, 356,362, 365, 370 - europäischer B. 58, 61 , 103 Bundesstaatsprinz.ip 33 1 Bundesstaatsstreitigkeit 293 Bundesverfassungsge richt 150, 269, 296, 3 13, 3 14,348
466
Sachwortverleichnis
Bürgerkrieg 43, 226, 235, 282, 283, 349,
- der Verfassungsinterpretation 269
355,357,367 Bürgerrechte 115, 124, 158, 194,289
Dezentralisierung 3 1, 163 divided government 48 Drei-Elemente-Lehre 129
Charta der Grundrechte der Europäischen
Union siehe Europäische Grundrechtecharta
checks and balances 275, 288, 320, 323,
332 Christentum 2 1, 374 Civil \Var siehe Bürgerkrieg Code Civil (1808) 2 17 coercive power 46 Common Law 21, 157,27 1
Effizienz 80,96, 108, 163,172, 178,331 EG KS siehe Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMR siehe Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Einheit in Vielfalt 16, 340, 370 Einhe itliche Europäische Akte (1986)
75-76,78, 189,212 Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse 320
Conseil Constitutionnel 269
Einmannexekutive 32
counter-majoritarianism 289
EMRK siehe Europäische Menschenrechtskonvention (EMR K) England 20, 23, 29, 36, 40,274, 291, 343
Dänemark 75, 101, 116, 158, 161, 190,
192, 349,384 Declaration des droits de l'homme e t du citoyen 44
17, 23, 25, 27,30, 43, 45, 195, 228,272,340, 392 - Präambel 26 deliberntive Politik 3 16 Declarntion of lndependence
deliberative Verfassungspraxis 3 16
Demokratie 20, 24, 38, 44,49-51 , 57, 96,
98, 136, 160-163, 172, 216, 254, 266, 286,289,291,357,369,403 - d irekte D. 349 - egalitäre D. 219 - repräsentative D. 37
Demokratiedefizit 84, 98, 119, 13 1, 134,
152, 343 Demokratieprinz ip
147, 203, 289, 332,
343-349
Ensemble von Te ilverfassungen 159, 308,
3 12, 342 Entwurf einer europäischen Bundesverfas-
sung (1951) 61 Erklärung von Laeken 138, 144, 166, 174 Erweiterungsdynamik 354 Establishment Clause 391 -399 Estland 350, 384 EU-Bürger siehe Unionsbürger EuGH siehe Europäischer Gerichtshof
(EuGH) 90, 303 Europa 4 1, 44, 51 , 195, 197-221,
248-260,29 1, 305, 308,308-312, 329, 340-343,345,350,355,374,377,381 Europa aIa carte 328 Europa der Nationen 106 Europa der Regionen I08
demokratische Legitimation 80, 8 J. 152,
Europa der zwei Geschwindigkeiten
154, 159, 163,250, 298,336,343-349 demokratische Selbstherrschaft 3 15
Europäische
demokratische Verfassungstheorie 250
Demokratisierung 76, 108,279, 304,344,
348 - der Union 304
19 1
Atomgemeinschaft (EAG) 67,204 Europäische Gemeinschaft 185, 198, 208, 337,374 Europäische Gemeinschaften 68-69, 120, 127, 142, 148, 326, 340
SachworLverLeichnis Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 16, 64. 67. 198.200 europ5ische Gesprnchskultur I 88 EuropHisehe Grundrec htecharta 87. I I 5. 139,356, 357,359,375 europäische Ideale I I I Europäische Kommis.
Europtlischc Politische Zusammenarbeit (EPZ) 78.208,209 Europäische Sicherfleits- und Verteidigungspolitik (ESVP) 2 I4 europliische Rechtsetzuns 25 1 europäische Rechtsgemeinschaft 120, 127, 303, 304.336 europäische Rechtskultur 194.217 Europ5ische Union 76 - 84, 87-124, 130. 13 1- 140. 142- 144, 148, 150-154. 165, 170- 193, 198,215,22 1, 248-260, 306. 311,317- 358.358-372.375 - als Rechtsordnung sui gencris I 10. 129, 143, 160
- Doppclclmr.tkter als Staaten- und Bürgerunion 154 - Leitmotto der 185-188 - Politisierung der 100- 118. 304 - Staatsqualität der I 30, 360
- supmnmionaJer Charakter der 132, 152, 155, 251. 361 - Verfnssungsf:ihigkeit der 140 - Vertie fung der I 85. 252.304 europiiischc Verbundsvcrrassung I I 7
467
e uropäische Verfassung 17. 77, 86, 95. 100, 132. 144. 148, 154. 164. 180, 186. 306, 360. 365, 369 Europäische Verfassung.,gcrichte 304
Europäische Verfassung.~gcrichtsbarkeit 141,305 Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 65. 67, 69. 200
Europäi sche \\'irtschaftsgcmcinschafl (EWG) 67. 120,204, 206 Europäische ZentraJbank (EZB) 355 europäischer Demos I 55 Europäischer Gerichtshof (EuGH) 8 I. 90. I 17, 120. 124, 170, 22 1, 254, 290, 294. 3 11 ,3 16.336, 347,375 - a1s Hüter der europ3ischen Verfassung
306 - aJs Hliter des Gemeinschaftsrechts 303 - als Motor der europ1iischen Integration 17 I , 304. 308 - als Verfassungsgericht 301 Europäischer Gerichtshof flir Menschen· rechte (EGM R) 64, 90 Europliischcr Konvent 16. 68, 99, 135 140, 147. 159, 164, 166- 180, 181, 184. 317, 359. 359-372,373 - 375. 377-382 europäischer Verfassungsverbund I 17 118, 120 europäisches De nken 52, 372 Europäisches Parlament 60. 69. 70-75. 76. 78.80- 84. 88,90, 95. 1~. 109, 111. I 13, 119. 123, 131. 139. 160. 166, 169. 177, 18 1,25 1,253,257- 260,304,328. 347,348.36 1, 367, 370.371,375-381 Europäisches Währungssystem 210 Europarat 59. 60. 61-64.65.90. 148, 357 Europare<:ht 122, 31 I, 335 Europa-Unio n 53-59 Europaverständnis 217- 219 ever closcr union 308, 357 - 358 en~r strongcr union 351 EVG sielre Europäische Verteidigungsge· meinsch11ft (EVG)
468
Sachwortverleichnis
EWG siehe Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) EWG-Vertrag 126, 170 EWR-Vertrag 127 EZB siehe Europäische Zentralbank (EZB) Federal Reserve 355-356 Federnlist Papers 33-35, 37,77, 173, 334,
345, 370 Federalists 31 -35, 320, 338, 358, 370 Finalität 80, 85, I 03, I 06, 153, 185,
353-354 Finnland 113,158, 16 1,192,350, 383,384 Föderalismus 3 1, 33, 42, 104, 108, 163, 216,240, 271,318-33 1,358 - cooperative federalism 42, 322 - d ual fede ralism 42, 322 - konsoziativer F. 328 Föderalismusbegriff 325 Föderation 58, 60, 65, 93, I I0, 325, 326, 328, 340, 356 - von Nationalstaaten I03, 154 Frankreich 21, 26, 44, 56, 57, 60, 65, 67, 92, 106, 158, 159, 161, 162, 163, 173, 177, 186, 189, 194, 203, 205, 210, 2 14, 265,29 1, 327,329, 341,343, 350,365, 378,384,403 französische Revolution 22, 144, 343, 344 freie Re ligionsausübung 392-399 Freiheit 26, 28, 36, 37, 47, 59, 126, 142, 194,216,285,297, 331,334, 340,369, 376,394 - status negativus, activus und positivus
20 Freihe itsbegriff 352 Fundamental Orders of Connecticut 24-
27 GASP siehe Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 78, 96, 97, 2 14 Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten 76-77
Gemeinschaftsgrundrechte 89, 375 Gemeinschaftskompetenzen 97 Gemeinschaftsmethode 109 Gemeinschaftsmodell I 09 Gemeinschaftsrecht 66, 122, 124, 254, 255, 303,315, 336,374,375 - Auslegung des G. 304 Gemeinschaftsverträge 59, 77, 79, 84, 96, 99,303, 304 - Verfassungsqualitä t der G. 13 1 Gemeinschaftsziele 25 1 Generationengerechtigkeit 358 Gesellschaftsordnung 389 Gesellschaftsvertrag 23, 338 Gewaltenbalance 129, 290, 293, 337 - foderative G. 49 Gewaltenkooperation 337 Gewaltenmonismus 332 Gewaltenteilung 24, 28, 3 1, 37, 49, 6 1, 69,
72, 97, 154, 160, 195,251, 252, 266, 271, 297,301,316,328,331-338,362 - horizontale G. 11 1, 114, 327 - rechtsordnungsübergreifender
Grund-
satz der G. 338 - vertikale G. I I I, 114, 320, 323, 332,
337 Gewaltenverschränkung 49 Gewaltenzuordnung 337 Gleichheitsprinzip 26, 2 16,284, 286, 375 Gliedstaatsverfass ung 122 Gottesbezug 373-402
- in den bundesstaatliehen Verfassungen der USA 402 - in den (Teil)verfassungen der EU 374 -382 - in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur EU 388 - in den Verfassungen der deutschen Bun-
desländer 388 - in den Verfassungen der EU-M itg liedstaaten 383-388 - in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 393-399
Sachwortverleichnis Great Compromise 27, 31 , 318,369 Grenzen Europas siehe auch Finalität Griechenland 21, 155, 157, 161 , 195,350, 381, 382, 384 Großbritannien 54, 155, 156, 163, 190, 191,203, 206,2 10,259,327, 341, 350, 359, 365, 382,387 Grundgesetz 145, 146, 158 Grundgesetz (GG) 70, 155, 156, 159, 249, 254,268,301,325,336,337,36 1 Grundrechte 23, 27, 35, 36, 43, 45, 61, 69, 70, 73, 8 1,87-94, 11 5, 124, 126, 133, 134, 139, 147, 154, 156, 174, 187,219, 230, 266, 271, 283, 286, 290, 30 I, 304, 331,356-357,361,370,375-382,393 Grundrechtecharta siehe auch Europäische Grundrechtecharta Grundrechte konvent 87-94, 137, 167, 375-377 Grundrechtsbeschwerde 307 Grundvertrag 87, 99, 117, 138, 180 Haager Kongress 58, 60 habeas corpus 21 Habeas Corpus Act ( 1679) 37 Hegemonialinteressen 205, 209, 2 11, 34 I , 366 Herman-Entwurf ( 1994) 79-84, 119 Hermene utik 196, 262, 264, 291 , siehe auch Verfassungshermeneutik Human Rights Act ( 1998) 157 Humanismus 381, 382
Identifikationsfunktion siehe Verfassungsfunktionen Identitä t 39, 62, 93, 106, 112, 116, 118, 124, 130, 174, 187, 189, 2 16, 218,252, 318,338,352,367,403 - demokratische I. 345 - kollektive I. 354 - kulturelle I. 320 - politische I. 364 Identitätskrise 116 Individualität 320, 323
469
institutionelle Verflechtung 325 institutionelles Gleichgewicht 304, 337, 361 Institutionentrennung 333, 354 Integration 54, 65, 68, 77, 84, 87, 93, 98, 102, 116, 119, 124, 134, 151- 154, 160, 171, 182, 186, 188, 198, 199,252, 254, 259,275,304, 336,352,368, 37 1
- der EuGH als Motor der europäischen I. 308 - differenzierte I. 328 - europäische I. 16, 54, 72, 80, 98, I II - in de n USA 51 - politische I. 64 Integrationsdefizit 5 1 Integrationsfähig keit 96 Integrationsfunktion siehe Verfassungsfunktionen Integrationsmethode 65 Integrationsprozess 368 - e uropäischer I. 98, 101 , 118, 189,204, 207,303,304, 350 Integrität - des demokratischen Prozesses 43 Integrität der Verfassung 315 lntergouvernementalität 75, 8 1, 11 3, 155, 252 Interpretation 48, 122, 147, 196, 243-244, 25 1, 263,266, 277,29 1,299, 3 15,316, 393 Interpretation siehe auch Verfassungsinterpretation Interpretationsmacht 300 Interpretationsmethoden 300 Interpreta tionsmonopol 196, 265, 291, 301 invocatio Dei 373-391 , 399-402, siehe auch Gottesbez.ug Iran 197 Irland 158, 190, 192,349,379, 382,385 Jsland 350 Ita lie n 58, 67, 95, 155, 156, 163, 175,220, 349,379,381, 386
470
Sachwortverzeichnis
J apan 197 judicial activism 229 judicial restruint 269 judicial nwiew 195. 277-278. 280 judicial suprcmacy 276, 280 jüdisch·chrhtliches Erbe 378. 381
Konsens 26, 27, 47, 75, 91. 176, 239, 276.
292,348 - >m Vorabend der Bundes,-erf>Ssung 27.
40 Konsensprinzip 296 Konsensverfahren 257 Konscrvutismus 51 , 403
Kanada 44. 264. 291 Koalition der Willigen 352 Kolonialch>ncn 21 Kolonialgebiete 58 Kolonialmilchte 353 Kommission 61. siehe auch Europäische Kommission
Kompetenubgrcnzung 48, 61. 73. 101.
109. 115, 133. 186,334,337. 347
Konstitutionalisierung 53. 76, 87, 95, 97.
110. 118. 119, 125. 142. 143. 181, 196. 197.264.360,361 Kon>titutionalismus 195. 197, 247, 263. 290,364 konstitutionelle Modcn1c 30
konstilutionelle Selbstfindung 45-47 Kontinentalkongress 23. 27. 365 Kontrollkompetenz 234
Kompetenzausweitung 92
Konvent
Kompetenzen 32, 43, 48. 60, 65, 73, 77,
- zur Änderung des Europäischen Verfas· sungsverlrages 257 - zur Totalrevision bzw. Änderung der US· Vcrfossung 231 Kon,-cnt ,·on Philadclphi• 16. 29-33. 38. 47. 224, 235, 317. 3 19. 348, 356. 359 - 372 Kofl\•Cntsmethode 256 KoD\'ClltS\'erfuhren 140. 166. 257, 359-
80, 108, 11 5. 123, 148, 161, 169. 171, 177, 186, 232. 234, 240, 260. 278. 281, 286,290- 301.310. 346,364.366 Kompetenzkat>log 110, 114. 115. 186 Kompetenz· Kompetenz 129, 132 Kompetenzordnung 147,3 10 Kompetenzstreitigkeiten
17 1
Kompetenzüberschreitung 170 Kompetenziibenmgung 252 Kompetenzverlagerung 248 Kompetenzvcn c ilung 6 1, 69. 75, 77. 8 1,
84, 109, 128, 160 - 163,3 18,3 18 - 331 Komplementllr\'crfassung 13 1, 151 Kompromiss 31. 33. 35, 41 , 47, 63. 175.
180. 181, 224. 253. 282, 317. 319. 369. 370,381 - als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses 47-48 - als konstitutives Strukturprinzip 4 1 - als politische Lebensform 41 Konf
269,27 1,273.275,280,332.334.355, 363,366,367
364 Koopcrntion.s,-erb:ütnis 294. 311 Kroatien 191, 388 Kultur 19. 186,218.221.263,359,404 - politische K. 196, 264. 323, 369 - wechselseitige Impulse 20 kulturelle Selbstverwirl
299 Legitimationsdefizit 80, 118, 328, 337 Legilimationsfunktion .fit!lte Verfassungs·
funktionen
Sachwortverleichnis Lettland I 58, 349, 386 Letztentscheidungsrecht 266, 300 Liechtenstein 349 limited government 32 1 Litauen 157, 349,386 Locarno-Pakt 57 Lokalismus 324 Luxemburg 67, 157, 161, 386 Magna Charta 37, I 56, 388 Ma lta 97, I 58, 350, 383, 386 Marbury vs. Madison 27 1-277, 278, 280,
296,3 17 - europäisches M. 128 Marshallplan 199 MayHower Compact 36, 45 Mehrheitsprinzip 148, 220, 320 Menschenrechte 20, 35, 59, 64, 80, I I I , 118, 133, 254, 321, 33 1' 351, 357 Minderheitenschutz 43, SO, 283, 293, 320 Mischverwaltung 324 Misstrauensvotum 8 1, 162 - konstruktives M. 162 Monnet-Methode 98 Nation 15, 38, 50, 195,342-343 nationale Interessen I 08, 167, 176, 20 I ,
367 Nationa lismus 57, 367 Nationalstaat 57, 62, 103, 107, 108, 132, 149,160, 200,218,252,328, 340,343, 367 NATO siehe North Atlantic Treaty Organisation (NATO) NATO-Doppelbeschluss 210 Naturrecht 23, 26, 35, SO, 2 19, 372 necessary and proper clause 32, 28 1 New~1l 42-44,268, 287, 322 New England Confederntion 25 Niederlande 21, 26,67, I 58, 189, 191,220, 349, 383, 386 Nordirland 163, 327 normative supranationalism 309
471
Normenkontrolle 274, 293, 317 North Atlantic Treaty Organisation (NATO)
60,203, 205,210,2 12, 357 Norwegen 195 OECD s;ehe Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) offene Gesellschaft 266, 276, 30 I, 311 3 12 offene Staatlichkeil 335 Öffentlichkeit 51 , 94, 119, 139, 155, 160, 174, 190, 300,346, 348, 369,373 Organisation for f..conomic Co--operation and Development (OECD) 206 Organisation flir Sicherheit und Zusammenarbe it in Europa (OSZE) 148, 357 Organisationsfunktion siehe Verfassungsfunktionen original meaning 30, 229 Österreich 92, 159, 161 , 163, 289, 291, 296, 350, 381, 386 OSZE siehe Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Pan-Europa-Bewegung 53-59,61 Parlamentarismus I 56, 369 Parlamentsabsolutismus 317 Partikularisierung 47 Personalität 217 Petition of Right (1627) 37 Philadelphia Convention sielte Konvent von Philadelphia Pluralismus 15, 19, 51,293,320,344,363 pluralistische Öffentlichkeit 346 Polen 157, 163, 178, 192, 387 political q uestion doctrine 237, 240,244,
269, 285-288 politische Verantwortlichkeit 154 Portugal ISS, 157, 161, 192, 195, 350,387 Post-Nizza-Prozess 135- 138, I 59 pouvoir constituant 11 8, 13 1, 149, 232, 361
472
Sachwortverleichnis
Präambel 26, 38, 47, 78, 124, 133, 158,
182, 185- 188,267, 373, 374,376-382, 383-39 I, 399, 400 praktische Konkordanz 335 Präsidialdemokratie 49, 2 17, 354 Präsidialsystem I 95 Prinzipien der Verfassungsinterpretation
26 1, 307 pursuit ofhappiness 23,3 18, 340, 358,393
35, 69, 80, 100, 188-192, 236-242,243,244,257,260,369
Ratifikation
Repräsenta tion
28, 152, 2 16, 3 17-318,
321 Repräsentativsystem 320, 344 Repräsentativverfassung 50 Republikanismus 22, 33, 342 richte rliches Prüfungsrecht 265, 278, 289,
29 1, 3 17 Richterrecht 26 I Richtlinienkompetenz I 62 Römische Verträge 67-68, 204, 342 Rule of Law 29 I Rumänien I 85, I 9 I , 350, 383, 387
Ratifikationskrise I 88- I 92
Ratifizierung - der amerikanischen Bundesverfassung
33-35, 362, 370 - der amerikanischen Bundesverfassung]
364 - des Europäischen Verfassungsvertrages I 82, I 88, 250, 252, 360, 37 I, 377 - von Amendments 229
rationale Rechtsprechungstätigkeit
284,
298 Recht und Moral 350 Rechtskultur 5 I, 142, 286 Rechtsprechung 20, I28, I 70, 273, 280,
283,287,304,308, 308-3 11, 3 13, 322, 331, 392, 396-399 - als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft 301 Rechtssicherhe it I24, 272 Rechtsstaat 20,219, 271 , 289,29 1,331 - sozia ler R. 266 Rechtsstaatlichkeil 57, 94, 147,293,337 Referendum 80, I 16, 159, 188-192,322,
349, 360 Regionalautonomie I63
Reichskammergericht 3 I 3 Religion 26, I24, I 86, 342, 343, 374,
376-382, 383-388, 389, 391-399, 402 Religionsbezug 376 Religionsfreiheit 227, 283, 375
Säulenmodell 79 Schottland I63, 327 Schuman-Pian 65 Schweden 135, 158, 161, 192, 387 Schweiz 49, 70, 173, 23 1, 3 13, 344, 349 Selbstbestimmungsrecht I95 self-restraint 226-229,288 Sklaverei 32, 235, 282, 356, 367 Slowakei I 57' 349, 383, 387 Slowenien 157, 349, 387 Solidarität 2 17, 340,358, 376 Souveränität 15, 23, 26, 28,3 I, 67, 80, 93, 105, I 12, 123, 127, 130, 131, 144, 149,
181, 195, 200,204,252,271,3 19,325, 340, 350-353,362-369 - doppelteS. 3 I9 - we the people 38 Souveränitätsteilung 105, 108 Souveränitätsverzicht 350-353
Sowjetunion siehe UdSSR Spanien 2 1, 26, 29, 155, 158, 162, 163,
178, 220,326,343, 350,387 Spinelli-Entwurf 70-75, 77, 8 I Sprache 2 I , 92, I32, 2 I 8, 340 Staatenbund 24, 27, 33, 46, 63, 104, 129, 356, 362 Staatenunion I74
Staatenverbund 329 staatlicher Verbund I 52 Staatsgebiet I30, 33 I
Sachwortverleichnis Staatsgewalt 24, 68, 129, 130, 145, 153, 160,2 19, 271,276,293,299, 300,3 16, 331' 332, 333 Staatsorganisation 147 - Regeln der S. 35 Staatsphilosophie 27, 36, 149 Staatsrecht 49, 121,216, 232 Staatsreligion 392 Staatsvolk 130, 132, 15 1, 152, 250 Staatszielbestimmungen 266 Subsidiarität 2 18 Subsidiaritätsprinzip 61 , 72, 81, 93, 115, 124, 139,330,337 Südafrika 302 SuperstaatEuropa 105, 110 supranationale Befugnisse 64 supranationale Institutionen 54, I09 supranationale Integration 199-204 supranationale Integrationsverbände 151 supranationale Organisationen 69 Supranationale Union 148, 15 1, 249,316 Supranationalität 62, 72, 75, 79, 113, 123, 185, 2 18,253,361
Supreme Court siehe US-Supreme Court supreme law of the land 45, 276 suspensives Vetorecht 161 , 259,324 Teilrevision 232 Teilverfassungen 159, 308, 3 12, 342 Textstufenanalyse 181 Totalre,•ision 222, 23 1, 232, 256 transatlantische Verfassungsrezeption 194 transatlantischer Dia log 3 15 transatlantisches Verfassungsfundament 219-22 1 transatlantisches Verhältnis 17, 179, 197, 199-215, 351-353,403 Transparenz 76, 80, 8 1, 96, 98, 116, 136, 172,370 Trennung von Staat und Religion 383. 391-399,402 Tschechische Republik 159, 192, 350, 387 Türkei 190, 197, 350,357, 383, 388
473
UdSSR 55, 63, 79, 2 11,213, 350 Umweltschutz 64, 78
Unabhängigkeitserklärung siehe Declaration of lndependence Ungarn 158, 387 Union Europ..1.ischer Rideralisten 60 Unionsbürger 7 1, 73, 76, 80, 84, 92, 112, 118, 172, 174, 250, 371 Unionsbürgerschaft 78, 80, 98 Unionsverfassung 4 1, 122, 151, 250, 357 - formelle Voraussetzungen 154 - materielle Voraussetzungen 154 Unionsvertrag 59, 96 Unionsvolk 250 United States of Europe siehe auch Vereinigte Staaten von Europa USA 16-5 1, 59, 63, 68, 70, 112, 188, 197-217, 221-248, 265, 284, 285-290, 29 1-301,317-372,391-404 - als Geburtshelfer Europas 20 I US-Kongress siehe Kongress US-Supreme Court 43, 221 , 227-248, 260, 269,27 1-290, 294,296-30 1' 305, 308,3 13,314, 322,332,391-399 - als ständiger Verfassungskonvent 221, 27 1
Verantwortungs- und Solidargemeinschaft 148 Verbraucherschutz 78 Verbund-Föderalismus 163 Vereinigte Staaten von Amerika s;e/ie USA Vereinigte Staaten von Europa 54, 59, 61, 67, 185, 358 Verfahrensgerechtigkeit 315 Verfasstheil der Union 52, 85, 96, 142, 180, 361 Verfassung 404- e inzelstaatliche V. 27, 32, 45,225, 323, 356, 402 Verfassungen der Einzelstaaten 23-29, 399-402 verfassunggebende Gewalt 39, 249
474
Sachwonverzeichnis
Verfassunggebung 7 1. 83, 144. 149. 221-317.327,358-372 - amerikanische V. 221. 353 - e uropllisehe V. 155 - gebundene V. 222 - kreative V. 260-317 - notionale Erfohrungswcne 159 Verfassunggebung in der Suprnnationalcn
Union 249 Verfassunggcbungsprozcss 17, 100. 173. 358-364.369-372 Verfassungs3nderung 28. 81. 222-260. 299. 3 16 Verfassungstinderungs,•erfnhrcn 81, 141
Verfassungsbegriff 46. 120. 122, 140 163.342 - erweitcner V. 361 - europlUseher V. 142. 270, 302 - formelle r V. 146 - moterieller V. 146 - normativer V. 122. 145. 153 - norm::uivcr staatsbezogener V. 149 - offene r V. 150 - postnationaler V. 150. 152 Verfassungsbestätigung 19. 40. 41. 188 Verfossungsdilemmo I 5 I Verfussungsdynomik 369 Ve rfassungsentwicklung 19, 20, 41, 42.5 1, 142.22 1,252, 256.299.3 16,355 - ols lineorer Prozess 119 - als mchrpoliges System 119 - Kontinuität der V. 335 Verfassungsentwurf des Europäischen Purlaments ( 1984) 70- 75.76 Verfossung<entwu.rf des Europliischen Parlaments ( 1994) 89 Ve rfassungsergänzung 222,229,238,245, 246.256 Verfassungserweckung 19 Verlossungsf:ihigkeit 140. 152, 185 - Voraussetzungen der V.
146, 147
Verfassungsfunktionen 66, II I -118, 284
- Begrenzungsfunktion 73. 80, I I I. 114. 126.133 - Identifikotionsfunktion II I, 116-118. 134 - Integrationsfunktion 11 6- 11 8, 134. 250 - Legitimotionsfunktion 66. 81. II I. 116. 123, 131. 284 - Orgonisationsfunktion 66, 73, I I I, 114. 118, 133 Verfassungsgemeinschafl 188, 221 - Strukturelemente der V. 317 Verfassungsgerichtsbarkeit 141, 195, 260. 268,271.284-317 - Funklioncn der V. 284. 290-30 I - Geburtsstunde de r V. 271 - lnterpretotionsmonopol der V. I 96. 265 -
Kompetenzen der V. 290- 301 Prinzipien der V. 307 selbstlindige V. 278.284,297-30 1 vergleichende lehre von der V. 3 I 3
Verfassungsgeschichte I44. 173, 372 - omerikanische V. 20. 182, 222, 246. 392 - europtiisehc V. I6, 51 - transatlantische V. 220 Verfassungshermeneutik 196, 264. 29 I Verfassungsimperialismus 403 Ve rfossungsinterpretotion 30, 24 1, 248. 260-3 17 Verfassungsinterpreten 268 - Kreislauf der V. 269 - offene Ge<ellschaft der V. 266, 268. 276 Verfussun g.
Sachwortverleichnis
Verfassungsorgane 51,219,269,280,305,
333 Verfassungsorganqualität 297 Verfassungspatriotismus 156 - amerikanischer V. 40, 49 - europäischer V. 117, 371 Verfassungsprinzjpien 18, 28, 142, 194,
222,293, 307,382 Verfassungsschöpfung 159, 363 Verfassungsstaat 18, 134, 15 1, 160, 221 ,
266,299,3 16,374 - amerikanischer V. 49 - Entstehung des V. 24-38 - Grundgedanken und Stmkturelemente desV. 3 17 - verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im V. 29 1 Verfassungstheorie 122, 146, 147, 170,
250,3 17 - amerikanische V. 306 Verfassungstypen 122 Verfassungsverständnis 36, 140-163, 184,
245,270, 306, 403 - amerikanisches V. 47, 194,247 - einheitliches V. 142 - europäisches V. 5 I
-
formales V. 185 fun ktionelles V. 185 gemischtes V. 141 , 142 staatszentriertes V. 185
- übergreifendes V. 142 Verfassungsvertrag 16, 70, 76, 85, 99,
475
Vertrag von Amsterdam 84, 88, 99, I24,
133, 342,375 Vertrag von Lissabon 192 Vertrag von Maastricht 75,77-79,80, 85,
119, 123, 133, 190, 258,330,342 Vertrag von Nizza 96, 99, I I6, I 24, I35,
175, 178, 190, 191, 3 17 26, 74, 79, 121, 125, 126, 129-130, 148,15 1,153,219,249,250, 253, 255, 351 Völkerrechtsfreundlichkeit 335 Volksbegehren 161 Volksentscheid 34, 159, 16 1 Volkssouveränität 24, 26, 28, 39, 101, 181, 195,216,273, 282,290,321,344, 362, 365 Völkerrecht
Wahlprüfungsverfahren 293 Wahlrecht 3 1, 123, 226, 236 Währung 54, 188, 208, 2 10, 355 Währungsunion 77, 85 Wales 163, 327 Wandelverfassung 122 Wertegemeinschaft I I 6 - zwischen Europa und USA 357 Western Civilization 2 1 Weste uropäische Union (WEU) 78, 212,
2 14 WEU siehe Westeuropäische Union (WEU) Widerstandsbewegungen 57-59 Wiede rvereinigung 79,213,268 Wiede rvereinigung Europas 97 Wirtschafts- und Währungsunion 101
100, 109, I 16, 135, 147, 154, 164, 170, 174,179, 180- 192,221,249-260,306, 312,3 15,350,355,357,361 , 364,372, 374-382 Verfassungsvorrang 66, 146, 293 Verfassungs-Vorverständnis 154- 163 Verfassungswirklichkeit 194, 3 14, 321 , 330,369,403 VerhältnismäßigkeilSprinzip 124, 2 I 9 Vernunftrecht 23
Zivilisationsprozess I92 Zollunion 70, 78 Zweikammerlegislative 32 Zweikammersystem 28, 47, 251 , 324
Versteinerungstheorie 295
Zypern 97, 157, 350,388
Zentralbanksyste m 356 Zentralisierung I 10, 151, 169-17 1,279,
356, 365 Zentralismus 33, 74, 106,3 19,328 Zivilgesellschaft 47, 81, 88, I 72, 373